Festschrift für Peter Hommelhoff: zum 70. Geburtstag 9783504380014

Anlässlich seines 70. Geburtstags widmen rund 90 namhafte Schüler, Kollegen und Weggefährten aus Wissenschaft und Praxis

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German Pages 1448 [1446] Year 2012

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Festschrift für Peter Hommelhoff: zum 70. Geburtstag
 9783504380014

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Festschrift für Peter Hommelhoff

FESTSCHRIFT FÜR

PETER HOMMELHOFF ZUM 70. GEBURTSTAG herausgegeben von

Bernd Erle Wulf Goette Detlef Kleindiek Gerd Krieger Hans-Joachim Priester Christian Schubel Martin Schwab Christoph Teichmann Carl-Heinz Witt 2012

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dub.d-nb.de abrufbar.

Verlag Dr. Otto Schntidt KG Gustav-Heinernann-Ufer 58, 50968 Köln Tel. 02 21/9 37 38-01, Fax02 21/9 37 38-943 [email protected] www.otto-schntidt.de ISBN 978-3-504.{)6220-0 ©2012 by Verlag Dr. Otto Schmidt KG, Köln

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht

ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlages. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Ühersetzuogen, Mikroverfihnungen und die Einspeicherung und Verarbeirung in elektronischen Systemen. Das verwendete Papier ist aus chlorfrei gebleichten Rohstoffen hergestellt, holz- und säurefrei, alterungsbeständig und umweltfreundlich.

Einbandgestalrung: Jan P. Lichtenford, Mettmann Foto des Jubilars: Klaus Meyer, Heldeiberg Textformatierong: A. Quednau, Haan Druck und Verarbeitung: Kösel, Krugzell Ptioted in Gennany

Vorwort Diese Festschrift ist Peter Hommelhoff anlässlich der Vollendung seines 70. Lebensjahres gewidmet. Mit ihr ehren Herausgeber und Autoren einen Wissenschaftler, der dem deutschen und dem europäischen Gesellschafts- und Unternehmensrecht seit langem nachhaltige und prägende Impulse gibt. Gewürdigt wird zudem die Leistung eines Wissenschaftsmanagers, der als Rektor die Heidelberger Ruprecht-Karls-Universität engagiert geführt und die Hochschullandschaft in Deutschland und Europa aktiv mitgestaltet hat. Die Festschrift gilt schließlich dem hochverehrten akademischen Lehrer, dem Weggefährten, Freund und Kollegen, dem das Verbindende seit jeher wichtiger ist als das Trennende, der immer wieder Brücken geschlagen hat – Brücken zwischen Rechtswissenschaft und Betriebswirtschaftslehre, zwischen Wissenschaft und Praxis, zwischen etablierten und jungen Wissenschaftlern, zwischen Deutschland und seinen europäischen Nachbarn. Peter Hommelhoff wurde am 13.9.1942 in Hamburg geboren, wo Vater und Mutter als Ärzte tätig waren. Nach dem Abitur an der Gelehrtenschule des Johanneums im Februar 1962 und dem verlängerten Wehrdienst bei der Bundesmarine begann er 1964 das Studium der Rechtswissenschaft. Es führte ihn von Berlin über Tübingen nach Freiburg, wo er 1968 die erste juristische Staatsprüfung ablegte. Dem Referendariat in Baden folgte 1971 das zweite Staatsexamen in Stuttgart. Erste Berufserfahrungen als Jurist sammelte er anschließend als angestellter Rechtsanwalt in einer Freiburger Kanzlei und als Syndicusanwalt bei der PreussenElektra in Hannover. In dieser Zeit entstand auch seine von Fritz Rittner betreute Dissertation über „Die Sachmängelhaftung beim Unternehmenskauf“. Im April 1974 kam er als Wissenschaftlicher Assistent an die Ruhr-Universität Bochum und fand dort in Marcus Lutter einen akademischen Lehrer, dessen wissenschaftliche Leistungskraft und charismatische Persönlichkeit ihn tief geprägt haben. 1981 habilitierte sich Peter Hommelhoff mit einer Untersuchung über „Die Konzernleitungspflicht – Zentrale Aspekte eines Konzernverfassungsrechts“ und wurde noch im selben Jahr zum Ordinarius für Bürgerliches Recht, Handels- und Wirtschaftsrecht an der Universität Bielefeld berufen. Hier wirkte er im Vorstand des Instituts für Deutsches, Europäisches und Internationales Wirtschaftsrecht, an dessen Gründung er maßgeblichen Anteil hatte, und war 1988/1989 Dekan der Rechtswissenschaftlichen Fakultät. 1990 folgte er dem Ruf auf ein Ordinariat für Bürgerliches Recht, Handels- und Gesellschaftsrecht, Rechtsvergleichung an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg, wo er Mitdirektor des Instituts für Deutsches und Europäisches Gesellschafts- und Wirtschaftsrecht wurde. Von 1993 bis 1995 amtierte der Jubilar als Dekan der Heidelberger Juristischen Fakultät. 2001 wurde Peter Hommelhoff zum 742. Rektor der Ruperto Carola gewählt. Zum Ende seiner Amtszeit im Herbst 2007 ist er emeritiert worden. Peter Hommelhoff ist Hochschullehrer mit Leib und Seele. Markenzeichen seiner Vorlesungen und Seminare, von den Studierenden zu allen Zeiten und bis heute hoch geschätzt, ist die ebenso lebendige wie prägnante Vortragsweise. V

Vorwort

Die Weiterentwicklung des Jurastudiums lag ihm immer am Herzen. In seiner Heidelberger Zeit und als Mitglied der Hochschulrektorenkonferenz trug er maßgeblich zur Reform der Juristenausbildung bei, die den Fakultäten mehr Freiraum für die wissenschaftliche Vertiefung in Schwerpunktbereichen verschaffte. Um die Studierenden frühzeitig an die Realität des späteren Berufslebens heranzuführen, nutzte er seine vielfältigen Kontakte in die Rechtsanwaltschaft. So entstand an der Juristischen Fakultät der Universität Heidelberg das Projekt „Anwaltsorientierte Juristenausbildung“. Was der Jubilar hier angestoßen hat, wirkt bis heute fort. Den akademischen Nachwuchs zu fördern war ihm stets ein besonderes Anliegen. Schon junge Studenten ermunterte er zur Publikation herausragender Seminararbeiten. Eine beeindruckend große Zahl von Doktoranden hat er im Laufe der Jahrzehnte betreut. Das breite Spektrum der von ihm angeregten Dissertationsthemen dokumentiert eine niemals versiegende wissenschaftliche Neugier, aber auch sein Bemühen, für jeden einzelnen nach dessen Anlagen und Interessen das richtige Thema zu finden. Davon profitierten nicht zuletzt seine fünf Schüler, die er zur Habilitation geführt hat – drei von ihnen während seiner Amtszeit als Rektor der Ruperto Carola. Das wissenschaftliche Werk Peter Hommelhoffs hat seinen Schwerpunkt im Gesellschafts- und Unternehmensrecht. Namentlich die Entwicklung des Aktien- und GmbH-Rechts, insbesondere des Konzernrechts sowie des Eigenkapitalersatzrechts hat er nachhaltig beeinflusst. Stellvertretend sei seine Kommentierung des GmbH-Gesetzes im „Lutter/Hommelhoff“ genannt, für den er sich seit der 12. Auflage 1987 mit Herzblut engagiert. Mit großem Einsatz – und in fruchtbarem Dialog mit Kollegen der Betriebswirtschaftslehre – widmet er sich zudem dem Recht der Rechnungslegung und Wirtschaftsprüfung. Von 1986 bis 1990 war er Mitglied des Prüfungsausschusses für Wirtschaftsprüfer beim Wirtschaftsminister des Landes Nordrhein-Westfalen, danach (bis 2001) des Landes Baden-Württemberg. Und nach dem Ende seines Rektorats ist er mit seiner Emeritierung als Partner in die KPMG AG Wirtschaftsprüfungsgesellschaft eingetreten. Diese berät er seither aus dem Blickwinkel eines unabhängigen Wissenschaftlers bei Grundsatzfragen der Abschlussprüfung und ihrer Entwicklung in europäischer und internationaler Perspektive. An der Pflege seiner Verbindungen zur juristischen Praxis war dem Jubilar stets besonders gelegen. Zwölf Jahre lang war er als Richter im Nebenamt am Oberlandesgericht tätig; zunächst (von 1983 bis 1990) in Hamm, später (1993 bis 1998) in Karlsruhe. Nicht minder wichtig war und ist ihm der regelmäßige, institutionalisierte Gedankenaustausch mit den Repräsentanten von Unternehmen und deren Beratern. Insbesondere der mittelständischen Wirtschaft gilt seine Zuwendung, und zwar gerade dort, wo auch er selbst sein Aktivitätszentrum gefunden hat. In der Bielefelder Zeit entstand der Arbeitskreis Recht und Wirtschaft Ostwestfalen-Lippe, später eine vergleichbare Runde im RheinNeckar Raum. Peter Hommelhoff weiß aber auch: Wissenschaftliche Erkenntnis muss – wo nötig – rechtspolitische Früchte tragen. Anfang der neunziger Jahre zog ihn die deutsche Bahnreform in ihren Bann; hier haben die BegeisteVI

Vorwort

rung für das technische Faszinosum Eisenbahn und die fachliche Expertise des Unternehmensrechtlers auf das Vortrefflichste zueinander gefunden. Durchaus dauerhaft übrigens, denn der Jubilar gehört seit vielen Jahren dem Rechtswissenschaftlichen Beirat der Deutschen Bahn AG an, seit 2006 als dessen Sprecher. Die Nähe zur Praxis verleitete ihn freilich niemals dazu, Fremdinteressen gegen seine eigene rechtliche und ethische Überzeugung zu vertreten. Peter Hommelhoff hat zu jedem Zeitpunkt seine wissenschaftliche Eigenständigkeit gewahrt. Wo er es für geboten hielt, stellte er sich mit Nachdruck auch gegen die Positionen wirkmächtiger Akteure aus der wirtschaftsberatenden Anwaltschaft und der Wirtschaftsprüfung. Bis heute unvergessen bleiben seine eindringlichen Warnungen an die Adresse des Berufsstandes der Wirtschaftsprüfer, wie rasch vorgeschaltete Beratungstätigkeit die Unabhängigkeit der Abschlussprüfung in Frage stellen kann (ZGR 1997, 550). Als die geschichtliche Stunde die Einheit und Freiheit Deutschlands zuließ, war dies für Peter Hommelhoff die größte Freude. Ihm war zugleich bewusst, dass Gabe stets Aufgabe bedeutet. Er gehörte zu der kleinen Gruppe von Rechtsprofessoren, die rasch erkannten, dass die Bewältigung der Teilungsfolgen nicht nur eine finanzielle, sondern eine ebenso wichtige rechtliche Dimension haben würde. Mit Elan und ohne Scheu wandte er sich Themenkreisen zu, die andere noch heute frösteln lassen: Treuhandanstaltskonzernrecht, Altkredite-Überleitung, Sachenrechtsbereinigung, LPG-Umwandlungen. Auf all diesen Gebieten haben seine eigenen ebenso wie von ihm angeregte wissenschaftliche Beiträge, auch und gerade aus den Reihen des von ihm geleiteten Arbeitskreises „Innerdeutsches Gesellschafts- und Kartellrecht“, viel zur „Erledigung“ der Übergangsfragen und zur Schaffung von Rechtsfrieden beigetragen. Doch nicht nur die deutsche, sondern ebenso die europäische Einigung war und ist ein Herzensanliegen des Jubilars. So wurde er zum Mitinitiator der Schule des Deutschen Rechts an der Jagiellonen-Universität Krakau, welche die Universitäten Mainz und Heidelberg im Jahr 1998 ins Leben riefen. Mit großer Freude lehrte er viele Jahre hindurch in Krakau und trug maßgeblich dazu bei, dass eine beträchtliche Zahl Krakauer Studenten und Doktoranden den Weg nach Heidelberg suchten und fanden. Im Jahr 2002 beteiligte sich die RuprechtKarls-Universität unter seinem Rektorat am Aufbau der deutschsprachigen Andrássy Universität in Budapest. Dabei hat er – wie so oft – dem institutionellen auch das persönliche Engagement folgen lassen: Seit 2010 ist er als Vorsitzender des Universitätsrates der Andrássy Universität tätig. Dass die europäische Einigung auch das wissenschaftliche Werk des Jubilars geprägt hat, versteht sich von selbst. Wie nur wenige Hochschullehrer seiner Generation hat Peter Hommelhoff den europäischen Binnenmarkt stets beim Wort genommen: „Der Gemeinsame Markt von Skagen bis Gibraltar und Kreta, von den Hebriden bis an die Oder, die Elbe und an den Inn“ war nicht nur das Thema seiner Heidelberger Antrittsvorlesung (ZGR 1992, 121), sondern durchzieht als Leitmotiv sein gesamtes wissenschaftliches Wirken im europäischen Privat- und Gesellschaftsrecht. Das belegen beispielhaft sein Vortrag vor der Zivilrechtslehrervereinigung zum „Zivilrecht unter dem Einfluss europäischer VII

Vorwort

Rechtsangleichung“ (1991) und die Ernst-Rabel-Vorlesung 1997 am Hamburger Max-Planck-Institut für Ausländisches und Internationales Privatrecht zum Thema „Europäisches Bilanzrecht im Aufbruch“. Ausgestattet mit dem MaxPlanck-Forschungspreis für internationale Kooperation, der ihm 1997 verliehen wurde, richtete der Jubilar Kolloquien, Arbeitskreise und die Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses konsequent auf europäische Themen aus. Das europäische Konzernrecht, die Europäische Aktiengesellschaft (SE) und die Europäische Privatgesellschaft (SPE) seien als Stichworte genannt. Hier war (und ist!) der Jubilar als Visionär und Brückenbauer ganz in seinem Element, knüpft fachliche und freundschaftliche Bande in die Nachbarstaaten und weit darüber hinaus – aus wissenschaftlicher Neugier aber auch aus der persönlichen Überzeugung heraus, dass Europa immer nur gemeinsam bestehen kann. Dass eine solche Überzeugung mitunter viel Geduld verlangt, erlebt Peter Hommelhoff bei der SPE, für deren Schaffung er sich seit langem wie kein zweiter unermüdlich einsetzt: Eine in Deutschland kaum zur Kenntnis genommene französische Schrift über die „SARL Européenne“ hatte ihn im Jahre 1993 zu einer Initiative inspiriert, die nach mehr als einem Jahrzehnt in einen Verordnungsvorschlag der Europäischen Kommission münden sollte. Der deutsche Mittelstand, den er bei diesem Projekt stets hinter sich wusste, hat dafür sogar zu dem unkonventionellen Mittel der Unterschriftensammlung gegriffen. Dass der Vorschlag nach derzeitigem Stand an so weltbewegenden Fragen wie derjenigen festgefahren ist, ob das Mindestkapital 1 Euro oder 8.000 Euro betragen soll, belegt in beunruhigender Weise, wie sehr die europäische Idee ins Hintertreffen zu geraten droht. Peter Hommelhoff, der Visionär, wird allemal weiterhin gebraucht. Peter Hommelhoff hat sich in vielen ehrenvollen Funktionen um die Wissenschaft verdient gemacht; nur einige können hier genannt werden: Viele Jahre war er Fachgutachter der Deutschen Forschungsgemeinschaft für das Gebiet „Handelsrecht, Wirtschaftsrecht, Arbeitsrecht“. Im Fachbeirat des Hamburger Max-Planck-Instituts für Ausländisches und Internationales Privatrecht hat er sich ebenso engagiert wie im Fachbeirat des Münchener Max-Planck-Instituts für Geistiges Eigentum, Wettbewerb und Steuerrecht, dessen Vorsitzender er seit 2010 ist. Als spiritus rector der Gesellschaftsrechtlichen Vereinigung leitete er diese in ihren Anfangsjahren (1998 bis 2002). Und seit 1990 ist er Mitherausgeber der von seinem Lehrer Marcus Lutter mitbegründeten Zeitschrift für Unternehmens- und Gesellschaftsrecht (ZGR), seit 1997 in geschäftsführender Funktion. Schließlich war der Jubilar Fachgutachter des 59. Deutschen Juristentages 1992 in Hannover und wurde 1995 in den erweiterten Vorstand der Zivilrechtslehrervereinigung berufen, deren Geschäftsführender Vorstand er von 2003 bis 2007 war. Der Wissenschaftler Peter Hommelhoff entfaltete seine Talente aber auch als Wissenschaftsmanager. 1997 wurde er Mitglied des Verwaltungsrats der Universität Heidelberg, im Jahre 2000 sogleich stellvertretender Vorsitzender des ersten Heidelberger Universitätsrats – jenes Aufsichtsorgans, das im Zuge der Reform der Universitäten Baden-Württembergs neu eingerichtet worden war. VIII

Vorwort

Ein Jahr später wurde er zum Rektor der Ruprecht-Karls-Universität gewählt. Als herausragender Ertrag der sechsjährigen Amtszeit strahlte an deren Ende im Herbst 2007 der umfassende Heidelberger Erfolg in der Exzellenzinitiative des Bundes und der Länder zur Stärkung der universitären Spitzenforschung in Deutschland. Die Ruperto Carola zählt seitdem, und vor wenigen Monaten für weitere fünf Jahre bestätigt, zum erlauchten Kreis der Elite-Universitäten dieses Landes. In seiner Zeit als Rektor übernahm er Aufgaben in der Hochschulrektorenkonferenz, war ab 2004 als deren Vizepräsident engagierter Sprecher der Universitäten und blieb dies bis 2008. Peter Hommelhoffs vielfältige Aktivitäten und Leistungen als Wissenschaftler und Wissenschaftsmanager waren immer von einem herausragenden staatsbürgerlichen Engagement begleitet. Einem Engagement, das von einem tief verwurzelten Gefühl der Verantwortung für Deutschland und Europa getragen ist – vor allem für die deutsch-polnische Freundschaft und für die Aussöhnung von Deutschen und Juden. Die Max-Hachenburg-Gedächtnisvorlesungen an der Heidelberger Universität, zu Ehren des unvergessenen jüdischen Anwalts und Gesellschaftsrechtlers im Jahre 1994 ins Leben gerufen, waren Peter Hommelhoff stets ein ganz besonderes Anliegen. Für all dies sind dem Jubilar zahlreiche hohe Ehrungen zuteil geworden. So wurde er 2004 mit dem Diplom des polnischen Außenministers für hervorragende Verdienste um die Förderung Polens in der Welt und bei seinem Ausscheiden als Rektor auch mit dem Bundesverdienstkreuz Erster Klasse ausgezeichnet. Der Zentralrat der Juden in Deutschland verlieh ihm 2005 den Leo-Baeck-Preis und würdigte damit vor allem das Engagement des Universitätsrektors für die Hochschule für Jüdische Studien, die Heidelberger Schwester der Ruperto Carola. Dass die HfJS im Jahr 2007 in die Hochschulrektorenkonferenz aufgenommen wurde, war auch das Ergebnis des besonderen Einsatzes Peter Hommelhoffs. 2009 erhielt er von ihr das Ehrendoktorat, wie es ihm zuvor bereits von der Jagiellonen-Universität Krakau und von der Université Montpellier I verliehen worden war. Wer solche Vielfalt an Aufgaben bewältigt, muss mit außergewöhnlichen Charaktereigenschaften ausgestattet sein. Peter Hommelhoff vereint in besonderer Weise Wesenszüge, die nur auf den ersten Blick antagonistisch erscheinen: Das Gespür und die Sensibilität für sich andeutende künftige Entwicklungen, die visionäre Kraft für ganzheitliche Entwürfe und die Befähigung, all dies in klaren Sätzen zusammenzufassen. Das große Publikum, das er mit kernigen Sprüchen bei Laune hält, liegt ihm ebenso wie das vertrauliche Gespräch, in dem er aufmerksam zuhören und mit eindringlichen Worten für seine Anliegen werben kann. Immer aufs Neue gelingt es dem Jubilar auf diese Weise, Mitarbeiter und Mitstreiter für seine Ideen zu begeistern. Als Lehrer und als Vorgesetzter verbindet er höchste Ansprüche in der Sache mit menschlicher Wärme und aufmerksamer Fürsorge. Gemeinsam erzielte Erfolge weiß er gebührend zu feiern. Rückschläge nimmt er zur Kenntnis; seinem unerschütterlichen Optimismus gelten sie nur als Durchgangsstationen auf dem Weg zu neuen Ufern. Peter Hommelhoff, der impulsive und unermüdliche Initiator neuer Projekte, erreicht am Ende vielleicht nicht immer genau das, was er sich zu Beginn vorgenommen hatte, aber doch in jedem Fall wesentlich mehr als IX

Vorwort

kühl abwägende Realisten je für möglich gehalten hätten. Dass bei alledem Konflikte nicht ausbleiben, versteht sich. Er trägt sie aus, legt sie aber dann auch schnell zur Seite. Jedes Wort auf die Goldwaage zu legen, ist seine Sache nicht. Der Fregattenkapitän d. R. pflegt die „klare Zielansprache“, nimmt es aber selbst auch keineswegs krumm, wenn ihm ein anderer ehrlich die Meinung sagt. An der Gemeinschaft auch und gerade mit jungen Menschen liegt ihm viel. Sie beflügelt seinen Geist und ist ihm willkommener Widerpart in der Diskussion. Die ebenso wichtige Aufgabe, den Aktivisten in Sachen Rechtswissenschaft regelmäßig zu erden und zur Ruhe kommen zu lassen, übernehmen in ganz besonderer Weise seine Frau Margret mit ihrer herzlich-zupackenden Art sowie Sohn Peter und Tochter Kirsten. Wenn die Familie alljährlich im August für einige Wochen auf der geliebten Nordseeinsel Föhr zusammenfindet, radelt man gerne durch Geest und Marsch – für den Jubilar stets die beste Erholung. Daneben sorgt der Segeltörn, zu dem „Commodore“ in jedem Sommer mit guten Freunden aufbricht, für den nötigen frischen Wind in den grauen Zellen, denen gewiss auch in Zukunft manch kreativer Gedanke entspringen wird, den Schüler, Kollegen und Freunde gerne aufgreifen und weitertragen werden. Diese Festschrift unternimmt den Versuch, Peter Hommelhoff eine Freude zu machen. Dazu möchte ein Kreis von Autoren beitragen, der weit gezogen ist und doch nur ein Ausschnitt derjenigen sein kann, die enge Beziehungen zu ihm pflegen: Seine Schüler, Kollegen aus dem In- und Ausland, Juristen und Betriebswirte, Wissenschaftler ebenso wie Praktiker aus der Anwaltschaft, der Unternehmerschaft, der Wirtschaftsprüfung, von den Gerichten und aus Ministerien, nicht zuletzt auch Weggefährten des ehemaligen Universitätsrektors. Die Beiträge in ihrer Summe sollen die vielfältige Aktivitäten und Interessen und die besonderen Leistungen des Jubilars als Wissenschaftler und Wissenschaftsmanager widerspiegeln. Allen, die an der Festschrift mitgewirkt haben, sei an dieser Stelle herzlich gedankt, nicht zuletzt dem Verlag Dr. Otto Schmidt und dort namentlich Frau Dr. Birgitta Peters und Frau Nadja Röhling, deren hilfreiche Betreuung von unschätzbarem Wert war. Bernd Erle Gerd Krieger Martin Schwab

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X

Wulf Goette Hans-Joachim Priester Christoph Teichmann

Detlef Kleindiek Christian Schubel Carl-Heinz Witt

Inhalt Seite

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

V

Verzeichnis der Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XVII Holger Altmeppen Zur Rechtsstellung der Gläubiger im Konkurs gestern und heute . . . . .

1

Gregor Bachmann Vertikaler Regulierungswettbewerb im Europäischen Gesellschaftsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

21

Jörg Baetge und Boris Hippel Die Erklärung zur Unternehmensführung gemäß § 289a HGB aus der Sicht von Kapitalmarktexperten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

45

Theodor Baums Agio und sonstige Zuzahlungen im Aktienrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . .

61

Walter Bayer Erkrankungen von Vorstandsmitgliedern – Rechtlicher Rahmen, empirische Studie, Empfehlungen an Praxis und Regelsetzer . . . . . . . .

87

Hans-Joachim Böcking und Marius Gros Unternehmensinterne und unternehmensexterne Überwachung der Finanzberichterstattung – Zur Einbindung des Aufsichtsrats . . . . . . . .

99

Christian E. Decher Verbundeffekte im Aktienkonzernrecht und im Recht der Unternehmensbewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

115

Jean Nicolas Druey Die Zukunft des Konzernrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

135

Werner F. Ebke Die zivilrechtliche Haftung von Vorstand und Aufsichtsrat für fehlerhafte Stellungnahmen nach § 27 WpÜG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

161

Horst Eidenmüller und Jan Lasák Das tschechische Societas Europaea-Rätsel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

187

Bernd Erle Pensionsrückstellungen in der deutschen Rechnungslegung – Protokoll einer Verweigerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

205

Holger Fleischer Zu Bewertungsabschlägen bei der Anteilsbewertung im deutschen GmbH-Recht und im US-amerikanischen Recht der close corporation

223 XI

Inhalt Seite

Andreas Geiger Kooperative Graduiertenkollegs – oder: Peter Hommelhoff als Makler zwischen Universitäten und Fachhochschulen . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

243

Wulf Goette Zum Prinzip des comply or explain und der Notwendigkeit einer „inhaltlich einheitlichen“ Entsprechenserklärung nach § 161 AktG . .

257

Barbara Grunewald Die actio pro socio und Ansprüche der Gesellschafter aus eigenem Recht in der Liquidation der Personengesellschaften . . . . . . . . . . . . . . .

275

Robert Gutsche Ein Plädoyer für die „Euro-GmbH“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

285

Mathias Habersack Die Umplatzierung von Aktien und das Verbot der Einlagenrückgewähr – Folgerungen aus der „DTAG“-Entscheidung des BGH, insbesondere hinsichtlich des Regresses des Aktionärs . . . . . . . . . . . . .

303

Stephan Harbarth Unternehmerisches Ermessen des Vorstands im Interessenkonflikt . . .

323

Hans-Jürgen Hellwig und Caspar Behme Die Verpflichtung von Vorstand und Aufsichtsrat zur Einleitung des Statusverfahrens (§§ 97, 98 AktG) – Zugleich ein Beitrag zur sog. Legalitätspflicht beider Organe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

343

Dietmar Helms Die Societas Privata Europaea (SPE) – Zur Weiterentwicklung des Ursprungskonzepts im Wandel der Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

369

Joachim Hennrichs Corporate Governance und Abschlussprüfung – Zuständigkeiten, Interaktionen und Sorgfaltsanforderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

383

Martin Henssler Die « association d’avocats à responsabilité professionnelle individuelle » als französisches „Pendant zur LLP“ – Vorbild für die Reform des deutschen Personengesellschaftsrechts? . . . . . . . . . . . . . . .

401

Heribert Hirte und Sebastian Mock Rechnungslegungsrecht als Gegenstand der juristischen Ausbildung . .

417

Michael Hoffmann-Becking Gibt es das Konzerninteresse? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

433

Kirsten Hommelhoff Der Public Corporate Governance Kodex des Bundes – Herausforderungen guter Unternehmensführung und -überwachung bei privatrechtlichen Unternehmen der öffentlichen Hand . . . . . . . . . .

447

XII

Inhalt Seite

Klaus J. Hopt Incoterms 2010 – Ein Meilenstein für Recht und Praxis des internationalen Handelsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

467

Uwe Hüffer Bestellung, Mandatierung und Ersetzung von Abschlussprüfern . . . . . .

483

Esther Jansen Cash Pool und Fremdfinanzierung im Konzern – Zusammenhänge und rechtliche Fallstricke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

495

Manfred Kessler und Stefan Suchan Kapitalschutz bei Erwerb eigener Anteile nach BilMoG . . . . . . . . . . . .

509

Paul Kirchhof Zeitgerechtes und rechtzeitiges Bilanzieren – Ein Plädoyer für die gegenläufige Gesamtbilanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

527

Detlef Kleindiek Debt-Equity-Swap im Insolvenzplanverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

543

Horst Konzen Der besondere Vertreter in Kapital- und Personengesellschaften . . . . . .

565

Salomon Korn Peter Hommelhoff: Träger des Leo-Baeck-Preises 2005 . . . . . . . . . . . . .

583

Gerd Krieger Mehrheitsbeschlüsse im Aktionärspool . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

593

Georg Lanfermann und Marc Richard Nachhaltiger Kapitalschutz im Lichte der Finanzkrise – Verankerung von ökonomisch nachhaltigen Ausschüttungsrestriktionen im Gesellschaftsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

613

Silke Leopold „Obgleich Juriste, von Hause aus eine weiche musikalische Natur“ – Anton Friedrich Justus Thibaut als Musiker . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

643

Aristide Lévi De la « SARL européenne » à la « Societa Privata Europaea » : Étapes d’un long cheminement – Histoire et souvenirs d’un making of

661

Marcus Lutter Über eine zusätzliche Berichtspflicht des Aufsichtsrats an die Hauptversammlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

683

Reinhard Marsch-Barner Zur Anfechtung der Wahl des Abschlussprüfers wegen Verletzung von Informationsrechten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

691

XIII

Inhalt Seite

Hanno Merkt Managerhaftung im Finanzsektor: Status Quo und Reformbedarf . . . . .

711

Marianne Motherby und Erik Staebe Keine „laufende Verhaltenskontrolle“ durch das Eisenbahnregulierungsrecht! . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

731

Peter O. Mülbert und Alexander Wilhelm Haftungsübernahme als Einlagenrückgewähr – Überlegungen zu § 57 AktG im Nachgang zu Telekom III . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

747

Welf Müller Der Bestätigungsvermerk des Abschlussprüfers – Eine Sinnfrage . . . . .

777

Hans-Jürgen Müller-Arens und Jochen Tröger Peter Hommelhoff – 747. Rektor der Ruperto Carola . . . . . . . . . . . . . . .

791

Peter-Christian Müller-Graff Ungerechtfertigte Bereicherung im Unionsrecht – Die Kondiktion als Teil der unionsrechtlichen Staats- und Unionshaftung? . . . . . . . . . .

815

Mette Neville The European Private Company (Societas Privata Europaea) – some regulatory reflections . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

835

Wolfgang Oehler Erzwungener Wettbewerb und Als-ob-Kartellrecht im Gesundheitswesen – eine heilsame Mischung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

853

Krzysztof Oplustil und Tadeusz W»udyka Das polnische Konzernrecht – Bemerkungen de lege lata und de lege ferenda . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

863

Hans-Joachim Priester Betriebsführungsverträge im Aktienkonzern – organisationsrechtliche Instrumente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

875

Thomas Raiser Reichweite und Grenzen der Rechtsfähigkeit juristischer Personen, insbesondere wirtschaftlicher Unternehmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

891

Jochem Reichert Das Prinzip der Regelverfolgung von Schadensersatzansprüchen nach „ARAG/Garmenbeck“ – Eine kritische Würdigung . . . . . . . . . . . . . . . .

907

Gerald Rittershaus und Corinna Mickel Hat die GmbH noch eine Zukunft? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

927

Carsten Schäfer „Girmes“ wiedergelesen: Zur Treupflicht des Aktionärs im Sanierungsfall . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

939

XIV

Inhalt Seite

Alexandra Schluck-Amend Die Insolvenzverursachungshaftung des GmbH-Geschäftsführers . . . .

961

Karsten Schmidt Entherrschungsvertrag und faktische Entherrschung im Aktienkonzern – Zugleich ein Rückblick auf Peter Hommelhoffs „Konzernleitungspflicht“ nach drei Jahrzehnten . . . . . . . . . . . . . . . . . .

985

Reiner Schmidt und Simon Bulla Zur Haftung von Mitgliedern der Aufsichtsorgane von Anstalten des öffentlichen Rechts am Beispiel der Bayerischen Landesbank und der Bayerischen Staatsforsten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1001 Uwe H. Schneider Die nachwirkenden Pflichten des ausgeschiedenen Geschäftsführers . . 1023 Wolfgang Schön Der Anspruch auf Haftungsbeschränkung im Europäischen Gesellschaftsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1037 Christian Schubel Gesetzliche Beschränkungen der Vertretungsmacht von Kapitalgesellschaftsorganvertretern im Europäischen Recht . . . . . . . . . . . . . . . 1059 Joachim Schulze-Osterloh Die Einlage des stillen Gesellschafters als bilanzrechtliches Eigenkapital des Inhabers des Handelsgewerbes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1075 Martin Schwab Die Handelndenhaftung in der Gesellschaft bürgerlichen Rechts . . . . . 1091 Ulrich Seibert Was ist Corporate Governance und warum beschäftigt sie die Gesetzgebung so intensiv? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1111 Walter Sigle Zur Mitbestimmung bei der SE & Co. KG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1123 Gerald Spindler Corporate Social Responsibility in der AG – Mythos oder Realität? . . . 1133 Ursula Stein Das italienische Konzernrecht: Ein Leerstück der Gesetzgebung . . . . . 1149 Elgin Steuber Compliance – moving target . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1165 Eberhard Stilz Freigabeverfahren und Beschlussmängelrecht – Zur Evaluation des Freigabeverfahrens nach dem ARUG und zur Weiterentwicklung des Beschlussmängelrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1181 XV

Inhalt Seite

Andrzej Szuman´ski Recht der Verschmelzung, Spaltung und Umwandlung einer Handelsgesellschaft in Polen unter der besonderen Berücksichtigung der letzten Änderungen – Systemanmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1197 Christoph Teichmann Gesellschaften und natürliche Personen im Recht der europäischen Niederlassungsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1213 Wolfram Timm und Volker Messing Die Kündigung von Gleichordnungsverbindungen im Konzernrecht und ihre Rechtsfolgen – unter besonderer Berücksichtigung von Stimmbindungsvereinbarungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1237 Peter Ulmer Die unterwanderte Schutzgemeinschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1249 Rüdiger Veil Zeitenwende in der Kapitalmarktgesetzgebung – Europäisierung von Recht und Aufsicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1263 Marc-Philippe Weller Unternehmensmitbestimmung für Auslandsgesellschaften . . . . . . . . . 1275 Axel v. Werder Denn man sieht nur die im Lichte: Die Anregungen im Schatten der Kodexempfehlungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1299 Harm Peter Westermann Eigenständige Wahrnehmung der Aufsichtsratspflichten – eine Selbstverständlichkeit? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1319 Herbert Wiedemann „Sanieren oder Ausscheiden“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1337 Margret Wintermantel und Brigitte Göbbels-Dreyling Anwalt der Universitäten – Peter Hommelhoffs hochschulpolitisches Engagement . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1349 Carl-Heinz Witt Vorabausschüttungen in der GmbH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1363 Eddy Wymeersch A New look at the Debate about the Takeover Directive . . . . . . . . . . . 1375

Schriftenverzeichnis Professor Dr. Dr. h.c. mult. Peter Hommelhoff . . . . 1399

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Verzeichnis der Autoren Altmeppen, Holger Dr., Universitätsprofessor, Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Handels- und Wirtschaftsrecht I, Universität Passau Bachmann, Gregor Dr., LL.M. (Michigan), Universitätsprofessor, Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Handels- und Gesellschaftsrecht, Kapitalmarktrecht, Rechtstheorie, Freie Universität Berlin Baetge, Jörg Dr. Dr. h.c., Universitätsprofessor (em.) für Betriebswirtschaftslehre an den Universitäten Frankfurt am Main (1972), Wien (1977), von 1980 bis 2002 als Direktor des Instituts für Revisionswesen an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster, ab 2002 emeritiert und Leiter des Forschungsteams Baetge Baums, Theodor Dr. Dres. h.c., Universitätsprofessor, Direktor des Institute for Law and Finance, Goethe-Universität Frankfurt, Professeur associé, Universität Luxemburg Bayer, Walter Dr., Universitätsprofessor, Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Handels- und Gesellschaftsrecht, Privatversicherungsrecht und Internationales Recht, Friedrich-Schiller-Universität Jena, Direktor des Instituts für Rechtstatsachenforschung zum deutschen und europäischen Unternehmensrecht, Richter am Thüringer OLG a. D., Mitglied des Verfassungsgerichtshofs Behme, Caspar Rechtsreferendar am Landgericht Frankfurt am Main, Doktorand an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg Böcking, Hans-Joachim Dr., Universitätsprofessor, Lehrstuhl für Betriebswirtschaftslehre, insbesondere Wirtschaftsprüfung und Corporate Governance, Goethe-Universität Frankfurt am Main Bulla, Simon Dr., Rechtsanwalt, Kanzlei Scheidle & Partner (Augsburg), Lehrbeauftragter für öffentliches Recht an der Universität Augsburg Decher, Christian E. Dr., Rechtsanwalt, Freshfields Bruckhaus Deringer LLP, Frankfurt am Main Druey, Jean Nicolas Prof. Dr. iur., LL.M. (Harvard), Emeritus der Universität St. Gallen XVII

Verzeichnis der Autoren

Ebke, Werner F. Dr. jur., Dr. rer. pol. h.c., LL.M. (UC Berkeley), Universitätsprofessor und Geschäftsführender Direktor des Instituts für deutsches und europäisches Gesellschafts- und Wirtschaftsrecht, Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg; Attorney-at-Law (New York) Eidenmüller, Horst Dr., LL.M. (Cantab.), Universitätsprofessor, Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Deutsches, Europäisches und Internationales Unternehmensrecht, LudwigMaximilians-Universität München, Professor an der Universität Oxford Erle, Bernd Dr. jur., Rechtsanwalt, Steuerberater, Wirtschaftsprüfer, Berlin Fleischer, Holger Dr., Dipl.-Kfm., LL.M. (Michigan), Professor, Direktor des Max-PlanckInstituts für ausländisches und internationales Privatrecht, Hamburg, Affiliate Professor der Bucerius Law School, Hamburg Geiger, Andreas Dr., Professor, Rektor der Hochschule Magdeburg-Stendal, 2004–2010 Vizepräsident der Hochschulrektorenkonferenz Goette, Wulf Dr., VRiBGH a. D., Honorarprofessor der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg Göbbels-Dreyling, Brigitte Stellvertretende Generalsekretärin der Hochschulrektorenkonferenz Gros, Marius Dr., Akademischer Rat am Lehrstuhl für Betriebswirtschaftslehre, insbesondere Wirtschaftsprüfung und Corporate Governance, Goethe-Universität Frankfurt am Main Grunewald, Barbara Dr. jur., Universitätsprofessorin, Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Wirtschafts- und Anwaltsrecht, Direktorin des Insituts für Gesellschaftsrecht, Universität zu Köln Gutsche, Robert Dr., Rechtsanwalt, Wirtschaftsprüfer, Certified Public Accountant, Mitglied des Vorstands KPMG AG Wirtschaftsprüfungsgesellschaft, Berlin Habersack, Mathias Dr., Universitätsprofessor, Lehrstuhl für Bürgerliches Recht und Unternehmensrecht, Ludwig-Maximilians-Universität München

XVIII

Verzeichnis der Autoren

Harbarth, Stephan Dr., LL.M. (Yale), Rechtsanwalt, Schilling, Zutt & Anschütz, Mannheim Hellwig, Hans-Jürgen Dr., Rechtsanwalt, Hengeler Mueller, Frankfurt am Main, Honorarprofessor für Europäisches Gesellschaftsrecht an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg Helms, Dietmar W. Dr., Rechtsanwalt, Baker&McKenzie, Frankfurt am Main Hennrichs, Joachim Dr. jur., Universitätsprofessor, Direktor des Instituts für Gesellschaftsrecht und Inhaber des Lehrstuhls für Bürgerliches Recht, Bilanz- und Steuerrecht der Universität zu Köln Henssler, Martin Dr., Universitätsprofessor, Geschäftsführender Direktor des Instituts für Arbeits- und Wirtschaftsrecht, des Instituts für Anwaltsrecht sowie des Instituts für Gesellschaftsrecht der Universität zu Köln, Vorsitzender der ständigen Deputation des Deutschen Juristentags Hippel, Boris Dipl.-Kfm., Dr., wissenschaftlicher Mitarbeiter im Forschungsteam Baetge an der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Westfälischen WilhelmsUniversität Münster Hirte, Heribert Dr., LL.M. (Berkeley), Universitätsprofessor, Geschäftsführender Direktor des Seminars für Handels-, Schifffahrts- und Wirtschaftsrecht der Universität Hamburg Hoffmann-Becking, Michael Dr., Rechtsanwalt, Hengeler Mueller, Düsseldorf, Honorarprofessor an der Universität Bonn Hommelhoff, Kirsten LL.M. (University of Exeter), Büroleiterin des Geschäftsführers der Stiftung Mercator, Essen; vormals Juristische Referentin im Konzernvorstandsbüro der Deutsche Bahn AG, Berlin Hopt, Klaus J. Dr. Dr. Dr. h.c. mult., MCJ (NYU), Professor, Direktor (em.) des MaxPlanck-Instituts für ausländisches und internationales Privatrecht, Hamburg, vormals Richter am OLG Stuttgart Hüffer, Uwe Dr., Rechtsanwalt in Mannheim, Universitätsprofessor (em.) für Bürgerliches Recht, Handels- und Wirtschaftsrecht an der Ruhr-Universität Bochum, Richter am OLG Hamm a. D. XIX

Verzeichnis der Autoren

Jansen, Esther Dr., Rechtsanwältin, Shearman & Sterling LLP, Frankfurt am Main Kessler, Manfred Dr., Rechtsanwalt und Steuerberater, Stuttgart Kirchhof, Paul Dr. Dres. h.c., Universitätsprofessor, Direktor des Instituts für Finanz- und Steuerrecht der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg, Bundesverfassungsrichter a. D. Kleindiek, Detlef Dr., Universitätsprofessor, Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Handelsrecht, deutsches und europäisches Wirtschaftsrecht, Universität Bielefeld Konzen, Horst Dr. Dr. h.c. Dr. h.c. Universitätsprofessor (em.) für Bürgerliches Recht, Arbeitsrecht, Handelsrecht, Zivilprozessrecht, Johannes-Gutenberg-Universität Mainz Korn, Salomon Architekt, Prof. Dr. phil., Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde Frankfurt am Main, Vizepräsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Kuratoriumsvorsitzender der Hochschule für Jüdische Studien Heidelberg, Mitglied des Uinversitätsrates der Universität Heidelberg, Mitglied des Stiftungsrates der Europäischen Stiftung Kaiserdom zu Speyer und des ZDFFernsehrates Krieger, Gerd Dr., Rechtsanwalt, Hengeler Mueller, Düsseldorf, Honorarprofessor an der Universität Düsseldorf Lanfermann, Georg WP/StB Dipl.-Kfm., Partner im Department of Professional Practice, der Grundsatzabteilung der KPMG in Berlin Lasák, Jan JUDr., LL.M. (Columbia), Rechtsanwalt, Associate bei Kocián Šolc Balaštík, Rechtsanwälte, Prag, Dozent an der Masaryk Universität in Brünn Leopold, Silke Dr. phil, Universitätsprofessorin, Direktorin des Musikwissenschaftlichen Seminars der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg, 2001–2007 Prorektorin für Studium und Lehre an der Universität Heidelberg Lévi, Aristide Ancien Directeur du CREDA (Centre de recherche sur le droit des affaires de la Chambre de commerce et d’industrie de Paris)/ehemaliger Direktor des Forschungsinstituts der Industrie- und Handelskammer Paris CREDA XX

Verzeichnis der Autoren

(Centre de recherche sur le droit des affaires de la Chambre de commerce et d’industrie de Paris) Lutter, Marcus Dr. Dr. h.c. mult., Universitätsprofessor (em.), Sprecher des Zentrums für Europäisches Wirtschaftsrecht der Universität Bonn, Rechtsanwalt in Berlin Marsch-Barner, Reinhard Dr., Rechtsanwalt, Linklaters LLP, Frankfurt am Main, Honorarprofessor an der Georg-August-Universität Göttingen Merkt, Hanno Dr., LL.M. (Univ. of Chicago), Universitätsprofessor und Direktor des Instituts für ausländisches und internationales Privatrecht der Albert-LudwigsUniversität Freiburg, Richter am OLG Karlsruhe, Mitglied der Börsensachverständigenkommission beim Bundesfinanzministerium sowie des Übernahmerats der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht, Mitglied im Arbeitskreis externe Unternehmenskontrolle der Schmalenbach Gesellschaft für Betriebswirtschaft im Ausschuss für Unternehmensrechnung des Vereins für Socialpolitik Messing, Volker Richter am Landgericht Bochum Mickel, Corinna Dr. jur., Rechtsanwältin und Steuerberaterin pwc Hannover Mock, Sebastian Dr., LL.M. (NYU), Attorney-at-Law (New York), Habilitand, Universität Hamburg Motherby, Marianne Leiterin Recht, M.B.L.-HSG, Rechtsanwältin, Deutsche Bahn AG, Berlin Mülbert, Peter O. Dr., Universitätsprofessor, Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Handels- und Wirtschaftsrecht, Bankrecht, Johannes Gutenberg-Universität Mainz, Direktor des Instituts für deutsches und internationales Recht des Spar-, Giro- und Kreditwesens an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz Müller, Welf Dr. jur., Rechtsanwalt, Wirtschaftsprüfer, Steuerberater, Kelkheim/Ts., Linklaters LLP, Frankfurt am Main Müller-Arens, Hans-Jürgen Ministerialdirigent i.R.; Senator e.h., bis 30.9.2009 Leiter der Abteilung Hochschulen und Klinika im baden-württembergischen Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst in Stuttgart XXI

Verzeichnis der Autoren

Müller-Graff, Peter-Christian Prof. Dr. jur. habil. Dr. h.c. mult., Universitätsprofessor, Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Handels-, Gesellschafts- und Wirtschaftsrecht, Europarecht und Rechtsvergleichung, Universität Heidelberg, Geschäftsführender Direktor des Instituts für deutsches und europäisches Gesellschafts- und Wirtschaftsrecht der Universität Heidelberg, weil. Richter am OLG Köln Neville, Mette Professor, Department of Law, Aarhus University, Denmark Oehler, Wolfgang Dr., Universitätsprofessor (em.), Universität Bielefeld, Fakultät für Rechtswissenschaft Oplustil, Krzystof Dr. hab., Juniorprofessor (adiunkt) am Lehrstuhl für Wirtschaftspolitik, Jagiellonen Universität Krakau Priester, Hans-Joachim Dr., Notar a. D., Honorarprofessor an der Universität Hamburg Raiser, Thomas Dr., Universitätsprofessor (em.), Lehrstuhl für deutsches und europäisches Unternehmens- und Wirtschaftsrecht, Rechtssoziologie und Bürgerliches Recht, Humboldt-Universität zu Berlin, Richter am OLG Frankfurt a. D. Reichert, Jochem Dr., Rechtsanwalt, Schilling, Zutt & Anschütz, Mannheim, Honorarprofessor an der Friedrich-Schiller-Universität Jena Richard, Marc Dr., Diplom-Ökonom, Audit Corporate der KPMG AG Wirtschaftsprüfungsgesellschaft in Düsseldorf Rittershaus, Gerald Dr. jur., Rechtsanwalt, Mannheim, Honorarprofessor an der Universität Heidelberg Schäfer, Carsten Dr., Universitätsprofessor, Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Handels- und Gesellschaftsrecht an der Universität Mannheim, Direktor des dortigen Instituts für Unternehmensrecht (IURUM) Schluck-Amend, Alexandra Dr., Dipl. Betriebswirtin (FH), Fachanwältin für Insolvenzrecht, Partnerin bei CMS Hasche Sigle, Stuttgart Schmidt, Karsten Dr. Dr. h.c. mult., Universitätsprofessor (em.) der Rheinischen FriedrichWilhelms-Universität Bonn, Präsident der Bucerius Law School, Hamburg XXII

Verzeichnis der Autoren

Schmidt, Reiner Dr., Universitätsprofessor (em.), Universität Augsburg, ehemals Lehrstuhl für öffentliches Recht, Wirtschaftsverwaltungsrecht und Umweltrecht Schneider, Uwe H. Dr. Dr. h.c., Universitätsprofessor (em.), Technische Universität Darmstadt, Direktor des Instituts für deutsches und internationales Recht des Spar-, Giro- und Kreditwesens an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz Schön, Wolfgang Dr. Dr. h.c., Vizepräsident der Max-Planck-Gesellschaft, Direktor des MaxPlanck-Instituts für Steuerrecht und Öffentliche Finanzen, München, Honorarprofessor an der Ludwig-Maximilians-Universität München Schubel, Christian Dr., Universitätsprofessor, Fakultät für Vergleichende Staats- und Rechtswissenschaften der Andrássy Gyula Deutschsprachige Universität Budapest, Lehrstuhl für Zivil- und Wirtschaftsrecht Schulze-Osterloh, Joachim Dr., Universitätsprofessor (em.), Freie Universität Berlin Schwab, Martin Dr., Universitätsprofessor, Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Verfahrensund Insolvenzrecht, Freie Universität Berlin Seibert, Ulrich Ministerialrat im Bundesministerium der Justiz, Berlin, Leiter des Referats für Gesellschaftsrecht, Honorarprofessor an der Juristischen Fakultät der Universität Düsseldorf Sigle, Walter Dr., Professor, Rechtsanwalt, Notar a. D., Stuttgart Spindler, Gerald Dr., Universitätsprofessor, Direktor des Instituts für Wirtschaftsrecht, Georg-August-Universität Göttingen Staebe, Erik Dr., Rechtsanwalt, Leiter Regulierungsrecht Deutsche Bahn AG, Berlin Stein, Ursula Dr., Universitätsprofessorin, Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Handels-, Gesellschafts- und Wirtschaftsrecht, Geschäftsführende Direktorin des Deutsch-Italienischen Instituts für Rechtskulturvergleich in Europa – D.I.R.E., Universität Dresden Steuber, Elgin Rechtsanwältin, Vorsitzende des Vorstands der Stiftung Hessischer Wirtschaftsprüfer, Frankfurt am Main XXIII

Verzeichnis der Autoren

Stilz, Eberhard Präsident des Staatsgerichtshofs für das Land Baden-Württemberg, Präsident des Oberlandesgerichts Stuttgart, Vorsitzender des 20. Zivilsenats des OLG Stuttgart Suchan, Stefan W. Dr., LL.M. (Cornell), Rechtsanwalt und Steuerberater, Frankfurt am Main, KPMG Rechtsanwaltsgesellschaft Szumánski, Andrzej Prof. Dr. hab., Rechtsanwalt und Universitätsprofessor, Jagiellonen Universität Krakau Teichmann, Christoph Dr., Universitätsprofessor, Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Deutsches und Europäisches Handels- und Gesellschaftsrecht, Julius-Maximilians-Universität Würzburg Timm, Wolfram Dr. jur., Universitätsprofessor und Direktor des Instituts für Unternehmens- und Kapitalmarktrecht, Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Handelsund Wirtschaftsrecht, Westfälische Wilhelms-Universität Münster Tröger, Jochen Dr. med., Professor für Pädiatrische Radiologie (em.), Prorektor für Forschung und Struktur der Medizinischen Einrichtungen und Fakultäten (2001–2007), Seniorprofessor distinctus der Universität Heidelberg Ulmer, Peter Dr. Dr. h.c. mult., Universitätsprofessor (em.) der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg, Rechtsanwalt (Of Counsel), Schilling Zutt & Anschütz, Mannheim v. Werder, Axel Dr., Universitätsprofessor, Lehrstuhl für Betriebswirtschaftslehre, insbesondere Organisation und Unternehmensführung, Technische Universität Berlin Veil, Rüdiger Dr., Universitätsprofessor, Alfried-Krupp-Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Deutsches und Internationales Unternehmens- und Wirtschaftsrecht, Direktor des Instituts für Unternehmens- und Kapitalmarktrecht, Bucerius Law School, Hamburg Weller, Marc-Philippe Dr., Licencié en droit, Universitätsprofessor, Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Handels- und Wirtschaftsrecht, Universität Freiburg Westermann, Harm Peter Dr. Dres. h.c., Universitätsprofessor (em.), Universität Tübingen XXIV

Verzeichnis der Autoren

Wiedemann, Herbert Dr., Universitätsprofessor (em.), Universität zu Köln, Richter am OLG Düsseldorf a. D. Wilhelm, Alexander Mag. iur., wissenschaftlicher Mitarbeiter, Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Handels- und Wirtschaftsrecht, Bankrecht, Johannes Gutenberg-Universität Mainz Wintermantel, Margret Dr. rer. nat., Universitätsprofessorin für Sozialpsychologie, Universität des Saarlandes, Präsidentin des Deutschen Akademischen Austauschdienstes (DAAD) Witt, Carl-Heinz Dr. jur., LL.M. (Georgetown Univ.), Universitätsprofessor, Staatswissenschaftliche Fakultät, Universität Erfurt W»udyka, Tadeusz Prof. Dr. hab., Universitätsprofessor, Lehrstuhl für Wirtschaftspolitik, Jagiellonen Universität Krakau Wymeersch, Eddy Emeritus professor at the University of Gent and chairman of the Public Interest Oversight Board/Universitätsprofessor (em.), Universität Gent, Vorsitzender des Public Interest Oversight Board

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Holger Altmeppen

Zur Rechtsstellung der Gläubiger im Konkurs gestern und heute Inhaltsübersicht I. Einleitung II. Historische Entwicklung 1. Rechtslage vor Inkrafttreten der KO von 1877 (insbesondere die Preußische KO von 1855) 2. Die KO von 1877 a) Funktion und Aufgaben der Gläubigerversammlung b) Das Verhältnis der Gläubigerversammlung zum Konkursgericht und zum Konkursverwalter 3. Die InsO von 1999 a) Funktion und Aufgaben der Gläubigerversammlung b) Verhältnis der Gläubigerversammlung zum Insolvenzgericht und zum Insolvenzverwalter

III. Das „Gesetz zur weiteren Erleichterung der Sanierung von Unternehmen“ 1. Stärkung der Gläubiger bei der Auswahl des Verwalters 2. Zur Umwandlung des Fremdkapitals der Gläubiger in Eigenkapital a) Inhalt der Neuregelungen b) Debt-Equity Swap zum Nennwert oder „Verkehrswert“? c) Zur Rechtsstellung der nicht sanierungswilligen Gläubiger d) Zur Rechtsstellung der Altgesellschafter IV. Ergebnisse

I. Einleitung Das am 1.3.2012 in Kraft getretene „Gesetz zur weiteren Erleichterung der Sanierung von Unternehmen“1 soll insbesondere die Rechte der Gläubiger im Insolvenzverfahren in einer geradezu bahnbrechenden Weise stärken. Über das Ausmaß der künftigen Gestaltungsmöglichkeiten von Großgläubigern im Insolvenzverfahren haben die meisten sich noch gar keine Vorstellung gemacht, während die anderen, darüber erschrocken, sogar verfassungsrechtliche Bedenken erheben. Eine zentrale Frage der Neuregelung betreffs der Umwandlung von Fremdkapital der Insolvenzgläubiger in Eigenkapital einer sanierten Kapitalgesellschaft wird das Interesse des Jubilars, dem die Grenzziehung zwischen Eigen- und Fremdkapital immer ein wichtiges Thema war, erreichen können.

__________ 1 BGBl. I 2011, 2582.

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Holger Altmeppen

Eine historische Betrachtung der Gläubigerrechte im Konkursverfahren als Auftakt eignet sich ebenfalls für den rechtshistorisch interessierten2 Jubilar.

II. Historische Entwicklung 1. Rechtslage vor Inkrafttreten der KO von 1877 (insbesondere die Preußische KO von 1855) Die Frage, ob die Abwicklung eines Konkursverfahrens unter obrigkeitlicher Kontrolle, ausgeübt namentlich durch Verwaltungshandeln der Gerichte, oder in einem Verfahren unter bestimmendem Einfluss der Gläubiger erfolgt, in welchem das Gericht allenfalls ordnend mitwirkt, war seit jeher unterschiedlich beurteilt worden. Im älteren germanischen Recht gab es noch gar kein geordnetes Konkursverfahren, man ließ vielmehr das Prioritätsprinzip genügen. In den italienischen Stadtrechten des 13.–16. Jahrhunderts entwickelte sich – aufbauend auf dem römischen Recht – ein Konkursverfahren, das von der Gläubigerautonomie geprägt war.3 Im deutschen Recht kamen ab dem 18. Jahrhundert jedoch spanische Einflüsse hinzu, und nach spanischem Recht hatten die Gläubiger so gut wie keinen Anteil an der Verwaltung der Konkursmasse.4 Die preußische Konkursordnung von 1855 kehrte zum romanistischen Ansatz zurück und wies „den Konkursgläubigern“ an verschiedenen Stellen relevante Rechte zu. In den Motiven zum Entwurf der preußischen Konkursordnung heißt es dazu, „… einer der wesentlichen Mängel der bestehenden Gesetzgebung“

liege darin, dass die Gerichte zur Konstituierung und Verwaltung der Aktivmasse sowie zu Administrationen „wenig geeignet“ seien.5

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2 Dies belegt z. B. die höchst verdienstvolle Dokumentation der Historie des Aktienrechts im ausgehenden 19. Jahrhundert in Schubert/Hommelhoff, 100 Jahre modernes Aktienrecht (eine Sammlung von Texten und Quellen zur Aktienrechtsreform 1884 mit zwei Einführungen), ZGR Sonderheft 4, 1985. 3 Pasquay, ZHR 65 (1909), 409, 412 ff.; Uhlenbruck, KTS 1989, 229, 235. 4 Pasquay, ZHR 65 (1909), 409, 414 f. 5 Vgl. Motive zum preußischen Entwurf der KO von 1855, abgedruckt bei Goltdammer, Preußische KO vom 8. Mai 1850 mit Materialien, 1858, S. 23 f.: „deshalb ist hier allgemein und mit Recht durchgreifende Abhülfe mittelst Beschränkung der gerichtlichen Einwirkung und Gestattung einer erweiterten Theilnahme und freieren Thätigkeit der Gläubiger verlangt, wie dieselbe bereits in anderen Ländern besteht. Da die vorhandene Aktivmasse auf die Gesammtheit der Gläubiger übergeht, und dieselben nunmehr ein gemeinsames Interesse an der Erhaltung möglichsten Verbesserung und vorteilhaften Realisierung haben, so sind sie selbst für eine zweckmäßige Behandlung der Masse auch am geeignetsten und ebenso gut, wie andere Gemeinschaften, die Vermögens-Verwaltung zu führen im Stande, ohne einer fortgesetzten vormundschaftlichen Leitung des Gerichts zu bedürfen. Das Interesse des Gemeinschuldners ist dabei nicht gefährdet, dasselbe fällt in dieser Beziehung mit dem Interesse der Gläubiger zusammen. Es kann daher dem Vortheile der Betheiligten nur entsprechen, wenn den Gläubigern die Masse zur möglichst freien Verwaltung durch Vertreter überlassen wird. … Die Thätigkeit des Gerichts hat sich im Wesentlichen auf die Anordnung der nötigen Sicherheitsmaßregeln und der vorläufigen Verwaltung, sowie auf eine allgemeine Beaufsichtigung des Verfahrens zu beschränken.“

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Zur Rechtsstellung der Gläubiger im Konkurs gestern und heute

Der Gesetzgeber der Preußischen Konkursordnung hat insbesondere erkannt, dass es in erster Linie um die Regelung der Aufgaben des Vertreters der Gläubigerschaft (heute: Insolvenzverwalters) gehen musste.6 Immerhin behielt das Gericht die Endentscheidung darüber, welche Person zum Verwalter bestellt werde (§ 213 Abs. 3 Preußische KO 1855), während den Konkursgläubigern insoweit nur ein Vorschlagsrecht zustand (§ 213 Abs. 1 Satz 1 Preußische KO 1855).7 Über die Person des Verwalters sollte das Gericht entscheiden, weil auch Interessen des Gemeinschuldners oder solcher Gläubiger zu berücksichtigen seien, die nicht bekannt, nicht anwesend oder noch nicht anerkannt seien.8 Der Verwalter war aber Vertreter der Gläubiger und der Masse (§ 215 Preußische KO 1855), und darüber hinaus konnten sich die Gläubiger direkt mit einem vom Gericht zu bestätigenden sog. „Akkord“ mit dem Gemeinschuldner vergleichen (§§ 181 ff., 190 ff. Preußische KO 1855). Bereits § 212 Halbs. 2 der Preußischen KO 1855 kannte einen fakultativen „Verwaltungsrat“, der auf Vorschlag der Gläubiger (§ 213 Abs. 3) eingesetzt werden und bestimmte Geschäfte des Verwalters von seiner Zustimmung abhängig machen konnte (§§ 222 f.). Dieser Verwaltungsrat nach der Preußischen KO 1855 ist der erste gesetzlich anerkannte Vorläufer des heutigen „Gläubigerausschusses“. 2. Die KO von 1877 a) Funktion und Aufgaben der Gläubigerversammlung Der Gesetzgeber der KO von 1877 hat schon in den Motiven hervorgehoben, das Gesetz müsse „… eine Reihe von Gegenständen theils aus Gründen, die in der Natur der Sache liegen, theils wegen ihrer hervorragenden Wichtigkeit der unmittelbaren Entscheidungen durch die Gläubiger vorbehalten.“9

Dieses von der KO 1877 zugrunde gelegte Prinzip der konkursrechtlichen Selbstverwaltung der Gläubiger erfuhr Ausdruck etwa in einer Verstärkung der Gläubigerrechte betreffs der Ernennung und Entlassung des Verwalters,10 der Teilhabe an der Geschäftsführung betreffs der Verwaltung der Masse (Hinterlegung, Anlegung der Geldbestände etc.), der Entscheidung über das Schicksal der „auf gewöhnlichem Wege nicht zu verwerthenden Vermögensstücke“ oder der Entscheidung über Annahme oder Ablehnung des „Akkordvorschlages“

__________ 6 Motive (Fn. 5), S. 24 mit Hinweis auf die parallele Situation im französischen Recht (Wahl der Agenten der Fallidmasse zum Zwecke der Konstituierung und der Verwaltung derselben). 7 Anders die Rechtslage in Bayern (Art. 1280, 1289 Bayerische Civilprozessordnung) und Baden (§§ 777 f. Prozessordnung), wo die Gläubiger das uneingeschränkte Wahlrecht betreffs des Verwalters hatten. 8 Motive (Fn. 5), S. 393; krit. dazu Koch, Preußische KO, 1855, S. 164 Anm. 27. 9 Hahn, Die gesamten Materialien zur Konkursordnung, 1881, S. 282. 10 Dazu sogl. II 2 b.

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Holger Altmeppen

(§ 169 KO 1877).11 Erstmals verwendet die KO 1877 den Begriff des „Gläubigerausschusses“, der fakultativ von der Gläubigerversammlung gewählt (§ 79 Abs. 2 KO 1877) und dogmatisch als Organ der Gläubigerschaft zum Zweck der konkursrechtlichen Selbstverwaltung eingeordnet wurde. Dem Gläubigerausschuss oblag es insbesondere, den Verwalter bei seiner Geschäftsführung zu überwachen und zu unterstützen, wobei ein Rechtsverhältnis (Auftrag?) zu den Gläubigern allerdings nicht bestehen sollte. Darüber hinaus konnte die Gläubigerversammlung die zu ihrem Kompetenzkreis gehörenden Aufgaben auch an den Ausschuss delegieren.12 b) Das Verhältnis der Gläubigerversammlung zum Konkursgericht und zum Konkursverwalter Das Verhältnis zwischen Gläubigerversammlung und Konkursgericht fand einen (eher irreführenden) Ausdruck in § 86 Abs. 1 Satz 1 KO 1877: „Die Gläubigerversammlung findet unter der Leitung des Gerichts statt.“

Allerdings wurde die Gläubigerversammlung durch Beschluss des Gerichts einberufen, der jedoch zu erfolgen hatte, wenn der Verwalter, der Gläubigerausschuss oder ein Quorum der Konkursgläubiger mit Forderungen in Höhe von 20 % dies beantragten (§ 85 Abs. 1 KO 1877). Ferner konnte das Gericht die „Ausführung einer von der Gläubigerversammlung beschlossenen Maßregel“ auf Antrag des Verwalters oder eines überstimmten Gläubigers untersagen, „wenn die Maßregel dem gemeinsamen Interesse der Konkursgläubiger“ widersprach (§ 91 KO 1877). Die Frage, wann die Voraussetzungen einer solchen Untersagung vorlagen, war aber heftig umstritten. Teilweise wurde eine Benachteiligung der Gläubigergesamtheit zugunsten einzelner Gläubiger oder Dritter verlangt, andere forderten eine Verletzung eines Individualrechts oder einer rechtlich geschützten Position einer Minderheit.13 Schon in der KO 1877 schimmert die zentrale Bedeutung des Verhältnisses zwischen Gläubigerversammlung und Verwalter durch. Der zunächst vom Gericht ernannte Verwalter (§ 70 Satz 1 KO 1877) konnte in der anschließenden Gläubigerversammlung durch Wahl einer anderen Person ersetzt werden, freilich mit der Maßgabe, dass das Gericht dessen Ernennung ablehnen konnte (§ 72 KO 1877). In den Motiven heißt es dazu, der Gesetzgeber nehme zu der seit der Preußischen KO von 1855 strittigen Frage des Einflusses der Gläubiger auf die Wahl des Verwalters einen vermittelnden Standpunkt ein. Die Ernennung des Verwalters durch das Gericht trage dem Umstand Rechnung, dass das Amt des Verwalters „in gewissem Sinn einen öffentlichen Charakter an

__________ 11 Hahn (Fn. 9), S. 287. 12 Vgl. nur Kuhn/Uhlenbruck, 11. Aufl. 1994, § 87 KO Rz. 1 mit reichen Nachw. 13 S. die Nachw. bei Kuhn/Uhlenbruck (Fn. 12), § 99 KO Rz. 2.

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Zur Rechtsstellung der Gläubiger im Konkurs gestern und heute

sich“ trage, was eine „obrigkeitliche Verleihung“ erfordere.14 Zum Fall der Auswechslung des zunächst vom Gericht bestimmten Verwalters durch Neuwahl der Gläubiger äußern sich die Motive hinsichtlich der Rolle des Gerichts wie folgt: „Nur aus triftigem Grund wird eine Neuwahl von dem Gericht unbeachtet bleiben.“15

In der Praxis hat die Gläubigerversammlung ihr Recht, den Verwalter abzuwählen, freilich nur ganz selten genutzt.16 Als Zwischenergebnis ist festzuhalten, dass die KO 1877 von einer obrigkeitsstaatlichen Ausgestaltung des Konkursverfahrens Abstand genommen und dieses – noch stärker als die Preußische KO 1855 – als ein Verfahren autonomer Selbstverwaltung der Gläubiger unter staatlicher Aufsicht verstanden hat, wobei der Konkursverwalter Glied der Selbstverwaltungsorganisation sein sollte.17 3. Die InsO von 1999 a) Funktion und Aufgaben der Gläubigerversammlung In der Tradition der KO von 1877 betrachtet die InsO die Gläubigerversammlung als Organ der insolvenzrechtlichen Selbstverwaltung der Gläubiger.18 Aufgrund der zahlreichen Aufgaben, die der Gläubigerversammlung zugewiesen sind, wird diese nicht zu Unrecht als das „wichtigste Organ“ des Insolvenzverfahrens bezeichnet.19 Das neben der Gläubigerversammlung zentrale Organ der Gläubigerautonomie auf der Grundlage der InsO ist der Gläubigerausschuss, dessen Funktion treffend mit derjenigen eines Aufsichts- oder Beirats im Gesellschaftsrecht verglichen wurde. Der Einfluss der Gläubiger auf den Ablauf des Insolvenzverfahrens soll insbesondere durch den Gläubigerausschuss sichergestellt werden.20

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14 S. Hahn (Fn. 9), S. 278, 283: „Die Ernennung durch das Gericht ist deshalb unter allen Umständen erforderlich und die alleinige Quelle seiner (sc. des Verwalters) Befugnisse.“ Doch solle den Gläubigern ein „… vorwiegender Einfluss auf die Auswahl des Verwalters“ eingeräumt werden, zumal da das Gericht aufgrund fehlender materieller Kenntnisse und Erfahrungen mit der Verwaltung der Konkursmasse vielfach überfordert sei. 15 Hahn (Fn. 9), S. 278. Die h. M. hat aus dieser Formulierung in den Gesetzesmaterialien zu Recht geschlossen, dass die KO 1877 keineswegs nur von einem Vorschlagsrecht (s. dazu § 213 Abs. 1 Satz 1 der Preußischen KO 1855) ausgegangen sei, vgl. Kuhn/Uhlenbruck (Fn. 12), § 80 KO Rz. 1; Wild, KTS 1982, 63, 64; anders freilich Jaeger, Konkursordnung, 1902, § 80 KO Anm. 1; Kilger, Konkursordnung, 15. Aufl. 1987, § 80 KO Anm. 1. 16 Vgl. Gräber in MünchKomm. InsO, 2. Aufl. 2007, § 57 InsO Rz. 8 mit Hinweis auf eine rechtssoziologische Untersuchung im Jahr 1978: Abwahlquote bei lediglich 0,15 %! 17 Kilger (Fn. 15), § 93 Anm. 1; vgl. auch Ehricke in MünchKomm. InsO, 2. Aufl. 2007, § 74 InsO Rz. 1 (der dies unter Geltung der InsO für überholt hält, dazu sogl.). 18 Uhlenbruck, 13. Aufl. 2010, § 74 InsO Rz. 5; Ehricke (Fn. 17), § 74 InsO Rz. 2 m. w. Nachw. 19 Uhlenbruck (Fn. 18), § 74 InsO Rz. 1 ff. 20 Uhlenbruck (Fn. 18), § 67 InsO Rz. 1.

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b) Verhältnis der Gläubigerversammlung zum Insolvenzgericht und zum Insolvenzverwalter Hinsichtlich der Einberufung, Leitung und Rechtsaufsicht über die Beschlüsse der Gläubigerversammlung hat sich im Vergleich zur KO von 187721 durch die InsO so gut wie gar nichts geändert.22 Die Einschränkung der Gläubigerautonomie, die darin besteht, dass das Gericht einen Beschluss der Gläubigerversammlung aufheben kann, wenn er den gemeinsamen Interessen der Gläubiger widerspricht (§ 78 Abs. 1 InsO), wird treffend als Problem der Abwägung des Rechts der Gläubiger, aufgrund der Gläubigerautonomie ihre Angelegenheiten selbst zu regeln, und dem Verbot, das Gesamtinteresse der Insolvenzgläubiger aus den Augen zu verlieren, interpretiert.23 Die Streitfrage, ob eine nur rechtliche oder schon eine (nur) wirtschaftliche Verschlechterung der Situation der Insolvenzgläubiger für eine Aufhebung des Gläubigerversammlungsbeschlusses ausreichend ist, hat auch der Gesetzgeber der InsO (§ 78 Abs. 1) offen gelassen.24 Eine „Unzweckmäßigkeit“ von Entscheidungen der Gläubigerversammlung ist jedenfalls keine Handhabe für die Aufhebung.25 Ein Widerspruch zum gemeinsamen Gläubigerinteresse liegt aber vor, wenn der Beschluss einseitig dem Sonderinteresse eines Gläubigers oder einer Gläubigergruppe auf Kosten des Gesamtinteresses aller Insolvenzgläubiger gewidmet ist.26 Das schon in der KO 1877 vorgesehene Recht der Gläubigerversammlung, den vom Gericht bestellten Insolvenzverwalter abzulehnen und einen neuen Verwalter an seine Stelle zu wählen,27 hat die InsO in § 57 Satz 1 übernommen und dahin gestärkt, dass die Ernennung der gewählten Person nur bei mangelnder Eignung für das Amt versagt werden darf (§ 57 Satz 3 InsO). Die Unparteilichkeit des Verwalters soll ferner dadurch gewährleistet werden, dass die Wahl des Verwalters nicht nur nach der Mehrheit der Forderungsbeträge der Gläubiger, sondern auch nach Köpfen erfolgt (§§ 57 Satz 2, 76 Abs. 2 InsO). Einflussreiche Gläubiger haben also seit 1999 nicht mehr die Möglichkeit, ohne Rücksicht auf die Mehrheit aller Gläubiger ihnen genehme Verwalter zu bestellen.28

__________ 21 S. dazu II 2. 22 Vgl. §§ 74 Abs. 1 Satz 1, 76 Abs. 1, 78 Abs. 1 InsO. 23 Uhlenbruck (Fn. 18), § 78 InsO Rz. 10: „§ 78 Abs. 1 bietet ‚keinen allgemeinen Rettungsanker bei Fehlentscheidungen‘, sondern dient als Korrektiv der Wahrung der Autonomie einzelner Gläubiger“. Vgl. auch BGH, NZI 2008, 490 = ZInsO 2008, 735 = ZIP 2008, 1384: Das „gemeinsame Interesse der Gläubiger“ i. S. des § 78 Abs. 1 sei auf die bestmögliche und gleichmäßige Befriedigung aller Gläubiger, also nicht nur der Mehrheit, gerichtet; ebenso Ehricke (Fn. 17), § 78 InsO Rz. 17; Pape, ZInsO 2000, 469, 475 jew. m. w. Nachw. 24 Uhlenbruck (Fn. 18), § 78 InsO Rz. 11. 25 Uhlenbruck (Fn. 18), § 78 InsO Rz. 11; Pape, ZInsO 2000, 469, 476. 26 Kübler in Kübler/Prütting/Bork, InsO (Loseblattslg. Stand 2010), § 78 InsO Rz. 7. 27 Näher II 2 b. 28 Zu dem immer noch bestehenden Risiko, dass Gläubigergruppen ihr Abwahlrecht dazu missbrauchen, einen ihnen genehmen Verwalter zu wählen, s. einerseits Uhlenbruck (Fn. 18), § 57 InsO Rz. 7, andererseits E. Braun in FS Uhlenbruck, 2000, S. 463, 484, der sich dagegen verwahrt, ein gewählter Verwalter werde seinen „Wählern“ unvertretbar „entgegenkommen“.

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Nach der ersten Gläubigerversammlung erfolgt eine Entlassung des Verwalters nur noch aus einem wichtigen Grund durch das Insolvenzgericht, das nicht nur auf Antrag des Verwalters bzw. des Gläubigerausschusses, sondern auch von Amts wegen tätig werden kann (§ 59 InsO). Im Übrigen ist der Insolvenzverwalter an Entscheidungen der Gläubigerversammlung im Rahmen ihres gesetzlich normierten Aufgabenkreises gebunden.29 Bei für das Insolvenzverfahren besonders bedeutsamen Rechtshandlungen hat der Insolvenzverwalter die Zustimmung des Gläubigerausschusses (falls nicht vorhanden: der Gläubigerversammlung) einzuholen (§ 160 InsO). Diese im Vergleich zur Regelung in §§ 121 Nr. 2, 122 KO 1877 flexiblere Vorschrift soll gewährleisten, dass die Gläubiger in Ausübung ihrer Gläubigerautonomie ständig an den wesentlichen Entscheidungsprozessen bei der Insolvenzabwicklung beteiligt werden.30 Als Zwischenergebnis ist festzuhalten, dass die InsO die Gläubigerautonomie, die schon die KO von 1877 und die Preußische KO von 1855 beherrschen sollte, weiter ausgebaut hat. Die wichtige Entscheidung über die Person des Verwalters lag aber weiterhin de facto beim Gericht, und die noch wichtigere über eine Sanierung des Unternehmens weiterhin in erster Linie bei den Anteilseignern.31

III. Das „Gesetz zur weiteren Erleichterung der Sanierung von Unternehmen“ Das am 1.3.2012 in Kraft getretene „Gesetz zur weiteren Erleichterung der Sanierung von Unternehmen“ hat die Rechte der Gläubiger im Insolvenzverfahren in zweierlei Hinsicht wesentlich gestärkt, erstens betreffs der Person des Verwalters, zweitens in Bezug auf ihre Vermögensposition: Sie können ihr Investment von Fremd- in Eigenkapital umwandeln und dadurch möglicherweise retten. 1. Stärkung der Gläubiger bei der Auswahl des Verwalters Ein seit jeher bestehendes Problem der Beteiligung der Gläubiger an der Auswahl eines geeigneten Verwalters bestand darin, dass dieser zunächst einmal vom Gericht bestimmt wird und im Zeitpunkt der ersten Gläubigerversammlung schon so intensiv in den Fall eingearbeitet ist, dass seine Auswechslung durch Gläubigerbeschluss in der Praxis so gut wie immer als unzweckmäßig erschien.32 Daran knüpft die Neuregelung in verschiedenen Bestimmungen an, deren Sinn darin besteht, den Gläubigern von Anfang an entscheidenden Ein-

__________ 29 S. dazu Uhlenbruck (Fn. 18), § 76 InsO Rz. 34; Ehricke (Fn. 17), § 76 InsO Rz. 31 jew. m. w. Nachw. 30 Uhlenbruck (Fn. 18), § 160 InsO Rz. 1. 31 Vgl. dazu den Ersten Bericht der Kommission für Insolvenzrecht, 1985, S. 189 ff., 278 ff. 32 Dazu II 2 b mit Fn. 16.

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fluss auf die Person des Verwalters einzuräumen. Bei Unternehmen relevanter Größe soll ein vorläufiger Gläubigerausschuss eingesetzt werden, um diesem Gelegenheit zu geben, die Anforderungen an den Verwalter zu bestimmen und gegebenenfalls die Person vorzuschlagen, sofern die damit verbundene Zeitverzögerung keine wesentlichen Nachteile befürchten lässt (§§ 22a, 56a InsO). Die bisher in Deutschland nicht selten anzutreffende Vorstellung von Insolvenzrichtern, eine ihnen vom Schuldner oder von Gläubigern vorgeschlagene Person sei als Verwalter möglicherweise per se nicht geeignet, soll durch die Neuregelung ausgeschlossen werden (§ 56 Abs. 1 Satz 3 Nr. 1 InsO).33 Auch ehemaligen Beratern des Gemeinschuldners soll die Eignung nicht abgesprochen werden können (§ 56 Abs. 1 Satz 3 Nr. 2 InsO). Eine im Regierungsentwurf vorgesehene Bestimmung, nach der das Gleiche für Personen gelten sollte, die unter Einbindung von Gläubigern und Schuldner einen Insolvenzplan erstellt haben, wurde nach Kritik durch Bundesrat und Rechtsausschuss gestrichen.34 Wenn der vorläufige Gläubigerausschuss einstimmig einen Insolvenzverwalter vorschlägt, muss das Gericht, wenn es davon abweichen will, die mangelnde Eignung der vorgeschlagenen Person (§ 56 Satz 3 InsO) im Eröffnungsbeschluss begründen (§ 27 Abs. 2 Nr. 5 InsO). Die Bestimmung ist vor dem Hintergrund zu sehen, dass die Gläubiger frühzeitig an der Ernennung des Verwalters beteiligt werden sollen, um den bereits erwähnten Missstand (Zeit- und Kostenaufwand bei verspäteter Einschaltung der Gläubiger) abzustellen.35 Deshalb sieht die Neuregelung die Kompetenzen des Gläubigerausschusses betreffs der Bestimmung des Verwalters schon für die Bestellung eines vorläufigen Insolvenzverwalters vor (vgl. § 21 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 InsO). Bei genauer Betrachtung liegt darin der wichtigste Anwendungsbereich der Neuregelung, da in der Praxis in aller Regel der vorläufige Insolvenzverwalter später vom Gericht als Insolvenzverwalter bestimmt wird.36 2. Zur Umwandlung des Fremdkapitals der Gläubiger in Eigenkapital a) Inhalt der Neuregelungen Der materiellrechtlich entscheidende Teil der Neuregelungen ist dem Ziel gewidmet, im Rahmen eines Insolvenzplans den Insolvenzgrund (Überschuldung oder Zahlungsunfähigkeit) zu beseitigen. Deshalb wurde die Möglichkeit geschaffen, im Insolvenzplan Insolvenzforderungen in Eigenkapital (Gesell-

__________ 33 BT-Drucks. 17/5712, S. 26. 34 S. dazu die Stellungnahme des Bundesrates, BT-Drucks. 17/5712, S. 52; dazu Gegenäußerung der Bundesregierung, die an ihrer Auffassung zunächst festhielt, BTDrucks. 17/5712, S. 68. Die Streichung erfolgte dann auf Empfehlung des Rechtsausschusses des Bundestages, s. dazu BT-Drucks. 17/7511, S. 34. 35 BT-Drucks. 17/5712, S. 17 f., S. 25 f. 36 Vgl. BT-Drucks. 17/5712, S. 25. Krit. zur Neuregelung Vallender, MDR 2012, 61, 64, der befürchtet, jener „radikale Paradigmenwechsel“ zugunsten der Gläubigerbefugnisse führe zu Abstimmungsschwierigkeiten zwischen Gericht und Verwalter und berge die Gefahr, dass einzelne Gläubiger ihre beherrschende Stellung im Ausschuss missbrauchen.

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schaftsanteile) umzuwandeln. Dieser sog. Debt-Equity Swap ist nach der Regierungsbegründung ein wichtiges Instrument zur Sanierung von Unternehmen in wirtschaftlicher Schwierigkeit.37 Die Annahme, dass durch den DebtEquity Swap eine Überschuldung beseitigt werden kann, liegt auf der Hand, wenn und weil Fremdkapital auf der Passivseite verschwindet. Aber auch die Zahlungsunfähigkeit soll nach den Vorstellungen des Gesetzgebers durch das Erlöschen von Zins- und Tilgungspflichten wiederhergestellt werden können. In § 225a Abs. 2 und 3 InsO heißt es dazu: „(2) Im gestaltenden Teil des Plans kann vorgesehen werden, dass Forderungen von Gläubigern in Anteils- oder Mitgliedschaftsrechte am Schuldner umgewandelt werden. Eine Umwandlung gegen den Willen der betroffenen Gläubiger ist ausgeschlossen. Insbesondere kann der Plan eine Kapitalherabsetzung oder -erhöhung, die Leistung von Sacheinlagen, den Ausschluss von Bezugsrechten oder die Zahlung von Abfindungen an ausscheidende Anteilsinhaber vorsehen. (3) Im Plan kann jede Regelung getroffen werden, die gesellschaftsrechtlich zulässig ist, insbesondere die Fortsetzung einer aufgelösten Gesellschaft oder die Übertragung von Anteils- oder Mitgliedschaftsrechten.“

Damit ist die typische Linie der Sanierung, nämlich der Kapitalschnitt (nominelle Kapitalherabsetzung, effektive Kapitalerhöhung) angesprochen, wobei die effektive Kapitalerhöhung durch die Umwandlung von Forderungen in Mitgliedschaftsrechte, ggf. unter Ausschluss der Bezugsrechte der Altgesellschafter, erfolgen kann.38 Die Anteilseigner können zwar am Insolvenzverfahren beteiligt werden (§§ 217 Satz 2, 222 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4, 225a Abs. 1 InsO), doch bleibt im Dunkeln, welches Recht der „Mitentscheidung“ sie in Wirklichkeit noch haben.39 Denn ungeachtet des Umstandes, dass die Altgesellschafter eine Gruppe bilden, die den Insolvenzplan mit Kapitalmehrheit bewilligen muss (§§ 238a, 244 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 3 InsO), kann die erforderliche Mehrheit kraft des „Obstruktionsverbots“ fingiert werden (§ 245 InsO). Die Altgesellschafter können den Insolvenzplan grundsätzlich nur dann verweigern, wenn sie durch den Plan schlechter stünden als ohne, was so gut wie nie der Fall sein wird, weil ihr Beteiligungswert bei Überschuldung ohnehin mit „Null“ anzusetzen ist.40 Volle „Entscheidungsfreiheit“ haben demgegenüber die Gläubiger selbst, in deren Belieben es stehen soll, ob sie sich an der Umwandlung von Fremd- in

__________ 37 RegBegr. BT-Drucks. 17/5712, S. 18. 38 Vgl. Priester, DB 2010, 1445; Hölzle, NZI 2011, 124, 128; RegBegr. BT-Drucks. 17/5712, S. 31 f.; den umwandelnden Gläubigern soll zugleich das Sanierungsprivileg (§ 39 Abs. 4 Satz 2 InsO) zugutekommen, BT-Drucks. 17/5712, S. 32. 39 Treffend K. Schmidt, BB 2011, 1603, 1607 f.: Von „Mitentscheidung“ zu sprechen sei „euphemistisch“. Die Gesellschafter würden in das Insolvenzplanverfahren hineingezwungen. 40 Dazu sogl. III 2 d. Überflüssig bzw. obsolet wird damit auch der nach altem Recht zweifelhafte Versuch, die Blockademöglichkeiten der Gesellschafter durch eine „Aufopferungspflicht“ zu überwinden (so Bitter, ZGR 2010, 147 ff.). S. dazu auch Brinkmann, WM 2011, 97, der darauf hinweist, dass die Gesellschafter sich nach alten Recht ihre Zustimmung vielfach teuer haben abkaufen lassen.

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Eigenkapital beteiligen wollen (§ 225a Abs. 2 Satz 2 InsO). Dies ist offenbar vor dem Hintergrund der Art. 9, 14 GG für notwendig erachtet worden und bedeutet eine Durchbrechung des Grundsatzes, dass die jeweilige Mehrheit der Gläubigergruppen über den Insolvenzplan zu entscheiden hat (§§ 243 ff. InsO).41 Die vorrangige Frage ist aber, weshalb „sanierungswillige“ Gläubiger in ausreichendem Maße zur Verfügung stehen sollen, wenn sie – was gesellschaftsrechtlich auf den ersten Blick als zwingend erscheint – als „Sacheinlage“ nur die Quote auf ihre Insolvenzforderung (diese insbesondere nicht zum Nennwert) einbringen können. b) Debt-Equity Swap zum Nennwert oder „Verkehrswert“? aa) Meinungsstand Im Schrifttum ist schon frühzeitig die These aufgestellt worden, der Kreditgeber könne seine Forderung sogar zum Nennwert (!) in Eigenkapital an der Schuldner-Gesellschaft umwandeln.42 Zur Begründung wird angeführt, die in Gestalt einer Sacheinlage eingebrachte Forderung des Gläubigers werde ja als solche im Sinne einer Insolvenzforderung offengelegt, das Kapital der Gesellschaft sei zudem ohnehin verloren und den übrigen Gläubigern der in aller Regel einen Bruchteil des Nennwerts ausmachende wahre Wert der eingelegten Forderung bekannt.43

__________ 41 Krit. dazu manche Vertreter in den Beratungen des Rechtsausschusses, die teilweise einen Mehrheitsbeschluss der Gläubiger – und damit eine Zwangsumwandlung (!) der Forderung – ausreichen lassen wollten, während andere es für untragbar hielten, dass den vorhandenen Gesellschaftern gegen deren Willen in Gestalt der umwandelnden Gläubiger „neue Mitgesellschafter“ aufgedrängt werden; die Stellungnahmen der Sachverständigen im Rechtsausschuss sind abrufbar unter http://www.bundes tag.de/bundestag/ausschuesse17/a06/anhoerungen/archiv/12_Sanierung_von_Untern ehmen/04_Stellungnahmen/index.html. 42 So Cahn/Simon/Theiselmann, DB 2010, 1629 ff.; dies., DB 2012, 501 ff.; zust. Eidenmüller in Schriftenreihe der bankrechtlichen Vereinigung, Bd. 33, 2011, S. 129, 149; ausführlich Maier-Reimer in VGR, Bd. 17 (2012), S. 107 ff.; de lege ferenda so auch schon Eidenmüller/Engert, ZIP 2009, 541, 544 f.: Die vorzugswürdige „insolvenzrechtliche“ – im Gegensatz zur „gesellschaftsrechtlichen“ – Verteilungsregel im Verhältnis zwischen Altgesellschaftern und Gläubigern besage, dass das „auszutauschende Fremdkapital mit dem Nominalwert der Forderungen … anzusetzen“ sei. Die „gesellschaftsrechtliche“ Verteilungsregel verstärke den unerwünschten „Risiko- und Unterinvestitionsanreiz“ in der Person der Altgesellschafter „noch zusätzlich, … wenn die Gesellschafter nach einer Reorganisation im Insolvenzplanverfahren eine höhere Beteiligung erwarten können, weil der vorhandene Unternehmenswert nicht vorrangig den Gläubigern zugute kommt“. Schon im Jahre 1994 hat Karollus (ZIP 1994, 589, 591, 599) argumentiert, nach dem Rechtsgedanken des § 194 Abs. 1 Satz 2 AktG (keine Werthaltigkeitskontrolle bei Umtausch von Wandelschuldverschreibungen in Bezugsaktien) sei bei der Umwandlung nicht vollwertiger Forderungen immer deren Nennwert anzusetzen. 43 Cahn/Simon/Theiselmann, DB 2010, 1629 ff.; zuletzt dies., DB 2012, 501, 502 f. mit dem (seltsamen) Hinweis, die Gläubiger hätten sogar ein Interesse an möglichst hohem Eigenkapitalausweis (auch wenn dieser unzutreffend ist?!).

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Maier-Reimer44 hat darüber hinaus argumentiert, die Umwandlung zum Nennwert entspreche sogar den realen Wertverhältnissen, wenn und weil der DebtEquity Swap dazu führe, dass der Insolvenzgrund bei der Schuldnergesellschaft entfalle. Dafür werden im Wesentlichen fünf Gründe angeführt: Erstens müsse, wenn die Forderungen aller anderen Gläubiger wegen wiedererlangter Solvenz der Schuldnerin vollwertig geworden seien, diese Bewertung bei der gebotenen Abstellung auf den „funktionalen Zeitpunkt“ auch für die umgewandelte Forderung gelten. Ein sachlicher Grund für die Diskriminierung der umgewandelten Forderungen sei nicht ersichtlich.45 Zweitens hätte eine Befreiung von der zu bewertenden Forderung im „funktionalen Bewertungszeitpunkt“ für die anderen Gläubiger und damit auch für die Gesellschaft einen Wert in Höhe des Nennbetrages.46 Drittens bestehe kein Unterschied im Vergleich zur Zuführung von Bargeld in Höhe des Nennbetrages, wenn und weil dieses bei Überschuldung in entsprechender Höhe zur Tilgung von Verbindlichkeiten der Schuldnergesellschaft eingesetzt werden müsse.47 Dieses Argument ist nicht neu, läuft insbesondere auf die These hinaus, der Debt-Equity Swap sei im Sinne einer „verdeckten Bareinlage“ zu deuten, die der Inferent der Gesellschaft zusätzlich zur Sachleistung „virtuell“ zur Verfügung stelle, nämlich allein zu dem Zweck, dass die Bareinlage anschließend „virtuell“ zur Forderungstilgung an den Inferenten zurückfließe.48 Viertens entspreche es heute allgemeiner Auffassung, dass die Kapitalerhöhung um einen bestimmten Nennbetrag nicht zu einem Reinvermögen der Gesellschaft in entsprechender Höhe führen müsse.49 Fünftens sei im Parallelfall der Bareinlage nach der Rechtsprechung nur erforderlich, dass sie am Stichtag „wertmäßig noch vorhanden“ sei, dass insbesondere eine zwischenzeitlich eingetretene Minderung durch andere Verluste außer Betracht zu bleiben habe.50 Nach allem sei die Forderungsumwandlung, die Zahlungsunfähigkeit und Überschuldung beseitige, mit der Zuführung von Barmitteln in Höhe des Nennbetrages der Forderungen ohne Weiteres zu vergleichen.51 Nach der Gegenansicht soll die Bewertung der Forderung „zum Verkehrswert in Annäherung an die Quotenerwartung“ bereits ein „verfassungsrechtliches Gebot“ sein, weil eine höhere, womöglich zum Nenn- oder Buchwert erfol-

__________ 44 45 46 47 48

Maier-Reimer (Fn. 42), S. 125 ff. Maier-Reimer (Fn. 42), S. 125 f. Maier-Reimer (Fn. 42), S. 127. Maier-Reimer (Fn. 42), S. 127. So Eidenmüller (Fn. 42), S. 129, 149 mit Fn. 70; vgl. dazu schon Geßler in FS Möhring, 1975, S. 173, 179; Tesauro, ZIP 1992, 1036, 1041 (aus europarechtlicher Sicht); Peifer in MünchKomm. AktG, 3. Aufl. 2011, § 183 AktG Rz. 13; Lutter in KölnKomm. AktG, 2. Aufl. 1995, § 183 AktG Rz. 30 f. 49 Maier-Reimer (Fn. 42), S. 128 mit Hinweis auf BGHZ 150, 197, 199. 50 Maier-Reimer (Fn. 42), S. 129 mit Hinweis auf BGHZ 119, 177, 186 ff. 51 Maier-Reimer (Fn. 42), S. 130 f.

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gende Umwandlung „… eine nicht zu rechtfertigende ‚überhöhte‘ negative Verschiebung der Anteilsstruktur zu Lasten der Altaktionäre“ darstelle.52 Der Gesetzgeber des ESUG soll „klar gemacht“ haben, dass das „Vollwertigkeitsprinzip anzuwenden“ sei, denn in den Gesetzesmaterialien sei der Hinweis auf Einholung eines Bewertungsgutachtens erfolgt.53 Anzusetzen sei der Zerschlagungswert, nicht etwa ein Fortführungswert unter Beachtung des „Sanierungsszenarios“, weil in der Gesetzesbegründung davon ausgegangen worden sei, dass die Quotenerwartung im Insolvenzverfahren berücksichtigt werden müsse.54 Auch aus § 225a Abs. 5 InsO, der die Abfindung ausscheidender Gesellschafter zum Zerschlagungswert anordne, sei abzuleiten, dass dann für die Bewertung der in gesellschaftsrechtliche Strukturmaßnahmen einbezogenen Gläubigerforderungen nichts anderes gelten könne.55 Andere machen den Umwandlungswert der Forderung davon abhängig, wie viel „Aktivvermögen“ der Gesellschaft durch die Schuldbefreiung „freigesetzt“ werde. Abzustellen sei also nicht auf einen „Verkehrswert“ der Forderung, geschweige denn auf ihren Nennwert, sondern auf den Vermögensstatus der Gesellschaft. Der „Verzicht“ auf die Forderung, genauer: der entsprechend hohe Wegfall eines Passivpostens, sei danach zu bewerten, in welcher Höhe auf der Aktivseite „Vermögenswerte gegenüberstehen“, wobei streitig ist, ob die Berechnung des „Einbringungswertes“ mit Hilfe der „Statusberechnung“ nach den „aktuellen Verkehrswerten“ der Aktiva einschließlich der stillen Reserven56 oder in „strikt handelsbilanzieller Betrachtung“ auf der Basis von (fortgeschriebenen) Buchwerten (ausgehend von historischen Anschaffungspreisen) zu erfolgen habe.57 Endlich soll der Wert der umzuwandelnden Forderung unter dem Aspekt der Fortführungsprognose höher sein als zu Zerschlagungswerten, was das eigentliche Motiv für den Debt-Equity Swap bilden soll.58

__________ 52 Bay/Seeburg, ZInsO 2011, 1927, 1934 ff. S. zum umgekehrten Verständnis der berechtigten Erwartungen der Aktionäre jedoch Eidenmüller/Engert (Fn. 42). 53 Simon/Merkelbach, NZG 2012, 121, 123 mit Hinweis auf RegBegr. BR-Drucks. 127/11, S. 45. Wohl zust. Gehrlein, NZI 2012, 257, 260. 54 Simon/Merkelbach, NZG 2012, 121, 124 mit Hinweis auf RegBegr. BR-Drucks. 127/11, S. 45. 55 Simon/Merkelbach, NZG 2012, 121, 124. 56 So Priester, DB 2010, 1445, 1448. 57 So Ekkenga, DB 2012, 331, 336 jew. m. w. N. 58 Priester, DB 2010, 1445, 1448. Diese Bewertung ist nach Eidenmüller/Engert, ZIP 2009, 541, 543 das Ergebnis der „gesellschaftsrechtlichen Verteilungsregel“: „Dieser (sc. wirtschaftliche Wert der Forderung) hängt allerdings von der Unternehmenszukunft ab, insbesondere von der Entscheidung über Fortführung oder Liquidation. Sofern der Insolvenzplan auf die Fortführung der Gesellschaft zielt, ist der wirtschaftliche Wert der eingebrachten Gläubigerforderungen auf dieser Grundlage zu bestimmen. Ebenso ist für die Position der Altgesellschafter zu verfahren: Auch die bisherigen Anteile sind mit ihrem wirtschaftlichen Wert anzusetzen (§ 255 Abs. 2 AktG). Im Ergebnis führt die ‚gesellschaftsrechtliche‘ Verteilungsregel dazu, dass die Beteiligungsverhältnisse an der reorganisierten Gesellschaft die Relation zwischen beiden Werten widerspiegeln.“

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bb) Stellungnahme Die These von der Umwandlung der Gläubigerforderungen zum Nennwert ist interessant, bei genauerer Betrachtung aber nicht haltbar. Insofern kann dahingestellt bleiben, ob sich die „Nennwertthese“ zumindest dann mit der EUKapitalrichtlinie vereinbaren ließe, wenn man den Debt-Equity Swap nicht – wie es herkömmlicher Auffassung entsprechen würde – als Sacheinlage, sondern statt dessen als „virtuelle“ oder „fiktive“ (verdeckte?) Bareinlage verstehen wollte.59 Denn die Umwandlung zum Nennwert widerspricht schon zwingendem deutschen Kapitalaufbringungsrecht, und zwar unabhängig davon, wie man den Debt-Equity Swap dogmatisch konstruiert, sei es als Sacheinlage („Übertragungstheorie“), als „verdeckte Bareinlage“ („Erfüllungstheorie“), im Sinne einer „Neutralisierungs-These“ oder „Verzichtstheorie“ als „Befreiung“ des Aktivvermögens der Gesellschaft von seiner „Zweckbindung als Schuldendeckungsmasse“ etc.60 Im Ausgangspunkt steht außer Frage, dass der Debt-Equity Swap den Sinn hat, den Vermögensstatus der insolventen Kapitalgesellschaft durch Schuldbefreiung positiv zu verändern. Dabei fließt der Gesellschaft weder ein Bar- noch ein Sachwert zu, sondern es handelt sich um einen bilanziellen Vorgang. Das Kriterium, wie viel „Aktivvermögen“ der Gesellschaft durch die Schuldbefreiung „freigesetzt“ wird,61 ist aber irreführend und gewiss kein brauchbares Argument gegen die Theorie von der „Nennwertanrechnung“: Durch die „Schuldbefreiung“ wird immer zum Nennwert dieses Passivpostens „Aktivvermögen“ der Gesellschaft – wenn auch nur zur Reduktion der Überschuldung – „freigesetzt“, doch darf die Anrechnung zum Nennwert deshalb gleichwohl nicht erfolgen.62 Die Gedankenspiele dazu, dass die Gesellschaft wegen des Debt-Equity Swap im „funktionalen Zeitpunkt“ nicht mehr insolvenzreif sei, helfen nicht weiter. Schon das einfache Beispiel, in welchem es nur einen Gläubiger gibt, bestätigt, dass seine Forderung unter diesem Gesichtspunkt niemals zum Nennwert angesetzt werden darf, hängt die Solvenz der Gesellschaft doch gerade davon ab, dass seine Forderung auf der Passivseite verschwindet. Der irreführende Vergleich, aus Sicht der Gesellschaft, der Anteilseigner oder anderer Gläubiger sei die Lage bei Zuführung von Bargeld nicht anders, weil dieses ohnehin zur Schuldentilgung verwertet werden müsse, verlässt bei genauer Betrachtung die fundamentalen Denkgesetze des Kapitalgesellschaftsrechts: Das zugeführte Bargeld hat gewiss seinen „Nennwert“, gleich, wofür die Gesellschaft es einsetzt, während ein „Verzicht“ auf die Forderung die zur Verteilung geeignete Masse der insolventen Gesellschaft nur um die Quotenerwartung des verzichtenden Gläubigers erhöht, wie nicht näher erläutert werden muss.

__________ 59 Vgl. dazu etwa Eidenmüller (Fn. 42), S. 129, 149 mit Fn. 70; Cahn/Simon/Theiselmann, Corporate Finance law 2010, 238, 250; dies., DB 2012, 501, 502 f.; Maier-Reimer (Fn. 42), S. 119 ff.; Ekkenga, DB 2012, 331, 333 jew. m. w. N. 60 Vgl. zu diesen wenig zielführenden „Begriffen“ zuletzt Ekkenga, DB 2012, 331, 333 ff. 61 S. die Nachw. Fn. 56 f. 62 So gerade auch Ekkenga und Priester (Fn. 56 f.).

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Ganz fehl geht endlich das Argument, der umwandelnde Gläubiger dürfe nicht schlechter stehen als die übrigen, die nach der Umwandlung vollwertige Forderungen gegen ihre solvente Gesellschaft erworben hätten: Dieses Ergebnis hängt gerade davon ab, dass der umwandelnde Gläubiger auf seine Forderung verzichtet, d. h. noch nicht einmal einen Wert in Höhe der ihm zustehenden Insolvenzquote aus der Forderung realisiert. Dann aber ist ein Ergebnis denkunmöglich, nach welchem die umzuwandelnde Forderung bezogen auf den „funktionalen Zeitpunkt“ – ebenso wie die anderen Ansprüche gegen die solvent werdende Kapitalgesellschaft – als vollwertig anzuerkennen und deshalb zum Nennwert anzusetzen sei. Soweit argumentiert wird, der BGH verlange bei Kapitalerhöhungen auch nicht, dass es im Zeitpunkt der Eintragung dieser Kapitalmaßnahme ein entsprechend hohes Reinvermögen gebe,63 geht das schon deswegen fehl, weil der BGH damit keineswegs das Erfordernis der effektiven Kapitalaufbringung in Zweifel gezogen hat: Die Bareinlage muss in voller Höhe geleistet werden, und die Sacheinlage muss (unzweifelhaft!) jedenfalls den Wert haben, der für sie angesetzt wird, gleich, wie hoch das Reinvermögen nach der Leistung des Einlageschuldners sein mag. Die Behauptung, eine im Wege des Debt-Equity Swap „eingebrachte“ Forderung dürfe trotz Insolvenz der Schuldnerin mit dem Nominalwert angesetzt werden, beruht auf der unhaltbaren Prämisse, der Betrag einer Kapitalerhöhung sei gar nicht davon abhängig, dass der Gesellschaft mindestens in Höhe dieses Betrages „Vermögen“ zugeführt wird, sei es in Gestalt von Geld oder anderweitigen vermögenswerten Gegenständen, die der Investor der Gesellschaft zur „freien Verfügung“ stellen muss (§§ 36 ff. AktG; §§ 7 ff. GmbHG). Der Vermögenswert einer Forderung gegen die insolvente Gesellschaft kann aber niemals den Nennwert erreichen, den die Valuta in Gestalt von Bargeld hätte, auch und gerade aus Sicht der Gesellschaft nicht, weil sie dem Gläubiger den „Nennwert“ im Interesse der par conditio creditorum gar nicht mehr zahlen darf (§ 92 Abs. 2 Satz 1 AktG; § 64 Satz 1 GmbHG!). An diesem Ergebnis vermögen noch so feinsinnige „ökonomische Analysen“, die aus „Gläubigersicht“ keine „Benachteiligung“ bedeuten sollen, wenn zum „Nennwert“ umgewandelt wird, nichts zu ändern, einmal abgesehen davon, dass „buchstäblich Luft in garantiertes Eigenkapital verwandelt“ würde, wenn man solche Theorien ernst nähme.64 Nach allem läuft die These von der Zulässigkeit einer Umwandlung der nicht vollwertigen Forderung zum Nennwert auf einen Bruch mit fundamentalen Prinzipien der Kapitalaufbringung hinaus. Die Frage, ob Gläubiger dies „erkennen“ müssen, weil sie aufgrund der Offenlegung des Einlagegegenstandes als einer Insolvenzforderung hinreichend gewarnt seien,65 ist in diesem Zusammenhang irrelevant, einmal abgesehen davon, dass zumindest künftige Gläubiger keineswegs ohne Weiteres wissen können oder gar müssen, dass die

__________ 63 Vgl. Maier-Reimer (Fn. 49 f.). 64 Insofern richtig Ekkenga, DB 2012, 331. 65 So offenbar Cahn/Simon/Theiselmann, DB 2010, 1629 ff.

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durch den Debt-Equity Swap (solide?) sanierte Gesellschaft ein wesentlich überhöhtes Eigenkapital aufweist, das in Wirklichkeit niemand aufgebracht hat! Schon fehl geht sogar die (wesentlich zurückhaltendere) Forderung, bei der Bewertung der umzuwandelnden Forderung sei zumindest die „Fortführungsprognose“ zugrunde zu legen.66 Es verhält sich umgekehrt so, dass „die Fortführung“ nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens als Grundlage der Bewertung der Beteiligung der Investoren im Ansatz ausscheidet, zumal da der Insolvenzgrund der Überschuldung schon feststeht. Anderenfalls müsste man auch die Anteile der Altgesellschafter mit ihrem „Fortführungswert“ ansetzen,67 was aber ausscheidet: Der Wert der Anteile von Altgesellschaftern ist, wenn das Eigenkapital restlos verloren, die Gesellschaft überschuldet und deshalb in der Insolvenzverfahrensphase ist, „Null“!68 Erst nach einer Sanierung ist der Wert jedes Investments, sei es Eigen- oder Fremdkapital, wieder auf der Grundlage der „Fortführungsprognose“ zu bewerten. Doch das gezeichnete, der Gesellschaft zuzuführende Kapital, welches die Investoren zu Sanierungszwecken aufbringen wollen, hängt, soweit es um seinen „Wert“ geht, niemals von einer „Fortführungsprognose“ der Gesellschaft ab. Bei Barkapital ist dies evident (es hat immer seinen „Nennwert“), und bei anderen Vermögensgegenständen folgt dies aus dem Grundsatz der Kapitalaufbringung: Der Gegenstand muss den Wert des gezeichneten Kapitalbetrages erreichen, insofern besteht zwischen Bar- und Sacheinlage nicht der geringste Unterschied. Gläubiger einer insolventen Kapitalgesellschaft können – wovon auch der Gesetzgeber zu Recht ausgegangen ist69 – in Gestalt ihrer Insolvenzforderung nur einen „Vermögensgegenstand“ in Höhe des „Restwertes“ der Forderung präsentieren. Dieser ist insbesondere auf den Zeitpunkt des Investments bezogen, in dem wir es aber mit einer insolventen Kapitalgesellschaft zu tun haben, die sich im Insolvenzverfahren befindet und allen Gläubigern vor einer Sanierung nur noch Quotenerwartungen – und keine Befriedigung zum „Nennwert“ – verschaffen kann. Als Zwischenergebnis ist festzuhalten, dass der Gesetzgeber den Debt-Equity Swap ausschließlich auf der Grundlage einer Bewertung der Insolvenzforderungen zu deren „Verkehrswert“ gestattet haben kann, und dieser kann maximal mit der Insolvenzquote angesetzt werden, welche ohne die Plansanierung auf die Forderung entfiele. Jede andere Betrachtung ist mit unseren Kapitalaufbringungsgrundsätzen unvereinbar. Andererseits trifft die These nicht zu, dass die Bewertung der Insolvenzforderungen beim Debt-Equity Swap allein nach den „historischen Anschaffungspreisen“ bzw. den „fortgeschriebenen Buchwerten“ – ohne Aufdeckung stiller Reserven – zu ermitteln sei.70 Zu erkennen ist vielmehr, dass im Insolvenzverfahren (selbstverständlich) alle stillen Reserven bzw. die „aktuellen Verkehrs-

__________ 66 Vgl. dazu Priester und Eidenmüller/Engert (Fn. 58). 67 So freilich Eidenmüller-Engert, ZIP 2009, 541, 543 mit Hinweis auf § 255 Abs. 2 AktG und BGHZ 71, 40, 51 „Kali und Salz“. 68 Näher sogl. III 2 d. 69 S. die Nachw. Fn. 54. 70 So aber Ekkenga, DB 2012, 331, 336 „… strikt handelsbilanzielle Betrachtung“ m. w. N.

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werte der Aktiva“ maßgebend sind, weil es letztlich um die Frage der Höhe der Überschuldung und der daraus resultierenden Insolvenzquote geht, hier: um die, welche auf den Investor entfiele. Allerdings bestehen auch auf der Grundlage der zu erwartenden Insolvenzquote Bewertungsschwierigkeiten, weil diese (wegen der Plansanierung) geschätzt bzw. prognostiziert werden muss. Der Gesetzgeber hat diese Probleme gesehen und in Kauf genommen. Die umwandlungsbereiten Gläubiger sollen durch Ausschluss einer Differenzhaftung Planungssicherheit erhalten, wie sich aus § 254 Abs. 4 InsO ergibt.71 Betreffs dieser „Planungssicherheit“ ist zwar nicht zu Unrecht darauf hingewiesen worden, dass der Ausschluss einer Differenzhaftung des Inferenten einer überbewerteten Sacheinlage für den Gesellschaftsrechtler „vollends erstaunlich“ und „gewöhnungsbedürftig“ ist.72 Doch darf der Gesetzgeber aus verfassungsrechtlicher Sicht im Interesse der Sanierung von maroden Unternehmen und damit letztlich der gesamten Wirtschaft ein Verfahren zur Verfügung stellen, in welchem der Debt-Equity Swap an einer auf solider Grundlage geschätzten Insolvenzquote ausgerichtet wird. Es bestätigt sich daran einmal mehr, dass das Gesellschafts- und Insolvenzrecht in starkem Maße von Bewertungsfragen abhängt, der Jurist hier insbesondere auf das Urteil der Bewertungsfachleute angewiesen ist. Wer diese Bewertungsproblematik für unüberwindbar hält, muss die gesamte Neuregelung verwerfen, ohne dass für eine derartige Skepsis Anlass bestünde.73 Bewertungsprobleme gehören im Wirtschafts- und Steuerrecht nämlich zum Alltag. c) Zur Rechtsstellung der nicht sanierungswilligen Gläubiger In den Gesetzesmaterialien wird nicht deutlich Stellung zur Frage bezogen, was im Falle der planmäßigen Sanierung durch den Debt-Equity Swap mit Gläubigern geschehen soll, die sich daran nicht beteiligen wollen und insoweit eine gesetzlich abgesicherte Entscheidungsfreiheit genießen (§ 225a Abs. 2 Satz 2 InsO). Die vom BGH in der berühmten Entscheidung „Sanieren oder Ausscheiden“74 aufgezeigte Lösung, dass sanierungsunwillige Investoren die Sanierung nicht behindern dürfen, sondern die Gesellschaft zu Bedingungen verlassen müssen, die sich im Falle der Liquidation ohnehin für sie ergeben hätten, gilt auch für unseren Interessenkonflikt. Es besteht zwar kein Gesellschaftsoder anderweitiges Vertragsverhältnis zwischen mehreren Insolvenzgläubigern.

__________ 71 S. zum Aspekt der Planungssicherheit BT-Drucks. 17/5712, S. 32, 36. 72 K. Schmidt, BB 2011, 1603, 1608 f.; krit. auch Brinkmann, WM 2011, 97, 101. Ein argumentum ad absurdum liefert (wohl versehentlich) Römermann, NJW 2012, 645, 651: Die korrekte Bewertung sei im Ansatz irrelevant, weil der Gesetzgeber die Differenzhaftung ausgeschlossen habe! Gehrlein weist umgekehrt nicht zu Unrecht darauf hin (NZI, 2012, 257, 260 f. m. w. N.), dass die Neugläubiger vor den Gefahren des Ausschlusses der Differenzhaftung bei Überbewertung der Sacheinlage – gegebenenfalls nach § 826 BGB (Durchgriffshaftung der neuen Gesellschafter) – zu schützen seien. 73 Skeptisch zur Aussagekraft der Bewertung der Gläubigerforderungen freilich Römermann, GWR 2011, 375. Tendenziell wie hier aber K. Schmidt, BB 2011, 1603, 1609. 74 BGHZ 183, 1.

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Doch der Grundsatz von Treu und Glauben gilt unzweifelhaft auch für die Gläubigergemeinschaft einer insolventen Kapitalgesellschaft. Das gesetzliche Schuldverhältnis der Gläubigergemeinschaft gewinnt im Rahmen der Neuregelung zur Sanierung durch Debt-Equity Swap Relevanz, weil es konkrete Handlungs-, Duldungs- oder Verhaltenspflichten zu begründen vermag: Die Gläubiger müssen sich nicht an der Sanierung beteiligen (§ 225a Abs. 2 Satz 2 InsO), erhalten dann – wie gewöhnlich – die Quote, die sie bei Durchführung der Liquidation zu erwarten gehabt hätten. Diese Quote bestimmt zugleich den Einlagebetrag der Gläubiger, die sich durch den DebtEquity Swap an der Sanierung des Unternehmens beteiligen.75 Es zeigt sich daran, dass die ausscheidenden Gläubiger vermögensmäßig nicht anders behandelt werden als die sanierungswilligen. Etwaige Fehler bei der Berechnung der Insolvenzquote müssen von beiden Seiten gleichermaßen in Kauf genommen werden. Eine Ungleichbehandlung der „sanierungsunwilligen“ (und deshalb ausscheidenden) Gläubiger dahin, dass sie ihrer Rechte verlustig gehen und noch nicht einmal eine Quote erhalten sollen,76 scheidet demgegenüber schon aus verfassungsrechtlichen Gründen (Art. 14 GG!) aus. Wer Fremdkapital gegeben hat, muss auch bei Insolvenz seines Schuldners keineswegs die Alternative akzeptieren, sich entweder an der Sanierung seines Schuldners zu beteiligen oder auf den Restwert seiner Forderung endgültig zu verzichten. Die Neuregelung will vielmehr ein Zweifaches: Der Gläubiger muss erstens nicht auf seine Quote „verzichten“, kann zweitens aber auch nicht „Trittbrettfahrer“ der Sanierungsbeiträge anderer oder gar Saboteur der Sanierung werden. d) Zur Rechtsstellung der Altgesellschafter Es bleibt die Frage, welche Rolle die Altgesellschafter bei der Sanierung durch Kapitalschnitt nach neuem Insolvenzrecht noch spielen. aa) Meinungsstand Die vor Inkrafttreten der Neuregelung vereinzelt vertretene These, dass die Bewertung der Gesellschaftsanteile auf der Grundlage der Plansanierung „zu Fortführungswerten“ erfolgen könne,77 ist heute de lege lata (arg. § 225a Abs. 5 InsO) nicht mehr haltbar.78 Daraus folgt, dass in aller Regel eine Kapitalherabsetzung auf „Null“ geboten ist und eine Kompensation der Gesellschafter für den Anteilsverlust im Insolvenzplan ausscheidet (§ 251 Abs. 3 InsO also regelmäßig ins Leere läuft). Kurzum: Wegen des Obstruktionsverbots (§ 245 InsO) müssen die Altgesellschafter den kompensationslosen Verlust ihrer Anteile hin-

__________ 75 76 77 78

Dazu III 2 b. Dies befürwortend wohl Maier-Reimer (Fn. 42), S. 116 f. Vgl. Eidenmüller/Engert, ZIP 2009, 541, 543; Verse, ZGR 2010, 299, 311. Der Gesetzgeber hat schon in der Regierungsbegründung zu erkennen gegeben, dass die Anteile im Insolvenzverfahren als wertlos zu betrachten seien, s. Begr. RegE, BRDrucks. 127/11, S. 45; weitere Nachw. bei Simon/Merkelbach, NZG 2012, 121, 124.

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nehmen, was anfangs verfassungsrechtlich für bedenklich gehalten, am Ende jedoch ganz überwiegend und zu Recht akzeptiert worden ist.79 Das Bezugsrecht der Altgesellschafter, für die vor allem eine Barkapitalerhöhung in Frage käme, kann nach § 225a Abs. 2 Satz 3 InsO ausgeschlossen werden.80 In materieller Hinsicht setzt ein wirksamer Bezugsrechtsausschluss eine sachliche Rechtfertigung voraus, nicht nur in der AG,81 sondern auch in der GmbH, wo das Bezugsrecht der Altgesellschafter gar nicht geregelt ist.82 Im hier interessierenden Zusammenhang steht das Interesse der Großgläubiger im Vordergrund, den Debt-Equity Swap dann und nur dann zu wählen, wenn sich aus ihm eine hinreichend hohe Beteiligung an der sanierten Gesellschaft ergibt. Vor diesem Hintergrund wird der Bezugsrechtsausschluss im Schrifttum für sachlich gerechtfertigt gehalten.83 Nach der Gegenansicht soll der Bezugsrechtsausschluss im Insolvenzplanverfahren gegen Art. 14 GG verstoßen, weil auch aus einem wertlosen Mitgliedschaftsrecht an der insolventen Gesellschaft ein Recht der Altgesellschafter resultiere, sich mit eigenen Beiträgen an der Sanierung der Gesellschaft zu beteiligen und dementsprechend auch mit einem angemessenen Anteil am Sanierungserfolg zu partizipieren.84 Jedenfalls müsse den sanierungswilligen Gesellschaftern ein „Recht auf Verbleib“ in der Gesellschaft eingeräumt werden.85 Auch nach dieser Ansicht soll es freilich „keine eindeutigen Verteilungsmaßstäbe“ geben, weil es keine klaren Rechtsgrundsätze gebe, nach denen ein Verteilungsschlüssel zwischen Gläubigern und Altgesellschaftern mathematisch definiert werden könne, zumal da es im Insolvenzplanverfahren bisher keinen originären Anspruch einer Gruppe gebe, sich an der Sanierung der Gesellschaft zu beteiligen.86

__________ 79 K. Schmidt, BB 2011, 1603, 1609; Hölzle, NZI 2011, 124, 127; Eidenmüller/Engert, ZIP 2009, 541, 545 ff.; Verse, ZGR 2010, 299, 310 ff.; Kresser, ZInsO 2010, 1409, 1415 ff.; Simon/Merkelbach, NZG 2012, 121, 124 f. jew. m. w. N.; an der Verfassungsmäßigkeit zweifelnd freilich Willemsen/Rechel, BB 2011, 834, 839; Brinkmann, WM 2011, 97, 100 hält es sogar für einen „Eingriff in die negative Vereinigungsfreiheit“ der Anteilsinhaber, dass ihnen entgegen ihrem Willen neue (Mit-)Gesellschafter aufgezwungen werden. 80 Vgl. dazu auch RegBegr., BR-Drucks. 127/11, S. 45. 81 Vgl. nur Hüffer, AktG, 9. Aufl. 2010, § 186 Rz. 25 m. w. N. 82 S. statt aller Roth/Altmeppen, GmbHG, 7. Aufl. 2012, § 55 Rz. 23 ff. 83 Hirte/Knof/Mock, DB 2011, 632; Hölzle, NZI 2011, 124, 128; Meyer/Degener, BB 2011, 846, 847 f.; Bauer/Dimmling, NZI 2011, 517, 518 jew. m. w. N. 84 Simon/Merkelbach, NZG 2012, 121, 125 f. 85 Simon/Merkelbach, NZG 2012, 121, 126 mit Hinweis auf Brinkmann, WM 2011, 97, 101; Urlaub, ZIP 2011, 1040, 1044; Hölzle, NZI 2011, 124, 128. 86 Simon/Merkelbach, NZG 2012, 121, 126 f. mit Hinweis auf Simon, Corporate Finance law 2010, 448, 455 ff.; Eidenmüller/Engert, ZIP 2009, 541, 543 ff.; Verse, ZGR 2010, 299, 305 ff.

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bb) Stellungnahme Der Gesetzgeber des ESUG hat sich eindeutig für die Stärkung der Gläubiger und den Wegfall einer Blockadeposition von Altgesellschaftern entschieden, deren Anteile „null“ wert sind.87 Es unterliegt keinem Zweifel, dass die Altgesellschafter dann auch kein garantiertes „Bezugsrecht“ bzw. „Anspruch auf Fortbestand ihrer Gesellschafterstellung“ in der sanierten Gesellschaft haben können. Denn die Rechtsstellung aus dem Mitgliedschaftsrecht wandelt sich – verglichen mit der vorangegangenen Zeitspanne – mit Eröffnung des Insolvenzverfahrens über die Kapitalgesellschaft in ein „aliud“ um, welches seinen Inhabern letztlich nur die (praktisch irrelevante) Teilhabe am Liquidationsüberschuss vermittelt.88 Der Bezugsrechtsausschluss ist in der Regel auch sachlich gerechtfertigt, wenn die sanierungswillige Mehrheit von Gläubigern ihn im Interesse der Sanierung verlangt, diese anderenfalls gefährdet wäre. Bei allem Verständnis für die „Interessen“ der Altgesellschafter wird zudem vergessen, dass diese es jederzeit in der Hand hätten, auch noch im Insolvenzverfahren (!), ihre Gesellschaft durch Beseitigung der Überschuldung selbst (Nachschuss!) zu sanieren. Das ist immer möglich und beendet jegliche „Rechtsposition“ von Gläubigern an den Mitgliedschaftsrechten der Altgesellschafter in einem (dann zu beendenden) Insolvenzverfahren. Daraus ergibt sich abschließend der eigentliche Clou der Neuregelung: Das Motiv, welches ein Gläubiger haben sollte, seine Forderung zum Realwert in Eigenkapital an der Schuldnerin umzuwandeln, statt seine Quote zu kassieren, hat der Gesetzgeber – wenn auch eher versteckt – in einer geradezu bahnbrechenden Art und Weise begründet. Es geht keineswegs darum, dass eine Umwandlung der Gläubigerforderungen zu einem höheren Wert erfolgen dürfe als zu demjenigen der allenfalls zu erwartenden Insolvenzquote, etwa auf der Grundlage von „Fortführungswerten“ oder gar zum Nennwert – das hat aus zwingenden Gründen der Kapitalaufbringung auszuscheiden. Der entscheidende Aspekt ergibt sich aus der Möglichkeit, dass die Gläubiger auf der Grundlage der Neuregelung einen Kapitalschnitt beschließen und letztlich mit dem Restwert ihrer Forderungen das neue Kapital der sanierten Schuldnerin alleine stellen können.89 Das ist für Großgläubiger besonders attraktiv. Beispiel: Eine Bank hat das Fremdkapital der überschuldeten Gemeinschuldnerin in Höhe von 100 Mio. Euro zu 80 Mio. Euro finanziert. Die Quote beträgt 10 %. Die Bank könnte nach einem Kapitalschnitt 80 % an der sanierten Kapitalgesellschaft (8 Mio. Euro) halten, die über ein neu investiertes Eigenkapital i. H. v. 10 Mio. Euro verfügt, und 100 % (bei 8 Mio. Euro Eigenkapital), wenn die restlichen Gläubiger sich für Auszahlung ihrer Quote (insgesamt 2 Mio. Euro) entscheiden.

__________ 87 Näher III 2 a, d aa. 88 Die Rechtsstellung von Anteilseignern einer insolventen Kapitalgesellschaft ist bisher dogmatisch und wertungsmäßig überraschend wenig aufgearbeitet worden; vgl. dazu (im Zusammenhang mit dem Anteilskauf bei Insolvenz der Kapitalgesellschaft) Altmeppen in FS Picker, 2010, S. 23 ff. m. w. N. 89 Zur Neuregelung näher III 2 a.

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Vor diesem Hintergrund liegt auf der Hand, dass sämtliche Insolvenzforderungen einen neuen „Handelswert“ erhalten, weil Fondsgesellschaften, Konkurrenten etc. Interesse am Erwerb der Insolvenzforderungen haben könnten, um sich Einfluss auf das zu sanierende Unternehmen der Gemeinschuldnerin zu verschaffen. Im letzten Beispiel etwa könnte das Kreditinstitut seine Insolvenzforderung mit dem Nominalwert von 80 Mio. Euro, auf welche eine Quote von 10 % zu erwarten ist, möglicherweise für einen den wahren Wert deutlich übersteigenden Preis verkaufen, weil der Forderungskäufer weiß, dass er mit Erwerb der Forderung die Chance gewinnt, eine qualifiziert beherrschende Stellung als Gesellschafter in dem sanierten Unternehmen zu erhalten. Auch die Insolvenzforderungen kleiner Gläubiger werden jetzt zum Kaufobjekt für solche Investoren, die eine relevante Beteiligung in diesem Unternehmen anstreben.

IV. Ergebnisse 1. Seit der Preußischen Konkursordnung von 1855 haben sich die bis dahin von obrigkeitlicher Dominanz beherrschten Rahmenbedingungen immer stärker zu einem Insolvenzverfahren entwickelt, das von eigener Verantwortung der Gläubiger geprägt ist. Die Person des Verwalters war seit der KO von 1877 ungeachtet „obrigkeitlicher Verleihung“ seiner Funktionen nur Repräsentant der Gläubiger und ein Glied in ihrer Selbstverwaltungsorganisation. Die hoheitliche Tätigkeit der Konkursgerichte betraf nur noch überwachende Verhinderung missbräuchlicher Verfolgung von Gläubigerinteressen bzw. mangelnder Eignung der Verwalter, die freilich de facto so gut wie ausschließlich vom Gericht ausgewählt wurden. Ein weiterer, entscheidender Schwachpunkt in der Stellung der Gläubiger bestand darin, dass sie nicht autonom über eine Sanierung der insolventen Kapitalgesellschaft entscheiden konnten, weil die Altgesellschafter darüber zu befinden hatten. Der Gesetzgeber der seit 1999 geltenden InsO hat die Rechte der Gläubiger in beiden Punkten nicht entscheidend verändert. 2. Mit Wirkung vom 1.3.2012 hat der Gesetzgeber die InsO in einer die Gläubigerrechte geradezu bahnbrechend erweiternden Weise reformiert. Sie bestimmen heute nicht nur maßgeblich über die Person des Verwalters. Viel wichtiger ist, dass sie im Insolvenzplanverfahren die Möglichkeit der Plansanierung eines insolventen Unternehmens haben, ohne dass die Altgesellschafter dies verhindern könnten. Diese müssen es vielmehr hinnehmen, im Rahmen eines Kapitalschnitts mit Bezugsrechtsausschluss ohne Abfindung aus der Gesellschaft auszuscheiden, während die Gläubiger das neue Kapital mit dem Restwert ihrer Insolvenzforderungen stellen können. Für Insolvenzforderungen wird auf diesem Weg zudem ein Markt mit Investoren auf Nachfragerseite entstehen, die sich Einfluss in der sanierten Zielgesellschaft sichern wollen. Für die nicht sanierungswilligen Gläubiger bleibt der Weg offen, sich für die Auszahlung der Insolvenzquote zu entscheiden, welche die sanierenden Gläubiger zum Gegenstand des Debt-Equity Swap machen.

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Vertikaler Regulierungswettbewerb im Europäischen Gesellschaftsrecht Inhaltsübersicht I. Die Funktionen der EPG und der „Wettbewerb der Regelsetzer“ 1. Die grenzüberschreitende Funktion 2. Die Wettbewerbsfunktion 3. Die Angst vor der Sogwirkung II. Der horizontale Regulierungswettbewerb 1. Was ist und wie funktioniert Regulierungswettbewerb? 2. Probleme des Regulierungswettbewerbs a) Drittinteressen und demokratische Legitimation b) Rechtsmarkt als basisdemokratische Korrektur? c) Die erforderliche Metaordnung d) Bewertung der Metaordnung in der EU 3. Zwischenfazit

III. Der vertikale Regulierungswettbewerb 1. Würdigung des vertikalen Wettbewerbs im Schrifttum a) Unechte Konkurrenz von föderalem und einzelstaatlichem Gesellschaftsrecht b) Echte Konkurrenz von föderalem und einzelstaatlichem Gesellschaftsrecht c) Kritik 2. Grundbedingungen vertikaler Regelkonkurrenz a) „The more the merrier“? b) Die Struktur vertikaler Regelkonkurrenz in der EU c) Folgerung und Bewertung 3. Konsequenzen für die EPG IV. Zusammenfassung und Fazit

Zu den Projekten, die Peter Hommelhoff besonders am Herzen liegen, gehört die Europäische Privatgesellschaft (EPG). Früh hat er die zunächst in Frankreich postulierte Idee für eine Société Fermée Européenne aufgegriffen und seither unermüdlich für sie gekämpft.1 Ein ihm gewidmeter Festschriftbeitrag sollte daher nicht mit der Feststellung beginnen, dass die EPG gescheitert ist – und dennoch steht es um die Zukunft dieses Projekts zum Zeitpunkt der Abfassung dieser Zeilen (Oktober 2011) nicht zum Besten.2 Wer dem Jubilar einen Gefallen erweisen will, sollte daher die realpolitischen Probleme der Umsetzung einer Europa-GmbH nicht kleinreden, sondern nach ihren Ursachen fahn-

__________ 1 Vgl. nur Hommelhoff, WM 1997, 2101; Boucourechliev/Hommelhoff (Hrsg.), Vorschläge für eine europäische Privatgesellschaft, 1999; Hommelhoff/Helms (Hrsg.), Neue Wege in die Europäische Privatgesellschaft, 2001. 2 Vgl. nur Börsen-Zeitung v. 3.8.2011: „Rückschlag für die Europa GmbH“ (zum Misserfolg der jüngsten Kompromissvorschläge); resignierend (nach dem Scheitern des schwedischen Kompromissvorschlags) bereits Sandberg/Skog, AG 2010, 580, 583. Optimistischere Einschätzung dagegen bei Habersack/Verse, Europäisches Gesellschaftsrecht, 4. Aufl. 2011, S. 518: „Befindet sich auf gutem Weg“.

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den. Dazu muss gefragt werden, ob die dahinter stehende Sorge vor einer Sogwirkung der EPG zulasten nationaler GmbH-Rechte berechtigt ist. Peter Hommelhoff hat dies getan und dabei als einer von Wenigen die Wirkungsmechanismen des vertikalen Regelwettbewerbs ins Spiel gebracht.3 Diese Überlegungen sollen hier fortgeführt werden.

I. Die Funktionen der EPG und der „Wettbewerb der Regelsetzer“ Alle Mitgliedstaaten der EU verfügen über ihr eigenes GmbH-Recht. Vor diesem Hintergrund ist erklärungsbedürftig, warum es überhaupt einer supranationalen GmbH-Form bedarf, die in Konkurrenz zu jenen tritt. 1. Die grenzüberschreitende Funktion Als supranationale Rechtsform soll die EPG zwei Funktionen erfüllen.4 Die klassische, auch der SE ursprünglich einmal zugedachte Funktion ist die eines grenzüberschreitenden Vehikels. Im Blick hatte man dabei zunächst eine mobilitätsfördernde Leistung, weil eine supranationale Rechtsform ihren Sitz leichter über die Grenze verlegen oder mit einer andernorts ansässigen Gesellschaft verschmelzen kann.5 Diese Leistung hat mit der extensiven Interpretation der Niederlassungsfreiheit durch den EuGH (Centros etc.) sowie mit der Verabschiedung und Umsetzung der Richtlinie zur grenzüberschreitenden Verschmelzung (2005/56/EG) an Bedeutung verloren. Die grenzüberschreitende Funktion der EPG wird daher heute vor allem darin gesehen, den Aufbau eines unionsweit agierenden Konzerns nach einheitlichem Muster zu ermöglichen und damit in erheblichem Umfang Transaktionskosten zu sparen.6 Die ökonomischen Vorteile einer einheitlichen Konzernstruktur sind derart mit Händen zu greifen, dass man sich mit Blick auf das Binnenmarktziel des EUV fragen mag, ob die EU zur Schaffung einer solchen Rechtsform nicht sogar verpflichtet ist.7 Dessen ungeachtet kann die betreffende Leistung von der EPG nur erbracht werden, wenn ihr Rechtsgewand anders als dasjenige der SE kein Gerippe, sondern ein möglichst vollumfänglich geregeltes Statut ist. Ein derartiges Vollstatut versuchte der im Jahr 2008 von der Kommission vorgelegte

__________ 3 Vgl. Hommelhoff, Die Europäische Privatgesellschaft: Auswirkungen auf die nationale GmbH, GesRZ 2008, 337, 342 f. 4 Näher hierzu und zum Folgenden Bachmann/Eidenmüller/Engert/Fleischer/Schön, Regelungsstrukturen für die geschlossene Kapitalgesellschaft, 2012 (im Erscheinen). 5 Nach Lutter war die Möglichkeit der identitätswahrenden Sitzverlegung „einer der wichtigsten Gründe für die Entwicklung der Idee einer Gesellschaft europäischen Rechts“ (Lutter, Europäisches Unternehmensrecht, 4. Aufl. 1996, S. 719). 6 Vgl. Hommelhoff, ZHR 173 (2009), 255, 256 f.: „Leitbild, das die Diskussion von Anfang an geprägt hat“. 7 Erwogen von Fleischer, ZHR 174 (2010), 385, 396 f.; ablehnend aber Hommelhoff, GesRZ 2008, 337, 343: „Weder die Kapitalverkehrs- noch die Niederlassungsfreiheit verpflichten den Sekundärgesetzgeber, europäische Rechtsformen zu schaffen und sie in bestimmter Weise auszugestalten“.

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Entwurf einer EPG-Verordnung zu schaffen. Dabei bediente er sich des von Hommelhoff vorgeschlagenen Instruments der Regelungsaufträge, um auch dort, wo keine Einigung auf eine (dispositive) Gesetzesregel möglich oder wahrscheinlich erschien, den Unternehmen die Gestaltung eines für sie einheitlichen Musters zu ermöglichen.8 Im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens wurde dieser Ansatz erwartungsgemäß verwässert, indem den Mitgliedstaaten die Option eingeräumt wurde, für die in ihrer Jurisdiktion domizilierenden EPG abweichende Regelungen zu treffen. Der EPG, wenn sie denn je verwirklicht werden wird, droht damit ein ähnliches Schicksal wie der SE. Ihre Funktion als uniformer Konzernbaustein würde damit in Frage gestellt. 2. Die Wettbewerbsfunktion Damit tritt die zweite Funktion in den Vordergrund. Sie besteht darin, ein innovatives Rechtsprodukt zu offerieren, das im nationalen Sortiment so nicht zu haben ist. Tritt eine solche Rechtsform in Konkurrenz zu den mitgliedstaatlichen Rechtsformen, kann dies den nationalen Regelsetzer dazu veranlassen, seinerseits Innovationen zu wagen, um die heimische Rechtsform gegenüber der supranationalen nicht ins Hintertreffen geraten zu lassen. Damit ist der mit dem Namen Hayek verbundene Ideenwettbewerb eröffnet. Er wird gemeinhin als positiv bewertet, weil er die Anbieter zur Suche nach immer besseren Lösungen anstachelt. Diese Funktion kann die EPG auch dann erbringen, wenn sie kein geschlossenes Statut aufweist. Als Beispiel wird gerne auf die SE verwiesen, die gegenüber der deutschen AG zwei innovative Elemente enthält: Zum einen die Möglichkeit, von der gesetzlich zwingenden Mitbestimmung auf ein verhandeltes Modell umzusteigen, zum anderen die Option der monistischen Führungsstruktur. Wie empirische Studien nahelegen, sind es nicht die mobilitätsfördernden Effekte, sondern diese Elemente, welche deutsche Unternehmen dazu bewegen, die europäische Rechtsform zu wählen.9 3. Die Angst vor der Sogwirkung Dem deutschen Gesetzgeber ist dies nicht verborgen geblieben. Nicht zuletzt die Sorge vor einer Überattraktivität der EPG hat ihn daher bislang dazu bewogen, ihr seinen Segen zu versagen.10 Denn während die Zahl derjenigen Unternehmen, die in die Rechtsform der SE wechseln, aus verschiedenen

__________ 8 Vgl. Art. 4 EPG-VO-E (KOM(2008) 396). Zur regulatorischen Funktion von Regelungsaufträgen Hommelhoff/Teichmann, DStR 2008, 925, 930. 9 Vgl. Eidenmüller/Engert/Hornuf, AG 2008, 721 ff. 10 Aus ministerialer Sicht Neye in FS Hüffer, 2010, S. 717, 720: „Aus rechtspolitischer Sicht gilt es zu verhindern, dass die gerade erst modifizierten Standards für die GmbH auf europäischer Ebene im Wege der Gründung einer EPG unterlaufen werden können“.

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Gründen gering ist und vorerst gering bleiben wird,11 könnte sich dies bei der GmbH ganz anders darstellen. Das Beispiel der Ltd. hat gezeigt, dass Gründungs- und Finanzierungsregeln in erheblichem Maße die Rechtsformwahl beeinflussen. Die Konkurrenz der Ltd. zwang den deutschen Gesetzgeber daher dazu, auf ein zwingendes Mindeststammkapital bei der GmbH zu verzichten (§ 5a GmbHG – „Unternehmergesellschaft“). Weil die GmbH selbst in Gestalt der UG immer noch dichter reguliert ist als die vorgeschlagene EPG, ist die vom deutschen Gesetzgeber perhorreszierte Gefahr einer unerwünschten Sogwirkung der EPG ernst zu nehmen.12 Der Jubilar hat dies von Anfang an klar gesehen und daher schon früh für (moderate) Zugangsbeschränkungen bei der EPG plädiert.13 Andere ignorieren das Problem und begegnen dem Zaudern des deutschen Gesetzgebers notwendigerweise mit Unverständnis. Zwar erkennt man, dass die GmbH durch Einführung der EPG einem Konkurrenzdruck ausgesetzt wäre, hält dies aber gerade für wünschenswert, weil dem „Wettbewerb der Regelsetzer“ jedenfalls dann eine heilsame Wirkung beigemessen wird, wenn das konkurrierende Angebot „von oben“ kommt. Der damit verbundenen Hochschätzung vertikalen Regulierungswettbewerbs korrespondiert ein merkwürdiges Vakuum hinsichtlich der Auseinandersetzung mit seinen Wirkbedingungen. Die Unterschiede zwischen horizontalem und vertikalem Regelwettbewerb sollen daher nachfolgend näher beleuchtet werden.

II. Der horizontale Regulierungswettbewerb 1. Was ist und wie funktioniert Regulierungswettbewerb? Die Idee eines Regulierungswettbewerbs ist alt.14 Auch im deutschen und europäischen Gesellschaftsrecht ist viel darüber geschrieben worden.15 Im Kern geht es darum, dass ein Rechtsgenosse wählen kann, welcher von mehreren nebeneinander bestehenden Rechtsordnungen er seinen Sachverhalt – einen Kauf, eine Gesellschaftsgründung, eine Eheschließung etc. – unterstellen

__________ 11 Ähnliche Einschätzung bei Csehi in Jung (Hrsg.), Supranationale Rechtsformen im Typenwettbewerb, 2011, S. 17, 18, 37. Wirklich interessant ist die SE nur für Unternehmen, denen die paritätische Mitbestimmung, also das Überschreiten der Schwelle von 2000 Arbeitnehmern „droht“. Die Vermeidung der wesentlich harmloseren Drittelbeteiligung (keine Personalkompetenz des Aufsichtsrats!) lässt sich unschwer mit nationalen Rechtsformen (GmbH & Co. KG) erreichen. Eine starke Führung, die als Vorteil des monistischen Modells verkauft wird, kann ebenso mit der GmbH oder der KGaA verwirklicht werden (Bachmann, ZGR 2008, 779, 782 f.). 12 Aus französischer Sicht auch Menjucq in Jung (Fn. 11), S. 7 ff. 13 S. bereits Hommelhoff, WM 1997, 2101, 2106. 14 Als wegbereitend gilt der Beitrag von Tiebout über die Konkurrenz amerikanischer Gebietskörperschaften, 64 J. Pol. Econ. 416 (1957), vgl. dazu aus neuerer Zeit nur Mehde, Wettbewerb zwischen Staaten, 2005, S. 37 ff.; O’Hara/Ribstein, The Law Market, 2009, S. 14, 27; ferner die Beiträge von Peters und Giegerich, Wettbewerb der Rechtsordnungen in VVDStRL 69 (2010), 7 ff., 57 ff., jew. mit reichen Nachweisen. 15 Statt aller Grundmann, Europäisches Gesellschaftsrecht, 2. Aufl. 2011, Rz. 157 ff. m. w. N.

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möchte.16 Der Wählende wird damit zum „Kunden“, das Recht zum „Produkt“, das der Nachfrager seinen Präferenzen (oder den vom Produktbild ausgehenden Verheißungen) gemäß aussucht.17 Dieser Nachfragefreiheit korrespondiert auf Anbieterseite die Freiheit, die Produkte kundengerecht zuzuschneiden. Das Buhlen um den Kunden, so die idealtypische Vorstellung, lässt einen Wettbewerb zwischen den auf einer Ebene befindlichen Regelsetzern – typischerweise den Staaten – entstehen, die sich gleich den Anbietern von Konsumgütern in der Attraktivität ihrer „Produkte“ zu überbieten suchen. Ob ein solcher Wettbewerb der Staaten wirklich stattfindet, und falls ja, ob von ihm wohlfahrtsfördernde Wirkungen ausgehen, ist eine Frage, die insbesondere in der US-amerikanischen Gesellschaftsrechtslehre eingehend diskutiert und vielfach bejaht worden ist. Im deutschen Schrifttum hat man sie eher zurückhaltend beantwortet, teils weil es in zentralen Bereichen wie dem Gesellschaftsrecht an entsprechender Rechtswahlfreiheit der „Kunden“ fehlte, teils weil kein Anreiz für den nationalen Regelsetzer gesehen wurde, sich nach den Interessen der „Kunden“ statt nach denjenigen des Gemeinwohls (welches das Kundeninteresse nur als einen von vielen Faktoren einbezieht) zu richten.18 Denn welches Interesse sollte die Bundesrepublik Deutschland daran haben, dass sich portugiesische Unternehmen, ohne dadurch hier steuerpflichtig zu werden, der Rechtsform der GmbH bedienen? Mit der durch den EuGH (Centros) im Gesellschaftsrecht eröffneten Rechtswahlfreiheit hat sich diese Einschätzung geändert. In dem dadurch initiierten Run auf die britische Limited und der nachfolgenden Einführung einer deutschen Ltd.-Variante in Gestalt der sog. 1-Euro-GmbH (Unternehmergesellschaft) sehen viele den Beleg dafür, dass Wettbewerb zu kundengerechten Produkten nicht nur auf dem privaten Markt für Waren und Dienstleistungen führt, sondern auch auf dem Basar staatlicher Rechtsnormen.19 Initiativen wie die vom Bund geförderte „Law made in Germany“-Kampagne machen deutlich, dass nicht nur unmittelbare Fiskalinteressen die Vermarktung des eigenen Rechts motivieren. Ein Faktor mag dabei politischer Ehrgeiz sein, welcher sich dagegen sträubt, Produkte des eigenen Hauses zu Ladenhütern verkommen zu sehen.20

__________ 16 Von „Standortwettbewerb“ spricht man dagegen, wenn die Wahl eines bestimmten Rechtsregimes mit der physischen Präsenz in der betreffenden Jurisdiktion einher geht, vgl. Schön, ZHR 160 (1996), 221, 234; anschaulich zu den ökonomischen Unterschieden Kirchner in FS Immenga, 2004, S. 607, 613 f. 17 Näher zuletzt Eidenmüller, JZ 2009, 641 ff.; O’Hara/Ribstein (Fn. 14). 18 Umfassende Darstellung bei von Hein, Die Rezeption des US-amerikanischen Gesellschaftsrechts in Deutschland, 2008, S. 465 ff.; s. auch Kieninger, Wettbewerb der Privatrechtsordnungen in Europa, 2002; Ch. Teichmann, Binnenmarktkonformes Gesellschaftsrecht, 2006, S. 330 ff. 19 Vgl. nur Zimmer in FS K. Schmidt, 2009, S. 1789, 1800; Eidenmüller, JZ 2009, 641, 644. 20 Zimmer in FS K. Schmidt, 2009, S. 1789, 1800 f.; Grundmann, ZGR 2001, 783, 795. Zu sonstigen non-pekuniären Motiven der Gesetzgeber (Machtgefühl, Erfolgsstreben, Freude am Gestalten) Meessen, JZ 2009, 697, 700 (in Anlehnung an Schumpeter).

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Skeptiker stellen nicht in Abrede, dass es zu entsprechenden Anpassungen auf dem Markt für geschlossene Kapitalgesellschafsformen gekommen ist, werten dies aber lediglich als „Verteidigungswettbewerb“.21 Mit Blick auf die UG ist das plausibel, denn deren Schaffung verdankt sich nicht der Einsicht in die Überlegenheit der kapitalfreien Gesellschaft, sondern schlicht der Furcht, die Regulierungshoheit über kleine Kapitalgesellschaften ganz zu verlieren. Die Möglichkeit, auf eine „billigere“ Rechtsform auszuweichen, führt nach Ansicht von Kritikern deshalb auch nicht zu einer Verbesserung der Produktqualität, sondern nur zu einer Preisschlacht: Die GmbH wird nicht renoviert, sondern verramscht.22 2. Probleme des Regulierungswettbewerbs a) Drittinteressen und demokratische Legitimation Damit ist das entscheidende Problem eines Rechtsmarktes angeschnitten. Es besteht darin, dass Recht seiner ureigenen Idee nach nicht allein auf die Bedürfnisse derjenigen zugeschnitten ist, die es auswählen möchten. Darin unterscheidet es sich maßgeblich etwa vom Markt für Tiefkühlkost oder Abendkleider.23 Während dort die permanente Anpassung der Produktgestaltung an die Wünsche und Launen der Verbraucher definitionsgemäß zu einer Verbesserung des Produkts führt, ist das bei Recht nur dann der Fall, wenn die „Kunden“ mit denjenigen identisch sind, deren Interessen das jeweilige Normenset auch bedienen will. Beim Handelskauf ist diese Voraussetzung typischerweise gegeben, weshalb die Produktanalogie dort passt und das Kollisionsrecht konsequent Wahlfreiheit gewährt.24 Anders liegt es, wenn Interessen derjenigen ins Spiel kommen, die an der Wahl des Rechtsprodukts allenfalls indirekt beteiligt sind, aber dessen Folgen unmittelbar zu spüren bekommen (Gläubiger, Arbeitnehmer, Anleger, Steuerzahler, Allgemeinheit).25

__________ 21 von Hein (Fn. 18), S. 590; Bratton/McCahery/Vermeulen, How Does Corporate Mobility Affect Lawmaking? A Comparative Analysis, ECGI Working Paper No. 91/2008. 22 Mit bitterer Ironie Niemeier in FS G. H. Roth, 2011, S. 533, 551: „Vermeintlichem Wettbewerbsdruck durch Nachahmung des Abzuwehrenden entgegenzutreten und so den möglichen Schaden noch massiv vergrößern – in der Tat ein Geniestreich, dessen Dimensionen wohl nur noch durch eine mindestkapitalfreie EPG übertroffen werden können“. 23 Schon aus diesem Grund lässt sich die für den Produktmarkt entwickelte Binnenmarktlogik nicht ohne weiteres auf den Rechtsmarkt übertragen, s. dazu näher unten (bei Fn. 47). 24 Daran wird zugleich deutlich, dass es beim „Rechtsmarkt“ vornehmlich um zwingendes Recht geht. Dispositives Recht, dass den Kundenpräferenzen widerspricht, kann von diesen durch ein selbst geschneidertes Regelwerk ersetzt werden, wie es im Handelsverkehr denn auch vielfach geschieht. 25 Ökonomisch gesprochen handelt es sich um (negative) Externalitäten. Ausgeblendet bleiben müssen hier sonstige Formen von Marktversagen, namentlich irrationales oder kurzsichtiges Verhalten der Rechtswählenden selbst, eingehend dazu (mit Blick auf das Gesellschaftsrecht) G. H. Roth, ZGR 2005, 349 ff. sowie allgemein Eidenmüller, JZ 2009, 641, 649 ff.

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Derartigen Drittinteressen zur angemessen Berücksichtigung zu verhelfen und damit das Gemeinwohl zu befördern, ist traditionell nicht der Markt aufgerufen, sondern das politische Forum.26 Auch dort kommt es zu einem Wettstreit, allerdings anderer Art.27 Potentielle Normsetzer in Gestalt von Politikern und Parteien bieten konkurrierende Normsetzungsprogramme an und buhlen insofern gleichfalls um „Kunden“. Dabei hat aber jeder Betroffene eine Stimme. Der „Kunde“ kann zudem keine Rosinen picken, sondern nur eine „Paketlösung“ (Partei, Kandidat) wählen und ist an diese Wahl bis zum Ablauf der Wahlperiode gebunden. Vor und nach dem Wahlkampf setzt sich der geistige Meinungskampf fort, wobei Verbände das Interesse von Betroffenen bündeln und artikulieren. Aus diesem diskursiv-kompetitiven Prozess hervorgehende Wertentscheidungen (Normen) dürfen, soll die Idee des Politischen nicht ad absurdum geführt werden, nicht anschließend zur beliebigen Disposition derjenigen gestellt werden, denen sie Schranken setzen.28 Niemand käme daher auf die Idee, die Anforderungen an die Ausgabe von Waffenlizenzen oder das Jugendschutzrecht dem „Wettbewerb der Regelsetzer“ zu überantworten – schon gar nicht, wenn die „Kunden“ ausschließlich im Ausland residieren und der Anbieter der Lizenz von den Risiken seines „Produktes“ selbst gar nicht betroffen ist. Als „Lizenz zur Gläubigerschädigung“ müssen diese Bedenken prinzipiell auch für haftungsbeschränkte Rechtsformen gelten.29 b) Rechtsmarkt als basisdemokratische Korrektur? Andererseits kann Rechtswettbewerb auch im demokratischen Prozess heilsame Wirkung entfalten. Denn die in der staatsrechtlichen Theorie gemeinwohlverbürgenden Mechanismen der repräsentativen Demokratie (allgemeines Wahlrecht, freier Meinungskampf etc.) weisen, wie die politische Ökonomie zeigt, in der Realität in mancherlei Hinsicht Dysfunktionalitäten auf. Begrenztes Wissen und Unbeweglichkeit der Entscheidungsträger, disproportionaler Lobby- und Funktionärseinfluss u. a. sind Faktoren, die dazu führen, dass ein demokratisches Gemeinwesen nicht immer die „Rechtsprodukte“ bereit stellt, die seine Bürger sich wünschen oder die vom Standpunkt der politischen

__________ 26 Hierzu und zum Folgenden näher Peters in VVDStRL 69 (2010), 7, 26 ff. 27 Dazu Hatje/Kotzur, Demokratie als Wettbewerbsordnung, in VVDStRL 69 (2010), 135 ff., 173 ff. 28 Nach Eidenmüller, JZ 2009, 641, 648, wird der Primat des Politischen durch den Rechtsmarkt nicht angetastet, weil kein Staat gezwungen sei, an dem Wettrennen teilzunehmen. Bei massiver Abwanderung in fremdes Recht ist das freilich nur eine theoretische Option, kritisch daher auch Peters in VVDStRL 69 (2010), 7, 30. 29 Das gilt jedenfalls für die Gläubiger, die sich gegen die mit jeder Form der gesetzlichen Haftungsbeschränkung verbundenen Risiken faktisch oder rechtlich nicht selbst zu schützen vermögen. Auch die USA schränken die Rechtswahlfreiheit hier ein, indem sie zwingendes Bundesinsolvenzrecht zur Anwendung bringen (zu dessen funktionaler Vergleichbarkeit mit dem kontinentalen Kapitalschutz Ch. Teichmann [Fn. 18], S. 352; Gelter, ZvRV 2004, 170, 180).

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Philosophie aus als gerecht zu beurteilen wären.30 Aus diesem Grund wird Systemwettbewerb von ökonomisch orientierten Autoren überwiegend positiv gesehen.31 Ihnen ist darin beizupflichten, dass die durch Rechtswahlfreiheit eröffnete Möglichkeit, „mit den Füßen abzustimmen“, als Stachel der Freiheit auch im demokratischen Staat willkommen ist. Problematisch bleibt, dass die „Abstimmenden“ immer nur eine Teilmenge der Wähler darstellen, weshalb der Rechtsmarkt den demokratischen Prozess ergänzen, aber nicht verdrängen darf.32 Problematisch ist ferner, dass der Lobbyeinfluss, den auszuhebeln als entscheidender Vorteil des Rechtsmarkts ausgegeben wird,33 ein zweischneidiges Schwert ist, weil er einerseits den demokratischen Prozess verfälscht, andererseits aber auch Teil desselben ist.34 Je nachdem wie man sich zur Verbandsdemokratie stellt, wird man Rechtswettbewerb daher mehr oder weniger begrüßen. c) Die erforderliche Metaordnung Angesichts der skizzierten Ambivalenz von Regulierungswettbewerb besteht die Herausforderung darin, seine heilsamen Effekte mit seinen demokratischen Defiziten auszusöhnen. Leisten muss das ein regulierender Rahmen in Gestalt einer Metaordnung.35 Theoretisch könnte diese Aufgabe vom Markt wahrgenommen werden, der nachteilige Wahlentscheidungen auf lange Sicht korrigiert. Spricht sich etwa herum, dass die Wahl einer „Billigrechtsform“ regelmäßig dazu führt, dass Gläubiger leer ausgehen, wird der so Wählende auf

__________ 30 Vgl. nur Bachmann, Private Ordnung, 2006, S. 197, 224. Damit ist die hier nicht zu vertiefende Frage angerissen, was politische Gerechtigkeit ist und wie der demokratische Prozess dazu beiträgt, sie zu verwirklichen, vertiefend dazu Höffe, Politische Gerechtigkeit, 3. Aufl. 2002. Je nachdem wie man sich hierzu stellt, erscheint der Rechtsmarkt in einem helleren oder dunkleren Licht. 31 Exemplarisch Grundmann, ZGR 2001, 783, 806; Röpke/Heine in JbJZivRWiss 2005, S. 265, 270 f.; Eidenmüller, JZ 2009, 641, 648; weitere Nachweise bei Mehde (Fn. 14), S. 81 f.; Kirchner in FS Immenga, 2004, S. 607, 616, macht die Bewertung des Rechtswettbewerbs davon abhängig, inwieweit das potenziell abzuwählende Regime mit den Präferenzen der Regelbetroffenen übereinstimmt. 32 Peters in VVDStRL 69 (2010), 7, 38, die im Rechtswettbewerb daher nur ein „Legitimationsprinzip zweiter Ordnung“ sieht. S. auch Ch. Teichmann (Fn. 18), S. 355. 33 Vgl. nur O’Hara/Ribstein (Fn. 14), S. 21 ff.; Eidenmüller, JZ 2009, 641, 648 f.: „Wettbewerb gibt den Bürgern ein Mittel in die Hand, um Einflüsse von schlagkräftigen Interessengruppen abzuwehren“; kritisch aber Peters in VVDStRL 69 (2010), 7, 28, mit dem Hinweis, dass „gerade diejenigen Akteure, die vor allen anderen ‚mit den Füßen‘ abstimmen können, genau dieselben sind, die auch beim Lobbying im Vorteil sind“. Für Gewerkschaften und Notarvereinigungen trifft dies allerdings nicht zu. 34 Zwiespältig Meessen, JZ 2009, 697, 705, wonach Systemwettbewerb das Pluralismusproblem neu aufwerfen, zugleich aber auch lösen soll; zur Kritik des Verbändestaats nur Manfred Schmidt, Demokratietheorien, 3. Aufl. 2000, S. 235 ff.; eingehend von Arnim, ZRP 1995, 340 ff. 35 Die Notwendigkeit eines solchen Rahmens ist im Ausgangspunkt unstr., vgl. nur Mehde (Fn. 14), S. 99; Peters in VVDStRL 69 (2010), 7, 37 ff.; Giegerich in VVDStRL 69 (2010), 57, 81; Röpke/Heine in JbJZivRWiss. 2005, S. 265, 269.

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Dauer keinen Kredit mehr erhalten und daher schon im eigenen Interesse zum „Markenprodukt“ zurückkehren.36 Alternativ könnte man auf Soft Law setzen, dass die Rechtswählenden persuasiv von der Wahl gemeinwohlignoranter Ordnungen abhalten will. Weil die menschliche Natur wenig Anlass gibt, derartigen Mechanismen ausschließlich zu trauen, wird die Metaordnung in der Realität vom Recht wahrgenommen. Die rechtliche Metaordnung des horizontalen Rechtswettbewerbs in Europa ist komplex. Sie besteht aus drei ineinander greifenden Komponenten, die von verschiedenen Akteuren gestaltet werden.37 Die erste ist das Kollisionsrecht, das den Rechtswettbewerb moderiert, indem es bestimmt, wessen Produkt als „Recht“ zählt (und damit überhaupt wählbar sein kann), wer in welchen Bereichen und unter welchen Voraussetzungen die Freiheit haben soll, eine Rechtswahl zu treffen und welchen Einschränkungen diese gegebenenfalls unterliegt.38 Wenn danach etwa nicht dem Täter, sondern dem Opfer eines Delikts die (begrenzte) Rechtswahl zugestanden wird (vgl. Art. 7 VO (EG) 864/2007 – „Rom II“), ist dies Ausdruck der Einsicht, dass „Rechtskunde“ und Betroffener prinzipiell nicht auseinanderfallen sollen.39 Die zweite Komponente bilden die Grundfreiheiten, an denen sich das Kollisionsrecht messen lassen muss. Sie bringen das Binnenmarktprinzip zum Ausdruck und damit einen normativen Gegenpol zum nationalstaatlichen Demokratiegedanken.40 Das dritte Element sind Standards der (Mindest-)Harmonisierung, mit denen die supranationale Ebene im Zusammenwirken verschiedener Akteure ein Schutzniveau schafft, das nicht unterschritten werden darf. Idealerweise sollte diese Metordnung gewährleisten, dass die Vorteile eines Rechtswettbewerbs zum Tragen kommen, ohne die demokratische Legitimation der Rechtsprodukte zu unterhöhlen. Dazu steuern verschiedene Sicherungen bei. So ist als „Produkt“ nur staatliches Recht wählbar, womit das Kollisionsrecht sicherstellt, dass das gewählte Recht irgendeiner Gemeinwohlbindung unterworfen bleibt. Denn auch britisches oder irisches Gesellschaftsrecht wird von Organen geschaffen, auf die zwar nicht der deutsche, wohl aber der heimische Drittbetroffene Einfluss nehmen kann, weshalb auch dieses Recht

__________ 36 Näher G. H. Roth, ZGR 2005, 348, 366 ff. 37 S. dazu auch Grundmann, ZGR 2001, 783, 803 ff. 38 Nur am Rande sei erwähnt, dass ein Rechtsmarkt auch da entstehen kann, wo das staatliche Recht an sich keine Rechtswahlfreiheit eröffnet. Einheitlich geltendes Recht kann in verschiedenen Gerichtssprengeln unterschiedlich streng ausgelegt oder durchgesetzt werden. Dazu mögen – ihrerseits im Wettbewerb stehende – lokal abweichende soziale Normen beitragen, s. dazu Michael, DVBl. 2009, 1062, 1064 f., 1066. 39 Die Rechtswahl ausschließlich dem (angeblich) Betroffenen zuzugestehen ist freilich ebenfalls problematisch, weil sie zu perversen Effekten führen kann, näher dazu O’Hara/Ribstein (Fn. 14), S. 19 ff. 40 Vgl. Bachmann, AcP 210 (2010), 424, 432; aus ökonomischer Sicht Kirchner in FS Immenga, 2004, S. 607, 624.

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irgendeine Form von Gläubiger- oder Arbeitnehmerschutz vorsieht.41 Gleichzeitig wird eine natürliche Schranke gegen „Rosinenpicken“ errichtet, indem das fremde Rechtsprodukt als Ganzes, also einschließlich seiner Nachteile (z. B. unbequeme Publizitätspflichten, Übersetzungsnot), gewählt werden muss. Den Konkurrenten in Gestalt der Mitgliedstaaten wird dabei das Recht zugestanden, im Wege der Sonderanknüpfung bzw. Überlagerung (Eingriffsnormen) die Verwendung fremder Rechtsprodukte wenigstens partiell an Standards zu binden, die hiesigen Wertmaßstäben entsprechen.42 Hinzu tritt die Möglichkeit, im kollektiven Zusammenwirken supranationale Mindeststandards zu setzen (Rechtsharmonisierung). d) Bewertung der Metaordnung in der EU Ist die dergestalt skizzierte Metaordnung in der Lage, den Rechtswettbewerb so zu kanalisieren, dass sich am Ende nicht das „billigste“ sondern das „beste“ Recht durchsetzt? Dies hängt davon ab, ob die aus der fehlenden Repräsentanz inländischer Drittinteressen beim ausländischen Regelgeber herrührenden demokratischen Defizite im Rahmen der Metaordnung ausgeglichen werden. Die Antwort hierauf fällt schwer, weil sie notwendig vom Demokratieverständnis des Antwortenden geprägt wird.43 Für das nationale Kollisionsrecht ist sie noch am einfachsten zu geben, da es in klassischer Weise, nämlich durch die Volksvertretungen der unmittelbar Betroffenen, legitimiert ist.44 Ähnliches wird man für die vom europäischen Gesetzgeber (Europäisches Parlament und Rat) erlassenen Kollisionsregeln sagen können, deren demokratische Legitimation zwar schwächer, aber immerhin vorhanden ist.45 Der europäische Gesetzgeber hat allerdings nicht die Kompetenz, die Schleuse der Grundfreiheiten zu weiten oder zu schließen, sondern ist auf Harmonisierungsmaßnahmen angewiesen, wobei die im Rat erforderliche qualifizierte Mehrheit die Einigung auf einen gemeinsamen Nenner erschwert. Zum Dreh- und Angelpunkt der Metaordnung geraten damit die Grundfreiheiten. Wie bereits angedeutet, treten diese in ein Spannungsverhältnis zum nationalstaatlichen Demokratieprinzip, denn sie zwingen dazu, auch solche

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41 Damit wird der Rechtswettbewerb häufig für unbedenklich erklärt, exemplarisch O’Hara/Ribstein (Fn. 14), S. 29: „There is no a priori reason to assume that the chosen government’s resolution of the problem is any less legitimate than the avoided government’s resolution“. Hier bleibt außer Acht, dass es aus demokratietheoretischer Sicht nicht darauf ankommt, dass irgendein Drittschutz vorhanden ist, sondern dass alle Drittbetroffenen die Chance zur Mitwirkung an der Festlegung des Schutzstandards haben. Zur Gegensätzlichkeit von so verstandenem Demokratieprinzip und Binnenmarktgedanken vgl. (aus ökonomischer Sicht) Kirchner in FS Immenga, 2004, S. 607, 624 sowie nachfolgender Text. 42 Vgl. nur Thorn in Palandt, 70. Aufl. 2011, Anh. zu EGBGB 12 Rz. 8. 43 Peters in VVDStRL 69 (2010), 7, 52; s. auch Kieninger (Fn. 18), S. 73; Mehde (Fn. 14), S. 296. 44 Bejahend daher Eidenmüller, JZ 2009, 641, 648, mit dem Hinweis, dass die rechtlichen Regeln, die Rechtswahlmöglichkeiten zulassen, „in den zuständigen Körperschaften bewusst und nach einem Reflexionsprozess gesetzt [werden]“. 45 Zu den Demokratiedefiziten der EU unten, III.2.b.bb.

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Produktstandards anzuerkennen, die nicht vom hiesigen Gesetzgeber legitimiert wurden. Dies ist notwendige Konsequenz des Binnenmarktes. Dieser soll einen freien Raum für Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital schaffen (vgl. Art. 26 Abs. 2 AEUV), was nur gelingt, wenn diese im dazu nötigen Umfang ihre heimischen Standards mitnehmen dürfen. Der deutsche Konsument kann hierzulande eben nur dann in den Genuss belgischen Bieres gelangen, wenn dieses nicht deutschen Produktionsstandards unterworfen und der Binnenmarktgedanke dadurch wieder ausgehebelt wird. Die damit notwendig einhergehende Freiheit der „Rechtswahl“ – wer belgisches Bier kaufen darf, darf damit auch belgisches Bierproduktionsrecht „wählen“ – ist aber, das gilt es klar zu sehen, bloß reflektorischer Natur. Zwar ermöglichen es Waren- und Dienstleistungsfreiheit, dass Unternehmen ein Regelungsgefälle zu ihrem Vorteil ausnutzen, indem sie etwa Dienstleistungen aus dem schwächer regulierten EU-Ausland heraus erbringen.46 Dies setzt jedoch, ebenso wie die Ausübung der primären Niederlassungsfreiheit durch natürliche Personen, einen physischen Ortswechsel voraus. Eine Rechtswahl dergestalt, dass der Anbieter sich ohne reale Präsenz im Ausland isoliert die Vorteile dessen Rechts verschafft, ist von den Grundfreiheiten nicht vorgesehen.47 Das gilt auch und erst recht für die nur als „Hilfsfreiheit“ zu verstehende Niederlassungsfreiheit.48 Der EuGH hat die Dinge im Centros-Urteil bekanntlich liberaler gesehen und die Wahl des laxesten Gesellschaftsrechts unter Außerachtlassung der Unterschiede zwischen natürlichen und juristischen Personen zum Bestandteil der Niederlassungsfreiheit erklärt.49 Ob dies richtig war, soll hier nicht diskutiert werden. Festzuhalten ist, dass der EuGH den Markt durch liberale Interpretation der Grundfreiheiten für fremde Rechtsprodukte zu öffnen vermag, dabei jedoch nicht selbst für demokratische Repräsentanz der Normbetroffenen bürgen kann und deshalb stets auf die Balance zwischen Marktoffenheit und demokratischer Legitimation (auch) durch die Nationalstaaten Bedacht nehmen muss. 3. Zwischenfazit Vom ökonomischen Standpunkt aus betrachtet hat die Möglichkeit, zwischen verschiedenen Rechtsprodukten zu wählen, belebende Wirkung, weil sie dem Rechtskunden eine Alternative zum Angebot des nationalen Monopolisten

__________ 46 Darauf verweist W. H. Roth, ZGR 2000, 311, 318, der an der Centros-rule daher „nichts Überraschendes“ erkennt. 47 Kritisch zur gegenteiligen Aussage in Centros daher mit Recht Steindorff, JZ 1999, 1140, 1142 („petitio principii“); anders aber Grundmann (Fn. 15), Rz. 158 u. ZGR 2001, 783, 801 ff., 808 f., der den Grundfreiheiten die Garantie eines Rechtswettbewerbs entnimmt. 48 Näher G. H. Roth, Vorgaben der Niederlassungsfreiheit für das Kapitalgesellschaftsrecht, 2010, S. 3 ff.; s. auch Bröhmer in Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 4. Aufl. 2011, Art. 54 AEUV Rz. 18: „Solange die Niederlassungsfreiheit nicht die Zulässigkeit des ‚Briefkastenwohnsitzes‘ für natürliche Personen … verlangt, solange folgt aus ihr auch nicht die Zulässigkeit eines ‚Briefkastensitzes‘ für juristische Personen.“ 49 EuGH, Urt. v. 9.3.1999 – Rs. C-212/97 (Centros), Slg. 1999, I – 1459, Rz. 27.

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liefert. Aus legitimationstheoretischer Sicht ist sie ambivalent, da sie den demokratischen Prozess unterläuft, ihm aber auch heilsame Impulse liefert. Wegen dieser Ambivalenz bedarf es einer Metaordnung, die dafür bürgt, dass die demokratische Legitimation gewahrt bleibt. In Europa obliegt diese Aufgabe dem komplexen Zusammenspiel von Kollisionsrecht, Grundfreiheiten und Harmonisierungsakten.

III. Der vertikale Regulierungswettbewerb Nachdem der horizontale Regelungswettbewerb beschrieben wurde, ist der Blick nun auf die vertikale Konkurrenz zu richten. Auf den ersten Blick unterscheiden sich beide Formen des Regelwettbewerbs nur marginal, ist doch das entscheidende Moment, das konkurrierende Angebot unterschiedlicher Regelsetzer, in beiden Varianten vorhanden. Wer dem horizontalen Wettbewerb aufgeschlossen gegenübersteht, wird daher auch seine vertikale Version begrüßen.50 Aber auch diejenigen, die den Regelwettbewerb der Mitgliedstaaten kritisch sehen, begegnen der Regelkonkurrenz von EU und Einzelstaat durchweg wohlwollend.51 Man sieht in der Wahl Europäischer Rechtsformen offenbar geringere Gefahren als in der Wahl von Nachbarrechtsordnungen. Doch ist dies wirklich so? Und wenn ja, warum? Ein vertiefender Blick auf die Wirkbedingungen vertikaler Regelkonkurrenz soll hier mehr Klarheit schaffen. 1. Würdigung des vertikalen Wettbewerbs im Schrifttum Im rechtswissenschaftlichen Schrifttum ist der vertikale Regelwettbewerb zwar hin und wieder angesprochen, jedoch kaum je näher beleuchtet worden.52 Mitverantwortlich dafür dürfte der Umstand sein, dass die Idee eines gesellschaftsrechtlichen „Wettbewerbs der Regelsetzer“ aus der US-amerikanischen Literatur importiert wurde, die sich in Ermangelung eines optionalen Bundesgesellschaftsrechts auf den horizontalen Wettbewerb fokussiert. Der Ideenimport aus den USA hat also zu einer Perspektivenverengung geführt. Allerdings fehlt es nicht an Stimmen, die sich hier wie dort mit dem Nebenund Gegeneinander von föderalem und nationalem Gesellschaftsrecht beschäftigen. Dabei geht es selten um vertikale Regulierungskonkurrenz im eigentlichen Sinne, sondern ganz allgemein um die Auswirkungen des föderalen auf das nationale Gesellschaftsrecht. Diese „unechte“ Konkurrenz soll zuerst gesichtet werden, bevor auf die Eigenarten echten Vertikalwettbewerbs eingegangen werden kann. Unter vorläufiger Vernachlässigung staatsrechtlicher Unterschiede zwischen Staatenbund und Bundesstaat sollen dabei die Begriffe

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50 Exemplarisch Eidenmüller, JZ 2009, 641, 652: „Gegen die Anreicherung des horizontalen Rechtswettbewerbs durch einen vertikalen seitens der EU ist wenig zu sagen“. 51 Exemplarisch Kieninger (Fn. 18), S. 377 f., 384 und Ch. Teichmann (Fn. 18), S. 353 ff. 52 Zutreffend Fleischer, ZHR 174 (2010), 385, 413 („wissenschaftlich unterbelichtet“). S. dazu nach Abschluss dieses Textes die Beiträge von Fleischer, Klöhn und Leible in RabelsZ 76 (2012), 235 ff.; ferner Grundmann, Kosten und Nutzen eines Europäischen Optionalen Kaufrechts, AcP 212 (2012), im Erscheinen.

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Vertikaler Regulierungswettbewerb im Europäischen Gesellschaftsrecht

„föderales“ und „supranationales“ Gesellschaftsrecht synonym für solche gesellschaftsrechtlichen Regeln stehen, die vom oberen Regelgeber stammen. „Nationales“ oder „einzelstaatliches“ Gesellschaftsrecht bezeichnet gleichbedeutend die untere Ebene. a) Unechte Konkurrenz von föderalem und einzelstaatlichem Gesellschaftsrecht aa) Föderales Gesellschaftsrecht als Vorbild Supranationales Recht imitiert i. d. R. nicht lediglich die bereits auf nationaler Ebene vorhandenen Normen, sondern kombiniert oder variiert sie so, dass insgesamt ein originelles Regelwerk entsteht. Diese Originalität, die selten Ausdruck besonderer Innovationskraft ist, sondern sich meist dem Zwang zum Kompromiss verdankt, mag die nationalen Normsetzer dazu anreizen, aus freien Stücken (d. h. ohne Harmonisierungszwang oder Wettbewerbsdruck) Elemente des supranationalen Vorbilds zu übernehmen.53 Paradebeispiel ist das internationale Kaufrecht (CISG). Es konkurriert zwar theoretisch frei mit dem nationalen Kaufrecht, wird aus verschiedenen Gründen aber selten gewählt und stellt daher keinen wirklichen Konkurrenten für das BGB dar. Gleichwohl nahm der deutsche Gesetzgeber das UN-Kaufrecht zum Vorbild, um das deutsche Leistungsstörungsrecht umzubilden. Im Gesellschaftsrecht sind derartige Wirkungen bislang nicht zu beobachten gewesen.54 So hat die Rechtsfähigkeit der EWIV, die nach deutscher Dogmatik eine Variante der BGB-Gesellschaft darstellt,55 die Anerkennung der Rechtsfähigkeit der Außen-GbR nicht befördert, sich letztere vielmehr ganz unabhängig vom europäischen Vorbild vollzogen.56 Auch die bei der SE vorhandene Option, eine monistische Verwaltung zu etablieren, hat den Gesetzgeber des AktG bislang kalt gelassen.57 Ebenso verhält es sich mit dem Vorschlag, das Muster einer verhandelten Mitbestimmung gemäß dem SE-Vorbild für das deutsche Recht zu übernehmen.58 Auch hier sind vom deutschen Gesetzgeber keinerlei Anstrengungen zu erkennen, das europäische Muster auch nur annähernd für das deutsche Recht zu übernehmen. Die unverbindlichen EUEmpfehlungen zum Aufsichtsrat sind nur ansatzweise adaptiert worden – allerdings nicht vom Gesetzgeber, sondern von der (nicht-staatlichen) Kodex-Kommission. Ohne massiven Abwanderungsdruck oder rechtlichen Zwang verharrt der nationale Gesetzgeber also tendenziell im vertrauten Muster.

__________ 53 Vgl. Fleischer, ZHR 174 (2010), 385, 406 ff.; Bachmann, ZEuP 2008, 32, 42 f. 54 Dazu aus französischer Sicht Menjucq in Jung (Fn. 11), S. 7 ff. 55 Im Unterschied zur BGB-Gesellschaft unterliegt die EWIV allerdings einem Registerzwang. Der deutsche Gesetzgeber hat sie auch im Übrigen der (offenen) Handelsgesellschaft gleichgestellt, vgl. § 1 EWIV-AG. 56 Grundsätzlich BGHZ 146, 341 (ohne Erwähnung der EWIV). 57 Zu den (möglichen) Gründen Bachmann in FS Hopt, 2010, S. 337, 340 f. 58 Dafür Bachmann et al., ZIP 2009, 885 ff.; dazu Hommelhoff, ZGR 2010, 48 ff.

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bb) Föderales Gesellschaftsrecht als zwingender Mindeststandard Rechtswettbewerb ist ausgeschlossen, wo föderales Recht in zwingender Gestalt regiert. In Europa ist dies der Fall, wenn das Europäische Gesellschaftsrecht in Gestalt von Harmonisierungsakten verbindliche Standards setzt. Daran anknüpfend thematisiert das Schrifttum zum europäischen Gesellschaftsrecht die Frage „Systemwettbewerb versus Mindestharmonisierung“, wobei der föderale Regelgeber nicht als Anbieter einer konkurrierenden Option, sondern als Begrenzer des horizontalen Wettbewerbs erscheint.59 Im Ergebnis hat man sich dabei auf eine Kombinationslösung verständigt, bei der die Mindestharmonisierung für zentrale Schutzanliegen einen Basisstandard formt, der auch durch Regulierungswettbewerb nicht unterlaufen werden kann und insofern ein „level playing field“ schafft, während in anderen, etwa organisatorischen Fragen (z. B. Art der Verwaltungsstruktur) für Systemwettbewerb plädiert wird.60 Einige Autoren spinnen diesen Faden fort und betonen die Bedeutung supranationaler Rechtsformen als freiheitliche, den Wettstreit der Lösungen nicht erstickende Alternative zur Mindestharmonisierung.61 Auch sie setzen sich mit den Wirkbedingungen von Vertikalkonkurrenz aber nicht näher auseinander. Zwingende Standards, die Regelungsspielräume auf der unteren Ebene unterbinden, sind auch in den Vereinigten Staaten zu beobachten. Dort korrigiert der Bundesgesetzgeber als zu lax empfundenes einzelstaatliches Gesellschaftsrecht gelegentlich im Wege föderalen Kapitalmarktrechts. In der amerikanischen Literatur hat das zu Überlegungen geführt, welche den Bundesstaat Delaware nicht als Teilnehmer des horizontalen Wettbewerbs modellieren, sondern ihn zugleich in ein vertikales Konkurrenzverhältnis zum Bund stellen.62 Dieses Konkurrenzverhältnis ist ein atypisches, weil asymmetrisches.

__________ 59 Exemplarisch Grundmann (Fn. 47), Rz. 157 ff.; Habersack/Verse (Fn. 1), S. 41 f., jeweils m. w. N. 60 Grundsätzlich Schön, ZHR 160 (1996), 221 ff.; ferner Grundmann (Fn. 47), Rz. 159; Eidenmüller, JZ 2009, 641, 651; Deakin, 12 European Law Journal 440 (2006); allgemein für das Privatrecht Dreher, JZ 1999, 105, 111. Kritisch aber Tröger, Choice of Jurisdiction in European Corporate Law: Perspectives of European Corporate Governance (July 24, 2004), verfügbar bei SSRN: http://ssrn.com/abstract=568782, S. 87 f., 93 ff., der nur für sog. focal point rules – also Regeln, bei denen die Einheitlichkeit wichtiger als der Inhalt ist (Standardbeispiel: Rechtsfahrgebot) – ein echtes Vereinheitlichungsbedürfnis sieht und als Beispiel die Bilanzrichtlinien sowie die Publizitätsrichtlinie nennt (s. dazu auch Eidenmüller, ZIP 2002, 2233, 2237). Im Übrigen könnten die Unternehmen durch freie Rechtswahl selbst die Bürde unterschiedlicher Regimes beseitigen (S. 88). Auch Schutzanliegen Dritter (Gläubiger, Arbeitnehmer, Anleger) rechtfertigten keine zwingende Harmonisierung, weil die Mitgliedstaaten schon im Interesse und auf Druck ihrer eigenen Angehörigen einen Mindeststandard aufrecht erhielten (S. 97 ff.). 61 Vgl. etwa Fleischer, ZHR 174 (2010), 385, 405; aus ökonomischer Sicht Holzgräbe, HFR 1999, 69, 79; Röpke/Heine, ORDO 56 (2005), 157, 161, 172; allgemein Meessen, JZ 2009, 697, 704 f. 62 Grundlegend Roe, 117 Harv. L. Rev. 588 (2003). Näher dazu sowie zur Resonanz der These in der amerikanischen Debatte von Hein (Fn. 18), S. 501–511; s. auch Tröger (Fn. 60), S. 12 f.

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Der Bund steht, soweit seine Gesetzgebungskompetenz reicht, in der Normhierarchie über den Einzelstaaten und hat insofern eine „natürliche“ Marktmacht inne. Verschiedene Autoren hat das zu einer Abkehr oder Abschwächung der These vom (horizontalen) Regelwettbewerb veranlasst. Das Anbieterverhalten Delawares werde weniger vom erwarteten Verhalten einzelstaatlicher Konkurrenten als durch vorausschauende Rücksichtnahme auf potenzielle Bedrohungen durch zwingendes Bundesrecht geprägt.63 Ob diese Überlegung, die das Verhältnis von Bund und Einzelstaat statt mit „Wettbewerb“ mit den Begriffen „Symbiose“, „Dialog“ oder „Selbstregulierung“ (im Schatten des Bundesrechts) zu erfassen sucht, die Dinge richtig trifft, mag hier dahinstehen.64 Sicher ist, dass sich die Situation von derjenigen in Europa unterscheidet, weil ein monopolistischer Anbieter nach Art Delawares in der EU nicht existiert und auf absehbare Zeit auch nicht entstehen wird.65 Zudem ist das Drohpotential der EU gegenüber den Einzelstaaten aus verschiedenen Gründen geringer als dasjenige der USA.66 Anders als Delaware sind die europäischen Mitgliedstaaten daher nicht genötigt, bei ihrer Gesellschaftsrechtsetzung ängstlich auf die „Zentrale“ zu schielen, als vielmehr die Präferenzen des eigenen Elektorats zu bedienen. Weil sie im Unterschied zu Delaware für ihr fiskalisches Wohlergehen nicht auf die Gunst auswärtiger Gründer und Manager angewiesen sind, erwartet man von ihnen eine stärkere Berücksichtigung schutzwürdiger Drittbelange. cc) Föderales Gesellschaftsrecht als Motor des horizontalen Wettbewerbs Supranationales Recht, das zu seiner Vervollständigung auf nationale Rechtsordnungen angewiesen ist, kann schließlich als Katalysator des horizontalen Regelwettbewerbs wirken. Das föderale Regelwerk konkurriert insofern nicht selbst mit den einzelstaatlichen Regeln, sondern stimuliert deren Wettbewerb untereinander. In diesem Sinne wurde der fragmentarische Charakter der SEVerordnung nicht als regulatorischer Nachteil, sondern als Vorteil gewertet.67 Indem die SE-Verordnung zum Lückenschluss auf nationales Recht verweist, ermöglicht sie es den Mitgliedstaaten, durch entsprechende Ausgestaltung der lückenschließenden Normen „ihre“ SE möglichst attraktiv zu machen. Empirisch konnte eine entsprechende Regulierungsarbitrage allerdings bislang nicht

__________ 63 Vgl. Fn. 62. 64 Vgl. dazu von Hein (Fn. 18), S. 504, 506. 65 Zu den Gründen ausführlich Tröger (Fn. 60), S. 16 ff.; früher schon Merkt, RabelsZ 59 (1995), 545, 549 ff., 554 ff., insb. 567. 66 von Hein (Fn. 18), S. 592 f., unter Hinweis auf das schwerfälligere Rechtsetzungsverfahren der EU, die fragmentierte europäische Öffentlichkeit und das Fehlen einer europäischen Wertpapieraufsichtsbehörde. Letztere existiert heute (ESMA), ist aber in ihrer Schlagkraft bei weitem nicht mit der SEC vergleichbar. 67 Vgl. Enriques, 4 J. Corp. L. Stud. (2004), 77 ff.; kritisch aber Tröger (Fn. 60), S. 91 f.

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festgestellt werden.68 Insbesondere hat das liberale Auffangregime der „britischen“ SE nicht zu einer nennenswerten Zahl von SE-Gründungen im Vereinigten Königreich geführt. Jedenfalls betrifft die stimulierende Wirkung der supranationalen Form nicht den vertikalen, sondern den horizontalen Wettbewerb. b) Echte Konkurrenz von föderalem und einzelstaatlichem Gesellschaftsrecht Die vorstehend beschriebenen Auswirkungen supranationalen Gesellschaftsrechts haben nicht den vertikalen Wettbewerb im eigentlichen Sinne im Blick. Wo die obere Ebene durch Vorbilder, Mindeststandards oder Verweise in das Gesellschaftsrecht der Mitgliedstaaten hineingreift, tritt sie nicht als wirklicher Konkurrent in Erscheinung. Wahrer vertikaler Regelwettbewerb wird nur von wenigen Autoren in den Blick genommen, die ihm dabei grundsätzlich ein positives Attest ausstellen. aa) Der föderale Regelsetzer als Anbieter von Einzeloptionen In einer eindrucksvollen komparativen Analyse verschiedener Aspekte des Regulierungswettbewerbs hat Schön auch das Thema vertikaler Rechtskonkurrenz adressiert.69 Die besondere Attraktivität des vertikalen Regulierungswettbewerbs besteht seiner Auffassung nach darin, dass er die Vorteile der Harmonisierung mit denen des Regulierungswettbewerbs kombiniert.70 Im Europäischen Gesellschaftsrecht sei diese Form von Wettbewerb indes stark abgebremst, weil die maßgebende supranationale Rechtsform, die SE, als Torso nicht in vollem Umfang konkurrenzfähig sei.71 Die Ursache dafür liege darin, dass das zentrale europäische Gesetzgebungsorgan, der Rat, als „Kartell“ der Mitgliedstaaten fungiere, die ihr angestammtes Revier vor der Invasion föderaler Rechtsfiguren zu schützen trachten.72 Dennoch sieht Schön in der vertikalen Konkurrenz auch in der EU ein verheißungsvolles Muster. Es sei nämlich gar nicht erforderlich, eine vollständig autonome föderale Rechtsform zur Verfügung zu stellen. Vielmehr könnten auch einzelne Regulierungsoptionen attraktive Alternativen zum Rechtsangebot auf der niederen Ebene darstellen. Denn da der föderale Gesetzgeber an dem „Wettlauf um Inkorporationen“ nicht teilnehme, sei er in der Lage, Rechtsangebote zu machen, die aus Sicht der Aktionäre attraktiver sein können als

__________ 68 Vgl. Eidenmüller/Engert/Hornuf, EBOR 10 (2009), 1, 2: „Our analysis fails to support the suggestion that firms use the SE to shop for the most favourable national company law to fill the gaps in the SE Regulation“. Den Anlegern scheint die Wahl der SE (und ihres Sitzes) gleichfalls egal zu sein, s. Eidenmüller/Engert/Hornuf, EBOR 11 (2010), 35, 48. 69 Schön, Playing Different Games? Regulatory Competition in Tax and Company Law Compared, CMLR 43 (2005), 331, 360 ff. („one of the most fascinating aspects of regulatory competition“). 70 Schön, CMLR 43 (2005), 361, 365. 71 Vgl. Schön, CMLR 43 (2005), 331, 362. 72 Vgl. Schön, CMLR 43 (2005), 331, 362; das Bild vom Kartell übernehmend Fleischer, ZHR 174 (2010), 385, 416.

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die an den Gründer- oder Managerinteressen ausgerichteten Angebote der Mitgliedstaaten.73 Als Beispiel verweist er auf die Übernahmerichtlinie, die der Hauptversammlung die Option einräumt, für das übernahmefreundlichere europäische Verhinderungsverbot zu votieren und damit das tendenziell managerfreundlichere nationale Übernahmerecht partiell außer Kraft zu setzen.74 bb) Unbegrenzte Konkurrenz zwischen vertikaler und horizontaler Ebene Noch positiver sehen Röpke und Heine den vertikalen Regulierungswettbewerb.75 Ihr Anliegen besteht darin, den Gedanken eines Wettbewerbs der Regelsetzer für die Verteilung von Normsetzungskompetenzen fruchtbar zu machen. Traditionelle Föderalismustheorien gingen ebenso wie bundesstaatliche Verfassungen davon aus, dass vorab festzulegen sei, wo die Normsetzungskompetenzen anzusiedeln sind – entweder auf der oberen oder auf der unteren Ebene.76 Verstehe man Wettbewerb dagegen mit Hayek als „Entdeckungsverfahren“, dann müsse der Wettbewerb darüber entscheiden, wo die Normgebungskompetenz hingehört. Dazu sei sowohl der oberen als auch der unteren Ebene die Normgebungsbefugnis einzuräumen.77 Das Nachfrageverhalten der Regelbetroffenen entscheide dann darüber, welche Ebene besser geeignet sei, das in Rede stehende Problem zu lösen. Dieser wettbewerbsfreundliche Ansatz hat Konsequenzen für das supranationale Gesellschaftsrecht. Um den vertikalen Regulierungswettbewerb offen zu halten, müsse die supranationale Rechtsform so weit wie möglich ohne Bezug auf Regelungen einer nationalen Jurisdiktionsebene auskommen. Ferner dürfe es keinerlei Beschränkungen in der Wahl zwischen nationaler und supranationaler Form geben. Und schließlich sei zur Vermeidung von Manipulationen jede Verflechtung der Entscheidungsbefugnisse zwischen staatlicher und überstaatlicher Ebene zu vermeiden.78 Weil in Europa keine dieser Bedingungen erfüllt ist, stellen die Verfasser der SE ein zwiespältiges Zeugnis aus. Einerseits sei sie weit vom Ideal eines „markterhaltenden Föderalismus“ entfernt. Andererseits bewirke ihre bloße Existenz eine wechselseitige Regulierungsbedro-

__________ 73 Schön (Fn. 72). 74 Schön (Fn. 72), unter Hinweis auf Hertig/McCahery, 4 EBOR (2003), 179, 200 und Bebchuk/Ferrell, 87 Virg. L. R. (2001), 111, 130 (mit einem entsprechenden Vorschlag für das US-amerikanische Übernahmerecht). 75 Vgl. Röpke/Heine, Vertikaler Regulierungswettbewerb und europäischer Binnenmarkt, ORDO 56 (2005), 157 ff.; Röpke/Heine, Zur Rolle supranationaler Gesellschaftsformen im Regulierungswettbewerb, in JbJZivRWiss 2005, S. 265, 270 ff.; Heine, Regulierungswettbewerb im Gesellschaftsrecht, 2003. 76 Die „konkurrierende“ Gesetzgebung des GG ist in Wahrheit keine solche, s. nur Michael, DVBl. 2009, 1062, 1070. 77 Vgl. Röpke/Heine, ORDO 56 (2005), 157, 174 f.; Röpke/Heine in JbJZivRWiss. 2005, S. 265, 273 ff.; dem folgend Fleischer, ZHR 174 (2010), 385, 415. 78 Röpke/Heine, ORDO 56 (2005), 157, 178.; dies. in JbJZivRWiss 2005, S. 265, 277 ff.; ähnlich jetzt auch Klöhn, RabelsZ 76 (2012), 276 ff.

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hung, die beiden Ebenen einen Anreiz gebe, ihr rechtliches Angebot innovativ fortzuentwickeln.79 c) Kritik Sowohl die Analyse von Schön als auch diejenige von Heine und Röpke liefern wertvolle Ansätze zum Verständnis vertikalen Wettbewerbs. Beide fordern aber auch Kritik heraus. aa) Mitgliedstaaten als „Kartell“? So ist zunächst zweifelhaft, ob das Bild vom Kartell der Mitgliedstaaten die Dinge richtig trifft. Ein Kartell zeichnet sich dadurch aus, dass es für zentrale Wettbewerbsparameter den Wettbewerb ausschaltet. Demgegenüber geht es den im Rat repräsentierten Mitgliedstaaten, soweit sie supranationale Rechtsformen bremsen, nicht darum, den durch die Grundfreiheiten verbürgten Regulierungswettbewerb zu beseitigen, sondern lediglich darum, zusätzlichen Wettbewerb auf der oberen Ebene im Zaume zu halten. Während Kartelle ob ihrer ökonomisch schädlichen Wirkungen allgemein verboten sind, kennt das Wettbewerbsrecht keine korrespondierende Verpflichtung der Konkurrenten, sich zwecks Ausweitung des Wettbewerbs mit einem Gemeinschaftsprodukt selbst Konkurrenz zu machen. Passend ist das Kartellbild, soweit die Mitgliedstaaten sich zusammentun, um zwingende Harmonisierungsmaßnahmen durchzuführen, denn dadurch wird ein wechselseitiges Unterbieten im horizontalen Wettbewerb verhindert.80 Diese Form der Kartellierung ist aber nicht per se schädlich, denn sie hilft, einen gemeinsamen Markt zu schaffen („level playing field“). Im Übrigen unterscheidet sie sich von gewöhnlicher Kartellbildung dadurch, dass die Wettbewerber nicht unter sich sind, sondern von anderen, auf das Binnenmarktziel fixierten Organen (Kommission, Parlament, EuGH) im Zaum gehalten werden. bb) Unabhängigkeit des Bundes? Kritisch ist auch das Postulat zu würdigen, jede Verflechtung der Entscheidungsbefugnisse zwischen staatlicher und überstaatlicher Ebene zu vermeiden.81 Wettbewerbstheoretisch mag die Forderung plausibel sein.82 Nähme man sie

__________

79 Röpke/Heine, ORDO 56 (2005), 175, 179. Für die USA auch Bebchuk/Ferrell, 87 Va. L. R. (2001), 111, 154 (mit dem Plädoyer für ein optionales föderales Bundesgesellschaftsrecht). 80 Das Kartellbild in diesem Sinne verwendend Mehde (Fn. 14), S. 102; Meessen, JZ 2009, 697, 704, 705; Giegerich in VVDStRL 69 (2010), S. 57, 69; Letzterer mit dem Hinweis, dass Kooperation im Regulierungsbereich „kein negativ besetzter Begriff“ sei. 81 So Röpke/Heine, ORDO 56 (2005), 157, 178; Röpke/Heine in JbJZivRWiss 2005, S. 265, 278. 82 Vgl. nur Meessen, JZ 2009, 697, 699: „Mit sich selbst kann man nicht im Wettbewerb stehen. Wettbewerb bedarf der Beteiligung mehrerer voneinander unabhängiger Wettbewerber“.

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ernst, dürfte es in der EU keine Beteiligung des Rates an der europäischen Gesetzgebung geben. Europäische Gesetze würden dann allein von Kommission und Europäischem Parlament geschaffen. Beließe man den Einzelstaaten daneben ihre legislative Kompetenz, würde dadurch zwar ein effektiverer Regulierungswettbewerb zwischen „oben“ und „unten“ stattfinden. Gleichzeitig würde jedoch die Balance innerhalb der oben (II.2.c. und d) skizzierten Metaordnung gestört. Man mag dem entgegenhalten, dass das von den Unionsbürgern gewählte Europäische Parlament ein demokratisches Gegengewicht zur Kommission darstellt, das für die nötige Legitimation europäischer Normen sorgt. Das Europäische Parlament steht in der Ausübung demokratischer Funktionen aber aus mancherlei Gründen hinter den nationalen Parlamenten zurück.83 Im Übrigen verzichten auch traditionelle Bundesstaaten wie Deutschland oder die USA nicht auf die mitunter lähmende, unter demokratietheoretischen Gesichtspunkten aber wichtige Mitwirkung der „unteren“ Ebene bei der Bundesgesetzgebung.84 2. Grundbedingungen vertikaler Regelkonkurrenz Nimmt man die zum horizontalen Rechtswettbewerb gewonnenen Erkenntnisse mit der Kritik am Schrifttum zur Vertikalkonkurrenz zusammen, sind die wesentlichen Bedingungen fruchtbarer vertikaler Regelkonkurrenz vorgezeichnet. a) „The more the merrier“? Festzuhalten ist zunächst, dass man sich nicht mit einem laissez-faire-Ansatz begnügen darf, nach dem Motto: „Wettbewerb ist gut, also ist mehr Wettbewerb besser“.85 Denn ebenso wie die Übertragung des Wettbewerbsparadigmas vom Produkt- auf den Rechtsmarkt nur unter Anpassungen möglich ist, gilt dies auch für dessen Erweiterung auf die vertikale Ebene. Ohne eine Analyse der demokratischen Einflussnahme auf das föderale Rechtsprodukt sind sinnvolle Aussagen nicht möglich. Vertikaler Regelwettbewerb darf auch nicht allein deshalb gefordert werden, weil man auf diesem Umweg Ergebnisse zu erreichen hofft, die national nicht konsensfähig sind. Wer sich vom europäischen Angebot z. B. eine Erledigung der unternehmerischen Mitbestimmung oder die Beseitigung von Beurkundungszwängen erhofft, stellt damit nicht nur diese Institutionen, sondern zugleich die Legitimationskraft der deutschen Gesetzgebung in Frage, die diese Kautelen verabschiedet und trotz gegenteiliger Reformvorschläge bewusst beibehalten hat. Das kann man machen, muss dann aber auch Stellung dazu beziehen, warum der europäische Rechtsproduzent über eine bessere oder gleichwertige Legitimation verfügt.

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83 Näher unten, bei Fn. 91. 84 Giegerich in VVDStRL 69 (2010), 57, 82, spricht vom „Gegenstromprinzip“. 85 Vgl. aber Bebchuk/Ferrell, 87 Va. L. R. (2001), 111, 142: „The more the merrier“. Die Autoren begnügen sich indes nicht mit dieser Feststellung, sondern bemühen sich eingehend um den Nachweis, warum im US-amerikanischen Gesellschaftsrecht ein Bedürfnis für ein föderales Optionsmodell besteht.

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b) Die Struktur vertikaler Regelkonkurrenz in der EU Um diese Frage zu beantworten, sollen zunächst die Anreize betrachtet werden, die das Handeln des föderalen Regelsetzers steuern, sodann die notwendigen demokratischen Sicherungen. Vorab ist festzuhalten, dass der europäische Gesetzgeber beim vertikalen Rechtswettbewerb die Position des Schiedsrichters (Ausgestaltung der Metaordnung) verlässt und selbst in die Rolle eines Mitspielers schlüpft, der aber zugleich weiter über die Bedingungen des Spiels (Metaordnung) entscheidet. aa) Anreize für den europäischen Normanbieter Maßgebliche Faktoren demokratischer Rechtsetzung sind neben dem Wählerwillen die Motivation und Sozialisation der Gesetzesverfasser (Politiker, Ministerialbeamte), der Einfluss von Interessengruppen (Lobbys) sowie Pfadabhängigkeiten. In jeder dieser Hinsichten existieren Unterschiede zwischen einzelstaatlicher und föderaler Ebene. Grob gesagt bestehen diese darin, dass sich das Gewicht von lokalen Lobbys und Wählern auf höherer Ebene verwässert, während andere Lobbys möglicherweise dort an Einfluss gewinnen. Zugleich treten Pfadabhängigkeiten in den Hintergrund und nehmen die individuellen Akteure (Beamte, Abgeordnete) eher das „Ganze“ in den Blick. In den USA verspricht man sich daraus ein tendenziell anlegerfreundlicheres Regelangebot der Föderation, weil diese frei von partikularen Lobbys und Fiskalinteressen agiert. Aus ähnlichen Gründen, aber unter anderen Vorzeichen, hofft man in der EU auf ein unternehmerfreundlicheres Bundesangebot für die kleine Kapitalgesellschaft. Dass diese Hoffnung nicht unberechtigt ist, zeigt die EPG, deren ursprünglicher, allein von der Kommission verantworteter Entwurf von 2008 ebenso schlank wie liberal daher kam, indem er nationale Erblasten wie Mitbestimmung, Mindeststammkapital und Beurkundungszwang abwarf. Aus Gründersicht hatte die obere Ebene damit ein attraktives Zusatzangebot geschaffen, das wegen seiner Loslösung von natürlichen Schranken (Sprache, Einbindung in den nationalen Regelungskontext) im horizontalen Wettbewerb so nicht entstehen konnte. bb) Demokratische Sicherungen Bürgt die EU in Gestalt der Kommission also für ein innovatives Rechtsangebot, lautet die entscheidende Frage, wer im vertikalen Modell die unentbehrliche Berücksichtigung der Drittinteressen (Gläubiger, Arbeitnehmer etc.) gewährleistet. Prima vista könnte diese Aufgabe ebenfalls bei der Kommission gut aufgehoben sein, ist diese doch kraft Primärrechts gehalten, die Anliegen aller Unionsbürger sowie der repräsentativen Verbände bei ihrer Arbeit zu berücksichtigen (Art. 11 EUV). Diese haben in den obligatorischen Konsultationsverfahren Gelegenheit, auf den Normsetzungsprozess Einfluss zu nehmen. Insofern stellt sich die Situation günstiger dar als beim horizontalen Wettbewerb, denn mitgliedstaatliche Normanbieter – etwa Großbritannien – sind weder gehalten noch geneigt, auswärtigen Drittinteressen (etwa dem Wunsch 40

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deutscher Arbeitnehmer nach Board-Repräsentation) irgendwie Rechnung zu tragen. Solche können sich nur dadurch artikulieren, dass sie eine Harmonisierung anregen, die wegen des qualifizierten Mehrheitserfordernisses im Rat aber schwer zu erreichen ist. Diese Offenheit des europäischen Rechtsetzungsprozesses für gesamteuropäische Anliegen dürfte ein Grund sein, warum Kritiker des Horizontalwettbewerbs dem vertikalen Regulierungswettstreit aufgeschlossen begegnen. Ein entscheidendes, in der EPG-Debatte nicht thematisiertes Manko der Kommission als Rechtsforminnovator besteht demgegenüber in ihrer mangelnden Verantwortlichkeit gegenüber den unmittelbar Normbetroffenen. Zugespitzt: Der Bürger kann sich bei der Kommission beschweren, er kann sie aber nicht abwählen.86 Dagegen steht der nationale Normanbieter, auch wenn er seine Normen exportiert, wenigstens seinem eigenen Elektorat gegenüber in der Pflicht. Diese Rückbindung ist ein entscheidender Grund, warum die Binnenmarktordnung überhaupt gebieten kann, fremde (Rechts-)Produkte voraussetzungslos ins Land zu lassen.87 Weil die spürbare, d. h. nicht nur theoretische Verantwortlichkeit des Normsetzers gegenüber den Normbetroffenen ein zentrales Element guter Regelsetzung ist,88 bedarf die Kommission, will sie mit eigenen Rechtsprodukten auf den Markt treten, eines demokratischen Korrektivs. Der EuGH scheidet für diese Rolle naturgemäß aus. Besser geeignet ist der Rat, dessen Mitglieder zwar nur mittelbar legitimiert sind, dafür aber in der Verantwortung gegenüber dem heimischen Wahlvolk stehen.89 Wie das Beispiel der SE oder des übernahmerechtlichen Verhinderungsverbots zeigt, verbürgt die Ratsbeteiligung in der Tat, dass nicht nur die Interessen der Rechtswählenden, sondern auch die potenzieller Drittbetroffener Beachtung finden. Das Problem der Ratsbeteiligung besteht wiederum darin, dass die auf das nationale Elektorat bezogene Rückbindung dazu führt, dass aus Gründen des Partikularinteresses eine Einigung auf ein supranationales Rechtsprodukt schwer fällt,90 was wiederum den Binnenmarktgedanken gefährdet.91 Besser wäre es, die Letztentscheidung einem Organ zuzuweisen, das von Partikularinteressen frei ist und gleichwohl demokratisch legitimiert ist. Damit gerät das Europäische Parlament ins Blickfeld. Dieses hat bei der EPG demonstriert, dass es die Sorgen potenzieller Drittbetroffener angemessen zu artikulieren

__________ 86 Noch krasser ist die Situation bei privaten Normgebern, deren „Produkte“ daher, soweit sie Drittinteressen tangieren, ohne zusätzliche Sicherungen keiner freien Rechtswahl zugänglich sein können. Entsprechendes hat für Offshore-Jurisdiktionen zu gelten, so auch O’Hara/Ribstein (Fn. 14), S. 33 ff. (betr. „Seastead“). 87 S. oben, bei Fn. 41. 88 Bachmann (Fn. 30), S. 373 f. 89 Vgl. BVerfGE 123, 267 = NJW 2007, 2267 („Lissabon“), Rz. 270: „Furcht vor dem Machtverlust durch Abwahl“. 90 Da die Kompetenzgrundlage zur Schaffung supranationaler Rechtsformen Art. 352 AEUV ist, ist Einstimmigkeit im Rat erforderlich, vgl. EuGH v. 2.5.2006 – Rs. C-436/03, Slg. 2006, I – 3733 (betr. SCE). 91 S. dazu oben, bei Fn. 7.

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weiß, indem es den liberalen Reißbrettentwurf der Kommission zähmte.92 Doch genügt das? Zweifel bestehen, weil das Europäische Parlament (EP) zwar von allen Unionsbürgern gewählt wird, aber dennoch keine volle demokratische Legitimation verbürgt.93 Gründe dafür sind u. a. das Fehlen eines europäischen Bewusstseins, dass sich im Ausbleiben eines europäischen Wahlkampfs niederschlägt, vor allem aber die Missachtung des elementaren Grundsatzes „one man – one vote“ (vgl. Art. 14 Abs. 2 EUV). Dass das EP gehalten ist, in einen regelmäßigen Dialog mit den nationalen Parlamenten zu treten, kann diese Defizite nicht ausgleichen.94 Traut man dem EP aus diesem Grund keine vollwertige Repräsentanz der europäischen Drittinteressen zu, muss diese Aufgabe weiterhin (ergänzend) vom Rat wahrgenommen werden. Die damit eingebaute Bremse ist der Preis, der dafür zu zahlen ist, dass die EU kein vollwertiger Bundesstaat ist. c) Folgerung und Bewertung Vertikaler Rechtswettbewerb ist nicht besser oder schlechter als seine horizontale Variante, sondern anders. Positiv schlägt zu Buche, dass die Rechtsbetroffenen die Möglichkeit haben, direkt auf das konkurrierende Rechtsangebot Einfluss zu nehmen. Damit wird vermieden, dass sich auf dem Rechtsmarkt die Rechtsform durchsetzt, die den Schutz von Drittinteressen auf niedrigstem Level ansetzt, obwohl sie nur von einem Bruchteil der Drittbetroffenen legitimiert ist. Problematisch bleibt, dass nationale Belange auf supranationaler Ebene verwässert werden. Wenn die Mehrheit der Unionsbürger etwa, vermittelt über die europäischen Rechtsetzungsorgane, einer Rechtsform ihren Segen erteilt, die auf notarielle Beurkundungsbedürfnisse und unternehmerische Mitbestimmung verzichtet, fallen die Interessen derjenigen Staaten, die derartige Kautelen im Gemeinwohlinteresse für nötig halten, hintüber. Das scheint nichts Schlimmes zu sein, hat sich doch dann eben das in der Gesamtföderation für besser befundene Modell als Option politisch durchgesetzt. Gleichwohl verbleiben Bedenken, die nicht unter den Tisch gekehrt werden dürfen. Zunächst ist zu sehen, dass die europäische Rechtsform als solche aufgrund der geringeren Friktionskosten (z. B. mangelnde Übersetzungserfordernisse) immer attraktiver sein wird als eine Fremdrechtsform (z. B. Ltd.). Wer eine Rechtsform wählen kann, die sich praktisch in nichts von der GmbH unterscheidet, außer dass Lästigkeiten wie Mindestkapital und Beurkundungserfordernisse entfallen, wird dies tun. Langfristig wird der mehrheitlich gebil-

__________ 92 Etwa durch das Erfordernis eines grenzüberschreitenden Elements und Zulassung eines optionalen Mindeststammkapitals bzw. optionaler Beurkundungserfordernisse. 93 Näher BVerfGE 123, 267 = NJW 2007, 2267 („Lissabon“), Rz. 279 ff.; Haltern, Europarecht, 2. Aufl. 2007, S. 133 ff.; M. Schmidt (Fn. 34), S. 424 ff.; ultimativ Meessen, JZ 2009, 697, 705: „Demokratie kann auf höheren Ebenen als im staatlichen oder homogenen regionalen Verband nicht funktionieren“. 94 Positiver wertend C. Calliess in Calliess/Ruffert (Fn. 48), Art. 12 EUV Rz. 67 („spürbare Stärkung der demokratischen Legitimation der EU“).

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Vertikaler Regulierungswettbewerb im Europäischen Gesellschaftsrecht

ligte Euro-Standard daher gegenüber höheren Standards der nationalen Konkurrenzprodukte die Oberhand gewinnen.95 Faktisch erreicht der „vertikale Wettbewerb“ damit am Ende das, was durch Harmonisierung nicht zu erreichen ist: Einen gesellschaftsrechtlichen Höchststandard. Gesellschaftsrechtlich mag das akzeptabel sein, doch drängen sich staatstheoretische Zweifel auf. Zum einen stellt sich die Frage, ob Europa bereits derart zu einer Gemeinschaft gereift ist, dass man sich einem mehrheitlich beschlossenen Standard unter Hintansetzung lokaler Werte und Traditionen ebenso unterwirft, wie dies der Hesse oder Bayer gegenüber dem (gesamt-)deutschen Votum tun muss (und auch tut). Zum anderen bringt es die supranationale Rechtsform im gegenwärtigen Zustand der EU mit sich, dass einmal gefundene Kompromisslösungen nur schwer wieder aufgekündigt werden können, so dass der Euro-Standard auch dann, wenn er sich später als suboptimal erweist, unverändert bleibt (Stichwort: Versteinerung).96 Beide Bedenken geben Anlass, den vertikalen Wettbewerb vorerst nur in gezügelter Form zuzulassen. Optionale Einzelangebote könnten dafür das richtige Instrument sein. Wenn dadurch kein „Run“ auf die supranationale Rechtsform, sondern zunächst deren vorsichtiges Austesten bewirkt wird, muss das, wie das Beispiel der SE lehrt, kein schlechtes Resultat sein. 3. Konsequenzen für die EPG Befürworter einer Europäischen Privatgesellschaft stehen vor der Wahl. Sie können daran mitwirken, Europa zu einem echten Bundesstaat mit einem voll legitimierten Parlament und europäischem Nationalbewusstsein reifen und damit das Vetorecht der Mitgliedstaaten im Rat langfristig entbehrlich werden zu lassen. Gelingt dies – was zweifelhaft ist – dann bestehen keine Bedenken, eine schrankenlos konkurrierende EPG ins Leben treten zu lassen, die aus Gründersicht so attraktiv ist, dass sie nationale Rechtsformen ohne weiteres verdrängt. Andernfalls müssen Protagonisten der Euro-GmbH die Blockadeposition des Rats vorläufig akzeptieren und sich mit einer bescheideneren Variante der EPG zufrieden geben. Peter Hommelhoff hat, ohne der ersten Option zu entsagen, den zweiten Weg beschritten, indem er von vornherein für eine nur begrenzt konkurrenzfähige EPG plädiert hat.97 Aus den vorstehend genannten Gründen hat dieser Weg nicht nur praktisch, sondern auch theoretisch manches für sich. Wenn die Bundesregierung sich ihm gleichwohl verschließt, liegt das nicht an Mängeln des Vorschlags, sondern zeigt nur, dass die

__________ 95 Entsprechendes wird aus Kanada berichtet, vgl. dazu Kieninger (Fn. 18), S. 181 ff. Zur tendenziell deregulierenden Wirkung von Systemwettbewerb Kirchner in FS Immenga, 2004, S. 607, 616, 623. 96 Eidenmüller, JZ 2009, 641, 652, plädiert aus diesem Grunde dafür, auf Unionsebene auf kreative Experimente zu verzichten und stattdessen nur den „besten Marktstandard“ (im Sinne von präsumtiv effizienten Lösungen) zu verwirklichen. Zum Versuch, einen solchen Standard zu entwickeln s. Bachmann/Eidenmüller/Engert/ Fleischer/Schön (Fn. 4). 97 Nachweise oben, Fn. 13; ähnlich in jüngerer Zeit G. H. Roth (Fn. 48), S. 54 ff.

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Gregor Bachmann

deutsche Wirtschaft die EPG entweder nicht wirklich benötigt oder sich gegen andere Interessenverbände nicht durchzusetzen weiß.

IV. Zusammenfassung und Fazit Supranationale Rechtsformen wie SE und EPG treten in Konkurrenz zu nationalen Rechtsformen und erweitern so den „Wettbewerb der Rechtsformen“. Im Schrifttum wird dies ganz überwiegend begrüßt, teils weil man Rechtswettbewerb generell befürwortet, teils weil man seine vertikale Variante für weniger bedrohlich hält. In der Tat ist horizontaler Wettbewerb problematisch, da er Normbetroffene des Einflusses auf den Normgeber beraubt und insofern mit Grundsätzen des demokratischen Gemeinwesens kollidiert. Beim vertikalen Regelwettbewerb ist diese Bedrohung nicht gegeben, denn an der Normsetzung der EU wirken alle Unionsbürger mit. Ihre über den Rat vermittelte Einflussnahme führt indes dazu, dass supranationale Rechtsformen entweder gar nicht oder nur verstümmelt zur Entstehung gelangen. Aus diesem Dilemma führen verschiedene Wege heraus: Der utopische wertet das Europäische Parlament zu einer echten Volksvertretung auf und gestattet damit ein Zurückschneiden der Ratskompetenzen – Europa wird zum Bundesstaat. Der zweite nimmt um der Mobilitätsfunktion willen Wettbewerbsnachteile der EPG in Kauf. Führt auch er nicht zum Ziel, muss auf das Instrument der verstärkten Zusammenarbeit (Art. 20 EUV) gesetzt werden, damit die EPG wenigstens da verwirklicht werden kann, wo sie konsensfähig ist. Dass sie überhaupt zur Entstehung gelangt, sei dem Jubilar von Herzen gewünscht.

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Die Erklärung zur Unternehmensführung gemäß § 289a HGB aus der Sicht von Kapitalmarktexperten Inhaltsübersicht I. Einleitung II. Grundlagen 1. Die Erklärung zur Unternehmensführung als Teil des (Konzern-)Lageberichts a) Zweck und Grundsätze des (Konzern-)Lageberichts b) Adressaten des (Konzern-)Lageberichts c) Inhaltliche Vorschriften zum (Konzern-)Lagebericht 2. Konzeption der empirischen Untersuchung a) Auswahl der befragten Kapitalmarktteilnehmer und Rücklauf der Befragung b) Konzeption des Fragebogens

III. Die Erklärung zur Unternehmensführung gemäß § 289a HGB aus der Sicht von Kapitalmarktexperten 1. Bedeutung der Berichtsgegenstände bezüglich der Erklärung zur Unternehmensführung 2. Entsprechenserklärung gemäß § 161 AktG 3. Angewandte Unternehmensführungspraktiken, die über die gesetzlichen Anforderungen hinausgehen 4. Arbeitsweise von Vorstand und Aufsichtsrat sowie Zusammensetzung und Arbeitsweise von deren Ausschüssen IV. Zusammenfassung

I. Einleitung Der hochverehrte Jubilar, Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Peter Hommelhoff, hat sich intensiv mit dem HGB-Bilanzrecht auseinandergesetzt.1 Seine diesbezügliche Forschung konzentrierte sich u. a. auf das Thema Corporate Governance.2

__________ 1 Vgl. Hommelhoff, Modernisiertes HGB-Bilanzrecht im Wettbewerb der Regelungssysteme, ZGR 2008, 250; Hommelhoff/Schwab, Gesellschaftliche Selbststeuerung im Bilanzrecht, BFuP 1998, 38. 2 Vgl. Hommelhoff, Corporate Governance, Rechnungslegung und Abschlussprüfung vor dem Hintergrund aktueller Entwicklungen, in Küting/Pfitzer/Weber (Hrsg.), Herausforderungen und Chancen durch weltweite Rechnungslegungsstandards, 2004, S. 281; Hommelhoff/Mattheus, Die Rolle des Abschlussprüfers bei der Corporate Governance, in Hommelhoff/Hopt/v. Werder (Hrsg.), Handbuch Corporate Governance, 2003, S. 639; Hommelhoff/Schwab, Regelungsquellen und Regelungsebenen der Corporate Governance, in Hommelhoff/Hopt/v. Werder (Hrsg.), Handbuch Corporate Governance, 2003, S. 51; Hommelhoff/Mattheus, Corporate Governance nach dem KonTraG, AG 1998, 249; Hommelhoff, Störungen im Recht der AufsichtsratsÜberwachung, in Picot (Hrsg.), Corporate Governance, 1995, S. 1; Hommelhoff/ Mattheus, 1. Gesetzliche Grundlagen: Deutschland und international, in Dörner/ Horváth/Kagermann (Hrsg.), Praxis des Risikomanagements, 2000, S. 5; Hommelhoff, Corporate Governance: directors’ duties, financial reporting and liability – remarks

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Zeugnis davon gibt z. B. die Publikation „Risikomanagementsystem im Entwurf des BilMoG als Funktionselement der Corporate Governance“. Hierin analysiert der Jubilar die Erklärung zur Unternehmensführung gemäß § 289a HGB und stellt fest, dass die Erklärung zur Unternehmensführung „gewisse, wenn auch nur schwache Bezüge zu den internen Risikomanagementsystemen und zu ihrer Überprüfung enthält“.3 Der Aufsichtsrat muss sich in dieser Erklärung zu seiner Arbeitsweise und der seiner Ausschüsse äußern. Dadurch wird „eine Brücke hinüber zur Aufgabe geschlagen, u. a. die internen Risikomanagementsysteme zu überwachen“,4 was eine Stellungnahme zur Arbeitsweise des Aufsichtsrats erfordert.5 Die Erklärung zur Unternehmensführung wurde im Zusammenhang mit dem Bilanzrechtsmodernisierungsgesetz (BilMoG)6 vom 25.5.2009 in § 289a HGB kodifiziert. Danach sind börsennotierte Aktiengesellschaften verpflichtet, eine Erklärung zur Unternehmensführung in den Lagebericht innerhalb eines gesonderten Abschnitts aufzunehmen oder alternativ auf der Internetseite der Gesellschaft zu veröffentlichen.7 Wird der Lagebericht des Mutterunternehmens gemeinsam mit dem Konzernlagebericht veröffentlicht, ist die Erklärung zur Unternehmensführung Bestandteil des Konzernlageberichts.8 Der Konzernlagebericht soll nach Meinung des DSR der Vermittlung von entscheidungsrelevanten Informationen über die wirtschaftliche Lage dienen.9 Zu prüfen ist daher die Frage, ob der Konzernlagebericht (und damit die „Erklärung zur Unternehmensführung“) in der Berichtspraxis tatsächlich dem Zweck, entscheidungsrelevante Informationen zu vermitteln, gerecht wird und ob die inhaltlichen Regelungen bzgl. der „Erklärung zur Unternehmensführung“ vor dem Hintergrund der Anforderungen des Kapitalmarkts für den externen Adressaten des Konzernlageberichts erforderlich sind, damit er seine Anlageentscheidungen besser fundieren kann.10 Dazu muss bekannt sein, welche Bedeutung den geforderten Informationen des Konzernlageberichts (d. h. der „Erklärung zur Unternehmensführung“) von der Kapitalmarktseite beigemessen wird. Denn ein Informationsnutzen ergibt sich nur dann, wenn die Angaben tatsächlich bei der Anlageentscheidung verwendet werden (können).11 Darüber hinaus ist zu klären, ob es hinsichtlich dieser Berichtspflichten zu einem sog. information overload kommt,12 der durch eine Ausweitung des Berichtsumfangs aufgrund einer in der Berichtspraxis ausufernden und wenig aussagekräftigen Be-

__________

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from a German perspective, in Tison/de Wulf/van der Elst/Steennot (Hrsg.), Perspectives in Company Law and Financial Regulation, 2009, S. 264; Feddersen/Hommelhoff/Uwe H. Schneider (Hrsg.), Corporate Governance. Hommelhoff/Mattheus, BB 2007, 2787, 2790. Hommelhoff/Mattheus, BB 2007, 2787, 2790. Vgl. Hommelhoff/Mattheus, BB 2007, 2787, 2790. BGBl. I 2009, 1102. Vgl. Withus, AG 2009, R397. Vgl. DRS 15.140. Vgl. DRS 15.10; Fink, Lageberichterstattung und Erfolgspotentialanalyse, 2007, S. 134. Vgl. Böcking in FS Baetge, 2007, S. 48. Vgl. Pellens/Neuhaus/Schmidt, WPg Sonderheft 2008, 582, 583. Vgl. Schmidt/Wulbrand, KoR 2007, 417, 426.

Die Erklärung zur Unternehmensführung aus der Sicht von Kapitalmarktexperten

richterstattung entsteht.13 Ein „information overload“ könnte es für die Kapitalmarktakteure erschweren, die relevanten Informationen aus dem Konzernlagebericht herauszufiltern.14 Beispielsweise würde eine „Überfülle von Informationen […] [die] Wahrnehmung der eigentlichen Probleme“15 behindern, z. B. hinsichtlich der Risikoberichterstattung. Im Konzernlagebericht sollte ein nicht auswertbarer Informationsumfang vermieden werden, denn Klarheit und Übersichtlichkeit sind nach Leffson „die Bedingung jeder Vermittlung nützlicher Information“.16 Im vorliegenden Beitrag werden zunächst der Zweck, die Grundsätze und Adressaten des (Konzern-)Lageberichts dargestellt. Anschließend wird das Konzept der empirischen Untersuchung bzgl. der tatsächlichen Zweckerfüllung des (Konzern-)Lageberichts erläutert. Im dritten Teil des Beitrags wird gezeigt, welche Bedeutung die Kapitalmarktexperten der „Erklärung zur Unternehmensführung“ und deren einzelnen Berichtsgegenständen beimessen. Der Beitrag schließt mit einer Zusammenfassung.

II. Grundlagen 1. Die Erklärung zur Unternehmensführung als Teil des (Konzern-)Lageberichts a) Zweck und Grundsätze des (Konzern-)Lageberichts Der Zweck des Konzernlageberichts lässt sich mit dem Begriff „Rechenschaft“ und noch treffender mit „Informationsvermittlung“ kennzeichnen,17 da nicht nur über die abgeschlossene Berichtsperiode, sondern auch über die voraussichtliche Entwicklung des Unternehmens mit ihren wesentlichen Chancen und Risiken zu berichten ist.18 Aus dem Informationsvermittlungszweck19 resultiert die Verdichtungsaufgabe und die sachliche sowie zeitliche Ergänzungsaufgabe des Konzernlageberichts in Bezug auf den Konzernabschluss.20 Die Verdichtungsaufgabe ergibt sich aus der in § 315 Abs. 1 HGB normierten

__________ 13 Vgl. Luttermann, ZIP 2008, 1605, 1613; Strieder, BB 2009, 1002, 1003; Lüdenbach/ Hoffmann, StuB 2009, 287, 309. 14 Vgl. Ewelt/Knauer/Sieweke, KoR 2009, 706, 707. 15 Lüdenbach/Hoffmann, StuB 2009, 287, 310. 16 Leffson, Die Grundsätze ordnungsmäßiger Buchführung, 7. Aufl. 1987, S. 179. 17 Vgl. Fülbier/Pellens in MünchKomm. HGB, 2. Aufl. 2008, § 315 HGB Rz. 15; Räuber, DB 1988, 1285, 1286. 18 Vgl. Baetge/Kirsch/Thiele, Konzernbilanzen, 9. Aufl. 2011, S. 496; Adler/Düring/ Schmaltz, Rechnungslegung und Prüfung der Unternehmen, 6. Aufl. 2001, § 289 HGB Rz. 21; Böcking (Fn. 10), S. 34. 19 Zum als „Informationsregelung“ bezeichneten Zweck des aktienrechtlichen Geschäftsberichts, der der Informationsvermittlung entspricht, vgl. Moxter, Bilanzlehre, 1. Aufl. 1974, S. 449. 20 Vgl. Baetge/Fischer/Paskert, Der Lagebericht, 1989, S. 9 f.; Adler/Düring/Schmaltz (Fn. 18), § 315 HGB Rz. 12; Baetge/Kirsch/Thiele (Fn. 18), S. 496; Küting/Hütten, AG 1997, 250, 251. Auch nach DRS 15.2 dient der Konzernlagebericht der Ergänzung und Erläuterung des Konzernabschlusses.

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Jörg Baetge und Boris Hippel

Zusammenfassung der im Konzernabschluss nach § 297 Abs. 2 HGB abgebildeten Vermögens-, Finanz- und Ertragslage zur (Gesamt-)Lage des Konzerns.21 Auch die Ergänzungsaufgabe ergibt sich aus dem Vergleich dieser beiden Regelungen, denn der in § 315 Abs. 1 HGB verwendete Begriff der „Lage“ bezeichnet die Gesamtlage eines Unternehmens22 und nicht nur die in § 297 Abs. 2 HGB genannten Teillagen. Danach verlangt der Lagebericht „eine wirtschaftliche Gesamtbeurteilung der Gesellschaft“.23 In sachlicher Hinsicht umfasst die Ergänzungsaufgabe die Berichterstattung über die gesamte Lage, mithin neben der Vermögens-, Finanz- und Ertragslage bspw. auch die Personal- und Absatzlage, und in zeitlicher Hinsicht die prospektiven Angaben im Prognosebericht und die Angabe bedeutender Vorgänge, die sich zwischen Bilanzstichtag und Bilanzerstellungstag ereignet haben (Nachtragsbericht).24 Neben der Aufgabe der Verdichtung und Ergänzung kommt dem Konzernlagebericht auch eine Beurteilungsfunktion zu.25 Denn die in § 315 Abs. 1 Satz 2 HGB geforderte ausgewogene und umfassende, dem Umfang und der Komplexität der Geschäftstätigkeit entsprechende Analyse des Geschäftsverlaufs und der Lage des Konzerns verlangt nicht nur, dass zusätzliche Informationen (Angaben) publiziert werden, sondern dass diese auch zu beurteilen sind.26 Der Konzernlagebericht enthält mehrwertige, auf die Vergangenheit und die Zukunft bezogene Angaben sowie qualitative und quantitative Informationen und unterstützt daher die Zielsetzung einer kapitalmarktorientierten Berichterstattung.27 Ferner werden im Konzernlagebericht Informationen vermittelt, die sich nicht unmittelbar oder nur verzerrt aus dem Konzernabschluss ergeben.28 Dem Ziel einer Kapitalmarktberichterstattung entspricht auch die Befreiung von dem für den Jahresabschluss geltenden Gebot, die Grundsätze ordnungsmäßiger Buchführung zu beachten, da die Unternehmensleitung über die wirtschaftliche Lage ohne das enge Korsett der Rechnungslegungsvorschriften berichten kann und soll.29 Hinzu kommt, dass § 315 HGB lediglich den Mindestumfang der Konzernlageberichterstattung festlegt, der um zusätzliche freiwillige Angaben30 erweitert werden kann.31

__________ 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31

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Vgl. Baetge/Kirsch/Thiele (Fn. 18), S. 497; Baetge/Fischer/Paskert (Fn. 20), S. 9. Vgl. Clemm/Reittinger, BFuP 1980, 493. Vgl. Schruff (Hrsg.), Entwicklung der 4. EG-Richtlinie, 1986, S. 206. Vgl. Baetge/Kirsch/Thiele (Fn. 18), S. 497. Vgl. Maul/Greinert, DB 2002, 2605; Greinert, KoR 2004, 51; Selchert/Erhardt/Fuhr/ Greinert, Prüfung des Lageberichts einschließlich Konzernlagebericht nach deutschem und internationalem Recht, 2000, S. 31 f. Vgl. Greinert, KoR 2004, 51, 52; Prigge, Konzernlageberichterstattung vor dem Hintergrund einer Bilanzierung nach IFRS, 2006, S. 33. Vgl. Böcking, ZfbF 1998, 17, 30; Kajüter, BB 2004, 427, 432. Vgl. Baetge/Kirsch/Thiele, Bilanzen, 11. Aufl. 2011, S. 727; Adler/Düring/Schmaltz (Fn. 18), § 289 HGB Rz. 26. Vgl. Ballwieser in FS Baetge, 1997, S. 155; Fey, WPg 2000, 1097, 1098; Hommelhoff in Canaris/Schilling/Ulmer, Großkomm. HGB, 4. Aufl. 2002, § 289 HGB Rz. 26. Zu den freiwilligen Informationen vgl. Hippel, Konzernlagebericht und Kapitalmarkt, 2011, S. 37–39. Vgl. Kajüter, DB 2004, 197, 200; Lange, ZIP 2004, 981, 983; Lück in HdR-E, 5. Aufl. 2002, § 289 HGB Rz. 31.

Die Erklärung zur Unternehmensführung aus der Sicht von Kapitalmarktexperten

Bei der inhaltlichen Ausgestaltung des Konzernlageberichts ergeben sich Ermessensspielräume,32 die dadurch begrenzt werden, dass der Konzernlagebericht nach § 315 Abs. 1 Satz 1 HGB „ein den tatsächlichen Verhältnissen entsprechendes Bild“ zu vermitteln hat.33 Auch der aufgehobene § 334 Abs. 4 Satz 1 AktG 196534 zeigt, dass der Gesetzgeber schon früher (vor dem § 315 Abs. 1 Satz 1 HGB) die Beachtung der „Grundsätze gewissenhafter und getreuer Rechenschaft“ zur Voraussetzung bei der Aufstellung des Konzerngeschäftsberichts gemacht hat. Auch wenn der Wortlaut des Maßstabs „ein den tatsächlichen Verhältnissen entsprechendes Bild“ zu vermitteln, der historischen Vorschrift nicht wörtlich entspricht, so wurde schon damals eine gewissenhafte und getreue Rechenschaft gefordert.35 Mithin sind bei der Konzernlageberichterstattung u. a. die Grundsätze der gewissenhaften und getreuen Rechenschaft, die im Schrifttum namentlich als die Grundsätze der Richtigkeit, Vollständigkeit und Klarheit herausgestellt wurden,36 zu beachten.37 Die Konkretisierung des Konzernlageberichtsinhalts ergibt sich aus den Grundsätzen ordnungsmäßiger Lageberichterstattung (GoL),38 die auch für den Konzernlagebericht gelten, da der Konzernlagebericht einen dem Lagebericht vergleichbaren Informations- bzw. Rechenschaftszweck verfolgt.39 Die Grundsätze der Richtigkeit, Vollständigkeit und Klarheit sind durch die Grundsätze der Vergleichbarkeit, der Wirtschaftlichkeit bzw. der Wesentlichkeit, der Informationsabstufung nach Art und Größe des Unternehmens sowie den Grundsatz der Ausgewogenheit zu einem System von Grundsätzen ordnungsmäßiger Lageberichterstattung zu vervollständigen.40 Die Grundsätze der Lageberichterstattung sollten sich formal an den zum GoB-System gehörenden Rahmengrundsätzen orientieren,41 die die Prämissen jeder Informationsvermittlung formulieren.42 Der DRS 15 zur Lageberichterstattung rekurriert partiell auf dieses

__________ 32 Vgl. Baetge/Hippel/Sommerhoff, DB 2011, 365, 366. 33 Vgl. Böcking/Dutzi in Baetge/Kirsch/Thiele, Bilanzrecht, 2002, § 289 HGB Rz. 52. Das Gebot zur Vermittlung eines den tatsächlichen Verhältnissen entsprechenden Bildes gilt gleichermaßen für Lagebericht und Konzernlagebericht, weshalb die dargestellten Grundsätze auch für beide gelten. Vgl. Baetge/Kirsch/Thiele (Fn. 18), S. 498; Fülbier/Pellens (Fn. 17), § 315 HGB Rz. 27. 34 BGBl. I 1965, 1089. 35 Vgl. Adler/Düring/Schmaltz (Fn. 18), § 315 HGB Rz. 17; Fülbier/Pellens (Fn. 17), § 315 HGB Rz. 28. Für den Lagebericht vgl. Baetge/Fischer/Paskert (Fn. 20), S. 16; Lück (Fn. 31), § 289 HGB Rz. 16. 36 Vgl. Baetge/Fischer/Paskert (Fn. 20), S. 16; Böcking (Fn. 10), S. 36. 37 Vgl. Biener/Berneke, Bilanzrichtlinien-Gesetz, 1986, S. 394; Fülbier/Pellens (Fn. 17), § 315 HGB Rz. 27; Böcking (Fn. 10), S. 35 f.; Koch in FS Baetge, 1997, S. 218. 38 Vgl. Kirsch/Scheele, BB 2003, 2733, 2734; Krumbholz, Die Qualität publizierter Lageberichte, 1994, S. 20. 39 Vgl. Baetge/Kirsch/Thiele (Fn. 18), S. 498; Ellrott in Beck Bilanzkomm., 7. Aufl. 2010, § 315 HGB Rz. 4; Lück in HdK, 2. Aufl. 1998, § 315 HGB Rz. 18. 40 Vgl. Baetge/Fischer/Paskert (Fn. 20), S. 16. 41 Vgl. Baetge/Fischer/Paskert (Fn. 20), S. 16. 42 Vgl. Leffson (Fn. 16), S. 179. Die Rahmengrundsätze können auf den Lagebericht übertragen werden. Vgl. Unseld, Theoretische Überlegungen zur Erweiterung der Aussagefähigkeit des Lageberichtes im Rahmen der Geschäftsberichterstattung, 2006, S. 62–64; Tichy, Der Inhalt des Lageberichts nach § 160 I AktG, 1979, S. 32.

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System von GoL, indem er die Grundsätze der Vollständigkeit, der Verlässlichkeit, der Klarheit und Übersichtlichkeit durch die Grundsätze der Vermittlung der Sicht der Unternehmensleitung sowie der Konzentration auf die nachhaltige Wertschaffung ergänzt.43 Die Grundsätze des DRS 15 stimmen im Wesentlichen inhaltlich mit dem System der GoL von Baetge/Fischer/Paskert überein.44 b) Adressaten des (Konzern-)Lageberichts Konzernlageberichte von Aktiengesellschaften sind öffentlich im publizierten Geschäftsbericht zugänglich.45 Indes ist nicht jeder Empfänger zugleich berechtigter Adressat des Konzernlageberichts.46 Aus der Öffentlichkeit sind diejenigen Adressaten herauszufiltern, deren schutzwürdige Interessen bei der Konzernlageberichterstattung zu berücksichtigen sind.47 Die Adressaten mit schutzwürdigen Interessen sind vielmehr dadurch gekennzeichnet, dass ihre wirtschaftlichen Entscheidungen von der Lage und der künftigen Entwicklung des Unternehmens abhängen48 und sie bei der Gewinnung von Informationen über das berichtende Unternehmen im Wesentlichen auf die durch die externe Rechnungslegung vermittelten Informationen angewiesen sind.49 Der Adressatenkreis des Konzernlageberichts setzt sich damit aus aktuellen und künftigen50 Mitgliedern der Gruppen von Anteilseignern bzw. Gesellschaftern, Gläubigern,51 Lieferanten, Kunden und Arbeitnehmern zusammen.52 Maßstab für das berichterstattende Unternehmen sind die im Allgemeinen zu erwartenden Informationsbedürfnisse der Adressatengruppen und nicht die Informationswünsche individueller Adressaten.53 Für den vorliegenden Beitrag wurden die Informationsbedürfnisse von Kapitalmarktexperten, d. h. von aktuellen und potentiellen Anteilseignern als Repräsentanten aller Adressaten, ermittelt. Als Kapitalmarktexperten wurden Finanzanalysten und Fondsmanager zur Bedeutung der „Erklärung zur Unternehmensführung“ befragt.54

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Vgl. DRS 15.9–15.35. Vgl. Hippel (Fn. 30), S. 19–30. Vgl. Baetge/Fischer/Paskert (Fn. 20), S. 10. Vgl. Baetge, Lagebericht, in Chmielewicz/Schweitzer (Hrsg.), Handwörterbuch des Rechnungswesens, 1993, Sp. 1329. Vgl. Sprenger, Grundsätze gewissenhafter und getreuer Rechenschaft im Geschäftsbericht, 1976, S. 40–42. Vgl. Baetge (Fn. 46), Sp. 1329. Vgl. Baetge/Fischer/Paskert (Fn. 20), S. 11. Vgl. Stobbe, BB 1988, 303, 304. Damit die derzeitigen und potentiellen Anteilseigner entscheiden können, Anteile zu kaufen, zu halten oder zu verkaufen, benötigen sie Informationen über die künftigen Dividendenausschüttungen, während Gläubiger primär an Informationen zur Tilgungs- und Zinszahlungsfähigkeit des Unternehmens interessiert sind. Vgl. Baetge/Fischer/Paskert (Fn. 20), S. 12; Clemm/Reittinger, BFuP 1980, 493, 499. Vgl. Baetge/Fischer/Paskert (Fn. 20), S. 11; Friedrich, BB 1990, 741, 744. Vgl. Baetge/Fischer/Paskert (Fn. 20), S. 12. Vgl. Abschnitt 2a).

Die Erklärung zur Unternehmensführung aus der Sicht von Kapitalmarktexperten

c) Inhaltliche Vorschriften zum (Konzern-)Lagebericht Während kapitalmarktorientierte Unternehmen gemäß § 315a Abs. 1 HGB, dessen Regelungsinhalt durch die Umsetzung der sog. IAS-Verordnung in deutsches Recht transformiert wurde, einen Konzernabschluss nach den International Accounting Standards/International Financial Reporting Standards (IAS/ IFRS) aufstellen müssen,55 sehen die IAS/IFRS keine Pflicht zur Konzernlageberichterstattung vor.56 Vielmehr ergeben sich die inhaltlichen Vorschriften zur Konzernlageberichterstattung aus dem HGB respektive den Deutschen Rechnungslegungs Standards (DRS). Losgelöst von den jeweiligen Einzel-Lageberichten der in den Konzernabschluss einbezogenen Unternehmen stellt der Konzernlagebericht ein Rechenschaftslegungsinstrument für den Konzern als wirtschaftliche Einheit dar.57 Der Konzernlagebericht ist zwar ein eigenständiges Instrument der Konzernrechnungslegung und kein Bestandteil des Konzernabschlusses.58 Indes werden Konzernabschluss und Konzernlagebericht als zusammengehörige Teile des Geschäftsberichts publiziert,59 wobei der Geschäftsbericht eine hohe bis sehr hohe Bedeutung für die Kapitalmarktkommunikation hat60 und intensiv von Investoren für Investitionsentscheidungen genutzt wird.61 Die Vorschriften zur Konzernlageberichterstattung wurden in den vergangenen Jahren wesentlich ausgeweitet und konkretisiert.62 Dazu hat das Bilanzrechtsreformgesetz (BilReG)63 vom 4.12.2004 in hohem Maße beigetragen. Die Novellierung im Rahmen des BilReG stellte nach der Einführung des Risikoberichts als (Pflicht-)Element des Konzernlageberichts durch das KonTraG64 die umfassendste Änderung der Vorschriften zur Konzernlageberichterstattung seit dessen Einführung in das HGB dar,65 weshalb auch von einem Paradigmenwechsel in der Konzernlageberichterstattung gesprochen wurde.66 Das BilReG diente dazu, die Vorgaben der Modernisierungsrichtlinie und der Fair ValueRichtlinie der Europäischen Union (EU) in deutsches Recht zu transformieren. Börsennotierte Aktiengesellschaften müssen gemäß Vorstandsvergütungs-Offen-

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55 Vgl. Mujkanovic, KoR 2005, 146. 56 Vgl. Krüger/Schneider-Piotrowsky, IRZ 2008, 471. 57 Vgl. Böcking/Dutzi (Fn. 32), § 315 HGB Rz. 5; Dörner/Bischof, Aufstellung des Lageberichts und Konzernlageberichts, in Dörner/Menold/Pfitzer (Hrsg.), Reform des Aktienrechts, der Rechnungslegung und Prüfung, 1999, S. 398. 58 Vgl. Baetge/Fischer/Paskert (Fn. 20), S. 1; Baetge/Kirsch/Thiele (Fn. 28), S. 726; Adler/Düring/Schmaltz (Fn. 18), § 315 HGB Rz. 4. 59 Zur Bedeutung der einzelnen Teile des Geschäftsberichts vgl. Hippel (Fn. 30), S. 80– 82; Hütten, Der Geschäftsbericht als Informationsinstrument, 2000, S. 241 f. 60 Vgl. Baetge/Armeloh, Konzernbilanzrecht. Teil J: Konzernanhang und Konzernlagebericht, BBK 1997, 237; Pellens/Neuhaus/Schmidt, WPg Sonderheft 2008, 582, 588; Hippel (Fn. 30), S. 77–80. 61 Vgl. Pellens/Neuhaus/Schmidt, WPg Sonderheft 2008, 582, 583. 62 Vgl. Kötzle/Grüning, KoR 2009, 33. 63 BGBl. I 2004, 3166. 64 Gesetz zur Kontrolle und Transparenz im Unternehmensbereich v. 27.4.1998, BGBl. I 1998, 786. 65 Vgl. Kajüter, DB 2004, 197, 203; Lange, ZIP 2004, 981, 987. 66 Vgl. Böcking/Herold/Wiederhold, Der Konzern 2003, 394, 403.

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legungsgesetz (VorstOG)67 vom 3.8.2005 ab dem Jahr 2006 im Konzernlagebericht zusätzlich über die Grundzüge des Vergütungssystems berichten. Zum Schutz der Interessen von Aktionären bei Übernahmeangeboten und sonstigen Kontrollerwerben ist durch das Übernahmerichtlinie-Umsetzungsgesetz68 vom 8.7.2006 außerdem eine Rahmenregelung für Übernahmeverfahren geschaffen worden,69 wonach diverse Angaben im Konzernlagebericht gemacht werden müssen. Die Regulierung der Konzernlageberichterstattung verlief auch danach in hohem Tempo. Durch das Bilanzrechtsmodernisierungsgesetz (BilMoG)70 vom 25.5.2009 sind – wie oben erläutert – börsennotierte Aktiengesellschaften dazu verpflichtet, eine Erklärung zur Unternehmensführung gemäß § 289a HGB in den Lagebericht innerhalb eines gesonderten Abschnitts aufzunehmen oder alternativ auf der Internetseite der Gesellschaft zu veröffentlichen.71 Ebenso sind gemäß § 315 Abs. 2 Nr. 5 HGB die wesentlichen Merkmale des internen Kontroll- und des Risikomanagementsystems im Hinblick auf den Konzernrechnungslegungsprozess zu beschreiben.72 Der Deutsche Standardisierungsrat (DSR) konkretisiert die Konzernlageberichterstattung durch seine Deutschen Rechnungslegungs Standards (DRS).73 So regeln die Deutschen Rechnungslegungs Standards (DRS) die „Risikoberichterstattung“ (5), die „Lageberichterstattung“ (15) und die „Berichterstattung über die Vergütung der Organmitglieder“ (17) als konkrete Anforderungen zur Konzernlageberichterstattung. 2. Konzeption der empirischen Untersuchung a) Auswahl der befragten Kapitalmarktteilnehmer und Rücklauf der Befragung Um die Informationsbedürfnisse des „Kapitalmarkts“ zu ermitteln, wurden stellvertretend die in der Deutschen Vereinigung für Finanzanalyse und Asset Management e.V. (DVFA)74 zusammengeschlossenen Finanzanalysten und Fondsmanager75 zur Bedeutung der einzelnen Berichtsgegenstände des Konzernlageberichts befragt.76 Die etwa 1200 DVFA-Mitglieder sind bei ca. 400 Banken, Fondsgesellschaften, unabhängigen Kapitalmarktdienstleistern sowie

__________ 67 68 69 70 71 72 73 74

BGBl. I 2005, 2267. BGBl. I 2006, 1426. Vgl. BT-Drucks. 16/1003, S. 12. BGBl. I 2009, 1102. Vgl. Withus, AG 2009, R397. Vgl. Withus, KoR 2009, 440. Vgl. DRS 15.1. Vgl. Göres, Interessenkonflikte von Wertpapierdienstleistern und -analysten bei der Wertpapieranalyse, 2004, S. 296. 75 Zu den professionellen Kapitalmarktteilnehmern zählen Fondsmanager und Finanzanalysten. Vgl. Nix, Die Zielgruppen von Investor Relations, in Deutscher Investor Relations Kreis (e.V.) (Hrsg.), Investor Relations, 2000, S. 36–41; Köhler/Marten/ Schlereth, DB 2009, 1477, 1478. 76 Zur Stellvertreterbefragung vgl. Blohm, Der Geschäftsbericht als Mittel der Betriebspolitik, 1962, S. 48–54.

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Die Erklärung zur Unternehmensführung aus der Sicht von Kapitalmarktexperten

sowohl bei nationalen als auch bei internationalen Investmenthäusern tätig. Die DVFA-Mitglieder zeichnen sich hinsichtlich der Konzernlageberichterstattung durch eine besondere Sachkunde aus, da sie über eine mindestens dreijährige Berufserfahrung im Kapitalmarktbereich verfügen und eine berufsspezifische Qualifikation, wie ein DVFA-Diplom oder einen vergleichbaren Abschluss, erworben haben. Neben den DVFA-Mitgliedern wurden auch diejenigen Kapitalmarktexperten in die Befragung einbezogen, die aufgrund ihrer Registrierung bei der DVFA an Analystenkonferenzen teilnehmen dürfen und damit ebenfalls die genannten Kriterien professioneller Kapitalmarktteilnehmer erfüllen. Von den 2725 angeschriebenen Kapitalmarktexperten antworteten 172. Bezogen auf die kontaktierten Kapitalmarktexperten entspricht das einer Rücklaufquote von 6,31 %. b) Konzeption des Fragebogens Zur Beantwortung der Fragen über die Bedeutung der Berichtsgegenstände des Konzernlageberichts wurde den Befragten jeweils eine Ordinalskala mit den fünf qualitativen Antwortausprägungen „keine“, „niedrige“, „mittlere“, „hohe“ und „sehr hohe“ Bedeutung vorgegeben. Um die Antworten der Kapitalmarktexperten auch statistisch auswerten zu können, wurden die fünf Antwortausprägungen in quantitative Werte umgewandelt. Der Antwortausprägung mit der niedrigsten Bedeutung („keine“ Bedeutung) wurde der Wert „eins“ zugewiesen. Die Antwortausprägung mit der höchsten Bedeutung („sehr hohe“ Bedeutung) erhielt den Wert „fünf“. Aufsteigend erhielten die verbleibenden Antwortausprägungen die Werte „zwei“, „drei“ und „vier“. Damit wird die Ordinalskala unter der Annahme, dass die Nutzenabstände zwischen den Antwortausprägungen äquidistant sind, in eine Intervallskala transformiert. Um die gemittelten absoluten Ergebnisse interpretieren zu können, wurde eine Klasseneinteilung vorgenommen, die in der folgenden Tabelle dargestellt ist: Mittlere absolute Einschätzung x < 1,25

Bedeutung des Berichtsgegenstands keine

1,25 ≤ x < 1,75

keine bis niedrige

1,75 ≤ x < 2,25

niedrige

2,25 ≤ x < 2,75

niedrige bis mittlere

2,75 ≤ x < 3,25

mittlere

3,25 ≤ x < 3,75

mittlere bis hohe

3,75 ≤ x < 4,25

hohe

4,25 ≤ x < 4,75

hohe bis sehr hohe

x ≥ 4,75

sehr hohe

Übersicht 1: Klasseneinteilung der Intervallskala für die Interpretation der Ergebnisse der empirischen Untersuchung

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Liegt die mittlere absolute Einschätzung unter dem Wert von 1,25, so bedeutet dies, dass die Kapitalmarktexperten dem Berichtsgegenstand keine Bedeutung beimessen. Ergibt sich indes ein Mittelwert von 4,75 und höher, so hat ein Berichtsgegenstand für die befragten Kapitalmarktexperten eine sehr hohe Bedeutung.

III. Die Erklärung zur Unternehmensführung gemäß § 289a HGB aus der Sicht von Kapitalmarktexperten 1. Bedeutung der Berichtsgegenstände bezüglich der Erklärung zur Unternehmensführung Börsennotierte Aktiengesellschaften sowie Aktiengesellschaften, die ausschließlich andere Wertpapiere als Aktien zum Handel an einem organisierten Markt i. S. des § 2 Abs. 5 des Wertpapierhandelsgesetzes (WpHG) ausgegeben haben und deren ausgegebene Aktien auf eigene Veranlassung über ein multilaterales Handelssystem im Sinn des § 2 Abs. 3 Satz 1 Nr. 8 WpHG gehandelt werden, sind gemäß § 289a Abs. 1 HGB verpflichtet, eine Erklärung zur Unternehmensführung77 in einen gesonderten Abschnitt78 des Lageberichts79 aufzunehmen.80 Dennoch hat der Berichtsgegenstand „Erklärung zur Unternehmensführung“ (Mittelwert: 2,88) nur eine mittlere Bedeutung für die Kapitalmarktexperten. Diese Erklärung zur Unternehmensführung hat drei Bestandteile. Nach § 289a Abs. 2 HGB bzw. DRS 15.141 umfasst sie die Entsprechenserklärung nach § 161 AktG (Nr. 1),81 Angaben zu Unternehmensführungspraktiken (Nr. 2)

__________

77 Der Inhalt der Erklärung zur Unternehmensführung ist gemäß § 317 Abs. 2 Satz 3 HGB nicht im Rahmen der Abschlussprüfung zu prüfen. Wird die Erklärung zur Unternehmensführung innerhalb eines gesonderten Abschnitts des Lageberichts veröffentlicht, kann es bei den Lageberichtsadressaten hinsichtlich der Zuverlässigkeit der Angaben zu Missverständnissen kommen, da der Lagebericht dann prüfungspflichtige und nicht prüfungspflichtige Informationen enthält. Vgl. Kozikowski/ Röhm-Kottmann in Beck Bilanzkomm., 7. Aufl. 2010, § 289a HGB Rz. 44; Böcking/ Eibelshäuser/Arlt, Der Konzern 2010, 614, 617. 78 Nimmt die Gesellschaft das Wahlrecht in Anspruch, die Erklärung zur Unternehmensführung auf der Internetseite der Gesellschaft öffentlich zugänglich zu machen, muss darauf im Lagebericht unter Angabe der Internetseite, die die Erklärung enthält, hingewiesen werden. Vgl. Böcking/Eibelshäuser, Der Konzern 2009, 563, 567. 79 Die Vorschriften zum Konzernlagebericht enthalten – anders als jene zum Lagebericht – keine Erklärung zur Unternehmensführung, da die Regelungen zur Corporate Governance an das spezifische Rechtssubjekt anknüpfen. Vgl. Bischof/Selch, WPg 2009, 1021, 1026; Melcher/Mattheus, DB 2009, Beilage 5 zu Heft 23, 77, 81; Müller, ZCG 2009, 126, 134. Insofern ist aber ein Mutterunternehmen verpflichtet, eine Erklärung zur Unternehmensführung in den Lagebericht aufzunehmen. Vgl. Kirsch in Bonner HdR, 2. Aufl. August 2009, § 289a HGB Rz. 37. 80 Als Teil des Lageberichts ist die Erklärung zur Unternehmensführung jährlich mit der Veröffentlichung des Lageberichts abzugeben und muss nicht unterjährig aktualisiert werden. Vgl. Barth, StuB 2009, 726, 727. 81 Vgl. Kann/Keiluweit, DB 2009, 2699, 2700. Durch die Aufnahme der Entsprechenserklärung nach § 161 AktG in die Erklärung zur Unternehmensführung erlangen Verstöße gegen den Kodex strafrechtliche Relevanz. Vgl. Tödtmann/Schauer, ZIP 2009, 995, 999.

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Die Erklärung zur Unternehmensführung aus der Sicht von Kapitalmarktexperten

sowie eine Beschreibung der Arbeitsweise von Vorstand und Aufsichtsrat sowie der Zusammensetzung und Arbeitsweise von deren Ausschüssen (Nr. 3).82 Der „Erklärung zur Unternehmensführung“ messen die Kapitalmarktexperten ebenso wie den einzelnen untergeordneten Berichtsgegenständen „Entsprechenserklärung gemäß § 161 AktG“ (Mittelwert: 2,92), „Angewandte Unternehmensführungspraktiken, die über die gesetzlichen Anforderungen hinausgehen“ (Mittelwert: 2,85) und „Arbeitsweise von Vorstand und Aufsichtsrat sowie Zusammensetzung und Arbeitsweise von deren Ausschüssen“ (Mittelwert: 2,81) eine mittlere Bedeutung bei. Vergleicht man die Mittelwerte der untergeordneten Berichtsgegenstände der „Erklärung zur Unternehmensführung“ mit den Mittelwerten der anderen Berichtsgegenstände des Konzernlageberichts, gehört die „Erklärung zur Unternehmensführung“ für die Kapitalmarktexperten sogar zu den weniger bedeutenden Berichtsgegenständen.83 Dies hängt wohl damit zusammen, dass die befragten Kapitalmarktexperten – anders als die Privatanleger – sich ihr eigenes Urteil bilden. 2. Entsprechenserklärung gemäß § 161 AktG In der empirischen Untersuchung ergab sich für den Berichtsgegenstand „Entsprechenserklärung gemäß § 161 AktG“ ein Mittelwert von 2,92. Damit hat der Berichtsgegenstand lediglich eine mittlere Bedeutung für die Kapitalmarktexperten, obwohl die nach § 161 AktG geforderte Erklärung84 zum Corporate Governance Kodex Pflichtbestandteil85 der Erklärung zur Unternehmensführung ist.86 Das Befragungsergebnis „mittlere Bedeutung“ ist plausibel, denn aus der Entsprechenserklärung ergeben sich weder Hinweise auf das künftige Ertragspotential des Unternehmens noch auf die Sicherheit künftiger Erträge. Daher kann eine entsprechende Angabe nicht im DCF-Kalkül der Kapital-

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82 Angaben nach § 289a Abs. 2 Nr. 1 und 3 HGB sind immer erforderlich. Dagegen sind Angaben nach § 289a Abs. 2 Nr. 2 HGB nur erforderlich, wenn das Unternehmen besondere Unternehmensführungspraktiken anwendet, die über die gesetzlichen Anforderungen hinausgehen. Bei Angaben zu relevanten Unternehmensführungspraktiken ist darauf hinzuweisen, wo diese öffentlich zugänglich sind. Neben der Veröffentlichung von Dokumenten und Unterlagen über die Unternehmensführungspraktiken im Internet können entsprechende Angaben auch im Geschäftsbericht gemacht werden. Vgl. Bischof/Selch, WPg 2009, 1021, 1028. 83 Zur Bedeutung der einzelnen Berichtsgegenstände des Konzernlageberichts vgl. Hippel (Fn. 30), S. 272–285. 84 Die Entsprechenserklärung ist nach § 161 Abs. 1 AktG jährlich abzugeben. Zu einer Diskussion über die Auslegung des Wortlauts „jährlich“ vgl. Rosengarten/Schneider, ZIP 2009, 1837. Zur Justiziabilität der Entsprechenserklärung vgl. Mutter, ZGR 2009, 788. 85 Die Entsprechenserklärung konnte vorher auch schon freiwillig in den Lagebericht aufgenommen werden. Vgl. Strieder, DB 2004, 1325, 1327. 86 Die Entsprechenserklärung zum Corporate Governance Kodex ist im vollen Wortlaut wiederzugeben. Vgl. Gelhausen/Fey/Kämpfer (Hrsg.), BilMoG, 2009, § 289a HGB Rz. 45 f. Die Entsprechenserklärung zum Corporate Governance Kodex muss nach § 161 Abs. 1 AktG auch darüber informieren, welche Empfehlungen nicht angewendet wurden oder werden. Vgl. Kirsch (Fn. 79), § 289a HGB Rz. 7. Ferner ist die aktuelle oder künftige Nichtanwendung einer Empfehlung zu begründen. Vgl. Withus, Der Aufsichtsrat 2009, 142, 143; Falkenhausen/Kocher, ZIP 2009, 1149.

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Jörg Baetge und Boris Hippel

marktexperten verwendet werden. Aufgrund der geringen Bedeutung treten die Kapitalmarktexperten indes dafür ein, entsprechende Angaben auf der Website der Gesellschaft zu machen und im Konzernlagebericht lediglich auf diese Website zu verweisen. Die Angaben bzgl. der Entsprechenserklärung gemäß § 161 AktG können und sollten aufgrund des Wahlrechts nach § 289a Abs. 1 HGB im Internet gemacht werden,87 um den Konzernlagebericht zu entlasten. 3. Angewandte Unternehmensführungspraktiken, die über die gesetzlichen Anforderungen hinausgehen Von geringfügig niedrigerer Bedeutung als die Entsprechenserklärung wird die Berichtspflicht „Angewandte Unternehmensführungspraktiken, die über die gesetzlichen Anforderungen hinausgehen“ von den Kapitalmarktexperten eingeschätzt. Mit einem Mittelwert von lediglich 2,85 hat der Berichtsgegenstand ebenfalls nur eine mittlere Bedeutung für die Kapitalmarktexperten, obwohl die entsprechenden Angaben zu den Unternehmensführungspraktiken88 gemacht werden müssen.89 Beispielsweise sind hier Angaben zu den unternehmensweit gültigen ethischen Standards sowie zu den Arbeits- und Sozialstandards zu machen.90 Die niedrige Bedeutung des Berichtsgegenstands für die Kapitalmarktexperten ist plausibel, da sie aus den Angaben zu den Unternehmensführungspraktiken nicht auf das künftige Erfolgspotential des Unternehmens schließen können und damit keine Aussagen über die Sicherheit der künftigen Erträge verbunden sind. Verbale Informationen über ethische Standards haben offenbar bei der Erstellung von Anlageempfehlungen für viele Kapitalmarktexperten (noch) keine Bedeutung. Aufgrund der geringen Bedeutung für die Kapitalmarktprofis sollten Angaben über „Angewandte Unternehmensführungspraktiken, die über die gesetzlichen Anforderungen hinaus-

__________ 87 Mehr als 50 % der DAX-30-Unternehmen veröffentlichen die Erklärung zur Unternehmensführung schon bzgl. ihrer Jahres- und Geschäftsabschlüsse 2009 entweder ausschließlich im Internet oder im Internet und zusätzlich im Lagebericht. Vgl. Böcking/Eibelshäuser/Arlt, Der Konzern 2010, 614, 618. 88 Es sind lediglich die relevanten angewandten Unternehmensführungspraktiken zu nennen, wodurch die Aussagekraft der Angabepflicht erheblich eingeschränkt wird. Vgl. BT-Drucks. 16/10067, S. 78. 89 Die Angaben zu den Unternehmensführungspraktiken dürfen sich nicht auf gesetzlich geforderte Berichtspflichten, wie gesetzliche Vorschriften zur Corporate Governance des Unternehmens, beziehen. Vgl. Zülch/Hoffmann, Praxiskommentar BilMoG, 2009, S. 143. Damit ist das Unternehmen nicht verpflichtet, über alle im Unternehmen vorhandenen organisatorischen Vorschriften oder Regelungen zu berichten. Der Umfang der Angabepflicht wird auch dadurch begrenzt, dass die berichtspflichtigen Unternehmensführungspraktiken mit dem angewandten Unternehmensführungskodex im Zusammenhang stehen müssen. Vgl. Philipps, Rechnungslegung nach BilMoG, 2010, S. 322. 90 Vgl. Strieder, BB 2009, 1002, 1005; BT-Drucks. 16/10067, S. 78. Dieses weitreichende Verständnis von Corporate Governance wird nicht uneingeschränkt geteilt. Zu einer anderen Wertung vgl. Bischof/Selch, WPg 2009, 1021, 1028. Die Berichterstattung über Nachhaltigkeit, zu der auch die Berichterstattung über ethische Standards und Arbeitsstandards zählt, wird immer bedeutender und betrifft den Konzernlagebericht. Vgl. Baetge/Hippel in FS Gauweiler, 2009, S. 548–550.

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Die Erklärung zur Unternehmensführung aus der Sicht von Kapitalmarktexperten

gehen“ – wie die Angaben zur Entsprechenserklärung – lediglich auf der Website der Gesellschaft gemacht werden. In diesem Fall muss im Konzernlagebericht indes auf die entsprechende Website verwiesen werden. Die Möglichkeit, die Angaben zu „Angewandten Unternehmensführungspraktiken, die über die gesetzlichen Anforderungen hinausgehen“ im Internet zu machen, besteht aufgrund des Wahlrechts in § 289a Abs. 1 HGB. 4. Arbeitsweise von Vorstand und Aufsichtsrat sowie Zusammensetzung und Arbeitsweise von deren Ausschüssen In der empirischen Untersuchung ergab sich für den Berichtsgegenstand „Arbeitsweise von Vorstand und Aufsichtsrat sowie Zusammensetzung und Arbeitsweise von deren Ausschüssen“ ein Mittelwert von 2,81. Damit hat der Berichtsgegenstand ebenso wie die „Erklärung zur Unternehmensführung“ eine verhältnismäßig geringe Bedeutung für die Kapitalmarktexperten. Doch im Gegensatz zu dem Befragungsergebnis verlangt der Gesetzgeber, die Arbeitsweise von Vorstand und Aufsichtsrat91 sowie die Zusammensetzung und Arbeitsweise von deren Ausschüssen zu beschreiben. Um Redundanzen zu vermeiden und um den (Konzern-)Lagebericht zu entlasten, sollte im (Konzern-) Lagebericht auf den Anhang verwiesen werden, weil dort schon nach § 285 Nr. 10 HGB umfangreiche Angaben zu sämtlichen Mitgliedern des Geschäftsführungsorgans und des Aufsichtsrats zu machen sind. Das berichtende Unternehmen kann sich bzgl. der Forderung, die Arbeitsweise des Aufsichtsrats92 zu beschreiben, an der Empfehlung der EU-Kommission vom 15.2.2005 zu den Aufgaben von nicht geschäftsführenden Direktoren/Aufsichtsratsmitgliedern börsennotierter Gesellschaften sowie zu den Ausschüssen des Verwaltungs- bzw. des Aufsichtsrats93 orientieren. Indes führt die in der Empfehlung vorgesehene Beschreibung der Arbeitsweise des Aufsichtsrats nicht dazu, dass die Kapitalmarktexperten Erkenntnisse über das künftige Ertragspotential des Unternehmens und die Sicherheit künftiger Erträge gewinnen und dadurch entscheidungsrelevante Informationen für ihren DCF-Kalkül erhalten. Denn die Empfehlung der EU-Kommission sieht eine Selbstbeurteilung des Aufsichtsrats vor, die sich auf die Organisation und die Arbeitsweise

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91 Vgl. Kirsch (Fn. 79), § 289a HGB Rz. 31. Dabei sollen weder die Vorschriften des AktG, die die Arbeitsweise von Vorstand und Aufsichtsrat regeln, noch Satzungsregelungen oder Geschäftsordnungen wiederholt werden. Vgl. Kozikowski/RöhmKottmann (Fn. 77), § 289a HGB Rz. 33; Gelhausen/Fey/Kämpfer (Hrsg.) (Fn. 86), § 289a HGB Rz. 59. 92 Die EU-Empfehlung bietet allerdings keine Orientierung für die Beschreibung der Arbeitsweise des Vorstands. Vgl. Gelhausen/Fey/Kämpfer (Fn. 86), § 289a HGB Rz. 62. Auch die gesetzliche Vorschrift des § 90 AktG, der Berichte des Vorstands an den Aufsichtsrat regelt, kann keine Orientierung bieten, da entsprechende Informationen nicht für die Öffentlichkeit bestimmt sind. Vielmehr bietet es sich an, unternehmensspezifische Regelungen der Satzung, die Geschäftsordnung, den Aufgabenbereich einzelner Vorstandsmitglieder, interne Konsultationspflichten oder auch die Sitzungstermine des Vorstands zu beschreiben. Vgl. Gelhausen/Fey/Kämpfer (Fn. 86), § 289a HGB Rz. 63. 93 Zu der Empfehlung vgl. Eibelshäuser/Stein, Der Konzern 2008, 486, 491.

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des Aufsichtsrats sowie auf die Kompetenz und Leistung der Mitglieder des Aufsichtsrats und seiner Ausschüsse erstrecken soll.94 Außerdem sollen gemäß der Empfehlung spezialisierte Ausschüsse gebildet werden. Der Aufsichtsrat soll ferner mindestens einmal jährlich informieren über seine interne Organisation und Verfahren einschließlich eines Hinweises, ob die Selbstbeurteilung des Aufsichtsrats konkrete Änderungen in der Arbeit des Aufsichtsrats zur Folge hatte. Eine Beschreibung der Arbeitsweise des Aufsichtsrats ist im (Konzern-)Lagebericht aber aus Sicht der Kapitalmarktexperten nicht erforderlich, weil entsprechende Angaben schon durch den Bericht an die Hauptversammlung95 nach § 171 Abs. 2 AktG vorgesehen sind96 und redundant wären. Aufgrund der schon vor der Einführung des Berichtsgegenstandes „Arbeitsweise von Vorstand und Aufsichtsrat sowie Zusammensetzung und Arbeitsweise von deren Ausschüssen“ bestehenden Berichtspflichten wären in der Erklärung zur Unternehmensführung lediglich die Zusammensetzung97 der Ausschüsse von Vorstand und Aufsichtsrat anzugeben.98 Die Kapitalmarktexperten treten dafür ein, die Angaben über die Zusammensetzung der Ausschüsse von Vorstand und Aufsichtsrat – entsprechend dem Wahlrecht in § 289a Abs. 2 Nr. 3 HGB – auf der Website des Unternehmens zu machen und im Konzernlagebericht auf die entsprechende Website zu verweisen, um den Konzernlagebericht zu entlasten.

IV. Zusammenfassung Der Konzernlagebericht soll der Vermittlung von entscheidungsrelevanten Informationen über die wirtschaftliche Lage dienen. Der Gesetzgeber verpflichtete börsennotierte Aktiengesellschaften dazu, eine Erklärung zur Unternehmensführung in den Lagebericht bzw. – wenn der Lagebericht des Mutterunternehmens gemeinsam mit dem Konzernlagebericht veröffentlicht wird –

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94 Vgl. Kozikowski/Röhm-Kottmann (Fn. 77), § 289a HGB Rz. 34. 95 Im Bericht an die Hauptversammlung ist über Art und Umfang der Überwachung der Geschäftsführung, über die Ausschussbildung sowie die Zahl der Aufsichtsrats- und der Ausschusssitzungen zu berichten. Der Bericht an die Hauptversammlung stellt damit auch eine Anwendungsleitlinie hinsichtlich der inhaltlichen Berichterstattung über die Arbeitsweise des Aufsichtsrats dar. Vgl. Melcher/Mattheus, DB 2009, Beilage 5 zu Heft 23, 77, 81. Zu einer Untersuchung der Berichterstattung des Aufsichtsrats in Geschäftsberichten, Gesellschaftssatzungen und Geschäftsordnungen unter besonderer Berücksichtigung der Gehilfenfunktion des Abschlussprüfers vgl. Velte, ZfbF 2009, 702. 96 Vgl. Bischof/Selch, WPg 2009, 1021, 1029; Strieder, BB 2009, 1002, 1005. 97 Die Angabepflichten können sich an der Vorschrift des § 285 Nr. 10 HGB orientieren. Vgl. BT-Drucks. 16/10067, S. 78; Melcher/Mattheus, DB 2009, Beilage 5 zu Heft 23, 77, 81. Durch die Orientierung an der Vorschrift des § 285 Nr. 10 HGB sind dann bzgl. der Zusammensetzung der Vorstands- und der Aufsichtsratsausschüsse der Vorund Familienname der einzelnen Ausschussmitglieder, der ausgeübte Beruf, die Mitgliedschaft in anderen Ausschüssen oder Aufsichtsräten sowie die Funktion als Vorsitzender oder dessen Stellvertreter eines Ausschusses anzugeben. Vgl. Gelhausen/ Fey/Kämpfer (Fn. 86), § 289a HGB Rz. 57. 98 Vgl. Kirsch (Fn. 79), § 289a HGB Rz. 31; Paetzmann in Haufe HGB Kommentar, 2009, § 289a HGB Rz. 13.

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Die Erklärung zur Unternehmensführung aus der Sicht von Kapitalmarktexperten

in den Konzernlagebericht innerhalb eines gesonderten Abschnitts aufzunehmen oder alternativ auf der Website der Gesellschaft zu veröffentlichen, um Art. 46 der Abänderungsrichtlinie der Europäischen Union in nationales Recht umzusetzen. Gleichzeitig sollte die Corporate Governance gestärkt werden, da die unternehmensspezifische Corporate Governance durch die Verpflichtung zur Abgabe der Erklärung zur Unternehmensführung im Verhältnis zur Finanzberichterstattung aufgewertet wird.99 Indes ergab die Untersuchung der Bedeutung der geforderten „Erklärung zur Unternehmensführung“ lediglich eine mittlere Bedeutung für die Kapitalmarktexperten, obwohl börsennotierte Aktiengesellschaften gemäß § 289a Abs. 1 HGB verpflichtet sind, eine Erklärung zur Unternehmensführung in ihren Konzernlagebericht aufzunehmen. Die Kapitalmarktexperten messen auch den einzelnen Elementen der „Erklärung zur Unternehmensführung“, nämlich der „Entsprechenserklärung gemäß § 161 AktG“, den „Angewandten Unternehmensführungspraktiken, die über die gesetzlichen Anforderungen hinausgehen“ und der „Arbeitsweise von Vorstand und Aufsichtsrat sowie der Zusammensetzung und Arbeitsweise von deren Ausschüssen“ eine mittlere Bedeutung bei. Das Befragungsergebnis „mittlere Bedeutung“ ist plausibel, denn aus der Entsprechenserklärung und aus Angaben zu den Unternehmensführungspraktiken ergeben sich weder Hinweise auf das künftige Ertragspotential des Unternehmens noch auf die Sicherheit künftiger Erträge. Daher kann eine entsprechende Angabe nicht für den bzw. im DCF-Kalkül der Kapitalmarktexperten verwendet werden. Darüber hinaus haben verbale Informationen über ethische Standards bei der Erstellung von Anlageempfehlungen für viele Kapitalmarktexperten (noch) keine Bedeutung. Auch die Beschreibung der Arbeitsweise des Aufsichtsrats führt nicht dazu, dass die Kapitalmarktexperten Erkenntnisse über das künftige Ertragspotential des Unternehmens und die Sicherheit künftiger Erträge gewinnen und dadurch entscheidungsrelevante Informationen für ihren DCF-Kalkül erhalten. Auch wenn die entsprechenden Angaben zurzeit noch relative geringe Bedeutung haben, können diese Angaben künftig bedeutsamer werden. Denn mit Informationen über die Corporate Governance, d. h. die Rahmenbedingungen der Unternehmensführung, kann transparent kommuniziert werden, dass ein Unternehmen bspw. keine Korruptionszahlungen duldet oder schwarze Kassen führt, um Aufträge durch Bestechung zu erlangen. Aufgrund der ermittelten geringen Bedeutung der „Erklärung zur Unternehmensführung“ und deren einzelner Elemente sollten die entsprechenden Informationen – aus Sicht der befragten Kapitalmarktexperten – auf der Website der Gesellschaft gemacht und im Konzernlagebericht auf diese Website verwiesen werden. Dies ist gemäß dem in § 289a Abs. 1 HGB kodifizierten Wahlrecht zulässig.100 Dadurch kann der Konzernlagebericht entlastet werden. Zugleich wird verhindert, dass es hinsichtlich dieser Berichtspflicht zu einem sog. information overload kommt, der durch eine Ausweitung des Berichtsumfangs aufgrund einer ausufernden und wenig aussagekräftigen Berichterstattung entsteht. Daher würde es den Kapitalmarktakteuren erleichtert, die für ihre Tätigkeit relevan-

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99 Vgl. Lentfer/Weber, DB 2006, 2357. 100 Vgl. Böcking/Eibelshäuser/Arlt, Der Konzern 2010, 614, 616.

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ten Informationen aus dem Konzernlagebericht herauszufiltern. Gleichzeitig würde dem Grundsatz der Klarheit und Übersichtlichkeit entsprochen, der nach Leffson „die Bedingung jeder Vermittlung nützlicher Information“ darstellt. Werden die entsprechenden Informationen in Zukunft für die Kapitalmarktexperten wichtig, können sie diese Angaben der Unternehmens-Website entnehmen. So ist sichergestellt, dass eine vertrauenswürdige Unternehmensführung den Kapitalmarktexperten transparent kommuniziert wird. Die Angaben stellen in diesem Sinne „Leitplanken“ dar, auf die sich die Kapitalmarktexperten verlassen können, wenn sie ihre Anlageentscheidung treffen bzw. Anlageempfehlungen geben. Es ist zu wünschen, dass der Jubilar sich auch weiterhin mit der Weiterentwicklung der Corporate Governance Berichterstattung auseinandersetzt und so die fachliche Kompetenz des Jubilars in den Regelungen zu diesem wichtigen Berichtsteil berücksichtigt werden kann.

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Theodor Baums

Agio und sonstige Zuzahlungen im Aktienrecht Inhaltsübersicht I. Das „korporative“ Aufgeld 1. Begriff 2. Aufgeld als Gesellschafterbeitrag; Bedeutung a) Gründe für die Festsetzung eines Aufgelds b) Tatsächliche Bedeutung 3. Das Aufgeld als Bestandteil des Eigenkapitals a) Allgemeines b) Aufgeld und Kapitalaufbringung c) Die Verwendung der Kapitalrücklage

2. Zulässigkeit: Überblick 3. Einlagen und sonstige Beiträge 4. Umlauffähigkeit der Aktie und Schutz der Mitaktionäre a) Standardisierung der Aktionärspflichten; Schutz nachfolgender Erwerber b) Schuldrechtliches Agio und Bezugsrechtsausschluss 5. Kapitalaufbringung und Gläubigerschutz 6. Einstellung in den gesetzlichen Reservefonds (§ 150 AktG)?

II. Das „schuldrechtliche“ Aufgeld und sonstige bare Zuzahlungen 1. Fälle

I. Das „korporative“ Aufgeld 1. Begriff „Agio“ bedeutet Aufgeld oder Aufschlag. Damit ist der Mehrbetrag gemeint, den ein Investor bei Aktienemission über den sogenannten „geringsten Ausgabebetrag“ hinaus an die Gesellschaft zahlen muss (vgl. nur §§ 36a Abs. 1, 188 Abs. 2 Satz 1 AktG). Der „geringste Ausgabebetrag“, zu dem eine Aktie mindestens ausgegeben werden muss, ist bei Nennbetragsaktien (§ 8 Abs. 1, 2, 4 AktG) der Nennbetrag, bei Stückaktien (§ 8 Abs. 2, 4 AktG) der auf die einzelne Stückaktie entfallende anteilige Betrag des Grundkapitals; eine „Unterpariemission“ ist unzulässig (§ 9 Abs. 1 AktG). Dagegen können Aktien bei Gründung oder Kapitalerhöhung selbstverständlich zu einem höheren als dem geringsten Ausgabebetrag ausgegeben werden (§ 9 Abs. 2 AktG; „Überpariemission“; vgl. auch die Unterscheidung zwischen „Ausgabebetrag“ und „geringstem Ausgabebetrag“ in § 23 Abs. 2 Nr. 2 AktG). Eine solche Überpariemission oder Aktienausgabe zu einem Mehrbetrag oder Agio kommt nicht nur bei Emissionen gegen Bareinlagen, sondern auch bei Sacheinlagen in Betracht, nämlich wenn der Wert der Sacheinlage den geringsten Ausgabebetrag der hierfür erhaltenen Aktien übersteigt (vgl. § 36a Abs. 2 Satz 3 AktG). 61

Theodor Baums

Der erwähnte Mehrbetrag wird üblicherweise als „korporatives“ oder „mitgliedschaftliches“ Aufgeld bezeichnet, um ihn von sonstigen Zusatzleistungen („schuldrechtliches“ Aufgeld) abzugrenzen. Beim schuldrechtlichen Aufgeld handelt es sich um individualvertraglich begründete Zusatzleistungen, die ein Investor über seine Einlage hinaus übernimmt. Auf solche individualvertraglich begründeten Zusatzleistungen ist im zweiten Teil (unten II.) einzugehen. 2. Aufgeld als Gesellschafterbeitrag; Bedeutung a) Gründe für die Festsetzung eines Aufgelds Wirtschaftlich gesehen machen der Nennbetrag bzw. der auf die einzelne Stückaktie entfallende rechnerische Betrag und der geforderte Mehrbetrag oder Aufschlag zusammen den Preis, die Gegenleistung, für die Aktie aus. Aus rechtlicher Sicht ist es allerdings nicht korrekt, von einer „Gegenleistung“ für den Erwerb der Aktie oder von einem Kaufpreis zu reden, wenn es nicht um den derivativen Erwerb einer bereits bestehenden Aktie, sondern um die originäre Begründung der Mitgliedschaft oder Aktie bei Gründung oder Kapitalerhöhung der Gesellschaft geht.1 Überdies verdeckt die Zusammenfassung von geringstem Ausgabebetrag und Mehrbetrag zu einem Gesamtpreis oder Gesamtausgabebetrag die besondere Bedeutung des Aufgelds. Das von dem Investor nach der Zeichnung der Aktie geforderte und von ihm gezahlte Aufgeld ist Teil seines Gesellschafterbeitrags, genauer, das Aufgeld wird als Bestandteil der aufzubringenden Einlage auf die Einlageschuld des Zeichners der Aktie geleistet.2 Deutlich kommt dies in § 54 Abs. 1 AktG zum Ausdruck, wo es heißt, dass „die Verpflichtung der Aktionäre zur Leistung der Einlagen durch den Ausgabebetrag der Aktien begrenzt“ wird. Der (Gesamt-) Ausgabebetrag der Aktien im Sinne des § 54 Abs. 1 AktG umfasst auch das Aufgeld, das demnach zur „Einlage“ des Übernehmers oder Zeichners einer Aktie rechnet.3 Dass ein Aufgeld festgesetzt wird, dass also die Einlage sich aus dem Nennbetrag bzw. dem auf die einzelne Stückaktie entfallenden rechnerischen Betrag einerseits und einem darüber hinausgehenden Mehrbetrag, dem „Aufgeld“, zusammensetzt, kann auf verschiedenen Gründen beruhen. Bei Gründung der Gesellschaft kann die Ausgabe von Aktien zu einem höheren als dem geringsten Ausgabebetrag dazu dienen, die Gründungs- und Ingangsetzungskosten zu decken oder eine Reserve für sonstige Verluste im Gründungs- und Anlaufstadium der Gesellschaft über die Grundkapitalziffer

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1 Näher zur Rechtsnatur der Übernahmeerklärung im Gründungsstadium gemäß § 23 Abs. 2 Nr. 2 AktG und zum Erwerb der Mitgliedschaft Röhricht in Großkomm. AktG, 4. Aufl., Bd. 1, 7. Lfg. 1996, § 23 AktG Rz. 65 ff.; zur Zeichnungserklärung bei Kapitalerhöhung (§ 185 AktG) und zum Entstehen der neuen Aktien Veil in K. Schmidt/ Lutter (Hrsg.), AktG, Bd. II, 2. Aufl. 2010, § 185 AktG Rz. 4, § 189 AktG Rz. 2. 2 Zu Begriff und Verhältnis von „Beitrag“ und „Einlage“ etwa K. Schmidt, Gesellschaftsrecht, 4. Aufl. 2002, § 20. 3 Priester in FS Lutter, 2000, S. 617, 618; Hoffmann-Becking in FS Wiedemann, 2002, S. 999, 1001; eingehende Nachweise bei Lüssow, Das Agio im GmbH- und Aktienrecht, 2005, S. 28 ff.

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hinaus zu bilden.4 Bilanziell wird das Aufgeld nicht dem Grundkapital zugerechnet, sondern in eine gesonderte Kapitalrücklage eingestellt (§ 272 Abs. 2 Nr. 1 HGB). Wenn der Gründungsaufwand und weitere Verluste diese aus den Aufgeldern gebildete Kapitalrücklage nicht übersteigen, dann entsteht die Gesellschaft nicht von vorneherein mit einer Unterbilanz,5 denn der Fehlbetrag kann mit der Kapitalrücklage verrechnet werden (§ 150 Abs. 3 AktG).6 Ferner kann das einem Aktionär bei Gründung auferlegte Agio dazu dienen, zugunsten eines anderen Aktionärs einen Ausgleich zu schaffen, der seinerseits durch nicht einlagefähige Leistungen, zum Beispiel durch Einbringen der Geschäftsidee und des Know-how, den Gesellschaftszweck fördert.7 Im Fall einer Kapitalerhöhung hat die Ausgabe der jungen Aktien mit einem Agio vor allem den Zweck, die Differenz zwischen dem Nennwert und dem höheren Markt- oder Kurswert der umlaufenden Aktien auszugleichen. Der Zeichner soll auf die Aktien, die er erwirbt und die ihm die mit ihnen verbundenen Rechte, wie das Stimmrecht, das Dividendenbezugsrecht usw. vermitteln, nicht nur den Nennbetrag der Nennbetragsaktie bzw., bei Ausgabe von Stückaktien, den auf die einzelne Stückaktie entfallenden anteiligen Betrag des Grundkapitals zahlen. Denn liegt der Markt- oder Börsenwert der Gesellschaft über deren Grundkapitalziffer, dann sind auch die einzelnen Aktien, in die das Grundkapital zerlegt ist, mehr wert als ihr Nennbetrag oder rechnerischer Betrag. Die Inhaber der bereits umlaufenden Altaktien werden daher dem Zeichner der neu auszugebenden Anteile diese in aller Regel allenfalls geringfügig unter dem Marktpreis oder Kurs, den die bereits umlaufenden Altaktien haben, überlassen wollen. Ohne Zahlung eines entsprechenden Mehrbetrages oder Aufgelds auf den Nennbetrag bzw. auf den rechnerischen Betrag der Stückaktie würde sich nämlich eine Vermögensverschiebung zum Nachteil der Altaktionäre ergeben.8 Ausgeschlossen ist dagegen nach geltendem Recht die Emission von Aktien zu einem hohen Ausgabekurs, um hieraus alsbald nach Gründung oder Kapitalerhöhung auch ohne betriebliche Gewinne Dividendenzahlungen ankündigen und bestreiten zu können und durch das Vortäuschen entsprechender Ertragskraft des Unternehmens den Aktienkurs nach oben zu treiben. Der Einsatz von Aufgeldern zu diesem Zweck einer „Agiotage“ soll durch die heute geltende Regelung, insbesondere die Verwendungsbeschränkung des § 150 AktG, gerade ausgeschlossen werden.9

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4 S. bereits Bing in Düringer/Hachenburg, HGB, Bd. III, 1. Teil, 3. Aufl. 1934, § 184 HGB Anm. 13. 5 Zu den register- und haftungsrechtlichen Folgen einer Unterbilanz vor und bei Eintragung etwa Hüffer, AktG, 9. Aufl. 2010, § 41 AktG Rz. 8 f.; Solveen in Hölters (Hrsg.), AktG, 2011, § 41 AktG Rz. 15; Drygala in K. Schmidt/Lutter (Hrsg.), AktG, Bd. I, 2. Aufl. 2010, § 41 AktG Rz. 11, 13. 6 Vgl. näher dazu unten 3. c) bb). 7 Priester (Fn. 3), S. 618. 8 Vgl. das Beispiel bei T. Bezzenberger, Das Kapital der Aktiengesellschaft, 2005, S. 35 f. 9 Zur Vorgeschichte der heute geltenden Regelungen s. die Hinweise bei Brodmann, Aktienrecht, 1928, § 184 HGB Anm. 1. a), § 262 HGB Anm. 4; Wilhelm in FS Flume, Bd. II, 1978, S. 337, 351 ff.; Kropff, ZGR 1987, 285, 292 ff.; s. auch noch unten 3. c) aa).

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b) Tatsächliche Bedeutung Der Umstand, dass – mit Ausnahme von Sanierungsfällen – besonders bei Kapitalerhöhungen in der Regel ein z. T. um ein Vielfaches über dem Nennbetrag der Aktien liegendes Agio gefordert werden kann, erklärt, weshalb heute die Kapitalrücklagen der Aktiengesellschaften deren Grundkapitalziffern regelmäßig deutlich überschreiten.10 3. Das Aufgeld als Bestandteil des Eigenkapitals a) Allgemeines Die Einlageleistungen der Aktionäre einschließlich eines von ihnen geforderten Aufgeldes stellen die von ihnen geschuldeten Gesellschafterbeiträge dar, die vorrangig im Interesse der Gesellschaft und der übrigen Aktionäre aufzubringen sind. Als solche bilden sie zusammen mit den von der Gesellschaft erwirtschafteten Vermögenszuwächsen das Eigenkapital der Gesellschaft, den Überschuss ihres Aktivvermögens über ihre Verbindlichkeiten, der als Verlustpuffer im Gläubigerinteresse wirkt.11 Ein weiterer, „kapitalmarktrechtlicher“ Schutzzweck zeigt sich in den Vorschriften der §§ 272 Abs. 2 Nr. 1 HGB, 150 Abs. 2, 3 AktG, die festlegen, dass das Aufgeld in eine Kapitalrücklage einzustellen ist, welche ausschließlich der Verlustverrechnung oder der Kapitalerhöhung dienen soll. Ein Ausweis und eine Ausschüttung als Bilanzgewinn und eine dadurch verursachte Täuschung des Publikums über die Ertragskraft des Unternehmens und den Wert der Aktien sollen ausgeschlossen werden. Diesen verschiedenen miteinander verwobenen Schutzzwecken folgen die Regeln über die Aufbringung und Verwendung des Aufgelds. Sie entsprechen weitgehend den Vorschriften über die Aufbringung und Verwendung des zur Deckung der Grundkapitalziffer erforderlichen Vermögens. Hierauf wie auf die Unterschiede ist im Folgenden einzugehen. b) Aufgeld und Kapitalaufbringung aa) Gründung der Gesellschaft Ist bei Gründung der Gesellschaft ein Aufgeld vereinbart worden, dann müssen vor der Anmeldung, soweit Bareinlagen vorgesehen sind, diese mindestens zu einem Viertel des geringsten Ausgabebetrags (d. h. des Nennbetrags bei Nennbetragsaktien oder des rechnerischen Werts bei Stückaktien) eingezahlt werden, das vereinbarte Aufgeld jedoch zur Gänze (§ 36a Abs. 1 i. V. m. § 36 Abs. 2 AktG). Die Motive begründen diese Pflicht zur sofortigen Einzahlung eines Viertels des geringsten Betrags und des gesamten Aufgelds mit mehreren Erwägungen: Zu geringe Einzahlungen böten keine genügende Gewähr für die spätere Einzahlung des Grundkapitals, begünstigten Gründungen, welche zum

__________ 10 S. die empirischen Angaben bei T. Bezzenberger (Fn. 8), S. 57. 11 Eingehender zum Eigenkapitalbegriff und den gläubigerschützenden Funktionen der verschiedenen „Bausteine“ des Eigenkapitals Baums, ZHR 175 (2011), 160 ff.

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Zweck der Agiotage unternommen würden, und verleiteten in Kreisen, die sich mit Rücksicht auf ihr Vermögen und ihre Geschäftsunkenntnis von Aktienunternehmungen fernhalten sollten, in der Hoffnung auf schnelle Weiterübertragung der Aktien zu leichtsinnigen Zeichnungen.12 – Der Anmeldung ist ein entsprechender Nachweis beizufügen (§ 37 Abs. 1 Satz 2 AktG); die Prüfung durch das Registergericht bezieht sich auch hierauf (§ 38 Abs. 1 AktG). Neben dem Aktionär, der das Aufgeld ganz oder teilweise nicht eingezahlt hat, haften die zur Anmeldung berufenen Gründer und Mitglieder von Vorstand und Aufsichtsrat, wenn sie über dessen Einzahlung falsche Angaben gemacht haben (§§ 46, 48 AktG). Sind Sacheinlagen vorgesehen, und werden dem Einleger Aktien zu einem höheren Wert als dem geringsten Ausgabebetrag überlassen, dann muss der Wert der Sacheinlage auch den festgesetzten Mehrbetrag abdecken (§ 36a Abs. 2 Satz 3 AktG). Was die Gründungsprüfung in diesem Punkt betrifft, heißt es in § 34 Abs. 1 Nr. 2 AktG zwar (nur), dass sich die Gründungsprüfung durch die Organmitglieder und den Gründungsprüfer „namentlich“ darauf zu erstrecken hat, ob der Wert der Sacheinlage „den geringsten Ausgabebetrag der dafür zu gewährenden Aktien“ erreicht. Aus dieser bewusst offen formulierten Vorschrift lässt sich aber nicht entnehmen, dass sich die Gründungsprüfung bei Sacheinlagen mit Festsetzung eines Aufgelds nicht darauf beziehe, ob der Wert der Sacheinlage auch das festgesetzte Aufgeld abdeckt.13 Denn auch im Fall einer Gründung mit Sacheinlage haben die Gründer und die Mitglieder von Vorstand und Aufsichtsrat in ihrer Anmeldung zu erklären, dass bei Ausgabe der Aktien zu einem Agio der Wert der Sacheinlage auch diesen Mehrbetrag abdeckt (§ 37 Abs. 1 Satz 1 i. V. m. § 36a Abs. 2 Satz 3 AktG). Überdies schreibt Art. 10 Abs. 2 der Kapitalrichtlinie ausdrücklich vor, dass jedenfalls der Bericht des Gründungsprüfers angeben muss, ob der Wert der Sacheinlage auch dem über den Nennbetrag bzw. den rechnerischen Wert hinausgehenden Mehrbetrag entspricht.14 Nach h. M. soll sich überdies auch die Prüfungskompetenz des Registerrichters nicht nur darauf erstrecken, ob der Bericht und die Anmeldung diese Angaben enthalten, sondern auch darauf, ob diese Angaben zutreffen.15 Das ist allerdings zweifelhaft. § 38 Abs. 2 Satz 2 AktG sieht eine Ablehnung der Eintragung nämlich nicht vor, wenn der Wert der Sacheinlage das festgesetzte Agio

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12 Entwurf eines Gesetzes, betreffend die KGaA und AG, 1884, Allgemeine Begründung, Abdruck bei Schubert/Hommelhoff, 100 Jahre modernes Aktienrecht, ZGRSonderheft 4, 1985, S. 443, s. auch S. 455. 13 Heute nahezu einhellige Auffassung; eingehend dazu m. w. N. BGH, AG 2012, 87, 88; Herchen, Agio und verdecktes Agio im Recht der Kapitalgesellschaften, 2004, S. 128 ff.; Lüssow (Fn. 3), S. 192 ff.; a. A. Gerber in Spindler/Stilz (Hrsg.), AktG, Bd. I, 2. Aufl. 2010, § 34 AktG Rz. 8; H. P. Müller in FS Heinsius, 1991, S. 591, 594. 14 Zweite Richtlinie 77/91/EWG des Rats v. 13.12.1976, ABl. L 026 v. 31.1.1977, S. 1. 15 Döbereiner in Spindler/Stilz (Fn. 13), § 38 AktG Rz. 9; Brändel in Großkomm. AktG (Fn. 1), 2. Lfg. 1992, § 9 AktG Rz. 18; Röhricht (Fn. 1), § 27 AktG Rz. 100, § 38 AktG Rz. 41 a. E.; Solveen (Fn. 5), § 38 AktG Rz. 9; Bayer in K. Schmidt/Lutter (Fn. 5), § 34 AktG Rz. 7; Bayer in FS P. Ulmer, 2003, S. 21, 35 f.; Lüssow (Fn. 3), S. 209 ff.; Priester (Fn. 3), S. 624.

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nicht mit abdeckt, und auch die Zweite Richtlinie schreibt eine solche doppelte inhaltliche Wertdeckungsprüfung durch den Gründungsprüfer und durch den Registerrichter nicht vor. Ist eine Sacheinlage eindeutig überbewertet, dann hat der betreffende Gründer den Unterschied zwischen dem Wert der Einlage und dem Aktiennennbetrag in bar nachzuzahlen.16 Das gilt auch, wenn der Wert der Sacheinlage ein festgesetztes Aufgeld nicht mit abdeckt und eine weitere bare Zuzahlung nicht vorgesehen ist.17 Das Sacheinlageversprechen enthalte, so der Bundesgerichtshof, zugleich eine Kapitaldeckungszusage.18 Allerdings kommt es nicht darauf an, ob die Beteiligten eine objektive Wertdeckung ernstlich gewollt haben, oder ob ihnen die Überbewertung der Sacheinlage bewusst war, oder ob sich der Sacheinleger oder die Gegenseite über den Wert der Sacheinlage im Irrtum befanden. Vielmehr muss ungeachtet anderslautender Vereinbarungen oder Vorstellungen der Parteien der Wert der Sacheinlage „dem geringsten Ausgabebetrag und bei Ausgabe der Aktien für einen höheren als diesen auch dem Mehrbetrag entsprechen“ (§ 36a Abs. 2 Satz 3 AktG). Die sich aus dieser zwingenden Norm als notwendige Sanktion ergebende Differenzhaftung des Sacheinlegers besteht unabhängig davon, ob die Parteien eine Kapitaldeckungszusage gewollt haben. Wollen die Parteien Bewertungszweifel und eine Differenzhaftung vermeiden, muss trotz höheren Zeitwerts der Sacheinlage kein Aufgeld festgesetzt werden.19 Ob in einem solchen Fall gleichwohl ein über den geringsten Ausgabebetrag hinausgehender Mehrbetrag in die Kapitalrücklage gemäß § 272 Abs. 2 Nr. 1 HGB einzustellen ist, richtet sich danach, mit welchem Wert die Sacheinlage in der Bilanz zu aktivieren ist. Die Dotierung der Kapitalrücklage hängt mit anderen Worten nicht davon ab, ob ausdrücklich ein Aufgeld festgesetzt worden ist.20 Abgerundet werden die Vorschriften zur Aufbringung des Agios durch die §§ 10 Abs. 2, 66 AktG. Danach dürfen vor der vollen Leistung des Ausgabebetrags

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16 BGHZ 64, 52, 62; vgl. auch BGHZ 118, 83, 101 („Differenzhaftung“); Hüffer (Fn. 5), § 36a AktG Rz. 6 m. w. N.; K. Schmidt (Fn. 2), § 20 III 4. a). 17 BGH, AG 2012, 87, 88; Hoffmann-Becking (Fn. 3), S. 1002; Hoffmann-Becking in MünchHdb. des Gesellschaftsrechts, Bd. 4, 3. Aufl. 2007, § 4 Rz. 39; Krieger ebda., § 54 Rz. 49; Priester (Fn. 3), S. 622; Lüssow (Fn. 3), S. 198 f., 216 ff.; Trölitzsch, Differenzhaftung für Sacheinlagen in Kapitalgesellschaften, 1998, S. 217 ff.; je m. w. N.; a. A. (jeweils für die Sachkapitalerhöhung): Lutter in KölnKomm. AktG, Bd. 5/1, 2. Aufl., Stand: 1989, § 183 AktG Rz. 66; Hüffer (Fn. 5), § 183 AktG Rz. 21; in diese Richtung auch Habersack in FS Konzen, 2006, S. 179, 183 f., die nur eine rechtsgeschäftliche Wertdeckungszusage anerkennen wollen. Das trägt dem von der Kapitalrichtlinie gewollten, in den § 37 Abs. 1 Satz 1 i. V. m. § 36a Abs. 2 Satz 3, § 10 Abs. 2 Satz 1, § 66 Abs. 1 i. V. m. § 54 Abs. 1 AktG verankerten Wertdeckungsgebot nicht hinreichend Rechnung. 18 BGHZ 64, 52, 62. 19 Ballerstedt in FS Geßler, 1971, S. 69, 73; Maier-Reimer in FS G. Bezzenberger, 2000, S. 261; Priester (Fn. 3), S. 628 f.; Hoffmann-Becking in MünchHdb. (Fn. 17), § 4 Rz. 16 m. w. N. 20 Kropff in FS Geßler, 1971, S. 111, 119; Hoffmann-Becking (Fn. 3), S. 1006 ff.; Priester (Fn. 3), S. 628 f.; je m. w. N.; s. dazu auch noch unten 3. c) aa).

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(einschließlich eines Aufgelds21) keine Inhaberaktien ausgegeben werden, damit die Aktiengesellschaft ihren Schuldner problemlos feststellen kann. Ferner können die Aktionäre von ihrer Einlageverpflichtung gemäß § 54 Abs. 1 AktG, die auch das Agio umfasst,22 nicht befreit werden, und gegen die entsprechende Forderung der Gesellschaft ist eine Aufrechnung nicht zulässig. bb) Kapitalerhöhung Praktisch sehr viel wichtiger ist die Festsetzung eines Aufgelds bei Kapitalerhöhung. Hier geht es nicht nur um die Sicherung der Aufbringung des Agio, sondern vorrangig um dessen Höhe, um den Schutz der Altaktionäre, die nicht an der Kapitalerhöhung teilnehmen, vor einer Vermögensverschiebung zugunsten der an der Emission teilnehmenden Investoren. Das kann hier nur angedeutet werden. Die Ausführungen beschränken sich auf die Kapitalerhöhung gegen Einlagen. (1) Im Fall der Barkapitalerhöhung kann die Hauptversammlung den Ausgabebetrag im Erhöhungsbeschluss selbst festsetzen. Wird das Bezugsrecht nicht ausgeschlossen (zum Bezugsrechtsausschluss sogleich), kann die Mehrheit den Betrag, zu dem die neuen Aktien ausgegeben werden, im Prinzip auch zum Nennbetrag ansetzen, d. h., es muss nicht über den geringsten Ausgabebetrag hinaus ein Aufgeld gefordert werden, um annähernd den Wert der Altaktien zu erreichen.23 Die Hauptversammlung kann aber auch festlegen, dass ein Agio gefordert werden soll.24 In diesem Fall muss sie, wenn sie auf die genaue Fixierung des Ausgabebetrages verzichtet, wenigstens einen Mindestausgabebetrag festsetzen (§ 182 Abs. 3 AktG). Der Vorstand hat dann den konkreten Ausgabebetrag nach pflichtgemäßem Ermessen zu bestimmen. Der das Agio mit umfassende Ausgabebetrag muss in den Zeichnungsschein aufgenommen werden (§ 185 Abs. 1 Satz 3 Nr. 2 AktG). Der Umstand, dass in einem bezugsrechtswahrenden Hauptversammlungsbeschluss die Festsetzung eines (Mindest-)Ausgabebetrags fehlt, macht diesen nicht ohne Weiteres anfechtbar oder gar nichtig.25 Es kann daraus auch nicht

__________ 21 S. nur Hüffer (Fn. 5), § 10 AktG Rz. 6. 22 Vgl. die Nachweise oben Fn. 3. 23 Priester (Fn. 3), S. 619; Hüffer (Fn. 5), § 182 AktG Rz. 23. Bei treuwidrigen Gestaltungen (faktischer Zwang zur Teilnahme an der Kapitalerhöhung, weil eine erhebliche Verwässerung droht) mag etwas anderes gelten. 24 Zu den verschiedenen Verfahren der Preisbestimmung bei Bezugsrechtsemissionen Schlitt/Ries in FS Schwark, 2009, S. 241, 249 ff.; zur Festsetzung des Agio im Sonderfall des „mittelbaren Bezugsrechts“ (§ 186 Abs. 5 AktG) Hüffer (Fn. 5), § 186 AktG Rz. 48; eingehend Immenga in FS Beusch, 1993, S. 413 ff.; Priester in FS Brandner, 1996, S. 87, 110 ff.; w.N. bei Lüssow (Fn. 3), S. 176 ff.; Herchen (Fn. 13), S. 257 ff. 25 RGZ 143, 20, 23. Anfechtbarkeit wird vom RG in einem Fall erwogen, in dem nach der vor dem Kapitalerhöhungsbeschluss getroffenen Vereinbarung mit der zeichnenden Bank die Emission zu einem über dem Nennbetrag liegenden Ausgabebetrag erfolgen sollte, dies aber nicht in den Kapitalerhöhungsbeschluss aufgenommen worden war; RGZ 144, 138, 143 (im Ergebnis wegen Ablaufs der Anfechtungsfrist verneint).

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ohne Weiteres geschlossen werden, dass nach dem Willen der Hauptversammlung die Aktien zu pari ausgegeben werden sollen, so dass die Verwaltung, die hierüber hinausgeht und einen höheren Ausgabebetrag festlegt, bereits deshalb gegen ihre Pflicht zur Befolgung der von der Hauptversammlung im Rahmen ihrer Zuständigkeit gefassten Beschlüsse (vgl. § 83 Abs. 2 AktG) verstößt.26 Schweigt der Hauptversammlungsbeschluss zum Ausgabebetrag, dann hat der Vorstand hierüber vielmehr wie im Fall des genehmigten Kapitals (§ 204 Abs. 1 AktG) nach pflichtgemäßem Ermessen zu befinden; dabei sind auch die Finanzierungsbedürfnisse der Gesellschaft zu berücksichtigen. Die eng auszulegende27 Vorschrift des § 182 Abs. 3 AktG ist in einem solchen Fall nicht einschlägig; sie ist zwanglos auf den Fall zu beschränken, dass die Hauptversammlung die Ausgabe der neuen Aktien zu einem Agio ausdrücklich wünscht.28 Soll bei einer Barkapitalerhöhung gegen Einlagen dagegen das Bezugsrecht einzelner oder aller Aktionäre ausgeschlossen werden, muss im Erhöhungsbeschluss der Hauptversammlung der Ausgabebetrag, auch wenn es sich ausnahmsweise nur um den geringsten Ausgabebetrag handeln sollte, oder jedenfalls ein Mindestbetrag, unter dem die neuen Aktien nicht ausgegeben werden sollen, festgesetzt werden. Das ergibt sich aus § 255 Abs. 2 AktG. Danach kann, wenn das Bezugsrecht der Aktionäre ganz oder zum Teil ausgeschlossen worden ist, die Anfechtung des Kapitalerhöhungsbeschlusses darauf gestützt werden, dass der sich aus dem Erhöhungsbeschluss ergebende Ausgabebetrag oder Mindestbetrag, unter dem die neuen Aktien nicht ausgegeben werden sollen, im Verhältnis zum Wert der dafür ausgegebenen Aktien unangemessen niedrig ist. Diese Anfechtungsmöglichkeit ginge ins Leere, wenn jede Angabe zu einem (Mindest-)Ausgabebetrag fehlt. In einem solchen Fall wäre der Hauptversammlungsbeschluss schon wegen Fehlens einer zwingend gebotenen Angabe anfechtbar (§ 243 Abs. 1 AktG). Nach h. M. soll § 255 Abs. 2 AktG analog angewandt werden, wenn der Kapitalerhöhungsbeschluss keine Angaben zu einem (Mindest-)Ausgabebetrag enthält. In diesem Fall stelle der geringste Ausgabebetrag den beschlossenen (?) Mindestbetrag dar.29

__________ 26 A. A. wohl BGHZ 33, 175, 178 f. 27 Der Vorgänger-Vorschrift zu § 182 Abs. 3 AktG entsprach bis zur Aktienrechtsreform 1937 eine entsprechende Bestimmung im Gründungsrecht (§ 184 Satz 2 HGB a. F.), wonach die Ausgabe von Aktien im Gründungsstadium zu einem Agio nur statthaft war, wenn sie in der Satzung zugelassen war. Diese Vorschrift wurde 1937 aufgehoben (vgl. jetzt § 9 Abs. 2 AktG), nicht dagegen die dem § 182 Abs. 3 AktG entsprechende Vorschrift. Eingehend zur Entstehungsgeschichte Klette, DB 1968, 2003, 2004 f. Eine ausdehnende Auslegung der ohnedies nicht besonders hilfreichen Vorschrift des § 182 Abs. 3 AktG über ihren unmittelbaren Wortlaut hinaus ist nicht angezeigt. 28 Str.; eingehend m. w. N. Peifer in MünchKomm. AktG, Bd. 6, 2. Aufl. 2005, § 182 AktG Rz. 51 ff.; Lüssow (Fn. 3), S. 56 ff. Insbesondere kann § 182 Abs. 3 AktG nicht bei Bezugsrechtswahrung angewandt und bei Bezugsrechtsausschluss beiseite geschoben werden, wie dies z. T. vertreten wird. 29 Hüffer (Fn. 5), § 255 AktG Rz. 16 m. w. N.

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Die Einzahlung des Aufgelds und die registerrichterliche Prüfung richten sich nach den Gründungsvorschriften, § 188 Abs. 2 AktG.30 (2) Wird eine Sacheinlage gemacht, muss im Beschluss über die Kapitalerhöhung der Nennbetrag, bei Stückaktien die Zahl der bei der Sacheinlage zu gewährenden Aktien festgesetzt werden (§ 183 Abs. 1 Satz 1 AktG). Ein höherer Ausgabebetrag muss dagegen nicht angegeben werden.31 Etwas anderes ergibt sich hier, anders als im Fall der Barkapitalerhöhung, weder aus § 255 Abs. 2 AktG noch aus § 186 Abs. 4 Satz 2 AktG. Denn für den Rechtsschutz der vom Bezugsrecht ausgeschlossenen Aktionäre kommt es nicht auf die Angemessenheit der Relation des festgesetzten und aufzubringenden Ausgabebetrags zum Wert der ausgegebenen Aktien, sondern auf das Verhältnis zwischen dem Zeitwert der Sacheinlage zum Wert der dafür ausgegebenen Aktien an.32 Das gewichtigste Argument, das für die Festsetzung eines Ausgabebetrags in Höhe des Verkehrswerts der Sacheinlage spricht, ist das Verhindern von Scheingewinnen. Wird die Sacheinlage zu einem niedrigeren als ihrem Verkehrswert eingebracht, und wird der Einlagegegenstand in den Büchern der Gesellschaft nur in Höhe des geringsten Ausgabebetrages angesetzt, kann dies bei späterer Veräußerung zur Aufdeckung dieser stillen Reserven und damit zu einem Ausweis und zur Ausschüttung eines angeblichen Betriebsgewinns führen. Das würde dem Zweck, einen über den geringsten Ausgabebetrag erzielten Emissionserlös in die Kapitalrücklage einzustellen und nicht als angeblichen Betriebsgewinn auszuweisen,33 widersprechen. Dagegen ist allerdings einzuwenden, dass der Wertansatz in der Bilanz nicht davon abhängt, ob ausdrücklich ein höherer als der geringste Ausgabebetrag festgesetzt worden ist.34 Wo das Handelsbilanzrecht eine Buchwertfortführung eines als Sacheinlage eingebrachten Unternehmens und damit das Legen stiller Reserven zulässt, ist dies hinzunehmen.35 Ist aber ein höherer als der geringste Ausgabebetrag angegeben, bezieht sich auch die Differenzhaftung des Sacheinlegers hierauf,36 und muss sich die Prüfung der Sacheinlage gemäß § 183 Abs. 3 AktG auch darauf erstrecken, ob der

__________ 30 Dazu oben aa). 31 H. M.; BGHZ 71, 40, 50 f.; Ballerstedt (Fn. 19), 74 ff.; Kropff (Fn. 20), S. 111, 118 f.; Maier-Reimer (Fn. 19), S. 253, 260 ff., 262 ff.; Hüffer (Fn. 5), § 183 AktG Rz. 51; a. A. Wiedemann in Großkomm. AktG, 4. Aufl., Bd. 6, 5. Lfg. 1995, § 183 AktG Rz. 51; w.N. bei Maier-Reimer (Fn. 19), S. 260 in Fn. 29. 32 Einzelheiten zur analogen Anwendung des § 255 Abs. 2 AktG, insbesondere bei Einbringung von Unternehmen und börsennotierten Anteilen, bei Stilz in Spindler/Stilz (Hrsg.), AktG, Bd. II, 2. Aufl. 2010, § 255 AktG Rz. 17 ff.; Maier-Reimer (Fn. 19), S. 262 ff.; Hoffmann-Becking (Fn. 3), S. 1003 ff.; je m. N. 33 Vgl. Text zu Fn. 9. 34 S. bereits oben Text zu Fn. 20. 35 Hoffmann-Becking in MünchHdb. (Fn. 17), § 4 Rz. 15 ff. m. w. N. – Lutter (Fn. 17), § 183 AktG Rz. 46, hält eine Überführung des Mehrwerts in die Kapitalrücklage nach dessen Aufdeckung für geboten. Das dürfte häufig kaum zu lösende Zuordnungs- und Abgrenzungsprobleme aufwerfen; das kann hier nicht vertieft werden. 36 Dazu oben Text zu Fn. 16–18.

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Wert der Sacheinlage den Mehrbetrag abdeckt.37 Insoweit kann nichts anderes als im Fall der Gründungsprüfung gelten.38 § 34 Abs. 1 AktG, auf den § 183 Abs. 3 Satz 2 AktG verweist, ist bewusst offen („namentlich“) formuliert, lässt also für eine solche weitergehende Prüfung ausdrücklich Raum. Überdies schreibt Art. 27 Abs. 2 Satz 3 i. V. m. Art. 10 Abs. 2 der Zweiten Richtlinie39 ausdrücklich vor, dass sich der Sachverständigenbericht auch bei Kapitalerhöhung darauf zu beziehen hat, ob der Wert der Sacheinlage gegebenenfalls dem Mehrbetrag der dafür auszugebenden Aktien entspricht. Dagegen ist, wiederum wie bei der Gründungsprüfung, eine weitere inhaltliche Wertdeckungsprüfung auch durch den Registerrichter nicht vorgesehen (vgl. § 184 Abs. 3 Satz 1 AktG); aus § 188 Abs. 2 Satz 1 AktG ergibt sich nichts anderes.40 cc) Zusammenfassung Insgesamt ist festzuhalten: Wie die Einlageleistungen auf das Grundkapital hat auch die Festsetzung eines Aufgelds zunächst Bedeutung für die Gesellschaft und die übrigen Aktionäre. Für die Gesellschaft wirkt sich das Aufgeld als Stärkung ihrer Kapitalbasis, ihres Eigenkapitals, aus; den übrigen Aktionären wird durch das Aufgeld ein Ausgleich für entsprechende eigene Leistungen oder für die Abgabe von Gesellschafterrechten geboten. Die angeführten zwingenden Vorschriften und die Differenzhaftung des Sacheinlegers behandeln die Zahlungen auf das Grundkapital und die Aufbringung eines darüber hinausgehenden Aufgelds im Wesentlichen gleich. Sie stellen sicher, dass ein bei Gründung oder Kapitalerhöhung festgelegtes Aufgeld im Interesse der Gesellschaft und ihrer übrigen Aktionäre tatsächlich aufgebracht wird und hierfür zur Verfügung steht. Das korporative Agio nimmt insofern am System des Kapitalaufbringungsschutzes teil,41 allerdings nicht in vollem Umfang.42 Teilweise sind die Regeln sogar strenger (Volleinzahlungsgebot, § 36a Abs. 1 AktG). Zusammen mit den von der Gesellschaft erwirtschafteten Vermögenszuwächsen bilden die Einlageleistungen der Aktionäre einschließlich des von ihnen gezahlten Aufgeldes das Eigenkapital der Gesellschaft, den Überschuss ihres Aktivvermögens über ihre Verbindlichkeiten, der als Risiko- und Verlustpuffer im Gläubigerinteresse wirkt. Allerdings handelt es sich dabei nur um einen „reflexiven“ Schutz der Gesellschaftsgläubiger, der ganz davon abhängt, ob die Aktionäre solche zusätzlichen Leistungen überhaupt fordern. Wird aber ein über den geringsten Ausgabebetrag der Aktien hinausgehender Ausgabebetrag

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37 Ebenso BGH, AG 2012, 87, 88 (re. Sp.); Wiedemann (Fn. 31), § 183 AktG Rz. 82; Priester (Fn. 3), S. 623 f.; a. A. Hüffer (Fn. 5), § 183 AktG Rz. 16. 38 Dazu oben aa). 39 Vgl. Fn. 14. 40 Vgl. Text zu Fn. 15; wie hier Hüffer (Fn. 5), § 188 AktG Rz. 21; a. A. Wiedemann (Fn. 31), § 183 AktG Rz. 84 f.; Priester (Fn. 3), S. 624; Bayer in FS Ulmer (Fn. 15), S. 38; Hermanns, ZIP 2003, 788, 791 li. Sp.; offen gelassen in BGH, AG 2012, 87, 88 (re. Sp.). 41 Lutter in KölnKomm. AktG, Bd. 1, 2. Aufl., Stand: 1988, § 54 AktG Rz. 12. 42 Zur eingeschränkten registerrechtlichen Kontrolle der Deckung eines Aufgelds bei Sacheinlagen s. Text zu Fn. 15 und 40.

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festgelegt (bei Bezugsrechtsausschluss kann dies zum Schutz der durch Mehrheitsbeschluss vom Bezugsrecht ausgeschlossenen Aktionäre zwingend erforderlich sein), dann greifen die erwähnten zwingenden Aufbringungsvorschriften ein. Ergänzt werden die Festsetzungs- und Aufbringungsbestimmungen durch Normen über die Verwendung des Aufgelds. Es darf nur zur Verlustdeckung oder zur Kapitalerhöhung verwandt werden, nicht zum Ausweis und zur Ausschüttung von (Schein-)Gewinnen. Diese Verwendungsbeschränkungen dienen vorrangig, wie bereits erwähnt, dem Investorenschutz und damit einem kapitalmarktrechtlichen Zweck.43 Die von Ballerstedt in seiner grundlegenden Arbeit entwickelten vier Schutzrichtungen der aktienrechtlichen Vermögensbindung (Schutz der Gläubiger; Gleichbehandlung der Aktionäre; Zuständigkeit der Gesellschaftsorgane; voller Gewinnausweis)44 bedürfen insoweit einer kapitalmarktrechtlichen Ergänzung.45 Das ist im Folgenden näher darzustellen. c) Die Verwendung der Kapitalrücklage aa) Aufgeld und unterbewertete Sacheinlagen Der Ausgabeerlös, den die Gesellschaft bei der Emission von Aktien über deren Nennbetrag oder, bei Stückaktien, über deren anteiligen Betrag hinaus erzielt, darf nicht als Gewinn ausgewiesen und ausgeschüttet werden. Er kann freilich auch nicht auf das Grundkapital angerechnet werden, weil dessen Nennbetrag der Summe der Nennwerte der Nennbetragsaktien bzw. der anteiligen Beträge der Stückaktien entspricht. Daher ist für solche Fälle ein gesonderter Eigenkapitalposten „Kapitalrücklage“ zu bilden (§ 266 Abs. 3 A. II. HGB). Als Kapitalrücklage ist u. a. der Betrag auszuweisen, „der bei der Ausgabe von Anteilen … über den Nennbetrag oder, falls ein Nennbetrag nicht vorhanden ist, über den rechnerischen Wert hinaus erzielt wird“ (§ 272 Abs. 2 Nr. 1 HGB). Bereits die Motive zur Vorläufervorschrift des § 272 Abs. 2 Nr. 1 HGB im ADHGB (Art. 185b ADHGB i. d. F. der Aktienrechtsnovelle 1884) legen dar, dass das Agio einer Aktienausgabe – die Motive sprechen noch von „Gewinn“ – nicht „im gewöhnlichen Geschäftsverlaufe erzielt ist und deshalb nicht zur Verteilung als Dividende geeignet erscheint.“46 Diese Trennung zwischen Kapitalzuführung und betrieblichem Ertrag wird auch in den Motiven der folgenden Gesetzesänderungen immer wieder unterstrichen.47 Die Kapitaleinzahlungen sollen nicht „dazu benutzt werden, um in der Bilanz den Anschein eines zur beliebigen Verwendung geeigneten Gewinns hervorzurufen, während in Wirk-

__________ 43 Vgl. dazu oben Text zu Fn. 9. 44 Ballerstedt, Kapital, Gewinn und Ausschüttung bei Kapitalgesellschaften, 1949, S. 132 ff. 45 Zutreffend bereits Flechtheim in Düringer/Hachenburg, HGB (Fn. 4), § 213 HGB Anm. 1. 46 Entwurf eines Gesetzes, betreffend die KGaA und AG, 1884, Allgemeine Begründung, Abdruck bei Schubert/Hommelhoff (Fn. 12), S. 476; vgl. auch S. 454 f. 47 Wiedergabe bei Kropff, ZGR 1987, 285, 293; eingehende Darstellung bei Wilhelm (Fn. 9), S. 352 ff.

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lichkeit ein Gewinn überhaupt nicht oder doch nicht in solcher Höhe vorhanden ist.“48 Durch die Verbuchung als Kapitalrücklage, die nicht gewinnerhöhend aufgelöst werden darf, soll „verhindert werden, dass die Erhöhung des Grundkapitals lediglich in der Hand einer Koterie zur Agiotage benutzt wird.“49 Dieser Zweck der Kapitalrücklage erfordert, dass nicht nur ein ausdrücklich festgesetztes, „vereinbartes“ Aufgeld in die Kapitalrücklage eingestellt wird. Als Kapitalrücklage sind gemäß § 272 Abs. 2 Nr. 1 HGB vielmehr auch Beträge auszuweisen, die bei der Ausgabe von Aktien gegen Sacheinlagen über den geringsten Ausgabebetrag hinaus deshalb erzielt werden, weil der als Sacheinlage erworbene Gegenstand zu seinem höheren Zeitwert aktiviert wird.50 bb) Die Kapitalrücklage als Verlust- und Risikopuffer Die Vorschriften über die Anlage und Dotierung der Kapitalrücklage werden durch § 150 Abs. 2–4 AktG ergänzt, der die Verwendung der gebundenen Kapitalrücklagen (im Gegensatz zur „freien“ Kapitalrücklage nach § 272 Abs. 2 Nr. 4 HGB) regelt. Die Kapitalrücklagen nach § 272 Abs. 2 Nr. 1–3 HGB werden mit der gemäß § 150 Abs. 1, 2 AktG zu bildenden gesetzlichen Rücklage zu einem „gesetzlichen Reservefonds“ zusammengefasst.51 Dieser Reservefonds ist im Grundsatz der Ausschüttung an die Aktionäre entzogen. Eine vorschriftswidrige Auflösung der gebundenen Kapitalrücklage und Ausschüttung des in sie eingestellten Aufgelds als Gewinn wäre eine verbotene Einlagenrückgewähr (§§ 57 Abs. 1, 3; 62 AktG). Eine Ausschüttung kommt nur im Fall einer Liquidation oder einer Kapitalherabsetzung unter Befolgung der dabei zu beachtenden Gläubigerschutzbestimmungen in Betracht (vgl. dazu noch unten cc). Das in die Bilanzposition „gebundene Kapitalrücklage“ einzustellende korporative Aufgeld unterliegt also nicht nur, wie bereits gezeigt, weitgehend denselben Kapitalaufbringungsvorschriften wie die Einlagen und das aus ihnen aufgebrachte Grundkapital, sondern auch entsprechenden Kapitalerhaltungsvorschriften.52 Der Aufbau des gesetzlichen Reservefonds dient ausschließlich der Vorsorge gegen spätere Verluste und damit zunächst, solange eine Inanspruchnahme des Reservefonds wegen eingetretener Verluste nicht stattgefunden hat, als weiterer „Risikopuffer“ neben dem Grundkapital zugunsten der Fremdkapitalgeber und sonstigen Gläubiger der Gesellschaft. Übersteigt die Summe aus gesetz-

__________ 48 Denkschrift zum Entwurf eines HGB und eines Einführungsgesetzes. Reichstag, 9. Legislatur-Periode, IV. Session 1895/97, zu Nr. 632 S. 147. 49 Gesetzentwurf (Fn. 46), S. 476. 50 Hüttemann in Ulmer (Hrsg.), HGB-Bilanzrecht, 1. Teilband, 2002, § 272 Rz. 30 m. w. N.; Forster (u. a.) in Adler/Düring/Schmaltz, Rechnungslegung und Prüfung der Unternehmen, Teilband 5, 6. Aufl. 1997, § 272 HGB Rz. 95; vgl. auch die Nachweise oben Fn. 20. 51 So die Formulierung der Vorgängervorschrift zu § 150 AktG (§ 262 HGB a. F.) bis zur Aktienrechtsreform 1937. 52 Für das Vertragskonzernrecht s. die besondere Vorschrift des § 301 AktG, die eine Auflösung der Kapitalrücklage nach § 272 Abs. 2 Nr. 1 HGB zwecks Gewinnabführung ausschließt.

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licher Rücklage und den Kapitalrücklagen nach § 272 Abs. 2 Nr. 1–3 HGB nicht den zehnten oder den in der Satzung bestimmten höheren Teil des Grundkapitals, dann darf diese neben dem Grundkapital aufzubauende zusätzliche Reserve ausschließlich zum Ausgleich eines ungedeckten Jahresfehlbetrags oder zum Ausgleich eines ungedeckten Verlustvortrages aus dem Vorjahr verwandt werden; auflösbare Gewinnrücklagen sind vorab aufzulösen (§ 150 Abs. 3 AktG). Übersteigt der gesetzliche Reservefonds die erwähnte Mindestreserve, dann darf der übersteigende Betrag wiederum zum Ausgleich eines Jahresfehlbetrages oder eines Verlustvortrages aus dem Vorjahr verwandt werden, wobei hier Gewinnrücklagen nicht vorrangig aufgelöst werden müssen. Außerdem kann der übersteigende Betrag für eine Kapitalerhöhung aus Gesellschaftsmitteln eingesetzt werden (§ 150 Abs. 4 AktG). Werden die Mittel des gesetzlichen Reservefonds in der beschriebenen Weise zum Ausgleich eines Jahresfehlbetrages oder Verlustvortrages verwendet, hat sich seine Funktion als „Verlustpuffer“ zugunsten der Fremdkapitalgeber und sonstigen Gläubiger der Gesellschaft verwirklicht. Ist der gesetzliche Reservefonds für Zwecke der Abdeckung von Jahresfehlbeträgen ganz oder teilweise aufgebraucht worden, muss die gesetzliche Rücklage in der Folge wieder bis zur vorgesehenen Mindesthöhe aufgebaut werden. Für die Kapitalrücklage besteht eine solche Wiederauffüllungspflicht dagegen nicht. Insgesamt zeigt sich in den angeführten Verwendungsbestimmungen und Kapitalerhaltungsvorschriften die Gemeinsamkeit, aber auch ein Unterschied in den durch die Grundkapitalziffer und den durch die Kapitalrücklagen nach § 272 Abs. 2 Nr. 1–3 HGB gebundenen Vermögensbestandteilen der Gesellschaft: Vorrangig soll das gesamte gebundene Vermögen der Tilgung der Verbindlichkeiten der Gesellschaft dienen; eine Ausschüttung von Gesellschaftsvermögen an die Gesellschafter soll, von der Ausschüttung des hierfür verwendbaren Bilanzgewinns abgesehen, nicht erfolgen, bevor nicht die bestehenden Verbindlichkeiten getilgt, oder den Gläubigern Sicherheiten bestellt sind. Das bedeutet, dass Verluste sich vorrangig zu Lasten der Eigenkapitalgeber auswirken, deren Residualansprüche sich in ihrer Höhe danach bestimmen, was nach Abdeckung der Verluste und Tilgung der Verbindlichkeiten an Reinvermögen übrig bleibt.53 Der Unterschied zwischen Grundkapital und gebundenen Kapitalrücklagen besteht in Folgendem: Ist die Kapitalrücklage durch Verrechnung mit einem Jahresfehlbetrag oder Verlustvortrag verbraucht, muss sie nicht wieder aufgefüllt werden, bevor wieder Gewinne ausgeschüttet werden dürfen. Dagegen darf „keine Ausschüttung an die Aktionäre erfolgen, wenn bei Abschluss des letzten Geschäftsjahres das Nettoaktivvermögen, wie es der Jahresabschluss ausweist, den Betrag des gezeichneten Kapitals zuzüglich der (sc. noch nicht verbrauchten) Rücklagen, deren Ausschüttung das Gesetz oder die Satzung nicht gestattet, durch eine solche Ausschüttung unterschreitet

__________ 53 Eingehender zu Begriff, Aufgaben und Sicherung des Eigenkapitals und seiner Positionen Baums, ZHR 175 (2011), 160 ff.

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oder unterschreiten würde.“54 Anders formuliert muss zumindest das bereits durch frühere Verluste angegriffene Grundkapital wieder aufgefüllt werden, bevor Gewinne ausgeschüttet werden können. cc) Kapitalerhöhung und Ausschüttung Nach § 150 Abs. 4 Nr. 3 AktG können Mittel des gesetzlichen Reservefonds, soweit sie zusammen den zehnten oder den in der Satzung bestimmten höheren Teil des Grundkapitals übersteigen, zu einer Kapitalerhöhung aus Gesellschaftsmitteln (§§ 207 ff. AktG) verwandt werden. Hierbei handelt es sich nicht lediglich um eine bloße rechtlich bedeutungslose Eigenkapitalumschichtung. Sondern die vordem dem Rücklagenregime unterliegenden Vermögensbestandteile werden dadurch einem neuen Rechtsregime, den für das Grundkapital geltenden Bindungen, unterstellt, es werden dadurch aber auch weitere Gestaltungsmöglichkeiten eröffnet. Auf diesem Wege können nämlich den bisherigen Aktionären neue, in Zukunft gleichfalls dividendenberechtigte Zusatzaktien oder sog. Gratisaktien („stock dividends“) zugewendet werden.55 Überdies ist eine Kapitalerhöhung, gefolgt von einer Kapitalherabsetzung unter Beachtung der Gläubigerschutzkautelen des § 225 AktG, der einzige Weg, auf dem eine Ausschüttung des in der Kapitalrücklage gebundenen Vermögens, d. h. des Mehrbetrags im Sinne des § 150 Abs. 4 Satz 1 AktG, an die Aktionäre der Gesellschaft bewirkt werden kann.56 Wird einzelnen Aktionären ein entsprechender Vorzug eingeräumt (vgl. § 11 AktG), lässt sich auch eine quotenabweichende Ausschüttung der Rücklage ermöglichen.57

II. Das „schuldrechtliche“ Aufgeld und sonstige bare Zuzahlungen 1. Fälle Die Frage ist, ob sich ein Investor oder Aktionär anlässlich der Gründung der Gesellschaft oder seines späteren Beitritts zusätzlich zu seiner Einlage zu weiteren Zahlungen auf das Eigenkapital verpflichten kann, ohne dass diese

__________ 54 So die Formulierung des Art. 15 (1) a) der Kapitalrichtlinie (oben Fn. 14), die zwar hinter den Ausschüttungsschranken des AktG (vgl. §§ 57 Abs. 3, 58 Abs. 4 AktG) zurückbleibt (s. nur Habersack, Europäisches Gesellschaftsrecht, 3. Aufl. 2006, § 6 Rz. 33 m. N.), aber deutlicher als das Aktiengesetz zum Ausdruck bringt, dass vor einer Wiederauffüllung des durch Verluste angegriffenen gezeichneten Kapitals eine Gewinnausschüttung ausscheidet; s. auch T. Bezzenberger (Fn. 8), S. 18 f.; 175. – Bis zur Aktienrechtsnovelle 1884 war dieser dem § 30 GmbHG entsprechende Grundsatz auch für das Aktienrecht im ADHGB ausdrücklich ausgesprochen; dazu und zu den Gründen für die Streichung Wilhelm (Fn. 9), S. 351 f. 55 Zu den Gründen einer Kapitalerhöhung aus Gesellschaftsmitteln Hirte in Großkomm. AktG, Bd. 6, 4. Aufl., 9. Lfg. 1998, § 207 AktG Rz. 35 ff. 56 Kropff in MünchKomm. AktG, Bd. 5/1, 2. Aufl. 2003, § 150 AktG Rz. 24; Weiss, BB 2005, 2697 ff. Rechtspolitische Kritik an der Ausschüttungssperre für Kapitalrücklagen bei von Falkenhausen, NZG 2009, 1096 ff. 57 Zu den Anlässen, zur Zulässigkeit und den Möglichkeiten einer quotenabweichenden Rücklagenzuordnung Priester in GS Knobbe-Keuk, 1997, S. 293 ff.

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weiteren Zahlungen als Bestandteil seiner Einlage, als Aufgeld in dem bisher erörterten Sinne, zu werten und zu behandeln sind. Hieran kann aus mehreren Gründen ein Interesse bestehen. Bei Wagniskapitalfinanzierungen soll das vom Wagniskapitalgeber, in der Regel einer Fondsgesellschaft, in Aussicht gestellte Eigenkapital nicht sofort zur Verfügung gestellt werden, sondern sukzessiv („staged financing“), jeweils nach Erreichen bestimmter überprüfbarer, vertraglich festgelegter Zwischenziele („mile stones“).58 Eine unbedingte Bareinlagepflicht, die zunächst zur Zahlung eines Viertels des gezeichneten Nennbetrages (§ 36a Abs. 1 AktG) verpflichtet, und deren Fälligkeit im Übrigen von der Aufforderung des Vorstands zur Einzahlung abhängt (§ 63 Abs. 1 Satz 1 AktG), ist nicht gewollt. Auch mehrere zeitlich gestaffelte, bereits bei Gründung in Aussicht genommene Barkapitalerhöhungen sollen wegen des damit verbundenen Aufwands und der damit verbundenen Probleme (Bezugsrechtsausschluss; § 187 AktG) vermieden werden. Das zusätzlich zum Mindestkapital in Aussicht gestellte Eigenkapital kann auch nicht als sukzessiv einzuzahlendes Aufgeld versprochen werden, weil das Aufgeld kraft zwingender Vorschrift sofort nach Zeichnung der Aktien zur Gänze zur Verfügung gestellt werden muss (§§ 36a Abs. 1, 188 Abs. 2 Satz 1 AktG). Abgesehen von dieser für Wagniskapitalfinanzierungen typischen Gestaltung mag die Festsetzung eines „korporativen“ Aufgelds in dem eingangs unter I. behandelten Sinne mit den sich daraus ergebenden rechtlichen Folgen auch in weiteren Fällen unpassend erscheinen. Zum Beispiel kann den Beteiligten daran liegen, dass der Investor der Gesellschaft zusätzlich zum Ausgabebetrag einen verlorenen Zuschuss zur Verfügung stellen soll, der aber nicht der mit einer förmlichen Agiofestsetzung verbundenen Registerpublizität ausgesetzt werden soll.59 Eine förmliche Festsetzung als korporatives Agio führt zu weiteren Beschränkungen: Sie erfordert einlagefähige Leistungen zur Abdeckung dieses Mehrbetrages. Der Mehrbetrag muss entweder durch eine Bareinlage abgedeckt werden oder durch eine Sacheinlage, die einer entsprechenden Werthaltigkeitsprüfung unterworfen werden kann (vgl. § 27 Abs. 2 AktG). Damit scheiden Dienstleistungen und sonstige Leistungen, soweit sie nicht zur Übertragung einlagefähiger Vermögensgegenstände an die Gesellschaft führen, als Aufgeld, als zusätzlicher Bestandteil der „Gegenleistung“ für die Überlassung der Aktien an den Investor, aus. Priester berichtet dazu folgenden Fall aus der Praxis: An einer sog. Start-up AG beteiligt sich ein branchenverwandtes Großunternehmen, übernimmt Aktien gegen eine Bareinlage mit einem erheblichen, ebenfalls in Geld zu leistenden Agio und verpflichtet sich der Gesell-

__________ 58 Dazu Baums/Möller in Baums/Hopt/Horn (Hrsg.), Corporations, Capital Markets and Business in the law, Liber amicorum Richard M. Buxbaum, 2000, S. 33, 36 ff.; Baums/Möller in Hommel/Knecht (Hrsg.), Wertorientiertes Start-up Management, 2002, S. 396, 398 ff.; Gerber, MittBayNot 2002, 305; Möller, Rechtsformen der Wagnisfinanzierung, 2003, S. 52 ff.; Becker, NZG 2003, 510, 511. 59 Priester in FS Röhricht, 2005, S. 467, 468.

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schaft daneben zu unentgeltlichen Werkleistungen aus der eigenen Angebotspalette. Erst aufgrund der Zusage dieser Nebenleistungen in einer den Ausgabebetrag der Aktien deutlich übersteigenden Höhe erklären die Altaktionäre die Gegenleistung der Zeichnerin für angemessen.60 Die folgenden Überlegungen beschränken sich allerdings auf Zuzahlungen in Geld. Bei Sachleistungen und bei nicht einlagefähigen zusätzlichen Leistungen stellen sich weitere Fragen, die hier nicht behandelt werden können.61 2. Zulässigkeit: Überblick Bei den sonstigen Zuzahlungen in dem erwähnten Sinne handelt es sich nach den Vorstellungen und dem Willen der Beteiligten nicht um Zahlungsvorgänge im Rahmen einfacher, ohne Weiteres möglicher individualvertraglich begründeter Drittbeziehungen, sondern um Leistungen, die societatis causa, als Beiträge zur Förderung des Gesellschaftszwecks, erbracht werden sollen. Allerdings sollen sie nicht der Erfüllung der Einlagepflicht dienen: Anders als ein korporatives Aufgeld, das ja auf den geringsten Ausgabebetrag der Aktien aufgeschlagen wird und der Kapitalaufbringungsprüfung unterliegt (vgl. oben I. 3. b)), sollen die hier in Rede stehenden Zuzahlungen hiervon ausgenommen sein. Das wirft zunächst die grundsätzliche Frage auf, ob in der Aktiengesellschaft neben einer Einlageleistung sonstige Förderleistungen societatis causa überhaupt in Betracht kommen, insbesondere, ob es sich bei einer Geldleistung, die zur Förderung des Gesellschaftszwecks erbracht wird, nicht per se um eine Einlage handelt, deren Aufbringung und sonstige Behandlung dann den entsprechenden zwingenden Normen unterstellt ist (dazu unten 3.). Es wird sich zeigen, dass auch im Aktienrecht zwischen der Einlageleistung und sonstigen Leistungen getrennt werden kann, welche ein Aktionär durch individualvertragliche Verpflichtung zwecks Förderung der Gesellschaft übernimmt. Neben die korporative Einlagepflicht einerseits und solche Leistungspflichten andererseits, die aus einer individualvertraglich zwischen dem Aktionär und der Gesellschaft begründeten schlichten Drittbeziehung herrühren, tritt demnach die durch Individualvertrag begründete Beitragspflicht des Aktionärs als weitere Gestaltungsvariante hinzu. Die wesentlichen Besonderheiten, auf die in diesem Zusammenhang einzugehen ist, sind die Folgenden: Erstens sind solche Zusatzleistungen nicht Gegenstand der Mitgliedschaft, gehen also auch nicht mit dieser auf einen Erwerber über. Dieses Prinzip und die Gründe hierfür sind unter 4. darzustellen. Zweitens müssen solche Leistungen mit den zwingenden Gläubigerschutzvorschriften des Aktienrechts vereinbar sein (dazu unten 5.). Drittens ist auf folgenden Gesichtspunkt einzugehen: Der Gesetzgeber hat die Einstellung des Aufgelds in eine Kapitalrücklage und die Verwendung dieser Rücklage nur zu den Zwecken des § 150 AktG angeordnet, um eine „Agiotage“, den Ausweis und die Ausschüttung von nicht betrieblich erzielten Scheingewinnen sowie die damit

__________ 60 Priester (Fn. 3), S. 617, 625. 61 Dazu m. w. N. Priester (Fn. 3), S. 617, 625 ff.; Herchen (Fn. 13), S. 381 ff.

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u. U. verbundene Investorentäuschung zuverlässig auszuschalten. Damit stellt sich die Frage, ob dies auch für das schuldrechtliche Agio gilt (unten 6.). Die hier in Rede stehenden Zuzahlungen werden im Folgenden im Unterschied zu dem oben behandelten „korporativen“ oder „mitgliedschaftlichen“ Aufgeld mit der eingebürgerten Terminologie auch als „schuldrechtliches Aufgeld“ oder „schuldrechtliche Zuzahlungen“ bezeichnet. Diese Bezeichnungen bringen zum Ausdruck, dass ihre Begründung, anders als das „korporative“ Aufgeld, nicht auf Gesellschaftsvertrag oder satzungsänderndem Beschluss beruht, sondern auf individualvertraglicher Vereinbarung, und dass die Leistungspflicht nicht Bestandteil der Mitgliedschaft ist und nicht mit dieser ipso iure auf den Rechtsnachfolger übergeht, sondern dass es sich um eine individuelle Verpflichtung handelt. 3. Einlagen und sonstige Beiträge Im Gesellschaftsrecht sind Einlagen und sonstige Beiträge des Gesellschafters zu unterscheiden.62 Bei den „sonstigen Beiträgen“ handelt es sich zum einen darum, der Gesellschaft nicht einlagefähige Gegenstände zur Verfügung zu stellen. Zum anderen kann, darüber hinausgehend, jedes zweckfördernde Tun und Unterlassen hierzu gerechnet werden. So kann auch das Zurverfügungstellen eines Kredits oder einer stillen Einlage ein „sonstiger Beitrag“ sein.63 Auch mit Verlusten zu verrechnendes Eigenkapital kann mittels „sonstiger Beiträge“, durch Geldzahlung oder durch Leistung von Vermögensgegenständen, die Gegenstand einer Sacheinlage sein könnten, zur Verfügung gestellt werden, nämlich wenn diese Leistungen einerseits nicht den besonderen Regeln über Einlagen unterfallen sollen, sie andererseits aber zur Förderung des Gesellschaftszwecks versprochen werden, und es sich nicht um eine unzulässige Umgehung der Vorschriften über die Aufbringung und Erhaltung der Einlagen handelt. Im Aktienrecht sind insoweit zunächst die besonderen Vorschriften der §§ 54 Abs. 1, 55 AktG zu beachten. Danach wird „die Verpflichtung der Aktionäre zur Leistung der Einlagen durch den Ausgabebetrag der Aktien begrenzt“ (§ 54 Abs. 1 AktG). Nur den Inhabern vinkulierter Aktien kann die Satzung die Verpflichtung auferlegen, neben den Einlagen auf das Grundkapital wiederkehrende, nicht in Geld bestehende Leistungen zu erbringen (§ 55 Abs. 1 AktG). Andere Verpflichtungen können Aktionären nicht auferlegt werden. Die §§ 54 Abs. 1, 55 AktG schließen aber die Begründung weiterer Beitragspflichten, die dann allerdings nicht zum Inhalt der Mitgliedschaft rechnen, durch individualvertragliche Vereinbarung nicht aus.64 Für eine entsprechende Beschränkung der Vertragsfreiheit ist kein Grund ersichtlich. Eine positivrechtliche Bestätigung mag man der Vorschrift des § 272 Abs. 2 Nr. 4 HGB entnehmen. Nach

__________ 62 Übersicht über die Literatur hierzu bei K. Schmidt (Fn. 2), § 20 II. 63 K. Schmidt (Fn. 2), § 20 II. 2. e) m. N.; zu „Finanzplankrediten“ (im GmbH-Recht) BGHZ 142, 116 ff. 64 Gesondert und eingehend dazu unten 4.

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dieser Vorschrift sind sonstige Zuzahlungen, die Gesellschafter einer Kapitalgesellschaft neben ihren Einlagen und Aufgeldern in das Eigenkapital leisten, in der Bilanz als Kapitalrücklage auszuweisen. In den betreffenden Fällen übernimmt ein Gründer oder, bei Kapitalerhöhung, ein Aktionär oder dritter Investor zusätzlich zu seiner Einlageverpflichtung eine weitere Leistung societatis causa, eine weitere vertraglich begründete Beitragsleistung.65 Eine solche Verpflichtung kann auch unabhängig von der Gründung und einer Kapitalerhöhung begründet und übernommen werden.66 Die Bezeichnung solcher Zusatzleistungen eines Gesellschafters als schuldrechtliches „Aufgeld“67 oder schuldrechtliches „Agio“ darf daher nicht missverstanden werden. Bei dem Gegenstand einer solchen individualvertraglichen Verpflichtung kann es sich wie im Fall einer Bar- oder Sacheinlage um einen veräußerbaren und bewertungsfähigen Gegenstand handeln; der Aktionär kann sich aber auch z. B. zum Abschluss eines Darlehensvertrages oder eines Vertrages über die Gewährung einer stillen Einlage verpflichten. Im letzteren Fall hat der Darlehensvertrag bzw. der Vertrag über die stille Einlage seinerseits einen besonderen selbständigen Rechtsgrund,68 nämlich die causa societatis. 4. Umlauffähigkeit der Aktie und Schutz der Mitaktionäre a) Standardisierung der Aktionärspflichten; Schutz nachfolgender Erwerber aa) Zunächst ist näher auf die besonderen Vorschriften der §§ 54 Abs. 1, 55 AktG einzugehen, die die Begründung weiterer Beitragspflichten durch individualvertragliche Vereinbarung auszuschließen scheinen. Nach § 54 Abs. 1 AktG wird „die Verpflichtung der Aktionäre zur Leistung der Einlagen durch den Ausgabebetrag der Aktien begrenzt“. Nur den Inhabern vinkulierter Aktien kann die Satzung die Verpflichtung auferlegen, neben den Einlagen auf das Grundkapital wiederkehrende, nicht in Geld bestehende Leistungen zu erbringen (§ 55 Abs. 1 AktG). Andere Verpflichtungen können Aktionären nicht auferlegt werden. In diesen Vorschriften bestätigt das AktG für die Aktiengesellschaft, als der reinen Form des „kapitalistischen“ Typus der Gesellschaft, einerseits, dass sich der Aktionär mit einer Kapitaleinlage, d. h. mit einer Bar- oder Sacheinlage, zu beteiligen hat, und schließt andererseits, anders als z. B. das GmbHRecht (§ 3 Abs. 2 GmbHG), aus, dass dem Aktionär über die Einlagepflicht und ggfs. die Pflicht zu wiederkehrenden Leistungen gemäß § 55 AktG hinaus

__________ 65 A. A. Herchen (Fn. 13), S. 308 ff. Nach Herchen soll es sich bei allen Leistungen zur Förderung des Gesellschaftszwecks um mit der Mitgliedschaft untrennbar verbundene, „korporative“ Pflichten handeln. 66 S. etwa den von Schulze-Osterloh in FS Claussen, 1997, S. 769 ff. erörterten Fall. 67 S. Wagner, DB 2004, 293, 294 ff.; Hermanns, ZIP 2003, 788, 789, 791 f.; Mellert, NZG 2003, 1096; Weitnauer, NZG 2001, 1065, 1068. 68 Allgemein zu kausalen Rechtsgeschäften mit einer weiteren causa Flume, Das Rechtsgeschäft, 3. Aufl. 1979, § 12 I. 1., S. 154.

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sonstige Pflichten, insbesondere eine Pflicht zu „sonstigen Beiträgen“, auferlegt werden können. Eine Geld- oder Sachleistung kann dem Aktionär daher nur als Gegenstand seiner Einlagepflicht mit der Folge der Anwendbarkeit der hieran anknüpfenden Normen zur Aufbringung und Erhaltung dieser Einlagen (dazu oben I.), nicht als „sonstiger Beitrag“, auferlegt werden. Die Beschränkungen gemäß §§ 54 Abs. 1, 55 AktG betreffen aber nur die sog. mitgliedschaftlichen oder korporativen Pflichten, d. h. diejenigen Pflichten, die Bestandteil des Rechtsverhältnisses „Mitgliedschaft“ sind. Diese treffen den Aktionär „als solchen“ und gehen insbesondere ohne Weiteres mit der Mitgliedschaft auf einen Rechtsnachfolger über.69 Nur auf diese mitgliedschaftlichen Pflichten beziehen sich auch die Vorschriften der §§ 63 ff. AktG bei Nichterfüllung der Aktionärspflichten. Die §§ 54 Abs. 1, 55 AktG sollen – zusammen mit dem Volleinzahlungsgebot bei Vereinbarung eines korporativen Agio (§§ 36a, 188 Abs. 2 AktG) – sicherstellen, dass sich der Erwerber nur einer in ihrer maximalen Höhe aus der Aktie selbst oder aus der Satzung erkennbaren Zahlungspflicht gegenübersieht. Die mitgliedschaftlichen Pflichten des Aktionärs sind im Interesse der Umlauffähigkeit der Aktie standardisiert.70 Dieser Zweck der §§ 54 Abs. 1, 55 AktG schließt die schuldvertragliche Begründung weiterer individueller Beitragspflichten, die dann allerdings nicht zum Inhalt der Mitgliedschaft rechnen, also nicht ohne Weiteres auch einen Rechtsnachfolger treffen, nicht aus. Das entspricht denn auch nahezu allgemeiner Auffassung in Rechtsprechung71 und Literatur.72 Die Verpflichtung kann durch selbständigen schuldrechtlichen Vertrag zwischen den Gesellschaftern, zum Beispiel zwischen den Gründern der Gesellschaft, begründet werden, auch als Vertrag zugunsten der Gesellschaft (§ 328 BGB), aber auch durch Vertrag mit der durch den Vorstand vertretenen Gesell-

__________ 69 Zu letzterem etwa Bungeroth in MünchKomm. AktG, Bd. 2, 2. Aufl. 2003, § 54 AktG Rz. 12 m. N. 70 Noack, Gesellschaftervereinbarungen bei Kapitalgesellschaften, 1994, S. 128. 71 OLG München, WM 2007, 123, 126 li. Sp. (dazu BGH, ZIP 2008, 26 f.; vgl. auch BGHZ 185, 44, 60 f.); LG Mainz, ZIP 1986, 1323, 1328. Die in diesem Zusammenhang angeführten Entscheidungen des RG betreffen dagegen durchweg die Rübenlieferungspflicht vor und nach Einführung der Vorgängervorschrift zu § 55 AktG oder die GmbH. Wohl aber bezieht sich RGZ 84, 328 ff. auf einen Fall, in dem das RG allerdings gerade die gänzliche Unabhängigkeit der betreffenden schuldrechtlichen Verpflichtung des Aktionärs von seiner Aktionärsstellung angenommen hat. Mit der vom RG, RGZ 84, 328 ff., zugrunde gelegten Dichotomie: Einlage oder von der Aktionärsstellung unabhängige schuldvertragliche Vereinbarung lassen sich die dazwischen liegenden Fälle der Übernahme individueller Verpflichtungen societatis causa aber nicht erfassen. 72 Flechtheim in Düringer/Hachenburg (Fn. 4), § 211 HGB Anm. 7 ff.; Noack (Fn. 70), S. 128; Bungeroth (Fn. 69), § 54 AktG Rz. 30; Gerber, MittBayNot 2002, 305, 306 f.; Becker, NZG 2003, 510, 512 ff.; Wagner, DB 2004, 293, 295; Lüssow (Fn. 3), S. 38 ff.; Hüffer (Fn. 5), § 54 AktG Rz. 7 ff.; Priester (Fn. 59), S. 468 ff.; a. A. im älteren Schrifttum Rud. Fischer in Ehrenberg (Hrsg.), Hdb. des gesamten Handelsrechts, Bd. 3, 1. Abteilung, 1916, S. 376 ff.; in der neueren Lit. Herchen (Fn. 13), S. 308 ff.

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schaft selbst.73 In die Satzung sollte eine solche Verpflichtung nur mit der Klarstellung aufgenommen werden, dass es sich nicht um eine mitgliedschaftliche Pflicht handelt.74 Da solche individuellen Beitragspflichten nicht zum Inhalt der Mitgliedschaft rechnen, gehen sie nicht mit dieser ipso iure über, sondern müssen nach allgemeinen Regeln (§§ 414, 415 BGB) übertragen und übernommen werden. Die Vorschriften der §§ 63 ff. AktG greifen bei Nichterfüllung solcher Pflichten nicht ein.75 bb) Auch aus § 36a AktG (auf den § 188 Abs. 2 AktG für die Kapitalerhöhung verweist) lässt sich nicht ableiten, dass jedenfalls bei Gründung oder Kapitalerhöhung sonstige individualvertragliche Zusatzleistungen grundsätzlich unzulässig wären. Nach den genannten Vorschriften muss bei Bareinlagen ein Agio sofort zur Gänze eingezahlt werden. Daraus sind aber keine grundsätzlichen Bedenken gegen die Vereinbarung eines „schuldrechtlichen Agio“, das gerade nicht sofort eingezahlt werden soll, herzuleiten; es handelt sich nicht um eine Umgehung.76 Die Motive für das Volleinzahlungsgebot sind bereits oben angeführt worden: Zu geringe Einzahlungen böten keine genügende Gewähr für die spätere Einzahlung des Grundkapitals, begünstigten Gründungen, welche zum Zweck der Agiotage unternommen würden, und verleiteten in Kreisen, die sich mit Rücksicht auf ihr Vermögen und ihre Geschäftsunkenntnis von Aktienunternehmungen fernhalten sollten, in der Hoffnung auf schnelle Weiterübertragung der Aktien zu leichtsinnigen Zeichnungen.77 Da die Verpflichtung zur Zahlung eines „schuldrechtlichen Agio“ gerade nicht ohne Weiteres auch bei Singularsukzession einen Erwerber trifft, und der Aktionär, der die Verpflichtung übernommen hat, diese nicht durch rasche Weiterveräußerung der Aktie auf einen Dritten übertragen kann, stehen die erwähnten Gesetzeszwecke der Vereinbarung eines schuldrechtlichen Agio nicht entgegen.78 Auf den Gesichtspunkt der Förderung einer „Agiotage“ durch Vereinbarung eines individuellen Agio ist weiter unten (6.) zurückzukommen. Die §§ 36a Abs. 1, 188 Abs. 2 AktG sollen dagegen nicht etwa im Interesse der übrigen Aktionäre sicherstellen, dass eine über den geringsten Ausgabebetrag hinaus versprochene Zusatzzahlung in jedem Fall vor der Eintragung der Gesellschaft bzw. der Durchführung der Kapitalerhöhung zur freien Verfügung des Vorstands steht, um einer evtl. sich später ergebenden Zahlungsunfähigkeit des betreffenden Gründers oder Zeichners vorzubeugen. Auch ein Gläubigerschutz wird von diesen Vorschriften nur reflexiv bewirkt, ist aber nicht unmittelbar ihr Zweck.79

__________ 73 Hüffer (Fn. 5), § 54 AktG Rz. 7; Gerber, MittBayNot 2002, 305, 306 f.; Priester (Fn. 59), S. 469 f.; Fleischer in K. Schmidt/Lutter (Fn. 5), § 54 AktG Rz. 17; anders und nicht überzeugend die Differenzierung bei BayObLG, AG 2002, 510 f. = MittbayNot 2002, 304, 305 li. Sp. 74 Hüffer (Fn. 5), § 54 AktG Rz. 7. 75 Cahn/von Spannenberg in Spindler/Stilz (Fn. 13), § 54 AktG Rz. 32, 34. 76 Ebenso Schorling/Vogel, AG 2003, 86, 87 ff.; Mellert, NZG 2003, 1096, 1097. 77 Oben zu Fn. 12, dort auch Nachweis der Materialien. 78 Zutreffend Becker, NZG 2003, 510, 513 f. 79 Dazu näher unten 5.

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b) Schuldrechtliches Agio und Bezugsrechtsausschluss Nach dem Vorstehenden können die Aktionäre im Fall einer Kapitalerhöhung eine Ausgabe der neuen Aktien zum geringsten Betrag im Hinblick darauf beschließen, dass die Zeichner sich zur späteren Zahlung eines schuldrechtlichen Agio verpflichten.80 Praktisch spielt das außer in den Fällen der Wagniskapitalfinanzierung auch bei Beteiligungsfonds in der Rechtsform einer AG („draw down“ erst im Zeitpunkt des Erwerbs von Beteiligungen) eine Rolle.81 Im Fall eines Bezugsrechtsausschlusses ist der gewählte Ausgabebetrag vom Vorstand entsprechend, d. h. unter Hinweis auf die zusätzlich übernommene Zahlungsverpflichtung des Zeichners, zu begründen (§ 186 Abs. 4 Satz 2 AktG). Eine Volleinzahlung des schuldrechtlichen Agio vor Anmeldung ist nicht erforderlich, weil dieses nicht zum Ausgabebetrag im Sinne der §§ 188 Abs. 2, 36a Abs. 1 AktG rechnet. Da zwar ein korporatives Agio vor der Anmeldung aus den oben unter 1. angeführten Gründen voll eingezahlt werden muss, nicht dagegen ein schuldrechtliches Agio, kann sich eine registerrechtliche Prüfung nur darauf beziehen, ob eine „Einlage“, ein „korporatives Agio“, vereinbart ist und die hierfür geltenden Vorschriften beachtet sind.82 Insbesondere sollen die §§ 188 Abs. 2, 36a Abs. 1 AktG nicht im Interesse der übrigen Aktionäre sicherstellen, dass eine über den geringsten Ausgabebetrag hinaus versprochene Zusatzzahlung in jedem Fall vor der Eintragung der Durchführung der Kapitalerhöhung zur freien Verfügung des Vorstands steht, um einer evtl. sich später ergebenden Zahlungsunfähigkeit des betreffenden Zeichners vorzubeugen. Auch ein Gläubigerschutz wird von diesen Vorschriften nur reflexiv bewirkt, ist aber nicht unmittelbar ihr Zweck.83 Dagegen ergeben sich bei einer solchen Gestaltung auf den ersten Blick Schwierigkeiten im Hinblick auf § 255 Abs. 2 AktG.84 Ist der im Kapitalerhöhungsbeschluss genannte Ausgabebetrag der geringste Betrag im Sinne des § 9 Abs. 1 AktG, dann ist dieser regelmäßig unangemessen niedrig, wenn man das nur schuldrechtliche Agio nicht mit einbezieht. Allerdings wird sich ein Anfechtungskläger, der sich auf die Unangemessenheit der Ausgabe zu dem im Beschluss genannten geringsten Ausgabebetrag beruft, die Zusage eines schuld-

__________ 80 Ebenso Priester (Fn. 3), S. 629 ff.; Priester (Fn. 59), S. 470 ff.; Schorling/Vogel, AG 2003, 86 ff.; a. A. Herchen (Fn. 13), S. 315 ff. 81 Becker, NZG 2003, 510, 511. 82 So i. E. wohl auch, wenn auch nicht überzeugend differenzierend (vgl. bereits oben Fn. 73) BayObLG, AG 2002, 510 f. = MittbayNot 2002, 304 ff.; eingehend zur registerrechtlichen Behandlung Hüffer (Fn. 5), § 36a AktG Rz. 2a m. w. N. 83 Dazu noch unten 5. 84 Hermanns, ZIP 2003, 788, 791 sieht eine weitere Schwierigkeit eines schuldrechtlichen, mit der Gesellschaft vereinbarten Agios darin begründet, dass eine solche Vereinbarung durch Aufhebungsvertrag zwischen dem betreffenden Investor und der Gesellschaft wieder aufgehoben werden könne; dies gefährde die Rechte der vom Bezugsrecht ausgeschlossenen Aktionäre. Einer solchen Gefährdung der berechtigten Interessen der Aktionäre stehen aber die Pflichten und die Haftung des Vorstands entgegen. Vgl. dazu auch § 204 AktG, wonach beim genehmigten Kapital ohne und mit Bezugsrechtsausschluss ebenfalls der Vorstand über die Bedingungen der Aktienausgabe und damit über das Aufgeld entscheidet.

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rechtlichen Aufschlags, sofern dies insgesamt zu einem angemessenen Gesamtausgabebetrag führt, entgegenhalten lassen müssen.85 5. Kapitalaufbringung und Gläubigerschutz Die Vorschriften über die Aufbringung eines korporativen Agios und die Verwendung der hieraus zu bildenden Kapitalrücklage sichern die Stärkung des Eigenkapitals und damit des Haftungsfonds der Gesellschaft (eingehend oben I. 3.). Sie wirken sich damit zugunsten der Gläubiger der Gesellschaft aus. Die für das korporative Agio geltenden Aufbringungsvorschriften sind auf das schuldrechtliche Agio nicht anzuwenden. Damit stellt sich die Frage, ob Gründe des Gläubigerschutzes die Vereinbarung einer nichtkorporativen Zuzahlung bei Gründung oder Kapitalerhöhung ausschließen. Das ist zu verneinen.86 Bei Gründung der Gesellschaft steht es den Gründern frei, einen höheren als den geringsten Ausgabebetrag der Aktien festzulegen. Wenn § 36a Abs. 1 AktG bei Bargründung fordert, dass ein Mehrbetrag vor der Anmeldung zur Gänze eingezahlt werden muss, beruht dies nicht auf Erwägungen des Gläubigerschutzes, sondern dient dem Schutz der Investoren selbst, späterer Aktienerwerber und des Kapitalmarkts; die damit verfolgten Schutzzwecke sind nicht berührt, wenn individualvertraglich individuelle Zuzahlungen versprochen werden.87 Dagegen soll § 36a AktG nicht etwa im Interesse der Gesellschaftsgläubiger sicherstellen, dass eine über den geringsten Ausgabebetrag hinaus versprochene Zusatzzahlung in jedem Fall vor der Eintragung der Gesellschaft bzw. der Durchführung der Kapitalerhöhung zur freien Verfügung des Vorstands steht, um einer evtl. sich später ergebenden Zahlungsunfähigkeit des betreffenden Gründers oder Zeichners vorzubeugen. § 36a Abs. 1 AktG führt zwar reflexiv insoweit zu einer Verbesserung des Gläubigerschutzes, als er zu einer Erhöhung des Haftungsfonds der Gesellschaft beiträgt. Ob es aber überhaupt dazu kommt, ist in das Belieben der Gründer gestellt, die auf ein Aufgeld im Sinne dieser Vorschrift auch ganz verzichten oder eben auch auf eine schuldrechtliche Zuzahlung ausweichen können. Aus diesen Gründen steht auch nichts entgegen, wenn die zusätzliche, individualvertraglich vereinbarte Zahlung unter die aufschiebende Bedingung gestellt wird, dass die Gesellschaft zunächst die Forderung eines mit dem Investor verbundenen Unternehmens gegen die Gesellschaft tilgt. Die Leistung des schuldrechtlichen Agios hängt

__________ 85 So auch Priester (Fn. 59), S. 473; Mellert, NZG 2003, 1096 f.; i. E. auch Lüssow (Fn. 3), S. 185 ff.; anders wohl Becker, NZG 2003, 510, 514. 86 Ebenso die ganz h. M., die von der Zulässigkeit individualvertraglich vereinbarter Zuzahlungen ausgeht; Nachweise oben Fn. 71, 72; ausdrücklich zu Aspekten des Gläubigerschutzes in diesem Zusammenhang: Priester (Fn. 3), S. 627 f.; Priester (Fn. 59), S. 471; Mellert, NZG 2003, 1096, 1097 li. Sp.; Becker, NZG 2003, 510, 513, 514; Herchen (Fn. 13), S. 325 ff.; vgl. zur GmbH auch BGHZ 185, 44, 60 f. 87 Oben 4. a) bb).

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nämlich nicht davon ab, dass der betreffende Betrag dem Vorstand wie eine Bareinlage (vgl. § 37 Abs. 1 Satz 2 AktG) zur „freien Verfügung“ gestellt wird.88 Dieselben Erwägungen gelten bei Ausgabe von Aktien für einen höheren Wert als den geringsten Ausgabebetrag im Fall einer Sacheinlage (§ 36a Abs. 2 Satz 3 AktG) und entsprechend für Bar- und Sachkapitalerhöhungen mit Ausgabe der Aktien mit einem Aufgeld. Richtig ist zwar, dass bei Kapitalerhöhung mit Bezugsrechtsausschluss die zwingenden Vorkehrungen der §§ 186 Abs. 4 Satz 2, 255 Abs. 2 AktG bewirken sollen, dass die Aktien nicht zu einem unangemessen niedrigen Ausgabebetrag ausgegeben werden. Auch diese Vorschriften bezwecken aber lediglich den Schutz der vom Bezugsrecht ausgeschlossenen Aktionäre und dienen nur reflexiv den Interessen der Gläubiger. Das zeigt sich auch daran, dass ein überstimmter Aktionär auch darauf verzichten kann, das Fehlen eines angemessenen „korporativen“ Aufgelds mit der Anfechtungsklage zu rügen. Eine Gefährdung der Gläubiger kann auch nicht daraus abgeleitet werden, dass diese über den der Gesellschaft bei Gründung oder Kapitalerhöhung zugeflossenen Betrag getäuscht würden. Denn aus den in diesem Zusammenhang zum Handelsregister einzureichenden Unterlagen ergibt sich regelmäßig lediglich der Ausgabebetrag einschließlich des korporativen Agio.89 Ist die Investorenvereinbarung zusätzlich mit zum Handelsregister eingereicht worden,90 oder ergibt sich aus dem Bericht des Vorstands gemäß § 186 Abs. 4 Satz 2 AktG oder aus sonstigen Unterlagen, dass individualvertraglich Zusatzzahlungen vereinbart sind, wird zugleich ersichtlich sein, dass es sich dabei nicht um ein „korporatives“, sofort zur Gänze zur Verfügung zu stellendes Agio handelt. 6. Einstellung in den gesetzlichen Reservefonds (§ 150 AktG)? Es bleibt die Frage, ob das schuldrechtliche Agio wie das korporative Aufgeld in die gebundene Kapitalrücklage nach § 272 Abs. 2 Nr. 1 HGB eingestellt werden muss, oder ob es gegen eine freie Kapitalrücklage nach § 272 Abs. 2 Nr. 4 HGB gebucht werden kann.91 Das bilanzrechtliche Schrifttum spricht sich für eine Verbuchung auch eines schuldrechtlichen Agio gegen eine gebundene Kapitalrücklage nach § 272 Abs. 2 Nr. 1 HGB aus, es sei denn, dass die individualvertraglich vereinbarte Leistung des Gesellschafters nicht als Gegen-

__________ 88 OLG München, WM 2007, 123, 126; dazu BGH, ZIP 2008, 26, 27; vgl. auch BGHZ 185, 44, 60 f. 89 OLG München, WM 2007, 123, 126 re. Sp.; Becker, NZG 2003, 510, 513. 90 Vgl. dazu BayObLG, AG 2002, 510 f. = MittbayNot 2002, 304 ff.; dazu oben Fn. 82. 91 Für Verbuchung gegen die freie Kapitalrücklage nach § 272 Abs. 2 Nr. 4 HGB überwiegend das gesellschaftsrechtliche Schrifttum; s. Priester (Fn. 3), S. 629; Mellert, NZG 2003, 1096, 1098; Wagner, DB 2004, 293, 296 f.; Herchen (Fn. 13), S. 327 ff., die freilich u. a. hieraus die Unzulässigkeit eines schuldrechtlichen Agios ableiten will; w. N. bei Becker, NZG 2003, 510, 515 Fn. 41, 42. Ebenso aus der Rspr. OLG München, WM 2007, 123, 126 li. Sp. (obiter dictum).

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leistung für den Erwerb von Anteilen aufgefasst werden könne, sondern nur „gelegentlich“ einer Anteilsemission vereinbart worden sei.92 Nach § 272 Abs. 2 Nr. 4 HGB ist „der Betrag von anderen Zuzahlungen, die Gesellschafter in das Eigenkapital leisten“, in der Bilanz als Kapitalrücklage auszuweisen. Folge des Ausweises als Kapitalrücklage gemäß § 272 Abs. 2 Nr. 4 HGB ist, dass die Vorschriften des § 150 AktG über den Aufbau und die Verwendung des gesetzlichen Reservefonds nicht anzuwenden sind, denn § 150 AktG betrifft nur die gebundenen Kapitalrücklagen nach § 272 Abs. 2 Nr. 1–3 HGB (und damit das „korporative“ Agio93), nicht die freie Kapitalrücklage nach § 272 Abs. 2 Nr. 4 HGB. Da die Geltung des § 150 AktG für das sog. schuldrechtliche Aufgeld demnach von dieser Bilanzierungsfrage abhängt, soll zum Schluss hierauf kurz eingegangen werden. Der Wortlaut des § 272 Abs. 2 Nr. 1, 4 HGB lässt keine eindeutige Entscheidung der hier gestellten Frage zu. Die Kapitalrichtlinie überlässt es dem nationalen Gesetzgeber festzulegen, ob Aufgelder und sonstige Zuzahlungen der Aktionäre gebundenen oder ausschüttungsfähigen Rücklagen zugeführt werden.94 Die Entstehungsgeschichte des § 272 Abs. 2 Nr. 4 HGB spricht dagegen, unter diese Vorschrift auch das schuldrechtliche Agio zu fassen. In der Debatte um die Einführung einer weiteren, „freien“ Kapitalrücklage ging es nicht um korporative oder schuldrechtliche Zusatzzahlungen im Zusammenhang mit der Emission von Anteilen, sondern um die bilanzielle Behandlung verdeckter Zuwendungen eines Gesellschafters, für die dieser keine Anteile oder Vorzüge im Sinne des § 272 Abs. 2 Nr. 1–3 HGB erhielt.95 Bis zum Bilanzrichtliniengesetz waren verdeckte Zuwendungen und sonstige nicht von § 272 Abs. 2 Nr. 1–3 HGB erfasste Zahlungen eines Gesellschafters als außerordentliche Erträge (vgl. § 275 Abs. 2 Nr. 15 bzw. § 275 Abs. 3 Nr. 14 HGB) zu verbuchen. Der Gesetzgeber des Bilanzrichtliniengesetzes sah im Ausweis von Gesellschafterleistungen als Ertrag der Gesellschaft dagegen einen Widerspruch zur Informationsfunktion der Bilanz. Daher wurde eine weitere, „freie“ Rücklage geschaffen, in welche seither sonstige Zuzahlungen einzustellen sind, die nicht bereits von § 272 Abs. 2 Nr. 1–3 HGB erfasst werden, allerdings mit einer (sich nur aus den Gesetzesmotiven ergebenden) Einschränkung, nämlich wenn der Gesellschafter eine unmittelbar erfolgswirksame Zahlung bewirken wollte, wie dies zum Beispiel bei einer Zahlung zum Ausgleich eines Bilanzverlusts der Fall ist.

__________ 92 Forster (u. a.) in Adler/Düring/Schmaltz (Fn. 50), § 272 HGB Rz. 90; Reiner in K. Schmidt (Hrsg.), MünchKomm. HGB, Bd. 4, 2008, § 272 HGB Rz. 39, 67; Singhof in von Wysocki u. a. (Hrsg.), Handbuch des Jahresabschlusses, Abt. III/2, Das Eigenkapital der Kapitalgesellschaften, Lieferung 2008, Rz. 114; wohl auch Förschle/ Hoffmann in Beck’scher Bilanz-Kommentar, 7. Aufl. 2010, § 272 HGB Rz. 170; eingehend so auch Becker, NZG 2003, 510, 515 f. 93 S. oben I. 3. c). 94 Str.; wie hier T. Bezzenberger (Fn. 8), S. 27; Schall, Kapitalgesellschaftsrechtlicher Gläubigerschutz, 2009, S. 35 f. m. w. N. 95 Näher zur Entstehungsgeschichte Schneeloch, BB 1987, 481, 486; Küting/Kessler, BB 1989, 25, 29 f.; Schulze-Osterloh (Fn. 66), S. 774 f.

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Infolge dieser Änderung durch das Bilanzrichtliniengesetz ist demnach heute, was die Informationsfunktion des handelsrechtlichen Jahresabschlusses betrifft, eine Gleichbehandlung der „sonstigen Zuzahlungen“ gemäß § 272 Abs. 2 Nr. 4 HGB mit den Kapitalrücklagen gemäß § 272 Abs. 2 Nr. 1–3 HGB erreicht: In beiden Fällen handelt es sich um Leistungen aus der Sphäre der Gesellschafter, die zum Kapital der Gesellschaft, nicht aber zu ihrem betrieblichen Ertrag rechnen. Das ist entsprechend im Jahresabschluss, durch Verbuchung gegen eine Kapitalrücklage, auszuweisen. Der Unterschied besteht dagegen nach wie vor in der Verwendungsbeschränkung: Dieser unterliegen gemäß § 150 AktG nur die in die „gebundene“ Kapitalrücklage nach § 272 Abs. 2 Nr. 1–3 HGB einzustellenden Beträge, nicht dagegen die Beträge, die die „freie“ Kapitalrücklage nach § 272 Abs. 2 Nr. 4 HGB bilden. Die Kapitalrücklage nach § 272 Abs. 2 Nr. 4 HGB kann nämlich ohne Weiteres unter Erhöhung des Bilanzgewinns aufgelöst und damit ausgeschüttet werden, wenn nur deutlich wird, dass es sich um eine Entnahme aus der Kapitalrücklage handelt und nicht um das erzielte geschäftliche Ergebnis (Jahresüberschuss; vgl. §§ 152 Abs. 2 Nr. 2, 158 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AktG; 275 Abs. 4 HGB).96 Betrachtet man nun die Regelung des § 272 HGB nicht isoliert, nur für sich genommen, sondern in ihrem Zusammenhang mit der Verwendungsbeschränkung des § 150 AktG, dann spricht dies allerdings für die Auffassung des bilanzrechtlichen Schrifttums, dass auch das schuldrechtliche Agio grundsätzlich in die Kapitalrücklage nach § 272 Abs. 2 Nr. 1 HGB einzustellen ist. Denn dem historischen Gesetzgeber ging es bei der Verhütung einer „Agiotage“ nicht lediglich um eine korrekte Information über den betrieblichen Ertrag und dessen Abgrenzung von Leistungen aus der Sphäre der Gesellschafter. Sondern er wollte auch, mit Hilfe einer entsprechenden materiellen Vorgabe, ausschließen, dass aus der Verteilung hoher Dividenden ohne entsprechende betriebliche Erträge falsche Vorstellungen über die Ertragskraft der Gesellschaft und damit über den Wert der umlaufenden Aktien genährt werden könnten; statt dessen sollten Zuzahlungen der Aktionäre bei Ausgabe der Anteile der Stärkung der Eigenkapitalausstattung der Gesellschaft dienen.97 Die rechtliche Form, in die solche Zuzahlungen gekleidet werden können, eine korporative oder eine schuldrechtliche Ausgestaltung, kann insoweit nicht von Belang sein. Dass die gesetzliche Regelung vor der Änderung durch das Bilanzrichtliniengesetz lückenhaft war und deshalb überzeugend korrigiert worden ist, rechtfertigt nicht, die Vorschriften des § 272 Abs. 2 Nr. 1–3 HGB nunmehr, nach der Einführung der freien Kapitalrücklage gemäß § 272 Abs. 2 Nr. 4 HGB, restriktiv auszulegen. Für die handelsbilanzrechtliche Behandlung des „schuldrechtlichen“ Agio und damit für die Anwendbarkeit des § 150 AktG in solchen Fällen darf demnach Folgendes festgehalten werden: Auch beim „schuldrechtlichen“ Agio handelt es sich in der Regel um einen Betrag, „der bei der Ausgabe von Anteilen über den Nennbetrag oder, falls ein Nennbetrag nicht vorhanden ist, über den rech-

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96 Schulze-Osterloh (Fn. 66), S. 773 m. w. N. 97 Nachweise zu den Gesetzesmotiven oben Fn. 46–49.

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nerischen Wert hinaus erzielt wird“. Auch ein solches Aufgeld ist demnach in der Handelsbilanz als gebundene Kapitalrücklage nach § 272 Abs. 2 Nr. 1 HGB, nicht als freie Kapitalrücklage nach § 272 Abs. 2 Nr. 4 HGB auszuweisen. Darauf, dass das Aufgeld nicht korporativ eingekleidet, sondern als individuelle Pflicht des betreffenden Aktionärs vereinbart ist, kommt es nicht an. Eine andere Beurteilung ergibt sich auch nicht daraus, dass im Fall eines korporativen Aufgelds der geschuldete Betrag in der Regel bei Aufstellung der Bilanz bereits eingezahlt sein wird, während im Fall des schuldrechtlichen Agios häufig vorerst nur eine Forderung gegen den Gesellschafter bestehen wird.98 Entscheidend ist, ob sich die über die Einlage hinaus vereinbarte Leistung nach dem zum Ausdruck gekommenen Willen der Parteien wirtschaftlich als Gegenleistung für den Erwerb der Aktien, insbesondere als Zahlung zwecks Leistung eines angemessenen Ausgabebetrags für die übernommenen Aktien, darstellt. Nach dem Vorstehenden ist es nicht ausgeschlossen, dass ein Aktionär eine Leistung societatis causa ohne diesen Bezug auf den Erwerb von Anteilen verspricht. Das mag zum Beispiel der Fall sein, wenn ein Aktionär aus Anlass einer Kapitalerhöhung eine weitere Zahlung zwecks Sanierung oder, um eine Investition zu ermöglichen, im Hinblick darauf verspricht, dass alle anderen Aktionäre ebenfalls solche Zusatzzahlungen übernehmen. In einem solchen Fall stehen zwar Aktienerwerb und Versprechen einer Zusatzzahlung in einem zeitlichen Zusammenhang, und beide Maßnahmen, Kapitalerhöhung und Zusatzzahlungen, dienen vielleicht sogar dem gleichen Ziel. Die vereinbarten Zuzahlungen könnten aber ebenso unabhängig von einer Kapitalerhöhung vereinbart worden sein und wären dann in die freie Rücklage nach § 272 Abs. 2 Nr. 4 HGB einzustellen. Dann kann eine Zuzahlung, die gelegentlich einer Aktienübernahme vereinbart wird und sich nicht als Zahlung zwecks Leistung eines angemessenen Ausgabebetrags für die übernommenen Aktien darstellt, nicht anders behandelt werden.

__________ 98 Allerdings muss die Forderung gegen den Gesellschafter überhaupt aktivierungsfähig sein, weil ohne Aktivierung natürlich auch eine entsprechende Dotierung der Kapitalrücklage ausscheidet; zur mangelnden Aktivierbarkeit von Forderungen, deren Eintritt von einer Bedingung („mile stone“) abhängt, etwa Kleindiek in Ulmer (Fn. 50), § 246 HGB Rz. 13.

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Erkrankungen von Vorstandsmitgliedern Rechtlicher Rahmen, empirische Studie, Empfehlungen an Praxis und Regelsetzer

Inhaltsübersicht I. Einleitung II. Vorsorgeuntersuchungen 1. Pflicht aus Anstellungsvertrag 2. Informationspflicht? III. Verdacht einer schweren Erkrankung IV. Schwere Erkrankung 1. Ärztliche Beratung 2. Informationspflichten

3. Sonstige Verhaltenspflichten des Vorstandsmitglieds 4. Rechte und Pflichten des Aufsichtsrats a) Prophylaxe b) Nachfolgeregelung c) Abberufung 5. Kapitalmarktinformation V. Zusammenfassung

I. Einleitung Corporate Governance-Fragen und Rechtstatsachenforschung haben Peter Hommelhoff stets interessiert. Daher dürfte unseren Jubiliar auch eine Problematik reizen, die in Deutschland erst seit Anfang 2009 in den Focus von Wissenschaft und Praxis gerückt und sowohl unter medizinischen Aspekten als auch in juristischer Hinsicht von hoher Relevanz ist: Wie sollen sich Vorstandsmitglieder verhalten, die von gesundheitlichen Problemen überrascht werden? Und wie soll der hierüber informierte Aufsichtsrat reagieren? Im Kontext des Aktien- und Kapitalmarktrechts wird aus dieser zuvörderst „höchstpersönlichen Angelegenheit“1 auch ein juristisches Thema, das bislang erst in Ansätzen aufgearbeitet ist.2 Eine vom Institut für Rechtstatsachenforschung zum Deutschen und Europäischen Unternehmensrecht der Friedrich-SchillerUniversität Jena3 unter Leitung des Autors dieses Beitrags gemeinsam mit der Juergens Management Consultants GmbH sowie der dimap GmbH durchgeführte Befragungsstudie, die sich an die Aufsichtsratsvorsitzenden der deut-

__________ 1 BGH, NJW 2009, 754, 756. 2 Hierzu zunächst Lutter, Der Aufsichtsrat 2009, 97 sowie ausführlicher Fleischer, NZG 2010, 561 ff.; Fleischer, Der Aufsichtsrat 2010, 86 ff.; Fleischer in FS Uwe H. Schneider, 2011, S. 333 f. 3 Zum Institut für Rechtstatsachenforschung zum Deutschen und Europäischen Unternehmensrecht der Friedrich-Schiller-Universität sowie mit einer Auswahl von kurzen Beiträgen zum Recht der Aktiengesellschaft: Bayer, Aktienrecht in Zahlen, AGSonderheft 8/2010.

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schen börsennotierten Aktiengesellschaften gerichtet hatte,4 verdeutlicht, dass der Problematik auch von der Praxis hohe Bedeutung beigemessen wird. Insbesondere wünschen sich die Unternehmen klare Handlungsempfehlungen, jedoch keine detaillierte gesetzliche Regelung.

II. Vorsorgeuntersuchungen 1. Pflicht aus Anstellungsvertrag Die in der Praxis üblichen Anstellungsverträge sehen vor, dass sich das Vorstandsmitglied einmal jährlich – im Regelfall auf Kosten der Gesellschaft – eingehend untersuchen lassen muss.5 Diese Verpflichtung ist in rechtlicher Hinsicht unbedenklich.6 Denn die Gesellschaft hat ein ureigenes Interesse daran, dass der Gesundheitszustand von Vorstandsmitgliedern regelmäßig überprüft wird; das private Interesse des Vorstandsmitglieds, von einer Erkrankung vielleicht keine Kenntnis zu erhalten, muss gegenüber diesem Gesellschaftsinteresse zurücktreten. 2. Informationspflicht? Die Ergebnisse einer Gesundheitsprüfung, insbesondere die erhobenen detaillierten ärztlichen Befunde, gehören zum engsten Kreis der persönlichen Daten und unterliegen dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung7 sowie dem Schutz des allgemeinen Persönlichkeitsrechts.8 Daher ist es höchst zweifelhaft, ob der Anstellungsvertrag9 das Vorstandsmitglied zu einer umfassenden Information über das Ergebnis der Vorsorgeuntersuchung verpflichten kann.10 In Betracht kommen dürfte allein die Verpflichtung zur Vorlage einer ärztlichen Bestätigung, dass das Vorstandsmitglied diensttauglich ist. Eine Offenlegung der Diagnose oder auch differenzierter Untersuchungsergebnisse kann hingegen grundsätzlich nicht gefordert werden.11 Auf gar keinen Fall besteht bei Fehlen einer vertraglichen Informationspflicht eine ungeschriebene gesetz-

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4 Bayer/Jürgens/Rudat, Gesundheitsprobleme eines Vorstandsmitglieds – Erkenntnisse, Erfahrungen, Empfehlungen, 2011. Befragt wurden alle börsennotierten sowie die größeren nichtbörsennotierten Aktiengesellschaften. Insgesamt wurden 926 Fragebogen verschickt; die (positive) Rücklaufquote betrug 16,1 % (149 Fragebogen). 5 Muster bei Happ, Aktienrecht, 3. Aufl. 2007, S. 862 ff.; vgl. auch Fonk in Semler/von Schenck, Arbeitshandbuch für Aufsichtsratsmitglieder, 3. Aufl. 2009, S. 928 ff. 6 So auch Fleischer, Der Aufsichtsrat 2010, 86, 87. 7 BVerfGE 32, 373, 379 (ärztliche Karteikarten); BVerfGE 89, 69, 82 ff. (medizinischpsychologisches Gutachten); BVerfGE 119, 1, 34 (lebensbedrohliche Krankheit); vgl. auch EuGH, Slg. 1994, I-4737, 4789 Rz. 17 (Aidstest) unter Hinweis auf Art. 8 EMRK. 8 Ebenso Fleischer, NZG 2010, 561, 564 m. w. N. 9 Dazu Hoffmann-Becking in Hoffmann-Becking/Rawert, Beck’sches Formularbuch, Handels- und Wirtschaftsrecht, 10. Aufl. 2010, X 13, § 4 Abs. 4: „… ist bereit, sich einmal jährlich auf Kosten der Gesellschaft einer gründlichen ärztlichen Untersuchung zu unterziehen und den Vorsitzenden des Aufsichtsrats über das Ergebnis dieser Untersuchung zu unterrichten“. 10 Für Unwirksamkeit im Regelfall: Fleischer, Der Aufsichtsrat 2010, 86, 87. 11 So auch Fleischer, Der Aufsichtsrat 2010, 86, 87.

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liche Verpflichtung, über das Ergebnis der Vorsorgeuntersuchung zu informieren, und zwar auch nicht, wenn der Verdacht einer schweren Erkrankung besteht (dazu III.). Anders ist dies, wenn sich der Verdacht zum objektiven Befund erhärtet (IV.). 77 % der befragten Aufsichtsratsvorsitzenden erklärten, dass in ihrer Gesellschaft den Vorstandsmitgliedern bekannt sei, dass keine zwingende gesetzliche Verpflichtung zur Information über die Ergebnisse der jährlichen Vorsorgeuntersuchung bestehe; 20 % meinten hingegen, die Vorstandsmitglieder hätten hierüber keine Kenntnis.

III. Verdacht einer schweren Erkrankung Ergibt sich als Folge der Vorsorgeuntersuchung oder auch unabhängig davon aufgrund akuter Beschwerden der Verdacht einer schweren Erkrankung, so ist es zunächst die höchstpersönliche Angelegenheit des Vorstandsmitglieds, diesen Verdacht durch die Inanspruchnahme ärztlicher Beratung zu überprüfen. Dabei ist im Interesse sowohl des Vorstandsmitglieds als auch des Unternehmens höchste Diskretion geboten. Um eine solche diskrete ärztliche Untersuchung zu gewährleisten, kann eine Beratung durch eine (ärztliche) Vertrauensperson hilfreich sein, die bereits im Vorfeld prophylaktisch installiert wurde. Hierbei kann das Unternehmen – unter Wahrung aller Vertraulichkeit – organisatorische wie finanzielle Unterstützung leisten. Denn die Abklärung der Verdachtssituation liegt auch im Interesse des Unternehmens. Daher kann es auch rechtlich geboten sein,12 den Verdacht einer schweren Erkrankung durch eine ärztliche Untersuchung entweder zu erhärten oder zu widerlegen.13 Eine Pflicht, über den Verdacht einer schweren Erkrankung vor dessen Bestätigung oder Widerlegung zu informieren, besteht hingegen unter Abwägung des Persönlichkeitsrechts des Vorstandsmitglieds, der wirtschaftlichen Interessen der Aktiengesellschaft und der Interessen Dritter (Aktionäre, Kapitalmarkt, Kreditgeber, Lieferanten und sonstige Gläubiger) nicht.14 Sollte das Gegenteil im Anstellungsvertrag vereinbart sein, so bestehen an der Wirksamkeit dieser Regelung erhebliche Zweifel.15 Ob und inwieweit das Vorstandsmitglied in dieser Situation den Aufsichtsratsvorsitzenden unter Zusicherung der Vertraulichkeit informieren möchte, ist seine Entscheidung. Daher empfiehlt es sich auch nicht, die Situation des Verdachts einer schweren Erkrankung durch Empfehlungen im Deutschen Corporate Governance Kodex oder gar gesetzlich zu regeln. Vielmehr muss es das Bestreben aller Beteiligten sein, den Verdacht der schweren Erkrankung schnellstmöglich und diskret aufzuklären und so die aufgetretene Unsicherheit zu beseitigen.

__________ 12 13 14 15

Ausführlicher zur Rechtsgrundlage unter IV.2. Ähnlich wohl auch Fleischer, NZG 2010, 561, 565. So auch Lutter, Der Aufsichtsrat 2009, 97. Zur Problematik bereits oben II.2. a. E.

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IV. Schwere Erkrankung 1. Ärztliche Beratung Im Falle einer schweren Erkrankung des Vorstandsmitglieds gelten die Ausführungen zur diskreten ärztlichen Beratung (III.) entsprechend. 54 % der befragten Aufsichtsratsvorsitzenden hielten dies für eine „sehr sinnvolle“ Verfahrensweise, und immerhin noch 30 % für „eher sinnvoll“. Nur 16 % sahen hierin keine sinnvolle Möglichkeit („weniger sinnvoll“). 2. Informationspflichten Wird bei einem Vorstandsmitglied eine Erkrankung diagnostiziert, die es wahrscheinlich erscheinen lässt, dass es an der Wahrnehmung seiner Vorstandspflichten für einen nicht unerheblichen Zeitraum (3 bis 4 Wochen) gehindert ist oder dass er sogar aufgrund fortschreitender Krankheit innerhalb eines überschaubaren Zeitraums seine Dienstfähigkeit völlig verlieren wird, so überwiegen die schützenswerten Fremdinteressen das Persönlichkeitsrecht und es wird eine Pflicht zur Information begründet.16 Zu nennen ist zum einen das Interesse der Gesellschaft, bei längerer Dienstunfähigkeit oder gar einem absehbaren Ausscheiden die Nachfolge so rechtzeitig in Angriff zu nehmen, dass ein Vakuum bzw. eine überstürzte Reaktion vermieden werden.17 Zum anderen ist es nicht ausgeschlossen, dass die Tatsache der schweren Erkrankung die Fähigkeit des Vorstandsmitglieds zur sachgerechten Amtsführung beeinträchtigt.18 Schließlich können im Einzelfall auch Anleger- und Gläubigerinteressen berührt sein.19 Daher lässt sich aus der besonderen Treuebindung, die dem Vorstandsmitglied gegenüber seiner Gesellschaft auferlegt ist,20 auch die Pflicht ableiten, die schwere Erkrankung zu offenbaren. Hierbei handelt es sich um eine Rechtspflicht, nicht lediglich um ein nobileofficium des erkrankten Vorstandsmitglieds.21 Die im Falle einer schweren Erkrankung begründete Informationspflicht ist jedoch so auszugestalten, dass einerseits die Persönlichkeitsrechte des Vorstandsmitglieds so weit wie möglich gewahrt, andererseits aber auch die Interessen der Gesellschaft nicht verletzt werden. Eine Gefährdung durch eine Indiskretion sehen 49 % der befragten Aufsichtsratsvorsitzenden im Hinblick auf den Aktienkurs, 48 % in einer Erschwerung der Nachfolgeregelung und 37 % ganz allgemein in einem Imageschaden für das Unternehmen.22

__________ 16 So auch Lutter, Der Aufsichtsrat 2009, 97; Fleischer, NZG 2010, 561, 564. 17 Wie hier Fleischer, NZG 2010, 561, 564. 18 Näher Fleischer, NZG 2010, 561, 564 m. Bsp. aus dem US-amerikanischen Schrifttum; zum US-amerikanischen Recht ausf. auch Fleischer in FS Uwe H. Schneider, 2011, S. 333, 335 ff. 19 Dazu eingehender unten IV.2. 20 Dazu allgemein Hüffer, 9. Aufl. 2010, § 84 AktG Rz. 9 m. w. N. 21 So zutreffend Fleischer, NZG 2010, 561, 564 unter Hinweis auf das US-amerikanische Schrifttum. 22 Mehrfachnennungen waren möglich.

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Die Rücksichtnahme auf das Persönlichkeitsrecht des erkrankten Vorstandsmitglieds rechtfertigt es, dass die zu erteilenden Informationen auf die Tatsache der (schwindenden) Dienstunfähigkeit und – falls nicht sogar das endgültige Ausscheiden im Raum steht – deren Dauer beschränkt wird, hingegen keine Pflicht zur Offenlegung der Diagnose und der beabsichtigten Therapie besteht.23 Weiterhin ist an ein gestuftes Informationsverfahren zu denken: Die Vertraulichkeit wird selbstredend am besten gewahrt, wenn zunächst nur der Aufsichtsratsvorsitzende über die Erkrankung bzw. die mögliche Dauer der Dienstunfähigkeit sowie – freiwillig – über die beabsichtigte Therapie und deren Erfolgschancen sowie das Risiko des endgültigen Ausscheidens informiert wird. Im Schrifttum wird denn auch eine Empfehlung in diesem Sinne ausgesprochen.24 Dieser Weg ist indes rechtlich nicht unproblematisch: Denn nach der aktienrechtlichen Regelung berichtet grundsätzlich nur der Vorstand als Gesamtorgan dem gesamten Aufsichtsrat (§ 90 Abs. 1 Satz 1 AktG) – so der Regelfall – oder aber im Wege der Sonderberichterstattung dem Aufsichtsratsvorsitzenden (§ 90 Abs. 1 Satz 3 AktG); eine Information seitens eines einzelnen Vorstandsmitglieds an den Aufsichtsratsvorsitzenden ist nach der gesetzlichen Konzeption hingegen nicht vorgesehen. Richtigerweise wird man jedoch annehmen müssen, dass die Regelung in § 90 AktG nicht abschließend ist, sondern allein die (vorbeugende) Überwachung der Geschäftsführung bezweckt,25 so dass Erörterungen, die persönlicher Art sind (Fragen zum Anstellungsvertrag, Verlängerung des Vorstandsamtes usw.) – und somit auch Informationen zu einer Erkrankung bzw. (drohenden) Amtsunfähigkeit – unmittelbar zwischen dem betroffenen Vorstandsmitglied und dem Aufsichtsratsvorsitzenden stattfinden können. Daher ist gegen eine Einschaltung zunächst nur des Aufsichtsratsvorsitzenden (1. Stufe) nichts einzuwenden. Ergibt sich, dass die diagnostizierte Erkrankung eine längere Behandlung erfordert oder dass sie mit Wahrscheinlichkeit zum vorzeitigen Ausscheiden wegen Dienstunfähigkeit führt, so wird der Aufsichtsratsvorsitzende zunächst den Personalausschuss bzw. das Präsidium und anschließend auch den Gesamtaufsichtsrat hierüber unterrichten müssen.26 Weiterhin ist auch das Vorstandsmitglied spätestens jetzt verpflichtet, die übrigen Mitglieder des Vorstands zu informieren.27 Das zunächst sehr weite (pflichtgemäße) Ermessen über die Art und Weise der Informationserteilung verdichtet sich in dieser Situation letztlich zu einer Informationspflicht gegenüber Vorstand und Aufsichtsrat – jeweils als Gesamtorgan (2. Stufe).28 In 3/4 aller befragten Aktiengesellschaften existieren keine festgelegten Regelungen zur Informationspflicht im Falle einer schweren Erkrankung. Hinzu

__________ 23 24 25 26 27 28

Ähnlich Fleischer, NZG 2010, 561, 564. S. nur Lutter, Der Aufsichtsrat 2009, 97; Fleischer, NZG 2010, 561, 564. S. nur Hüffer, 9. Aufl. 2010, § 90 AktG Rz. 1, 2. Wie hier Lutter, Der Aufsichtsrat 2009, 97. Wie hier Lutter, Der Aufsichtsrat 2009, 97. Im Ergebnis auch Fleischer, NZG 2010, 561, 564.

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kommt eine erhebliche Rechtsunsicherheit: Das hier vorgeschlagene Modell einer doppelt „schonenden“ Informationspflicht ist bislang weder durch Rechtsprechung noch durch gesetzliche Anordnungen abgesichert. 59 % der befragten Aufsichtsratsvorsitzenden waren der Auffassung, „dass die Erkrankung eines Vorstandsmitglieds unter die aktienrechtliche Berichtspflicht fallen sollte“, 41 % verneinten diese Frage. Gegen eine gesetzliche Regelung haben sich 2 /3 aller befragten Aufsichtsratsvorsitzenden ausgesprochen; 1/3 würden dies befürworten. Dieser mehrheitlichen Einschätzung ist zu folgen: Der Gesetzgeber wäre weitgehend überfordert, wollte er zur Problematik eine verbindliche, vielleicht sogar detaillierte Regelung treffen. Vielmehr bietet sich hier an, durch Aufnahme einer Empfehlung in den Deutschen Corporate Governance Kodex eine „bestpractice“ zu schaffen, die jedoch im Einzelfall auch gerechtfertigte Abweichungen gestattet. Diesen Vorschlag befürworten 52 % der befragten Aufsichtsratsvorsitzenden. Aus der Gruppe derjenigen Aufsichtsratsvorsitzenden, die eine Informationspflicht generell befürworten und nicht von vornherein ablehnen (59 % dafür, 41 % dagegen) – die Ablehnung dürfte rechtlich indes nicht haltbar sein (vgl. die vorstehenden Ausführungen) –, stimmen sogar 68 % einer Kodex-Regelung zu; überraschenderweise befürworteten 51 % aus dieser Gruppe sogar eine gesetzliche Regelung! 3. Sonstige Verhaltenspflichten des Vorstandsmitglieds Das Vorstandsmitglied ist weiterhin verpflichtet, die durch seine Erkrankung entstehenden Beeinträchtigungen in der Unternehmensleitung möglichst gering zu halten. So besteht etwa die Pflicht, an einer reibungslosen Übernahme der Amtsgeschäfte durch einen Stellvertreter bzw. Nachfolger mitzuwirken. Diese Verhaltenspflicht folgt aus der allgemeinen Verpflichtung des Vorstandsmitglieds zur sorgfältigen Unternehmensleitung nach § 93 Abs. 1 Satz 1 AktG. Auch im Umgang mit seiner Erkrankung hat das Vorstandsmitglied sein Verhalten am Unternehmensinteresse auszurichten; persönliche Interessen müssen im Zweifel zurücktreten. Der genaue Inhalt der Verpflichtung bestimmt sich nach den Umständen des konkreten Einzelfalls. Die Größe und wirtschaftliche Lage der Gesellschaft sind ebenso von Bedeutung wie die Struktur und Aufgabenverteilung innerhalb des Vorstands. Entscheidend ist auch hier, wie sich ein ordentlicher und gewissenhafter Geschäftsleiter in der konkreten Situation verhalten hätte. Da es sich um keine unternehmerische Entscheidung handelt, findet die businessjudgmentrule gemäß § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG keine Anwendung. 4. Rechte und Pflichten des Aufsichtsrats a) Prophylaxe Ungeachtet der konkreten Erkrankungssituation hat der Aufsichtsrat als Ausfluss seiner Überwachungsfunktion darauf hinzuwirken, dass für den Fall einer Verhinderung eines Vorstandsmitglieds eine angemessene Vertretungsregelung 92

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besteht. Zu seinen Pflichten gehört es auch, den Fall einer schweren Erkrankung vorauszudenken und hierfür eine Informations- und Verfahrensregelung zu installieren, zu der gegebenenfalls auch das Angebot der diskreten und das Persönlichkeitsrecht des (möglicherweise) schwer erkrankten Vorstandsmitglieds gehört.29 Offensichtlich bestehen insoweit in den befragten Gesellschaften noch erhebliche Defizite.30 Sachdienliche Ergänzungen in den Vorstandsverträgen erscheinen daher geboten.31 b) Nachfolgeregelung Steht eine schwere Erkrankung eines Vorstandsmitglieds bzw. seine aktuelle oder mit Wahrscheinlichkeit zu erwartende Dienstunfähigkeit fest, so hat sich der Aufsichtsrat mit der Angelegenheit zu beschäftigen, und zwar mit dem Ziel, in angemessener Weise eine Nachfolge in die Wege zu leiten. Diese Aufgabe wird im Regelfall vorbereitend vom Aufsichtsratsvorsitzenden bzw. vom Personalausschuss/Präsidium in Angriff genommen. Der gesamte Aufsichtsrat als zuständiges Organ der AG ist jedoch über die Entwicklung zu informieren und kontinuierlich auf dem Laufenden zu halten.32 Hierbei sind alle Aufsichtsratsmitglieder gemäß §§ 93 Abs. 1 Satz 3, 116 Satz 2 AktG zur Verschwiegenheit verpflichtet. Dies gilt in besonderer Weise für alle Einzelheiten, die den Gesundheitszustand des betroffenen Vorstandsmitglieds betreffen, wie speziell eine offengelegte Diagnose oder Therapiemaßnahmen. c) Abberufung Wird bei einem Vorstandsmitglied eine Erkrankung diagnostiziert, die aller Voraussicht nach von längerer Dauer sein wird oder bereits aktuell zu einer erheblichen Einschränkung der Dienstfähigkeit führt, so kommt eine Abberufung aus wichtigem Grund gemäß § 84 Abs. 3 Satz 2 AktG in Betracht, und zwar in der Variante der Unfähigkeit zur ordnungsgemäßen Geschäftsführung.33 Auf ein Verschulden des Vorstandsmitglieds kommt es hierbei nicht an. Vielmehr ist längerfristige Krankheit als Abberufungsgrund allgemein anerkannt.34 Zugleich kommt eine Kündigung des Anstellungsvertrags in Betracht.35 In minder schweren Fällen kann möglicherweise auf die Abberufung verzichtet und das Vorstandsmitglied lediglich zeitweise von seinen Dienstpflichten befreit werden.36 Die Problematik ist rechtlich diffus und sollte daher im Vorstandsvertrag eindeutig geregelt werden;37 im Hinblick auf die Ver-

__________ 29 30 31 32 33 34 35 36 37

Hierzu bereits oben III. Zum Ergebnis der Umfrage: oben III. Ähnlich Lutter, Der Aufsichtsrat 2009, 97: „… sollte sich in Zukunft ändern“. Zur Information des Aufsichtsrats durch den Vorsitzenden bereits unter IV.2. Wie hier Fleischer, NZG 2010, 565. Für alle: Hüffer, 9. Aufl. 2010, § 84 AktG Rz. 28 m. w. N. Einzelheiten aber streitig; vgl. nur Fleischer, NZG 2010, 566 m. w. N. Auch hierzu näher Fleischer, NZG 2010, 566 m. w. N. Dazu bereits oben IV.4.a.

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gütung sind allerdings die durch das VorstAG38 verschärften Regelungen des § 87 AktG n. F. zu beachten. 5. Kapitalmarktinformation Spätestens mit der Unterrichtung der Vorstandskollegen und des Personalausschusses/Präsidiums besteht die realistische Gefahr, dass der Gesundheitszustand des betroffenen Vorstandsmitglieds nicht mehr vertraulich bleibt. Dies gilt nach der Lebenserfahrung erst recht, nachdem der gesamte Aufsichtsrat informiert und etwa eine Nachfolgeregelung in Angriff genommen wurde.39 Es stellt sich daher für börsennotierte Gesellschaften die Frage, inwieweit eine Ad-hoc-Publizitätspflicht gemäß § 15 Abs. 1 WpHG begründet ist. Voraussetzung ist zunächst das Vorliegen einer Insiderinformation i. S. von § 13 Abs. 1 Satz 1 WpHG, d. h., es muss sich um einen Umstand handeln, der nicht öffentlich bekannt ist, sich auf einen Emittenten von Insiderpapieren oder auf Insiderpapiere selbst bezieht und geeignet ist, bei einem öffentlichen Bekanntwerden den Kurs dieser Papiere erheblich zu beeinflussen.40 Am Tatbestandsmerkmal der Kurserheblichkeit dürfte hier kein Zweifel bestehen: Festzuhalten ist zunächst als Ausgangspunkt, dass nach der BGH-Entscheidung Daimler/Schrempp die „Kurserheblichkeit eines … Amtswechsels in der Leitungsposition eines Großunternehmens … ohne Weiteres zu bejahen“ ist.41 Im Schrifttum werden gegen diese Allgemeinregel zwar Bedenken geäußert;42 auch die BAFin erklärt in ihrem Emittentenleitfaden nur „überraschende Veränderungen in der Schlüsselposition des Unternehmens“ als Insiderinformation.43 Doch ist das Überraschungsmoment im Falle eines Wechsels aufgrund akuter Erkrankung unzweifelhaft gegeben.44 Die erforderliche Eignung, den Aktienkurs erheblich zu beeinflussen, dürfte allerdings nur dann vorliegen, wenn das erkrankte Vorstandsmitglied das Unternehmen durch seine Persönlichkeit und Amtsführung entscheidend geprägt hat und somit für die zukünftige Entwicklung und den Erfolg des Unternehmens von zentraler Bedeutung war.45 Dies wird im Zweifel nur für die Person des Vorstandsvorsitzenden und solcher Vorstandsmitglieder anzunehmen sein, die wichtige Bereiche betreuen. Eine Differenzierung zwischen etablierten Großunternehmen und jungen, stark von der Persönlichkeit der Gründer geprägten

__________ 38 Gesetz zur Angemessenheit der Vorstandsvergütung (VorstAG) v. 31.7.2009, BGBl. I 2009, 2509. 39 So bereits Lutter, Der Aufsichtsrat 2009, 97. 40 Zur Insiderinformation ausf. Assmann in Assmann/Uwe H. Schneider, 5. Aufl. 2009, § 13 WpHG Rz. 4 ff.; Mennicke/Jakovou in Fuchs, 2009, § 13 WpHG Rz. 19 ff. 41 BGH, AG 2008, 380 Rz. 21. 42 So etwa Fleischer, NZG 2010, 561, 566. 43 BaFin, Emittentenleitfaden, Stand 28.4.2009, S. 57. 44 So auch Fleischer, NZG 2010, 561, 566. 45 Richtig Fleischer, NZG 2010, 561, 566; vgl. auch Fleischer, NZG 2007, 401, 403 m. w. N.

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Wachstumsunternehmen,46 erscheint hingegen nicht angebracht. Die Kursausschläge nach dem Ausscheiden des Daimler-Vorstandsvorsitzenden Schrempp belegen das Gegenteil.47 Publizitätspflichtig ist allerdings nicht die Erkrankung des Vorstandsmitglieds als solche, sondern allein die Tatsache, dass als deren Folge die Arbeits- und Leistungsfähigkeit eingeschränkt ist und deshalb ein Wechsel im Vorstandsamt erfolgen wird.48 Inwieweit auch eine Publizitätspflicht im Hinblick auf ein mögliches krankheitsbedingtes Ausscheiden in Betracht kommt, weil zwar die schwere Erkrankung feststeht, das Ausscheiden aber noch nicht vom Aufsichtsrat in die Wege geleitet wurde – etwa, weil nach einer Therapie die Genesung möglich erscheint –, ist noch völlig ungeklärt.49 Entscheidend ist nach § 13 Abs. 1 Satz 3 WpHG, ob es sich um eine künftige Tatsache handelt, die mit hinreichender Wahrscheinlichkeit eintreten wird, d. h. es ist die Frage zu beantworten, ob das Ausscheiden des erkrankten Vorstandsmitglieds „hinreichend wahrscheinlich“ ist oder nicht.50 Ungeachtet dieser häufig schwierig zu entscheidenden Frage besteht allerdings auch dann eine Publizitätspflicht, wenn zwar das endgültige Ausscheiden offen ist, jedoch das erkrankte Vorstandsmitglied – etwa, um sich einer Therapie zu unterziehen – seine Amtstätigkeit zeitweilig ruhen lässt bzw. diese vertretungsweise auf ein anderes Vorstandsmitglied übertragen wird.51 Spricht somit die Gefahr des verbotenen Insiderhandels für eine frühzeitige Pflicht zur Information des Kapitalmarkts,52 so könnte das verfassungsrechtlich geschützte Persönlichkeitsrecht des erkrankten Vorstandsmitglieds doch eine gebotene Zurückhaltung erfordern.53 Eine Abwägung zwischen der Privatheit der Erkrankung54 und dem öffentlichen Interesse sachgerechter Kapitalmarktinformation dürfte bei Vorliegen sämtlicher Tatbestandsvoraussetzungen des § 15 Abs. 1 WpHG indes für die Publizitätspflicht sprechen: Ein (zentrales) Vorstandsmitglied – insbesondere der Vorstandsvorsitzende – einer nicht unbedeutenden börsennotierten Aktiengesellschaft zählt in der heutigen Welt regelmäßig zu dem „besonderen Personenkreis wie beispielsweise wichtigen Politikern, Wirtschaftsführern und Staatsoberhäuptern“55, deren Erkrankung nicht mehr ausschließlich ihrer Privatsphäre zuzuordnen ist, sondern gegenüber einem öffentlichen Interesse (hier: der Ad-hoc-Publizitätspflicht)

__________ 46 In diese Richtung Fleischer, NZG 2010, 561, 566 f. 47 So auch BGH, AG 2008, 380 Rz. 21. 48 Richtig Fleischer, NZG 2010, 561, 566; vgl. auch für die Erkrankung eines Spitzenspielers einer börsennotierten Fußball-Aktiengesellschaft (Fall Heiko Herrlich): Schumacher, NZG 2001, 769, 777; Wertenbruch, WM 2001, 193, 194. 49 Dazu auch Fleischer (Fn. 2), S. 333, 344. 50 Zur hinreichenden Wahrscheinlichkeit: Assmann (Fn. 40), § 13 WpHG Rz. 25 ff.; Mennicke/Jakovou (Fn. 40), § 13 WpHG Rz. 66 ff. 51 So auch Fleischer, NZG 2010, 561, 566 mit Hinweis auf die SEC-Praxis. 52 In diesem Sinne wohl auch Lutter, Der Aufsichtsrat 2009, 97. 53 Abl. daher Pfüller in Fuchs (Fn. 40), § 15 WpHG Rz. 220. 54 So BVerfGE 101, 361, 382; vgl. bereits oben Fn. 7. 55 So BGH, NJW 2009, 754; zuvor bereits BGHZ 171, 275, 286 (Krankheit des Fürsten von Monaco).

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zurückzustehen hat.56 Der Schutz der Privatsphäre beschränkt sich daher darauf, dass die Details der Erkrankung (Diagnose, Therapie) vertraulich zu bleiben haben,57 während die Tatsache, dass ein krankheitsbedingtes Ausscheiden sicher oder wahrscheinlich bevorsteht, nach den strikten Vorgaben des § 15 Abs. 1 WpHG zu veröffentlichen ist. Auch zu dieser Problematik würde sich eine präzisierende Regelung im Deutschen Corporate Governance Kodex anbieten.58 Diese kann zwar nicht die gesetzlichen Vorgaben des WpHG korrigieren; sie kann jedoch – ähnlich wie zur Problematik der gestuften Entscheidung (vgl. 6.6 DCGK) – den Beteiligten Empfehlungen an die Hand geben, wie sie nach den Grundsätzen guter Corporate Governance mit Erkrankungen an die Öffentlichkeit treten sollen. Demgegenüber wird insbesondere im US-amerikanischen Schrifttum eine gesetzliche Regelung gefordert.59

V. Zusammenfassung 1. Die Verhaltens- und Informationspflichten im Falle einer (schweren) Erkrankung eines Vorstandsmitglieds einer (börsennotierten) Aktiengesellschaft sind de lege lata nicht hinreichend konkretisiert. Es ist eine gewisse Rechtsunsicherheit festzustellen. Die rechtliche Problematik wird in der Praxis nur eingeschränkt wahrgenommen. 2. Vorstandsmitglieder dürfen zu Vorsorgeuntersuchungen verpflichtet werden. Eine gesetzliche Pflicht, über das Ergebnis der Untersuchung zu informieren, besteht allerdings nicht. Ob eine solche Pflicht im Anstellungsvertrag vereinbart werden darf, ist fraglich. 3. Besteht der Verdacht einer schweren Erkrankung, so kann eine ärztliche Beratung, die für diese Situation durch die Gesellschaft prophylaktisch installiert wurde, geboten sein. Inwieweit das Vorstandsmitglied bereits zu diesem Zeitpunkt seine Vorstandskollegen bzw. den Aufsichtsratsvorsitzenden informiert, ist seine höchstpersönliche Entscheidung. Eine Rechtspflicht existiert nicht. 4. Ist ein Vorstandsmitglied so schwer erkrankt, dass die Dienstfähigkeit beeinträchtigt ist bzw. dass mit großer Wahrscheinlichkeit über kurz oder lang ein Ausscheiden aus dem Amt zu erwarten ist, so ist es verpflichtet, seine Vorstandskollegen und den Aufsichtsratsvorsitzenden zu informieren. Die Art und Weise der Information ist sicherlich einzelfallabhängig; doch sollte sowohl dem Persönlichkeitsrecht des erkrankten Vorstandsmitglieds als auch den Interessen der Gesellschaft angemessen Rechnung getragen werden. Eine gesetzliche Regelung der Situation durch den Gesetzgeber

__________ 56 Ähnlich, aber in der Tendenz vorsichtiger Fleischer, NZG 2010, 567. 57 Richtig Fleischer in FS Uwe H. Schneider, 2011, S. 333, 351 unter Bezugnahme auf BVerfGE 119, 1, 35 (Esra). 58 Zurückhaltender hingegen Fleischer in FS Uwe H. Schneider, 2011, S. 333, 351 f. 59 Dazu näher Fleischer in FS Uwe H. Schneider, 2011, S. 333, 342 f. m. w. N.

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Erkrankungen von Vorstandsmitgliedern

empfiehlt sich ebenso wenig wie Anordnungen in der Satzung. Zur Beseitigung der aktuell bestehenden Rechtsunsicherheit könnten indes Empfehlungen im Deutschen Corporate Governance Kodex hilfreich sein. Auch eine Ergänzung der Vorstandsverträge wäre angebracht. 5. Ungeachtet der Erkrankung ist das Vorstandsmitglied bis zu seiner Abberufung verpflichtet, sein Verhalten am Interesse der Gesellschaft auszurichten. 6. Der Aufsichtsrat hat das Recht und die Pflicht, die im Falle einer schweren Erkrankung eines Vorstandsmitglied eintretende Situation so zu klären, wie dies unter angemessener Berücksichtigung des Persönlichkeitsrechts dem Interesse der Gesellschaft am besten entspricht. Hierzu zählt auch die Abberufung aus wichtigem Grund bzw. die Kündigung des Anstellungsvertrages. Insbesondere sind auch vorbeugende Planungen zu bedenken (Verfahrensregelung). 7. Bei börsennotierten Aktiengesellschaften ist zu prüfen, ob und ab welchem Zeitpunkt eine Pflicht zur Information des Kapitalmarkts besteht. Auch insoweit wäre eine präzisierende Hilfestellung durch den Deutschen Corporate Governance Kodex empfehlenswert.

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Hans-Joachim Böcking und Marius Gros

Unternehmensinterne und unternehmensexterne Überwachung der Finanzberichterstattung Zur Einbindung des Aufsichtsrats

Inhaltsübersicht Abstract I. Problemstellung II. Unternehmensinterne Überwachung der Finanzberichterstattung 1. Internes Kontrollsystem 2. Interne Revision 3. Compliance 4. Aufsichtsrat und Prüfungsausschuss

III. Unternehmensexterne Überwachung der Finanzberichterstattung 1. Abschlussprüfer als „Gehilfe“ des Aufsichtsrats a) Zur Funktion und Bedeutung der Abschlussprüfung b) Reformbestrebungen der EUKommission 2. Enforcement durch DPR und BaFin sowie WPK und APAK IV. Zusammenfassung

Abstract Seit 1998 wurden die deutschen und europäischen Vorschriften zur Rechnungslegung von einer Regulierungswelle erfasst. Bilanzskandale und Unternehmensschieflagen führten nicht nur zu einer Internationalisierung der Rechnungslegungsvorschriften, sondern auch zu einer Verschärfung und Konkretisierung der Anforderungen an die einschlägigen Überwachungsinstanzen. Die aktuelle Aufarbeitung der Finanzmarktkrise von 2008 zeigt, dass die Regulierungswelle keinesfalls ihr Ende erreicht haben dürfte. Insbesondere die Abschlussprüfung sowie der europäische Corporate Governance Rahmen stehen nun auf der Agenda der Europäischen Union (EU). Dieser Beitrag versucht eine kritische Bestandsaufnahme der im Bereich der Finanzberichterstattung bereits erfolgten sowie der angedachten Regulierungsmaßnahmen vorzunehmen und die bestehende Gemengelage zu beleuchten. Dabei wird die Ansicht vertreten, dass insbesondere dem Zusammenwirken der bestehenden unternehmensinternen und unternehmensexternen Überwachungsinstanzen mehr Aufmerksamkeit beigemessen und dabei die Rolle und Einbindung des Aufsichtsrats gestärkt werden sollte.

I. Problemstellung Seit 1998 ist in Deutschland eine Vielzahl von Regulierungsmaßnahmen verabschiedet worden und es zeichnet sich bislang kein Ende dieser Regulie99

Hans-Joachim Böcking und Marius Gros

rungswelle ab.1 Hinzu kommen zahlreiche Veröffentlichungen von privaten und öffentlichen Regulierungsinstanzen wie z. B. der Deutsche Corporate Governance Kodex (DCGK) und die Deutschen Rechnungslegungs Standards (DRS) sowie die Initiativen auf europäischer oder internationaler Ebene – häufig in der Ausgestaltung so genannten soft laws.2 Die Reformmaßnahmen konzentrieren sich primär auf die folgenden vier Bereiche: „Rechnungslegung/Publizität“, „Abschlussprüfung“, „Kapitalmarkt/Enforcement“ sowie „Unternehmensverfassung“ und durchdringen das gesamte Gesellschafts- und Kapitalmarktrecht. Ihr Ziel ist die Verbesserung der internen und externen Unternehmensüberwachung im Sinne einer guten Corporate Governance.3 Dabei ist diese seit 1998 zu beobachtende Regulierungswelle nicht nur eine Reaktion auf die zunehmende Internationalisierung der Geschäftstätigkeit der Unternehmen, sondern auch auf Bilanzskandale und Unternehmensschieflagen. Neben der Internationalisierung der Rechnungslegung und der Steigerung der Transparenz im Allgemeinen erfolgte eine Ausweitung und Konkretisierung der Aufgaben der unternehmensinternen und -externen Überwachungsinstanzen. Dies sollte dazu beitragen, künftigen Unternehmensschieflagen und Bilanzskandalen vorzubeugen bzw. diese zu verhindern. Die Finanzmarktkrise von 2008 sowie die anschließende Wirtschaftskrise haben wiederum neue Fragen aufgeworfen. Weitere Regulierungsmaßnahmen deuten sich an. U. a. haben Grünbücher der EU-Kommission die Themen Abschlussprüfung4 und den europäischen Corporate Governance Rahmen aufgegriffen.5 Die EU-Kommission hinterfragt dabei u. a. die Rolle der Vorstände, Aufsichtsräte, Abschlussprüfer sowie der Aktionäre während der Finanzmarktkrise kritisch und erwägt umfangreiche Regulierungsmaßnahmen. In Bezug auf den europäischen Corporate Governance-Rahmen wird betont, dass der regulatorische Rahmen dazu beitragen kann, ein nachhaltiges Wachstum zu gewährleisten und ein solideres internationales Finanzsystem aufzubauen. Insbesondere soll ein „schädliches kurzfristiges Denken und das Eingehen allzu großer Risiken eingedämmt werden“.6 Hinsichtlich der Unternehmensüberwachung durch Marktmechanismen, die ihre Überwachung u. a. an mutmaßlich entscheidungsnützlichen Rechnungslegungsinformationen ausrichten (sollen), wird damit auch die Frage aufgeworfen, inwieweit diese Überwachung wirksam ist.7 Die

__________

1 Für einen Überblick vgl. Orth in Beck’sches Hdb. der Rechnungslegung, B 950, Rz. 76 ff., 201 ff. 2 Vgl. grundlegend zum soft law sowie dessen Anerkennung und Anwendung in Deutschland Hommelhoff, ZGR 2001, 238, 240 ff. 3 Vgl. hierzu ausführlich Böcking in Ballwieser/Grewe (Hrsg.), Wirtschafsprüfung im Wandel, 2008, S. 81. 4 Europäische Kommission, Grünbuch Weiteres Vorgehen im Bereich der Abschlussprüfung: Lehren aus der Krise KOM(2010) 561. 5 Europäische Kommission, Grünbuch Europäischer Corporate Governance Rahmen KOM(2011) 164/3. 6 Europäische Kommission (Fn. 5), S. 2. 7 Vgl. grundlegend zu den Kapitalmarkteffekten sowie zu der Notwendigkeit einer Regulierung der Rechnungslegung z. B. Hail/Pfaff in Hail/Pfaff, Rechnungslegung und Revision in der Schweiz, 2009, S. 18 ff.; Wagenhofer/Ewert, Externe Unternehmensrechnung, 2. Aufl. 2007, S. 16 ff., 43 ff., 88 ff.

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Passivität einiger Kapitalmarktakteure – insbesondere der Aktionäre – und Defizite bei der Rechnungslegungsqualität, dem Markt für Unternehmenskontrolle sowie das seitens der Regulierer angenommene „schädliche kurzfristige Denken“ führen zu der Frage, ob nicht neben den „Marktkräften“ insbesondere die unternehmensinternen und unternehmensexternen Überwachungsinstanzen weiter gestärkt werden sollten. Dieser Beitrag stellt hierzu die bereits ergriffenen Maßnahmen dar und zielt darauf ab, mögliche Verbesserungspotenziale bei deren Umsetzung sowie im Zusammenwirken der verschiedenen unternehmensinternen und unternehmensexternen Überwachungsinstanzen bei der Überwachung der Finanzberichterstattung aufzuzeigen. Einen Schwerpunkt der Analyse bildet die Einbindung des Aufsichtsrats – eines der Corporate Governance-Elemente, denen sich auch Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Peter Hommelhoff gerade in den letzten Jahren umfassend widmet. Im Folgenden soll auf eine vollständige Aufzählung und ausführliche inhaltliche Darstellung der bereits ergriffenen Maßnahmen weitgehend verzichtet werden. Stattdessen soll der Versuch unternommen werden, die bestehende Gemengelage zu beleuchten und mögliche Defizite bzw. Verbesserungspotenziale aufzuzeigen. Eingegangen wird zunächst auf die unternehmensinterne Überwachung der Finanzberichterstattung durch das interne Kontrollsystem einschließlich der Internen Revision, die Compliance sowie den Aufsichtsrat bzw. dessen Prüfungsausschuss. Im Anschluss wird die unternehmensexterne Überwachung der Finanzberichterstattung durch den Abschlussprüfer und die Deutsche Prüfstelle für Rechnungslegung e.V. (DPR) bzw. die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) erörtert. Der Beitrag schließt mit einer Zusammenfassung.

II. Unternehmensinterne Überwachung der Finanzberichterstattung 1. Internes Kontrollsystem Verantwortlich für die ordnungsmäßige Erstellung der Finanzberichterstattung ist nach § 91 Abs. 1 AktG zunächst der Vorstand. Ihm obliegt es bei Delegation von Aufgaben auch entsprechende Überwachungsmaßnahmen zu implementieren, die eine ordnungsmäßige Finanzberichterstattung gewährleisten. Seit dem Gesetz zur Kontrolle und Transparenz im Unternehmensbereich (KonTraG)8 1998 verlangt § 91 Abs. 2 AktG diesbezüglich vom Vorstand im Hinblick auf bestandsgefährdende Risiken das Treffen geeigneter Maßnahmen, insbesondere die Einrichtung eines Überwachungssystems, damit den Fortbestand der Gesellschaft gefährdende Entwicklungen früh erkannt werden. Die Einführung von § 91 Abs. 2 AktG wird in der Regierungsbegründung zum KonTraG damit begründet, dass die „Verpflichtung des Vorstands, für ein angemessenes Risikomanagement zu sorgen“9 verdeutlicht werden

__________ 8 BGBl. I 1998, Nr. 24, S. 768 ff. 9 BT-Drucks. 13/9712 v. 28.1.1998, S. 15.

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soll.10 Ein konkreter Bezug zur Finanzberichterstattung ist dem Gesetzeswortlaut damit nicht zu entnehmen. Der Umfang dieser Einrichtungspflicht ist im juristischen und betriebswirtschaftlichen Schrifttum allerdings bis heute umstritten. Auf juristischer Seite wird unter Betonung des Gesetzeswortlauts eine Konzentration auf bestandsgefährdende Risiken im engeren Sinne als ausreichend erachtet und die Meinung vertreten, die Einrichtung eines allgemeinen Risikomanagements liege allein im Leitungsermessen des Vorstands.11 Gegensätzlich zu dieser Auffassung wird von betriebswirtschaftlicher Seite von einer umfassenderen Einrichtungspflicht ausgegangen, da eine Beschränkung auf bestandsgefährdende Risiken nicht sachgerecht sei, weil auch unwesentliche Einzelrisiken in Wechselwirkung mit anderen Risiken oder kumuliert bestandsgefährdend wirken können.12 Demnach ist ein Risikofrüherkennungssystem immer ein fester Bestandteil eines Gesamtrisikomanagementsystems. Dies gilt gerade vor dem Hintergrund der mit dem Transparenz- und Publizitätsgesetz (TransPuG)13 neu eingeführten follow up-Berichterstattung im Sinne eines Soll-Ist-Vergleichs nach § 90 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AktG.14 Die mit dem Bilanzrechtsmodernisierungsgesetz (BilMoG)15 2009 durch die §§ 289 Abs. 5, 315 Abs. 2 Nr. 5 HGB für kapitalmarktorientierte Unternehmen eingeführte Berichterstattungspflicht über die wesentlichen Merkmale des internen Kontroll- und Risikomanagementsystems im Hinblick auf den Rechnungslegungsprozess bewirkt, dass durch den Vorstand seither auch eine Auseinandersetzung mit dem auf den Rechnungslegungsprozess bezogenen Teil des internen Kontroll- und Risikomanagementsystems zwingend zu erfolgen hat. Zwar besteht keine Einrichtungspflicht für ein auf den Rechnungslegungsprozess bezogenes internes Kontroll- und Risikomanagementsystem, doch kann nach der Gesetzesbegründung das Fehlen eines solchen eine Sorgfaltspflichtverletzung der Organe darstellen.16 Daraus könnte zumindest für kapitalmarktorientierte Unternehmen eine faktische Einrichtungspflicht abgeleitet werden.17 Konkrete Vorgaben zur Ausgestaltung des internen Kontroll- und Risikomanagementsystems sowie dessen auf den Rechnungslegungsprozess bezogenen Teils sind den gesetzlichen Vorschriften jedoch nicht zu entnehmen.

__________ 10 Vor Einführung des § 91 Abs. 2 AktG durch das KonTraG konnte die Einrichtungspflicht aus der allgemeinen Sorgfaltspflicht nach §§ 76 und 93 Abs. 1 AktG abgeleitet werden. Vgl. hierzu Hommelhoff/Mattheus in Dörner/Horváth/Kagermann (Hrsg.), Praxis des Risikomanagements, S. 10. 11 Vgl. z. B. Hommelhoff/Mattheus, BB 2007, 2787, 2788; Hüffer, 9. Aufl. 2010, § 91 AktG Rz. 8 f. m. w. N. 12 Vgl. z. B. IDW (Hrsg.), WP-Hdb., 13. Aufl. 2006, Abschnitt P, Rz. 10–11. Vgl. auch AKEIÜ, DB 2010, 1245 ff. 13 BGBl. I 2002, Nr. 50, S. 2681 ff. 14 Vgl. hierzu die Gesetzesbegründung zum TransPuG, BT-Drucks. 14/8769 v. 11.4.2002, S. 13 f. 15 BGBl. I 2009, Nr. 27, S. 1102 ff. 16 Vgl. BT- Drucks. 16/10067 v. 30.7.2008, S. 76. 17 Vgl. Melcher/Mattheus, DB 2009, Beilage 5, 77, 79; vgl. zur Diskussion auch Hommelhoff/Mattheus, BB 2007, 2787.

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Der Begriff des internen Kontrollsystems wird in der Literatur weit gefasst und umfasst alle Grundsätze, Verfahren und Maßnahmen, welche das Management einleitet, um eine hinreichende Sicherheit in Bezug auf die Wirksamkeit und Wirtschaftlichkeit von Geschäftsprozessen, die Ordnungsmäßigkeit der internen und externen Rechnungslegung sowie die Einhaltung der für das Unternehmen wesentlichen Regeln zu erreichen.18 Ein Beispiel für die Wirksamkeit ist die Sicherstellung einer ganzjährigen Funktionsfähigkeit des Kontrollsystems. Hierzu dienen sowohl prozessintegrierte, als auch prozessunabhängige Überwachungsmaßnahmen.19 Dabei sind organisatorische Sicherungsmaßnahmen (z. B. Vier-Augen-Prinzip) und Kontrollen Bestandteil der prozessintegrierten Überwachungsmaßnahmen. Die Interne Revision, auf welche später gesondert eingegangen wird, stellt die wesentliche prozessunabhängige Überwachungsmaßnahme dar. Allgemeingültige Aussagen über eine konkrete Ausgestaltung eines internen Kontrollsystems sind jedoch auch in der Literatur selten zu finden und scheinen aufgrund der unternehmensindividuellen Anforderungen auch nur schwer möglich.20 Der auf den Rechnungslegungsprozess bezogene Teil des internen Kontrollund Risikomanagementsystems zielt nach der Gesetzesbegründung zum BilMoG sowie gemäß IDW PS 261 n. F. auf die Sicherung der Ordnungsmäßigkeit und Verlässlichkeit der Rechnungslegung ab:21 Zum einen sollen Geschäftsvorfälle in Übereinstimmung mit den gesetzlichen Regelungen vollständig, zeitnah und mit dem richtigem Wert in der richtigen Periode auf dem richtigen Konto erfasst werden. Des Weiteren sollen die auf den Rechnungslegungsprozess bezogenen Teile des internen Kontroll- und Risikomanagementsystems sicherstellen, dass die Vermögensgegenstände und Schulden im Jahresabschluss korrekt angesetzt, bewertet und ausgewiesen werden. Zudem soll gewährleistet werden, dass die Geschäftsvorfälle im Einklang mit der Satzung erfasst und vollständig dokumentiert sowie Inventuren ordnungsgemäß durchgeführt werden. Dadurch soll die Bereitstellung von relevanten und verlässlichen Informationen zeitnah und vollständig sichergestellt sein.22 Somit ist festzustellen, dass vom Vorstand einzurichtende interne Kontrollmechanismen – soweit sich diese nicht bereits aus den Sorgfaltspflichten ableiten lassen – mit dem KonTraG 1998 eingeführt und mit dem BilMoG 2009 im Hinblick auf die Überwachung der Finanzberichterstattung kapitalmarktorientierter Unternehmen konkretisiert wurden. Dennoch bleiben die konkre-

__________ 18 Vgl. IDW PS 261 n. F., Rz. 19; DIIR, BilMoG und Interne Revision, DIIR-Schriftenreihe Bd. 44, 2010, 47. 19 Vgl. IDW PS 261 n. F., Rz. 20. 20 Vgl. Kirsch/Köhrmann in Beck’sches Hdb. der Rechnungslegung, B 510 Rz. 253; Nimwegen, Vermeidung und Aufdeckung von Fraud – Möglichkeiten der internen Corporate Governance-Elemente, 2009, S. 31. Für Ansätze eines ganzheitlichen Kontroll- und Risikomanagements vgl. Wolf, WPg 2010, 867, 873 ff. 21 Vgl. hierzu sowie im Folgenden IDW PS 261 n. F., Rz. 22 sowie BT-Drucks. 16/10067 v. 30.7.2008, S. 76 f. 22 Vgl. IDW PS 261 n. F., Rz. 22. Vgl. hierzu auch Melcher/Mattheus, DB 2009 Beilage 5, S. 77, 78.

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ten Anforderungen an deren Ausgestaltung weiterhin allgemein formuliert und bedürfen damit einer unternehmensindividuellen Anwendung einer wirtschaftlichen Betrachtungsweise. 2. Interne Revision Die Überwachung des Internen Kontroll- und Risikomanagementsystems fällt in das traditionelle Aufgabenspektrum der Internen Revision. Die Interne Revision ist die wesentliche prozessunabhängige Überwachungsmaßnahme des internen Kontrollsystems. Die Interne Revision ist damit zugleich Bestandteil des internen Kontrollsystems und zuständig für die Überwachung der übrigen Bestandteile des internen Kontrollsystems.23 „Wesentliche Ziele der internen Revision bestehen in der Sicherstellung des Internen Kontroll[- und Risikomanagement]systems, der Sicherstellung der Einhaltung gesetzlicher/aufsichtsrechtlicher Vorschriften sowie der Sicherstellung und Einhaltung unternehmensinterner Regelungen. Für die Zukunft wird eine größere Bedeutung in der Sicherstellung und Effizienz des Risikomanagementsystems und der allgemeinen Geschäftsprozesse gesehen.“24 Die Aufgaben der Internen Revision bezüglich des internen Kontroll- und des Risikomanagementsystems werden u. a. in den internationalen Standards für die berufliche Praxis der Internen Revisoren25 definiert. Der Wertbeitrag der Internen Revision in diesem Zusammenhang ist es, die Funktionsfähigkeit und Angemessenheit des internen Kontrollsystems prozessunabhängig zu überwachen und festgestellte Schwächen zeitnah und strukturiert an den Vorstand bzw. die zuständigen Managementinstanzen zu berichten.26 Dabei ist jedoch zu betonen, dass die Verantwortung für die Einrichtung eines funktionsfähigen internen Kontroll- und Risikomanagementsystems beim Vorstand verbleibt und die Interne Revision lediglich dessen Wirksamkeit in ausgewählten Funktionsbereichen und Tätigkeitsfeldern prüft und bewertet.27 Hierzu zählen freilich auch die auf den Rechnungslegungsprozess bezogenen Teile des internen Kontroll- und Risikomanagementsystems. Fraglich ist die organisatorische Einbindung der Internen Revision in das Unternehmensgefüge. Der Vorstand ist in der Regel Auftraggeber der Internen Revision und in den Planungsprozess der Prüfung mit eingebunden. Hieraus können sich Probleme hinsichtlich der Unabhängigkeit der Internen Revision ergeben, insbesondere wenn der Vorstand, zu welchem die Interne Revision meistens disziplinarisch zugeordnet ist, einen großen Einfluss auf die Tätigkeit

__________ 23 Vgl. Zieske/Zenkic, Der Konzern 2011, 163, 165, 169. 24 Peemöller/Kregel, Handbücher der Revisionspraxis Bd. 1: Grundlagen der Internen Revision – Standards, Aufbau und Führung, 2010, S. 13. 25 Vgl. hierzu im Detail The Institute of Internal Auditors (Hrsg.), Internationale Standards für die berufliche Praxis der Internen Revision 2009, Standard 2120 „Risikomanagement“ und Standard 2130 „Kontrollen“. 26 Vgl. Lück in Lück (Hrsg.), Anforderungen an die Interne Revision, 2009, S. 401. 27 Vgl. Kajüter in Freidank/Peemöller (Hrsg.), Corporate Governance und Interne Revision, 2008, S. 112.

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der Internen Revision ausübt und im Unternehmen keine klar definierte Berichtslinie von der Internen Revision zum Aufsichtsrat bzw. zum Prüfungsausschuss besteht.28 Bei den DAX 30-Unternehmen ist in diesem Zusammenhang in den letzten Jahren allerdings zu beobachten, dass die Verantwortung für die Interne Revision innerhalb des Vorstands zunehmend dem CEO und nicht mehr dem CFO zugeordnet wird, wodurch bereits die Unabhängigkeit der Internen Revision gestärkt wurde. Dies ist ein Beispiel für die Wirksamkeit von Überwachungsmechanismen durch organisatorische Maßnahmen.29 3. Compliance Viel diskutiert im Bereich der unternehmensinternen Überwachung ist seit geraumer Zeit auch die sogenannte Compliance. „Ziel jeder Compliance Organisation ist es, auf die Einhaltung gesetzlicher Normen oder unternehmensdefinierter Vorgaben hinzuwirken, um dadurch Haftungsansprüche oder andere Rechtsnachteile für das Unternehmen, seine Mitarbeiter und Organe zu vermeiden.“30 Durch die potentielle bestandsgefährdende Wirkung von Verstößen von Unternehmensangehörigen kann aufgrund der Leitungsverantwortung und Sorgfaltspflicht des Vorstands gemäß der §§ 76 und 93 AktG von einer Einrichtungspflicht einer Compliance Organisation ausgegangen werden.31 IDW PS 980 stellt klar, dass neben der Einhaltung von gesetzlichen Bestimmungen auch die Beachtung von internen Richtlinien und von Dritten entwickelte Konventionen, zu deren Einhaltung sich das Unternehmen verpflichtet hat, von der Compliance Organisation zu überwachen sind.32 Obschon aus der Nichteinhaltung von Vorschriften zur Finanzberichterstattung Haftungsansprüche und andere Rechtsnachteile entstehen können, werden bisweilen eine direkte Verbindung von der Compliance Organisation zur Finanzberichterstattung sowie insbesondere daraus ableitbare, zusätzlich erforderliche, konkrete Überwachungsmaßnahmen nur selten diskutiert. Es überrascht daher, dass Ziffer 5.3.2 des DCGK i. d. F. 2010, anders als § 107 Abs. 3 AktG, die Befassung mit der Compliance Organisation gerade explizit als Aufgabe des Prüfungsausschusses benennt.33 Letztlich ist auch die Compliance-Organisation ein Bestandteil eines Gesamtrisikomanagementsystems. Insoweit ist die am 15.6.2012 im Bundesanzeiger veröffentlichte Aktualisierung des DCGK zumindest partiell positiv zu würdigen.

__________ 28 Vgl. Zieske/Zenkic, Der Konzern 2011, 163, 168 f. S. hierzu auch II. 4. dieses Beitrags. 29 S. hierzu auch Ziffer 7.4 MaRisk (VA) und die dortigen Erläuterungen der Anforderungen. 30 Hauschka in Hauschka, Corporate Compliance Handbuch der Haftungsvermeidung im Unternehmen, 2. Aufl. 2010, § 1 Rz. 24 (Hervorhebungen im Original). 31 Vgl. Fleischer in Spindler/Stilz, 2. Aufl. 2010, § 91 AktG Rz. 43; Hüffer (Fn. 11), § 76 AktG Rz. 9a; Eibelshäuser, Der Konzern 2007, 735, 739. 32 Vgl. IDW PS 980 Rz. 5 i. V. m. A4. 33 Vgl. hierzu Weber-Rey, AG 2008, 345, 348.

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4. Aufsichtsrat und Prüfungsausschuss Entsprechend dem im deutschen Aktienrecht verankerten dualistischen System der Unternehmensführung und -überwachung ist nach § 111 Abs. 1 AktG die gesetzliche Aufgabe des Aufsichtsrats die Überwachung des Vorstands und damit auch der vom Vorstand getroffenen Maßnahmen zur Erstellung und Überwachung der Finanzberichterstattung. Das Aktienrecht stattet den Aufsichtsrat hierzu mit umfassenden Informations- und Kontrollrechten aus,34 auch muss diesem nach § 100 Abs. 5 AktG mindestens ein financial expert angehören, der über Sachverstand auf den Gebieten Rechnungslegung oder Abschlussprüfung verfügt.35 Dies bedeutet, dass u. a. die Finanzberichterstattung im Allgemeinen, die Einrichtung und Wirksamkeit des oben erläuterten internen Kontroll- und Risikomanagementsystems sowie dessen im Hinblick auf den Rechnungslegungsprozess bezogenen Teile als auch die Interne Revision durch den Aufsichtsrat zu überwachen sind. So enthält hinsichtlich der Verantwortlichkeit des Aufsichtsrats für die Finanzberichterstattung zunächst § 171 Abs. 1 Satz 1 AktG die Vorgabe, dass der Aufsichtsrat den Jahresabschluss, den Lagebericht und den Vorschlag für die Verwendung des Bilanzgewinns, bei Mutterunternehmen auch den Konzernabschluss und den Konzernlagebericht, zu prüfen hat. Ferner enthält § 107 Abs. 3 Satz 2 AktG den Hinweis, dass der Aufsichtsrat einen Prüfungsausschuss bestellen kann, „[…] der sich mit der Überwachung des Rechnungslegungsprozesses, der Wirksamkeit des internen Kontrollsystems, des Risikomanagementsystems und des internen Revisionssystems sowie der Abschlussprüfung […] befasst“.36 Diese mit dem BilMoG vorgenommene Konkretisierung der Aufgaben des Prüfungsausschusses bzw. bei dessen Fehlen des gesamten Aufsichtsrats zeigt, dass es für eine sorgfältige Wahrnehmung der Überwachungsaufgabe im Interesse des Aufsichtsrats ist, „den Vorstand zu veranlassen, stringente Kontrollsysteme und Informationsabläufe zu installieren, um mögliche Defizite im internen Risikomanagement zu minimieren und somit eigene Sorgfaltspflichtverletzungen auszuschließen.“37 Der Aufsichtsrat hat deshalb „zu eruieren, ob Ergänzungen, Erweiterungen oder Verbesserungen erforderlich sind. Fehlt es gänzlich an einem internen Risikomanagementsystem, ist zu prüfen, ob die Einrichtung notwendig ist.“38 Nicht zuletzt erfordert die Überwachungsaufgabe vom Aufsichtsrat auch, dass festgestellte Mängel an den Vorstand kom-

__________ 34 Vgl. hierzu auch Ehren/Gros, Der Konzern 2011, 277, 278 f. m. w. N. 35 Der deutsche Gesetzgeber hat hier von dem Wahlrecht der Abschlussprüferrichtlinie Gebrauch gemacht. S. Art. 41 Abs. 1 Satz 3 der Richtlinie 2006/43/EG, ABl. EU L 157/87 v. 9.6.2006. U. E. muss der financial expert Kenntnisse auf den Gebieten Rechnungslegung und Abschlussprüfung haben. 36 § 107 Abs. 3 Satz 2 AktG. Vgl. hierzu auch Kämpfer/Hönsch in FS Norbert Herzig, 2010, S. 546 ff. 37 BT-Drucks. 16/10067 v. 30.7.2008, S. 103. 38 BT-Drucks. 16/10067 v. 30.7.2008, S. 102 f. Dabei geht die Regierungsbegründung zum BilMoG davon aus, dass die Überwachung des Rechnungslegungsprozesses in der Regel mit der Überwachung des internen Kontrollsystems und des internen Risikomanagementsystems einhergeht.

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muniziert werden und deren Behebung kontrolliert wird.39 Damit ist es für den Aufsichtsrat erforderlich, sich von der Angemessenheit der Systeme und ggf. deren Verbesserung zu überzeugen und sich im Sinne der mit dem Gesetz zur Unternehmensintegrität und Modernisierung des Anfechtungsrechts (UMAG)40 2005 eingeführten business judgement rule eine angemessene Informationsbasis zu verschaffen.41 Hierzu sind zunächst im Sinne einer Holschuld vom Vorstand entsprechende Unterlagen und Dokumentationen anzufordern und ggf. ist der Abschlussprüfer oder ein Dritter durch einen erweiterten Prüfungsbzw. Beratungsauftrag einzubeziehen.42 Bei seiner Überwachung kann der Aufsichtsrat bzw. dessen Prüfungsausschuss auch von der zukunftsorientierten Berichterstattung des Vorstands an den Aufsichtsrat, der seit dem TransPuG 2002 erweiterten Berichterstattung nach § 90 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AktG, Gebrauch machen, um aktuelle Entwicklungen einschätzen bzw. einbeziehen zu können. Die Überwachung der Angemessenheit des internen Kontroll- und Risikomanagementsystems sowie die ordnungsmäßige Überwachung des Vorstands im Allgemeinen setzt nämlich Informationen über das Erreichen angekündigter Ziele sowie die gegenwärtige Strategie voraus, um Risiken zu identifizieren und quantifizieren zu können. Im Rahmen dieser Analyse von Soll-IstAbweichungen spricht man auch von follow up-Berichterstattung.43 Erst die Informationen aus der follow up-Berichterstattung erlauben es dem Aufsichtsrat, die in den Lageberichten vom Vorstand getätigten Angaben zu Risiken, Chancen und Prognosen angemessen zu überprüfen, andernfalls drohen hier Haftungsrisiken. Gerade dieses wichtige Instrument der follow up-Berichterstattung scheint in der Praxis noch nicht angemessen Berücksichtigung zu finden. Bezüglich des internen Kontroll- und Risikomanagementsystems stützt sich die Überwachung durch den Prüfungsausschuss bzw. den Aufsichtsrat insbesondere auf Berichte des Vorstands sowie auf Prüfungsergebnisse des Abschlussprüfers.44 Überdies kann der Aufsichtsrat bzw. der Prüfungsausschuss grundsätzlich auch auf die Interne Revision zurückgreifen, obwohl dies in deutschen Unternehmen nicht einheitlich gehandhabt zu werden scheint. Wie oben bereits angedeutet, fällt die Überwachung des internen Kontrollsystems in das traditionelle Aufgabenspektrum der Internen Revision, die damit einen kompetenten Ansprechpartner für den Aufsichtsrat bzw. Prüfungsausschuss darstellt. Gerade deshalb sollte eine klare Berichtslinie zwischen Interner Revision und Aufsichtsrat bzw. Prüfungsausschuss implementiert sein. Im Rahmen der Revisionsplanung sollte auch der Aufsichtsrat bzw. Prüfungsausschuss unmittelbar Einfluss nehmen können.45

__________ 39 Vgl. hierzu Nonnenmacher/Pohle/v. Werder, DB 2009, 1447, 1447 ff. 40 BGBl. I 2005, Nr. 60, S. 2802 ff. 41 Vgl. Gelhausen/Fey/Kämpfer, Rechnungslegung und Prüfung nach dem Bilanzrechtsmodernisierungsgesetz, 2009, Abschn. Y, Rz. 68. 42 Vgl. hierzu Nonnenmacher/Pohle/v. Werder, DB 2009, 1447, 1451. 43 Vgl. BT-Drucks. 14/8769 v. 11.4.2002, S. 13 f. 44 Vgl. Nonnenmacher/Pohle/v. Werder, DB 2009, 1447, 1449. 45 Vgl. ähnlich Zieske/Zenkic, Der Konzern 2011, 163, 165, 168 f.

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Der Aufsichtsrat bzw. dessen Prüfungsausschuss ist gemäß § 107 Abs. 3 AktG allerdings auch gleichfalls verpflichtet, die Wirksamkeit der Internen Revision zu überwachen, weshalb das Zusammenspiel von Interner Revision und Aufsichtsrat bzw. Prüfungsausschuss nicht unproblematisch ist. Die Interne Revision stellt zugleich „Instrument und Gegenstand der Überwachung durch den Prüfungsausschuss/Aufsichtsrat“46 dar. So muss der Aufsichtsrat bzw. Prüfungsausschuss bei der Prüfung der Wirksamkeit der Internen Revision u. a. die quantitative und qualitative personelle Ausstattung der Internen Revision prüfen.47 Des Weiteren hat die Interne Revision über eine Methodik zu verfügen, welche eine risikoorientierte Revisionsplanung, eine effektive Prüfungsdurchführung und eine konsequente und nachvollziehbare Maßnahmenüberwachung sicherstellt.48 Hier ist insbesondere zu gewährleisten, dass die Interne Revision über ausreichend Sachmittel und Personalressourcen verfügt. Neben der Überwachung der Einrichtung und Wirksamkeit des internen Kontroll- und Risikomanagementsystems sowie dessen im Hinblick auf den Rechnungslegungsprozess bezogenen Teile und der Internen Revision sind durch den Aufsichtsrat auch die Abschlüsse zu prüfen. Der Bericht des Aufsichtsrats an sein Wahl- und Kontrollorgan – die Hauptversammlung – nach § 171 Abs. 2 AktG49 umfasst im Sinne eines Rechenschaftsbericht sowohl Ausführungen über die Art seiner Prüfung sowie das Ergebnis der eigenen Prüfung des Jahresund Konzernabschlusses, der Lageberichte und eine Stellungnahme zum Ergebnis der Prüfung des Abschlussprüfers.50 Diesbezüglich wurde die eigene Prüfung der Rechnungslegung durch den Aufsichtsrat bzw. den Prüfungsausschuss im Schrifttum bereits ausgiebig diskutiert und soll hier nicht weiter vertieft werden. So ist der Umfang der Prüfungspflicht des Aufsichtsrats weiter umstritten. Einerseits ist diese gesetzlich verankert, andererseits wird die – später ausführlicher erörterte – Gehilfenfunktion des Abschlussprüfers oft faktisch als eine Delegation der Prüfung an den Abschlussprüfer interpretiert.51 Die Prüfung durch den Aufsichtsrat findet somit im Wesentlichen unter Hinzuziehung der im Rahmen der Überwachung des internen Kontroll- und Risikomanagementsystems und der Internen Revision gewonnen Kenntnisse sowie unter Heranziehung des Prüfungsberichts des Abschlussprüfers einschließlich der Erkenntnisse aus der Diskussion mit dem Abschlussprüfer statt. Dabei hat der Aufsichtsrat auch den Prüfungsbericht sowie die Unabhängigkeit des Abschlussprüfers einer kritischen Beurteilung zu unterziehen, weshalb eine alleinige Bezugnahme auf das Ergebnis des Abschlussprüfers ausscheidet.

__________ 46 47 48 49

Zieske/Zenkic, Der Konzern 2011, 163, 169. Vgl. zu den Best Practice für die Interne Revision ausführlich AKEIÜ, DB 2006, 225 ff. Vgl. Zieske/Zenkic, Der Konzern 2011, 163, 168. Vgl. zur Entwicklung der Berichtspflicht des Aufsichtsrat gegenüber der Hauptversammlung z. B. Bachmann in FS Klaus J. Hopt, 2010, S. 351. 50 Vgl. Lutter in FS Jörg Baetge, 2007, S. 1009 f. 51 Vgl. hierzu Lutter (Fn. 50), S. 1009 ff.

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III. Unternehmensexterne Überwachung der Finanzberichterstattung 1. Abschlussprüfer als „Gehilfe“ des Aufsichtsrats a) Zur Funktion und Bedeutung der Abschlussprüfung Aufgabe bzw. Sinn und Zweck der Abschlussprüfung ist nach § 317 Abs. 1 bis Abs. 3 HGB zunächst im Sinne einer Ordnungsmäßigkeitsprüfung, solche Unrichtigkeiten und Verstöße gegen gesetzliche Vorschriften und ergänzende Bestimmungen des Gesellschaftsvertrags oder der Satzung bei der Erstellung des Jahresabschlusses bzw. des Konzernabschlusses sowie der jeweiligen Lageberichte zu erkennen, die sich auf die Darstellung der Vermögens-, Finanz- und Ertragslage auswirken.52 Nur bei börsennotierten Aktiengesellschaften ist nach § 317 Abs. 4 HGB außerdem im Rahmen der Prüfung zu beurteilen, ob der Vorstand die ihm nach § 91 Abs. 2 AktG obliegenden Maßnahmen in einer geeigneten Form getroffen hat und ob das danach einzurichtende Überwachungssystem seine Aufgaben erfüllen kann.53 Die gesetzliche Abschlussprüfung ist Vorbehaltsaufgabe von Wirtschaftsprüfern und nach § 316 Abs. 1 bzw. Abs. 2 HGB Voraussetzung für die Feststellung bzw. Billigung von Jahresbzw. Konzernabschluss durch den Aufsichtsrat.54 Die Abschlussprüfung dient als vertrauensbildende Maßnahme gegenüber den Rechnungslegungsadressaten sowie zur Unterstützung der Arbeit des Aufsichtsrats.55 Insofern entsteht in der Öffentlichkeit oft eine Erwartungslücke bezüglich der konkreten Inhalte einer gesetzlichen Abschlussprüfung. Die Schnittstelle zwischen dem Abschlussprüfer als externe Überwachungsinstanz und der unternehmensinternen Überwachung der Finanzberichterstattung bildet der Aufsichtsrat.56 Der Abschlussprüfer unterstützt den Aufsichtsrat bei der Überwachung des internen Kontroll- und Risikomanagementsystems und der Internen Revision sowie der Prüfung des Jahres- und Konzernabschlusses sowie der Lageberichte im Rahmen seiner Gehilfenfunktion. Diese Funktion wurde durch das KonTraG 1998 gestärkt, indem der Aufsichtsrat gemäß § 111 Abs. 2 Satz 3 AktG i. V. m. § 318 Abs. 1 Satz 4 HGB, und nicht mehr der Vorstand, den Prüfungsauftrag erteilt, um im Interesse einer besseren Unternehmenskontrolle die Neutralität des Abschlussprüfers gegenüber dem Vorstand und die Zusammenarbeit von Aufsichtsrat und Abschlussprüfer zu verstärken.57 Damit obliegt dem Aufsichtsrat bzw. über § 124 Abs. 3 Satz 2 AktG dem Prüfungsausschuss faktisch auch die Auswahl des Abschlussprüfers,

__________ 52 53 54 55

Vgl. hierzu ausführlich Ebke in FS Klaus J. Hopt, 2010, S. 561 ff. Vgl. hierzu Mattheus, ZGR 1999, 682, 702 ff.; Wolf, WPg 2010, 867, 869. Vgl. Hierzu z. B. Marten/Quick/Ruhnke, Wirtschaftsprüfung, 4. Aufl. 2011, S. 15 ff. Vgl. Ballwieser in Ballwieser/Grewe (Hrsg.), Wirtschafsprüfung im Wandel, 2008, S. 1. 56 Vgl. auch Mattheus in Lutter (Hrsg.), Der Wirtschaftsprüfer als Element der Corporate Governance, S. 15 f. 57 Vgl. hierzu Hommelhoff, BB 1998, 2567, 2568; Kropff in Semler/v. Schenck (Hrsg.), Arbeitshandbuch für Aufsichtsratsmitglieder, 3. Aufl. 2009, § 8 Rz. 202; Scheffler in Beck’sches Hdb. der Rechnungslegung, B 615, Rz. 112.

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nur die formale Bestellung erfolgt nach § 119 Abs. 1 Nr. 4 AktG bzw. § 318 Abs. 1 Satz 1 HGB durch die Hauptversammlung.58 Die Abschlussprüfung fungiert somit als ein wesentliches Regelungsinstrument, sowohl in der externen wie auch in der internen Corporate Governance.59 Hinsichtlich der externen Corporate Governance ist die Verlässlichkeit der Anlegerinformationen auf dem Kapitalmarkt im Sinne einer Ordnungsmäßigkeitsprüfung sicherzustellen.60 Im Bereich der internen Corporate Governance dient der Abschlussprüfer vornehmlich als „Gehilfe“ oder auch als eine Art „Sparringspartner“ des Aufsichtsrats – letzterer ein mitunter von Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Peter Hommelhoff in diesem Zusammenhang geprägter Begriff.61 Dies äußert sich auch darin, dass seit Inkrafttreten des BilMoG 2009 der Abschlussprüfer nach § 171 AktG bei prüfungspflichtigen Unternehmen an den Sitzungen des Aufsichtsrats oder des Prüfungsausschusses teilzunehmen hat, die über die Prüfung des Jahres- und Konzernabschlusses durch den Aufsichtsrat bzw. den Prüfungsausschuss befinden. Dabei hat der Abschlussprüfer über die wesentlichen Ergebnisse seiner eigenen Prüfung, insbesondere wesentliche Schwächen des internen Kontroll- und des Risikomanagementsystems bezogen auf den Rechnungslegungsprozess, zu berichten.62 b) Reformbestrebungen der EU-Kommission Derzeit stehen die Abschlussprüfung und deren Regulierung auf der Agenda der EU-Kommission. So war es Zielsetzung des am 13.10.2010 von Binnenmarktkommissar Michel Barnier veröffentlichten Grünbuchs „Weiteres Vorgehen im Bereich der Abschlussprüfung: Lehren aus der Krise“, die Rolle der Abschlussprüfer im Rahmen der Finanzmarktkrise einer kritischen Analyse zu unterziehen. In diesem Zusammenhang wurden bereits im Grünbuch und später in Verordnungs- und Richtlinienentwürfen63 teilweise tiefgreifende Regulierungsmaßnahmen vorgeschlagen. Zu beachten ist aus Sicht des deutschen

__________ 58 Vgl. hierzu auch Hommelhoff, BB 1998, 2567, 2568; Semler in Semler/Peltzer (Hrsg.), Arbeitshandbuch für Vorstandsmitglieder, 2003, § 1 Rz. 65 f. 59 Vgl. Hommelhoff, Die EU-Reform der Abschlussprüfung vor dem Hintergrund der deutschen Corporate Governance, Tischvorlage anlässlich der 8. Rheinischen Gesellschaftsrechtskonferenz, Köln, November 2011. 60 Vgl. hierzu Ebke (Fn. 52), S. 562. 61 Vgl. Hommelhoff (Fn. 59); vgl. hierzu auch Probst/Theisen, Der Aufsichtsrat 2011, 154 ff. 62 Vgl. hierzu Hommelhoff, BB 1998, 2625, 2626 ff. Vgl. hierzu auch IDW PS 261 n. F., Rz. 89, der eine Berichterstattung über die bedeutsamen Schwächen des rechnungslegungsbezogenen internen Kontrollsystems vorsieht. 63 Vgl. EU-Kommission, Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über spezifische Anforderungen an die Abschlussprüfung bei Unternehmen von öffentlichem Interesse, KOM(2011) 779/4, S. 1 ff. (http://ec.europa.eu/ internal_market/auditing/docs/reform/COM_2011_779_de.pdf), und EU-Kommission, Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Richtlinie 2006/43/EG über Abschlussprüfungen von Jahresabschlüssen und konsolidierten Abschlüssen, KOM(2011) 778/2, S. 1 ff. (http://ec.europa.eu/internal_ market/auditing/docs/reform/COM_2011_778_de.pdf).

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Unternehmensinterne und -externe Überwachung der Finanzberichterstattung

Corporate Governance-Systems, dass die meisten dieser Vorschläge bereits heute vom Aufsichtsrat bzw. Prüfungsausschuss freiwillig umgesetzt werden können – hierzu bedarf es freilich der entscheidenden Kenntnisse der financial experts nicht nur im Rahmen der Rechnungslegung, sondern auch der Abschlussprüfung.64 Eine Regulierung an dieser Stelle könnte somit Aufgaben und Pflichten des Aufsichtsrats einschränken und die im deutschen Corporate Governance-System dem Abschlussprüfer immanente Gehilfenfunktion in Frage stellen. Dass eine Vielzahl von Aufsichtsräten an einem kompetenten „Gehilfen“ oder „Sparringspartner“ interessiert sind und die in Deutschland zuletzt gestärkte Gehilfenfunktion auch praktisch anerkennen, zeigen nicht zuletzt die Ergebnisse der Konsultation zum genannten Grünbuch „Weiteres Vorgehen im Bereich der Abschlussprüfung: Lehren aus der Krise“. Konsultationsteilnehmer, die von der EU als Prüfungsausschüsse klassifiziert wurden, aber z. B. auch die von der EU als Ersteller klassifizierten Prüfungsausschussvorsitzenden der DAX 30 äußern die Sorge, dass die Reformvorschläge der EU-Kommission die Prüfungsqualität und somit auch die Kompetenz des „Gehilfen“ bzw. „Sparringspartners“ beeinträchtigen könnten. Darüber hinaus zeigt eine Auswertung der im Rahmen des Konsultationsprozesses zum Grünbuch bei der EUKommission eingegangenen Stellungnahmen, dass sich auch die Mehrzahl der weiteren Stakeholder (einschließlich der Behörden und öffentlichen Stellen) tendenziell gegen die von der EU-Kommission vorgeschlagenen, tiefgreifenden regulatorischen Änderungen im Bereich der Abschlussprüfung ausgesprochen hat.65 Vielmehr ist nach Auffassung der Verfasser gerade aus Sicht des deutschen Systems der Corporate Governance und der ihm, wie oben dargelegt, immanenten Gehilfenfunktion des Abschlussprüfers zu hinterfragen, ob es nicht eher einer weiteren Stärkung derselben bedarf. In diesem Sinne ist zunächst zu gewährleisten, dass der Aufsichtsrat bzw. der Prüfungsausschuss angemessen mit solchen financial experts besetzt ist, die den Abschlussprüfer als einen „Gehilfen“ bzw. „Sparringspartner“ verstehen, dessen Unabhängigkeit vom Vorstand sicherstellen und allem voran einen kompetenten, mit kritischer Grundhaltung ausgestatteten Abschlussprüfer auswählen, der eine hohe Prüfungsqualität – gemessen an der Wahrscheinlichkeit, dass wesentliche Fehler aufgedeckt werden66 – leistet. Es ist nur schwer mit dem deutschen System der Corporate Governance vereinbar, wenn Aufsichtsräte in erster Linie an einer Senkung von Prüfungsgebühren und einer möglichst „reibungslosen“ Prüfung interessiert sein sollten.67 Die Kenntnisse im Hinblick auf Rechnungslegung und Abschlussprüfung sollten sich bei künftigen Neubesetzungen des financial experts aus dem Lebenslauf ergeben. Eine weitere Verbesserung der Corporate Governance könnte dadurch erreicht werden, dass auch der financial

__________ 64 S. Fn. 35. 65 Vgl. hierzu Böcking/Gros/Wallek/Worret in von Rosen (Hrsg.) Studien des Deutschen Aktieninstituts Heft 51, sowie Böcking/Gros/Wallek/Worret, WPg 2011, 1159, 1167, 1169. 66 Vgl. DeAngelo, Journal of Accounting and Economics 1981, 183, 186. 67 Vgl. hierzu auch Ballwieser (Fn. 55), S. 4 ff., 10.

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expert auf der Hauptversammlung neben dem Aufsichtsratsvorsitzenden über die Überwachungstätigkeiten berichtet. 2. Enforcement durch DPR und BaFin sowie WPK und APAK Ein weiteres Element der unternehmensexternen Überwachung der Finanzberichterstattung bildet das so genannte Enforcement der Rechnungslegung durch DPR und BaFin. Die rechtlichen Grundlagen für das deutsche zweistufige Enforcementsystem wurden mit dem Bilanzkontrollgesetz (BilKoG)68 2004 gelegt. Das in Deutschland seither implementierte zweistufige Verfahren hat das Ziel, das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Rechnungslegung kapitalmarktorientierter Unternehmen zu stärken und dazu beizutragen, dass die anzuwendenden Rechnungslegungsnormen von den Unternehmen und Konzernen beachtet und die Qualität der Rechnungslegung verbessert wird. Sollten Unrichtigkeiten auftreten, sind diese aufzudecken und der Kapitalmarkt darüber zu informieren, womit auf die adverse Publizität als wesentliches Sanktionierungsinstrument vertraut wird. Dieses Verfahren soll gleichfalls eine präventive Wirkung entfalten.69 Gegenstand der Prüfung ist nach § 342b Abs. 2 HGB bzw. § 37n WpHG, ob der zuletzt festgestellte Jahresabschluss und der zugehörige Lagebericht oder der zuletzt gebilligte Konzernabschluss und der zugehörige Konzernlagebericht sowie der zuletzt veröffentlichte verkürzte Abschluss und der zugehörige Zwischenlagebericht den gesetzlichen Vorschriften einschließlich der Grundsätze ordnungsmäßiger Buchführung oder den sonstigen durch Gesetz zugelassenen Rechnungslegungsstandards entspricht. Da bereits, neben dem primär für die Erstellung einer ordnungsmäßigen Rechnungslegung verantwortlichen Vorstand, der Abschlussprüfer und der Aufsichtsrat eine Durchsetzung ordnungsgemäßer Rechnungslegung garantieren sollen,70 könnte das Enforcement der Rechnungslegung als eine Art „Kontrolle der Kontrolleure“ betrachtet werden, wenngleich sich die Wesentlichkeitsmaßstäbe der verschiedenen Überwachungsinstanzen unterscheiden mögen. Obschon in Deutschland Vorstand, Aufsichtsrat und Abschlussprüfer für die Ordnungsmäßigkeit der Finanzberichterstattung zuständig sind, ist unternehmensseitiger Ansprechpartner der DPR bzw. der BaFin zunächst ausschließlich dessen Vertreter in Form des Vorstands. Insofern wird nicht deutlich, ob und inwieweit eine „Kontrolle der Kontrolleure“, d. h. von Aufsichtsrat und Abschlussprüfer erfolgen soll. Wäre dies der Fall, müsste sich die DPR auch unmittelbar an den Aufsichtsrat als Schnittstelle zwischen unternehmensinterner und -externer Überwachung der

__________ 68 BGBl. I 2004, Nr. 69, S. 3408 ff. Vgl. hierzu und insbesondere zum Aufbau des deutschen Enforcementsystems stellvertretend für viele Hommelhoff/Mattheus, BB 2004, 93 ff.; Hommelhoff in Baetge/Kirsch, Anpassung des Bilanzrechts an internationale Standards, S. 57 ff. 69 Vgl. hierzu BT-Drucks. 15/3421 v. 24.6.2004, S. 11; DPR, Tätigkeitsbericht 2005, S. 2 ff. Online verfügbar unter: http://www.frep.info/docs/jahresberichte/2005_tb_ pruefstelle.pdf; Meyer, Der Konzern 2010, 226, 226. 70 Vgl. Kämpfer, BB 2005, 13, 13; Wüstemann, BB 2002, 718, 725.

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Unternehmensinterne und -externe Überwachung der Finanzberichterstattung

Finanzberichterstattung wenden. Zumindest sollte es auf Unternehmensseite bereits heute gute Praxis sein, den Aufsichtsrat nicht nur über die Überprüfung im Rahmen eines Enforcementverfahrens zu informieren (Informationsordnung), sondern auch in etwaige Entscheidungen über die Akzeptanz einer Fehlerfeststellung aktiv einzubinden. Denn durch die zuvor erfolgte Feststellung und/ oder Billigung der betroffenen Abschlüsse sind die Mitglieder des Aufsichtsrats bzw. dessen Prüfungsausschusses nicht zuletzt auch dem Risiko eines persönlichen Reputationsschadens ausgesetzt.71 Auch stellen sich hier konkrete Haftungsfragen. Einzugehen ist an dieser Stelle auch auf die Schnittstelle zwischen dem deutschen System zum Enforcement der Rechnungslegungsnormen und der Aufsicht über die Abschlussprüfer.72 Die gesetzliche Grundlage für die Einleitung berufsaufsichtsrechtlicher Ermittlungen gegen den Abschlussprüfer findet sich in § 342b Abs. 8 Satz 2 HGB und § 37r Abs. 2 Satz 1 WpHG. Die DPR oder die BaFin müssen dazu im Rahmen ihrer Prüfungen auf Hinweise möglicher Verletzungen der Berufspflicht des Abschlussprüfers gestoßen sein.73 Nach § 342b Abs. 8 Satz 2 HGB zeigt die Prüfstelle „Tatsachen, die auf das Vorliegen einer Berufspflichtverletzung durch den Abschlussprüfer schließen lassen, […] der Wirtschaftsprüferkammer“ an. Selbiges gilt gemäß § 37r Abs. 2 Satz 1 WpHG für die BaFin im Rahmen einer Enforcementprüfung auf der zweiten Stufe.74 Die Entscheidung, welche Sanktionsmaßnahmen der Abschlussprüfer des betroffenen Unternehmens zu erwarten hat, obliegt der Wirtschaftsprüferkammer (WPK) sowie über § 66a WPO auch der Abschlussprüferaufsichtskommission (APAK). Dieses derzeit bestehende Verfahren, insbesondere in Bezug auf Informationen über die beteiligten Parteien, den Verfahrensverlauf und die Ergebnisse, ist für die Öffentlichkeit bislang allerdings wenig transparent. So ist in diesem Zusammenhang der Umgang mit dem Abschussprüfer von mit Fehlerfeststellungen belegten Unternehmen, denen zuvor ein uneingeschränktes Testat erteilt wurde bzw. eine Einschränkung sich nicht auf die von der DPR bzw. BaFin gerügten Fehler bezog, nicht ohne weiteres nachvollziehbar. Einfach öffentlich zugänglich sind im Wesentlichen nur Informationen zur Zahl der Berufsaufsichtsverfahren. Eine Steigerung der Transparenz an dieser Stelle könnte ein geeignetes Mittel sein, die Unabhängigkeit der Abschlussprüfer weiter zu stärken, indem das Risiko von Reputationsschäden und damit auch der Wille des Abschlussprüfers über aufgedeckte Fehler zu berichten erhöht würden.75

__________ 71 72 73 74

Vgl. Roese/von Rosen in PwC/DAI (Hrsg.), Erfahrungen mit DPR-Prüfungen. Vgl. auch Böcking (Fn. 3), S. 90. Vgl. auch Berger, BFuP 2009, 599, 610. Vgl. Böcking/Dutzi, BFuP 2006, 1, 11; ebenso Marten/Köhler/Paulitschek, BB 2006, 23, 29. 75 Vgl. zu den theoretischen Grundlagen dieser Argumentation DeAngelo, Journal of Accounting and Economics 1981, 183, 186; Ewert, Der Konzern, 528, 528 ff.

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IV. Zusammenfassung Unternehmensschieflagen, Bilanzskandale sowie die Finanzmarktkrise haben dazu beigetragen, dass die Überwachung der Finanzberichterstattung seit langem auf der Agenda der zuständigen Regulierer steht. In Deutschland und Europa wurden eine Vielzahl von Maßnahmen implementiert, die dazu dienen sollen, das Vertrauen der Kapitalmarktakteure in die Rechnungslegung zu stärken und eine hohe Rechnungslegungsqualität zu gewährleisten. Die zahlreichen implementierten Maßnahmen zielen sowohl auf die unternehmensinterne Überwachung als auch auf die unternehmensexterne Überwachung der Finanzberichterstattung ab. Insbesondere die derzeit bestehenden Vorgaben zum internen Kontroll- und Risikomanagementsystem und dessen auf den Rechnungslegungsprozess bezogenen Teils bleiben allerdings vage. Auch die in diesem Beitrag dargestellte Gemengelage der getroffenen Maßnahmen verdeutlicht, dass bisweilen der klaren Verteilung der Verantwortlichkeit und Aufgaben sowie der Zusammenarbeit und Kommunikation der involvierten unternehmensinternen und unternehmensexternen Überwachungsinstanzen noch zu wenig Aufmerksamkeit zukommt. Bevor von Seiten der Regulierer grundlegende Reformen vorgenommen werden, sollten daher zunächst die bestehenden Governance-Mechanismen kritisch geprüft und ggf. gestärkt werden. Eine zentrale Rolle kommt hierbei im deutschen dualistischen System der Corporate Governance dem Aufsichtsrat und seiner Zusammenarbeit mit der Internen Revision auf unternehmensinterner Seite und dem Abschlussprüfer auf unternehmensexterner Seite zu. Um den Aufsichtsrat zu stärken, bedarf es einer Berichtslinie zwischen demselben und der Internen Revision. Hinsichtlich der Zusammenarbeit mit dem Abschlussprüfer ist die Akzeptanz des Gehilfenverständnisses sicherzustellen. Die derzeit von der EU-Kommission erwogenen Regulierungsmaßnahmen stellen dieses allerdings in Frage und würden somit die in Deutschland implementierten Governance-Mechanismen schwächen. Bezüglich der bislang wenig diskutierten Verbindung des Aufsichtsrats zur DPR und BaFin ist zu gewährleisten, dass der Aufsichtsrat unmittelbar in Enforcementverfahren einbezogen wird und über die Akzeptanz von etwaigen Fehlerfeststellungen mit entscheidet. Für die Wissenschaft stellt sich die Herausforderung, die Wirksamkeit des Zusammenwirkens der zahlreichen bestehenden unternehmensinternen und unternehmensexternen Überwachungsmechanismen – insbesondere empirisch – zu überprüfen. Dies ist ebenfalls zwingend erforderlich, bevor seitens der Regulierer neue Schritte unternommen werden. Andernfalls besteht die Gefahr einer Überregulierung ohne die bisherigen Schwachstellen beseitigt und die Stärken erkannt zu haben.

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Verbundeffekte im Aktienkonzernrecht und im Recht der Unternehmensbewertung* Inhaltsübersicht I. Themenstellung II. Begriffsverständnis III. Verbundeffekte im vertragslosen Aktienkonzern 1. Passive negative Verbundeffekte 2. Aktive Verbundeffekte a) Ausgleich von Nachteilen durch positive Verbundeffekte? b) Zwingende Teilhabe der abhängigen AG an positiven Verbundeffekten? IV. Verbundeffekte und Unternehmensbewertung bei Strukturmaßnahmen 1. Praktische Bedeutung 2. Meinungsbild in Rechtsprechung und Literatur

3. Stellungnahme a) Fiktives Verhandlungsmodell? b) Treuepflicht des herrschenden Unternehmens? c) Gebot einer wertmäßigen Gleichstellung in allen Fällen von Strukturmaßnahmen? d) Börsenkursbetrachtung? e) Berücksichtigung einseitiger Unterstützungsleistungen? f) Praktische Schwierigkeiten 4. Abgrenzung zwischen echten und unechten Verbundeffekten a) Verhältnis zu Stichtagsprinzip und Wurzeltheorie b) Abgrenzungskriterien c) Beispiele d) Keine Besonderheiten beim Squeeze-out

I. Themenstellung Verbundeffekte begegnen uns im Wirtschaftsleben vielfach als Vorhersagen über künftige Umstände, mit denen die betroffenen Unternehmen einen Zusammenschluss oder eine Übernahme rechtfertigen. Sie sind Gegenstand betriebswirtschaftlicher Untersuchungen,1 beschäftigen die Rechtsprechung und die juristische Literatur hingegen eher selten. Für das Recht des vertragslosen („faktischen“) Aktienkonzerns und für die Unternehmensbewertung bei Integrationsmaßnahmen im Anschluss an eine Unternehmensübernahme (Beherrschungs-

__________ * Der Verfasser berät Unternehmen bzw. deren Mehrheitsaktionäre zu den nachfolgend angesprochenen Fragestellungen und vertritt diese in Spruchverfahren. 1 Vgl. etwa Böcking in FS Moxter, 1994, S. 1407; Busse von Colbe, ZGR 1994, 595; Franke, Synergien in Rechtsprechung und Rechnungslegung, 2009; Hachmeister/ Ruthardt/Gebhardt, Der Konzern 2011, 600, 602; Mandl/Rabel in Kruschwitz/Löffler (Hrsg.), Ergebnisse des Berliner Workshops „Unternehmensbewertung“ v. 7.2.1998, S. 53; vgl. ferner die Nachweise bei Adolff, Unternehmensbewertung im Recht der börsennotierten Aktiengesellschaft, 2007, S. 398 und bei Fleischer, ZGR 1997, 368, 373.

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vertrag, Squeeze-out) hat die Frage der Berücksichtigung von Verbundeffekten jedoch eine nicht zu unterschätzende praktische Bedeutung. Nachfolgend wird der Versuch einer Bestandsaufnahme aus der Sicht der Praxis unternommen. Dazu bedarf es zunächst einer Beleuchtung der für die Untersuchung maßgeblichen Verbundeffekte (nachfolgend II.). Alsdann wird die rechtliche Bedeutung von Verbundeffekten im Recht des vertragslosen Aktienkonzerns untersucht (nachfolgend III.). Anschließend wird der Frage nachgegangen, ob und inwieweit Verbundeffekte im Rahmen der Unternehmensbewertung bei Strukturmaßnahmen zugunsten von außenstehenden Aktionären werterhöhend zu berücksichtigen sind (nachfolgend IV.).

II. Begriffsverständnis Verbundeffekte sind alle – positiven oder negativen – Effekte, die in einem Unternehmensverbund aufgrund des Verbundes entstehen. Sie können als sog. passive Konzerneffekte ohne weiteres Zutun von Mutter- und Tochterunternehmen allein durch die Herstellung des Unternehmensverbundes eintreten. Beispiele dafür sind steuerliche Vorteile aus der Teilhabe an einer gewerbesteuerlichen Organschaft oder das Entfallen von Kosten für die Aufstellung eines Konzernabschlusses wegen der Einbeziehung in den Konzernabschluss der Muttergesellschaft. Typischerweise entstehen Verbundeffekte jedoch aufgrund aktiver Veranlassung der Muttergesellschaft oder eines Zusammenwirkens zwischen Mutter- und Tochtergesellschaft. Klassische Verbundeffekte sind die sog. Synergieeffekte, die sich insbesondere aus einer operativen Zusammenarbeit von Mutter- und Tochterunternehmen und dem dadurch geschaffenen Mehrwert (1+1=3) ergeben. Typische Beispiele sind Kostenvorteile aus der Zentralisierung von Unternehmensfunktionen bei der Muttergesellschaft, der Übernahme von Service-Funktionen durch die Muttergesellschaft oder die Zusammenlegung von operativen Unternehmensbereichen. Der Begriff des Verbundeffektes ist jedoch weder auf positive Effekte aus einem Verbund von komplementären Unternehmen, die ehemals Wettbewerber waren, noch auf Vorteile aus einer operativen Zusammenarbeit beschränkt. Positive Effekte können sich auch durch einseitige Maßnahmen der Muttergesellschaft ergeben, etwa durch Investitionen bei der Tochtergesellschaft, Begebung von Sicherheiten für Verbindlichkeiten der Tochtergesellschaft, Stärkung des Grundkapitals oder der Kapitalrücklagen durch die Muttergesellschaft bei der Tochtergesellschaft. Solche positiven Effekte müssen nicht notwendig zu einem Mehrwert für die Unternehmensgruppe führen, sondern sie können auch in der Sicherung der Überlebensfähigkeit der Tochtergesellschaft bestehen. Da sich hierzu typischerweise kein Dritter bereit findet, sondern nur ein Mutterunternehmen, handelt es sich ebenfalls um Effekte im Unternehmensverbund. Derartige Verbundeffekte sind dementsprechend ebenfalls Gegenstand der nachfolgenden Untersuchung, auch wenn sie typischerweise in Untersuchungen zu 116

Verbundeffekte im Aktienkonzernrecht und im Recht der Unternehmensbewertung

Verbundeffekten nicht im Fokus stehen oder ausdrücklich nicht als klassische Synergieeffekte bezeichnet werden.

III. Verbundeffekte im vertragslosen Aktienkonzern 1. Passive negative Verbundeffekte Die Einbeziehung einer Tochtergesellschaft in einen Unternehmensverbund kann auch zu einzelnen negativen Effekten führen. So können der abhängigen AG Nachteile entstehen durch die Kündigung von wesentlichen Verträgen durch Vertragspartner aufgrund der Übernahme der AG (change of controlKlauseln) oder es können aufgrund eines Wechsels der Anteilsinhaber steuerliche Verlustvorträge verlorengehen. Aus der Sicht der abhängigen AG stellt sich in solchen Fällen die Frage, ob sie vom herrschenden Unternehmen einen Ausgleich für passive negative Konzerneffekte gemäß §§ 311 ff. AktG verlangen kann. Das ist nach einhelliger Auffassung zu verneinen.2 Regelmäßig wird bereits das Vorliegen eines nachteiligen Rechtsgeschäfts oder einer nachteiligen Maßnahme im Sinne von § 311 Abs. 1 AktG verneint. Das erscheint schon deshalb zutreffend, weil typischerweise nicht davon ausgegangen werden kann, dass die Einbindung einer AG in einen Konzernverbund für die abhängige AG per se ohne weiteres Zutun des herrschenden Unternehmens unter Berücksichtigung aller passiven Effekte nachteilig ist. Aber selbst dann, wenn sich im Einzelfall durch die bloße Einbeziehung in den Konzernverbund ausnahmsweise massive negative Verbundeffekte ergeben sollten, besteht keine Ausgleichspflicht des herrschenden Unternehmens. Es fehlt an einer Veranlassung durch das herrschende Unternehmen, die Tatbestandsvoraussetzung des § 311 Abs. 1 AktG für einen Ausgleichsanspruch ist. Die Kontrollerlangung als solche ist keine ausreichende Veranlassung.3 Zu den passiven Konzerneffekten gehört auch das Entstehen gesetzlicher Pflichten für die abhängige Gesellschaft infolge der Konzernzugehörigkeit. Auch für die mit der Entstehung solcher Pflichten verbundenen Kosten besteht keine Ausgleichspflicht des herrschenden Unternehmens gemäß §§ 311, 317 AktG. Beispiele sind Mehrkosten aufgrund der Verpflichtung zur Erstellung des Ab-

__________ 2 Altmeppen in MünchKomm. AktG, 3. Aufl. 2010, § 311 AktG Rz. 476 ff.; Hüffer, 10. Aufl. 2012, § 311 AktG Rz. 26; Koppensteiner in KölnKomm. AktG, 3. Aufl. 2004, § 311 AktG Rz. 39; Krieger in MünchHdb. AG, 3. Aufl. 2007, § 69 Rz. 73; H.-F. Müller in Spindler/Stilz, AktG, 2. Aufl. 2010, § 311 AktG Rz. 28; J. Vetter in K. Schmidt/ Lutter, 2. Aufl. 2010, § 311 AktG Rz. 24; Wiedemann/Fleischer in Lutter/Scheffler/ U. H. Schneider, Hdb. Konzernfinanzierung, 1998, § 29 Rz. 39. 3 Habersack in Emmerich/Habersack, Aktien- und GmbH-Konzernrecht, 6. Aufl. 2010, § 311 AktG Rz. 52, 62.

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hängigkeitsberichts gemäß § 312 AktG,4 bilanz- oder kapitalmarktrechtliche Berichtspflichten der abhängigen AG5 sowie die Erfüllung von Informationspflichten der abhängigen AG im Zusammenhang mit der Aufstellung eines Konzernabschlusses gemäß § 294 HGB.6 Ungesichert ist, ob zu den passiven Verbundeffekten auch Nachteile gehören, die sich aufgrund gesetzlicher Verpflichtungen der Muttergesellschaft ergeben, die aber nicht der abhängigen AG obliegen. Ein Beispiel bilden Kosten, die der abhängigen AG dadurch entstehen, dass die Muttergesellschaft als Konzernobergesellschaft regulatorischen Vorgaben unterliegt und deshalb etwa im Bereich der Compliance oder im Controlling Arbeitsabläufe bei der abhängigen AG mit denjenigen der Obergesellschaft harmonisiert werden müssen. In solchen Fällen wird die abhängige AG mangels eigener gesetzlicher Verpflichtung jedenfalls aufgrund einer Veranlassung durch das herrschende Unternehmen tätig, was zunächst für einen ausgleichspflichtigen Nachteil spricht.7 Andererseits wird das herrschende Unternehmen in solchen Fällen nicht im eigenen Interesse tätig, sondern aufgrund einer gesetzlichen Verpflichtung und deshalb auch im öffentlichen Interesse, was gegen eine Ausgleichspflicht angeführt wird.8 Unstreitig kein passiver Konzerneffekt und damit eine Ausgleichspflicht des herrschenden Unternehmens liegt vor, wenn dieses gesetzlich nicht geschuldete Bilanzierungsstandards einführt und dadurch ein zusätzlicher Aufwand bei der abhängigen AG entsteht.9 2. Aktive Verbundeffekte a) Ausgleich von Nachteilen durch positive Verbundeffekte? Integrationsmaßnahmen im Verbund, die positive Verbundeffekte zur Folge haben sollen, lösen typischerweise zunächst (auch) bei der abhängigen AG Kosten aus. So führt die Zentralisierung von Unternehmensfunktionen bei der Muttergesellschaft und die damit verbundene Aufgabe der entsprechenden Unternehmensfunktion bei der abhängigen AG zunächst zur Notwendigkeit von Abfindungszahlungen an ausscheidende Mitarbeiter. Die Bildung einer einheitlichen IT-Infrastruktur erfordert anfangs Investitionen in die Entwicklung und Errichtung einer derartigen einheitlichen Plattform. Die anfänglichen

__________ 4 Altmeppen (Fn. 2), § 311 AktG Rz. 476; Habersack (Fn. 3), § 311 AktG Rz. 52; Koppensteiner (Fn. 2), § 311 AktG Rz. 35; Krieger (Fn. 2), § 69 Rz. 89; H.-F. Müller (Fn. 2), § 312 AktG Rz. 18; J. Vetter (Fn. 2), § 312 AktG Rz. 21; abweichend für Ausgleichspflicht analog §§ 311, 317 AktG vgl. Bode, AG 1995, 261, 269; Hüffer (Fn. 2), § 312 AktG Rz. 40; Weichner in Heidel, Aktienrecht und Kapitalmarktrecht, 3. Aufl. 2011, § 312 AktG Rz. 36; vgl. auch Uwe H. Schneider, BB 1981, 249, 259. 5 Habersack (Fn. 3), § 311 AktG Rz. 52. 6 Vgl. Möhrle, Der Konzern 2006, 487, 489. 7 Vgl. Möhrle, Der Konzern 2006, 487, 490. 8 Vgl. auch Uwe H. Schneider, BB 1981, 249, 259. 9 Habersack (Fn. 3), § 311 AktG Rz. 52; Möhrle, Der Konzern 2006, 487, 493.

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Verbundeffekte im Aktienkonzernrecht und im Recht der Unternehmensbewertung

Kosten sollen allerdings mittel- und langfristig durch entsprechende Kostenvorteile überkompensiert werden. Derartige Integrationsmaßnahmen wird man nicht bereits deshalb als nachteilig im Sinne von § 311 Abs. 1 AktG ansehen müssen, weil mit ihrer Umsetzung zunächst Kosten verbunden sind. Kommt der Vorstand nach pflichtgemäßer Prüfung (§ 317 Abs. 2 AktG) zu der Einschätzung, dass die anfänglich eingegangenen Investitionen und eingetretenen Kosten jedenfalls mittel- und langfristig – auch unter Berücksichtigung einer Abdiskontierung – durch Kostensynergien und sonstige positive Verbundeffekte hinreichend sicher mindestens ausgeglichen werden, so darf er die betreffende Maßnahme durchführen.10 Beispiele können etwa die Umstellung auf die Betriebssysteme der Muttergesellschaft oder eine Zentralisierung von Unternehmensfunktionen bilden. Insoweit gilt nichts anderes als bei Investitionen: Der Vorstand darf auch riskante Investitionsentscheidungen treffen, wenn er nach pflichtgemäßer Prüfung bei einer Gesamtabwägung zu dem Ergebnis gelangt, dass die unternehmerischen Chancen die Risiken überwiegen und die Maßnahme deshalb nicht nachteilig ist.11 Auch Maßnahmen, mit denen gleichgewichtig Risiken und Chancen verbunden sind, dürfen nach zutreffender Auffassung im vertragslosen Aktienkonzern durchgeführt werden, wenn den schwer kalkulierbaren Risiken zwar ebenfalls unsichere, aber nach pflichtgemäßer Prüfung zumindest hinreichend wahrscheinlich zu erwartende Vorteile gegenüberstehen.12 Die Berücksichtigungsfähigkeit von positiven Verbundeffekten für die Frage der Beurteilung der Nachteiligkeit von Integrationsmaßnahmen im Konzern könnte im Hinblick auf die Entscheidung des BGH in Sachen Deutsche Telekom Börsengang III fraglich geworden sein.13 In dieser Entscheidung bejahte der BGH das Vorliegen eines Nachteils der Deutsche Telekom AG (DTAG) aufgrund der Übernahme eines (abstrakten) Prospekthaftungsrisikos in den USA im Zusammenhang mit einer Umplatzierung von Aktien ihres Großaktionärs KfW in den USA. Ein Eigeninteresse der DTAG an der Platzierung der Altaktien auf dem US-Kapitalmarkt und an einer breiten Streuung der Aktien oder andere nicht bezifferbare Vorteile geben nach Auffassung des BGH aufgrund der maßgeblichen bilanziellen Betrachtungsweise keine ausreichende Kompensation für die Übernahme des Haftungsrisikos.14 Dieser zu § 57 AktG entwickelten Auffassung folgt der BGH auch bei der Beurteilung eines ausgleichspflichtigen Nachteils im Sinne von § 311 Abs. 1 AktG. Die konkrete Gefährdung der Vermögens- und Ertragslage der DTAG sieht er als Nachteil

__________ 10 Vgl. auch Altmeppen (Fn. 2), § 311 AktG Rz. 298; Habersack (Fn. 3), § 311 AktG Rz. 49; Leuering/Goertz in Hölters, 2011, § 311 AktG Rz. 71. 11 Altmeppen (Fn. 2), § 311 AktG Rz. 220; Habersack (Fn. 3), § 311 AktG Rz. 57a; Hüffer (Fn. 2), § 311 AktG Rz. 34; Koppensteiner (Fn. 2), § 311 AktG Rz. 72, 74; J. Vetter (Fn. 2), § 311 AktG Rz. 55. 12 So in der Sache OLG Köln, ZIP 2006, 997, 998: Erwerb einer UMTS-Lizenz; Decher, ZHR 171 (2007), 126, 135; vgl. auch Hüffer (Fn. 2), § 311 AktG Rz. 34; Habersack (Fn. 3), § 311 AktG Rz. 57, 64; einschränkend Koppensteiner (Fn. 2), § 311 AktG Rz. 54. 13 BGH v. 31.5.2011 – II ZR 141/09, Rz. 25 (zit. nach juris) = AG 2011, 548, 550. 14 BGH v. 31.5.2011 – II ZR 141/09, Rz. 25 (zit. nach juris).

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an, der durch nicht hinreichend bezifferbare Vorteile nicht ausgeglichen werden kann.15 Die Frage eines Ausgleichs von Nachteilen durch konkret bezifferbare Vorteile gemäß § 311 Abs. 2 AktG kommt indessen nur dann in Betracht, wenn zunächst das Vorliegen eines Nachteils bejaht worden ist. Insoweit ist weder eine bilanzielle Betrachtung noch eine konkrete Bezifferbarkeit von positiven und negativen Effekten erforderlich. Vielmehr ist gemäß § 317 Abs. 2 AktG maßgeblich, ob ein pflichtgemäß handelnder Geschäftsleiter unter Berücksichtigung der erkennbaren Chancen und Risiken die betreffende Maßnahme durchführen darf.16 Allerdings macht die Entscheidung des BGH deutlich, dass hinsichtlich der Verneinung eines Nachteils trotz anfänglich sicher entstehender Kosten im Hinblick auf (nicht sichere) spätere Verbundvorteile hohe Anforderungen zu stellen sind. Es ist eine Bezifferbarkeit der erwarteten Verbundeffekte zu verlangen, die nachvollziehbar einzelnen Maßnahmen zugeordnet werden können müssen. Auch muss der Eintritt der Verbundeffekte aus einer Sicht ex ante im Hinblick auf das „Ob“, den zeitlichen Eintritt und die Höhe der erwarteten Verbundeffekte realistisch sein. Der notwendigerweise verbleibenden Unsicherheit über den Eintritt zukünftiger Erwartungen muss durch Sicherheitsabschläge Rechnung getragen werden. Zu beachten ist ferner, dass für die Gesamtbeurteilung, ob eine Integrationsmaßnahme trotz anfänglicher Kosten wegen mittel- und langfristiger positiver Verbundeffekte nachteilig ist oder nicht, nur die Verbundeffekte zu berücksichtigen sind, die unter dem Regime des vertragslosen Konzerns erwartet werden. Verbundeffekte, die erst nach Abschluss eines Unternehmensvertrages eintreten sollen (sog. echte Verbundeffekte, vgl. unten IV. 4.), sind nicht zur Vermeidung bzw. zum Ausgleich eines Nachteils nach dem Recht des vertragslosen Konzerns geeignet. b) Zwingende Teilhabe der abhängigen AG an positiven Verbundeffekten? Neben der Frage der Ausgleichspflicht von anfänglichen Kosten stellt sich die Frage, ob der abhängigen AG eine Teilhabe an positiven Verbundeffekten zuzugestehen ist. Angenommen, Integrationskosten in Höhe von 100 Mio. Euro fallen in Höhe von je 50 Mio. Euro bei der abhängigen AG und bei der Muttergesellschaft an. Verbundvorteile werden in Höhe von 200 Mio. Euro hinreichend sicher erwartet. Nach der hier vertretenen Auffassung liegt keine nachteilige Maßnahme vor, wenn bei der abhängigen AG mindestens Verbundeffekte in Höhe von 50 Mio. Euro eintreten und die auf sie entfallenen Integrationskosten neutralisieren. Steht der abhängigen AG aber auch ein Anteil an den überschießenden positiven Verbundeffekten zu?

__________ 15 BGH v. 31.5.2011 – II ZR 141/09, Rz. 37 (zit. nach juris). 16 Vgl. insoweit auch Krämer/Gillessen/Kiefner, CORPORATE FINANCE law 2011, 328, 330.

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Der BGH hat in einer zur Gewerbesteuerumlage auf Konzerngesellschaften ergangenen Entscheidung ausgeführt, dass der Tochtergesellschaft Gewerbesteuer konzernintern nur insoweit anteilig in Rechnung gestellt werden darf, als sie auch tatsächlich auf Ebene der Konzernobergesellschaft angefallen ist.17 Als nachteilig hat er es angesehen, wenn die Muttergesellschaft den internen Ausgleichsbetrag unter der Fiktion fortbestehender Unabhängigkeit der Tochtergesellschaft berechnet und sich den bei der abhängigen AG entstehenden Steuervorteil vergüten lässt. Die Richtigkeit dieser Entscheidung ergibt sich schon daraus, dass bei der abhängigen AG aufgrund einer Einbeziehung in einen Verbund entstehende Steuervorteile als passive Verbundeffekte weder als Nachteil (siehe oben 1.) noch als Vorteil in der konzerninternen Ausgleichsrechnung Berücksichtigung finden dürfen. Passive Verbundvorteile entstehen bei der abhängigen AG ohne Zutun der Muttergesellschaft und haben dann auch bei dieser zu verbleiben. Für die Frage, ob aktiv veranlasste positive Verbundeffekte der Konzerntochter (teilweise) zuzurechnen oder an diese weiterzureichen sind, lässt sich die Entscheidung des BGH damit nicht anführen.18 Nach einer Literaturauffassung muss eine Beteiligung der abhängigen AG an aktiven positiven Verbundvorteilen erfolgen. Zur Begründung wird angeführt, auch der Vorstand einer unabhängigen Gesellschaft würde derartige Maßnahmen nur dann durchführen, wenn er die mit der Maßnahme verbundenen positiven Verbundeffekte nutzen kann.19 Zutreffend erscheint die Gegenauffassung, die eine Pflicht zur Weitergabe von Verbundvorteilen an die abhängige AG ablehnt.20 Insbesondere lässt sich ein Anspruch der abhängigen AG auf Teilhabe an Verbundvorteilen nicht aus dem Schutzsystem der §§ 311 ff. AktG im vertragslosen Konzern ableiten. Danach besteht die Verpflichtung des Vorstands der abhängigen AG nicht uneingeschränkt darin, sich gegenüber dem herrschenden Unternehmen wie gegenüber einem Dritten zu verhalten. Vielmehr darf er auch die Belange des herrschenden Unternehmens berücksichtigen, solange sein Unternehmen dadurch keinen Schaden nimmt. Er ist aber nicht verpflichtet, Vorteile auf der Ebene seines Unternehmens zu maximieren, und sei es auch zu Lasten des herrschenden Unternehmens. Insofern gewähren die Rechtsregeln im vertragslosen Konzern zugunsten des herrschenden Unternehmens eine Privilegierung im Vergleich zu einem reinen Drittvergleich.21 Dann ist es konsequent, dass Verbundvorteile bei dem herrschenden Unternehmen verbleiben dürfen, solange die ab-

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17 BGHZ 141, 79. 18 Koppensteiner (Fn. 2), § 311 AktG Rz. 49. 19 Fleischer, ZGR 1997, 368, 388; Habersack (Fn. 3), § 311 AktG Rz. 49; Leuering/ Goertz (Fn. 10), § 311 AktG Rz. 71; Mülbert, Aktiengesellschaft, Unternehmensgruppe und Kapitalmarkt, 2. Aufl. 1996, S. 470; H.-F. Müller (Fn. 2), § 311 AktG Rz. 45; eingeschränkt auch Kropff in MünchKomm. AktG, 2. Aufl. 2000, § 311 AktG Rz. 345. 20 Koppensteiner (Fn. 2), § 311 AktG Rz. 85; Krieger (Fn. 2), § 69 Rz. 82; J. Vetter (Fn. 2), § 311 AktG Rz. 70; wohl auch Altmeppen (Fn. 2), § 311 AktG Rz. 475. 21 Vgl. Altmeppen (Fn. 2), § 311 AktG Rz. 281, 442, 464; Koppensteiner (Fn. 2), § 311 AktG Rz. 85; Leuering/Goertz (Fn. 10), § 311 AktG Rz. 68; J. Vetter (Fn. 2), § 311 AktG Rz. 70.

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hängige AG aus der Mitwirkung bei der Realisierung der Verbundvorteile keine Vermögensnachteile erleidet. Wenn der Vorstand der abhängigen AG danach nicht verpflichtet ist, auf eine Teilhabe seines Unternehmens an Verbundvorteilen zu drängen, so bedeutet dies nicht, dass er eine derartige Teilhabe nicht anstreben darf. Dementsprechend verhält sich der Vorstand der abhängigen AG pflichtgemäß, wenn er im Fall einer Nichtbeteiligung an Verbundvorteilen die Durchführung der Maßnahme auch dann ablehnt, wenn mit der Maßnahme für seine Gesellschaft keine Nachteile, aber auch keine Vorteile verbunden sind.22

IV. Verbundeffekte und Unternehmensbewertung bei Strukturmaßnahmen 1. Praktische Bedeutung Große praktische Bedeutung hat die Berücksichtigung von Verbundeffekten bei der Bewertung von Unternehmen anlässlich einer Strukturmaßnahme. Bei einem Unternehmensvertrag, einer Verschmelzung oder einem Squeeze-out erfolgt eine Unternehmensbewertung der abhängigen AG, als deren Ergebnis den außenstehenden Aktionären eine Barabfindung oder ggf. eine Garantiedividende anzubieten oder zu zahlen ist oder bei der die außenstehenden Aktionäre eine angemessene Beteiligung an der Obergesellschaft erhalten. Im Rahmen der Unternehmensbewertung ist nach herkömmlicher Beurteilung eine Ertragswertermittlung vorzunehmen, bei der die zukünftigen Ertragströme der abhängigen AG geschätzt und auf den Bewertungsstichtag abdiskontiert werden. Der Ertragswertermittlung liegen maßgeblich eine Planung der Unternehmensergebnisse in einer Detailplanungsphase und deren Fortschreibung in der Phase der sog. ewigen Rente zugrunde. Die Ergebnisse können wesentlich dadurch beeinflusst werden, ob zukünftig erwartete Verbundeffekte berücksichtigt werden oder nicht. Die Gerichte haben im Spruchverfahren zur Überprüfung der Angemessenheit der Unternehmensbewertung die Vertretbarkeit der Einbeziehung bzw. Nichtberücksichtigung von Verbundeffekten zu beurteilen. 2. Meinungsbild in Rechtsprechung und Literatur Nach der Rechtsprechung und der herrschenden Auffassung in der Literatur ist hinsichtlich der Berücksichtigungsfähigkeit von Verbundeffekten im Rahmen der Unternehmensbewertung bei Strukturmaßnahmen zwischen „echten“ und „unechten“ Verbundeffekten bzw. Synergien zu unterscheiden (zur Abgrenzung näher unten 4.). Unechte Verbundeffekte sind bei der Unternehmensbewertung werterhöhend zu berücksichtigen; dagegen werden echte Verbund-

__________ 22 Altmeppen (Fn. 2), § 311 AktG Rz. 475.

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effekte im Rahmen der Unternehmensbewertung nicht berücksichtigt und kommen damit den außenstehenden Aktionären nicht zugute.23 Nach einer Mindermeinung in der Literatur sollen Verbundeffekte ohne Unterschied im Rahmen der Unternehmensbewertung berücksichtigt werden.24 Diese Auffassung greift eine in der betriebswirtschaftlichen Lehre verbreitete Forderung nach Teilhabe der außenstehenden Aktionäre an Verbundeffekten auf.25 Allerdings sollen auch nach dieser Auffassung Verbundeffekte nicht allein der abhängigen AG und damit auch den Minderheitsaktionären zugute kommen, sondern sie sollen angemessen aufgeteilt werden. Bei der Bestimmung der angemessenen Verteilung soll es auf den jeweiligen Beitrag zur Schaffung der Verbundvorteile oder, sofern sich dieser nicht feststellen lässt, auf das Wertverhältnis vom abhängigen Unternehmen zum herrschenden Unternehmen ankommen.26 Nach anderer Auffassung soll pauschal eine hälftige Teilung der Verbundeffekte erfolgen.27 Die von Rechtsprechung und herrschender Lehre befürwortete Berücksichtigung lediglich der unechten Verbundeffekte ist eine Konsequenz des Verständnisses, dass bei Strukturmaßnahmen ein objektivierter Unternehmenswert zu ermitteln ist. Ein solcher Unternehmenswert ergibt sich bei Fortführung des Unternehmens in unverändertem Konzept unter Einbeziehung aller realistischen Zukunftserwartungen im Rahmen der Marktchancen und -risken sowie der finanziellen Möglichkeiten allein des zu bewertenden Unterneh-

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23 BGHZ 138, 136, 140; OLG Celle, AG 1999, 128, 130; OLG Düsseldorf, NZG 2005, 280, 283; OLG Düsseldorf, NZG 2000, 693, 694; OLG Frankfurt/M., BeckRS 2011, 19452; OLG Frankfurt/M., AG 2011, 717, 718; OLG Hamburg, AG 1980, 163, 165; OLG München v. 2.4.2008 – 31 Wx 85/06, Rz. 23 (zit. nach juris); OLG München, Der Konzern 2007, 356, 359; BayObLG, AG 1996, 176, 177; BayObLG, AG 1996, 127, 128; OLG Stuttgart, AG 2011, 420, 421; OLG Stuttgart, NZG 2000, 744, 745; ebenso in der Literatur etwa Deilmann in Hölters (Fn. 10), § 305 AktG Rz. 65; Hüffer (Fn. 2), § 305 AktG Rz. 22; Koppensteiner (Fn. 2), § 305 AktG Rz. 64; Kort, ZGR 1999, 402, 415; Meilicke in Heidel (Fn. 4), § 305 AktG Rz. 48; Mertens, AG 1992, 321, 335; Peemöller/Kunowski in Peemöller, Praxishandbuch der Unternehmensbewertung, 5. Aufl. 2012, S. 294; Riegger in KölnKomm. SpruchG, 2005, Anh. § 11 SpruchG Rz. 13; Stephan in K. Schmidt/Lutter (Fn. 2), § 305 AktG Rz. 68; Veil in Spindler/ Stilz (Fn. 2), § 305 AktG Rz. 81; Werner in FS Steindorff, 1990, S. 303, 317. 24 Adolff (Fn. 1), S. 400; Emmerich in Emmerich/Habersack (Fn. 3), § 305 AktG Rz. 71; Fleischer, ZGR 1997, 368, 393; Franke (Fn. 1), S. 42; Großfeld, Recht der Unternehmensbewertung, 6. Aufl. 2011, Rz. 291 f.; Hirte/Hasselbach in Großkomm. AktG, 4. Aufl. 2005, § 305 AktG Rz. 80; Hüttemann, WPg 2007, 812, 815; Komp, Zweifelsfragen des aktienrechtlichen Abfindungsanspruchs nach §§ 305, 320b AktG, 2002, S. 288; Krieger (Fn. 2), § 70 Rz. 132; Paulsen in MünchKomm. AktG (Fn. 2), § 305 AktG Rz. 137; Reuter, DB 2001, 2483, 2487. 25 Vgl. etwa Angermayer-Michler/Oser in Peemöller (Fn. 23), S. 1114; Böcking (Fn. 1), S. 1407, 1423; Busse von Colbe, ZGR 1994, 595, 607; Hachmeister/Ruthardt/ Gebhardt, Der Konzern 2011, 600, 603. 26 Vgl. Adolff (Fn. 1), S. 411; Emmerich in Emmerich/Habersack (Fn. 3), § 305 AktG Rz. 71; Großfeld (Fn. 24), Rz. 292; Hirte/Hasselbach (Fn. 24), § 305 AktG Rz. 89; Krieger (Fn. 2), § 70 Rz. 32; Paulsen in MünchKomm. AktG (Fn. 2), § 305 AktG Rz. 135. 27 Vgl. Böcking (Fn. 1), S. 1407, 1423; Busse von Colbe, ZGR 1994, 595, 607; Komp (Fn. 24), S. 320.

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mens. Die Bewertung des Unternehmens hat also so zu erfolgen, wie es sich ohne den Bewertungsanlass darstellt, sog. stand alone-Betrachtung. Der Aktionär soll die Teilhabe am Unternehmenswert erhalten, die ihm ohne den Bewertungsanlass zusteht. Dieses stand alone-Konzept ist in der Rechtsprechung unangefochten akzeptiert.28 Es entspricht auch einhelliger Bewertungspraxis des Instituts der Wirtschaftsprüfer (IDW), bei gesetzlich veranlassten Unternehmensbewertungen im Zusammenhang mit Strukturmaßnahmen einen objektivierten Unternehmenswert nach dem stand alone-Konzept zu ermitteln.29 Ein subjektivierter Unternehmenswert kann demgegenüber bei freiwilligen Bewertungsanlässen außerhalb von Strukturmaßnahmen, insbesondere beim Unternehmenserwerb, ermittelt werden und bezieht dann auch sämtliche Verbundeffekte ein. Das von der betriebswirtschaftlichen Lehre und von der Mindermeinung in der juristischen Literatur propagierte Verbundberücksichtigungsprinzip knüpft dagegen an eine subjektive Unternehmensbewertung an. Bei dieser wird eine Verhandlungssituation zwischen dem außenstehenden Aktionär und dem herrschenden Unternehmen fingiert, in welcher der außenstehende Aktionär sein Ausscheiden aus dem Unternehmen gegen Barabfindung von einer Beteiligung an den durch die Strukturmaßnahme erwarteten Synergien abhängig macht.30 Synergien seien danach eine in jedem Unternehmen angelegte Chance, die zum Bestandteil des Gesellschaftsvermögens gehörten und deshalb nicht einseitig dem herrschenden Unternehmen zugewiesen werden dürften.31 3. Stellungnahme a) Fiktives Verhandlungsmodell? Die Vorstellung eines fiktiven Verhandlungsmodells zwischen dem einzelnen Minderheitsgesellschafter und dem herrschenden Unternehmen wird der Realität nicht gerecht. Der Minderheitsaktionär hat im hier allein behandelten Normalfall einer börsennotierten AG nur die Wahl, seine Aktien über die Börse zu verkaufen oder zu halten. Im Börsenpreis sind lediglich die allgemein durch den Einstieg eines Großaktionärs erwarteten Verbundeffekte eingepreist, nicht jedoch die erst aufgrund einer bestimmten, noch nicht dem Kapitalmarkt bekannt gemachten Strukturmaßnahme zu erwartenden Verbundeffekte (näher sogleich d)). Diese allgemein erwarteten Verbundeffekte werden

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28 BGHZ 138, 136, 139; BGHZ 186, 229, 237, Rz. 21 (Stollwerck); BayObLG, AG 1996, 127, 128; OLG Celle, AG 1999, 128, 130; OLG Düsseldorf, NZG 2005, 280, 283; OLG Düsseldorf, AG 2003, 329, 330; OLG Düsseldorf, AG 2002, 398, 399; OLG Stuttgart, AG 2012, 135, 136; LG Frankfurt/M., AG 2007, 42, 46; Kort, ZGR 1999, 402, 415; Mertens, AG 1992, 321, 329; Stephan in K. Schmidt/Lutter (Fn. 2), § 305 AktG Rz. 66. 29 IDW (Hrsg.), IDW Prüfungsstandards, Bd. II, IDW S 1 i. d. F. 2008, Tz. 12, 13, 17, 29, 31, 33 einerseits und Tz. 50 andererseits; WP-Hdb. 2008, Bd. II, 13. Aufl. 2008, A Rz. 76, 83. 30 Böcking (Fn. 1), S. 1407, 1417; Busse von Colbe, ZGR 1994, 595, 606; Fleischer, ZGR 1997, 368, 392. 31 Fleischer, ZGR 1997, 368, 392; Großfeld (Fn. 24), Rz. 291; insoweit kritisch auch Adolff (Fn. 1), S. 406.

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Verbundeffekte im Aktienkonzernrecht und im Recht der Unternehmensbewertung

auch von Rechtsprechung und herrschender Lehre als unechte Verbundeffekte zugunsten der außenstehenden Aktionäre berücksichtigt (vgl. oben 2.). Auch ein angeblicher Funktionszusammenhang zwischen Abfindungsrecht des außenstehenden Aktionärs und dessen Zustimmungsrecht zu der die Unternehmensbewertung auslösenden Strukturmaßnahme trägt nicht.32 Der Gedanke einer einstimmigen Zustimmung der Aktionäre zu einer Strukturmaßnahme ist dem Recht der Aktiengesellschaft fremd. Eines Ersatzes des Einstimmigkeitsprinzips durch eine Abfindung auf der Grundlage eines Verhandlungsmodells bedarf es daher nicht. b) Treuepflicht des herrschenden Unternehmens? Auch der Aspekt einer Treuepflicht des herrschenden Unternehmens oder ein allgemeiner Gerechtigkeitsgedanke fordern nicht eine Aufgabe des Grundsatzes der stand alone-Bewertung. Es lässt sich nicht begründen, dass den außenstehenden Aktionären bloße abstrakte Chancen werterhöhend zustehen sollen, die das Unternehmen ohne den Bewertungsanlass nicht selbst verwirklichen könnte. Dementsprechend ist es auch vom BVerfG anerkannt, dass den Minderheitsaktionären verfassungsrechtlich lediglich das zu ersetzen ist, was sie ohne die Strukturmaßnahme bei einem Verkauf der Aktie erhalten hätten.33 Ohnehin nehmen die außenstehenden Aktionäre, wenn sie ihre Aktie schon vor einer Übernahme durch einen neuen Großaktionär bis hin zu einem Squeeze-out halten, typischerweise in erheblichem Umfang am Synergiepotential zwischen dem neuen Großaktionär und ihrer Gesellschaft teil. Ein Übernahmeangebot wird regelmäßig nur erfolgreich sein, wenn es ein premium auf den aktuellen Börsenkurs enthält. Mit diesem premium berücksichtigt der Bieter gerade in der Zukunft erwartete Synergieeffekte. Beim Abschluss eines Beherrschungsvertrages sind alle im faktischen Konzern bereits erzielten oder ohne den Beherrschungsvertrag angelegten Synergieeffekte in der Unternehmensbewertung als unechte Verbundeffekte berücksichtigt. Dem Abschluss eines Unternehmensvertrages folgt typischerweise ein Squeeze-out; bei diesem sind wiederum alle Verbundeffekte, die sich unter dem Unternehmensvertrag realisieren lassen, als unechte oder sogar als bereits realisierte Verbundeffekte werterhöhend zu berücksichtigen. Es verbleiben typischerweise nur noch in geringem Umfang echte Verbundeffekte, die bei der Unternehmensbewertung zur Ermittlung der angemessenen Barabfindung beim Squeeze-out nicht zu berücksichtigen sind (nachfolgend 4.e). Dem lässt sich auch nicht entgegenhalten, dass ein herrschendes Unternehmen die Realisierung von Verbundeffekten bewusst auf den Zeitpunkt nach dem Squeeze-out verschieben und die außenstehenden Aktionäre so effektiv von der Teilhabe an Verbundeffekten ausschließen könne. Es entspricht nicht der Rechtswirklichkeit, dass ein herrschendes Unternehmen die Erzielung von Verbundvorteilen bewusst auf einen Zeitpunkt nach Durchführung einer

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32 Entgegen Adolff (Fn. 1), S. 410; entgegen Fleischer, ZGR 1997, 368, 390, 393. 33 BVerfGE 100, 289, 308 (DAT/Altana); BVerfG, ZIP 2007, 175, 177, Rz. 16.

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Strukturmaßnahme verschiebt, nur um die Minderheitsaktionäre nicht von deren Vorteilen profitieren zu lassen. Im praktisch wichtigsten Fall des Abschlusses eines Unternehmensvertrages nach erfolgter Unternehmensübernahme entspricht es vielmehr dem Interesse von Mutter- und Tochterunternehmen, eine Integration und in diesem Zusammenhang Verbundvorteile schnellstmöglich zu realisieren. Ökonomische Gründe lassen es regelmäßig nicht zu, dass die Ziehung derartiger Vorteile etwa um ein Jahr nach hinten geschoben und zunächst die Eintragung des Unternehmensvertrages abgewartet wird, wenn und weil sich Verbundeffekte bereits realisieren lassen. Insbesondere bei der Übernahme finanzschwacher Unternehmen entspricht ein rasches Handeln der Unternehmenswirklichkeit, etwa durch Zentralisierung des Vertriebs bei der Muttergesellschaft in deren geographischen Tätigkeitsschwerpunkt, wenn damit die Tochtergesellschaft mangels personeller und finanzieller Mittel überfordert ist und sich dort massive Verluste ergeben. Deshalb werden häufig wesentliche Verbundeffekte unmittelbar nach einer Übernahme realisiert und kommen damit als unechte Verbundeffekte den außenstehenden Aktionären zugute. Eine unsachgerechte Übervorteilung der außenstehenden Aktionäre lässt sich im Übrigen durch eine sachgerechte Grenzziehung zwischen echten und unechten Verbundeffekten vermeiden (nachfolgend 4.). c) Gebot einer wertmäßigen Gleichstellung in allen Fällen von Strukturmaßnahmen? Für die Notwendigkeit einer Teilhabe der Minderheitsaktionäre an allen Verbundeffekten lässt sich auch nicht die faktische Teilhabe der Gesellschafter an Verbundeffekten im Falle einer Verschmelzung anführen.34 Zwar ist es zutreffend, dass im Ergebnis bei einer Verschmelzung die außenstehenden Aktionäre einer übertragenden Gesellschaft als künftige Aktionäre der übernehmenden Gesellschaft auch von den nach der Verschmelzung realisierten Verbundchancen profitieren, sofern sie die Aktie halten.35 Bei der Unternehmensbewertung der übertragenden Gesellschaft spielen diese Verbundeffekte jedoch keine Rolle: Das Unternehmen wird stand alone bewertet, also ohne Berücksichtigung des Verschmelzungsvorgangs. Die Aktionäre erhalten einen Anteil am übernehmenden Unternehmen ausschließlich nach dem Verhältnis des so ermittelten Ertragswertes ihres Unternehmens in Relation zum ebenfalls stand alone ermittelten Ertragswert des aufnehmenden Unternehmens (oder nach der Relation der Börsenwerte). Einem angeblichen Gebot einer Gleichstellung der außenstehenden Aktionäre in allen Fällen von Strukturmaßnahmen kann daher auch durch die Nichtberücksichtigung von (echten) Verbundeffekten bei allen Strukturmaßnahmen Rechnung getragen werden.

__________ 34 Entgegen Adolff (Fn. 1), S. 408; Böcking (Fn. 1), S. 1409, 1423; Busse von Colbe, ZGR 1994, 595, 605; Fleischer, ZGR 1997, 368, 387; Hirte/Hasselbach (Fn. 24), § 305 AktG Rz. 86; Komp (Fn. 24), S. 305. 35 Vgl. insoweit auch OLG Stuttgart, AG 2007, 705, 707; OLG Stuttgart, AG 2006, 420, 426.

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Verbundeffekte im Aktienkonzernrecht und im Recht der Unternehmensbewertung

Ohnehin besteht aber ein derartiges Gebot nicht. Beispielsweise wird die Garantiedividende beim Unternehmensvertrag gemäß § 304 AktG nicht nach denselben Grundsätzen ermittelt wie das Angebot einer Barabfindung gemäß § 305 AktG, weil beim Diskontierungszinssatz ein Mittelwert verwendet wird.36 Die Garantiedividende entspricht daher von ihrem Barwert nicht dem Angebot der Barabfindung. Weiterhin gilt das von der bislang herrschenden Auffassung propagierte Meistbegünstigungsgebot, wonach für die außenstehenden Aktionäre das Höhere von Börsenkurs und Ertragwert gelten soll,37 jedenfalls nicht für Fälle der Verschmelzung, bei der die Aktionäre der aufnehmenden Gesellschaft durch ein derartiges Meistbegünstigungsgebot notwendigerweise benachteiligt würden.38 Für eine vollständige Gleichstellung einer Barabfindung bei Unternehmensvertrag und Squeeze-out mit einer Abfindung in Aktien bei der Verschmelzung besteht auch deshalb kein Anlass, weil der Aktionär, wie dargelegt, durch Verbleiben in der Gesellschaft bis zum Squeeze-out von den bis dahin erzielten unechten Verbundeffekten profitiert. Eine Verschmelzung wird dagegen typischerweise nicht nach Abschluss eines Unternehmensvertrages, sondern statt eines Unternehmensvertrages und statt eines Squeeze-out durchgeführt. d) Börsenkursbetrachtung? Für die Notwendigkeit einer Teilhabe der Minderheitsaktionäre an allen Verbundeffekten lässt sich auch nicht die DAT/Altana-Entscheidung des BGH (BGHZ 147, 108) anführen.39 Aus dieser Entscheidung lassen sich keine allgemeinen Rückschlüsse für die Frage der Berücksichtigung von Verbundeffekten bei der Unternehmensbewertung ziehen.40 Zudem hat der BGH in der Stollwerck-Entscheidung den Standpunkt der DAT/Altana-Entscheidung aufgegeben, wonach der maßgebliche Referenzzeitraum bei der Ermittlung des Börsenkurses der Zeitraum vor der über die Strukturmaßnahme beschlussfassenden Hauptversammlung ist. Vielmehr stellt der BGH nunmehr auf den Referenzzeitraum vor Bekanntgabe der Strukturmaßnahme ab.41 Selbst wenn

__________ 36 Popp, WPg 2008, 23, 28 f. 37 Vgl. etwa BGHZ 186, 229, 233, Rz. 10; BGHZ 147, 108, 117; BayObLG, AG 2006, 41, 45; OLG Düsseldorf, AG 2009, 908, 909; OLG Karlsruhe, AG 2005, 45, 46; Adolff (Fn. 1), S. 344, 506; Baums, Rechtsfragen der Bewertung bei Verschmelzung börsennotierter Gesellschaften, ILF Working Paper Series No. 104, 2009, S. 10; Großfeld (Fn. 24), Rz. 184; Paulsen in MünchKomm. AktG (Fn. 2), § 305 AktG Rz. 83; abweichend etwa Decher in FS Maier-Reimer, 2010, S. 57, 71; Stilz in FS Goette, 2011, S. 529, 541. 38 Vgl. OLG Stuttgart v. 5.5.2009 – 20 W 13/08, Rz. 214 (zit. nach juris); OLG Frankfurt/M., AG 2010, 751, 757, Rz. 171; vgl. dazu auch BVerfG v. 26.4.2011 – 1 BvR 2658/10, Rz. 23 (zit. nach juris); ebenso etwa Bayer, Verhandlungen des 67. DJT, Bd. I, 2008, E 105; Mülbert in FS Hopt, 2010, S. 1039, 1075. 39 Entgegen Hüttemann, WPg 2007, 812, 815; Franke (Fn. 1), S. 42, 43, 45 ff.; Großfeld (Fn. 24), Rz. 292; Hirte/Hasselbach (Fn. 24), § 305 AktG Rz. 86. 40 Vgl. insoweit auch Adolff (Fn. 1), S. 395. 41 BGHZ 186, 229, 238, Rz. 23, 24.

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daher durch die Ankündigung einer Strukturmaßnahme erwartete Verbundeffekte im Börsenkurs eingepreist würden, könnten diese nicht mehr berücksichtigt werden. Ohnehin ist zweifelhaft, ob nicht in erster Linie die Spekulation der Kapitalmarktteilnehmer auf eine im Spruchverfahren erwartete Barabfindung oder Garantiedividende maßgeblich für die Kursentwicklung nach Ankündigung der Strukturmaßnahme wird.42 e) Berücksichtigung einseitiger Unterstützungsleistungen? Nicht von der Mindermeinung in der juristischen Literatur angesprochen, aber ersichtlich nicht zugunsten der außenstehenden Aktionäre zu berücksichtigen, können schließlich Verbundeffekte sein, die durch einseitige Unterstützungsleistungen des herrschenden Unternehmens entstehen (vgl. dazu oben II. am Ende). Ist das übernommene Unternehmen ein Sanierungsfall oder ist es aus anderen Gründen nicht in der Lage, Investitionen selbst oder durch Bankkredite zu finanzieren, so kann das herrschende Unternehmen derartige Investitionen sachgerecht davon abhängig machen, dass es alleine von diesen profitiert.43 Dasselbe gilt für nach einem Squeeze-out geplante Stärkungen des Eigenkapitals. In Extremfällen gewährleistet allein die einseitige Unterstützungsleistung des herrschenden Unternehmens, dass die abhängige AG überhaupt fortbestehen kann und die außenstehenden Aktionäre nicht ihr gesamtes Investment verlieren. In derartigen Fällen haben die abhängige AG und deren Minderheitsaktionäre keinen vermögenswerten Beitrag zu den mit solchen einseitigen Unterstützungsleistungen verbundenen werterhöhenden Effekten beim abhängigen Unternehmen geleistet. Dann lässt sich auch nicht überzeugend argumentieren, derartige einseitige Unterstützungsleistungen eines Großaktionärs seien als „Baustein“ in jedem Unternehmen angelegt und daher werterhöhend zu berücksichtigen. f) Praktische Schwierigkeiten Die Mindermeinung in der juristischen Literatur, die eine Berücksichtigung auch echter Verbundeffekte zugunsten der außenstehenden Aktionäre fordert, sieht sich schließlich vor die nur schwer zu lösende Frage gestellt, in welchem Umfang eine derartige Teilhabe erfolgen soll. Eine Ermittlung des jeweils maßgeblichen Beitrags zur Schaffung der Verbundeffekte dürfte mit erheblichen praktischen Schwierigkeiten verbunden sein. Eine Ermittlung des Verhältnisses nach dem jeweiligen Ertragswert der an der Schöpfung der Verbundeffekte beteiligten Unternehmen würde außerhalb einer Verschmelzung eine eigene Unternehmensbewertung des herrschenden Unternehmens erforderlich machen. Das würde nicht nur erhebliche Zusatzkosten auslösen, sondern die ohnehin schon hohe Komplexität der Spruchverfahren beträchtlich erhöhen, die ohnehin zu lange Dauer von Spruchverfahren noch weiter verlängern und

__________ 42 BGHZ 186, 229, 237, Rz. 22. 43 OLG Frankfurt/M. v. 26.8.2009 – 5 W 35/09, Rz. 52 (zit. nach juris).

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die Rechtsunsicherheit erhöhen.44 Eine pauschale Teilung der Verbundeffekte kann kaum dem Einzelfall gerecht werden, wenn etwa ein weltweit tätiges Unternehmen mit einem vielfach höheren Umsatz und einer vielfach höheren Börsennotierung mit dem erworbenen Unternehmen Verbundeffekte schöpfen will. Zwar mögen praktische Schwierigkeiten der Ermittlung einer für angemessen gehaltenen Teilhabe an Verbundeffekten nicht bereits als Argument gegen eine derartige Teilhabe ausreichen. Sie wiegen aber schwer, wenn es darum geht, das in der Bewertungspraxis einhellig verwendete und von der Rechtsprechung uniform anerkannte Konzept der stand alone-Bewertung durch ein Modell der Teilnahme an Verbundeffekten zu ersetzen. 4. Abgrenzung zwischen echten und unechten Verbundeffekten Eine Abgrenzung zwischen unechten, berücksichtigungsfähigen Verbundeffekten und echten, nicht berücksichtigungsfähigen Verbundeffekten ist im Einzelfall nicht leicht. Die Abgrenzungsformeln in Rechtsprechung und Literatur sind nicht einheitlich und eher genereller Natur. a) Verhältnis zu Stichtagsprinzip und Wurzeltheorie Eine sachgerechte Abgrenzung zwischen echten und unechten Verbundeffekten lässt sich entgegen einer in der Literatur vertretenen Auffassung nicht mit Hilfe des Stichtagsprinzips bzw. der Wurzeltheorie ziehen.45 Nach dieser Auffassung sind zum Bewertungsstichtag, also dem Tag der über die Strukturmaßnahme beschließenden Hauptversammlung, grundsätzlich alle Maßnahmen zu berücksichtigen, die bereits hinreichend sicher in der Wurzel angelegt waren.46 In der Praxis kommt es etwa vor, dass herrschendes und abhängiges Unternehmen bereits zum Bewertungsstichtag dahingehend überein gekommen sind, dass bestimmte Integrationsmaßnahmen durchgeführt oder Unternehmensbereiche des herrschenden Unternehmens auf die abhängige Gesellschaft übertragen werden sollen, sobald die Strukturmaßnahme wirksam geworden ist. Zwar ist damit die Maßnahme bereits klar vorgezeichnet und unter Umständen sind auch schon alle Organbeschlüsse insoweit gefasst. Dennoch kommt eine Berücksichtigung von positiven Verbundeffekten aus diesen Maßnahmen im Rahmen der Unternehmensbewertung nicht in Betracht. Denn die Maßnahmen standen gerade unter dem Vorbehalt des Wirksamwerdens der Strukturmaßnahme. Dementsprechend entschied das OLG Frankfurt/M., dass die Einbringung einer Unternehmensbeteiligung in ein abhängiges Unterneh-

__________ 44 Kritisch zur Praxis der Spruchverfahren etwa Decher (Fn. 37), S. 57; Stilz (Fn. 37), S. 529, 530. 45 So Krieger (Fn. 2), § 70 Rz. 131, 132. 46 Vgl. BGHZ 138, 136, 140; BayObLG, AG 2002, 390, 391; OLG Düsseldorf, AG 2004, 324, 326; OLG München, AG 2008, 28, 32; Hüffer (Fn. 2), § 305 AktG Rz. 23; Paulsen in MünchKomm. AktG (Fn. 2), § 305 AktG Rz. 84; WP-Hdb. 2008 (Fn. 29), A Rz. 475; kritisch Emmerich in Emmerich/Habersack (Fn. 3), § 305 AktG Rz. 58 f.; Koppensteiner (Fn. 2), § 305 AktG Rz. 61.

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men nur für den Fall eines vorherigen Squeeze-out nach der Wurzeltheorie nicht zu berücksichtigen sei, da die Bedingung für die Durchführung der Vereinbarung nicht bereits am Stichtag in der Wurzel angelegt war.47 Selbst wenn man demgegenüber der Auffassung wäre, dass die Maßnahme an sich nach der Wurzeltheorie zu berücksichtigen sei, würde die stand alone-Betrachtung letztlich einer Berücksichtigungsfähigkeit der Maßnahme entgegenstehen. Denn das stand alone-Prinzip geht im Ergebnis dem Stichtagsprinzip vor:48 Auch wenn zu erwarten ist, dass es zu der Strukturmaßnahme kommt und damit die Verbundvorteile schon klar angelegt sind, sollen diese doch nur auf der Grundlage der Strukturmaßnahme erfolgen und sind damit stand alone nicht als Wertsubstrat im zu bewertenden Unternehmen angelegt. b) Abgrenzungskriterien Vielfach wird als Abgrenzung die Formel gewählt, dass Verbundeffekte, die erst infolge der Strukturmaßnahmen oder durch deren Wirksamwerden eintreten oder entstehen, echte und damit nicht berücksichtigungsfähige Verbundeffekte sind.49 Unechte Verbundeffekte sollen demgegenüber vorliegen, wenn sie im beherrschenden Unternehmen bereits in der Form vorhanden sind, dass sie sich bei Verbindung mit nahezu jedem anderen Unternehmen der Branche positiv und objektivierbar auswirken würden.50 Diese Abgrenzungsformeln bedürfen einer näheren Konkretisierung. Zu eng wäre ein Verständnis, wonach echte Verbundeffekte nur auf Maßnahmen beruhen können, die allein nach Maßgabe der Strukturmaßnahme – etwa eines Unternehmensvertrages – rechtlich zulässigerweise durchgeführt werden können. Damit würde die rechtliche Unsicherheit der Abgrenzung zwischen zulässigen Integrationsmaßnahmen und unzulässigen Maßnahmen im vertragslosen Konzern, letztere also der Legitimation durch einen Unternehmensvertrag bedürfen, in die Unternehmensbewertung und damit in die Praxis der Spruchverfahren hineingetragen. Allerdings ist es zutreffend, dass Maßnahmen, die rechtlich zuverlässig nur auf der Grundlage der Strukturmaßnahme erfolgen können, in jedem Fall echte Synergieeffekte sind. Ebenfalls zu eng wäre ein Verständnis, wonach echte Verbundeffekte nur solche sind, die allein und ausschließlich mit dem konkreten Mutterunternehmen durchgeführt werden können. Denn die hypothetische Vorstellung, dass ein Unternehmen nicht von dem Wettbewerber A, sondern von dem vielleicht noch größeren und potenteren Wettbewerber B hätte übernommen werden können, ist nun einmal nicht eingetreten und damit nicht im Unternehmen angelegt. Richtig ist dagegen die Aussage, dass alle Maßnahmen, die auch durch

__________

47 OLG Frankfurt/M. v. 26.8.2009 – 5 W 35/09, Rz. 52 (zit. nach juris). 48 BGHZ 138, 136, 140; deutlich OLG Düsseldorf, NZG 2000, 693, 694. 49 BGHZ 138, 136, 140; OLG Stuttgart, NZG 2000, 744, 745; ebenso etwa IDW S1 (Fn. 29), Ziff. 4.4.3.2, Rz. 50; Riegger (Fn. 23), Anh. § 11 SpruchG Rz. 13. 50 BayObLG, AG 1996, 176, 177; BayObLG, AG 1996, 127, 128; OLG Celle, AG 1999, 128, 130; ebenso etwa Koppensteiner (Fn. 2), § 305 AktG Rz. 66; AngermayerMichler/Oser in Peemöller (Fn. 23), S. 1104; WP-Hdb. 2008 (Fn. 29), A Rz. 83.

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Kooperationen mit Dritten außerhalb eines Verbundes hätten durchgeführt werden können und in der Praxis auch durchgeführt werden, zu unechten Verbundeffekten führen. Eine Konkretisierung der Abgrenzung zwischen echten und unechten Verbundeffekten lässt sich demgegenüber danach vornehmen, ob Integrationsmaßnahmen bzw. einseitige Unterstützungsmaßnahmen auf der Ebene der abhängigen AG verwirklicht werden oder auf der Ebene der Muttergesellschaft. Zur ersten Gruppe gehören etwa die Übertragung von operativen Unternehmensbereichen oder Unternehmensbeteiligungen der Muttergesellschaft auf die abhängige AG. Ebenso gehören zu dieser Gruppe Unterstützungsleistungen der Muttergesellschaft bei der abhängigen AG, etwa durch Gewährung von Garantien oder Sicherheiten, durch Zahlungen in die Rücklage oder sonstige Stärkung des Eigenkapitals der abhängigen AG. Zu dieser Gruppe gehören schließlich Investitionen bei der abhängigen AG durch die Muttergesellschaft, zu denen die abhängige AG aus eigener Kraft nicht in der Lage gewesen wäre. In all diesen Fällen ist die damit verbundene Werterhöhung bei der abhängigen AG im Unternehmen nicht angelegt. Es ist dann auch nicht sachwidrig, wenn die Muttergesellschaft die Werterhöhung erst nach Wirksamwerden des Unternehmensvertrages veranlassen und die außenstehenden Aktionäre damit an ihr nicht teilhaben lassen will.51 Handelt es sich dagegen um Integrationsmaßnahmen, die zu einer Zentralisierung etwa von Unternehmensfunktionen bei der Muttergesellschaft führen, so rückt die pflichtgemäße Beurteilung durch den Vorstand der abhängigen AG in den Mittelpunkt der Betrachtung. Vorteile aus der Zusammenarbeit zwischen abhängiger AG und Muttergesellschaft im Tagesgeschäft wird der Vorstand der abhängigen AG unproblematisch auch im vertragslosen Konzern suchen wollen. Handelt es sich dagegen um Maßnahmen mit tiefgreifenden Auswirkungen auf bedeutsame Unternehmensfunktionen der abhängigen AG, kann er sich sachgerecht auf den Standpunkt stellen, dass derartige Zentralisierungsmaßnahmen erst auf der sicheren Grundlage eines Unternehmensvertrages erfolgen sollen. Geht es also salopp gesagt „ums Eingemachte“, so ist ein Zurückstellen dieser Maßnahmen auf den Zeitpunkt nach Wirksamwerden des Unternehmensvertrages pflichtgemäß und sachgerecht. Das schließt nicht aus, dass der Vorstand der abhängigen AG – etwa bei massiven Problemen im Vertrieb in einem wichtigen ausländischen Markt mit existenzbedrohenden Verlusten – bereits im vertragslosen Konzern der Zentralisierung bei der Muttergesellschaft zustimmt und dass dann berücksichtigungsfähige unechte Verbundeffekte erzielt werden. Außerhalb solcher Situationen, in denen rasches Handeln unternehmerisch geboten ist, ist jedoch eine Zurückstellung wesentlicher Zentralisierungsmaßnahmen nach Wirksamwerden eines Unternehmensvertrages pflichtgemäß. Die damit verbundenen positiven Verbundeffekte sind dann als echte Verbundeffekte nicht zu berücksichtigen.

__________ 51 OLG Frankfurt/M. v. 26.8.2009 – 5 W 35/09, Rz. 52 (zit. nach juris).

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Speziell im Kontext von Unternehmensverträgen kann man stattdessen auch von vorvertraglichen und vertraglichen Verbundeffekten sprechen.52 c) Beispiele Beispiele für unechte Synergieeffekte, von denen die außenstehenden Aktionäre im Rahmen der Unternehmensbewertung profitieren, sind etwa bestehende Verlustvorträge bei der abhängigen AG (sofern diese nicht als passive Konzerneffekte bereits durch eine vorangegangene Übernahme untergehen), Vorteile aus einer Einbeziehung der AG in günstigere Fremdfinanzierungskonditionen, die das herrschende Unternehmen erhält, oder Vorteile eines Cash-Pooling. Weitere Beispiele sind bereits beschlossene und eingeleitete Sanierungsmaßnahmen bei der abhängigen AG, z. B. zur Vermeidung von Verlusten durch eine Übernahme des gemeinsamen Vertriebs durch das herrschende Unternehmen, den die abhängige AG nicht aus eigener Kraft sachgerecht ausbauen kann. Hier liegt die Einordnung als unechter Verbundeffekt aber nur vor, wenn die Parteien die Effekte bereits realisiert haben. Beispiele für echte Verbundeffekte, die nicht im Rahmen der Unternehmensbewertung zu berücksichtigen sind, sind etwa die Ersparung von Kosten einer Hauptversammlung oder der Börsennotierung nach Squeeze-out, die Stärkung des Eigenkapitals der abhängigen AG durch das herrschende Unternehmen nach einem Squeeze-out oder die Umstellung der abhängigen AG auf eine verlängerte Werkbank des herrschenden Unternehmens mit dem Effekt der Ersparnis erheblicher Personalkosten. d) Keine Besonderheiten beim Squeeze-out Die Abgrenzung zwischen echten und unechten Verbundeffekten gilt für alle Strukturmaßnahmen und damit auch für den Squeeze-out. Auf den ersten Blick steht dieser Beurteilung allerdings eine Aussage des BGH im StollwerckUrteil entgegen, wonach bei dem Squeeze-out Verbundeffekte nicht bestünden.53 Dieser Aussage, die nicht entscheidungstragend war, kann nicht als Absage an den Grundsatz der stand alone-Bewertung gesehen werden. Der BGH betont in derselben Entscheidung, die Abfindung beim Squeeze-out müsse lediglich den Preis widerspiegeln, den der Aktionär ohne die zur Entschädigung verpflichtende Intervention des Hauptaktionärs oder die Strukturmaßnahme erlöst hätte.54 Das ist nichts anderes als das stand-alone-Prinzip. Wenn danach echte Verbundeffekte auch beim Squeeze-out eintreten können, ist damit nicht gesagt, dass derartige echte Verbundeffekte beim Squeeze-out typischerweise in gleichem Maße feststellbar sind wie etwa im Zusammenhang mit einem Unternehmensvertrag. So wird in Rechtsprechung und Literatur zu Recht betont, dass klassische Synergieeffekte aus einer Zusammen-

__________ 52 Popp, WPg 2008, 23, 30. 53 BGHZ 186, 229, 238, Rz. 24. 54 BGHZ 186, 229, 238, Rz. 23.

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arbeit zwischen herrschendem und abhängigem Unternehmen regelmäßig jedenfalls schon auf der Grundlage eines Unternehmensvertrages geschöpft werden können. Dementsprechend ergeben sich bei einem Squeeze-out häufig nur in geringem Umfang echte Verbundeffekte wie das Anfallen von Kosten für Publikumshauptversammlungen oder für die Börsennotierung.55 Auch beim Squeeze-out verbleibt es jedoch uneingeschränkt bei der Möglichkeit, dass das herrschende Unternehmen einseitige Unterstützungsleistungen von der Wirksamkeit der Strukturmaßnahme abhängig machen kann, so dass derartige Unterstützungsleistungen als echte Verbundeffekte nicht im Rahmen der Unternehmensbewertung zu berücksichtigen sind. Es ist nicht sachwidrig, wenn ein herrschendes Unternehmen umfangreiche Investitionen, zu denen das abhängige Unternehmen aus eigener Kraft nicht in der Lage wäre und für welche es auch keine Finanzierung von Banken erhalten könnte, erst dann vornehmen will, wenn von diesen einseitigen Unterstützungsleistungen nicht noch die außenstehenden Aktionäre profitieren.56

__________ 55 OLG Frankfurt/M., AG 2011, 717, 718; OLG Stuttgart v. 17.3.2010 – 20 W 9/08, Rz. 129 (zit. nach juris); OLG München, Der Konzern 2007, 356, 359; OLG Düsseldorf, ZIP 2004, 753, 757; vgl. auch Grzimek in Geibel/Süßmann, WpÜG, 2. Aufl. 2008, § 327b AktG Rz. 32. 56 OLG Frankfurt/M. v. 26.8.2009 – 5 W 35/09, Rz. 52 (zit. nach juris).

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Die Zukunft des Konzernrechts Inhaltsübersicht I. Herkunft 1. Die US-amerikanische und die deutsche Wurzel 2. EWG/EU 3. Die letzten 20 Jahre II. Sachgerechtigkeit 1. Der Konzern als MultifacettenProblem 2. Qualifizierter Schutzbedarf bei Konzernierung? 3. Relevanz des Interesses an Konzernzugehörigkeit? 4. Vertikalität oder Horizontalität?

5. Konzern oder Gruppe? 6. Fazit III. Zukunft 1. Das materielle Konzernrecht a) Divergenz und Konvergenz b) Vermutungstechnik c) Verzicht auf den Konzernbegriff d) Basiskonzepte 2. Wie weiter? a) Notwendigkeit der internationalen Fühlung b) Europa c) Corporate Governance d) Professoren und Praktiker

Der Konzern leitet seinen Namen vom englischen „concern“ her, also vom Wort, das wir deutsch etwa mit „betreffen“ oder „angehen“ ausdrücken können. „Concern“ will in diesem Kontext die Interessengemeinschaft bezeichnen, das, „was uns zusammen angeht“. Nomen est omen: In der Tat war der Konzern in dem Vierteljahrhundert unserer vielen, immer vom blitzenden und blitzschnellen Geist des Jubilars profitierenden Kontakten von Anbeginn etwas, „das uns zusammen angeht“. Wir lebten vor, was verbundene Unternehmen sind – wobei ich sogleich einräumen muss, dass der Ausdruck „Unternehmen“ wesentlich besser auf die Seite des Jubilars passt. Meine Rolle in diesem Gespräch machte dabei sehr verschiedene Phasen durch. Eine Zeitlang durfte ich gegenüber dem weiter gereiften deutschen Konzernrecht Sprecher des übrigen Europa sein – die formelle Nicht-Zugehörigkeit der Schweiz zur EU war kein Ausschließungsgrund; dass die Schweiz dem europäischen Rechtsraum wohl näher steht als manches EU-Mitgliedsland wurde stillschweigend anerkannt. Auf ewig war diese Überblendung der formellen Tatsachen natürlich nicht möglich, und doch darf ich weiterhin als eine „Stimme aus der Schweiz“ auf freundschaftliches Gehör hoffen. Wie dem auch sei, ergab sich in diesem Gespräch über die Grenzen auch ein methodisches Problem. Verschiedenheiten zwischen Rechtssystemen können auf drei Arten überwunden werden: durch Rezeption in der einen oder anderen Richtung, durch Kompromiss oder durch Neu-Konzeption. Wir haben, mehr oder weniger bewusst, dieses Dilemma bei unsern intensiven Arbeiten im

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Forum Europaeum Konzernrecht1 durchlebt. Sowohl in der nationalen Innensicht wie in den anderen Ländern hat sich die Vorstellung fixiert, dass Deutschland „ein Konzernrecht hat“, die Großzahl der anderen Nationen dagegen nicht. Diese in beiden Richtungen m. E. unzutreffende Meinung wirkt nun methodisch als bedauerliches Hemmnis. Die Übernahme eines nationalen Musters ist so praktisch ausgeschlossen, weil die internationale Diskussion noch nicht, ja immer weniger, über Inhalte eines Konzernrechts debattiert, sondern das grundsätzliche Ja oder Nein sich klotzig gegenüberstehen. Einziges systematisches Modell wäre das im Ausland weitherum ungeliebte deutsche, und von Deutschland aus gesehen müsste die Anpassung an dieses Ausland die Rezeption eines Nichts bedeuten – eine absurde Vorstellung. Daraus ergibt sich als zweite Variante die Suche nach dem Kompromiss. Man übernimmt aus verschiedenen Ländern Teil-Lösungen. Das bietet nun im Konzernrecht sehr viel mehr Chancen. Die einen Länder kennen etwa Regeln, die einzelne Pflichten der Konzernleitung festlegen, andere oder dieselben haben spezifische Haftungsbestimmungen, vielleicht wieder andere befassen sich intensiv mit der Information über den Konzern, und nicht wenige kennen Regeln für Sanierungs- und Konkursfälle bei Konzernierung.2 Das führt zu einem interessanten Wettbewerb, nun zwar nicht der Rechtsordnungen, aber der Rechtsinstitute. Vor allem aber werden viele solcher Einzelinstitute bald zum Markenzeichen bestimmter Nationen und so findet der Gedanke der Rezeption mit ihren eigenen Stärken doch Eingang: Das Institut wird samt seinen Wurzeln in die anderen Rechtsordnungen eingepflanzt; die Aussichten, dass es in der neuen Umgebung weiterlebt, sind verhältnismäßig gut, wenn es dort eine Lücke füllt. Langfristig geeignet sind aber auch solche Lösungen nicht, dies speziell im Wirtschaftsrecht nicht, und Konzernrecht ist in dem Sinn Wirtschaftsrecht par excellence. Konzerne werden nicht von Konzernrechts Gnaden in Bewegung gesetzt, sondern das Konzernrecht muss Antworten auf längst vorhandene wirtschaftliche Bewegungen finden. Konzernrecht ist Wellenreiten. Es kann aber angesichts der großen Macht, die das Recht in unsern Tagen wie noch nie besitzt, auch zum Wellenbrecher werden. Das ist gut, wenn die Welle schlecht ist, aber schlecht, wenn sie gut ist. Wertungen aus einer Gesamtsicht sind erforderlich. Die Frage ist also schlicht, was das Konzernrecht will, und in Hinsicht auf künftiges Recht: was es wollen soll. Neben dem Wettbewerb und der

__________ 1 Forum Europaeum Konzernrecht, Konzernrecht für Europa, ZGR 1998, 672–772; übersetzt ins Englische, Französische, Italienische, Spanische und Japanische (s. Hopt, Konzernrecht: Die europäische Perspektive, ZHR 171 [2007], 199, 203 Fn. 17). Dort ergab sich aber im zentralen Punkt der Leitungsverantwortlichkeit die Wahl der sog. Rozenblum-Praxis (Fn. 33) unter allen drei Gesichtspunkten. 2 Leider fehlte eine Zusammenstellung neueren Datums. Dafür gab es gleich drei Sammelpublikationen im Anfang der Neunziger-Jahre: Mestmäcker/Behrens (Hrsg.), Das Gesellschaftsrecht der Konzerne im internationalen Vergleich, 1991; Wymeersch (Hrsg.), Groups of Companies in the EEC, 1993; Lutter (Hrsg.), Konzernrecht im Ausland, ZGR Sonderheft 11, 1994; s. auch Immenga, Company Systems and Affiliation, International Encyclopedia of Comparative Law, Bd. 13 Kap. 17, 1985.

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Selektion von einzelnen fertigen Instituten braucht es darum unbedingt den Blick auf das Phänomen, seinen Nutzen, seinen Schaden und deren Bedingungen. Das ist nichts Anderes, als was in anderen Bereichen, im Kapitalmarktoder im Kartellrecht ganz selbstverständlich geschieht, nur wird dort den Juristen die Neigung zur Nabelschau viel unmittelbarer durch die intensive phänomen- und damit problemspezifische Gesetzgebung und Judikatur abgewöhnt. Im Konzernrecht fühlen sie sich noch – zu sehr – im Gesellschaftsrecht wie in ihrem trauten Heim, gleichsam als Gastgeber des Konzerns. Warum ist es so still im Konzernrecht? Ruhe vor dem Sturm? Anfang vom Ende? „Kirchhofsruhe“?3 Aus der übernationalen Sicht, die hier angestrebt wird, sollen nachfolgend einige Gesichtspunkte namhaft gemacht werden, die sich auf zwei Linien aufreihen: der geschichtlichen und der sachbezogenen, als den beiden Beinen, auf denen alle Zukunft steht. Darum: Herkunft – Sachgerechtigkeit – Zukunft.

I. Herkunft 1. Die US-amerikanische und die deutsche Wurzel Üblicherweise wird ein Gesetz des amerikanischen Gliedstaats New Jersey aus dem Jahr 1888 als die Geburtsstunde des Konzernrechts genannt.4 Mit diesem Erlass wurde die Beteiligung einer Gesellschaft an einer anderen für zulässig erklärt. Das sieht in der Tat wie eine Art Grundsteinlegung aus, ein Akt geschehen im Bewusstsein des ganzen Gebäudes, das auf diesem Fundament aufgebaut werden konnte. Tatsächlich war das indessen keineswegs so. Dem Parlament von New Jersey ging es nicht um die Schaffung oder auch nur Ermöglichung einer neuen Organisationsform, sondern um einen Handstreich in einer ganz andersartigen Frage. Das eigentliche Thema war das Antitrust-(Kartell-) recht. Raffinierte juristische Praktiker hatten die Möglichkeit erspäht, durch wechselseitige Beteiligungen die Vorschriften über den restraint of trade (das damals noch meist als case law von den Einzelstaaten gehandhabte Kartellrecht) zu umgehen. Gefragt wurde nicht nach einer ausgewogenen Organisation, und die vom Gesetzgeber in New Jersey zugelassene Beteiligung eines Unternehmens an einem anderen war ein Akt der kartellrechtlichen, nicht gesellschaftsrechtlichen Liberalisierung, ein Schachzug im Wettbewerb der Rechtsordnungen um die Sitznahme von Gesellschaften. Die Reaktion auf Bundesebene gegen diesen „Wettbewerb gegen den Wettbewerb“ war denn auch der Sherman Act von 1891. Die gesellschaftsrechtliche Zulässigkeit blieb aber einzelstaatliche Domäne und öffnete landesweit dem Aufblühen von Konzernen den Weg.

__________ 3 So schon Immenga 1973 auf dem Schweiz. Juristentag in Basel, vgl. ZSR 1973, 1044. 4 Blumberg in Lutter (Hrsg.) (Fn. 2), S. 267 f.; von Großfeld, Aktiengesellschaft, Unternehmenskonzentration und Kleinaktionär, 1968, S. 164 als das Ereignis im amerikanischen Gesellschaftsrecht hervorgehoben.

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Der Vorgang bleibt trotzdem, oder gerade deswegen, von großem Interesse auch für das Gesellschaftsrecht. Das Argument, dass eine Gesellschaft nicht dazu gemacht sei, von anderen Gesellschaften beherrscht zu werden, musste damals vom Gesetzgeber weggeräumt werden. Es hatte also durchaus Gewicht, und dass dies aus Sicht des Gesellschaftsrechts solchermaßen auf einer Nebenszene ausgetragen wurde, hat die Legitimitätsfrage im Grund bis heute pendent gehalten. Das Gegenargument, lautend auf grundsätzliche Rechtswidrigkeit, ist aber nie formuliert worden;5 entweder lebte der Konzern durch seine Faktizität oder, wie eben in Deutschland,6 kraft der Anhandnahme durch den Gesetzgeber.7 Dem Impuls aus den USA folgend schob die Verquickung mit dem Kartell auch in Deutschland die Konzerndiskussion an. Der Wiener Anwalt Landesberger erhob in seinem Gutachten zum deutschen Juristentag von 1902 die Frage, ob nicht eine Staatsaufsicht über die Kartelle die Unternehmen in die Arme der noch schärferen Koordination kraft Beteiligungsmacht treiben würde.8 Seine Antwort machte es sich leicht: Das abzuwenden sei Sache des Gesellschafts- oder Börsenrechts.9 So sehr die Samen beidseits des Atlantiks dieselben waren, so unterschiedlich gingen sie auf. In Amerika war es eine Episode im alten und immer grimmigeren Antitrust-Kampf, und das organisatorische Gebilde als solches zu erfassen und zu diskutieren war und blieb uninteressant. In Deutschland verharrte dagegen das Stichwort „Kartell“ als Großproblem bis nach dem Zweiten Weltkrieg außerhalb der rechtspolitischen Thematik,10 das Stichwort „Konzern“ dagegen blieb präsent. Sprachlich wurde der „Konzern“ zum weltweit urdeutschen Begriff, wo er sich doch eben vom amerikanischen „concern“ ableitete; auch die Engländer, Amerikaner und Japaner schreiben das Wort mit einem „K“ und „z“ – die biblische Geschichte vom Samen und vom Boden.

__________ 5 In vielen Ländern dürften aber Rechtsfolgen bei übermäßiger Preisgabe der Freiheit abhängiger Gesellschaften vorgesehen sein. Aus der Schweiz s. den Greyhound-Entscheid in Druey/Vogel, Das schweizerische Konzernrecht in der Praxis der Gerichte, 1999, S. 93; das schweiz. Bundesgericht bejaht die Möglichkeit der Nichtigkeit, will jedoch aus fallbezogenen, damit aber nicht weniger die konzernfreundliche Tendenz anzeigenden Gründen nicht auf die Frage eintreten. 6 Nach heute überwiegender deutscher Lehre ist auch der faktische Konzern zulässig (Habersack in Emmerich/Habersack, Aktien- und GmbH-Konzernrecht, 6. Aufl. 2010, § 311 AktG Rz. 8, m. Hinw.). Interessant ist aber die ältere Meinung (a. a. O.), u. a. von Geßler, der faktische Konzern sei bloß „geduldet“. Kommt da nicht in die Legitimitätsfrage ein Stück altes Konzessionsrecht herein? 7 Der uneingeweihte Ausländer stolpert darum nicht selten über den Ausdruck „faktischer Konzern“, weil er sich darunter eine nicht vom Gesetz geordnete Unternehmensverbindung vorstellt. 8 Landesberger in Verhandlungen II, 1902, S. 294, insb. S. 301–307. Pessimistisch hinsichtlich Kartellkontrolle das Parallelgutachten von Häntig, a. a. O. I, S. 67. 9 Mit dieser Verweisung sind einzelne Schutzeinrichtungen (Verwässerungsschutz bei Kapitalerhöhung, wechselseitiger Beteiligung u. a.), nicht die grundsätzliche Zulässigkeit gemeint. 10 Ausnahme des selten angewandten § 10 der Kartellverordnung von 1923 über Missbrauch von Marktmacht (Rasch, Deutsches Konzernrecht, 1974, S. 380 f.).

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Nun war allerdings das Konzernrecht in Deutschland nicht zu allen Zeiten gleich orientiert. Über die Gültigkeitsfrage sprang es zwar mit bemerkenswert rascher Bejahung hinweg,11 doch brachte der Einschnitt des Zweiten Weltkriegs eine geradezu diametral andere Ausrichtung mit sich. Die blühende Literatur der Zwischenkriegszeit war einer Vielfalt von Problemen der Kautelarpraxis gewidmet und betrat tendenzweise alle Rechtsgebiete, außer dem Gesellschaftsrecht mit Selbstverständlichkeit auch das Steuer-, Vertrags-, Börsen- oder Arbeitsrecht, oft in internationalen Kontexten; im juristischen Fokus stand der Konzern-Bau, nicht die Konzern-Kontrolle. Als nach dem Krieg der Gesetzgeber an das Thema herantrat, konnte dieses nicht in alle seine juristischen Verästelungen verfolgt werden, sondern wurde folgerichtig auf das Gesellschaftsrecht, spezifisch das Aktienrecht beschränkt. Damit war das Thema nicht der Konzern in seiner rechtlichen, sondern seiner gesellschaftsrechtlichen Bedeutung. Zweck des Konzernrechts war demgemäß „die Aktionäre und Gläubiger der einzelnen Gesellschaften angemessen zu schützen und die Verhältnisse der Gesellschaft durch Publizitätsvorschriften erkennbar zu machen“.12 Der Konzern wurde nicht aus sich heraus auf seine Regelungsbedürftigkeit, sondern das bestehende Aktienrecht am Konzern auf seine Bewährung geprüft. Die Einengung nicht nur auf das Gesellschaftsrecht, sondern auf nur eine Gesellschaftsform enthielt zweifellos viel politische Weisheit, dies nicht nur angesichts der Komplexität des Gegenstands, sondern auch der in dieser Hinsicht völlige Freiheit gewohnten Wirtschaft.13 Doch der Eindruck entsteht, zumindest für den Unbeteiligten, dass im Vergleich mit der Entstehungszeit des Aktiengesetzes von 1937 das Konzernrecht nicht nur kodifiziert und eingeschränkt wurde, sondern eine Trendwende erfuhr. Hinter dem Minus der thematischen Einschränkung verbarg sich ein Plus: Konzernrecht wurde vom Organisations- zum Schutzrecht. Die Zeit zwischen dem noch nicht Nazigeprägten Aktiengesetz 1937 und demjenigen von 1965 musste Spuren hinterlassen, und dazu gehörte die Sensibilisierung auf Macht, als deren Instrument im Wirtschaftlichen der Konzern gesehen wurde.14

__________ 11 S. die Nachweise bei Spindler in Bayer/Habersack (Hrsg.), Aktienrecht im Wandel, 2007, Bd. 1, S. 551, Fn. 734. 12 BegrRegE 95 (BT-Drucks. IV/171). 13 K. Schmidt, Was ist, was will und was kann das Konzernrecht des Aktiengesetzes?, in FS Druey, 2002, S. 551. 14 „Konzern“ hatte emotional von je her zwei Konnotationen. Diejenige von „Macht“ beherrschte zunächst vor allem die Anfangszeiten und verband sich vornehmlich mit Monopol-Profit und Kapitalmarkt-Manipulationen; sie konnte dann ihren negativen Anstrich vor allem auf den Ausdruck „Trust“ übertragen (s. schon Landesberger [Fn. 8], S. 303–307 et passim), der die Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg beherrschte (s. etwa Klug, Das Wesen der Kartell-, Konzern- und Trustbewegung, 1930). Die andere Konnotation setzte „Konzern“ einfach mit (unfassbarer) „Größe“ eines Unternehmens gleich – Konzerne als die Wolkenkratzer der Wirtschaftslandschaft, geeignet auch für die belletristische Groteske, wie in Erich Kästners „Drei Männer im Schnee“ mit der schönen Schlusspointe, dass Milliardär Tobler ein Hotel nicht

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Damit hat sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts mit der nationalen, europäischen und weltweiten Verschärfung des Kartellrechts für die deutschen Unternehmen die Lage ergeben, dass sie vom Ordo-Liberalismus sowohl im Kartell- wie im Konzernrecht gleichsam den Ordo-Teil mitbekommen haben. Im Kartellrecht hat die auch wirtschaftliche Supermacht USA, unterstützt vom Grundgedanken der EU, für Strenge gesorgt. Im Konzernrecht dagegen ist die Bundesrepublik den Weg von etwas mehr Zucht selbständig gegangen. Dass dieses kumulierte Ordnungsdenken den Unternehmen geschadet habe, wird sich nicht behaupten lassen. Unsere Frage richtet sich aber an den Wettbewerb der (Konzern-)Rechtsordnungen. Die USA besitzen kein Konzernrecht auf Bundesebene, und die Praxis der Einzelstaaten ist in den Begründungen und Ergebnissen Wildwuchs.15 Es besteht darum in diesem Bereich auch kein Wille der USA, ihr Recht zu exterritorialisieren. Deutschland hat dem gegenüber mit dem Aktiengesetz 1965 dem Konzernrecht ein nie und nirgends vorhandenes Profil gegeben. Nicht nur hat es dieses auf eine systematische Linie gebracht, sondern es hat dabei auch eine einheitliche Stoßrichtung verfolgt, eben den Schutz der konzernfremden Aktionäre und der Gläubiger in den Untergesellschaften. Sein Konzernbild ist eine Agglomeration mit qualifiziertem Schädigungspotenzial, welches mit den allgemeinen Schutzinstituten des Aktienund sonstigen Privatrechts nicht zu bewältigen sei. Fragt man nach den politischen Kräften, die dieses Konzernrecht hervorgebracht haben, so dürfte nach meinem Eindruck neben bzw. hinter den so konkreten Schutzintentionen noch ein sehr allgemeines Motiv wirksam gewesen sein, dass nämlich eine Organisation, und erst recht eine Großorganisation, wie der Konzern sie darstellt und die per se mit Macht umzugehen hat, immer der rechtlichen Ordnung bedarf. Der Konzern als neue und wichtige Erscheinung solcher Art bedarf in dieser Sicht auf jeden Fall der rechtlichen Erfassung.16 Da tritt nun der Gegensatz zum US-amerikanischen Rechtstemperament voll ins Licht: Der Konzern wird dort kaum einer eigenen Gesetzgebung unterworfen werden, wenn er nicht tatsächlich und beträchtlich Probleme erzeugt hat. Ohne das ist er eine Nutzung von Aktionärsmacht wie eine andere. Daraus ergibt sich für das deutsche Recht aber die Frage: Was war wohl zuerst? Hat wirklich das Mitgefühl mit geprellten Minderheitsaktionären und Gläubigern in Tochtergesellschaften das Konzernrecht ausgelöst, oder war es im Ursprung das viel breitere Anliegen, den Konzern als solchen zu erfassen, das aber nur diese zwei Personengruppen als Schutzbedürftige vorfand? Dass im Nachgang zum Aktiengesetz eine entsprechende Ordnung für die GmbH zur Debatte stand, könnte in diesem Sinn sprechen. Dass aber schließlich das allgemeine, nicht konzernspezifische GmbH-Recht für den Schutz der Außen-

__________ kaufen konnte, weil es ihm schon gehörte. Der Konzernboss erscheint durchaus nicht als böser Drahtzieher, sondern als Typ, dem das Riesengebilde entgleitet. Sollte das Recht sich nicht auch dieses Problems annehmen? 15 Vgl. die fünfbändige Zusammenstellung von Phillip I. Blumberg, The Law of Corporate Groups, 1983–1993. 16 Etwa in der Begründung zum RegE (Fn. 12) vor § 291 AktG, 3. Absatz „… jeder rechtlichen Ordnung entziehen“.

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seiter als genügend erachtet wurde, ist jedenfalls ein Hinweis darauf, dass die Unterschiede zu den ausländischen Vorstellungen weniger eklatant sind, als sie häufig erscheinen: Weder gilt das allgemeine Recht im deutschen System von vornherein als untauglich, noch deckt das spezifische Recht, wo vorhanden, den Konzern schlechthin ab. 2. EWG/EU Das deutsche Konzernrecht von 1965 hatte zumindest europaweit eine elektrisierende Wirkung. Nicht nur hatten die anderen Staaten nichts annähernd Vergleichbares, sondern die sechziger Jahre waren nach Vernarbung der Kriegswunden eine reformfreudige Zeit. Überall wurde das Gesellschafts-, insbesondere das Aktienrecht „modernisiert“, und was könnte „moderner“ sein, als darin den so enorm erfolgreichen Konzern aufzunehmen? Politisch lag der Einsatz für konzernbedrängte Kleinkapitalisten richtig, und so gehörte es fast von selber auch zur Frische der Harmonisierungsbestrebungen jener Zeit in der EWG, dass an einem europäischen Konzernrecht gearbeitet wurde.17 Wie wohl in Deutschland stand die Bewegung unter der allgemeinen Flagge „Konzern“, sah ihn aber ausschließlich als eine transparent zu machende und einzuschränkende Macht. Ganz dem deutschen Muster folgten auch nationale Projekte in Europa, allen voran die parlamentarische Initiative von Cousté in Frankreich.18 Alles sah nach einer europaweiten Rezeption des deutschen Konzernrechts aus; das Modell war im Wesentlichen konkurrenzlos und der Wille, in die Richtung zu gehen, war weit verbreitet. Doch es kam die Notre Dame aus Paris, und „sie war eine falsche Nonne und blies das Lichtlein in Brüssel aus“.19 Die SE-Entwürfe ab 1989 klammerten das Konzernrecht aus, an der Konzernrichtlinie wird längst nicht mehr gearbeitet, die Lex Cousté wurde 1981 zurückgezogen. Was machte der Konzernbewegung in Europa den Garaus? Natürlich lässt sich ein Bündel mutmaßlicher Ursachen für das Verschwinden des Konzernrechts aus den Traktanden nennen. Die Gegenbewegung dürfte tatsächlich von Frankreich ausgegangen sein, basierend namentlich auf einem Dokument, in welchem sich ein Wirtschafts-Dachverband die Mühe nahm, in eine fundierte und loyale Debatte mit den Befürwortern zu treten.20 Ein Wort von Rodière bringt wohl das Kernanliegen zum Ausdruck: „Was man als Angebot eines Statuts an die Konzerne bezeichnet, heißt eigentlich, sie in Eisen zu legen“21 – ein Recht gegen den Konzern. Verschiedenste rechtliche, wirt-

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17 S. die ausführlichen Vorschriften zum Konzernrecht in den Entwürfen 1970 und 1975 zur Societas Europaea, sowie die Vorentwürfe zu einer (9. gesellschaftsrechtlichen) Konzernrichtlinie von 1974/75 und 1984. 18 Die Eingaben des Gaullisten Cousté und Mitunterzeichner von 1970, 1974 und 1978 waren zunächst am Vorentwurf Sanders zur SE, dann am deutschen Recht orientiert. Definitive Abschreibung 1981. 19 So ein zeitgenössischer Kommentar. 20 Bézard/Dabin/Echard/Jadaud/Sayag, Les groupes de sociétés. Une politique législative, hgg. vom Centre de Recherches sur le Droit des Affaires (CREDA), 1976. 21 Dalloz-Sirey 1977, 137.

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schaftliche und emotionale Faktoren kamen hinzu, wie der Streit mit Deutschland bezüglich SE und Strukturrichtlinie in Sachen Mitbestimmung, die zu stark deutsch beeinflusste Betreuung des Konzernrechts auf europäischer Ebene (Würdinger, Gleichmann) und namentlich der EWG-Beitritt Großbritanniens, das nie an einem systematischen Konzernrecht interessiert war.22 3. Die letzten 20 Jahre Neben Portugal, das schon früh eine allerdings stark zerpflückte Version des deutschen Modells kodifizierte,23 ist in Europa die italienische Novelle zum Codice Civile von 200324 hervorzuheben.25 Dass diese Blüten als die Primeln eines neuen konzernrechtlichen Frühlings zu bestimmen sind, ist aber aus europäischer Sicht weniger anzunehmen, als dass sie die Herbstzeitlosen einer zu Ende gehenden Epoche darstellen. Zwar wäre es vorschnell, dies längerfristig einfach aus dem Scheitern der europäischen und nationalen Bemühungen abzuleiten – die Konstellationen können sich immer wieder ändern. Aber mehr als das Scheitern sagt das Schweigen aus, und da sind es doch wieder in erster Linie die USA und das Vereinigte Königreich, welche die Zeichen setzen, welche gleichsam sogar im Schweigen den Ton angeben. Die Angelsachsen machen die Vorstellung der Konzerne als einer Gefahr per se ganz grundsätzlich nicht mit.26 Dass der Konzern immer, und nur er in dieser Weise, eine qualifizierte Gefahr darstelle, ist auch die Wirtschaft nicht bereit hinzuneh-

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22 Freilich stehen neben Schreckensausrufen durchaus auch Meinungen mit mehr Sympathie (vgl. Druey, Gutachten H zum Dt. Juristentag 1992, abgedruckt mit dem Titel „Das deutsche Konzernrecht aus der Sicht des übrigen Europa“, in Lutter [Hrsg.], Konzernrecht im Ausland, ZGR-Sonderheft 11, 1994, Anm. 168 f. und 175). 23 S. Ribeiro, Die verbundenen Gesellschaften im neuen portugiesischen Handelsgesellschaftsrecht, in Mestmäcker/Behrens (Hrsg.), Das Gesellschaftsrecht der Konzerne im internationalen Vergleich, 1991, S. 203–215. 24 CC 2497-2497septies, in Kraft seit 1.1.2004. Dieser Text könnte bei aller thematischen Beschränkung in verschiedener Hinsicht den Übergang in eine neue Ära der Konzern-Kodifikation bedeuten. Er statuiert die registerliche Konzerntransparenz und namentlich die Haftung der Obergesellschaft und der oben oder unten beteiligten Organpersonen aus schädlichen Leitungseingriffen nach dem Muster von § 317 AktG. Die Organpersonen können aber die Vorteile aus der Einordnung als solcher geltend machen (Sandro Merz [Hrsg.], Manuale pratico … delle società, 3. Ausg., 2007, S. 577 f.). Interessant ist aber besonders die Einführung einer Begründungspflicht für Leitungshandlungen der Obergesellschaft, die, richtig gehandhabt, eine wesentliche Verbesserung gegenüber dem deutschen, zu sehr auf bloße Auflistung und Nachteiligkeit ausgerichteten Abhängigkeitsbericht nach § 311 AktG sein könnte. 25 Außerhalb der EU verdient der Entwurf einer türkischen Novelle Beachtung, der neben die deutschen Grundelemente den vom schweizerischen Bundesgericht kreierten Schutz des „Konzernvertrauens“ stellt. Zu weiteren Ländern Emmerich/Habersack, Konzernrecht, 9. Aufl. 2008, S. 17 f. 26 Hopt, ZHR 171 (2007), 199, 211 vermutet zu Recht einen Zusammenhang des Fehlens eines Konzernrechts in diesen Ländern mit dem principal-agent-Theorem, verstanden als Gegensatz von Aktionär und Management, anstelle des in den europäischen Strukturen im Vordergrund stehenden Gegensatzes von Mehrheits- und Minderheitsaktionären. Das verbindet sich noch mit einer rigorosen Anwendung der business-judgment-rule zu Gunsten des (vom Mehrheitsaktionär maßgeblich bestimmten) Board.

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men, wo nicht, wie möglicherweise in Deutschland mit dem Abhängigkeitsbericht, die Ausführung der Vorschriften ritualisiert und damit von der Freiheits- zur Kostenfrage transponiert werden konnte. Die Frage käme auf: Konzerne gibt es seit anderthalb Jahrhunderten; wieso sollen sie plötzlich einer rechtlichen Kontrolle unterworfen werden? Und natürlich: Wo sind die Missbräuche? Insgesamt wäre die Reaktion verbreitet: L’art pour l’art von Professoren – sie sind die Gefahr … In dieser Situation hat die erwähnte Arbeitsgruppe „Forum Europaeum Konzernrecht“27 wohl das Richtige getan. Zum Ersten: Internationaler Vergleich und der Versuch von Synthesen bleiben nötig, ob nun die EU bereit ist oder nicht, den Ball aufzunehmen, und gleichgültig, ob die Staaten ein Konzernrecht „haben“ oder nicht. Das sichert die Gesamtsicht; nationale Rechtsentwicklungen haben die Tendenz, die Fragen in einzelnen isolierten Aspekten koagulieren zu lassen. Zum Zweiten: Das internationale Gespräch fördert die interdisziplinäre Betrachtung. Die Kontakte mit der Betriebswirtschaftslehre und auch mit der Praxis in den Konzernen selbst sind schwieriger, als es die Sonntagsredner der Interdisziplinarität wahrhaben wollen. Das Treffen unter Juristen verschiedener Systeme sichert weitgehend die Gleichheit der Konzepte, und die wirtschaftlichen Aspekte bringen sie reflexweise mit ihren konkreten nationalen Erfahrungen ein. Zum Dritten und Wichtigsten: Das Forum fächerte von seinem Kernpunkt, der ordnungsmäßigen Konzernführung, die vorgeschlagenen Normen wieder auf. Dabei war die Wahl durch keinerlei Flächendeckung der praktischen Fälle, sondern die Chancen auf Akzeptanz der jeweiligen Institutionen bestimmt. Echos aus einigen Ländern, auch außerhalb des EU-Raums, sind erfreulicherweise zu verzeichnen.

II. Sachgerechtigkeit Was nun folgen muss, ist die schwierige und undankbare Aufgabe der Analyse dieses Schweigens auf systematischer Ebene. Ich hatte schon einmal einen ähnlichen Auftrag zu erfüllen,28 und entbinde mich darum hier von den Einzelheiten.29 Eine solche Betrachtungsweise wendet sich zwar kritisch vor allem an das deutsche Recht als dem Exponenten eines expliziten und systematischen Konzernrechts, doch keineswegs als Endzweck. Dieser beruht auf der Über-

__________ 27 Oben Fn. 1. Das Gremium tagte auf privater, von der Thyssen-Stiftung geförderter Basis von 1991 bis 1998. Lichtblick aus neuster Zeit, aber primär auf bloße Empfehlungen durch die Kommission zielend, die Arbeiten der Reflection Group on the Future of EU Company Law, Brussels 5.4.2011, Chapter 4, und (bei Drucklegung noch nicht abgeschlossen) der Aarhuser Arbeitsgruppe initiiert von Paul Krüger Andersen für ein konzernrechtliches Modellgesetz zu Händen der EU-Mitgliedstaaten. 28 Druey (Fn. 22). 29 Von der Sache her bedauerlich, aber verständlich war, dass die Diskussion an diesem Juristentag sich lieber auf das Konkrete einzelner Bestimmungen konzentrierte und das Konzept des AktG als „im Großen und Ganzen bewährt“ auf sich beruhen ließ (s. Sitzungsbericht R zum 59. Deutschen Juristentag Hannover 1992).

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zeugung, dass ohne einigermaßen allgemeine übernationale Vorstellungen von der Aufgabe des Konzernrechts keine nationale Ordnung, sei sie nun beredt oder schweigend, langfristig gedeihen kann. Darüber dann unten III. 1. Der Konzern als Multifacetten-Problem Ein Feld-Wald-Wiesen-Beispiel: Nehmen wir an, die X. AG sei ein solides Familienunternehmen, das seit Jahrzehnten vor allem ein bekanntes Produkt P herstellt. Die Y. AG erwirbt die Aktien mit Ausnahme der 10 % von A, schätzt das Unternehmen als stark im Vertriebsnetz ein, schwach dagegen bezüglich Pipeline-Produkten. X. erhält deshalb in der konzernweiten Langfristplanung die Funktion der „cash-cow“; die Erträge, einschließlich außerordentlicher Posten aus Liquidation gewisser Aktiven, werden ausgeschüttet und in eine konzern-zentrale Forschungsgesellschaft übergeführt. Geplant ist, Y. für gewisse der Neuentwicklungen als Vertriebsgesellschaft einzusetzen. Beim Gesellschaftsrechtler gehen sogleich die Lämpchen „Minderheitsgesellschafter“ und „Gläubiger“ an. Er befragt das Gesetz oder die Praxis oder sich selbst, ob diese Personengruppen in den verschiedenen Konzerngesellschaften bei der Konzernbildung und danach genügend geschützt sind. Leuchten wird aber beim Gesellschaftsrechtler vielleicht auch das Lämpchen „Willensbildung“. Er wird so die organisatorische Problematik aufwerfen: Welches ist bei der Einordnung der verschiedenen Gesellschaften ins Konzept die Rollenaufteilung zwischen den Leitungs- und Aufsichtsorganen? War die Willensbildung zuständigen Orts erfolgt und ist sie gültig? Daran knüpft sich dann die Frage der hinreichenden Interessenwahrung. Aber auch der Arbeitsrechtler wird sich für den Fall interessieren. Mit solchen Verlagerungen gehen meist Versetzungen und Entlassungen einher. Aber auch der Vertragsrechtler kommt vermutlich gelaufen; Beziehungen von X. vor und nach Konzernierung, Patronatserklärungen, Forschungsaufträge usw. gehören fast sicher ins Spiel. Auch der Kartellrechtler wird ein Auge darauf werfen wollen, der Immaterialgüterrechtler im Hinblick auf die konzerninterne Geheimhaltungspolitik, und leider später vielleicht auch der Insolvenzrechtler. Ganz sicher von der Partie ist der „Steuer-Steuermann“. Und wenn wir dann noch ein vertrauliches Gespräch mit dem CFO von Y. führen dürfen, so erfahren wir vielleicht, dass X. nur zur kurzfristigen Aufhellung der Konzernbilanz gekauft wurde und operativ nicht benötigt werde. Analyse von vorn beginnen? Eines steht fest: Keiner von diesen wird den Umstand unberücksichtigt lassen können, dass es sich in der Fragestellung um verbundene Unternehmen handelt. Für die meisten dürfte dies bedeuten – ob das Land nun ein Konzernrecht „hat“ oder nicht –, dass für die Antwort auf gruppenspezifische Normen, Regeln oder Praktiken zurückgegriffen wird, bzw. solche gesucht oder geschaffen werden.

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2. Qualifizierter Schutzbedarf bei Konzernierung? Jeder Staat weltweit hat sein eigenes Gesellschaftsrecht und kennt Konzerne seit vielen Jahrzehnten. Die Unterlassung der Errichtung besonderer Schutznormen für Personen, die von Konzernen in ihren Interessen bedroht sind, erscheint deshalb als aussagefähig, als ein „qualifiziertes Schweigen gegen qualifizierten Schutz“. Es wird kein Grund gesehen, dass die außenstehenden Aktionäre abhängiger Gesellschaften in schlechterer Lage wären als andere Minderheiten, und dass solche Gläubiger sich weniger absichern könnten als andere. Will der Mehrheitsgesellschafter einer selbständigen KMU die Gewinne ganz „über die eigene Mühle“ leiten, so hat er mindestens gleich gute Möglichkeiten dazu wie die Obergesellschaft eines Konzerns, ja bessere, weil der Konzern in der Regel auch in der Tochtergesellschaft einen Namen zu verlieren hat. Der Gläubiger hat nicht nur den allgemeinen Kapitalschutz, sondern über Patronatserklärungen, allenfalls nur implizite, und Leitungsverantwortlichkeit zusätzliche Instrumente gegen die Mutter und ihre Organe. Anderseits – so weiter der Versuch der Artikulierung dieser Position – wirkt auch im Konzern das Ur-Motiv aller Gesellschaften: das Zusammenfallen von Eigeninteresse und Verbandsinteresse. Der Einsatz veranlasst die pflegliche Behandlung. Auch dieser Gesichtspunkt findet sich besonders ausgeprägt im Konzern, nicht nur wegen des meist beträchtlichen Eigenvermögens, das in den Untergesellschaften liegt, sondern weil die Konzernleitung auf dessen Bewirtschaftung verpflichtet ist. Das verknüpft sich, über alles Rechtliche hinaus, mit einem vom AktG stark abweichenden Konzernbild: die Henne und die Kücken, das „Wir-Gefühl“ insbesondere unter einem gemeinsamen Namen („wetryharder“), und daraus aber die Verantwortlichkeit nicht nur für das Ganze, sondern gegenüber dem Ganzen.30 Ebenso gibt es aus dieser Optik keinen Anlass, die Macht des Gesellschafters im Konzern als etwas Besonderes zu behandeln. Das Prinzip des Anteilsstimmrechts enthält in sich die Möglichkeit der Beherrschung, und bei der Ausübung der Gesellschafterrechte ist der Gesellschafter jedenfalls bei der AG keine Rechenschaft schuldig. Die Macht ist also, wie es in der französischen Lehre heißt, eine „situation de fait“ und nicht „de droit“.31 Dass der Missbrauch dieser Macht, den es selbstverständlich zu bekämpfen gilt, im Fall des Konzerns wahrscheinlicher ist, als wenn beim Großaktionär einer Einzelgesellschaft privater Geldbedarf entsteht, wäre noch zu beweisen. Unbestritten ist die weitaus größere Häufigkeit zwischengesellschaftlicher Transaktionen im Konzern.

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30 Insofern ist die in der EU verbreitete Unterscheidung zwischen minimalen und weiter gehenden Vorschriften präzisierungsbedürftig. Das deutsche Recht, das unter anderen Aspekten als das klar strengere erscheint, klammert die Verantwortlichkeit aus Leitungspflicht (im Gegensatz zur bloßen Nicht-Schädigung) aus (anders immerhin Uwe H. Schneider in FS Hadding, 2004, S. 621, 630), während sie im Konzept der „diligens mater familias“ etwa im Sinn der Rozenblum-Praxis (Fn. 33) oder der Organstellung der Mutter notwendig enthalten ist. – Dazu noch nachfolgend unter dieser Ziffer. 31 Guyon, Droit des affaires, Bd. I, 12. Aufl. 2003, Rz. 580.

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Doch gerade daran illustriert sich die Verschiedenheit des Ansatzes. Es kann darin eine vermehrte Komplexität erblickt werden, welche nach zusätzlicher Transparenz und vorgegebenen Beurteilungskriterien (der „Nachteil“ im Sinne von § 312 Abs. 1 AktG) ruft. Oder aber man nimmt, wie der Jubilar,32 die Konzernleitung als Pflicht, als ein Amt, aus allen beteiligten Konzerngesellschaften das Beste zu machen. Die Mutter hat nach diesem Leitbild kein Bedürfnis, ihre Kinder aufzufressen, sondern sie pflegt sie. Am Konzern tritt der Aspekt der Interessengemeinschaft, eben des „concern“, hervor. Abzurechnen ist dann so wenig wie in der Familie über die einzelne Transaktion; rechtliche Konzernkontrolle ist dann Systemprüfung, Prüfungsgegenstand ist nicht das einzelne, ohnehin routinemäßige und praktisch bei der Vielzahl nur standardisiert erfassbare Geschäft, sondern der Plan, der dahinter zu stehen hat. Das entspricht der französischen Entscheidlinie Willot-Rozenblum33 und den Intentionen des Forum Europaeum.34 Das freundlichere Konzernbild lässt insofern das Modell des Aktiengesetzes als ein Zuviel erscheinen. Ebenso kann es aber als ein Zu-Wenig gesehen werden, dies infolge seiner legislatorischen Selbstbeschränkung eben auf das Thema „Konzern“. Die Divergenz ist dann keine spezifisch konzernrechtliche, sondern die Alternative zwischen den (angesichts der Unbegrenztheit der Erscheinungen immer irgendwo erforderlichen) legislatorischen Ausblendung verwandter Probleme, einerseits, und der Ungleichbehandlung von Gleichem, die durch den thematischen Ausschnitt entsteht, anderseits. In unserm Kontext betrifft das hauptsächlich den Begriff der Abhängigkeit. Das Aktienrecht wirft das Stichwort nicht als solches auf, sondern geht nur die konzernspezifische Abhängigkeit an. Das ist, wie gesagt, rechtspolitisch weise, in der Sache entsteht aber diese Schlaufe, die dem Auswärtigen mit dem faktischen Konzern Mühe macht: Wird der Konzern geregelt, weil er Abhängigkeit erzeugt, müsste Abhängigkeit das eigentliche Thema sein. Historisch, systematisch und sprachlich („faktischer Konzern“) ist aber klar, dass Konzernrecht gemeint ist – ein Stück Konzernrecht. Das Problem ist damit, dass keines der beiden Phänomene, weder der Konzern noch die Abhängigkeit, selber Thema ist, keines wird rundum betrachtet, sondern anstelle eines Phänomens ist Gegenstand die gemeinsame Schnittmenge von zwei Begriffen. Nun ist Abhängigkeit per se gewiss kein in sich geschlossenes juristisches Thema. Es versteht sich auch, dass für ein Unternehmen aus seinem Wesen heraus Vieles als „Schicksal“ hinzunehmen ist, wie Abhängigkeit von Märkten, von staatlichen Anordnungen, vom Wetter- oder Arbeitsklima, usw. Abhängigkeit kann rechtlich nur interessieren als Ausgesetzt-Sein gegenüber der Willkür eines anderen Subjekts, eben als Beherrschung. Ist aber angesichts der Handelbarkeit von Aktien und der fehlenden Treuepflicht des Aktionärs nicht

__________ 32 Hommelhoff, Die Konzernleitungspflicht, 1982, § 2. 33 Hervorgehoben zu werden pflegt der Entscheid des französischen Kassationshofs in Strafsachen in Sachen Rozenblum, Dalloz 1985, 478, der die Kriterien systematisch festhält. Zu diesen insb. Forum Europaeum Konzernrecht, ZGR 1998, 672, 706–709. 34 Oben Forum Europaeum Konzernrecht, ZGR 1998, 672, insb. 712–715.

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auch „Schicksal“, von einem anderen Unternehmen aufgekauft und beherrscht zu werden? Diese Frage ist nun sicher rechtsspezifisch, aber ist sie konzernspezifisch? Aus wertender Sicht (wenn also die Begründung nicht einfach lautet „Weil wir nun einmal nur vom Konzern reden“) muss die Abhängigkeit von einem herrschenden Unternehmen dem Verhalten der abhängigen Gesellschaft größere Sachzwänge auferlegen als die Ausnützung anderer Verbindungen von Rechtssubjekten. Daran besteht, wie eingangs dieser Ziffer angesprochen, angesichts von anderen Beherrschungen als durch Konzern-Obergesellschaften beträchtlicher Zweifel, denkt man etwa an Familiengesellschaften, Vehikel-Gesellschaften von Privaten oder Poolverträge unter einem Teil der Aktionäre. Auch die Beschränkung auf die gesellschaftsrechtliche Verbindung erscheint damit aus der Natur der Sache als Auftrennung eines einheitlichen Problems. Starke Abhängigkeiten können auch in anderen Zuordnungen liegen, wie Franchising-Systemen, Großgläubigerschaften, Lieferverbindungen, Vertriebsverträgen, mehr noch aus Marken- und anderen Lizenzen oder einfach aus faktischen Symbiosen. Auf solchen Grundlagen kann ebenfalls systematische und regelmäßige Einflussnahme stattfinden. 3. Relevanz des Interesses an Konzernzugehörigkeit? Die Schutzintention des AktG hat zur konzeptuell bewundernswerten Wahlmöglichkeit zwischen dem faktischen und dem Vertragskonzern geführt. Dabei ist der Vertragskonzern hinsichtlich der Tätigkeit der eigentlich freie, die Freiheit wird aber durch die Bedingungen von §§ 300–307 AktG erkauft. Nach dem anderen, dem „ausländischen“ Verständnis des Konzerns sind der Zutritt und die Auflösung ebenso frei wie seine Tätigkeit. Dem Konzern wird kein (gebührenpflichtiger) Parkplatz geboten, einen Konzern zu führen ist kein staatliches Privileg. Auch die französische Entscheidlinie Rozenblum will nicht den Konzern von etwas befreien, sondern einfach sachgerecht urteilen.35 Die Crux, an welcher die Wege sich trennen, ist der Nachteilsbegriff. Das deutsche System anerkennt für den faktisch genannten Konzern nicht, was weltweit die rechtliche Lebensfähigkeit des Konzerns ausmacht: die Konvergenz der Interessen.36 Aus der Sicht von außen kennzeichnet das deutsche Konzernrecht eine Art „überschießende Normativität“: Indem es die Einzelbetrachtung der Nach- und der kompensierenden Vorteile bei der abhängigen Gesell-

__________ 35 Der Konflikt zwischen diesen Denkschemen war der wohl schwierigste Punkt in den Diskussionen des Forum Europaeum Konzernrecht; auch danach noch s. Hopt, ZHR 171 (2007), 199, 222. Eine „Freistellung“ erfolgt nach dieser Praxis nur, indem bei konzerninternen Leistungen der Tatbestand der ungetreuen Geschäftsführung („abus des biens sociaux“) als nicht erfüllt bezeichnet wird, wenn die Kriterien einer nachhaltig ausgewogenen Politik des Konzernganzen eingehalten sind. Zu einer Freistellung im Sinn eines Privilegs wäre das Gericht ohnehin nicht befugt. 36 Statt aller Guyon (Fn. 31). Dazu Druey, Die drei Paradoxe des Konzernrechts, in von Büren (Hrsg.), FS Bär, 1997, S. 75–88.

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schaft verlangt, unterbindet es den Gesichtspunkt der Konzernzugehörigkeit,37 welcher ohne Weiteres in der Beurteilung „de fait“ Platz greifen muss. Der faktisch genannte Konzern des § 311 AktG ist aus dieser Sicht just nicht faktisch, sondern hält dem Konzern eine Fiktion der Unabhängigkeit entgegen, wo doch der Sorgfaltsmaßstab ausschließlich an den Tatsachen zu orientieren ist. Zu diesen Tatsachen muss nämlich, sogar meist als sehr bedeutsames Moment, auch der Umstand der Konzernzugehörigkeit zählen. Konzerninteresse und Tochterinteresse laufen in beträchtlichem Maß parallel, meist als Funktion der Integration, aber auch die – oft in zahllosen kleinen Schritten vor sich gehende – Integration selber ist damit nicht per se nachteilig. 4. Vertikalität oder Horizontalität? Verwandt mit dieser Differenz ist diejenige bezüglich der Willensbildung im Konzern. Das deutsche Modell sieht den Konzern streng hierarchisch, und zwar auch im Fall der §§ 311 ff. AktG als rechtliche (gesellschaftsrechtlich vermittelte) Hierarchie. Konsequent wird deshalb der gesetzliche Begriff der „Veranlassung“ als Weisung gedeutet.38 In der anderen Sicht fällt mit dem Einfluss der Obergesellschaft die Tatsache nicht einfach dahin, dass zwei juristische Personen miteinander kooperieren. Dass die Tochtergesellschaft sich organisatorisch und in ihrem Einzelverhalten einordnet, besagt just, dass dies ihr eigener Akt und nicht der der Obergesellschaft ist. Demnach sind im Konzern sowohl die vertikale wie die horizontale Komponente angelegt. An die Stelle von Weisung und Gehorsam treten eben Plan und Verwirklichung; auch auf der Exekutivstufe wird mit eigenem Ermessen im Rahmen der Vorgaben, nicht Vorschriften, Unternehmenspolitik betrieben. Und man möchte sagen: Zu diesem Konzept gehört durchaus auch die interne Reibung.39 Dahinter stehen vermutlich Verschiedenheiten in den Vorstellungen darüber, was Leitung sei. Leitung kann verstanden werden als eine Position, Leitungs-

__________ 37 Habersack in Emmerich/Habersack (Fn. 6), § 311 AktG Rz. 41, 52, 62. 38 Habersack in Emmerich/Habersack (Fn. 6), § 311 AktG Rz. 23 m. Nachw. Wie dort ausgeführt, kann die Weisung durchaus in die Form eines bloßen Wunsches, einer Empfehlung u. Ä. gekleidet sein. 39 Namentlich Amstutz, Konzernorganisationsrecht, Abh. z. schweiz. R., Heft 551, 1993, hat sich intensiv der über das Formale hinausgehenden, funktionalen Bedeutung des polykorporativen Charakters des Konzerns gewidmet. An zentraler Stelle (Rz. 652) zitiert er den Jubilar: „Außenanstöße formen die trialistische (sc. durch das Nebeneinander von Hauptversammlung, Aufsichtsrat und Vorstand konstituierte) Wirkungseinheit Aktiengesellschaft nicht um in eine monistische Exekutionsstelle. Trotz der Einflussnahme von außen behält die Gesellschaft ihre funktionsteilige Entscheidungs- und Handlungsorganisation, die sich selbst steuert, wenn auch unter Berücksichtigung der Steuerimpulse von außen“ (Hommelhoff [Fn. 32], S. 226). Diese „Berücksichtigung“, das „konzernspezifische Spannungsverhältnis“ (Amstutz), stellt freilich nur die Bühne auf, welche Schauplatz des noch nicht festgelegten Geschehens werden soll (s. auch die Besprechung von Amstutz durch Bälz, ZHR 160 [1996], 202). Von entscheidender Bedeutung daran ist aber, Leitungshandeln nicht als Akt eines absoluten Regenten zu sehen, der alle Fäden in der Hand hält, sondern als eine auf keinen Ursprung mehr rückführbare Kette von Re-aktionen. Dazu noch im Text.

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handeln als das Verhalten dieser Instanz und Leitungspflicht als Pflicht zur Wahrnehmung der Macht. So denkt vor allem der Jurist. Für den Ökonomen sind Leitungsimpulse einfach Informationen, die auf eine Steuerung anderer Organisationsangehöriger zielen.40 Der Unterschied liegt darin, dass der Anspruch auf Befolgung und mithin ein über das Ganze gehendes Harmonisierungsziel in der ersten Version die Botschaft begleitet, während ihr Schicksal in der zweiten noch offen ist. Vielerlei Tendenzen, die Verflachung der Hierarchien, der Gedanke des Netzwerks, diskursive Medien und Anderes deuten heute in die zweitgenannte Richtung.41 Das wird durch die konzernmäßige Aufgliederung zwar nicht statuiert, aber akzentuiert. Information ist nie gleichmäßig verteilt, und die Organisation des Konzernganzen zielt gerade auf die Konzentration des verfügbaren Wissens an bestimmten Orten. Aus dieser Sicht ist das Problem der Abhängigkeit außerordentlich viel breiter als diejenige, die auf einer gesellschaftsrechtlichen Beteiligung beruht, und muss mit völlig anderen Mitteln angegangen werden. Dabei können die Impulse ebenso upstream wie downstream, ebenso quer wie diagonal durch den Konzern gehen. Eine spezialisierte Tochter weiß mehr und ist insofern mächtiger als die Mutter, auch wenn diese mit dem 100 %-Aktienbündel winkt. „Leitung“ ist damit aus der anderen Sicht sowohl im Kontext des Abhängigkeits- wie des „eigentlichen“ Konzernbegriffs ein wenig taugliches Tatbestandselement. Das Regieren über die Grenzen der Einheiten hinweg, das die spezifische Konzerngefahr darstellen soll, lässt sich nicht als typisch nur für verbundene Gesellschaften, und für diese nicht schlechthin, darstellen. Dass der Umstand der eigenen Rechtspersönlichkeit der Töchter und die daraus hervorgehenden Pflichten bei der Zentrale einfach „vergessen“ werden und daraus die Gefahr entsteht, dürfte zumindest in den Kadern selten zutreffen. Und dass diese Leitung „einheitlich“ sein soll, ist ein in der Fülle der Realitäten erst recht schwer unterzubringendes Requisit. Großunternehmen werden stets mehr oder weniger dezentral geführt, und alle Großunternehmen sind auf eine Mehrheit von juristischen Personen aufgeteilt. Die Beschränkung des Einheitlichkeitskriteriums auf die Leitung ist, so gesehen, in der Sache weder begründet noch entscheidungsfähig. Das über den Gesamtkonzern gelegte Merkmal trägt überdies den meist enormen Unterschieden in der Stellung der Einzelgesellschaften innerhalb des Ganzen nicht Rechnung. 5. Konzern oder Gruppe? „Konzern“ heißt im Ausland „Gruppe“. Das ist leicht ins Englische, Französische und andere Sprachen zu übernehmen. Aber auch im deutschsprachigen Raum, in der Schweiz und vermutlich ähnlich in Österreich, ist zwar der Begriff des Konzerns etabliert, aber kaum ein tatsächlicher Konzern nennt sich

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40 Statt aller Wankel (Hrsg.), Encyclopedia of Today’s Business, 2009, III 1050 v° Management. 41 Das zeigt sich, ohne das Thema hier traktandieren zu wollen, auch im Juristischen, etwa in der Pflicht zur Rückfrage („Ihre Weisung scheint mir von falschen Annahmen auszugehen“).

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so, sondern es wird für die Selbstbezeichnung der Ausdruck „Gruppe“ vorgezogen. Zum rechtstechnischen Tatbestand wird aber „corporate group“, „groupe de sociétés“ usw. nur sehr zögerlich. Sichtbar ist der Wille, den Begriff offen zu halten. Wichtig dürfte die Offenheit nicht zuletzt hinsichtlich des vertikalen und horizontalen Aspekts sein, aber auch zur Neutralisierung des Mehrfachsinns von Leitung sei es als Potenzial, als aktuelle Organisations- und Aufsichtstätigkeit oder als konkreter Verhaltensentscheid – ein Problem, das sich etwa in Italien im Ringen um den Begriff des „controllo“ manifestiert.42 Allgemein gesehen, drücken sich in der Wahl des Terminus „Gruppe“ also drei Bedürfnisse aus: Der Ausdruck soll unbelastet sein, d. h. nicht im Gravitationsfeld vorbestehender Einzelnormen43 stehen. Er soll positive Konnotationen erwecken, und vor allem soll er offen für eine Vielzahl verschiedener Konstellationen sein. Diese Offenheit dürfte ihrerseits eine ganze Anzahl Motive haben. Verbindung von Unternehmen, die über deren Innenverhältnis hinaus zum Rechtsproblem wird, kann von vielerlei Art sein. Die Beschränkung auf Stimmrechte erscheint, wie besprochen,44 von dieser Themenstellung aus willkürlich; vertragliche Beziehungen und faktische Dauerlagen sollen nicht von vornherein ausgeschlossen sein. Nicht geringer ist die Gefahr der Fixierung hinsichtlich der Rechtsfolgen, die sich an den Tatbestand der Verbundenheit knüpfen. Was für die Konsolidierungspflicht im Rechnungslegungsrecht tauglich ist, ist es damit noch nicht für Haftung aus Umweltbelastung oder Paketbildungen im Kapitalmarktrecht, usw.45 Das fördert in der Verwendung des Gruppenbegriffs die Zurückhaltung, ihn zum technischen Rechtstatbestand zu machen.46 Neben diese Schwierigkeiten der Begriffsbildung tritt aber wohl auch ein wertender Gesichtspunkt: Konzernverbindungen sind etwas notwendig Individuelles. Sie sind ein Stück Einsatz eigenen Vermögens und sind Organisation und insofern Ausdruck der Eigentums- und Unternehmensfreiheit. Will man über einen einheitlichen Begriff hinauskommen und nach Differenzierungen suchen, so bietet sich als erstes Unterscheidungskriterium die Dichte der Konzernorganisation an. Konzerne mit überwiegend vertikaler Struktur sind tendenzweise auch stärker zentral geführt und in diesem Sinn dicht; Konzerne eher mit Poolcharakter, mithin Interessengemeinschaften, neigen eher zu dezentraler, die Zentrale auf das „coordinamento“47 beschränkender Führungsstruktur. Eine solche Korrelation eröffnet die Möglichkeit, Unterschiede im Normbedarf (z. B. in der Gefahrenlage oder in der Organisation) mit Strukturmerkmalen zu verknüpfen. Doch das sagt sich leicht, und ist doch für einen

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Notari/Bertone in Notari (Hrsg.), Azioni, 2008, S. 701–704 m. Hinw. Etwa hinsichtlich des „control“ das Rechnungslegungsrecht. Oben II. 2. Oben II. 1. Immerhin Technisierung des Begriffs „gruppo di società“ in der Novelle von 2003 des italienischen Codice Civile, Art. 2497 Codice Cicile italiono. Das Gesetz macht es sich dort aber zu leicht, wenn einfach auf die Pflicht zur Konzernrechnungslegung verwiesen wird. 47 Codice civile italiano, Art. 2497 Abs. 1.

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Gesetzgeber eine Felswand oberster Klasse, und auch die Wissenschaft hat die nötige Vorarbeit noch nicht geleistet. Entsprechend ist die Scheu im Ausland vor allen Festlegungen nachvollziehbar. Denn was sind nun die Strukturmerkmale, an welchen die Differenzierung festgemacht werden kann? Zahlreiche empfehlen sich zur Berücksichtigung: die Quote der Beteiligung, die Zusammengehörigkeit der Produkte, Doppelorganschaften, separate Konzernleitung, Elemente des Konzernnamens in der Firmenbezeichnung, u. a. Das deutsche Aktienrecht wird auch in dieser Hinsicht beanspruchen können, mutig vorangegangen zu sein. Zum Konzept des deutschen Konzernrechts, wie ich es seit je verstanden habe, gehört die ebenso großartige wie kühne Idee, wirtschaftliche Differenzierungen in formell-rechtliche Institutionen umzugießen, mithin den verschiedenen Graden der Zentralisierung eine je eigene Ordnung zu geben, also mit der Differenzierung von Vertragskonzern und faktischem Konzern (wenn wir einmal die Eingliederung und wechselseitigen Beteiligungen außer Acht lassen) von Anfang an eine Mehrheit von Typen angeboten zu haben. Doch, wie es einmal ein Redner ausgedrückt hat: Eher fängt man eine Bachforelle mit bloßer Hand, als dass man rechtlich ein wirtschaftliches Phänomen am richtigen Ort erwischt. Seitdem der Vertragskonzern steuerlich an Interesse verloren hat, verstehen es offenbar die meisten Konzerne, mit der Ordnung des faktischen Konzerns zu leben. In bewusster Abweichung von der zu jener Zeit diskutierten organischen Konzernverfassung wurde sogar dem Unternehmen die Wahl zwischen den Formen überlassen, im Vertrauen auf die jeweilige Typgerechtigkeit der Ordnung. Wenn in der Praxis der faktische Konzern offenbar ganz ungleich beliebter geworden ist, ist dies ein wohl untrügliches Zeichen dafür, dass die Freiheit des Schaltens und Waltens nicht des Preises des Vertragskonzerns bedarf. Entweder ist der Preis zu hoch und damit die Lösung für den Vertragskonzern zu streng, oder diejenige für den faktischen Konzern zu durchlässig.48 Die Forellenjagd muss jedenfalls weitergehen, und so aber auch das Lahmen des Auslands vor der Definitionsfrage. 6. Fazit Unsere Frage war, ob das Fehlen eines systematischen Konzernrechts in vielen Ländern eine Divergenz der Vorstellungen zum deutschen Konzernrecht zum Ausdruck bringt. Diese Frage ist, bei allen anzubringenden Vorbehalten, zu bejahen. Diese Vorbehalte betreffen einerseits den Umstand, dass nicht einfach die ganze übrige Welt dem deutschen System entgegengestellt werden kann. Verschiedene Länder haben sich ja bereits ein Stück weit vom deutschen Modell beeinflussen lassen, und dass es noch weitere geben wird, welche im Bestreben, ein Konzernrecht in ihrer gesellschaftsrechtlichen Palette zu bieten,

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48 Der Jubilar hat in seinem Gutachten an den Deutschen Juristentag 1992 zur Reformbedürftigkeit der §§ 311 ff. AktG auf die präventive Funktion der Bestimmungen, insbesondere des Abhängigkeitsberichts hingewiesen (59. Deutscher Juristentag, 1992, Gutachten G 23). Das Plenum hat sich dabei (zu?) gern beruhigt (s. nur die Abstimmungsergebnisse, Sitzungsbericht R 191).

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ähnlich handeln, ist nicht ausgeschlossen. Außerdem versteht sich, dass mein Interpretationsversuch Konzepte explizit machen muss, die so nicht artikuliert worden sind. Die Wenigsten haben sich etwa in den angelsächsischen Ländern mit der deutschen Lösung als positiver Gegebenheit überhaupt befasst; was wir interpretieren, ist insofern nur das fehlende Interesse, dies zu tun. Diese Interpretation lässt zwei Arten von Gründen erkennen, weshalb der Konzern nicht zum rechtssystematischen Kristallisationspunkt geworden ist. Die einen sind mehr rechtskultureller Natur, die anderen aber materiell. Anders gesagt fehlt es zum Einen an der Energie, zum Anderen aber auch am Druck von der Sache her. Im ersten Sinn wirkt gewiss eine Scheu vor dem Abstrakten, verbunden mit den außerordentlichen Ansprüchen, die das Phänomen des Konzerns an das Recht stellt. Zu einer eigentlichen Divergenz zu Deutschland führt hingegen das Fehlen eines zentralen Konzernrechts, soweit es als Verzicht mangels Bedarfs zu verstehen ist. Diese Divergenz sollte, nicht nur aus Gründen der Harmonisierung, sondern zur Überprüfung der eigenen Rechtsposition, nicht auf sich beruhen gelassen werden. Ginge es nur um das legislatorische Temperament, so wäre Deutschland der klare Sieg gewiss. Einmal abgesehen von der konsolidierten Rechnung, die England schon 1947 verlangte, steht das Aktiengesetz 1965 mit seinem Willen sowohl zum Erfassen wie zum Weglassen als das Jahrhundertereignis in der Szene da. Rein nur daraus, noch unabhängig von den Inhalten, erwächst dem deutschen System eine Stärke. Um die Bestimmungen konnte sich Wissenschaft ranken (Rechtswissenschaft ist nun einmal vor allem ein Epiphyt), der Anstoß verhalf zu weiterem Nachdenken, zur Gliederung und auch zur Erweiterung des Stoffs. Die Diskussionen und Entwicklungen zum GmbH-Konzernrecht sind Zeugnis der Lebendigkeit von Beidem in Deutschland, der GmbH und des Konzernrechts. Dieser Vorsprung trägt in sich, dass in einem internationalen Dialog am ehesten Deutschland die Rolle des Initianten zufällt – die Rolle mag undankbar erscheinen, müssen seine Vertreter doch zugleich bereit sein, ihr „aquis“ in Frage zu stellen. Doch jede echte Debatte ist ein win-win-Spiel. All dies verneint aber keineswegs, dass verbundene Gesellschaften auch außerhalb Deutschlands ein juristisches Thema sind, und ebenfalls nicht, dass das isolierte (nicht nur wie in Deutschland bewusst beschränkte) Auftreten von Normen in einzelnen Gerichtsentscheiden und Gesetzesbestimmungen eine Phase der weiteren Konsolidierung erhoffen lässt. Auf dem Weg dazu wird zweifellos das deutsche Modell weiterhin oder neuerdings Beachtung finden. Dass es keine Rezeption und erst recht kein Implantat wird, lässt die Frage aufkommen, wo die Abweichungen liegen mögen. Wir sprechen dabei, wie bis anhin, nur vom sog. faktischen Konzern; auch wenn eine Rechtsordnung einen formellen Konzernstatus im Sinn des Vertragskonzerns einführen sollte,49 wird die „faktische“ Tradition noch für lange Zeit übermächtig bleiben.

__________ 49 Wofür gute Gründe bestünden, s. Forum Europaeum Konzernrecht, ZGR 1998, 672, 740–752.

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Aus dem dargelegten Befund lässt sich etwa an Folgendes denken: 1. Die Positionen der Konzerngesellschaften sind in ein Gleichgewicht zueinander zu bringen. In dem Sinn ist ebenso an die Ober- oder Schwestergesellschaften und die daran anknüpfenden Interessen zu denken wie an die Gesellschafter und Gläubiger der Untergesellschaften.50 Das setzt etwa eine Symmetrie des Vorteils- und Nachteilsbegriffs voraus. 2. Das Gleiche müsste für die Leitungspflichten gelten. Selbst wenn die Konzernleitung eigentliche und mit Sanktionsdrohungen versehene Befehle ausgeben sollte (womit sie meist schlecht beraten wäre), verbleibt eine eigene Verantwortlichkeit der Tochterorgane. Die Verteilung der Pflichten ist eine Funktion der verfügbaren Information. Zentral dürfte damit noch mehr als bisher die Frage des Vertrauen-Dürfens in Leitungsakte anderer Instanzen werden. 3. Entsprechend muss es Ansprüche auf Leitung seitens der Tochtergesellschaften geben. Das wie in jeder Organisation notwendige Vertrauen in die Akte anderer Angehöriger muss sein Gegenstück in der Verantwortlichkeit haben. Die Teilung der Leitungsverantwortlichkeit schafft zudem Ansprüche auf Information, im Konzern nicht nur upstream sondern auch downstream. 4. Die Bewegungen im Konzern können insgesamt nicht rechnerisch erfasst werden. Der Poolgedanke, mithin die Wertgemeinschaft, ist ihm inhärent und lässt es namentlich nicht zu, dass die mangelnde Bewertbarkeit einzelner Bewegungen die Rechtsungültigkeit bedeutet. 5. Ohne ein zusätzliches Missbrauchsrecht, das qualifizierte Fälle von Plünderung, Machtusurpation oder Vernachlässigung deliktisch, mit Durchgriff oder anders erfasst, kann es nicht gehen. 6. Das Gesellschaftsrecht muss wohl einen Teil seiner Wegbereiterrolle im Konzernrecht abgeben. Konzernaußenrecht, wie es sich im Kartell-, Kapitalmarkt- oder Arbeitsrecht u. a. bildet, muss aus den jeweiligen Kontexten heraus konzipiert und ausgelegt werden.

III. Zukunft 1. Das materielle Konzernrecht a) Divergenz und Konvergenz Aus der übernationalen Sicht, zu welcher dieser Beitrag einladen möchte, ist die Antwort einfach. Einigt man sich in der Schaffung von Recht nicht, oder genauer: überzeugt man einander nicht, so fährt jeder auf seiner Schiene weiter. Das kann angesichts der vielen noch offenen Punkte nirgends Stillstand bedeuten, sondern das Konzernrecht wird sich lokal weiter entwickeln. Das

__________ 50 Erinnert sei als Beispiel hinsichtlich Gläubigersicherheit an die durch den „TeleskopEffekt“ entstehende Asymmetrie zu Lasten der Obergesellschaft (Uwe H. Schneider, ZGR 1984, 497 ff.).

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führt zur großen Frage, ob diese Bewegung ein zusätzliches Auseinanderdriften oder aber eine natürliche Konvergenz mit sich bringt. Je neuer und schwieriger der Regelungsgegenstand, desto mehr leidet die Vergleichbarkeit der Lösungen. Jede Rechtsordnung entwickelt ihre eigenen, durch besondere lokale Fälle veranlassten und damit sehr spezifischen Akzentsetzungen, ihre eigene Terminologie und im Gefolge, namentlich im wirtschaftlichen Bereich, auch ihre eigene Beratungs- und Kautelarpraxis. Mit der zunehmenden Komplexität verbinden sich zwei entgegengesetzte Tendenzen: Die Schwierigkeit der Materie kann Meinungsstreite und -unsicherheit, sie kann aber auch umgekehrt Rückzug auf das Gesicherte fördern, auf das Gesetz, die höchstrichterliche Rechtsprechung und die „ganz überwiegende Meinung“. Das Konzernrecht dürfte mehr und mehr von der ersten zur zweiten Tendenz übergehen. Die praktische Tragweite nimmt zu und damit das Bedürfnis nach Rechtssicherheit. Dabei dürfte die Entwicklung in immer kleineren Schritten vor sich gehen, was seinerseits die Komplexität erhöht. Insgesamt leidet wohl von den juristischen Grundlagenwissenschaften die Rechtsvergleichung am meisten darunter. Die Präokkupation mit dem eigenen Recht führt zu dem bekannten Problem, dass Rechtsvergleichung vielfach über Länderberichte nicht hinauskommt. In einer komplexen Welt ist das Fremde Störung und erzeugt Abwehrreflexe.51 Leibniz‘ Bild von den fensterlosen Monaden taucht auf. In diesem Umfeld bietet auch die Tatsache, dass es letztlich um den gleichen Gegenstand „Konzern“ geht, nicht Gewähr für ein wenigstens mittelfristiges Zusammenlaufen der nationalen Bewegungen. Allzu vielfältig sind die Richtungen, in welchen sich der Stoff entwickeln kann. Nennen wir nur, außer den zuvor erörterten Fragen, die folgenden Dilemmata, die heute schon international in der Behandlung des Konzerns für große Buntheit sorgen: Innenrecht/ Außenrecht, Tatsachen-/Anscheinshaftung, materielles Recht/Beweislastrecht, Haftung aus Funktion/aus Delikt, Durchgriff auf andere Konzernglieder/Einheitsbehandlung des Ganzen. Dennoch darf nach meinem Verständnis langfristig eine Konvergenz erwartet werden. Auch sie, einhergehend mit der nationalen Rechtsentwicklung, muss sich aber wohl auf eine Vielzahl von Einzelschritten aufgliedern. Die Gegenüberstellung betrifft nicht ganze Systeme, sondern einzelne Rechtsinstitute daraus. Selbstverständlich führt eine solche Auswahl à la carte nicht zur Vereinheitlichung, und der jeweilige nationale Umgang mit den Regelungs-Bausteinen reduziert die Buntheit erst recht nicht. Doch das dürfte als erste Phase zu jeder Rezeption oder spontanen Vereinheitlichung gehören. Rechtsschöpfung,

__________ 51 Von namentlich englischen unfreundlichen und pauschalen Ablehnungen des deutschen Konzernrechts war schon die Rede (Fn. 22). Aber auch Äußerungen von höchst angesehenen deutschen Gesellschaftsrechtlern stimmen nachdenklich, etwa als Reaktion auf die Vorschläge des Forum Europaeum Konzernrecht: „Aber nicht wahr, wir bleiben in Deutschland bei unserem höheren Standard?“ Oder zur Behandlung der Konzerne in Frankreich und England: „Ach, die sind doch alle blauäugig“. Das ist keine Vergleichsbasis und lässt eine längere Eiszeit absehen.

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und so auch Rechtsübernahme, erfolgt zunächst konkret. Dass sich dabei, in einer zweiten Phase, nationale oder übernationale Schwerpunkte bilden, welche je länger je mehr einheitlich befolgte Maßstäbe setzen, sei hier ebenfalls nur als These hingestellt. b) Vermutungstechnik Was zeigt uns die Glaskugel nun bezüglich der Erfolgschancen einzelner Regelungselemente? Ich meine, dass künftige gesetzgeberische Gestaltungen in erster Linie noch wesentlich mehr als bisher das Konzernspezifische auf die Ebene der Beweislastverteilung verlagern werden. Es wird also darauf tendiert, auf Konzerngesellschaften das allgemeine Recht anzuwenden, aber eine Ausdehnung der Wirkungen auf andere Konzernglieder, namentlich der Muttergesellschaft, im Sinne einer widerleglichen Vermutung zu statuieren. Damit wird die schwere Durchschaubarkeit der konzernintern wirkenden Verbindungen und Kräfte, die wie gesehen der gesetzgeberischen Anhandnahme des Konzernrechts im Weg steht, überwunden, ohne die weitere Entwicklung zu präjudizieren. Es versteht sich, dass in diesem Zusammenhang die Vermutungen von §§ 17 Abs. 2 und 18 Abs. 1 Satz 3 AktG wegleitende Funktion übernehmen würden, vermindert freilich dadurch, dass die im Sinn des Aktiengesetzes vermuteten Tatsachen, Abhängigkeit und namentlich einheitliche Leitung, als Tatbestände im Ausland nur beschränkt Schule machen. Mehrheitsbesitz hat wohl als abschließendes Kriterium nach britischem Muster auch außerhalb des Konsolidierungsrechts mehr Aussichten auf Expansion, wie etwa die internationale wirtschaftliche Vertragspraxis zeigt. Das Anwendungsfeld von Vermutungen dürfte sich indessen auf andere Tatsachen konzentrieren, wie namentlich die Zurechnung von Verhaltensweisen und Wissen.52 Aus der Sicht eines optimalen Konzernrechts muss freilich auch die gesetzgeberische Vermutungstechnik ihre Grenzen haben. Namentlich ist das Potenzial der Vermutung, von der widerlegbaren zur unumstößlichen zu mutieren, im Auge zu behalten. Konzernrecht als ein Gleichgewichtsakt darf nicht nur Einbezug der Obergesellschaften in alle Lasten sein, und die typische Konzernfunktion der Haftungsabschottung darf ohne Not nicht aufgegeben werden. c) Verzicht auf den Konzernbegriff Vielleicht kann sich das Konzernrecht nur retten durch die Preisgabe seines Namens. Die Imageprobleme des Konzernbegriffs und im Ausland seine „importierte“ Natur weisen in diese Richtung, mehr aber noch die Scheu vor einer für das ganze jeweilige Rechtssystem maßgeblichen zentralen Definition. Es ist aber wenig wahrscheinlich, dass sich ein anderer Begriff an die Stelle setzt. Der Begriff des „control“ hat zwar unter der übernationalen Führung

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52 Statt aller die wettbewerbsrechtliche Praxis des EuGH, u. a. der Entscheid „Akzo Nobel“, ZIP 2010, 392.

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durch die IFRS53 weite Verbreitung gefunden, doch benennt er ebenso wie andere englischsprachige Ausdrücke („parent/subsidiary“, „affiliate“) nur die Position in der Verbindung, nicht das Ganze. Ob dagegen die „Gruppe“ allmählich auch rechtstechnisch eine Dachfunktion erwerben wird, scheint ungewiss. Gerade die Flexibilität, die sie aus ihrer bisherigen Informalität schöpft, könnte dafür sprechen – auch Gesetzgeber mögen, was ansprechend klingt. Namen für einzelne Konzern-Typen fehlen bis dahin, mit Ausnahme des deutschen qualifizierten Konzerns. Er erscheint mangels Anschaulichkeit schlecht exportfähig und könnte sich im Ausland zurück in die kaum überwundene Doktrin von der fiktiven Gesellschaft bewegen. Wichtig ist, faktisch ebenso wie rechtlich, die Selbstdarstellungspraxis der Unternehmen. Faktisch ist sie es, weil sie einflussreiche Gestalterin des Sprachgebrauchs ist. Und rechtlich ist letztlich der Wille der Unternehmen maßgebend, in einer bestimmten Form zu erscheinen. Welche Begriffe hier aufkommen und „Feuer fangen“, wie es vor über 100 Jahren mit den Begriffen „concern“ und insbesondere „trust“ geschah, ist nicht vorauszusehen. Ein Kandidat, der die für jedes Namen-Marketing erforderliche Kombination von internationaler Verwendbarkeit, Popularität und Unbestimmtheit aufweist, ist aber zweifellos der Begriff des Netzwerks.54 d) Basiskonzepte Kein Anlass mehr zur Diskussion dürfte die Legitimität des Konzerns sein, nicht zuletzt auch, weil Deutschland sich hinsichtlich des faktischen Konzerns in diese Richtung bewegt hat.55 Ebenso wird, nicht nur angesichts der angelsächsische Festigkeit in diesem Punkt,56 das Trennungsprinzip weltweit die Grundlage bleiben. Den Konzern rechtlich einfach als Einheit zu fassen,57 hieße sein Wesen verkennen. Gerade außerhalb des Gesellschaftsrechts, im Steuerrecht wie in anderen Bereichen der Verwaltungstätigkeit, aber ganz allgemein im Außenrecht ist die Aussagefähigkeit der Form unabdingbar; Konzernierung heißt eben just nicht Verschmelzung. Neu aufflammen könnte eine alte Theoriefrage. Um die Mitte des vergangenen Jahrhunderts wurde diskutiert, ob – im Sinn der damals „organisch“ genannten

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53 International Financial Reporting Standards 27. 54 Es gibt aber nach heutigem Wortgebrauch im Vergleich zum Konzern auch Unterschiede; s. Druey, Organisationsnetzwerke: Die „schwebende“ Rechtsform, in Amstutz (Hrsg.), Die vernetzte Wirtschaft, 2004, S. 123, 133–142. 55 Habersack in Emmerich/Habersack (Fn. 6), § 311 AktG Rz. 8 m. Hinw. 56 Maßgebend nach wie vor Salomon v. A. Salomon & Co. Ltd., [1897] AC 22, anwendbar auch auf Konzerne (Prentice in Lutter [Hrsg.], Konzernrecht im Ausland, ZGR Sonderheft 11, S. 104). 57 Die sog. Einheitstheorie ist allerdings ein schönes Beispiel für einen typischen Vorgang: Dass man einem Autor etwas unterschiebt, um es bekämpfen zu können. Das Pionierwerk von Rudolf Isay, Das Recht am Unternehmen, 1910, S. 96 f., das in diesem Sinn (auch von mir) zitiert wurde, legt den Akzent lediglich auf den Unternehmenscharakter des ganzen Konzerns, ohne sich mit der Rechtsstellung der Glieder zu befassen.

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Konzernrechtslehre – das tatsächliche Vorliegen eines Konzerns genügt, um Rechtsfolgen auszulösen,58 oder ob, wie es dann das Aktiengesetz 1965 mit dem Vertragskonzern verstand, der Konzern durch eigenes Rechtsgeschäft sich diesen Status verleiht. Nicht nur ist der faktische Konzern nach deutschem Modell eben auch Konzernrecht,59 sondern der Trend auf informationelle Lösungen, auf Konzerntransparenz, muss naturgemäß auch international einen faktischen Tatbestand als Grundlage haben.60 Doch anderseits sind Ideen, dass der Konzernstatus über eine Satzungsbestimmung, einen Registereintrag oder eine Konzernerklärung förmlich erworben werden müsse, durchaus auch im Ausland präsent. Möglicherweise wird es darüber noch Gefechte geben. 2. Wie weiter? a) Notwendigkeit der internationalen Fühlung Das Konzernrecht des Aktiengesetzes kann, auch wenn die Vorstufen des AktG 1937 außer Acht bleiben, bald seine 50 Jahre feiern. Es darf von daher füglich beanspruchen, sich bewährt zu haben.61 Allerdings haben andere Rechtssysteme seit mehr als 100 Jahren Konzerne zugelassen, ohne dass das Bedürfnis, sie zu ordnen, aufgetreten wäre. Und auch in Deutschland haben sie zunächst viele Jahre ohne Kodifikation gelebt. Ordnung und Nicht-Ordnung haben sich gleichermaßen „bewährt“. Das lässt für den Konzernrechtler zunächst einmal nur den traurigen Schluss zu, dass offenbar das Konzernrecht ganz einfach nicht wichtig ist; ob von Gesetzes wegen eines besteht oder nicht, scheint wenig auszumachen. Doch selbst wenn dieser Befund zutreffen sollte, dürfen die Bemühungen um das Thema nicht eingestellt werden. Aus dem internationalen Vergleich entsteht beidseits ein Erklärungsbedarf. Die Erklärung wird dabei nicht hinreichen können, ein deutscher Konzern sei etwas Anderes als ein englischer Konzern. Dann aber muss ein Warnlicht aufscheinen: Irgendwo stimmt etwas nicht. Wenn der englische und der deutsche Konzern bei allen Eigenheiten doch beides Konzerne sind, so kann es von der Sache her nur eine richtige Reaktion auf diese Tatsache geben. Schlimm ist indessen der Befund nur, wenn er keine Irritation bewirkt. In welche Richtung die Remedur zu gehen hat, bleibt damit noch völlig offen. Beidseits ist ebenso die Vorwärts- wie die Rückwärtsstrategie in der rechtlichen Ordnung denkbar: England (um es weiter als pars pro toto zu nennen) kann aus dem Vergleich die Erkenntnis gewinnen, die Konzerne seien besser im Zaum zu halten, oder aber, es sei die Freiheit der Konzerntätigkeit zu festigen. Deutschland kann zum Schluss kom-

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58 S. Schilling, Bemerkungen zum Europäischen Konzernrecht, ZGR 1978, 415. 59 Freilich ist es ein Element des Konzepts, dass die Ordnung der §§ 311 ff. AktG nicht an den Konzerntatbestand, sondern an die Abhängigkeit anknüpft. Doch es ist eine „gesellschaftsrechtliche“ und „konzernspezifische“ Abhängigkeit (oben II. 4.). Die Wendung „faktischer Konzern“, nach dem ursprünglichen Gedanken des Konzerns ein Oxymoron, kommt ja nicht von ungefähr. 60 Von jeher und überall so betr. Konzernrechnung. 61 Hopt, ZHR 171 (2007), 199, 210.

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men, die Maschen namentlich des Rechts der faktischen Konzerne seien zu weit, Ausbeutung von Töchtern sollte noch besser verhütet werden oder andere Interessen verdienten ebenfalls Schutz, oder aber man könne auf den Sonderschutz verzichten, d. h. den Fall dem allgemeinen Privatrecht anheimstellen, ermutigt durch das ernstzunehmende internationale Beispiel. Wer aber kann das internationale Forum schaffen, vor dem die eigentliche Bewährung stattfindet, wenn nicht der Konzernrechtler? Nun bedarf er aber des institutionellen Rahmens. Bewegung kann er nur erzeugen, wo schon Bewegung ist, wo nämlich eine Bühne für seinen Auftritt betrieben wird. Wo hat er Chancen? b) Europa Auf der Suche nach der adäquaten Aktionsbühne ist natürlich das erste Stichwort die Europäische Union. Eine noch weitere Szene gibt es nicht einmal in Ansätzen; namentlich scheint kein Interesse oder keine Kapazität in den Organisationen der UNO (UNCITRAL) oder in Vereinheitlichungsgremien wie Unidroit zu bestehen. Doch für die Anhandnahme des Themas auf europäischer Ebene ist der Moment nicht gut. Das liegt nicht nur daran, dass die EWG/EU schon ihre eigenen fruchtlosen Versuche gemacht hat. Eine supranationale Instanz wie die EU kann den erforderlichen Regelungsdruck nicht von sich aus erzeugen. Das Scheitern der bisherigen behördlichen Bemühungen um ein europaweites Konzernrecht beflügelt selbstverständlich neue Projekte nicht. Doch die vorangehenden Darlegungen mögen gezeigt haben, dass die Krise, was dieses Thema angeht, nicht eine Krise der Europäischen Union ist, sondern des Konzernrechts als solchen. Eine Revolution von oben, ein neues Projekt aus Brüssel, hilft dem Problem nicht ab. Ohne internationale Klärung der Ideen kann auch politisch nichts gehen. Solange diese Ideen nicht wissen, in welche der vier Himmelsrichtungen sie zielen wollen, können sie auch keine Beachtung beanspruchen, und natürlich erst recht nicht, wenn alle finden, bei ihnen sei alles in bester Ordnung. c) Corporate Governance Die Bewegung kann nicht nur in Institutionen, sondern in Themenbereichen liegen. Das Stichwort der Corporate Governance macht international die Runde. Hier werden Energien frei, welche den Konzern nicht nur miterfassen können, sondern sollen. Die konzernmäßige Aufteilung der Leitung wie auch der Prüfung auf mehrere Ebenen stellt ein eigenes Problem dar, das eines eigenen Kapitels im Gesamtkontext der Corporate Governance bedarf. Corporate Governance kennzeichnet heute allerdings zweierlei: Einerseits wird damit eben ein Thema angesprochen, nämlich die Leitung von Unternehmen im weitesten Sinn, mit all den erforderlichen checks and balances. Zum anderen wird üblicherweise damit etwas über die formelle Stellung der betreffen158

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den Normen ausgesagt. Ihren Niederschlag finden diese Normen gewöhnlich in einem nicht unmittelbar verbindlichen Regelwerk unter dem Namen Code of Conduct, Code of Best Practice o. Ä. Typisch, wenn auch nicht notwendig, ist dafür die Beschränkung der Verpflichtung auf das comply or explain. Damit ein solcher Code sich durchsetzen kann, bedarf er mithin der Autorität der erlassenden Instanzen und der Überzeugungskraft seines Inhalts für die Adressaten. Diese hängt im Fall der Group Governance entscheidend davon ab, ob die Unternehmensleitungen die spezifische Welt der Konzerne darin abgebildet finden, ob sie sich, wenn nicht mit den Lösungen, so doch jedenfalls mit den darin angegangenen Problemen identifizieren. Es versteht sich, dass das Stichwort der Corporate Governance längst nicht alle durch das Konzernphänomen aufgeworfene Fragen abdeckt. Der Vorstoß von dieser Seite kann aber gerade als Stärke geltend machen, dass er nicht auf den ausgetretenen Pfaden an seinen Gegenstand herangeht, und dass er dabei den Unternehmensverbund als Ganzes im Blick hat und nicht bloß einzelne Interessenten. Da ist aber die Aussicht auf Fruchtbarkeit auch noch besonders an eine internationale Sicht gebunden. Corporate Governance Codes laufen immer Gefahr, zu bloßen Fiorituren, zur Verzierung von nationalen Gesetzesgemälden zu werden. Selbständige Autorität, Hebelarmwirkung muss sich aus einer unmittelbaren Erfahrung des Phänomens und seiner normativen Problematik ergeben, und dafür ist neben dem Einblick in die Unternehmen ein internationaler Vergleich an den Wurzeln fast unabdingbar. d) Professoren und Praktiker Alles in allem: Ich meine, dass in Sachen Konzernrecht mehr denn je die Stunde der gekommen ist. Das Auseinanderstieben der Konzernfragen in unzählige Sondergebiete verlangt mehr denn je, dass es den „Konzernrechtler“ gibt, damit aus dem Speziellen das Allgemeine herausgezogen wird. Nicht weniger ist Rechtswissenschaft durch den Zustand der Fensterlosigkeit zum Angebot eines begrifflichen Instrumentariums an die sachlich oder örtlich anderswo wirkenden Sachbearbeiter aufgefordert, damit nicht unzählige Male das Rad neu erfunden wird oder kleine Unterschiede das wesentlich Gleiche verdecken. Aber mehr noch: Von ihrem Mandat aus darf sich Rechtswissenschaft nicht mit dem aktuellen Stand der Dinge zufrieden geben; sie hat eine rechts-politische Aufgabe. Und schon deshalb ist Rechtswissenschaft keine nationale Disziplin. Mit dem Sammeln der immer kleineren Details aus der Produktion ihrer nationalen Gesetzgeber und Gerichte genügt sie dieser Aufgabe nicht. Sie soll nicht nur die Stalltür öffnen, sondern auch im Stall nebenan anklopfen und ihre Kollegen an die Sonne oder ans Lagerfeuer bitten. Rechts-Vergleichung ist ihrerseits jedoch nur Hilfe, nicht Selbstzweck. Das Wissen, auf dem das Konzernrecht aufbauen muss, gliedert sich hauptsächlich in drei Säulen. Außer der Rechtswissenschaft mit all ihren einschlägigen Domänen, dem Steuer-, dem Rechnungslegungs-, dem Schuldrecht und anderen, muss sie sich auf die Organisationslehre namentlich als betriebswirtschaftliche Disziplin stützen. Vor allem aber muss sie sich immer bewusst 159

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bleiben, dass der Konzern kein wissenschaftliches Retortenbaby, sondern ein gelebtes Ganzes ist und das Wissen darüber durch diejenigen vermittelt werden muss, die es leben oder gelebt haben. Der interdisziplinäre Kontakt ist indessen mit allgemeinen und spezifischen Schwierigkeiten besetzt. Von denjenigen innerhalb der Rechtswissenschaft braucht hier nicht die Rede zu sein; jeder Jurist hat dazu seine Anschauungsbeispiele. Doch ein Wort zum Appell der Konzernrechtler an die Betriebswirtschaftslehre: Dieser unterliegt überraschenderweise nach meiner langen Erfahrung immer wieder einem negativen Kompetenzkonflikt: Nicht dass, wie üblich, jede Disziplin sich für alleinseligmachend hält, sondern im Gegenteil, dass jede von der anderen meint: „Das ist euer Geschöpf“ – die Juristen nennen den Konzern ein wirtschaftliches Gebilde, und die Betriebswirte weisen die Verantwortung den Juristen zu, wenn sie eine Unternehmung in eine Mehrheit juristischer Personen aufteilen wollen.62 Zum Problem wird die Verständigung aber nur, wenn man, in einem Missverständnis von Wissenschaftlichkeit, bloß die „Wissenschaften“ zum Gespräch zulässt. Auch mit dem Praktiker ergeben sich freilich Schwierigkeiten. Praktiker haben in der Regel, von besonders heißen konkreten Anliegen abgesehen, wenig Interesse an Rechtsentwicklung. Theoretische Extrapolationen über die aktuellen Fälle hinaus sind in einer rigoros funktionalen Sicht von Praxis geradezu der Inbegriff von Ineffizienz.63 Zum Glück gibt es diejenigen, die die Brücke zwischen Theorie und Praxis zu schlagen bereit sind – und sie sind nicht Wenige. Mühelos ende ich damit an meinem Anfang: Was unser Jubilar namentlich als maßgeblicher Inspirator, Leiter und Administrator im Forum Europaeum Konzernrecht als Rechtswissenschaftler geleistet hat, erweist sich nach dem Gesagten als das Richtige, ja vielfach Goldrichtige – geleistet mit Weitblick, Unabhängigkeit und Beharrlichkeit. Dafür gebührt ihm unser Dank, unsere Anerkennung und Bewunderung, und unsere Bereitschaft, das Vorbild aufzunehmen.

__________ 62 Die betriebswirtschaftliche Konzerndisziplin, die sich nun bildet, hat denn auch ihren eigenen Ansatzpunkt, nämlich die Nutzung der Spannung zwischen der Erscheinung als Einheit oder Vielheit (Theisen, Der Konzern, 2000, S. 25). – Zu bedauern ist in diesem Kontext die juristische Verwendung des Unternehmensbegriffs für die Gliedgesellschaft im Konzern (§ 15 AktG). 63 Vgl. Druey, The practitioner and the professor, in Tison u. a. (Hrsg.), Perspectives in Company Law and Financial Regulation, FS Wymeersch, 2009, S. 607.

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Die zivilrechtliche Haftung von Vorstand und Aufsichtsrat für fehlerhafte Stellungnahmen nach § 27 WpÜG Inhaltsübersicht I. Einleitung II. Angebotsunterlage des Bieters und Stellungnahme der Zielgesellschaft 1. Öffentlichrechtliche Durchsetzung 2. Zivilrechtliche Haftung a) § 12 WpÜG analog b) Auskunftsvertrag c) Vertrag mit Schutzwirkung für Dritte

d) Allgemeine zivilrechtliche Prospekthaftung e) Eigenhaftung f) § 117 AktG g) § 823 Abs. 1 BGB h) § 823 Abs. 2 BGB i) § 826 BGB III. Europarechtskonforme Regelung de lege ferenda

I. Einleitung „Der Kapitalmarkt und sein Recht ziehen viel stärker die Aufmerksamkeit auf sich als das klassische Gesellschaftsrecht“.1 Diese Aussage des akademischen Lehrers des Jubilars kurz nach der Jahrtausendwende gilt heute mehr denn je. Das Kapitalmarktrecht hat sich in den letzten Jahren – unter dem Einfluss des europäischen2 und aufgrund vielfältiger Anstöße seitens des US-amerikanischen Rechts3 – in Deutschland so dynamisch entwickelt wie kaum ein anderes Rechtsgebiet. Das Kapitalmarktrecht regelt die Organisation der Kapitalmärkte und die auf sie bezogenen Tätigkeiten (Markteintritt, Marktaustritt) sowie das Markt bezogene Verhalten der Marktteilnehmer (z. B. Insiderhandel, Marktmanipulationen, Verbot bestimmter Transaktionen, Offenlegungspflichten sowie Unternehmensübernahmen).4 Kapitalmarktrecht bezweckt den Schutz der institutionellen, operationalen und allokativen Funktionsfähigkeit des Kapitalmarkts sowie den institutionellen, bisweilen auch den individuellen Schutz der Anleger.5 Das über eine Vielzahl von Gesetzen und sonstigen Regelwerken verstreute deutsche Kapitalmarktrecht bewegt sich im Spannungs-

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1 Lutter, Schlusswort, AG 2001, 300, 300. 2 Buck-Heeb, Kapitalmarktrecht, 5. Aufl. 2011, S. 10–13; Merkt in FS Klaus J. Hopt, Bd. 2, 2010, S. 2207, 2222–2224. 3 S. nur Hopt/Will, Europäisches Insiderrecht, 1973; Hopt/Wymeersch, European Takeovers: Law and Practice, 1992; Ferrarini/Hopt/Winter/Wymeersch (Hrsg.), Reforming Company and Takeover Law in Europe, 2004; von Hein, Rezeption US-amerikanischen Gesellschaftsrechts in Deutschland, 2008; Ebke/Elsing/Großfeld/Kühne (Hrsg.), Das deutsche Wirtschaftsrecht unter dem Einfluss des US-amerikanischen Rechts, 2011. 4 Zu verschiedenen Definitionsversuchen in der Literatur s. Buck-Heeb (Fn. 2), S. 2–3. 5 Buck-Heeb (Fn. 2), S. 3–7; Ebke in FS Koresuke Yamauchi, 2006, S. 105, 113–114.

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feld von öffentlichem Recht, Strafrecht und Privatrecht. Neben dem öffentlichen (Wirtschafts-)Recht sowie dem Straf- und Ordnungswidrigkeitenrecht obliegt dem Privatrecht in zunehmendem Maße die Durchsetzung kapitalmarktrechtlicher Normen und Grundsätze.6 Dabei kommt dem materiellen Schadensersatzrecht und den Regeln über die prozessuale Durchsetzung von Schadensersatzansprüchen eine immer größere Bedeutung zu. In Deutschland ist das Kapitalmarktrecht bislang keine Domäne der klassischen Gesellschaftsrechtler.7 Das mag überraschen, denn das Zusammenspiel von Kapitalmarkt- und Gesellschaftsrecht ist im Falle der börsennotierten Aktiengesellschaft (§ 3 Abs. 2 AktG) – ähnlich wie in den USA8 – vielfältig und vielschichtig.9 Hinzu kommt die Bedeutung des Kapitalmarkts als Instrument der externen Unternehmens(leiter)kontrolle (corporate governance) börsennotierter Aktiengesellschaften.10 Für die börsennotierte Aktiengesellschaft wird der Kapitalmarkt zu einem Markt für Unternehmens(leiter)kontrolle (market for corporate control), der gesellschaftsinterne Kontrollmechanismen ergänzt und überlagert.11 Theoretische und empirische Studien sowie die aktuelle Finanzmarktkrise haben zwar den Blick dafür geschärft, dass die in der Wirtschaftswissenschaft jahrzehntelang vorherrschende Auffassung, organisierte

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6 Zu Rolle und Bedeutung des Privatrechts als Instrument zur Durchsetzung von Markt bezogenen Normen des Kapitalmarktrechts siehe Poelzig, Normdurchsetzung durch Privatrecht, 2012, S. 227–265. 7 Selbst in den Gesellschaftsrechtslehrbüchern der jüngeren Generation der deutschen Gesellschaftsrechtler wird das Kapitalmarktrecht weitgehend ausgeblendet: Bitter, Gesellschaftsrecht, 2011; Schäfer, Gesellschaftsrecht, 2. Aufl. 2011; Saenger, Gesellschaftsrecht, 2010. S. aber Kübler/Assmann, Gesellschaftsrecht, 6. Aufl. 2006, Windbichler, Gesellschaftsrecht, 22. Aufl. 2009, und für die Schweiz Druey, Gesellschaftsund Handelsrecht, 10. Aufl. 2010. Beide Rechtsgebiete nebeneinander darstellend Langenbucher, Aktien- und Kapitalmarktrecht, 2. Aufl. 2011. 8 Bainbridge, Corporation Law and Economics, 2002, S. 13 („… publicly held corporations can be said to function in a dual regulatory scheme: federal securities law and state corporation law“). In den USA wird das Gesellschaftsrecht in den Lehrbüchern des Kapitalgesellschaftsrechts traditionell zusammen mit den gesellschaftsbezogenen Aspekten des Kapitalmarktrechts (namentlich Stimmrechtsvertretung, Insiderhandel und Haftung nach Rule 10b-5) dargestellt (s. etwa Clark, Corporate Law, 1986; Conard, Corporations in Perspective, 1976; Gevurtz, Corporation Law, 2. Aufl. 2010; Henn/Alexander, Laws of Corporations, 3. Aufl. 1983; Lattin, The Law of Corporations, 2. Aufl. 1971), obgleich Gesellschaftsrecht in den USA einzelstaatliches Recht, Kapitalmarktrecht dagegen (weitgehend) Bundesrecht ist. Entsprechendes gilt für die zahlreichen case books zum Kapitalgesellschaftsrecht in den USA. 9 Buck-Heeb (Fn. 2), S. 16–23; Kübler/Assmann (Fn. 7), S. 164–175; Lutter in FS Wolfgang Zöllner, Bd. 1, 1998, S. 363; Richter, ZHR 172 (2008), 419. Rechtsvergleichend Moßdorf, Spezielles Gesellschaftsrecht für börsennotierte Aktiengesellschaften in den EG-Mitgliedstaaten, 2010. 10 Zu der Unterscheidung zwischen interner und externer Unternehmens(leiter)kontrolle s. schon Großfeld/Ebke, AG 1977, 92, 98–102. S. auch Walsch/Seward, On the Efficiency of Internal and External Corporate Control Mechanisms, 15 Acad’y Mgmt. Rev. 421 (1990). 11 Ebke in Jäger/Sandrock (Hrsg.), Internationale Unternehmenskontrolle und Unternehmenskultur, 1994, S. 7, 21–28; Walsch/Seward (Fn. 10), 15 Acad’y Mgmt. Rev. 421, 445 (1990) („Internal and external control mechanisms represent complementary ways to direct the behaviour of management“).

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und liquide Kapitalmärkte seien informations- und allokationseffizient, „nicht mehr haltbar“ ist12 und wir deshalb von der Fähigkeit des Kapitalmarktes, die nach der Theorie von dem market for corporate control ausgehenden „disziplinierenden“ Wirkungen auf das Management kapitalmarktorientierter Aktiengesellschaften in Gang zu setzen, Abstriche machen müssen.13 Der Kapitalmarkt ist aber Teil eines dynamischen, sich gegenseitig ergänzenden Systems der internen und externen Unternehmens(leiter)kontrolle.14 Vermittelt wird die kapitalmarktbasierte Unternehmens(leiter)kontrolle im Wesentlichen durch Unternehmensübernahmen (takeovers), aber auch durch Zusammenschlüsse (mergers), sonstige Akquisitionen (corporate acquisitions) und Reorganisationen (corporate reorganizations). Der rechtliche Rahmen für Übernahmen ist in Deutschland ausgefeilt und gefestigt. Das am 1.1.2002 in Kraft getretene Wertpapiererwerbs- und Übernahmegesetz (WpÜG)15 hat sich neben dem Wertpapierhandelsgesetz (WpHG) als wesentlicher Bestandteil des Kapitalmarktrechts in Deutschland etabliert. Durch die Umsetzung der Richtlinie 2004/25/EG des Europäischen Parlaments und des Rates betreffend Übernahmeangebote (Übernahmerichtlinie) vom 21.4.200416 im WpÜG von 200617 sind die gesetzlichen Regelungen im Anwendungsbereich der Übernahmerichtlinie an dieser zu messen und richtlinienkonform auszulegen.18 Das WpÜG will – sich an internationalen Standards orientierend – Leitlinien für ein faires und geordnetes Angebotsverfahren für eine komplexe Transaktionsform schaffen (keine sog. „Saturday night specials“), ohne Unternehmensübernahmen zu fördern oder zu verhindern.19 Das WpÜG will ferner die Information und Transparenz für die betroffenen Wertpapierinhaber und Arbeitnehmer verbessern und die rechtliche Stellung von Minderheitsaktionären bei Unternehmensübernahmen stärken.20

__________ 12 Adolff, Unternehmensbewertung im Recht der börsennotierten Aktiengesellschaft, 2007, S. 499. 13 S. schon Großfeld/Ebke, AG 1977, 92, 98; Großfeld/Ebke, Controlling the Modern Corporation: A Comparative View of Corporate Power in the United States and Europe, 26 Am. J. Comp. L. 397, 426 (1978). Aus heutiger Sicht Langenbucher (Fn. 7), S. 383 („[Der Markt für Unternehmenskontrolle] basiert auf der Theorie effizienter Märkte und teilt deren Schwächen“); Presser, Öffentliche Übernahmeangebote und Unternehmenskontrolle in Deutschland, 2005, S. 204 („nicht hinreichend gesichert“); Reul, Die Pflicht zur Gleichbehandlung der Aktionäre bei privaten Kontrolltransaktionen, 1991, S. 138–151; zweifelnd Lohrer, Unternehmenskontrolle und Übernahmerecht, 2001, S. 77. 14 S. dazu zuletzt Ebke, ZVglRWiss 111 (2012), 1. 15 BGBl. I 2001, 3822. Das Gesetz trat an die Stelle des seit 1995 bestehenden und 1998 geänderten (abgedruckt in AG 1998, 133) Übernahmekodex der Börsensachverständigenkommission, der allerdings nur für diejenigen verbindlich war, die ihn anerkannt hatten. S. dazu statt aller Assmann, AG 1995, 563. 16 ABl. EU L 142 v. 30.4.2004, S. 12. 17 BGBl. I 2006, 1426. 18 Schüppen in Haarmann/Schüppen (Hrsg.), FrankfKomm. WpÜG, 3. Aufl. 2008, S. 7 Rz. 1–2. 19 Buck-Heeb (Fn. 2), S. 239. 20 Langenbucher (Fn. 7), S. 386; Buck-Heeb (Fn. 2), S. 239.

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Die zentralen Informationsinstrumente im Übernahmeverfahren sind die Angebotsunterlage des Bieters (§ 11 WpÜG) und die Stellungnahme des Vorstands und des Aufsichtsrats der Zielgesellschaft (§ 27 WpÜG). Nach § 27 WpÜG haben Vorstand und Aufsichtsrat der Zielgesellschaft – getrennt oder gemeinsam – unverzüglich (§ 27 Abs. 3 Satz 1 WpÜG) nach Eingang der Angebotsunterlage eine mit Gründen versehene Stellungnahme zu dem Angebot sowie zu jeder seiner Änderungen (§ 21 WpÜG) abzugeben (§ 27 Abs. 1 Satz 1 WpÜG). Die Stellungnahme des Vorstands und des Aufsichtsrats der Zielgesellschaft soll u. a. den Inhabern von Wertpapieren der Zielgesellschaft eine informierte Entscheidung über den Verkauf oder Behalt der betroffenen Wertpapiere ermöglichen (vgl. § 3 Abs. 2 WpÜG). Der nachfolgende Beitrag, der dem Jubilar in kollegialer Verbundenheit zugeeignet ist, geht der Frage nach, ob Vorstand und Aufsichtsrat der Zielgesellschaft für Vermögensschäden, die Inhaber von Wertpapieren der Zielgesellschaft aufgrund einer fehlerhaften Stellungnahme im Sinne von § 27 WpÜG erleiden, zivilrechtlich einzustehen haben oder de lege ferenda einstehen sollten.

II. Angebotsunterlage des Bieters und Stellungnahme der Zielgesellschaft Die Fähigkeit des market for corporate control, die ihm zugedachten „disziplinierenden“ Wirkungen zu entfalten, hängt unter anderem davon ab, dass die Aktionäre der Zielgesellschaft über ausreichende Informationen verfügen, um in Kenntnis der Sachlage über das Angebot entscheiden zu können (§ 3 Abs. 2 WpÜG). Der deutsche Gesetzgeber hat deshalb in § 11 WpÜG für die Angebotsunterlage des Bieters detaillierte Anforderungen aufgestellt.21 Hierzu zählen insbesondere Angaben über Art und Höhe der für die Wertpapiere der Zielgesellschaft gebotenen Gegenleistung (§ 11 Abs. 2 Satz 2 Nr. 4 WpÜG), Angaben über die Absichten des Bieters im Hinblick auf die künftige Geschäftstätigkeit der Zielgesellschaft (§ 11 Abs. 2 Satz 3 Nr. 2 WpÜG) sowie über Geldleistungen oder andere geldwerte Vorteile, die Vorstands- und Aufsichtsratsmitgliedern der Zielgesellschaft im Vorfeld der Übernahme gewährt oder in Aussicht gestellt werden (§ 11 Abs. 2 Satz 3 Nr. 3 WpÜG).22 Aus einem Umkehrschluss zu § 12 Abs. 1 WpÜG folgt, dass die Angaben in der Angebotsunterlage alle für die Beurteilung des Angebots „wesentlichen“ Angaben „richtig und vollständig“ darstellen müssen. Die Angebotsunterlage des Bieters löst auf Seiten der Zielgesellschaft das Recht und die Pflicht aus, das Angebot aus Sicht des Vorstands und des Aufsichtsrats der Zielgesellschaft zu bewerten. Vorstand und Aufsichtsrat der Zielgesell-

__________ 21 Zum letzten Stand der Dinge Seibt, CFL 2011, 213, 229–233. 22 Zum Verbot der Gewährung ungerechtfertigter Leistungen nach Veröffentlichung der Angebotsunterlage s. § 33d WpÜG.

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schaft müssen – getrennt oder gemeinsam23 – unverzüglich (§ 27 Abs. 3 Satz 1 WpÜG, § 121 Abs. 1 BGB)24 nach Eingang der Angebotsunterlage eine schriftliche, mit Gründen versehene Stellungnahme veröffentlichen (§ 27 Abs. 1 WpÜG).25 Zweck des § 27 WpÜG ist die Information des Kapitalmarkts sowie die Schaffung einer Entscheidungsgrundlage für die Aktionäre der Zielgesellschaft; dadurch werden allfällige Informationsasymmetrien zwischen Management und Anteilseignern der Zielgesellschaft abgebaut.26 Die Stellungnahme der Zielgesellschaft bildet der Sache nach das Gegenstück zu der Angebotsunterlage des Bieters.27 Die Stellungnahme muss unter anderem eingehen auf die Art und Höhe der angebotenen Gegenleistung sowie die voraussichtlichen Folgen eines erfolgreichen Angebots für die Zielgesellschaft, die Arbeitnehmer und ihre Vertretungen, die Beschäftigungsbedingungen und die Standorte der Zielgesellschaft (§ 27 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 und 2 WpÜG). Die begründete Stellungnahme hat außerdem einzugehen auf die von dem Bieter verfolgten Ziele sowie die Absicht der Mitglieder des Vorstands und des Aufsichtsrats, soweit sie Inhaber von Wertpapieren der Zielgesellschaft sind, das Angebot anzunehmen (§ 27 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 und 4 WpÜG). „Unabhängig von den vorgeschriebenen obligatorischen Inhalten sind in der Stellungnahme“, so betont das OLG Frankfurt/M., „alle relevanten Tatsachen, die aus Sicht der Wertpapierinhaber für die Bewertung des Angebots relevant sind, offen zu legen“.28 Bei ihrer Stellungnahme haben sich Vorstand und Aufsichtsrat an dem Interesse der Zielgesellschaft auszurichten (§ 3 Abs. 3 WpÜG).

__________ 23 In dem Zeitraum vom 1.1.2010 bis zum 30.6.2011 haben Vorstand und Aufsichtsrat in 38 der 42 Fälle eine gemeinsame Stellungnahme abgegeben, nur in vier Fällen gab es getrennte Stellungnahmen; dissentierende Stellungnahmen sind nicht bekannt geworden: Seibt, CFL 2011, 213, 236 (dort auch zu der Zahl der Stellungnahmen des Betriebsrats bzw. der Arbeitnehmer, § 27 Abs. 2 WpÜG). Gemeinsame Stellungnahmen sind nach h. M. zulässig: BT-Drucks. 14/7034, S. 52 („Kommen Vorstand und Aufsichtsrat zu einer übereinstimmenden Bewertung des Angebots, kann … durch Abgabe einer gemeinsamen Stellungnahme deren Gewicht erhöht werden.“); BuckHeeb (Fn. 2), S. 254. Zu den Fallkonstellationen s. Kossmann, NZG 2011, 46, 47. Zu der Frage, wie die Unternehmenspraxis mit Interessenkonflikten im Aufsichtsrat bei der nach § 27 WpÜG abzugebenden Stellungnahme umgeht, s. E. Vetter in FS Klaus J. Hopt, Bd. 2, 2010, S. 2567, sowie allgemein Seibt in FS Klaus J. Hopt, Bd. 1, 2010, S. 1363, 1372–1390. 24 Zu der Frage, welcher Zeitraum als „unverzüglich“ anzusehen ist, s. OLG Frankfurt/M., ZIP 2006, 428, 429 („im Regelfall zwei Wochen; in Fällen, welche einfach gelagert oder besonders eilbedürftig sind, kommt eine kürzere Zeitspanne in Betracht“). 25 S. dazu die rechtstatsächliche Bestandsaufnahme von Seibt, CFL 2011, 213, 236–237. Zu weiteren Einzelheiten (notwendige Beschlüsse, erforderliche Mehrheiten, Sondervoten, Delegierbarkeit an Ausschüsse etc.) s. Kossmann, NZG 2011, 46, 47–48. Ziffer 3.7 DCGK sieht ebenfalls eine Stellungnahme sowohl von dem Vorstand als auch von dem Aufsichtsrat vor. 26 E. Vetter (Fn. 23), S. 2660; Langenbucher (Fn. 7), S. 405. 27 Buck-Heeb (Fn. 2), S. 254; Röh in Haarmann/Schüppen (Fn. 18), § 27 WpÜG Rz. 1 („argumentatives Gegengewicht“); E. Vetter (Fn. 23), S. 2660 und 2676. 28 OLG Frankfurt/M. v. 22.3.2007 – 12 U 77/06, juris.de (Rz. 47).

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1. Öffentlichrechtliche Durchsetzung Die Durchsetzung der Vorgaben des § 27 WpÜG obliegt in erster Linie der BaFin. Verstößt der Vorstand oder der Aufsichtsrat der Zielgesellschaft gegen die Pflicht zur Abgabe einer begründeten Stellungnahme nach § 27 WpÜG, kann die BaFin Anordnungen zur Beseitigung oder Verhinderung von Missständen treffen (§ 4 Abs. 1 Satz 3 WpÜG). Veröffentlicht der Vorstand oder der Aufsichtsrat der Zielgesellschaft die Stellungnahme vorsätzlich oder leichtfertig nicht, nicht richtig, nicht vollständig, nicht in der vorgeschriebenen Weise oder nicht rechtzeitig, begeht er eine Ordnungswidrigkeit, die mit einer Geldbuße bis zu 500.000 Euro geahndet werden kann (§ 60 Abs. 1 Nr. 1b, Abs. 3 WpÜG). Ordnungswidrig handelt der Vorstand bzw. Aufsichtsrat der Zielgesellschaft außerdem, wenn er die Stellungnahme nicht gleichzeitig dem Betriebsrat oder, sofern ein solcher nicht besteht, den Arbeitnehmern übermittelt (§ 60 Abs. 1 Nr. 2c, Abs. 3 WpÜG) oder wenn er die Mitteilung an die BaFin über die Veröffentlichung gemäß § 27 Abs. 3 Satz 3 WpÜG nicht, nicht richtig oder nicht rechtzeitig macht (§ 60 Abs. 1 Nr. 5 WpÜG).29 Die Verfolgung von Ordnungswidrigkeiten liegt im pflichtgemäßen Ermessen der BaFin (§§ 47 Abs. 1 Satz 1, 36 Abs. 1 Nr. 1 OWiG, § 61 WpÜG). Die Aktionäre der Zielgesellschaft können die Verfolgung von Ordnungswidrigkeiten allenfalls mit Hilfe einer Mitteilung an die BaFin in Gang setzen. 2. Zivilrechtliche Haftung Fraglich ist, ob der Vorstand bzw. der Aufsichtsrat der Zielgesellschaft für Vermögensschäden, die Aktionäre der Zielgesellschaft, die Zielgesellschaft selbst, der Betriebsrat bzw. die Arbeitnehmer der Zielgesellschaft oder der Bieter aufgrund einer Stellungnahme im Sinne des § 27 WpÜG erlitten haben, zivilrechtlich einzustehen hat. Derartige Schäden können entstehen, wenn der Vorstand bzw. der Aufsichtsrat gegen seine Pflicht zur Stellungnahme verstößt,30 er also die Stellungnahme nicht, nicht richtig, nicht vollständig, nicht in der vorgeschriebenen Weise oder nicht rechtzeitig veröffentlicht hat.31 Schäden

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29 S. dazu OLG Frankfurt/M., NJW 2003, 2111. 30 Die Rechtsnatur der Stellungnahmepflicht nach § 27 WpÜG ist umstritten. Überzeugend scheint die Auffassung, dass § 27 WpÜG eine kapitalmarktrechtliche Konkretisierung der allgemeinen gesellschaftsrechtlichen Pflichten von Vorstand und Aufsichtsrat (§§ 93 Abs. 1 Satz 1 und 2, 116 Satz 1 AktG) darstellt, die die allgemeinen aktienrechtlichen Pflichten nicht derogiert. In diesem Sinne auch Kossmann, NZG 2011, 46, 48–49 m. w. N. (auch anderer Ansichten); Schwennicke in Geibel/ Süßmann (Hrsg.), 2. Aufl. 2008, § 27 WpÜG Rz. 51. Das hat Auswirkungen auf die Bestimmung des Umfangs einer „ausreichend sorgfältigen und damit die Haftung ausschließenden informationellen Fundierung einer Entscheidung“ (Kossmann, NZG 2011, 46, 49). 31 Die nachfolgende Untersuchung beschränkt sich auf die Haftung für fehlerhafte Stellungnahmen im Sinne des § 27 WpÜG gegenüber den Aktionären der Zielgesellschaft. Zur Haftung des Vorstands bzw. Aufsichtsrats der Zielgesellschaft gegenüber der Zielgesellschaft (§§ 93 Abs. 2, 116 Satz 1 AktG), dem Betriebsrat bzw. den Arbeitnehmern der Zielgesellschaft oder dem Bieter s. Harbarth in Baums/Thoma (Hrsg.), Stand 2010, § 27 WpÜG Rz. 154–164; Kubalek, Die Stellungnahme der Zielgesellschaft zu öffentlichen Angeboten nach dem WpÜG, 2006, S. 162–192.

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der Aktionäre können insbesondere daraus resultieren, dass sie aufgrund einer fehlerhaften Stellungnahme ihre Wertpapiere unter Wert veräußern, oder daraus, dass sie ein angemessenes Angebot nicht annehmen.32 Solche Schäden der Aktionäre sind regelmäßig Folge einer Fehlerhaftigkeit der Stellungnahme, die sich aus einer Unrichtigkeit (misstatement) oder einer Unvollständigkeit (omission) der Stellungnahme ergeben kann (arg. e § 12 Abs. 1 WpÜG). Unrichtigen vorteilhaften Angaben steht das Verschweigen nachteiliger Tatsachen gleich (arg. e § 264a Abs. 1 StGB).33 Die unterlassene Richtigstellung einer unrichtigen Angabe (auch aufgrund einer Änderung der Angebotsunterlage durch den Bieter, §§ 21, 27 Abs. 1 Satz 1 WpÜG) kann ebenfalls eine Haftung begründen.34 Grundlage für eine zivilrechtliche Haftung des Vorstands bzw. des Aufsichtsrats können nur solche Angaben sein, die sich auf wesentliche (material) Umstände beziehen (arg. e § 12 Abs. 1 WpÜG). Wesentlich sind solche (quantitativen oder qualitativen) Umstände, die ein durchschnittlich verständiger Wertpapierinhaber (average prudent investor) bei seiner Beurteilung des Angebots „eher berücksichtigen als nicht berücksichtigen würde“.35 Zu den wesentlichen Umständen in diesem Sinne gehören insbesondere die Ausführungen in der Stellungnahme zu der Art und Höhe der Gegenleistung (§ 27 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 WpÜG). Die Aussagen zu den weiteren Pflichtangaben nach § 27 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 bis 4 WpÜG sowie sonstige Ausführungen in der Stellungnahme können im Einzelfall aber ebenfalls entscheidungserheblich sein. Während der deutsche Gesetzgeber die Haftung für die Angebotsunterlage geregelt hat (§ 12 WpÜG), ist die Haftung für die Stellungnahme der Zielgesellschaft in Deutschland – anders etwa als in den USA und in Belgien36 – gesetzlich nicht ausdrücklich geregelt. a) § 12 WpÜG analog Dieser Befund hat zu Überlegungen geführt, ob Vorstand und Aufsichtsrat der Zielgesellschaft nicht in analoger Anwendung des § 12 WpÜG für Fehler in der

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32 Harbarth (Fn. 31), § 27 WpÜG Rz. 151; Schwennicke (Fn. 30), § 27 WpÜG Rz. 52; Röh in Haarmann/Schüppen (Fn. 18), § 27 WpÜG Rz. 91; Kubalek (Fn. 31), S. 175. 33 S. auch OLG Frankfurt/M. v. 22.3.2007 – 12 U 77/06, juris.de (Rz. 47) („Das freundliche Übernahmeangebot darf nicht durch Verschweigen relevanter negativer Tatsachen ‚geschönt‘ werden“). 34 Hirte in KölnKomm. WpÜG, 2. Aufl. 2010, § 28 WpÜG Rz. 28; Röh in Haarmann/ Schüppen (Fn. 18), § 27 WpÜG Rz. 56. Allgemein Kalss in FS Klaus J. Hopt, Bd. 2, 2010, S. 2061. 35 Harbarth (Fn. 31), § 27 WpÜG Rz. 150; ähnlich Steinmeyer in Steinmeyer/Häger, 2. Aufl. 2007, § 27 WpÜG Rz. 68. 36 Hazen, The Law of Securities Regulation, 4. Aufl. 2002, S. 529 („In opposing or recommending the acceptance of an offer, the target company’s management is required to set forth its reasons; and, of course, such statements are subject to the antifraud provisions of section 14[e]“); Jennings/Marsh/Coffee/Seligman, Securities Regulation – Cases and Materials, 8. Aufl. 1998, S. 799 („Any misstatement by the target can produce litigation brought by the bidder against the target under § 14[e] of the Williams Act“). Zum belgischen Recht s. Art. 29 Abs. 2 Loi relative aux offres publiques d’acquisition v. 1.4.2007 (Moniteur belge du 26.4.2007).

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Stellungnahme haften könnten. Eine analoge Heranziehung des § 12 WpÜG ist nach herrschender und zutreffender Meinung aber ausgeschlossen, weil der Gesetzgeber eine zivilrechtliche Haftung bewusst nur für die Fehlerhaftigkeit der Angebotsunterlage (§ 12 WpÜG) vorgesehen hat, nicht hingegen für fehlerhafte Stellungnahmen im Sinne des § 27 WpÜG; es mangelt daher an einer planwidrigen Gesetzeslücke, die Voraussetzung für eine Analogie ist.37 b) Auskunftsvertrag Vertragliche Ansprüche der Anteilseigner der Zielgesellschaft gegen den Vorstand bzw. den Aufsichtsrat der Zielgesellschaft scheiden mangels eines vertraglichen Schuldverhältnisses (§ 311 Abs. 1 BGB) zwischen beiden aus. Zwar ist ein selbständiger Auskunftsvertrag zwischen dem Vorstand bzw. Aufsichtsrat und den Aktionären der Zielgesellschaft als Anspruchsgrundlage theoretisch denkbar (vgl. § 675 Abs. 2 BGB); die Voraussetzungen eines solchen Vertrages werden allerdings in der Praxis so gut wie nie vorliegen. Eine ausdrückliche Einigung zwischen den Aktionären und dem Vorstand bzw. Aufsichtsrat der Zielgesellschaft liegt im Regelfall schon deshalb nicht vor, weil zwischen dem Vorstand/Aufsichtsrat der Zielgesellschaft und ihren Aktionären nach Veröffentlichung der Entscheidung zur Abgabe eines Angebots (außerhalb der Hauptversammlung, vgl. etwa § 33 Abs. 1 Satz 2 WpÜG) kein unmittelbarer Kontakt besteht und ein Angebot zum Abschluss eines Auskunftsvertrags, das die Aktionäre annehmen könnten, von Seiten des Vorstands/Aufsichtsrats nicht abgegeben wird. Die Stellungnahme wird den Aktionären auch nicht unmittelbar zugesandt, sondern „anonym“ im Internet, im elektronischen Bundesanzeiger oder durch Bereithalten zur kostenlosen Ausgabe bei einer geeigneten Stelle im Inland veröffentlicht (§§ 27 Abs. 3 Satz 1, 14 Abs. 3 Satz 1 WpÜG). Natürlich kann ein Auskunftsvertrag auch stillschweigend abgeschlossen werden.38 Die Bedeutung der Auskunft für den Empfänger einerseits und die Sachkunde des Auskunftgebers andererseits reichen nach der Rechtsprechung für sich allein aber nicht aus, um das Zustandekommen eines stillschweigend geschlossenen Auskunftsvertrages zu bejahen.39 Der BGH stellt entscheidend darauf ab, ob die Gesamtumstände unter Berücksichtigung der Verkehrsauffassung und der Verkehrsbedürfnisse den Rückschluss zulassen, dass beide Seiten

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37 Harbarth (Fn. 31), § 27 WpÜG Rz. 135; Krause/Pötzsch in Assmann/Pötzsch/Uwe H. Schneider (Hrsg.), 2005, § 27 WpÜG Rz. 143; Röh in Haarmann/Schüppen (Fn. 18), § 27 WpÜG Rz. 85; Steinmeyer (Fn. 35), § 27 WpÜG Rz. 68 und 76; Riehmer in Habersack/Mülbert/Schlitt (Hrsg.), Handbuch der Kapitalmarktinformation, 2008, S. 348 Rz. 58; Fleischer/Kalss, Das neue Wertpapiererwerbs- und Übernahmegesetz, 2002, S. 99. Mangels einer Regelungslücke scheidet eine entsprechende Anwendung spezialgesetzlicher Prospekthaftungsregeln (§§ 44–47 BörsG, § 127 InvG, §§ 13, 13a VerkProspG) ebenfalls aus; vgl. Schwennicke (Fn. 30), § 27 WpÜG Rz. 55 (für §§ 44 ff. BörsG); Friedl, NZG 2004, 448, 452–453; Müller in Zschocke/Schuster (Hrsg.), Hdb. zum Übernahmerecht, 2003, S. 187 Rz. 29; Drinkuth in Veil/Drinkuth (Hrsg.), Reformbedarf im Übernahmerecht, 2004, S. 75–76; Kubalek (Fn. 31), S. 195. 38 S. nur Ebke in Krieger/Uwe H. Schneider (Hrsg.), Hdb. Managerhaftung, 2. Aufl. 2010, § 11 Rz. 22 f. 39 S. nur BGH, NJW 1986, 180, 181; BGH, NJW-RR 2006, 993, 993.

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die Auskunft zum Gegenstand vertraglicher Rechte und Pflichten machen wollten.40 Im Lichte dieser Rechtsprechung beschränkt sich die Annahme eines vertraglichen Auskunftsverhältnisses auf Fälle, in denen der Vorstand bzw. der Aufsichtsrat der Zielgesellschaft mit einem bestimmten Aktionär der Zielgesellschaft unmittelbar in Kontakt tritt und unter Bezugnahme auf seine Stellungnahme (§ 27 WpÜG) diesem gegenüber (weitere) Erklärungen oder Zusicherungen abgibt, für deren Richtigkeit und Vollständigkeit er vertraglich einstehen will.41 Eine solche Sachverhaltsgestaltung ist in Übernahmeverfahren allerdings so gut wie nie gegeben, zumal Aktionäre gleich zu behandeln sind (§ 53a AktG; § 3 Abs. 1 WpÜG) und Vorstand sowie Aufsichtsrat zur Verschwiegenheit über vertrauliche Beratungen, die der Stellungnahme zugrunde liegen, verpflichtet sind (§§ 93 Abs. 1 Satz 3, 116 Satz 2 AktG). Das bloße Wissen des Vorstands bzw. des Aufsichtsrats, dass ihre Stellungnahme den Aktionären der Zielgesellschaft zur Entscheidungsfindung dienen kann, stellt keinen „unmittelbaren Kontakt“ im Sinne der Rechtsprechung dar. Fehlt es an einer unmittelbaren Kontaktaufnahme („unmittelbare Fühlungnahme“)42 zwischen dem Vorstand/Aufsichtsrat und den Aktionären der Zielgesellschaft und lässt sich auch aus den übrigen Umständen des Falles nicht mit hinreichender Sicherheit der Wille des Vorstands/Aufsichtsrats ableiten, zu den Aktionären der Zielgesellschaft in eine selbständige rechtsgeschäftliche Beziehung zu treten (§ 311 Abs. 1 BGB), kommt ein eigenständiges vertragliches Rechtsverhältnis mit entsprechender Haftung nicht in Betracht. Eine anderweitige Bewertung würde die vertragliche Haftung unangemessen ausweiten und die vom Gesetzgeber in der fehlenden Regelung für eine Haftung für Stellungnahmen nach § 27 WpÜG angelegte Risikoallokation zulasten der Aktionäre der Zielgesellschaft unterlaufen und ist daher abzulehnen. Das gilt um so mehr, als sich die Haftungsprivilegierung sowie die Beweiserleichterungen und Kausalitätsvermutungen nach § 12 Abs. 2 und 3 WpÜG bezüglich der Haftung für die Angebotsunterlage auf Ansprüche aus einem „stillschweigend“ abgeschlossenen Vertrag nicht ohne Weiteres, schon gar nicht mittels Analogie, erstrecken lassen, was auch zu Wertungswidersprüchen zwischen der Haftung für die Angebotsunterlage und die Haftung für die Stellungnahme führen würde. Aus den gleichen Erwägungen scheidet eine Haftung des Vorstands bzw. Aufsichtsrats aus dem Gesichtspunkt eines „Auskunftsvertrages für den, den es angeht“ aus.43 c) Vertrag mit Schutzwirkung für Dritte Vertragliche Ansprüche der Aktionäre der Zielgesellschaft gegen den Vorstand bzw. den Aufsichtsrat der Zielgesellschaft aus deren Anstellungsvertrag mit

__________ 40 41 42 43

BGH, NJW 1986, 180, 181 unter Hinweis auf RGZ 162, 129, 154–155. Vgl. BGHZ 138, 257; bestätigt in BGH, WM 2006, 423, 425. LG Mönchengladbach, NJW-RR 1991, 415 (r.Sp.). S. zu dieser Konstruktion Ebke in MünchKomm. HGB, 3. Aufl. 2012, § 323 HGB Rz. 129.

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der Zielgesellschaft scheiden aus, weil die Voraussetzungen eines Vertrages mit Schutzwirkung für Dritte nicht erfüllt sind.44 Es besteht Einigkeit darüber, dass der vertragliche Drittschutz nicht jedem gewährt werden kann, der durch die mangelhafte Erfüllung eines solchen Anstellungsvertrages irgendwie beeinträchtigt wird. Der vertragliche Drittschutz nach der Rechtsfigur des Vertrages mit Schutzwirkung für Dritte ist daher an Voraussetzungen geknüpft.45 Danach müsste der geschädigte Aktionär der Zielgesellschaft zunächst den Gefahren der Leistungsstörung etwa ebenso intensiv ausgesetzt sein wie die Zielgesellschaft selbst; der Aktionär müsste sich also in „Leistungsnähe“ (d. h. im „Gefahrenbereich“) des Anstellungsvertrages befinden. Ob das der Fall ist, ist schon wegen des aktienrechtlichen Trennungsprinzips fraglich. Die Zielgesellschaft müsste darüber hinaus ein besonderes Interesse an der Einbeziehung ihrer Aktionäre in den Schutzbereich des Anstellungsvertrages haben. Eine etwaige Gegenläufigkeit der Interessen von Aktionär und Zielgesellschaft in der Übernahmesituation würde die Konstruktion des Anstellungsvertrages als Vertrag mit Schutzwirkung für die Aktionäre nach der Rechtsprechung nicht von vornherein ausschließen.46 Der Gesetzgeber setzt aber im WpÜG nicht auf einen (haftungsrechtlich vermittelten) Vermögensschutz, sondern auf die wahre und vollständige Information der Aktionäre (§ 27 WpÜG), damit diese in Kenntnis der Sachlage über das Angebot entscheiden können (§ 3 Abs. 2 WpÜG). Ein „besonderes“ Interesse der Zielgesellschaft an dem Schutz des Vermögens ihrer Aktionäre ist deshalb kaum anzunehmen. Nach einer verbreiteten Ansicht müssen die beiden zuvor genannten Erfordernisse dem Vorstand/Aufsichtsrat als Schuldner des Anstellungsvertrags bei Abschluss des Vertrages erkennbar gewesen sein, weil dem Vorstand/Aufsichtsrat das ihm aufgebürdete zusätzlich Haftungsrisiko andernfalls nicht zugemutet werden könne.47 Die Erkennbarkeit ist nicht zuletzt deshalb zweifelhaft, weil – wie wir sehen werden – Schadensersatzansprüche für eine fehlerhafte Stellungnahme nach der gesetzlichen Regelung zwar theoretisch denkbar, aber praktisch kaum Erfolg versprechend sind und Vorstand bzw. Aufsichtsrat der Zielgesellschaft deshalb kaum annehmen müssen, dass eine solche Haftung mittels Externalisierung ihres Anstellungsvertrags begründet werden könnte. Hinzu kommen muss nach der Rechtsprechung die Schutzbedürftigkeit des Dritten, hier also des geschädigten Aktionärs der Zielgesell-

__________ 44 Buck-Heeb (Fn. 2), S. 255; Harbarth (Fn. 31), § 27 WpÜG Rz. 134; Krause/Pötzsch (Fn. 37), § 27 WpÜG Rz. 141. 45 S. dazu statt aller Medicus/Lorenz, Schuldrecht I – Allgemeiner Teil, 19. Aufl. 2010, S. 391–394; Kropholler, Studienkommentar BGB, 13. Aufl. 2011, Vor §§ 249–253 Rz. 23. 46 Vgl. nur BGH, JZ 1998, 624, 625 mit Anm. Canaris, JZ 1998, 603 (betr. Bausachverständigen); OLG München, WM 1997, 613 (betr. Steuerberater). Kritisch zu der Aufgabe des Merkmals „Gegenläufigkeit der Interessen“ Ebke, Die zivilrechtliche Verantwortlichkeit der wirtschaftsprüfenden-, steuer- und rechtsberatenden Berufe im internationalen Vergleich, 1996, S. 43; Canaris, ZHR 163 (1999), 206, 215. 47 Ein Teil des Schrifttums verzichtet auf das Erfordernis der Erkennbarkeit: s. die Nachw. bei Ebke (Fn. 43), § 323 HGB Rz. 133.

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schaft.48 Die Schutzwürdigkeit wird verneint, wenn dem Dritten für den erlittenen Schaden ein eigener Ersatzanspruch zusteht, der zumindest einen gleichwertigen Inhalt hat wie derjenige, der ihm aus dem Vertrag mit Schutzwirkung für Dritte zukommen würde.49 Die genauen Anforderungen an die Gleichwertigkeit des Ersatzanspruchs sind jedoch heftig umstritten. Es gibt insbesondere keine einheitliche Auffassung zu der Frage, ob und inwieweit Ansprüche gegen Dritte (in casu z. B. gegen den Bieter nach § 12 WpÜG) oder deliktsrechtliche Ansprüche (z. B. aus §§ 823 Abs. 2, 826 BGB) gegen den Schädiger (in casu also den Vorstand bzw. Aufsichtsrat der Zielgesellschaft) Ansprüchen aus einem Vertrag mit Schutzwirkung für Dritte „gleichwertig“ sind. Insgesamt sprechen gewichtige Gründe gegen die Haftung von Vorstand und Aufsichtsrat der Zielgesellschaft nach der Rechtsfigur des Vertrages mit Schutzwirkung für Dritte, zumal dadurch – ähnlich wie bei der Annahme eines Auskunftsvertrags – die gesetzgeberische Entscheidung gegen eine Haftung für die Stellungnahme (§ 27 WPÜG) konterkariert würde. d) Allgemeine zivilrechtliche Prospekthaftung Ob Ansprüche der Aktionäre der Zielgesellschaft gegen den Vorstand bzw. den Aufsichtsrat der Zielgesellschaft aus der allgemeinen zivilrechtlichen Prospekthaftung in Betracht kommen können, ist umstritten.50 Welche Publikationen als „Prospekt“ im Sinne der allgemeinen zivilrechtlichen Prospekthaftung angesehen werden können, ist höchstrichterlich bislang nicht entschieden. Im Schrifttum wird unter einem Prospekt im Sinne der allgemeinen zivilrechtlichen Prospekthaftung jede Markt bezogene, an eine bestimmte Anzahl von Personen gerichtete schriftliche Erklärung verstanden.51 Trotz des dadurch eröffneten weiten Anwendungsbereichs sprechen die besseren Gründe gegen die Anwendung der allgemeinen zivilrechtlichen Prospekthaftung auf fehlerhafte Stellungnahmen nach § 27 WpÜG.52 Die allgemeine Prospekthaftung

__________ 48 Westermann/Bydlinski/Weber, BGB – Schuldrecht Allgemeiner Teil, 7. Aufl. 2010, S. 303–304. 49 Vgl. BGHZ 70, 327, 329–330; BGHZ 133, 168, 176. 50 Dafür etwa Kubalek (Fn. 31), S. 198–199; Hopt, ZHR 166 (2002), 375, 431; Röh in Haarmann/Schüppen (Fn. 18), § 27 WpÜG Rz. 87; Schwark, KapitalmarktrechtsKommentar, 4. Aufl. 2004, § 27 WpÜG Rz. 35; Wackerbarth in MünchKomm. AktG, 3. Aufl. 2011, § 27 WpÜG Rz. 16 („sollten … angewandt werden“); Lutter/Krieger, Rechte und Pflichten des Aufsichtsrats, 5. Aufl. 2008, Rz. 1022; Fleischer/Kalss (Fn. 37), S. 99. Einen kurzen Überblick über die Entwicklung der allgemeinen zivilrechtlichen Prospekthaftung bieten Krämer in Krieger/Uwe H. Schneider (Fn. 38), § 28 Rz. 31–33; Langenbucher (Fn. 7), S. 286–287, und Jäger, Das Prospekthaftungsstatut, 2007, S. 46–49. 51 S. Harbarth (Fn. 31), § 27 WpÜG Rz. 138 m. w. N. 52 In diesem Sinne auch Harbarth (Fn. 31), § 27 WpÜG Rz. 139; Krause/Pötzsch (Fn. 37), § 27 WpÜG Rz. 141; unentschieden Brandi in Thaeter/Brandi (Hrsg.), Öffentliche Übernahmen, 2003, S. 203 Rz. 178–180.

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bezieht sich traditionell auf Vertriebsangaben53 und Veröffentlichungen, die als Grundlage für eine Anlageentscheidung gedacht sind und den Zweck haben, den Absatz des Wertpapiers oder der Kapitalanlage zu fördern.54 In einer solchen Verkaufs- oder Werbesituation befinden sich der Vorstand bzw. Aufsichtsrat der Zielgesellschaft mit ihrer Stellungnahme nicht.55 Hinzu kommt: Anders als ein Prospekt im Sinne der allgemeinen zivilrechtlichen Prospekthaftung56 ist die Stellungnahme nach § 27 WpÜG nicht die wichtigste und schon gar nicht die einzige Informationsquelle, die den Aktionären der Zielgesellschaft in die Lage versetzen soll, über die Chancen und Risiken des Angebots zu entscheiden (§ 3 Abs. 2 WpÜG).57 In der Stellungnahme werden nicht einmal wie in einem Prospekt „sämtliche Umstände, die für die Entschließung … von Bedeutung sind oder sein können“,58 dargestellt.59 Im Übrigen würde durch die Anerkennung einer Haftung nach den Grundsätzen der allgemeinen zivilrechtlichen Prospekthaftung die Entscheidung des Gesetzgebers gegen eine Haftung von Vorstand und Aufsichtsrat der Zielgesellschaft für eine fehlerhafte Stellungnahme nach § 27 WpÜG unterlaufen60 und überdies zu dem merkwürdigen Ergebnis führen, dass Vorstand und Aufsichtsrat der Zielgesellschaft für ihre Stellungnahme schärfer haften als diejenigen, von denen der Erlass der Angebotsunterlage ausgeht oder die für die Angebotsunterlage die Verantwortung übernommen haben (§ 12 Abs. 1 WpÜG), denn deren Haftung ist auf Vorsatz und grobe Fahrlässigkeit beschränkt und es gelten Beweiserleichterungen und Kausalitätsvermutungen (§ 12 Abs. 2 und 3 WpÜG); eine analoge Anwendung dieser Vorschriften auf die Grundsätze der allgemeinen zivilrechtlichen Prospekthaftung ist nicht begründbar.61 Eine Haftung von Vorstand und Aufsichtsrat der Zielgesellschaft für ihre Stellungnahme nach den Grundsätzen der allgemeinen zivilrechtlichen Prospekthaftung scheidet folglich aus.

__________ 53 Hopt, Kapitalmarktrecht (mit Prospekthaftung) in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes, in 50 Jahre Bundesgerichtshof, Festgabe aus der Wissenschaft, Bd. II, 2000, S. 497, 525 und 527. 54 Steinmeyer (Fn. 35), § 27 WpÜG Rz. 78; Riehmer (Fn. 37), S. 349 Rz. 60; Harbarth (Fn. 31), § 27 WpÜG Rz. 139 unter Hinweis auf Berg/Stöcker, WM 2002, 1569, 1581 und Groß, WM 2002, 477, 479. 55 Buck-Heeb (Fn. 2), S. 255; Friedl, NZG 2004, 448, 453; Harbarth (Fn. 31), § 27 WpÜG Rz. 139; Schwennicke (Fn. 30), § 27 WpÜG Rz. 55; Drinkuth in Marsch-Barner/ Schäfer (Hrsg.), Handbuch börsennotierte AG, 2. Aufl. 2009, § 60 Rz. 169. 56 S. BGHZ 115, 213, 218. 57 Harbarth (Fn. 31), § 27 WpÜG Rz. 139; Riehmer (Fn. 37), S. 348 Rz. 59; Krause/ Pötzsch (Fn. 37), § 27 WpÜG Rz. 145. 58 Vgl. BGH, NJW 1993, 2865. 59 Riehmer (Fn. 37), S. 349 Rz. 59. 60 Krause/Pötzsch (Fn. 37), § 27 WpÜG Rz. 145. 61 Str.; zum Stand der Meinungen s. Röh in Haarmann/Schüppen (Fn. 18), § 27 WpÜG Rz. 90 mit Fn. 166 (selbst eine „entsprechende Anwendung“ des § 12 Abs. 2 WpÜG befürwortend).

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e) Eigenhaftung Selten erörtert, aber denkbar ist eine Eigenhaftung von Vorstand und Aufsichtsrat nach § 311 Abs. 3 Satz 2 BGB. Dann müsste der Vorstand bzw. der Aufsichtsrat „in besonderem Maße Vertrauen“ „für sich“ in Anspruch genommen haben und dadurch „den Vertragsschluss“ zwischen den Aktionären der Zielgesellschaft und dem Bieter „erheblich“ „beeinflusst“ haben. Inhalt, Reichweite und Bedeutung dieser Bestimmung und ihr Zusammenspiel mit § 311 Abs. 3 Satz 1 BGB sind nach wie vor nicht hinreichend geklärt. Das hängt nicht zuletzt damit zusammen, dass § 311 Abs. 3 Satz 1 BGB einen Fall der Dritthaftung regelt (z. B. culpa in contrahendo mit Schutzwirkung für Dritte),62 während § 311 Abs. 3 Satz 2 BGB einen Fall der Eigenhaftung (nämlich der des Sachwalters) betrifft, die Eigenhaftung des Sachwalters in Abs. 3 Satz 2 aber als Beispiel („insbesondere“) für eine Dritthaftung nach Abs. 3 Satz 1 genannt wird. Andererseits lässt § 311 Abs. 3 Satz 2 BGB bewusst Raum für weitere Fallgruppen („insbesondere“), die sich in Wissenschaft und Praxis herausbilden können. Zu denken ist beispielsweise an Fälle, in denen Dritte, die auf die Verhandlungen oder den Vertragsschluss maßgeblich einwirken, ein überragendes eigenes wirtschaftliches Interesse haben.63 Über die Maßstäbe, die bei dem wirtschaftlichen Eigeninteresse bzw. dem in Anspruch genommenen Vertrauen anzulegen sind, besteht noch keine abschließende Klarheit. Weitere Schwierigkeiten bei der Anwendung des seit dem 1.1.2002 geltenden § 311 Abs. 3 BGB resultieren aus Versuchen einiger Autoren, in § 311 Abs. 3 BGB eine allgemeine „Expertenhaftung“ zu verankern, deren Konturen, Haftungsvoraussetzungen und Rechtsfolgen aber noch nicht ausgereift sind.64 Es ist nicht zu bestreiten, dass Vorstand und Aufsichtsrat der Zielgesellschaft aufgrund der ihnen zugänglichen Informationen und des daraus folgenden Wissensvorsprungs im Hinblick auf die Lage der Zielgesellschaft und ihre zukünftige Positionierung zur Beurteilung des Angebots des Bieters besser imstande sind als etwa die außenstehenden Kleinaktionäre der Zielgesellschaft; die Aktionäre sind daher im Rahmen ihrer Entscheidungsfindung auf eine wahre und vollständige Information über alle wesentlichen Umstände des Angebots angewiesen, um über das Angebot entscheiden zu können (§ 3 Abs. 2 WpÜG). Ob Vorstand und Aufsichtsrat mit ihrer Stellungnahme nach § 27 WpÜG aber – wie von § 311 Abs. 3 Satz 2 BGB gefordert – „in erheblichem Maße“ (!) „Vertrauen“ in Anspruch nehmen, und zwar „für sich“, erscheint indes fraglich. Es kommt nicht darauf an, dass Vorstand bzw. Aufsichtsrat „kraft ihrer Organkompetenz sowie ihres überlegenen Wissens über die wirtschaftlichen Ver-

__________ 62 Kropholler (Fn. 45), § 311 BGB Rz. 8. 63 BGHZ 126, 181, 182; Joussen, Schuldrecht I – Allgemeiner Teil, 2008, S. 42–43. 64 Zu den Begründungsansätzen s. Ebke (Fn. 43), § 323 HGB Rz. 115 und 169–170 m. w. N. In den hier in Rede stehenden Fällen einer fehlenden Stellungnahme im Sinne von § 27 WpÜG dürfte die „Expertenhaftung“ kaum zum Tragen kommen, da es dabei um die Dritthaftung von Experten (z. B. Rechtsanwälten, Steuerberatern, Wirtschaftsprüfern und Sachverständigen) für fehlerhafte Gutachten und Auskünfte geht, nicht hingegen um gesetzlich vorgeschriebene Stellungnahmen von Gesellschaftsorganen.

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hältnisse der Zielgesellschaft und ihre zukünftige strategische Positionierung das besondere Vertrauen der Aktionäre“ genießen.65 Vorstand und Aufsichtsrat müssen dieses Vertrauen vielmehr durch die Abgabe ihrer Stellungnahmen aktiv „für sich“ in Anspruch genommen haben. Das wird man nur annehmen können, wenn Vorstand und Aufsichtsrat in ihren Stellungnahmen „in erheblichem Maße“ an ihre Organstellung, ihre besondere Kompetenz, persönliche Sachkunde, Seriosität, Zuverlässigkeit, Objektivität oder Neutralität „appellieren“66 und dadurch eine zusätzliche, gerade von ihnen persönlich ausgehende Gewähr für die Seriosität und das Gelingen des in Aussicht genommenen Geschäfts übernehmen.67 In der Praxis wird das selten der Fall sein: Vorstand und Aufsichtsrat ersuchen die Aktionäre mit ihren Stellungnahmen – anders als etwa ein Versicherungsmakler,68 Verhandlungsführer eines Franchisegebers69 oder Unternehmenssanierer70 – nicht kraft ihrer Stellung oder Sachkunde zu einem bestimmten Verhalten, sondern tragen mit ihren Stellungnahmen in Erfüllung einer gesetzlichen Pflicht zur Transparenz und Information dazu bei, eine Entscheidungsgrundlage für die Aktionäre der Zielgesellschaft zu schaffen („audiatur et altera pars“), damit diese eigenständig eine informierte Entscheidung über das Angebot und die damit zusammenhängenden Chancen und Risiken treffen können (§ 3 Abs. 2 WpÜG). § 311 Abs. 3 Satz 2 BGB verlangt darüber hinaus, dass Vorstand und Aufsichtsrat „die Vertragsverhandlungen oder den Vertragsschluss“ „beeinflussen“, und zwar in „erheblichem“ Maße (§ 311 Abs. 3 Satz 2 BGB). Ob der Vorstand bzw. Aufsichtsrat mit seiner Stellungnahme die Aktionäre bei ihrer Entscheidung tatsächlich „erheblich“ „beeinflusst“, erscheint fraglich, selbst wenn die Stellungnahme – wie in der Mehrzahl der Fälle – am Ende eine zustimmende bzw. ablehnende Empfehlung enthält.71 Denn in vielen Fällen werden die Aktionäre über die Annahme des Angebots nicht (nur) aufgrund der Stellungnahme, sondern (auch) anderer Informationsquellen entscheiden. Die Stellungnahme stellt – anders als ein Prospekt – ohnehin nicht „sämtliche Umstände, die für die Entschließung … von Bedeutung sind oder sein können“,72 dar.73 Außerdem können sich Vorstand und Aufsichtsrat in ihren Stellungnahmen unter Um-

__________ 65 Röh in Haarmann/Schüppen (Fn. 18), § 27 WpÜG Rz. 87; vgl. BGH, NJW-RR 1992, 605, 606. 66 Schulze in Hk-BGB, 7. Aufl. 2012, § 311 BGB Rz. 19. 67 BGHZ 74, 103, 108; BGH, NJW-RR 1992, 605, 606. 68 BGHZ 94, 356, 359. 69 BGH, NJW-RR 2006, 993. 70 BGH, NJW 1990, 1907, 1908. 71 In dem Zeitraum vom 1.1.2010 bis 30.6.2011 gab es in 27 der insgesamt 42 Angebotsfälle eine zustimmende Stellungnahme von Vorstand und Aufsichtsrat, in acht Fällen eine ablehnende und in sieben Fällen eine neutrale Stellungnahme. S. Seibt, CFL 2011, 213, 236. Vorstand und Aufsichtsrat müssen „eindeutig erklären, ob sie dem Angebot zustimmen, ihm widersprechen oder sie sich enthalten“ (OLG Frankfurt/M. v. 22.3.2007 – 12 U 77/06, juris.de [Rz. 47]). 72 Vgl. BGH, NJW 1993, 2865. 73 Riehmer (Fn. 37), S. 349 Rz. 59.

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ständen einer konkreten Handlungsempfehlung enthalten.74 Denkbar ist schließlich, dass der Aktionär die Unrichtigkeit oder Unvollständigkeit der Angaben der Stellungnahme bei der Abgabe der Annahmeerklärung kannte (vgl. § 12 Abs. 3 Nr. 1 und 2 WpÜG) oder die Stellungnahme der Zielgesellschaft vor seiner Entschließung nicht eingesehen hat und die daraus entstehenden Informationslücken anderweitig schließt. Von einer „erheblichen“ Beeinflussung im Sinne des § 311 Abs. 3 Satz 2 BGB ist daher im Allgemeinen nicht auszugehen. Eine Haftung nach § 311 Abs. 3 Satz 2 BGB kommt auch nach den Kriterien der Fallgruppe des „wirtschaftlichen Eigeninteresses“ nicht in Betracht. Vorstand und Aufsichtsrat der Zielgesellschaft haben in der Regel kein derart überragendes eigenes wirtschaftliches Interesse an Erfolg oder Misserfolg der Übernahme, dass sie – wirtschaftlich betrachtet – bei der Abgabe der Stellungnahme gleichsam in eigener Sache tätig werden.75 Es ist nicht zu bestreiten, dass durch (in der Angebotsunterlage offen zu legende, § 11 Abs. 2 Satz 3 Nr. 3 WpÜG) Geldleistungen oder geldwerte Vorteile, die der Bieter im Vorfeld des Angebots Vorstands- oder Aufsichtsratsmitgliedern der Zielgesellschaft gewährt oder in Aussicht gestellt hat, oder durch die Erwartung von Sonderzahlungen (z. B. golden parachute) aufgrund von change-of-control-Klauseln in den Dienstverträgen zwischen der Zielgesellschaft und ihren Vorständen Anreize entstehen, eine für die Aktionäre unattraktive Übernahme zu fördern, falls die versprochenen Leistungen des Bieters höher sind als der Wert der in dem Dienstvertrag mit der Zielgesellschaft vereinbarten restlichen Vergütung.76 Sind die angebotenen Geldleistungen, geldwerten Vorteile oder Abfindungen umgekehrt niedriger als der Wert der restlichen Vergütung, werden die Anreize, eine für die Aktionäre unattraktive Übernahme zu fördern, eher gering sein. Entscheidend ist aber, dass der Vorstand der Zielgesellschaft gesellschaftsrechtlich zur Neutralität verpflichtet ist und er übernahmerechtlich keine Handlungen vornehmen darf, durch die der Erfolg des Angebots verhindert werden könnte (§ 33 Abs. 1 Satz 1 WpÜG).77 Nach § 33d WpÜG ist es dem Vorstand und dem Aufsichtsrat der Zielgesellschaft außerdem verboten, sich „im Zusammenhang mit dem Angebot“ ungerechtfertigte Geldleistungen oder andere ungerechtfertigte geldwerte Vorteile gewähren oder in Aussicht stellen zu lassen, die ihn zu einem bestimmten Verhalten veranlassen sollen.78

__________ 74 BT-Drucks. 14/7034, S. 52; OLG Frankfurt/M. v. 22.3.2007 – 12 U 77/06, juris.de (Rz. 47); Röh in Haarmann/Schüppen (Fn. 18), § 27 WpÜG Rz. 50; enger Fleischer/ Kalss (Fn. 37), S. 99. 75 Vgl. BGHZ 126, 181, 182; BGH, NJW 1954, 1925, 1927; BGH, NJW 1983, 2192, 2193; BGH, NJW-RR 1991, 289, 290; BGH, NJW-RR 1991, 1241, 1242 („wirtschaftlich Herr des Geschäfts“). 76 Langenbucher (Fn. 7), S. 407. 77 Zu Einzelheiten s. etwa Langenbucher (Fn. 7), S. 406–413 (dort auch zu den Ausnahmen). Zu den Rechtsfolgen bei einem Verstoß gegen § 33 Abs. 1 WpÜG s. BuckHeeb (Fn. 2), S. 267. Zu dem Verhältnis von übernahmerechtlichem Verhinderungsverbot und aktienrechtlichem Neutralitätsgebot s. Röh in Haarmann/Schüppen (Fn. 18), § 33 WpÜG Rz. 19–23. 78 Zu Einzelheiten s. nur Buck-Heeb (Fn. 2), S. 264–265.

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Die bloße Erwartung einer „Prämie“ oder ähnlichen Vergütung der Zielgesellschaft (sog. „kompensationslose Anerkennungsprämie“) wäre zivilrechtlich nicht ausreichend für die Annahme des erforderlichen „überragenden wirtschaftlichen Eigeninteresses“,79 die Zahlung einer solchen Prämie wäre überdies strafrechtlich verboten.80 Eine Haftung von Vorstand bzw. Aufsichtsrat der Zielgesellschaft gegenüber ihren Aktionären nach § 311 Abs. 3 Satz 2 BGB für eine fehlerhafte Stellungnahme im Sinne des § 27 WpÜG wird nach alledem im Allgemeinen ausscheiden, es sei denn, Vorstand bzw. Aufsichtsrat handelten nicht im Interesse der Zielgesellschaft (§ 3 Abs. 3 WpÜG), sondern eigennützig und würden sich bei der inhaltlichen Ausgestaltung der Stellungnahme von den eigennützigen Zielen leiten lassen. Das ist insbesondere dann der Fall, wenn ihre ungerechtfertigte Ablehnung eines feindlichen Übernahmeangebots in der Stellungnahme nach § 27 WpÜG in erster Linie auf den Erhalt ihrer bisherigen Position in der Zielgesellschaft zielt oder ihre Befürwortung eines freundlichen Übernahmeangebots der Sicherung der Einhaltung von Zusagen des Bieters (im Vorfeld des Übernahmeangebots) dient81 – was der Anspruch stellende Aktionär zu beweisen hätte. f) § 117 AktG In Betracht kommt indes eine gesellschaftsrechtliche Haftung,82 insbesondere eine Haftung des Vorstands bzw. Aufsichtsrats gegenüber den Aktionären der Zielgesellschaft nach § 117 Abs. 1 Satz 1 und 2 AktG, wenn ein Organmitglied der Zielgesellschaft vorsätzlich unter Benutzung seines Einflusses auf die Gesellschaft ein Mitglied des Vorstands oder Aufsichtsrats dazu bestimmt, zum Schaden der Aktionäre zu handeln, also beispielsweise eine hinsichtlich wesentlicher Angaben unwahre oder unvollständige Stellungnahme im Sinne des § 27 WpÜG abzugeben oder die Stellungnahme überhaupt nicht oder verspätet zu veröffentlichen.83 Neben dem bestimmenden Mitglied des Vorstands oder des Aufsichtsrats haften als Gesamtschuldner die Mitglieder des Vorstands oder des Aufsichtsrats, die unter Verletzung ihrer Pflichten gehandelt haben (§ 117

__________ 79 Vgl. BGH, NJW 1990, 506, 506; BGH, NJW-RR 1991, 1241, 1242; BGH, NJW-RR 1992, 605, 605–606. 80 Zu der Zulässigkeit sog. „kompensationsloser Anerkennungsprämien“ s. BGHSt 50, 331 (nach Ansicht des Senats liegt in der Bewilligung einer solchen Prämie eine „treupflichtwidrige Schädigung des anvertrauten Gesellschaftsvermögens“, § 266 Abs. 1 StGB, §§ 87 Abs. 1, 93 Abs. 1 Satz 1, 112, 116 Satz 1 AktG). 81 Zum eigennützigen Verhalten s. auch Kubalek (Fn. 31), S. 172 (zu § 826 BGB). 82 Zu einer möglichen verbandsrechtlichen Dritthaftung der Vorstandsmitglieder aus dem Gesichtspunkt der Treupflichtverletzung s. Ekkenga in Ehricke/Ekkenga/ Oechsler, 2003, § 27 WpÜG Rz. 44 m. w. N. in Fn. 107; Kubalek (Fn. 31), S. 198; van Aubel, Vorstandspflichten bei Übernahmeangeboten, 1995, S. 174. Zu einer möglichen Haftung nach §§ 309, 310, 317 AktG s. Steinmeyer in Steinmeyer/Häger (Fn. 35), § 27 WpÜG Rz. 73–75. 83 Krause/Pötzsch (Fn. 37), § 27 WpÜG Rz. 146; Röh in Haarmann/Schüppen (Fn. 18), § 27 WpÜG Rz. 93.

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Abs. 2 Satz 1 AktG), wenn sie also vorsätzlich oder fahrlässig dem bestimmenden Einfluss anderer vorsätzlich handelnder Mitglieder des Vorstands bzw. Aufsichtsrats nachgeben, deswegen eine fehlerhafte Stellungnahme veröffentlicht wird und die Aktionäre der Zielgesellschaft dadurch einen unmittelbar eigenen Schaden (d. h. „abgesehen von einem Schaden, der ihnen durch Schädigung der Gesellschaft zugefügt worden ist“, § 117 Abs. 1 Satz 2 AktG) erleiden.84 Ein unmittelbar eigener Schaden liegt beispielsweise vor, wenn ein Aktionär im Vertrauen auf die fehlerhafte Stellungnahme seine Aktien unter Wert verkauft hat85 oder er das Angebot abgelehnt hat, es bei zutreffender Stellungnahme aber angenommen hätte und die Annahme tatsächlich zu einer Übertragung der Anteile an den Bieter geführt hätte.86 Es wird zu Recht darauf hingewiesen, dass eine Haftung nach § 117 AktG selten sein dürfte,87 weil seitens des „Haupttäters“ Vorsatz erforderlich ist (§ 117 Abs. 1 Satz 1 AktG), welcher in der Praxis kaum vorliegen wird und noch schwieriger bewiesen werden kann. g) § 823 Abs. 1 BGB Denkbar ist außerdem ein deliktsrechtlicher Anspruch der Aktionäre der Zielgesellschaft gegen den Vorstand bzw. Aufsichtsrat ihrer Gesellschaft nach § 823 Abs. 1 BGB. Aus der Entscheidung des Gesetzgebers gegen die Statuierung einer sonderprivatrechtlichen Haftung für die Stellungnahme im Sinne von § 27 WpÜG vergleichbar der Haftung nach § 12 WpÜG ergibt sich keine Sperrwirkung gegenüber § 823 Abs. 1 BGB.88 Ein Anspruch nach § 823 Abs. 1 BGB scheidet dennoch aus, da durch die Fehlerhaftigkeit der Stellungnahme keines der dort genannten absoluten Rechtsgüter oder Rechte verletzt ist. Zwar ist das Mitgliedschaftsrecht heute auch bei der Aktiengesellschaft als „sonstiges Recht“ im Sinne des § 823 Abs. 1 BGB anerkannt;89 umstritten ist aber, wie weit der Schutzbereich der Mitgliedschaft reicht.90 Auch wenn es nicht von vornherein ausgeschlossen erscheint, die Veräußerung einer Aktie infolge einer fehlerhaften Stellungnahme des Vorstands oder Aufsichtsrats (§ 27 WpÜG) als Beeinträchtigung des deliktsrechtlich geschützten Schutzbereichs der Mitgliedschaft anzusehen, so würde der deliktsrechtliche Schutz-

__________ 84 85 86 87 88

Friedl, NZG 2004, 448, 450; Krause/Pötzsch (Fn. 37), § 27 WpÜG Rz. 146. Krause/Pötzsch (Fn. 37), § 27 WpÜG Rz. 147. Steinmeyer (Fn. 35), § 27 WpÜG Rz. 71. Kubalek (Fn. 31), S. 197; Krause/Pötzsch (Fn. 37), § 27 WpÜG Rz. 148. Wie hier Steinmeyer (Fn. 35), § 27 WpÜG Rz. 80; a. A. Krause/Pötzsch (Fn. 37), § 27 WpÜG Rz. 149 (Sperrwirkung sowohl bei Vorsatz als auch bei Fahrlässigkeit von Vorstand bzw. Aufsichtsrat); nur für Fälle von Fahrlässigkeit Harbarth (Fn. 31), § 27 WpÜG Rz. 140. 89 Grundlegend Habersack, Die Mitgliedschaft, 1996, S. 117 ff., 297 ff.; s. auch Hölters in Hölters, 2011, § 93 AktG Rz. 353 (m. w. N. in Fn. 995). Vgl. BGHZ 110, 323, 328 (Verein). 90 Zum Stand der Meinungen Harbarth (Fn. 31), § 27 WpÜG Rz. 140.

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bereich der Mitgliedschaft im Ergebnis doch überdehnt,91 jedenfalls solange keine Hauptversammlungskompetenzen verletzt werden.92 h) § 823 Abs. 2 BGB Denkbar ist eine deliktsrechtliche Haftung nach § 823 Abs. 2 BGB. § 823 Abs. 2 BGB verlangt nach herkömmlichem Verständnis eine Rechtsnorm im Sinne der Rechtsquellenlehre.93 Diese maßgeblich am historischen Willen des Gesetzgebers orientierte Ansicht ermittelt den Schutzzweck einer Norm aus der betreffenden Gebots- bzw. Verbotsnorm. Ob eine Norm den Schutz eines anderen bezweckt, bestimmt sich danach, ob sie nach ihrem Inhalt – neben möglichen anderen Zwecken – zumindest auch den Schutz des Einzelnen bezweckt. Dabei reicht es nicht aus, dass die Rechtsnorm die Wirkung hat, dem Einzelnen zu nutzen; ihr müssen nach dem im Gesetz zum Ausdruck gekommenen Willen des Gesetzgebers vielmehr auch die Bestimmung und der Zweck zukommen, gerade dem Einzelnen Rechtsschutz zu gewähren.94 Als Schutzgesetze kommen in den hier in Rede stehenden Fällen einer fehlerhaften Stellungnahme im Sinne des § 27 WpÜG in erster Linie die Vermögen schützenden Vorschriften des Strafrechts wie §§ 263, 266 StGB (nicht hingegen § 400 Abs. 1 Nr. 1 AktG95 oder § 60 Abs. 1 Nr. 1 lit. b WpÜG96) in Betracht. Die praktische Bedeutung einer solchen Haftung ist freilich schon deshalb gering, weil die genannten Straftatbestände Vorsatz voraussetzen und das strafrechtliche Vorsatzerfordernis über § 823 Abs. 2 BGB in das zivile Haftungsrecht transponiert wird; Vorsatz wird seitens des Vorstands bzw. des Aufsichtsrats – wie gesagt97 – in der Praxis allerdings selten vorliegen und noch seltener zu beweisen sein. Umstritten ist, ob § 27 WpÜG ein Schutzgesetz im Sinne des § 823 Abs. 2 BGB ist. Dann müsste § 27 WpÜG zumindest auch den individuellen Schutz der Adressaten der Stellungnahme bezwecken. Ob sich aus der unbestreitbar erheblichen Bedeutung der Stellungnahme für die Entscheidungsfindung des Anlegers eine Schutzgesetzqualität ableiten lässt, ist fraglich. In der Begründung des Regierungsentwurfs ist dazu ausgeführt, die Stellungnahme diene der Information der Wertpapierinhaber über die Beurteilung des Angebots durch

__________ 91 Krause/Pötzsch (Fn. 37), § 27 WpÜG Rz. 149; Steinmeyer (Fn. 35), § 27 WpÜG Rz. 80; Ekkenga (Fn. 82), § 27 WpÜG Rz. 44 Fn. 107; Riehmer (Fn. 37), S. 349 Rz. 61; Kubalek (Fn. 31), S. 196; ebenso jedenfalls für Fälle von Fahrlässigkeit Harbarth (Fn. 31), § 27 WpÜG Rz. 140. 92 Lutter/Krieger (Fn. 50), Rz. 1022. 93 Ebke (Fn. 43), § 323 HGB Rz. 94. 94 S. etwa BGH, NJW 1976, 1740; BGH, WM 1966, 1148, 1150; OLG Saarbrücken, BB 1978, 1434, 1436. 95 Krause/Pötzsch (Fn. 37), § 27 WpÜG Rz. 152; a. A. Schwennicke (Fn. 30), § 27 WpÜG Rz. 53; Glade in Heidel (Hrsg.), Aktienrecht und Kapitalmarktrecht, 3. Aufl. 2011, § 27 WpÜG Rz. 13; Kubalek (Fn. 31), S. 195. 96 Harbarth (Fn. 31), § 27 WpÜG Rz. 146; Steinmeyer (Fn. 35), § 27 WpÜG Rz. 82. 97 S. oben bei Fn. 87.

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den Vorstand.98 Ein individualschützender Charakter folgt hieraus noch nicht; die Information der Wertpapierinhaber kann vielmehr auch allein im Interesse der Allgemeinheit an einem funktionierenden Übernahmeverfahren angeordnet sein.99 Für den ausschließlich institutionellen Schutz spricht, dass die Stellungnahme im Internet, im elektronischen Bundesanzeiger oder durch Bereithalten zur kostenlosen Ausgabe bei einer geeigneten Stelle im Inland zu veröffentlichen ist (§§ 27 Abs. 3 Satz 1, 14 Abs. 3 Satz 1 WpÜG) und nur dem zuständigen Betriebsrat (oder, sofern ein solcher nicht besteht, unmittelbar den Arbeitnehmern), nicht aber den Aktionären unmittelbar zu übermitteln ist (§ 27 Abs. 3 Satz 2 WpÜG).100 Gegen den individualschützenden Charakter des § 27 WpÜG spricht ferner der Hinweis in der Regierungsbegründung, dass der Vorstand der Zielgesellschaft mit der Stellungnahme zugleich seiner gesellschaftsrechtlichen Verpflichtung zur sachgerechten Wahrnehmung der in der Gesellschaft zusammentreffenden Interessen nachkomme, deren Träger neben den Aktionären die Arbeitnehmer und das Gemeinwohl seien.101 Aus der Bedeutung der Stellungnahme des Vorstands und des Aufsichtsrats für die Entscheidung der Aktionäre der Zielgesellschaft für die Annahme oder Ablehnung des Angebots lässt sich ein individualschützender Charakter des § 27 WpÜG ebenfalls nicht herleiten.102 Zwar ist der Vorstand aufgrund der ihm zugänglichen Informationen und des daraus folgenden Wissensvorsprungs im Hinblick auf die Lage der Zielgesellschaft zur Beurteilung des Angebots des Bieters besser imstande als insbesondere die außenstehenden Kleinaktionäre der Zielgesellschaft; die Aktionäre sind daher im Rahmen ihrer Entscheidungsfindung auf eine wahre und vollständige Information über alle wesentlichen Umstände des Angebots angewiesen, um über das Angebot entscheiden zu können (§ 3 Abs. 2 WpÜG). Aus der unbestreitbaren Bedeutung der Stellungnahme des Vorstands und des Aufsichtsrats der Zielgesellschaft für die Entscheidung der Aktionäre lässt sich aber nicht zwingend ableiten, dass § 27 WpÜG zumindest auch jeden einzelnen Aktionär zu schützen bestimmt ist. Die Anerkennung des § 27 WpÜG als Schutzgesetz im Sinne des § 823 Abs. 2 BGB würde außerdem (wie schon bei Annahme eines Auskunftsvertrags, einer Haftung nach den Grundsätzen der allgemeinen zivilrechtlichen Prospekthaftung bzw. der Konstruktion des Anstellungsvertrags als Vertrag mit Schutzwirkung für Dritte) zu dem merkwürdigen Ergebnis führen, dass Vorstand und Aufsichtsrat der Zielgesellschaft für eine fehlerhafte Stellungnahme schärfer haften würden als die für eine fehlerhafte Angebotsunterlage Verantwortlichen (§ 12 Abs. 1 WpÜG), da sich § 12 Abs. 2 und 3 WpÜG nicht ohne Weiteres (schon gar nicht im Wege einer Analogie) auf § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung

__________ 98 Begründung RegE BT-Drucks. 14/7034, S. 52. 99 So auch Harbarth (Fn. 31), § 27 WpÜG Rz. 143; Krause/Pötzsch (Fn. 37), § 27 WpÜG Rz. 150; Friedl, NZG 2004, 448, 450; Riehmer (Fn. 37), S. 349 Rz. 61. 100 Schwennicke (Fn. 30), § 27 WpÜG Rz. 54. 101 Begründung RegE BT-Drucks. 14/7034, S. 52. 102 A. A. Schwark (Fn. 50), § 27 WpÜG Rz. 34.

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mit § 27 WpÜG anwenden lässt.103 Außerdem wären die Verjährungsfristen unterschiedlich (§ 12 Abs. 4 WpÜG; §§ 195, 199 BGB). Es spricht deshalb alles dafür, dass die Stellungnahme der Zielgesellschaft ungeachtet ihrer großen Bedeutung für die Entscheidungsfindung der Aktionäre im Interesse der Allgemeinheit und der Anleger an einem geordneten Übernahmeverfahren vorgeschrieben ist, § 27 WpÜG keinen Individualschutz bezweckt und deshalb kein Schutzgesetz im Sinne des § 823 Abs. 2 BGB ist.104 i) § 826 BGB Eine Haftung des Vorstands bzw. des Aufsichtsrats für eine fehlerhafte Stellungnahme (§ 27 WpÜG) nach § 826 BGB setzt voraus, dass der Vorstand bzw. der Aufsichtsrat mit dem Vorsatz, die Aktionäre der Zielgesellschaft zu schädigen, sittenwidrig seine Stellungnahmepflicht verletzt hat.105 Für das Vorliegen der Sittenwidrigkeit lässt es die Rechtsprechung beispielsweise im Zusammenhang mit der Erteilung von Bestätigungsvermerken durch Wirtschaftsprüfer ausreichen, dass der Handelnde, der mit Rücksicht auf seine berufliche Sachkunde oder seine berufliche Stellung eine Vertrauensstellung einnimmt, bei der Erteilung des Bestätigungsvermerks in einem Maße Leichtfertigkeit an den Tag gelegt hat, dass sie als Gewissenlosigkeit zu werten ist.106 Das ist insbesondere dann der Fall, wenn sich der Prüfer bei seiner Prüfung leichtfertig und gewissenlos über erkennbare Bedenken hinweggesetzt hat.107 Daraus folgt für die hier in Rede stehenden Fälle: Der bewusste Verzicht auf eine unerlässliche eigene Prüfung der Angaben in der Angebotsunterlage kann das Tatbestandsmerkmal der Sittenwidrigkeit erfüllen.108 Deshalb reicht beispielsweise eine bloße Plausibilitätsprüfung der Angemessenheit der Art und der Höhe der angebotenen Gegenleistung (§ 27 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 WpÜG)

__________ 103 Harbarth (Fn. 31), § 27 WpÜG Rz. 146; a. A. Röh in Haarmann/Schüppen (Fn. 18), § 27 WpÜG Rz. 93; berichtend Brandi (Fn. 52), S. 202 Rz. 175. 104 Steinmeyer (Fn. 35), § 27 WpÜG Rz. 81; Schwennicke (Fn. 30), § 27 WpÜG Rz. 51; Harbarth (Fn. 31), § 27 WpÜG Rz. 143; Krause/Pötzsch (Fn. 37), § 27 WpÜG Rz. 150; Buck-Heeb (Fn. 2), S. 255; Wackerbarth (Fn. 50), § 27 WpÜG Rz. 16a; Drinkuth (Fn. 55), § 60 Rz. 170; Glade (Fn. 95), § 27 WpÜG Rz. 13 Fn. 47 („wohl zu weitgehend“); Friedl, NZG 2004, 448, 450; a. A. Lutter/Krieger (Fn. 50), Rz. 1022; Kubalek (Fn. 31), S. 169 m. w. N. 105 Nach Sinn und Zweck des § 826 BGB steht einer Anwendung dieser Bestimmung nicht entgegen, dass der Gesetzgeber im WpÜG keine Haftung des Vorstands bzw. Aufsichtsrats der Zielgesellschaft für eine fehlerhafte Stellungnahme statuiert hat. § 117 AktG entfaltet insoweit ebenfalls keine Sperrwirkung. Ebenso Krause/Pötzsch (Fn. 37), § 27 WpÜG Rz. 153. 106 Vgl. BGH, WM 2006, 423, 427; BGH, NJW 1987, 1758; OLG Celle, NZG 2000, 613, 615 mit Anm. Großfeld; OLG Düsseldorf, WPK Mitt. 1999, 258, 260 mit Anm. Ebke/Paal; OLG Düsseldorf, BB 1996, 2614, 2616; LG Hamburg, WM 1999, 139, 142 (in casu allerdings verneinend). 107 BGH, WM 1987, 257, 258; OLG Düsseldorf, BB 1996, 2614, 2616; OLG Karlsruhe, WM 1985, 940, 941. 108 OLG Köln, AG 1992, 89, 90; OLG Düsseldorf, BB 1996, 2614, 2616; Krämer (Fn. 50), S. 835.

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nach der Angebotsunterlage nicht aus.109 Wertungen müssen auf ausreichenden Tatsachengrundlagen erfolgen.110 Beurteilungen der voraussichtlichen Folgen eines erfolgreichen Angebots für die Zielgesellschaft, die Arbeitnehmer und ihre Vertretungen, die Beschäftigungsbedingungen und die Standorte der Zielgesellschaft (§ 27 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 WpÜG) müssen auf der Grundlage angemessener Information (vgl. § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG) erfolgen.111 Aus Sinn und Zweck der Stellungnahme des Vorstands bzw. des Aufsichtsrats und ihrer auch im Rahmen des § 27 WpÜG geltenden Informationsverantwortung nach §§ 93 Abs. 1 Satz 1 und 2, 116 Satz 1 AktG wird mit Recht gefolgert, dass „eine hinreichende Informationsbeschaffung unter Berücksichtigung der zur Verfügung stehenden Zeit eine Kernpflicht von Vorstand und Aufsichtsrat auch in Bezug auf § 27 WpÜG ist“.112 Dabei wird man dem Vorstand bzw. dem Aufsichtsrat allerdings das Recht zugestehen müssen, die Kosten der Informationsbeschaffung und den möglichen Nutzen gegeneinander abwägen zu dürfen; und man wird anerkennen müssen, dass man im Zusammenhang mit der Beurteilung der von dem Bieter mit dem Angebot verfolgten Ziele (§§ 27 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3, 11 Abs. 2 Satz 3 Nr. 2 WpÜG) auch leicht an Grenzen der Informationsbeschaffung geraten kann.113 Eine Pflicht zur Hinzuziehung von Beratern oder zur Einholung einer fairness opinion114 bzw. inadequacy opinion115 folgt nach herrschender und zutreffender Ansicht weder aus § 27 WpÜG noch aus §§ 93 Abs. 1 Satz 1, 116 Satz 1 AktG.116 Wenn der Vorstand bzw. der Aufsichtsrat aber – wie in der Praxis üblich117 – eine fairness opinion oder eine inadequacy opinion eines externen Beraters (z. B. Investment Bank, Corporate Finance-Berater oder Wirtschaftsprüfer) eingeholt hat, um eine hinreichend fundierte Stellungnahme nach § 27 WpÜG abgeben zu können, darf er die Angaben der externen Berater nicht ungeprüft übernehmen; andernfalls handelt er leichtfertig und gewissenlos im Sinne des § 826 BGB. Gleiches gilt, wenn der Vorstand bzw. Aufsichtsrat eine von einem externen Berater angefertigte Stellungnahme ohne jede eigene inhaltliche Überprüfung als seine Stellungnahme veröffentlicht oder die (abweichen-

__________ 109 Vgl. Kossmann, NZG 2011, 46, 48. 110 Krause/Pötzsch (Fn. 37), § 27 WpÜG Rz. 154. 111 Kossmann, NZG 2011, 46, 49 („bei nachträglicher Überprüfung als nachvollziehbar bzw. ‚vernünftig‘ anzusehen“). 112 Kossmann, NZG 2011, 46, 49. 113 S. dazu die Nachw. bei Kossmann, NZG 2011, 46, 49, Fn. 31. 114 Zu Einzelheiten der fairness opinion s. Fleischer, ZIP 2011, 201; Graser/Klüwer/ Nestler, BB 2010, 1587; Kossmann, NZG 2011, 46, 52–53. 115 Zu den Unterschieden zwischen einer fairness opinion und einer inadequacy opinion s. Seibt, CFL 2011, 213, 237. 116 OLG Düsseldorf, NZG 2004, 328, 332; OLG Frankfurt/M. v. 22.3.2007 – 12 U 77/06, juris.de (Rz. 47); ebenso Fleischer, ZIP 2011, 201, 206–207 (etwas Anderes gelte aber u. U. für den Aufsichtsrat); Kossmann, NZG 2011, 46, 51 m. w. N.; Seibt, CFL 2011, 213, 236; Röh in Haarmann/Schüppen (Fn. 18), § 27 WpÜG Rz. 53. 117 S. dazu die statistischen Angaben von Fleischer, ZIP 2011, 201, 201–202; Seibt, CFL 2011, 213, 237.

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den) Ergebnisse der Analyse des externen Beraters in seiner Stellungnahme nicht mitteilt.118 Leichtfertigkeit ist auch zu bejahen, wenn der Vorstand bzw. Aufsichtsrat im Zusammenhang mit der Stellungnahme zu der Höhe der angebotenen Gegenleistung (§ 27 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 WpÜG) bei der Wertermittlung keine der anerkannten Bewertungsmethoden zugrunde legt119 oder bei der Anteilsbewertung den Börsenpreis vollkommen außer Acht lässt.120 Da die im Ertragswertbzw. dem Discounted Cashflow-Verfahren, aber auch nach anderen Bewertungsmethoden ermittelten Werte einen Näherungswert mit einer gewissen Bandbreite darstellen,121 ist es als leichtfertig anzusehen, wenn eine Stellungnahme nach § 27 WpÜG nicht auf die zwangsläufigen Wertbandbreiten hinweist.122 Ist die Ermittlung des Anteilswertes nach der Ertragswertmethode bzw. dem Discounted Cashflow-Verfahren (wie häufig aus zeitlichen Gründen) nicht möglich, sind die tatsächlich zugrunde gelegten Bewertungsmethoden und Annahmen offen zu legen. Es kann auch leichtfertig sein, auf den opinion letter, das valuation memorandum bzw. das factual memorandum eines externen Beraters zu vertrauen oder hinzuweisen, von dessen Sachkunde und Unabhängigkeit sich Vorstand bzw. Aufsichtsrat nicht ausreichend überzeugt hat.123 Gleiches gilt, wenn die fairness bzw. inadequacy opinion allgemein anerkannten Grundsätzen über die Erteilung solcher opinions offensichtlich nicht entspricht124 oder die Beurteilung nicht Stichtag bezogen ist (maßgeblich ist der Tag der Abgabe der Stellungnahme).125 Sittenwidrigkeit kann ferner in den oben126 bereits angesprochenen Fällen des eigennützigen Verhaltens von Vorstand bzw. Aufsichtsrat vorliegen.127

__________ 118 Vgl. OLG Frankfurt/M. v. 22.3.2007 – 12 U 77/06, juris.de (Rz. 51). 119 Eine bestimmte Bewertungsmethode schreibt das Gesetz nicht vor. Anerkannt sind die Ertragswertmethode sowie die Discounted Cashflow-Methode (vgl. dazu den rechtlich zwar nicht verbindlichen, in die Bewertungspraxis aber tief hinein wirkenden IDW Standard: Grundsätze zur Durchführung von Unternehmensbewertungen [IDW S 1]); zur Anwendung kommen aber auch andere kapitalmarktorientierte Bewertungsverfahren (z. B. multiplikatorgestützte Vergleichsverfahren): Kossmann, NZG 2011, 46, 50 (m. w. N. in Fn. 40). Zu Einzelheiten der Bewertungsmethoden s. Großfeld, Recht der Unternehmensbewertung, 6. Aufl. 2011, S. 279 ff. und 285 ff. 120 S. dazu BVerfGE 100, 289 (DAT/Altana); zu der Entwicklung der Rechtsprechung bis zu dieser Entscheidung des BVerfG s. Adolff (Fn. 12), S. 306–324. 121 DIS-Schiedsspruch v. 4.11.2005 – DIS-SV-B-710/97 (Ebke), SchiedsVZ 2007, 219, 221; OLG Stuttgart, AG 2004, 43, 45. 122 Vgl. OLG Frankfurt/M. v. 22.3.2007 – 12 U 77/06, juris.de (Rz. 51). 123 Die Haftung des externen Beraters richtet sich nach den allgemeinen Regeln. 124 IDW Standard: Grundsätze für die Erstellung von Fairness Opinions (IDW S 8), FN-IDW 3/2011, 151. Zu der Rechtsnatur von IDW-Standards s. Ebke (Fn. 43), § 323 HGB Rz. 32. 125 Zu ähnlichen Fragen im Zusammenhang mit comfort letters bei einem IPO s. Ebke/Siegel, Comfort Letters, Börsengänge und Haftung: Überlegungen aus Sicht des deutschen und US-amerikanischen Rechts, WM Sonderbeilage 2/2001, 1, 5. 126 S. oben bei Fn. 75 und Fn. 81. 127 Kubalek (Fn. 31), S. 172 („in jedem Fall“).

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§ 826 BGB setzt seitens des Vorstands bzw. Aufsichtsrats subjektiv Vorsatz voraus. Zum Vorsatz gehört auch, dass der Vorstand bzw. der Aufsichtsrat die „Art und Richtung der Schadensfolgen“ vorausgesehen und jedenfalls billigend in Kauf genommen hat.128 Nach der Rechtsprechung genügt bedingter Vorsatz (dolus eventualis);129 Fahrlässigkeit, selbst grobe Fahrlässigkeit, reicht für Zwecke des § 826 BGB dagegen nicht aus.130 Allerdings gibt es in der Rechtsprechung zu § 826 BGB auch zahlreiche Beispiele für ein besonders „leichtfüßiges“ Überspringen der Vorsatzhürde des § 826 BGB.131 Nach alledem ist § 826 BGB zwar theoretisch die vorrangige gesetzliche Grundlage für die Haftung von Vorstand und Aufsichtsrat für eine fehlerhafte Stellungnahme im Sinne von § 27 WpÜG; in der Praxis ist eine auf § 826 BGB gestützte Klage aber kaum Erfolg versprechend, zumal die Kausalitätsvermutung und Beweiserleichterungen nach § 12 Abs. 2 und 3 WpÜG auf § 826 BGB nicht (auch nicht analog) erstreckt werden können.

III. Europarechtskonforme Regelung de lege ferenda Die vorstehenden Ausführungen zu den in Betracht kommenden Anspruchsgrundlagen zeigen, dass der deutsche Gesetzgeber die Möglichkeit, die kapitalmarktrechtliche Informations- und Transparenzregel des § 27 WpÜG zugunsten des Kapitalmarkts sowie der Aktionäre der Zielgesellschaft mit Hilfe des Privatrechts durchzusetzen, bislang nur unvollkommen genutzt hat.132 Die Rechtsunsicherheit ist groß, zumal die deutschen Gerichte noch keine Gelegenheit hatten, zu der Haftung von Vorstand oder Aufsichtsrat für fehlerhafte Stellungnahmen im Sinne von § 27 WpÜG Stellung zu nehmen. Dieser Befund hat die Wissenschaft veranlasst, nach Ansätzen und Lösungsmöglichkeiten für solche Fälle zu suchen, in denen die Stellungnahme nach § 27 WpÜG aufgrund von unrichtigen oder unvollständigen Angaben in wesentlichen Punkten ihre gesetzliche Aufgabe nicht erfüllt, nämlich „zur Überbrückung der Informationsasymmetrie zwischen den Aktionären und der Verwaltung der Zielgesellschaft bei[zu]tragen und sicher[zu]stellen, dass die Aktionäre der Zielgesellschaft im Übernahmefall mit ausreichenden Informationen versorgt werden, um in Kenntnis der besonderen Sachlage über die Annahme des Angebots des Bieters entscheiden zu können“.133 Auch wenn man die Verhalten steuernden Wirkungen, die einer zivilrechtlichen Schadensersatzpflicht zugesprochen

__________ 128 Ebke (Fn. 43), § 323 HGB Rz. 107. 129 Krämer (Fn. 50), S. 836–837 (dort auch zu dem ersatzfähigen Schaden); BGH, NJW 1986, 181; OLG Düsseldorf, WPK Mitt. 2003, 266, 267; LG Hamburg, WM 1999, 139, 142; LG Frankfurt/M., BB 1997, 1682, 1684. 130 LG Hamburg, WM 1999, 139, 142. 131 Ebke (Fn. 43), § 323 HGB Rz. 107 m. w. N. 132 Zu den Vorteilen der Durchsetzung marktbezogener Normen mittels Privatrechts s. Poelzig (Fn. 6), S. 568 ff. Zu der privat(rechtlich)en Normdurchsetzung im internationalen Kontext s. Poelzig, ZVglRWiss 110 (2011), 395. 133 E. Vetter (Fn. 23), S. 2660.

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werden,134 nicht überschätzen darf,135 erscheint eine haftungsrechtlich maßvoll bewehrte Pflicht zur Stellungnahme nach § 27 WpÜG kapitalmarktrechtlich wirkungsvoller zu sein als die de lege lata zivilrechtlich praktisch sanktionslose Verpflichtung,136 deren Durchsetzung heute ausschließlich der BaFin obliegt (§§ 4, 61 WpÜG, § 47 Abs. 1 Satz 1 OWiG). Die Achtung vor der gesetzgeberischen Entscheidung, keine ausdrückliche kapitalmarktrechtliche Haftung von Vorstand und Aufsichtsrat der Zielgesellschaft für fehlerhafte Stellungnahmen vorzusehen, gebietet es indes, diese nicht durch Rückgriff auf allgemeine Rechtsgrundsätze oder schillernde Rechtsfiguren zu unterlaufen.137 Die Enthaltung des Gesetzgebers hindert die Wissenschaft aber nicht daran, dem Gesetzgeber die Schaffung einer ausdrücklichen, Rechtssicherheit vermittelnden Haftungsregelung zu empfehlen. Das gilt umso mehr, als Art. 17 Satz 2 der Übernahmerichtlinie138 die EU-Mitgliedstaaten verpflichtet, Sanktionen für die Verletzung einzelstaatlicher Vorschriften zur Umsetzung der Richtlinie festzulegen, die „wirksam, verhältnismäßig und abschreckend“ sein müssen. Diesen europarechtlichen Vorgaben genügt die derzeitige Regelung der Sanktionierung von Verstößen gegen die Stellungnahmepflicht nach § 27 WpÜG nicht. Denn sie setzt praktisch ausschließlich auf aufsichtsrechtliche Maßnahmen und ordnungswidrigkeitsrechtliche Verfolgung durch die BaFin (§§ 4, 61 WpÜG, § 47 Abs. 1 Satz 1 OWiG) und verweist die betroffenen Aktionäre der Zielgesellschaft auf eine bloße Mitteilung an die BaFin.139 Nach der Rechtsprechung des EuGH muss der Mitgliedstaat, dem die Wahl der Sanktion verbleibt, „namentlich darauf achten, daß Verstöße gegen das Gemeinschaftsrecht nach ähnlichen sachlichen und verfahrensrechtlichen Regelungen geahndet werden wie nach Art und Schwere gleichartige Verstöße gegen nationales Recht, wobei die Sanktion jedenfalls wirksam, verhältnismäßig und abschreckend sein muss“.140 So wie die Stellungnahme nach § 27 WpÜG das „informatorische Gegenstück“141 zu der Angebotsunterlage des Bieters (§ 11 WpÜG) ist, so braucht § 12 WpÜG auf Seiten der Zielgesellschaft ein „haftungsrechtliches Gegenstück“. Die vom Gesetzgeber zu schaffende Norm sollte sich bezüglich

__________ 134 S. dazu Wagner, AcP 206 (2006), 352; Schäfer, AcP 202 (2002), 397. 135 Ebke in Ebke/Seagon/Blatz (Hrsg.), Internationale Finanzmarktkrise – Erfahrungen, Lehren, Handlungsbedarf, 2012, S. 127, 141; Ebke, In Search of Alternatives: Comparative Reflections on Corporate Governance and the Independent Auditor’s Responsibilities, 79 Nw. U. L. Rev. 663, 682 (1984). 136 Vgl. Fleischer, ZIP 2011, 201, 210 („Theoretisch denkbar, aber praktisch wohl nur in Ausnahmefällen erfolgversprechend sind weiterhin zivilrechtliche Schadensersatzansprüche der Anleger gegen Vorstands- und Aufsichtsratsmitglieder“). 137 Zu der Rolle der Gerichte unter dem Gesichtspunkt der „Staatsleitung zur gesamten Hand“ s. Ebke/Fehrenbacher in FS Karlmann Geiss, 2000, S. 571, 592. 138 S. oben Fn. 16. 139 S. oben bei Fn. 29. 140 Grundlegend EuGH v. 21.9.1989 – Rs. C-68/88 (Kommission ./. Griechenland), Slg. 1989, 2965. Die Höhe der Geldbuße gemäß § 60 Abs. 3 WpÜG dürfte europarechtlich nicht zu beanstanden sein; vgl. (zu § 335 HGB a. F.) EuGH v. 29.9.1998 – Rs. C-191/95 (Kommission ./. Deutschland), Slg. 1998, I-5449; EuGH v. 4.12.1997 – Rs. C-97/96 (Daihatsu ./. Deutschland), Slg. 1997, I-6843. 141 E. Vetter (Fn. 23), S. 2676.

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Die Haftung für fehlerhafte Stellungnahmen nach § 27 WpÜG

der Haftungsvoraussetzungen, des Haftungsmaßstabes, der Beweiserleichterungen, Kausalitätsvermutungen und der Verjährung spiegelbildlich an § 12 WpÜG orientieren. Eine solche Regelung wäre maßvoll und ausgewogen. Hinsichtlich der haftungsrechtlichen (insbesondere subjektiven) Untergrenzen würde sie sich in die derzeit geltende kapitalmarktrechtliche Haftungskonzeption des § 12 WpÜG, aber auch der kürzlich revidierten gesetzlichen Prospekthaftung (§§ 21–25 WpPG)142 nahtlos einfügen, ohne den Rückgriff auf weiter gehende bürgerlichrechtliche Schadensersatzansprüche aufgrund von Verträgen (z. B. eines ausdrücklichen Auskunftsvertrags) oder vorsätzlichen unerlaubten Handlungen zu versperren (vgl. § 12 Abs. 6 WpÜG). Sie wäre wegen der Nichtversicherbarkeit vorsätzlichen Verhaltens und wegen des Selbstbehalts (§ 93 Abs. 2 Satz 3 AktG) in anderen Fällen auch geeignet, Verhalten zu steuern, und wäre daher durchaus abschreckend.143 Aufgrund der Beweislastregelung und der Kausalitätsvermutung (vgl. § 12 Abs. 2 und 3 WpÜG) wäre sie prozessual gut durchsetzbar. Eine solche Regel würde ferner bei Schädigungen infolge fehlerhafter Stellungnahmen im Sinne von § 27 WpÜG für Rechtssicherheit sorgen. Sie nähme den Gerichten überdies die Last ab, für solche Fälle u. U. contra legem Ergebnis orientiert „innovative“ Lösungen „kreieren“ zu müssen. Die Kodifizierung einer solchen spiegelbildlichen Haftungsregelung würde außerdem den Staat (namentlich die BaFin, §§ 4, 61 WpÜG, § 36 Abs. 1 Satz 1 OWiG) bei der Durchsetzung der kapitalmarktrechtlichen Pflicht von Vorstand und Aufsichtsrat der Zielgesellschaft zur Stellungnahme entlasten (Stichwort: Prävention mittels privatrechtlicher Sanktionsdrohung) und das Vertrauen der Allgemeinheit in die Geltungskraft des Gemeinschaftsrechts stärken. Eine solche Haftungsregel könnte sich auch rechtsvergleichend zum Beispiel mit Belgien und den USA sehen lassen.144 Last but not least: Eine solche Haftungsregelung würde einen – kleinen, aber keineswegs unbedeutenden – Beitrag zur Steigerung der Effizienz des market for corporate control leisten und damit die Unternehmens(leiter)kontrolle stärken.145

__________ 142 S. dazu Lorenz/Schönemann/Wolf, CFL 2011, 346. 143 Zu den Auswirkungen des Bestehens eines Versicherungsschutzes auf die Verhaltenssteuerung s. Ebke (Fn. 135), 79 Nw. U. L. Rev. 669, 682–684 (1984). 144 S. oben Fn. 36. 145 Ebke, ZVglRWiss 111 (2012), 1, 19–20.

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Horst Eidenmüller und Jan Lasák

Das tschechische Societas Europaea-Rätsel* Inhaltsübersicht I. Einführung II. Methodik III. Empirische Erkenntnisse

IV. Finanzierungsmodell V. Vorratsgesellschaften VI. Fazit

I. Einführung Nach einem eher verhaltenen Start hat sich die Societas Europaea (SE) zu einer populären Rechtsform für europäische Unternehmen entwickelt. Bis zum 3.10.2011 wurden 937 SEs gegründet.1 Eindeutiger Marktführer für SE-Gründungen ist die Tschechische Republik: 529 SEs, d. h. annähernd 56 % aller existierenden SEs, wurden in der Tschechischen Republik errichtet, gefolgt von 180 in Deutschland. Von den 529 in der Tschechischen Republik gegründeten SEs betreibt nur eine sehr kleine Minderheit operative Geschäfte (in bedeutsamem Maße): Laut einer Studie des Europäischen Gewerkschaftsinstituts sind 115 dieser SEs Vorratsgesellschaften und 375 UFO-Gesellschaften. Letztere beschreibt das Institut wie folgt: Eine UFO-SE sei wahrscheinlich operativ tätig. Obwohl es gewisse Informationen aus dem Handelsregister und/oder der Beilage zum Amtsblatt gebe, seien keine Informationen über die Anzahl der Mitarbeiter verfügbar.2 Die enorme Popularität der SE in der Tschechischen Republik insgesamt und die Tatsache, dass es sich bei der überwältigenden Mehrheit der tschechischen SEs um Vorrats- oder UFO-Gesellschaften handelt, geben Rätsel auf. Im Jahr 2010 betrug das BIP der Tschechischen Republik 145.049 Mio. Euro3, womit das Land unter den 27 Mitgliedstaaten der EU den 16. Platz einnimmt und ein etwa 17 Mal kleineres BIP aufweist als Deutschland, Europas größte Volkswirtschaft (2.498.800 Mio. Euro). Warum erfreut sich eine Gesellschaftsform, die hauptsächlich dafür gedacht war, von großen Publikumsgesellschaften mit erheblichen grenzüberschreitenden Aktivitäten genutzt zu werden, solch großer Beliebtheit in einem Land mit einer – relativ gesehen – so kleinen Volks-

__________ * Für exzellente Forschungsunterstützung danken wir Frau Wiss. Mitarb. Susanne Häusler. 1 Die Daten stammen aus Untersuchungen des Europäischen Gewerkschaftsinstituts, s. http://ecdb.worker-participation.eu/show_overview.php?letter=A&orderField=se_name &status_id=3&title=Established%20SEs (zuletzt besucht am 3.10.2011). 2 S. http://ecdb.worker-participation.eu/lexicon.php (zuletzt besucht am 3.10.2011). 3 S. http://en.wikipedia.org/wiki/Economy_of_the_European_Union (zuletzt besucht am 3.10.2011).

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Horst Eidenmüller und Jan Lasák

wirtschaft? Und warum sind die meisten tschechischen SEs entweder Vorratsgesellschaften oder Gesellschaften mit einem UFO-Status im oben beschriebenen Sinne? Frühere empirische Studien haben diesbezüglich bereits etwas Licht ins Dunkel gebracht, die hier gestellten Fragen aber nicht endgültig beantwortet. Mithilfe eines von Hand zusammengetragenen Datensatzes zu SE-Gesellschaften haben Eidenmüller et al. die Motive von SE-Nutzern in Deutschland via Telefonumfrage und einem einfachen Regressionsmodell auf Länderebene untersucht.4 Sie haben überzeugende Belege dafür gefunden, dass Unternehmen die Rechtsform der SE nutzen, um die Effekte der obligatorischen Mitbestimmung auf der Geschäftsleitungsebene abzuschwächen. Die Einführung eines monistischen Systems (in Ländern, die ihren nationalen Publikumsgesellschaften ein dualistisches System vorschreiben) und der steuerlich relevante Mobilitätsvorteil der SE scheinen SE-Gründungen ebenfalls zu fördern. Jedoch haben Eidenmüller et al. weder tschechische SE-Nutzer befragt noch sich speziell mit dem Thema der Vorratsgesellschaften befasst. In einem Bericht für die Europäische Kommission haben Ernst & Young ebenfalls eine empirische Untersuchung über Funktionsweise und Auswirkungen des Statuts für die Europäische Gesellschaft (SE) durchgeführt.5 Insgesamt kamen sie zu dem Schluss, dass es selten nur ein einziges Motiv für die Errichtung einer SE gebe. Vielmehr resultiere die Gründung einer SE aus einem Business Case, der aus einer Mehrzahl von zusammenhängenden Gründen bestehe.6 Dennoch bezeichnet der Bericht, insbesondere im Hinblick auf die Tschechische Republik, Corporate Governance-Gründe als Hauptursache für SE-Gründungen: Die Größe des Leitungsorgans sowie des Aufsichtsorgans kann auf ein Minimum von jeweils einem Mitglied reduziert werden, und man kann ein monistisches System wählen – beide Optionen sind für tschechische Publikumsgesellschaften nicht verfügbar.7 Das europäische Image der SE und steuerliche Überlegungen scheinen ebenfalls eine Rolle zu spielen.8 Allerdings steht die empirische Grundlage für diese Schlussfolgerungen auf etwas wackeligen Füßen. Die Verfasser haben zwar einen Online-Fragebogen an bestehende

__________

4 S. Eidenmüller/Engert/Hornuf, Incorporating Under European Law: The Societas Europaea as a Vehicle for Legal Arbitrage, EBOR 10 (2009), 1–33. 5 S. Ernst & Young, Study on the operation and the impacts of the Statute for a European Company (SE), 2008/S 144-183482, 9.12.2009. 6 S. Ernst & Young (Fn. 5), S. 208; EU-Kommission, Bericht der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat über die Anwendung der Verordnung (EG) Nr. 2157/2001 v. 8.10.2001 über das Statut der Europäischen Gesellschaft (SE), KOM (2010) 676 endg. v. 17.11.2010, S. 3. 7 Nach tschechischem Recht müssen Gesellschaften dem dualistischen System folgen. Zudem müssen sowohl Leitungs- als auch Aufsichtsorgan jeweils aus mindestens drei Mitgliedern bestehen. Allerdings sieht das tschechische Recht eine Ausnahme für Gesellschaften mit nur einem einzigen Gesellschafter vor, bei denen es zulässig ist, dass ihr Leitungsorgan aus nur einem Mitglied besteht. S. § 194 Abs. 3 des Gesetzes Nr. 513/1991 Coll., Handelsgesetzbuch in seiner aktuellen Fassung (das „Tschechische Handelsgesetzbuch“). Für das Aufsichtsorgan bleibt das Erfordernis von drei Mitgliedern jedoch bestehen. 8 S. Ernst & Young (Fn. 5), S. 82, 87, 129–131, 210–211, 228, 236–238.

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Das tschechische Societas Europaea-Rätsel

SEs geschickt und 60 Interviews in ganz Europa durchgeführt,9 aber nur ein sehr kleiner Teil (offenbar weniger als eine Handvoll) dieser Interviews fand mit Personen in der Tschechischen Republik statt, und es bleibt unklar, wie viele (tschechische) Gesellschaften auf den Fragebogen geantwortet haben. Zudem konnten die Verfasser des Berichts keine Informationen von Vorratsgesellschaften einholen.10 Daher muss das tschechische Societas EuropaeaRätsel weiterhin als ungelöst bezeichnet werden. Die Verfasser dieser Studie haben daher einen erneuten Versuch unternommen, die Beweggründe einer Entscheidung für die Gründung einer SE in der Tschechischen Republik besser nachzuvollziehen. Anhand der vom tschechischen nationalen Handelsregister über alle 220 am 1.6.2010 bestehenden SEs verfügbaren Informationen haben wir von September bis November 2010 insgesamt 88 (Telefon-)Interviews mit SE-Nutzern durchgeführt. Diese Zahl repräsentiert 40 % aller SEs, die bis zum Zeitpunkt der Umfrage nach tschechischem Recht gegründet worden waren, und – wenn man die inaktiven (Vorrats-)Gesellschaften außer Acht lässt – sogar ungefähr 49 % der tschechischen SEs insgesamt.11 Infolgedessen konnten wir mit dem unseres Wissens umfassendsten Datensatz zu den Motiven tschechischer SE-Nutzer arbeiten, der bislang verfügbar ist. Die zentralen Erkenntnisse aus unserer Umfrage deuten darauf hin, dass tschechische SEs von Unternehmern hauptsächlich aufgrund des Angebots einer vereinfachten internen Corporate Governance-Struktur gegründet werden. Dies betrifft nicht notwendig die Verfügbarkeit des monistischen Systems, sondern vielmehr die Möglichkeit, die Anzahl der Geschäftsleitungsmitglieder zu reduzieren. Andere wichtige Faktoren sind das Image der SE (Markenmanagement) und die Unternehmensmobilität (die Möglichkeit, den Sitz des Unternehmens in einen anderen Mitgliedstaat zu verlegen). Hinzu kommt, dass SEs in der Tschechischen Republik in den meisten Fällen von professionellen Dienstleistern errichtet werden, die ihren Kunden beim Kauf der Gesellschaft ein sehr vorteilhaftes „Finanzierungsmodell“ anbieten, so dass das vergleichsweise hohe Mindestkapital von 120.000 Euro auch für Start-up-Unternehmen keine abschreckende Hürde darstellt. Im Gegensatz zu den ultimati-

__________ 9 S. Ernst & Young (Fn. 5), S. 209. 10 S. Ernst & Young (Fn. 5), S. 22. 11 Von den 220 SEs, die am 1.6.2010 existierten, waren 41 unseres Wissens Vorratsgesellschaften. Für die Zwecke dieses Beitrags verstehen wir unter einer Vorratsgesellschaft eine SE, die weder operative Geschäfte betreibt noch Mitarbeiter beschäftigt. Vgl. EU-Kommission, Commission Staff Working Document: Accompanying Document to the Report from the Commission to the European Parliament and the Council on the Application of Council Regulation 2157/2001 of 8 October 2001 on the Statute for a European Company (SE), SEC (2010) 1391 final v. 17.11.2010, S. 2, wo Vorrats-SEs definiert werden als SEs ohne Aktivitäten oder Mitarbeiter, die in der Regel von professionellen Anbietern errichtet werden zum Zweck des Verkaufs an interessierte Gründer. Ein deutliches Anzeichen dafür, dass eine tschechische SE eine (inaktive) Vorrats-SE ist, liegt darin, dass der einzige Gesellschafter einer solchen Gesellschaft die Muttergesellschaft eines professionellen Anbieters ist, der SEs zum Verkauf anbietet.

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Horst Eidenmüller und Jan Lasák

ven Nutzern einer SE haben diese Dienstleister bzw. die Anbieter von Vorratsgesellschaften offenkundig ein anderes Motiv, nämlich den gewinnbringenden Verkauf einer gegründeten SE. Allerdings scheinen sie die aktuelle Nachfrage des Marktes nach SEs weit zu überschätzen. Insgesamt bestätigt unsere Studie empirisch, dass die SE unter operativ agierenden Unternehmen in der Tschechischen Republik vor allem deshalb beliebt ist, weil sie im Hinblick auf die Geschäftsleitung größere Flexibilität bietet. Die Abschwächung der obligatorischen Mitbestimmung scheint hingegen keine bedeutende Rolle zu spielen.

II. Methodik In diesem Abschnitt skizzieren wir kurz die Methodik, die wir verwendet haben, um herauszufinden, welche Beweggründe zu der überraschend hohen Zahl an SE-Gründungen in der Tschechischen Republik geführt haben könnten. Wir sind in zwei Schritten vorgegangen: Zuerst haben wir die beim tschechischen nationalen Handelsregister verfügbaren, einschlägigen Informationen eingeholt. Dort muss jede tschechische SE eingetragen sein, um existieren zu können. Zum 1.6.2010 waren in der Tschechischen Republik 220 SEs registriert. Aus dem Handelsregister konnten wir Daten zusammentragen wie die Corporate Governance-Struktur von tschechischen SEs (monistisch oder dualistisch), die Anzahl der Geschäftsleitungsmitglieder, die Höhe des gezeichneten Kapitals und den Modus der Errichtung. Wie wir später festgestellt haben, ist insbesondere die Wahlmöglichkeit zwischen monistischem und dualistischem Geschäftsleitungssystem für uns von großem Interesse, da viele Unternehmen angaben, dass die Vereinfachung der internen Unternehmensstruktur eines der Hauptmotive für die Gründung einer SE gewesen sei. Als Zweites haben wir eine strukturierte Telefonumfrage unter tschechischen SE-Nutzern durchgeführt, um die wichtigsten Motive zu ermitteln, welche sie zur Wahl dieser Gesellschaftsform anstatt beispielsweise einer tschechischen Aktiengesellschaft oder einer tschechischen Gesellschaft mit beschränkter Haftung veranlasst haben. Anschließend haben wir die Antworten mit den Daten abgeglichen, die wir vom Handelsregister erhalten hatten. Obwohl eine Telefonumfrage im Vergleich zur Versendung schriftlicher Umfragebögen die zeitaufwendigere Methode darstellt, konnten wir dadurch die Beteiligungsquote erhöhen. Da wir jedoch nicht für alle tschechischen SEs telefonische Kontaktdaten ermitteln konnten und einige während unserer Studie auf diesem Wege nicht erreichbar waren, haben wir diese Gesellschaften auch per E-Mail und/oder auf dem Postweg kontaktiert. Der Datensatz besteht daher aus Antworten, die wir sowohl durch die Telefonumfrage als auch per E-Mail/ Post erlangt haben. Hinsichtlich der übrigen Gesellschaften waren entweder keine Kontakte verfügbar, die kontaktierten Personen gaben an, nicht teilnehmen zu wollen, oder die Gesellschaften waren Vorratsgesellschaften, die auf mehrsprachigen Websites von verschiedenen professionellen Dienstleistern angeboten wurden. Fast alle dieser 41 Vorratsgesellschaften wurden im Verlauf unserer Studie ver190

Das tschechische Societas Europaea-Rätsel

kauft.12 Die professionellen Verkäufer der tschechischen Vorrats-SEs haben wir zwar ebenfalls kontaktiert und um ihre Kooperation gebeten, ihre Motive haben wir jedoch nicht untersucht. Diese sind offenkundig: Gründung und gewinnbringender Verkauf. Auch wenn uns die Verkäufer nützliche Informationen über die Anreize ihrer Kunden lieferten und wir durch sie insbesondere auch auf das in der Tschechischen Republik weit verbreitete „Finanzierungsmodell“ beim Kauf von SEs stießen, haben wir die Kunden lieber direkt über ihre Motive für den Kauf einer SE befragt. Um konsistente Antworten zu erlangen, wurde ein strukturierter Fragebogen erarbeitet und während jeder Befragung ausgefüllt. Alle Befragten bekleideten hochrangige Positionen in ihren Unternehmen. In vielen Fällen haben wir mit den Vorstandsvorsitzenden der Unternehmen oder solchen Personen gesprochen, die unmittelbar am SE-Errichtungsprozess beteiligt waren. In jeder Befragung haben wir uns bei der befragten Person nach den Beweggründen für die Errichtung einer SE, sei es durch Gründung oder durch Kauf der Gesellschaftsform von einem der professionellen Dienstleister, erkundigt. Wir haben die Nutzer tschechischer SEs gefragt, ob die folgenden sechs Themen bzw. Gesichtspunkte eine Rolle gespielt haben: (i) Verlegung des Satzungssitzes, (ii) das spezielle Image der SE auf dem Markt (Markenmanagement), (iii) die Möglichkeit, eine grenzüberschreitende Verschmelzung durchzuführen, (iv) Vereinfachung der internen Unternehmensstruktur, (v) Mitbestimmung der Arbeitnehmer, (vi) regulatorische Gründe. Neben diesem Themenspektrum sollten die Befragten angeben, ob irgendwelche anderen Beweggründe bei ihrer Entscheidung, ihre Geschäfte in der SE-Gesellschaftsform zu führen, relevant wurden. Wir sind davon ausgegangen, dass bei dem Prozess, die SE-Gesellschaftsform auszuwählen, in den meisten Fällen mehr als ein Motiv eine gewisse Rolle gespielt hat. Zudem hatten manche Motive im jeweiligen Einzelfall wahrscheinlich mehr Gewicht als andere. Dementsprechend haben wir die Befragten gebeten, jeder Antwort einen Wert von 0 (unwichtig) bis 5 (besonders wichtig) zuzuordnen, weil wir davon ausgingen, dass solch eine Gewichtung ein zutreffenderes Bild der wesentlichen Motive für SE-Gründungen in der Tschechischen Republik liefern würde. Nehmen wir zum Beispiel eine hypothetische Situation, in der eines der Motive, z. B. regulatorische Gründe, in jedem Fall vorliegt, aber jeder SE-Nutzer hat den regulatorischen Gründen lediglich einen Wert von 1 zugeordnet. In solch einem Szenario sind die regulatorischen Gründe, obwohl sie die SE-Gründungen mit determiniert haben, wahrscheinlich nicht die wichtigste Variable, welche die tschechischen Gründer tatsächlich überzeugt hat, die SE-Gesellschaftsform auszuwählen. Daher haben wir nicht nur die Anzahl der Nennungen des jeweiligen Motivs gemessen, sondern auch das Gewicht der jeweiligen Variable im Verhältnis zu den anderen Beweggründen.

__________ 12 Unseres Wissens wurden 40 der 41 Vorratsgesellschaften während unserer Recherchen verkauft.

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Alle Befragungen wurden in einem engen Zeitfenster von drei Monaten zwischen September und November 2010 durchgeführt, da wir eine etwaige Beeinflussung der Ergebnisse durch periodisch bedingte Veränderungen so gering wie möglich halten wollten. Insgesamt haben wir 88 (Telefon-)Befragungen durchgeführt. Diese Zahl repräsentiert 40 % aller SEs, die bis zum Zeitpunkt der Umfrage nach tschechischem Recht gegründet worden waren, und – wenn man die inaktiven (Vorrats-)Gesellschaften außer Acht lässt – sogar ungefähr 49 % der tschechischen SEs. Dadurch haben wir von den tschechischen SENutzern umfassende Informationen aus erster Hand erhalten, zu denen es zuvor keinen systematisierten Datensatz gegeben hatte. Im Hinblick hierauf sind wir uns selbstverständlich im Klaren darüber, dass manche Befragten trotz unserer Zusicherung von Anonymität falsche Angaben gemacht haben könnten. Wenngleich wir die Möglichkeit solcher Falschangaben, die in jeder Umfrage dieser Art vorkommen können, zugestehen, bleibt der sich aus der Umfrage ergebende Datensatz im Hinblick auf die Gründe tschechischer SE-Nutzer für die Wahl dieser und keiner anderen Gesellschaftsform unseres Wissens der vollständigste seiner Art.

III. Empirische Erkenntnisse Dieser Abschnitt präsentiert unsere Erkenntnisse und ist wie folgt aufgebaut: Zunächst stellen wir eine Tabelle auf, welche die Anzahl der Fälle (aus 88) enthält, in denen die jeweilige Variable eine Rolle gespielt hat, und zwar unabhängig vom Grad ihres Gewichts im jeweiligen Fall. Da diese Tabelle jedoch nicht das Gewicht (die Relevanz) der Schlüsselvariablen widerspiegelt, berücksichtigen die folgenden Tabellen auch das Gewicht, das die Befragten jedem Motiv zugeordnet haben. Motiv Image der SE

Nennungen (N = 88) 82

Vereinfachung der Unternehmensstruktur

76

Unternehmensmobilität

70

Regulatorischer Grund

57

Grenzüberschreitende Verschmelzung

52

Mitbestimmung der Arbeitnehmer

25

Tabelle: Umfrageergebnisse 1 – Motive für die Errichtung einer SE.

Von den angegebenen Motiven, die hinter der relativen Beliebtheit der SEGesellschaftsform in der Tschechischen Republik stehen, sind zwei besonders hervorzuheben: das Image der SE (Markenmanagement) und die Vereinfachung der internen Unternehmensstruktur. Unsere Befragten benannten das Image der SE-Gesellschaftsform als einen Beweggrund bei 82 von 88 Gesellschaften und die Vereinfachung der internen Unternehmensstruktur als ein Motiv in 76 von 88 Fällen. Frühere empirische Untersuchungen zur Popularität der SE hat192

Das tschechische Societas Europaea-Rätsel

ten zu dem etwas perplexen Ergebnis geführt, dass zwar insbesondere in osteuropäischen Ländern die mit der SE in Verbindung gebrachte Rechtssicherheit die Attraktivität der SE im Vergleich zu inländischen Rechtsformen erhöhe, dies für die Tschechische Republik jedoch gerade nicht gelte.13 Nun hat sich herausgestellt, dass diese Einschätzung eindeutig falsch ist. Das europäische Image der SE ist eines der wichtigsten Motive für SE-Gründungen in der Tschechischen Republik. Die SE-Verordnung lässt europäischen Gesellschaften die Wahl zwischen dem monistischen und dem dualistischen System (Art. 38(b) SE-Verordnung). Das tschechische Recht hingegen eröffnet Gesellschaften dieses Wahlrecht bislang nicht,14 obwohl der Vorschlag für ein neues Handelsgesetzbuch es nunmehr ebenfalls enthält.15 Die SE-Gesellschaftsform könnte darüber hinaus auch deshalb attraktiver sein, weil das Tschechische Handelsgesetzbuch für inländische Gesellschaften die Vorgabe aufstellt, dass ein Leitungsorgan mindestens drei Mitglieder hat, es sei denn, das Unternehmen hat nur einen einzigen Gesellschafter.16 Das Aufsichtsorgan muss sogar immer aus drei Mitgliedern bestehen.17 Die SE-Verordnung hingegen stellt, vorbehaltlich Regelungen zur Mitbestimmung der Arbeitnehmer, keine vergleichbaren Größenvorgaben auf (Art. 39 Abs. 4, Art. 40 Abs. 3, Art. 43 Abs. 2 SE-Verordnung). Dadurch können Start-up-Unternehmen und Gesellschaften mit beschränktem Gesellschafterkreis Vergütungen für Geschäftsleitungsmitglieder einsparen, wenn sie eine SE anstatt einer inländischen Gesellschaftsform wählen. Befragte aus 70 Unternehmen (von 88) haben die Unternehmensmobilität als einen weiteren Grund für die Wahl einer Europäischen Gesellschaft genannt.18 Der EU-Gesetzgeber hat den rechtlichen Rahmen für die SE so gestaltet, dass grenzüberschreitende Aktivitäten im Binnenmarkt gefördert werden. Europäisches Recht ermöglicht es einer SE, ihren Satzungssitz in einen anderen Mitgliedstaat zu verlegen (Art. 8 SE-Verordnung). Seit der Cartesio-Entscheidung des EuGH dürfen allerdings auch nationale Gesellschaften ihren Satzungssitz in einen anderen Mitgliedstaat verlegen, wenn der neue Heimatstaat den Zuzug billigt.19 Der tschechische Gesetzgeber hat auf diese Entscheidung reagiert, indem er das Gesetz Nr. 127/2008 Coll., das Umwandlungsgesetz in seiner aktuellen Fassung (das „Umwandlungsgesetz“), geändert und damit auch für nationale Gesellschaften die Verlegung des Satzungssitzes ins Ausland verein-

__________ 13 S. Ernst & Young (Fn. 5), S. 130, 210–211. 14 S. §§ 194 ff. des Tschechischen Handelsgesetzbuchs. 15 S. §§ 463 ff. des Regierungsentwurfs Nr. 363/0, Aktiengesetz (Zákon o obchodních korporacích a druñ stvech). 16 S. § 194 Abs. 3 des Tschechischen Handelsgesetzbuchs. 17 S. § 200 Abs. 1 des Tschechischen Handelsgesetzbuchs. 18 S. auch Csehi („Die Attraktivität der supranationalen Gesellschaftsformen in den mittel- und osteuropäischen Staaten“) in Jung (Hrsg.), Supranationale Gesellschaftsformen im Typenwettbewerb, 2011, S. 17, 21 (er vermutet, dass Unternehmensmobilität sogar das Hauptmotiv für tschechische SE-Gründungen ist). 19 S. Cartesio Oktató és Szolgáltató bt v. 21.2.2009 – Rs. C-210/06, EuGH I-09641.

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Horst Eidenmüller und Jan Lasák

facht hat. Diese Änderung ist am 1.1.2012 in Kraft getreten.20 Bis dahin schien eine SE in Bezug auf die Unternehmensmobilität entscheidende Vorteile gegenüber tschechischen Gesellschaftsformen zu haben.21 Jedoch konnten tschechische Gesellschaften bereits vor der Änderung des Umwandlungsgesetzes ein ähnliches Ergebnis erzielen, indem sie auf eine Zweckgesellschaft des Zielstaats verschmolzen wurden (siehe hierzu den folgenden Absatz). Zudem hat es, wie man dem Handelsregister entnehmen kann, bislang nur wenige Fälle gegeben, in denen tschechische SEs ihren Satzungssitz in einen anderen Mitgliedstaat verlegt haben.22 So hat etwa die Crius Capital SE ihren Satzungssitz in die Slowakei verlegt, und die Spirall Solutions SE ihren Satzungssitz nach Zypern. Obwohl die Unternehmensmobilität also als ein treibender Faktor benannt wird, haben wir bislang noch nicht viel von ihr gesehen. In unserer Stichprobenerhebung bei tschechischen SEs scheint die Möglichkeit, eine grenzüberschreitende Verschmelzung unter Geltung der SE-Verordnung durchzuführen, bei 52 Gesellschaften eine gewisse Rolle gespielt zu haben. Allerdings hat der tschechische Gesetzgeber die Richtlinie 2005/56/EG über grenzüberschreitende Verschmelzungen durch das Umwandlungsgesetz umgesetzt. Seit dem 1.7.2008 können grenzüberschreitende Verschmelzungen daher auch auf anderem Wege als durch Errichtung einer SE realisiert werden. Tschechische Aktiengesellschaften oder Gesellschaften mit beschränkter Haf-

__________ 20 S. §§ 384 ff. des Gesetzes Nr. 355/2011 Coll., Änderung des Gesetzes Nr. 127/2008 Coll., das Umwandlungsgesetz in seiner aktuellen Fassung. 21 Obwohl tschechisches Recht nationalen Gesellschaften (Aktiengesellschaften und Gesellschaften mit beschränkter Haftung) seit 1991 gemäß § 26 Abs. 1 des Tschechischen Handelsgesetzbuchs die theoretische Möglichkeit einräumt, ihren jeweiligen Sitz ins Ausland zu verlegen, ist diese Norm unseres Wissens bisher ein „statement on the books“ geblieben, da, gestützt auf diese Vorschrift, bisher nie eine solche Sitzverlegung stattgefunden hat. Ein Grund dafür könnte sein, dass die anderen einschlägigen Normen des tschechischen Rechts (z. B. Rechtsvorschrift Nr. 250/2005 Coll., in seiner aktuellen Fassung über die Form für Anmeldungen zum Handelsregister) die Möglichkeit einer Sitzverlegung aufgrund dieser Vorschrift nicht bedacht haben, da spezielle Schritte zur Durchführung einer solchen Verlegung fehlen. Das Gleiche gilt für eine weitere Norm zur Unternehmensmobilität in § 26 Abs. 4 des Tschechischen Handelsgesetzbuchs, die – im Zusammenhang mit dem Beitritt der Tschechischen Republik zur Europäischen Union – besagt, dass die Verlegung des Satzungssitzes einer juristischen Person aus der Tschechischen Republik ins Ausland auch in den durch EU-Recht oder ein spezielles Gesetz festgelegten Fällen und unter den dort genannten Bedingungen zulässig ist. Das im Text erwähnte spezielle Gesetz zur Sitzverlegung ist gerade erst zum 1.1.2012 durch Änderung des Umwandlungsgesetzes in Kraft getreten, und unseres Wissens haben bislang auch nie Sitzverlegungen „in den durch EU-Recht festgelegten Fällen und unter den dort genannten Bedingungen“ stattgefunden. 22 Nach den Informationen aus dem Handelsregister gab es bis zum 1.11.2011 drei Verlegungen des Satzungssitzes von tschechischen SEs in einen anderen Mitgliedstaat. Widersprüchlich Ernst & Young (Fn. 5), S. 130 (bislang keine Sitzverlegungen) und S. 213 (fünf Sitzverlegungen); EU-Kommission (Fn. 11), S. 17 (vier Sitzverlegungen). Die Europäische Kommission zählt die DIAG Human SE und die Imperio Regere SE zu den tschechischen SEs, die ihren Sitz ins Ausland verlegt haben, obwohl diese Unternehmen tatsächlich im Wege einer grenzüberschreitenden Verschmelzung an der Gründung einer SE beteiligt waren.

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Das tschechische Societas Europaea-Rätsel

tung dürfen sich ebenfalls an einer grenzüberschreitenden Verschmelzung beteiligen. Daher steht zu erwarten, dass das Verschmelzungsmotiv mit der Zeit an Bedeutung verlieren wird. Befragte aus 25 von 88 Unternehmen nannten die Mitbestimmung der Arbeitnehmer als Faktor, der die Entscheidung für die Gesellschaftsform einer SE beeinflusst hat. Während diese Anzahl relativ klein erscheinen mag, könnte man umgekehrt auch betonen, dass mehr als ein Viertel der Unternehmen die Mitbestimmung der Arbeitnehmer als entscheidungsbeeinflussenden Faktor erwähnte. Dieser Befund ist besonders überraschend, wenn man bedenkt, dass bei keiner der 88 von uns untersuchten SEs während des Errichtungsprozesses Verhandlungen über die Mitarbeiterbeteiligung in der SE stattgefunden haben. Die meisten tschechischen SEs werden durch professionelle Anbieter gegründet und haben nur sehr wenige (oder überhaupt keine) Mitarbeiter. Bei der Errichtung müssen aber nach europäischem Recht Verhandlungen über die Mitarbeiterbeteiligung stattfinden, es sei denn, weder die Gründungsgesellschaften und betroffenen Tochtergesellschaften noch die künftige SE beschäftigen Mitarbeiter oder zumindest nicht so viele, wie zur Errichtung eines Besonderen Verhandlungsgremiums, das auf Seiten der Mitarbeiter verhandelt, benötigt werden.23 Selbst wenn also auf eine tschechische Gesellschaft nach tschechischem Recht obligatorische Mitbestimmungsregelungen keine Anwendung fänden,24 müssten bei Errichtung einer SE in der Regel Verhandlungen über die Mitarbeiterbeteiligung stattfinden, wenn die errichtete Gesellschaft keine Vorrats-SE ist. Es ist daher durchaus denkbar, dass manche Marktteilnehmer in der Tschechischen Republik die diesbezügliche Rechtslage unrichtig einschätzen, wenn sie eine SE errichten.

__________ 23 S. Eidenmüller/Hornuf/Reps, Contracting Employee Involvement: An Analysis of Bargaining over Employee Involvement Rules for a Societas Europaea, ECGI – Law Working Paper No. 185/2012. Das ist typischerweise der Fall bei SEs, die zunächst als Vorratsgesellschaften errichtet werden (aufgefasst als Gesellschaften, die weder operative Geschäfte betreiben noch Mitarbeiter beschäftigen und zum Verkauf stehen). Unstreitig ist jedoch, dass Verhandlungen durchgeführt werden müssen, wenn zwar die künftige SE keine Mitarbeiter beschäftigt, wohl aber die Gründungsgesellschaften. Wenn auch die Gründungsgesellschaften keine Mitarbeiter haben, wären Verhandlungen hingegen sinnlos. In diesen seltenen Fällen tritt das Problem der Mitarbeiterbeteiligung und damit die Errichtung eines Besonderen Verhandlungsgremiums wieder in den Vordergrund, sobald die Vorratsgesellschaft „aktiviert“ wird, d. h. wenn sie beginnt, operative Geschäfte zu führen und Mitarbeiter einzustellen (vgl. Erwägungsgrund 18 der Präambel und Art. 11 SE-Richtlinie). 24 Gemäß § 200 Abs. 1 des Tschechischen Handelsgesetzbuchs muss der Aufsichtsrat einer tschechischen Gesellschaft mindestens drei Mitglieder haben; die Anzahl der Mitglieder muss durch drei teilbar sein. Zwei Drittel der Aufsichtsratsmitglieder werden von der Hauptversammlung gewählt und ein Drittel von den Mitarbeitern der Gesellschaft, sofern die Gesellschaft mehr als 50 Mitarbeiter hat, die in einem Arbeitsverhältnis stehen, das mehr Arbeitsstunden aufweist als die Hälfte der wöchentlichen Arbeitszeit, die in Spezialgesetzen zum ersten Tag des Geschäftsjahrs, in dem die Hauptversammlung zur Wahl der Aufsichtsratsmitglieder abgehalten wird, festgelegt ist.

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Horst Eidenmüller und Jan Lasák

Schließlich haben wir die Befragten gebeten, uns weitere Gründe zu nennen, die bei ihrer Entscheidung, ihre Geschäfte in der SE-Gesellschaftsform zu führen, eine gewisse Rolle gespielt haben. Es wurden verschiedene Gründe angegeben wie steuerliche Konsequenzen, reibungslose Geschäftsabwicklung in anderen Mitgliedstaaten oder besserer Investitionsschutz. Keiner dieser Gründe trat jedoch besonders hervor. Während der vorhergehende Teil die Häufigkeit behandelt hat, mit der die ausgesuchten Variablen bei Gründungen in Form einer SE aufgetreten sind, berücksichtigen die folgenden beiden Tabellen das Gewicht, das unsere Befragten der jeweiligen Variable beigemessen haben. Die erste Tabelle spiegelt das Gewicht aller Variablen wider, indem sie die Gesamtpunktzahl aus 440 als der maximalen Punktzahl (88 mal 5) berechnet. Motive

Gesamtpunktzahl (N = 440)

Image der SE

306

Vereinfachung der Unternehmensstruktur

302

Unternehmensmobilität

226

Regulatorischer Grund

160

Grenzüberschreitende Verschmelzung

157

Mitbestimmung der Arbeitnehmer

47

Tabelle: Umfrageergebnisse 2 – Gewichtete Bedeutung der verschiedenen Motive.

In absoluten Zahlen hat das Markenmanagement 306 Punkte erhalten, während die Vereinfachung der internen Unternehmensstruktur auf 302 Punkte gekommen ist. Dieser Befund resultiert aus der Häufigkeit, mit der Nutzer (Gründer) der tschechischen SEs Markenmanagement oder Vereinfachung der internen Unternehmensstruktur als Motivationsfaktoren benannt haben. Dieses Ergebnis könnte jedoch etwas verzerrt sein, da manche der Befragten einer Variable möglicherweise einen höheren Wert zuordnen als andere, obwohl die Bedeutung des jeweiligen Motivs in Wirklichkeit ungefähr gleich war. Daher haben wir uns dazu entschlossen, uns auf die einzelnen Befragten zu konzentrieren, um ein wirklich aussagekräftiges Ergebnis zu erhalten: Wir haben untersucht, in wie vielen Fällen eine Variable der wichtigste Faktor bei der Entscheidung war, die Gesellschaft in Form einer SE zu gründen oder eine entsprechende Vorratsgesellschaft zu kaufen. Die folgende Tabelle führt unsere Erkenntnisse auf: Motiv

Nennungen (N = 138)

Vereinfachung der Unternehmensstruktur

51

Image der SE

37

Unternehmensmobilität

21

Regulatorischer Grund

15

196

Das tschechische Societas Europaea-Rätsel Motiv

Nennungen (N = 138)

Grenzüberschreitende Verschmelzung

12

Mitbestimmung der Arbeitnehmer

1

Andere

1

Tabelle: Umfrageergebnisse 3 – Die wichtigsten Motive für die Errichtung einer SE.

Die Nennungen summieren sich auf mehr als 88, da manche der Befragten mehr als einem Motiv den Wert 5 zugeordnet haben. Die Ergebnisse zeigen deutlich, dass die Vereinfachung der internen Unternehmensstruktur in 51 von 88 Fällen als das wichtigste Motiv bei der Wahl der SE-Gesellschaftsform benannt wurde, gefolgt vom Image der SE (in 37 von 88 Fällen). Obwohl das Image der SE demzufolge in 42 % der Fälle eine sehr wichtige Rolle gespielt zu haben scheint, war bei einer Mehrzahl der Fälle (58 %) die Vereinfachung der internen Unternehmensstruktur das wichtigste Motiv. Dieser Punkt sollte weiter ausgeführt werden, da man das Motiv, die interne Unternehmensstruktur zu vereinfachen, in zwei verschiedene Aspekte unterteilen kann: (i) Präferenz für das monistische System gegenüber dem dualistischen System oder (ii) eine vereinfachte interne Struktur innerhalb des dualistischen Systems. Unsere Befragten benannten die Vereinfachung der internen Struktur als Errichtungsmotiv in 76 von 88 Fällen, aber von den 76 Gesellschaften hat nur eine das monistische System eingeführt. Hinzu kommt, dass überhaupt nur 4 Gesellschaften der 220 SEs, die im Zeitpunkt unserer Recherchen existierten, das monistische System gewählt hatten. Demzufolge haben offenbar 75 von 76 Unternehmen die SE-Gesellschaftsform wegen der vereinfachten internen Struktur innerhalb des dualistischen Systems gewählt. Die bereits erwähnten Art. 39 Abs. 4 und Art. 40 Abs. 3 SE-Verordnung sehen vor, dass bei Wahl des dualistischen Systems die Mitgliederanzahl des Leitungsorgans sowie des Aufsichtsorgans oder aber zumindest eine Regelung zu deren Bestimmung in der Satzung der SE festgelegt sein müssen. Ein Mitgliedstaat kann eine Mindest- und/oder eine Höchstgrenze an Organmitgliedern festsetzen. Der tschechische Gesetzgeber hat allerdings weder eine Mindest- noch eine Höchstgrenze für Leitungs- oder Aufsichtsorganmitglieder eingeführt. Demzufolge erlaubt es der tschechische Gesetzgeber (im Einklang mit der SEVerordnung) tschechischen SEs, nur jeweils ein Leitungsorganmitglied und ein Aufsichtsorganmitglied zu haben. Es ist bemerkenswert, dass von den 75 Gesellschaften, welche die Vereinfachung der internen Struktur unter Beibehaltung des dualistischen Systems als ein wichtiges Motiv bei der Entscheidung für die SE-Gesellschaftsform angaben, 59 eine interne Struktur eingeführt haben, in welcher die Gesellschaft tatsächlich nur ein Leitungsorganmitglied und ein Aufsichtsorganmitglied hat. Wählt eine tschechische SE hingegen das monistische System, sieht das tschechische Recht im Einklang mit Art. 43 Abs. 2 SE-Verordnung vor, dass das 197

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Verwaltungsorgan aus mindestens drei Mitgliedern bestehen muss.25 Dementsprechend können die Gründer einer tschechischen SE zwischen einem dualistischen System mit nur einem Leitungsorganmitglied und einem Aufsichtsorganmitglied sowie einem monistischen System mit mindestens drei Verwaltungsorganmitgliedern wählen. Würden sich die Gründer für eine tschechische Gesellschaft entscheiden, müsste das Leitungsorgan, wie bereits erläutert, aus mindestens drei Mitgliedern bestehen (es sei denn, die Gesellschaft hat nur einen einzigen Gesellschafter), das Gleiche gilt für das Aufsichtsorgan. Die Errichtung einer SE nach dem dualistischen System mit jeweils einem Mitglied in beiden Organen scheint also eindeutig die wirtschaftlichste Option zu sein, sofern man Kosten für die Geschäftsleitung einsparen möchte. Diese Erklärung passt zu dem Befund, dass die Gründer der SE-Gesellschaften, die ihre Entscheidung für die SE-Gesellschaftsform mit einer Vereinfachung der internen Unternehmensstruktur begründeten, das dualistische System dem monistischen System vorgezogen haben. Infolgedessen können die Nutzer und Gründer der SE letztendlich eine interne Struktur einführen, die nur unwesentlich komplexer ist als diejenige, die man in der Regel in einer tschechischen Gesellschaft mit beschränkter Haftung findet, welche nur einen Geschäftsführer haben muss. In diesem Zusammenhang muss man bedenken, dass die Gesellschaft mit beschränkter Haftung in der Tschechischen Republik aufgrund landesspezifischer Umstände in den 1990er Jahren als eine weniger vertrauenswürdige Gesellschaftsform gilt als die Aktiengesellschaft.26 Seit dieser Zeit wird eine Aktiengesellschaft als die „seriösere“ Rechtsform gesehen. Daher scheint die SE eine Gesellschaftsform zu sein, welche die Vertrauenswürdigkeit einer Aktiengesellschaft mit einer einfachen internen Struktur, bestehend aus einem Leitungsorganmitglied und einem Aufsichtsorganmitglied, vereint. Zusammenfassend lassen die zentralen Ergebnisse unserer Umfrage erkennen, dass tschechische SEs vor allem zum Zwecke einer vereinfachten internen Struktur gegründet werden, was nicht notwendigerweise die Verfügbarkeit des monistischen Systems betrifft, sondern vielmehr die Verkleinerung des Lei-

__________ 25 S. § 26 Abs. 1 des Gesetzes Nr. 627/2004 zur Europäischen Gesellschaft in seiner aktuellen Fassung. 26 In den frühen 1990er Jahren war der Schutz von Minderheitsgesellschaftern und insbesondere Gläubigern von tschechischen Aktiengesellschaften und Gesellschaften mit beschränkter Haftung größtenteils erst noch am Anfang seiner Entwicklung. Es gab zum Beispiel bis 1996 im Wesentlichen keine Regelungen für Transaktionen, die von Interessenkonflikten beeinflusst wurden. Das Fehlen effektiver Schutzinstrumente hat zu einer erheblichen Aushöhlung (tunneling) von tschechischen Gesellschaften geführt, natürlich zum Nachteil von Minderheitsgesellschaftern und Gläubigern. Obwohl diese Erfahrung sowohl Aktiengesellschaften als auch Gesellschaften mit beschränkter Haftung betraf, hat die Gesellschaft mit beschränkter Haftung seit den 1990er Jahren den Ruf, eine weniger vertrauenswürdige Gesellschaftsform zu sein als die Aktiengesellschaft (wahrscheinlich wegen des im Vergleich zur Aktiengesellschaft niedrigeren Mindestkapitals, das zur Errichtung einer Gesellschaft mit beschränkter Haftung benötigt wird). Vgl. Hurdík, Právnické osoby a jejich typologie, 2003, S. 73.

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Das tschechische Societas Europaea-Rätsel

tungs- sowie des Aufsichtsorgans. Ein weiterer wichtiger Faktor ist das positive Image der SE. Unternehmensmobilität steht an dritter Stelle; jedoch gab es bislang nur sehr wenige Fälle, in denen tschechische SEs tatsächlich die Verlegung ihres Satzungssitzes in einen anderen Mitgliedstaat in Angriff genommen haben.

IV. Finanzierungsmodell Im Laufe unserer Studie sind wir auf einen weiteren landesspezifischen Vorteil für SE-Gründer gestoßen, den wir in unseren Befragungen noch gar nicht berücksichtigt hatten bzw. berücksichtigen konnten. In der Tschechischen Republik ist es üblich, dass ein Unternehmer die neue SE nicht selbst gründet, sondern sie gegen Zahlung einer Gebühr von einem professionellen Dienstleister erwirbt. Hierfür haben die professionellen Anbieter von SEs ein sehr bemerkenswertes Finanzierungsmodell entwickelt. Bei Gründung der SE zahlt der professionelle Anbieter das notwendige Grundkapital (oder einen Teil davon, mindestens aber 30 %) ein. Zu unserer Überraschung läuft der Weiterverkauf einer tschechischen SE dann fast immer wie folgt ab: Sobald die SE eingetragen ist, zieht der professionelle Anbieter das auf das Bankkonto der SE eingezahlte Grundkapital wieder ab. Dies ist zulässig, da das Grundkapital nur so lange auf dem Bankkonto bleiben muss, bis die SE errichtet ist. Ein Kunde, der die SE kaufen möchte, muss grundsätzlich (i) eine Gebühr – sie liegt bei einer Vorrats-SE je nach Anbieter zwischen 3.000 Euro und 7.000 Euro – und (ii) den Kaufpreis für die Anteile zahlen. Im Gegenzug ist der professionelle Anbieter verpflichtet, dem Kunden das Guthaben der SE von 120.000 Euro zu übergeben. Während die Gebühr tatsächlich an den Anbieter fließt, verlangt die Mehrzahl der professionellen Anbieter von den Kunden nicht auch Zahlung des Kaufpreises, welcher der Höhe des ursprünglich eingezahlten Grundkapitals entspricht. Dafür wird auch das Guthaben der SE nicht tatsächlich an den Kunden übergeben. Stattdessen bestätigt der Anbieter schriftlich, dass er 120.000 Euro als Kaufpreis vom Kunden erhalten hat, und der Kunde bestätigt wiederum den Erhalt von 120.000 Euro als Guthaben der SE. Rechtlich gesehen ist dies (aus Sicht der SE) ein Darlehen an den Kunden, da das Guthaben der SE nach dieser Transaktion bei null liegt und die SE nur eine Forderung gegen den Kunden hat. Der Kunde kann also die SE mit einem eingetragenen Grundkapital in Höhe von 120.000 Euro erwerben, ohne das Kapital tatsächlich aufbringen zu müssen, was einen erheblichen finanziellen Vorteil darstellt. Gegen dieses Finanzierungsmodell bestehen allerdings aus rechtlicher Sicht mindestens zwei Bedenken. Zunächst liegt in der Bestätigung, dass der Kunde dem Anbieter „einen Umschlag“ mit 120.000 Euro als Kaufpreis für die Anteile übergeben hat, ein Verstoß gegen tschechisches Recht, wonach jede Transaktion über einen Betrag, der 350.000 CZK (etwa 14.000 Euro) übersteigt, bargeldlos „abzuwickeln“ ist.27 Verstöße juristischer Personen können mit einem Buß-

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27 S. § 4 Abs. 1 des Gesetzes Nr. 254/2004 Sb. zu den Beschränkungen von Bargeldzahlungen in seiner aktuellen Fassung.

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geld bis zu 5.000.000 CZK (etwa 200.000 Euro) geahndet werden, für natürliche Personen liegt die Grenze bei CZK 500.000 (etwa 20.000 Euro).28 Jedoch hat die Erfahrung gezeigt, dass staatliche Stellen das Gesetz nur sehr zurückhaltend anwenden, so dass es eher ein Gesetz auf dem Papier bleibt. Hinzu kommt, dass ein Finanzierungsmodell wie das vorstehend geschilderte unzweifelhaft Financial Assistance darstellt. Art. 5 SE-Verordnung sieht vor, dass auf Kapitalaufbringung und Kapitalerhaltung der SE die Vorschriften Anwendung finden, die für eine Publikumsgesellschaft mit Sitz in demselben Mitgliedstaat gelten. Nach tschechischem Recht (und im Einklang mit der Kapitalrichtlinie) ist Financial Assistance unter speziellen Bedingungen zulässig, die bei diesem Finanzierungsmodell aber allesamt nicht erfüllt sind.29 Die Vergabe eines Darlehens in Höhe von 120.000 Euro an den Kunden zum Zweck, die Anteile an der SE zu erwerben, kann zum einen zur Haftung der Geschäftsleitungsmitglieder der SE führen und zum anderen zur Unwirksamkeit des mündlich geschlossenen Darlehensvertrags. Jedoch bewirkt die Unwirksamkeit des Darlehensvertrags lediglich, dass sich die Rückzahlungsverpflichtung des Kunden „umwandelt“ in eine Verpflichtung zur Herausgabe einer ungerechtfertigten Bereicherung. Die Möglichkeit einer Haftung der Geschäftsleitungsmitglieder der SE bleibt zwar bestehen; ist der Kunde jedoch Alleingesellschafter der SE, wird wohl niemand Schadensersatz von den Geschäftsleitungsmitgliedern verlangen, solange die SE nicht insolvent ist. Unabhängig von diesen rechtlichen Bedenken wird dieses Finanzierungsmodell von einer Mehrheit der professionellen Anbieter in der Tschechischen Republik praktiziert, was den Kauf einer Vorrats-SE relativ günstig macht, da der Kunde lediglich die Gebühr zahlen muss. Diese ist zwar im europäischen Vergleich keineswegs niedrig.30 Aber der Finanzierungsvorteil durch ein zinsloses Darlehen in Höhe von 120.000 Euro schlägt doch gravierend zu Buche. Er ist wohl ein weiterer Grund dafür, warum es so viele SEs in der Tschechischen Republik gibt. Zwar ist anzunehmen, dass dieses Finanzierungsmodell auch im Zusammenhang mit einer tschechischen Gesellschaft („akciová spolec&nost“) Anwendung findet. Allerdings fällt der Vorteil bei der SE aufgrund ihres ungleich höheren Grundkapitals wesentlich mehr ins Gewicht. Denn durch diese Finanzierungsmöglichkeit können sich auch kleine Start-up-Unternehmen die Gründung einer SE mit einem Grundkapital von 120.000 Euro leisten.

V. Vorratsgesellschaften Die vorstehende Darstellung scheint das „tschechische SE-Rätsel“ größtenteils zu lösen, zumindest im Hinblick auf operativ agierende Gesellschaften, die

__________ 28 §§ 5 f. des Gesetzes Nr. 254/2004 Sb. zu den Beschränkungen von Bargeldzahlungen in seiner aktuellen Fassung. 29 Vgl. § 161f des Tschechischen Handelsgesetzbuches. 30 In Deutschland liegen die Gebühren im Durchschnitt bei etwa 12.000 Euro, in Österreich bei etwa 5.000 Euro, in Frankreich bei etwa 3.000 und im Vereinigten Königreich unter 1.000 Euro.

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Mitarbeiter beschäftigen. Jedoch bleiben weiterhin Fragen offen im Hinblick auf die enorme Zahl an Vorrats-SEs, die in der Tschechischen Republik errichtet wurden und weiterhin errichtet werden. Warum haben so viele SEs in der Tschechischen Republik gar kein operatives Geschäft oder einen UFO-Status, wie er vom Europäischen Gewerkschaftsinstitut beschrieben wird? Eine Erklärung hierfür könnte mit den Themen der Mitarbeiterbeteiligung und einer geplanten Sitzverlegung zusammenhängen. Während es bei der Gründung zunächst keiner Verhandlungen zur Mitarbeiterbeteiligung bedarf, wenn weder die Gründungsgesellschaften noch die SE in Gründung Mitarbeiter beschäftigen, müssen solche Verhandlungen nachgeholt werden, sobald die Vorratsgesellschaft „aktiviert“ wird, d. h. sobald sie beginnt, ihre Geschäfte aufzunehmen und Mitarbeiter einzustellen.31 Es bleibt jedoch unklar, unter welchen Umständen genau von einer solchen Aktivierung auszugehen ist. Zudem hat es in anderen Mitgliedstaaten wie Deutschland Fälle gegeben, in denen die Registerrichter von den Gründern einer Vorratsgesellschaft Versicherungen verlangt haben, dass die SE keine Mitarbeiter hat und auch in absehbarer Zukunft keine haben wird.32 Diese Registerrichter befürchten offenbar, dass die obligatorischen Regelungen der SE-Richtlinie zur Mitarbeiterbeteiligung umgangen werden.33 Es besteht die Möglichkeit, dass Marktteilnehmer, insbesondere Anbieter von Vorratsgesellschaften, das Gefühl haben, tschechische Registerrichter hätten eine tolerantere Einstellung gegenüber der Eintragung von Vorratsgesellschaften und dem Aktivierungsproblem als beispielsweise deutsche Registerrichter. Tschechische Registerrichter verlangen zum Beispiel unseres Wissens von den Gründern einer Vorrats-SE keine Versicherung, dass die SE keine Mitarbeiter hat und auch in absehbarer Zukunft keine haben wird. Daher würde Rechtsarbitrage nahelegen, in der Tschechischen Republik eine Vorrats-SE zu errichten, um sie nach Verkauf und Verlegung des Satzungssitzes später in anderen Mitgliedstaaten nutzen zu können. Obwohl, wie bereits erwähnt, im Verlauf unserer Studie viele tschechische Vorratsgesellschaften verkauft wurden,34 hat bislang nur eine Handvoll tschechischer SEs ihren Satzungssitz in einen anderen Mitgliedstaat verlegt. Dementsprechend geht dieser Erklärungsansatz für die große Zahl an tschechischen Vorrats-SEs wahrscheinlich in die falsche Richtung.

__________ 31 S. Fn. 23. 32 S. z. B. OLG Düsseldorf v. 30.3.2009, FGPrax 2009, 124 (fehlende Verhandlungen zur Mitarbeiterbeteiligung; die SE konnte nur eingetragen werden, weil eine Versicherung abgegeben wurde, dass sie keine Mitarbeiter habe und keine in der Zukunft haben werde). 33 S. auch EU-Kommission (Fn. 6), S. 8 (anmerkend, dass einige der Befragten und Gewerkschaftsvertreter erwähnt haben, dass eindeutige Regelungen zur Mitarbeiterbeteiligung fehlen, wenn eine Vorrats-SE aktiviert wird oder es eine strukturelle Veränderung nach der SE-Gründung gibt, was aus Sicht der Gewerkschaften ein Risiko darstellt, dass die Regelungen zur Mitarbeiterbeteiligung umgangen werden), oder EU-Kommission (Fn. 11), S. 11. 34 S. Fn. 12.

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Auch das oben beschriebene Finanzierungsmodell liefert keine Erklärung für die hohe Zahl an inaktiven Vorrats-SEs in der Tschechischen Republik. Zwar könnte es hierdurch tatsächlich vermehrt zu einer steigenden Zahl von SEGründungen gekommen sein, insbesondere auch durch kleinere Start-up-Unternehmen, die das vergleichsweise hohe Grundkapital nicht tatsächlich aufbringen könnten. Jedoch kommt dieser Finanzierungsvorteil bei Vorratsgesellschaften erst im Stadium des Weiterverkaufs der SE an den (in- oder ausländischen) Kunden zum Tragen, hingegen nicht schon bei der Gründung der SE durch die professionellen Anbieter selbst. Dies führt uns zu der Schlussfolgerung, dass Anbieter von Vorratsgesellschaften in der Tschechischen Republik wahrscheinlich zu optimistisch sind, was den derzeitigen Gesamtbedarf an tschechischen SEs angeht. Zwar gibt es für tschechische Unternehmen tatsächlich gewichtige Gründe, wie die Vereinfachung der internen Corporate Governance-Struktur, das positive europäische Image der SE und möglicherweise auch das landesspezifische Finanzierungsmodell, sich für diese Gesellschaftsform zu entscheiden, und viele operativ tätige Unternehmen haben auf dieser Grundlage tatsächlich die Gründung einer oder die Umwandlung in eine SE gewählt. Jedoch scheint der Gesamtbedarf trotz allem zumindest derzeit niedriger zu sein, als die Zahl der Gründungen von Vorratsgesellschaften nahelegen würde. Mit der Zeit werden wir sehen, ob die Nachfrage nach „echten“ tschechischen SEs maßgeblich anzieht oder ob die meisten tschechischen SEs Vorratsgesellschaften bleiben werden.

VI. Fazit Nach einem eher verhaltenen Start hat sich die SE zu einer sehr beliebten Gesellschaftsform für europäische Unternehmen entwickelt. Überraschenderweise ist die Tschechische Republik eindeutiger Marktführer für SE-Gesellschaften, wobei es sich bei einer Mehrheit der tschechischen SEs um Vorratsgesellschaften handelt. Die enorme Popularität der SE-Gesellschaftsform in der Tschechischen Republik insgesamt und die hohe Zahl an tschechischen Vorrats-SEs geben Rätsel auf. Mit der vorliegenden empirischen Studie haben wir versucht, diese Rätsel mithilfe von Daten zu allen 220 tschechischen SEs, die zum 1.6.2010 registriert waren, sowie einem Datensatz aus 88 Befragungen, die mit den Nutzern von 88 tschechischen SEs im Zeitraum von September bis November 2010 durchgeführt wurden, zu lösen. Unseres Wissens haben wir auf diese Weise die bislang umfassendste empirische Grundlage zur Erfassung der Motive tschechischer SE-Gründer geschaffen. Es hat sich herausgestellt, dass zwei Motive im Hinblick auf die operativ tätigen Unternehmen eine herausragende Rolle spielen: der Wunsch, die interne Corporate Governance-Struktur zu vereinfachen und das positive Image der SE. Im Hinblick auf das erste Motiv ermöglicht eine SE Einsparungen bei der Größe der Geschäftsleitungsorgane, da nach den einschlägigen europäischen und tschechischen Regelungen sowohl das Leitungsorgan als auch das Aufsichtsorgan nicht mehr als jeweils ein Mitglied haben 202

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müssen. Eine tschechische Aktiengesellschaft hingegen müsste drei Mitglieder in jedem Organ haben, wenn sie nicht nur einen einzigen Gesellschafter hat. Fast alle tschechischen SEs haben das dualistische System beibehalten, allerdings mit einer geringeren Mitgliederanzahl in den jeweiligen Organen. Ein weiterer Anreiz, eine SE in der Tschechischen Republik zu gründen, ergibt sich aus dem bemerkenswerten Finanzierungsmodell, das die Mehrheit der professionellen Anbieter von tschechischen SEs ihren Kunden anbietet. Hiernach muss der Kaufpreis für die Anteile der SE nicht tatsächlich gezahlt werden. Vielmehr streckt der Anbieter das Grundkapital nur für den Zeitraum bis zur Eintragung der SE vor und zieht es vor dem Verkauf wieder ab. Die SE erhält lediglich eine (Darlehens-)Forderung gegen den Kunden in Höhe des Kaufpreises. Unabhängig von seiner rechtlichen Zulässigkeit führt dieses Finanzierungsmodell aufgrund seiner verbreiteten Anwendung in der Praxis dazu, dass SE-Gründer in der Tschechischen Republik das Grundkapital nicht tatsächlich aufbringen müssen und damit einen erheblichen Finanzierungsvorteil gegenüber SE-Gründungen in anderen Mitgliedstaaten genießen. Vorrats-SEs werfen weitere Fragen auf. Eine mögliche Erklärung für die sehr große Zahl an tschechischen Vorrats-SEs scheint die Tatsache zu sein, dass tschechische Registerrichter eine tolerantere Einstellung gegenüber dem Thema der Mitarbeiterbeteiligung bei Vorrats-SEs ohne Mitarbeiter haben. Dies könnte zu Rechtsarbitrage von Unternehmen führen, welche diese tolerante Einstellung ausnutzen wollen. Bislang haben jedoch nur sehr wenige tschechische SEs ihren Satzungssitz in einen anderen Mitgliedstaat verlegt, was wir als starkes Anzeichen für eine Widerlegung dieses Erklärungsversuchs werten. Wahrscheinlich überschätzen die Anbieter von Vorratsgesellschaften zumindest derzeit die Nachfrage nach SEs in der Tschechischen Republik. Alternativ besteht aber auch die Möglichkeit, dass die (tatsächlich existierenden) Vorteile der SE-Gesellschaftsform im Hinblick auf die interne Corporate GovernanceStruktur oder das beschriebene Finanzierungsmodell von inländischen Nutzern bislang nicht vollumfänglich gewürdigt werden. Im Laufe der Zeit wird sich zeigen, welche Erklärung plausibler ist. Der Markt für tschechische SEs könnte auch Licht auf eine andere europäische unternehmenspolitische Debatte, nämlich diejenige über die Rechtsform einer Europäischen Privatgesellschaft, werfen. Im Jahr 2008 hat die Europäische Kommission einen Vorschlag für ein „Statut der Europäischen Privatgesellschaft“ (Societas Privata Europaea, SPE) vorgelegt.35 Nach drei Jahren intensiver akademischer und politischer Diskussion ist der Vorschlag zumindest derzeit zurückgestellt worden. Mindestkapitalanforderungen, Corporate Governance-Fragen und insbesondere das immer währende Mitbestimmungsproblem stellen offenbar unüberwindbare Hürden dar. Hinter diesen Problemen liegt wahrscheinlich ein weiteres: Mitgliedstaaten wie Deutschland und Österreich befürchten, dass eine SPE zu populär würde und die territoriale Vorherrschaft

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35 KOM (2008) 396/3. Dazu etwa Hommelhoff/Teichmann, Eine GmbH für Europa: Der Vorschlag der EU-Kommission zur Societas Privata Europaea (SPE), GmbHR 2008, 897–911.

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ihrer inländischen Rechtsformen für Gesellschaften mit beschränktem Gesellschafterkreis bedrohen könnte. Die Interessen der Mitgliedstaaten aus Osteuropa gehen hingegen in eine andere Richtung. Die Popularität der SE, einer Publikumsgesellschaft, für Start-ups in der Tschechischen Republik legt nahe, dass Rechtsordnungen ohne eine populäre inländische Rechtsform für Gesellschaften mit beschränktem Gesellschafterkreis offensichtlichen Bedarf für eine Societas Privata Europaea haben.

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Pensionsrückstellungen in der deutschen Rechnungslegung Protokoll einer Verweigerung*

Inhaltsübersicht I. Einleitung II. Die Situation von Gläubiger und Schuldner 1. Pensionsanwartschaftsberechtigte und Pensionäre 2. Arbeitgeber III. Pensionen in der HGB-Bilanz 1. Frühe Weichenstellung durch die Rechtsprechung 2. Entwicklung bis zum Bilanzrechtsmodernisierungsgesetz a) Ansatz von Alt- und Neuzusagen b) Allgemeine Bewertungskriterien c) Abzinsung nach HGB

d) Würdigung der Regelung im Gesamtgefüge der Rechnungslegungsvorschriften IV. Pensionsrückstellungen nach IAS 19 1. Unterschiede in der Jahresabschlussfunktion 2. Ansatzregeln für Pensionsverpflichtungen 3. Bewertung a) Allgemeine Bewertungskriterien b) Abzinsung c) Kritische Würdigung V. Zusammenfassung und Ausblick

I. Einleitung Die Betriebsrente ist für viele Menschen eine wichtige Säule ihrer Altersversorgung. Ihre praktische Bedeutung wird in den nächsten Jahrzehnten zunehmen. Dann wird die Babyboomer-Generation in Rente gehen. Diese Generation ist mehr als alle anderen in den Genuss von Betriebsrentenzusagen gekommen. Gleichzeitig werden die Herausforderungen für die gesetzliche Rentenversicherung stärker werden. Unter den Segnungen des Wirtschaftswunders gab es in den 60er und 70er Jahren in der deutschen Wirtschaft eine Welle zum Teil großzügiger Programme der betrieblichen Altersversorgung. Dahinter steckten zwei starke Antriebsmomente. Der Arbeitskräftemangel zwang die Unternehmen, attraktiver zu werden. Die Betriebsrente war ein gutes Instrument der Mitarbeiterbindung. Eine großzügige steuerliche Förderung machte die Programme zudem für die Unternehmen als Instrument der Innenfinanzierung attraktiv. In den 80er Jahren trat ein Wandel ein. Die Finanzierungssituation des Staates wurde schwieriger. Die großzügige steuerliche Förderung der betrieblichen

__________ * Für die kritische Diskussion und die Unterstützung danke ich Andrea Drinhausen, Dr. Jan Faßhauer und Johannes Hieronymi.

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Altersversorgung endete.1 Es wurde immer klarer, dass der Finanzierungseffekt der Pensionsrückstellung nicht ausreichte, die mit der Pensionszusage verbundene Ertragsbelastung auszugleichen.2 Die Pensionsverpflichtungen wurden zu einer Last. Die Großzügigkeit der Arbeitgeber nahm ab. Die Herausforderungen werden in Zukunft noch größer werden. Die demographische Entwicklung wird auch in den Unternehmen tiefe Spuren hinterlassen. Die Veränderungen haben erst begonnen. Die Finanzierung der Pensionen wird davon nicht unverschont bleiben. Dies ist nicht nur ein Problem der Großindustrie, sondern gerade auch des Mittelstands. Umso wichtiger ist es, dass diese Lasten vollständig und richtig bilanziert werden. Der Gesetzgeber hat bei der Weiterentwicklung der arbeitsrechtlichen und steuerlichen Grundlagen der betrieblichen Altersversorgung große Sorgfalt walten lassen. Die handelsrechtliche Bilanzierung der Verpflichtungen wurde demgegenüber vernachlässigt.

II. Die Situation von Gläubiger und Schuldner 1. Pensionsanwartschaftsberechtigte und Pensionäre Die Pensionszusage3 begründet eine Schuld des Arbeitgebers.4 Der Arbeitnehmer ist Gläubiger. Eine rechtliche Verpflichtung, eine Pensionszusage in der Form der Direktzusage zu Lasten des Arbeitgebers zu erteilen, gibt es nicht. Die Rechtsposition derjenigen, die das Glück hatten, eine Pensionszusage bekommen zu haben, wurde über die Jahre durch die Rechtsprechung der Arbeitsgerichte gestärkt.5 Die Rechtsprechung wurde 1974 im Gesetz zur Verbesserung der betrieblichen Altersversorgung (BetrAVG) weitestgehend kodifiziert.6 Damit wurden insbesondere die Anwartschaften unverfallbar, die Ansprüche dynamisiert und selbst die einvernehmliche Dispositionsmöglichkeit der Vertragsparteien eingeschränkt. Der Pensionsberechtigte hat eine außergewöhnlich privilegierte Gläubigerstellung.

__________ 1 Gegen die Anhebung des Abzinsungssatzes in § 6a EStG 1891 wurde bis zum Bundesverfassungsgericht gestritten, BVerfG, VersR 1985, 193. 2 Vgl. zur Bedeutung der betrieblichen Altersversorgung im internationalen Vergleich Roth, ZGR 2011, 516, 518. 3 Im Weiteren werden nur die Direktzusagen oder, um in der Terminologie der IFRS zu sprechen, leistungsorientierten Versorgungsverpflichtungen (defined benefit obligations – DBO, vgl. IAS 19, 7) behandelt. Bei ihnen trägt der Arbeitgeber sämtliche Finanzierungsrisiken für die Betriebsrente. Zu den unterschiedlichen Formen vgl. Ellrott/Rhiel in Beck’scher Bilanz-Kommentar, 7. Aufl. 2010, § 249 HGB Rz. 152 ff. 4 Zu den Stufen der Rechtsposition – Zusage, Unverfallbarkeit, Auszahlung – vgl. Rolfs in Blomeyer/Rolfs/Otte, Betriebsrentengesetz, 5. Aufl. 2010, Anh. § 1 BetrAVG Rz. 2, 160, 617 m. w. N. aus der Rspr.; vgl. aus zivilrechtlicher Sicht auch BGHZ 139, 167 = NJW 1999, 190. 5 Zum Blick über die Entwicklung vgl. Reinecke, NZA 2004, 753. 6 Reinecke, NZA 2004, 753, 755.

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Pensionsrückstellungen in der deutschen Rechnungslegung

Zusätzlich wurde der Pensionssicherungsverein (PSV) errichtet. Damit sollen die Ansprüche der Arbeitnehmer im Insolvenzfall gesichert werden. Der PSV wird durch Umlagen bei den Arbeitgebern finanziert. 2. Arbeitgeber Der Arbeitgeber ist Schuldner. Er muss Vorsorge treffen, um seine Verpflichtungen erfüllen zu können. Bereits nach altem Recht betrug bei den Unternehmen der Anteil der Pensionsrückstellungen 2007 rund 7,3 % der Bilanzsumme.7 Die Pensionsverpflichtungen haben eine außerordentlich lange zeitliche Wirkung. Selbst bei Unternehmen, die ihre Versorgungswerke für die Zukunft geschlossen haben, werden die Verpflichtungen bis tief in die Mitte dieses Jahrhunderts reichen. Die Frage, ob die Verpflichtungen bilanziell vollständig und in richtiger Höhe erfasst sind, ist daher von erheblicher Relevanz. Dabei geht es nicht darum, ob das Gesetz eingehalten wurde, sondern ob dies ausreicht. Viele Unternehmen haben zur Finanzierung der Pensionsverpflichtungen Mittel separiert.8 Ausfinanziert sind die Pensionsverpflichtungen aber nicht. In vielen Fällen reichten die Erträge aus diesen Mitteln spätestens seit 2008 nicht mehr, um die Zinszuführungen zur Pensionsrückstellung dotieren zu können. In nicht wenigen Unternehmen war dies aber auch schon lange vor der Finanzkrise ein Problem. Bei der Bilanzierung durch den Arbeitgeber geht es um zwei Fragen: Ansatz und Bewertung. Beim Ansatz geht es darum, in welchem Zeitpunkt der Bilanzier die Verpflichtung im Jahresabschluss ergebniswirksam erfassen muss. Zwei Möglichkeiten kommen in Frage. Die Verpflichtung wird bei der Entstehung erfasst, also mit Zusage, oder im Zeitpunkt der Erfüllung, also wenn die Rente gezahlt wird. Dazwischen liegt ein erheblicher Zeitraum, in der Regel mehrere Jahrzehnte. Kommt man zum Ergebnis, dass die Verpflichtung im Zeitpunkt der Zusage zu passivieren ist, stellt sich die Frage der Bewertung. Von den vielfältigen und komplexen Bewertungsfragen9 hat die Frage der Abzinsung einen besonders gravierenden Effekt. Unternehmen, die ihre Pensionsverpflichtungen nicht passivieren oder zu niedrig bewerten, schaffen sich die Möglichkeiten, heute eine höhere Dividende

__________ 7 Vgl. Buettner/Lorson/Melcher, KoR 2009, 461 mit Verweis auf den Monatsbericht 1/2009 der Bundesbank; zur Bedeutung der lediglich rückstellungsfinanzierten Pensionsverpflichtung im internationalen Vergleich s. Roth, ZGR 2011, 516, 522. 8 S. zum Umfang der Deckung im DAX die Studie von Towers Watson unter http:// www.towersperrin.com/tp/showdctmdoc.jsp?country=deu&url=Master_Brand_2/DEU /Press_Releases/2009/20090330/2009_03_30.htm; sowie zur negativen Entwicklung in den Anschlüssen zum 31.12.2011 bei im DAX und M-DAX notierten Unternehmen FAZ v. 15.2.2012, S. 18 mit Hinweis auf Towers Watson, vgl. auch Roth, ZGR 2011, 516, 523 m. w. N.; zur bilanziellen Bedeutung des § 246 Abs. 2 Satz 2 HGB, Förschle/ Kroner in Beck’scher Bilanz-Kommentar (Fn. 3), § 246 HGB Rz. 120 ff.; Hasenburg/ Hausen, DB 2009 Beilage Nr. 5, S. 38, 41 f. 9 Vgl. nur Hasenburg/Hausen, DB 2009 Beilage Nr. 5, S. 38, 39.

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und erfolgsabhängige Tantiemen auszahlen zu können. Sie verschieben die Auswirkungen der Pensionszusagen in die Zukunft und mindern die Unternehmenssubstanz. Dabei ist indessen nur ungewiss, ob die Verpflichtung erfüllt werden kann, nicht aber, dass sie erfüllt werden muss.

III. Pensionen in der HGB-Bilanz Der HGB-Abschluss hat Ausschüttungsbemessungsfunktion und ist Grundlage der steuerlichen Gewinnermittlung. Die richtige Bemessung des ausschüttungsfähigen Gewinns hat entscheidende Bedeutung für die Kapitalerhaltung.10 Das Bilanzrecht kennt daher das Gebot der Vollständigkeit.11 Dies gilt auf der Passivseite aufgrund des Imparitätsprinzips in besonderer Schärfe. Danach sollen absehbare Risiken und Verluste möglichst früh ergebniswirksam antizipiert werden.12 Trotzdem ist es in Deutschland nicht selbstverständlich, dass alle Pensionsverpflichtungen passiviert werden. 1. Frühe Weichenstellung durch die Rechtsprechung Viele Gelegenheiten haben Zivilgerichte nicht, sich mit Bilanzierungsfragen auseinanderzusetzen. 1961 war das anders. Damals hat der BGH eine wichtige Weiche zur Frage des Ansatzes von Pensionsverpflichtungen gestellt.13 Er entschied, dass eine Pflicht zur Passivierung von Pensionsverpflichtungen nicht bestehe. Die Entscheidung macht das ganze Problem auf schönste Art noch einmal plastisch. Die Klägerin monierte, dass aufgrund der Unterbewertung der Pensionsrückstellungen zu hohe Dividenden ausgeschüttet und zu hohe Tantiemen an den Vorstand ausgezahlt worden seien. Sie verlangte vom Abschlussprüfer dafür Schadensersatz. Der BGH erkannte richtig, dass eine Verpflichtung, mithin eine Schuld i. S. der allgemeinen Bilanzierungsvorschriften vorliegt, wenn auch eine dem Grunde und der Höhe nach ungewisse. Ob eine solche Schuld zu bilanzieren sei, entscheide sich nach den Grundsätzen ordnungsmäßiger Buchführung. Damit musste sich das Gericht entscheiden, ob diese Grundsätze nichts anderes sind als das, was der „durchschnittliche ehrbare Kaufmann“ halt üblicherweise mache (induktive Methode) oder ob die Antwort aus dem Zweck der Rechnungslegung deduktiv abzuleiten sei.14 Der BGH entschied sich für die Empirie. Dabei stützte sich der BGH auf eine Mitgliederumfrage des DIHTs. Diese

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10 Vgl. zu den übrigen Abschlussfunktionen Moxter, Grundsätze ordnungsgemäßer Rechnungslegung, 2003, S. 3 ff. 11 Im Einzelnen Förschle/Kroner (Fn. 8), § 246 HGB Rz. 2 ff. 12 Vgl. im Einzelnen Moxter (Fn. 10), S. 55 ff.; Winkeljohann/Büssow in Beck’scher Bilanz-Kommentar (Fn. 3), § 252 HGB Rz. 34 ff. 13 BGHZ 34, 324 = NJW 1961, 1063. 14 Zur Rechtsnatur der GoB und zur Entwicklung der Diskussion vgl. Moxter (Fn. 10), S. 9 ff. m. w. N. und Förschle/Usinger in Beck’scher Bilanz-Kommentar (Fn. 3), § 243 HGB Rz. 11 ff.

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kam zu dem Ergebnis, dass es keine Pflicht gebe, für Pensionsanwartschaften eine Rückstellung zu bilden, sondern ein Wahlrecht.15 Das Gericht sah diese Auffassung durch das Bundesfinanzministerium, die Rechtsprechung der Finanzgerichte und einen Teil der Literatur bestätigt.16 Dass der Fiskus eine andere Zielrichtung bei der Gewinnermittlung haben könnte als die Gläubiger des Unternehmens, zog das Gericht nicht in Erwägung. Wie überhaupt selbst das Wort „Gläubiger“ oder der Aspekt Gläubigerschutz in der Entscheidung weder erwähnt noch beachtet wurde. Das Vorsichtsprinzip schien für den BGH irrelevant zu sein. Die h. M. und ein Fachgutachten des IDW, die sich für die Passivierung ausgesprochen hatten, wurden verworfen.17 Liest man die Entscheidung heute, so muss man den Eindruck gewinnen, dass der BGH auch deshalb ein Wahlrecht angenommen hat, weil er von der Komplexität der Bewertungsfragen überfordert war. Der BGH argumentierte, die Befürworter einer Passivierungspflicht hätten nur Unternehmen mit einer großen Zahl von Anwartschaftsberechtigten im Auge. Nur bei ihnen kämen versicherungsmathematische Methoden zu verlässlichen Ergebnissen.18 Weiter argumentierte er sozialpolitisch. Eine Verpflichtung zur Passivierung hätte zur Folge, „dass zahlreiche Unternehmen gar nicht in der Lage sind, Pensionszusagen zu erteilen“ und deshalb die Gefahr bestünde, dass weniger Zusagen erteilt würden.19 Seinen „Höhepunkt“ erreicht die Argumentation mit dem Hinweis, dass eine Passivierungspflicht das Gewinnverteilungspotential mindere.20 Der BGH sah in den Pensionszusagen eher ein Steuerspar- und Finanzierungsmodell als ein ernsthaftes gesellschaftsrechtliches und bilanzielles Problem. Er lehnte eine Ansatzpflicht ab. Ohne Ansatzpflicht gibt es natürlich auch kein Bewertungsproblem. Das IDW dagegen hatte sich sehr früh konsequent für den Ansatz aller Pensionszusagen und für eine Bewertung zum Rentenbarwert ausgesprochen.21 2. Entwicklung bis zum Bilanzrechtsmodernisierungsgesetz Diese Entscheidung hat die Position der Befürworter einer Bilanzierung, die das Vorsichtprinzip streng anwenden wollen, nachhaltig geschwächt. Als die Haushaltslage des Bundes schwieriger wurde, fehlte der Bundesregierung die politische Kraft, eine strengere handelsrechtliche Bilanzierung durchzusetzen. In einer solchen Situation leugnet man am besten, dass es ein Problem gibt.22

__________ 15 16 17 18 19 20 21 22

BGHZ 34, 324, 326 = NJW 1961, 1063, 1064. BGHZ 34, 324, 328 = NJW 1961, 1063, 1064. BGHZ 34, 324, 328 f. = NJW 1961, 1063, 1064. BGHZ 34, 324, 330 = NJW 1961, 1063, 1064. BGHZ 34, 324, 334 = NJW 1961, 1063, 1065. BGHZ 34, 324, 331 = NJW 1961, 1063, 1065. IDW Fachgutachten 13/1933, Der Wirtschaftsprüfer 1933, 273. Insoweit informativ die Antwort der Bundesregierung vom 30.3.2006 auf die Anfrage mehrerer Abgeordneter des Bundestages, BT-Drucks. 16/1091.

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a) Ansatz von Alt- und Neuzusagen Mit der Umsetzung der 4. EG-Richtlinie 1985 durch das Bilanzrichtliniengesetz wurde das Ansatzwahlrecht abgeschafft. Die Passivierungspflicht wurde eingeführt. Die Richtlinie ließ im Grundsatz keinen Spielraum. Die Umsetzung war allerdings nicht konsequent. Für Zusagen, die vor dem 1.1.1987 bereits erteilt wurden, blieb es bei einem Wahlrecht (Art. 28 Abs. 1 Satz 1 EGHGB).23 Eine Ansatzpflicht besteht nur für Neuzusagen ab dem 1.1.1987. Das Wahlrecht gilt auch für Erhöhungen und Anpassungen einer Altzusage in späteren Jahren.24 Ob dies richtlinienkonform ist, lässt sich mit guten Gründen bezweifeln.25 Darüber hinaus besteht ein Wahlrecht für mittelbare Pensionszusagen (Art. 28 Abs. 1 Satz 2 EGHGB), z. B. bei Einschaltung einer Unterstützungskasse. Für sie muss in keinem Fall eine Rückstellung gebildet werden.26 Das Bilanzrechtsmodernisierungsgesetz, das am 29.5.2009 in Kraft trat, hat das Ansatzwahlrecht beibehalten. Der Vorschlag im Referentenentwurf, das Wahlrecht für mittelbare Zusagen abzuschaffen, wurde nicht umgesetzt.27 b) Allgemeine Bewertungskriterien Pensionsrückstellungen müssen nach versicherungsmathematischen Methoden im Wege einer bestmöglichen Schätzung ermittelt werden.28 Bei der Bewertung müssen ausgehend von dem konkreten Inhalt der Zusage verschiedene Aspekte berücksichtigt werden: – die künftige Lohn- und Gehaltsentwicklung, – einschließlich der Auswirkungen zu erwartender Beförderungen, – die Entwicklung der Rentensteigerung, bei der die künftige Inflation einfließt, – die ratierliche Entstehung der Ansprüche, – die Fluktuation, – die Lebenserwartung der Anspruchsberechtigten – und der Diskontierungssatz. Mit dem Bilanzrichtliniengesetz (1985) wurde die Passivierung zwar verpflichtend, der Bewertungsspielraum blieb aber erheblich. Ob Lohn-/Gehalts- und Rententrends einzubeziehen sind, war auch noch nach dem Bilanzrichtlinien-

__________ 23 Art. 28 Abs. 1 Satz 1 EGHGB; zur zeitlichen Abgrenzung vgl. Ellrott/Rhiel (Fn. 3), § 249 HGB Rz. 167 m. w. N. 24 Ellrott/Rhiel (Fn. 3), § 249 HGB Rz. 168. 25 Vgl. Hartung, BB 1992, 1817 ff. m. w. N. Dass es auch anders gegangen wäre, zeigt ein Blick in andere EU-Staaten, z. B. Österreich, vgl. Kußmaul/Kihm in FS C.-P. Weber, 1999, S. 123, 126. 26 Näher hierzu Ellrott/Rhiel (Fn. 3), § 249 HGB Rz. 267 f. 27 Hasenburg/Hausen, DB 2009 Beilage Nr. 5, S. 38 f. m. w. N. 28 Näher vgl. Ellrott/Rhiel (Fn. 3), § 249 HGB Rz. 195 ff.

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gesetz unklar.29 Bei der steuerlichen Bewertung fließen Lohn- und Gehaltstrends zwingend nicht ein, die möglichen Rentensteigerungen nur unter engen Voraussetzungen.30 Mit dem Bilanzrechtsmodernisierungsgesetz (2009) wurden Zweifelsfragen über die Einflussgrößen zugunsten einer vorsichtigeren Bewertung geklärt. Die Bewertung wurde in § 253 Abs. 1 Satz 2 und Abs. 2 HGB n. F. grundlegend neu geregelt.31 Zurückzustellen ist danach der nach vernünftiger kaufmännischer Beurteilung notwendige Erfüllungsbetrag. Der Begriff Erfüllungsbetrag ist neu. Er sollte aber nur eine Klarstellung beinhalten. Es ist der Betrag, der zur Erfüllung der Verbindlichkeit aufgebracht werden muss. Dazu gehören auch künftige Preis- und Kostensteigerungen.32 Das hat erhebliche Auswirkungen auf die Rückstellungshöhe.33 Ob die Auswirkungen wahrscheinlicher künftiger Beförderungen berücksichtigt werden müssen, ist noch immer streitig.34 Der Anspruch entsteht regelmäßig über einen langen Zeitraum ratierlich. Der zeitanteilige Aufbau der Rückstellung kann entweder nach dem Teilwertverfahren oder nach der in IFRS vorgesehen Ansammlungsmethode (Projected Unit Credit Method – PUCM) geschehen. Beim Teilwertverfahren wird der Aufwand für die spätere Versorgungsleistung gleichmäßig über die gesamte Dienstzeit des Versorgungsberechtigten verteilt. Es entspricht der Bewertungsmethode für steuerliche Zwecke. Bei der PUCM wird der Aufwand auf die Dienstjahre in Höhe des jeweils erdienten Anspruchs verteilt. Nach h. M. besteht zwischen beiden Methoden ein Wahlrecht.35 Dieses Wahlrecht hat insbesondere durch die Abzinsung Auswirkungen auf die Höhe der Rückstellung.36 Erhebliche Auswirkungen hat auch die zugrunde gelegte Lebenserwartung. Bei der Umstellung der Sterbetafel von der Heubeck-Richttafel 2005 G auf die Sterbetafel DAV 2004 R der Deutschen Aktuarvereinigung steigt z. B. die Lebenserwartung eines 65-jährigen um 6,3 Jahre. Die Folge kann eine Steigerung der Rückstellung um mehr als 40 % sein.37 Daraus ist zu folgern: Die Sterbetafeln müssen spezifischer für einzelne Berufsgruppen fortentwickelt werden, um das Langlebigkeitsrisiko besser zu erfassen. Sie müssen schneller aktualisiert werden.

__________ 29 Vgl. Ellrott/Rhiel in Beck’scher Bilanz-Kommentar, 5. Aufl. 1999, § 249 HGB Rz. 198 f.; vgl. auch Gassen/Pierk/Weil, DB 2011, 1061, 1064 m. w. N. 30 Näheres s. Weber-Grellet in Schmidt, EStG, 29. Aufl. 2010, § 6a EStG Rz. 57. 31 Einen guten Überblick zur Neuregelung findet sich bei Hasenburg/Hausen, DB 2009 Beilage Nr. 5, S. 38, 39. 32 Kozikowski/Schubert in Beck’scher Bilanz-Kommentar (Fn. 3), § 253 HGB Rz. 51. 33 Vgl. hierzu auch Gassen/Pierk/Weil, DB 2011, 1061, 1064; Buettner/Lorson/Melcher, KoR 2009, 461, 463 f. 34 Vgl. Ellrott/Rhiel (Fn. 3), § 249 HGB Rz. 195. 35 IDW ERS HFA 30 Rn. 61 f.; Hasenburg/Hausen, DB 2009 Beilage Nr. 5, S. 38, 40; Hagemann/Oecking/Wunsch, DB 2010, 1021, 1022 m. w. N. 36 Zu den Auswirkungen vgl. Gassen/Pierk/Weil, DB 2011, 1061, 1064. 37 Vgl. Faßhauer, Rechnungslegung nach IFRS über betriebliche Pensionssysteme, 2010, S. 53, 56 m. w. N.

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Insgesamt hat das Bilanzrechtsmodernisierungsgesetz Fortschritte bei der Bewertung gebracht. Der Gesetzgeber sah sich aber veranlasst, den Effekt abzuschwächen. Die Unternehmen haben ein Wahlrecht, wie sie die Erhöhung der Rückstellung bilanziell verarbeiten (Art. 67 Abs. 1 Satz1 EGHGB). Sie können die Zuführungsbeträge sofort erfassen. Alternativ können sie den Zuführungsbetrag für laufende Pensionen und Anwartschaften auf maximal 15 Jahre bis zum 31.12.2024 verteilen. Dabei muss jährlich mindestens 1/15 erfasst werden.38 Die außerordentlich lange Streckung lässt keine besondere Vorsicht erkennen. c) Abzinsung nach HGB aa) Problem des Barwertes Die Abzinsung führt dazu, dass die Rückstellung nicht mit der Summe aller Erfüllungsbeträge angesetzt wird, sondern mit einem niedrigeren Barwert.39 Je höher der Zinssatz ist, mit dem abgezinst wird, umso niedriger ist die Rückstellung. Das hat erhebliche Auswirkungen. Ändert man z. B. bei einer Pensionsrückstellung von 500 Mio., die bisher mit 5 % abgezinst wurde, den Zinssatz um einen Prozentpunkt auf 4 %, erhöht sich die Rückstellung um rund 100 Mio. auf 600 Mio.40 Im Zeitablauf steigt mit dem Näherrücken des Fälligkeitszeitpunktes der Barwert. Das Unternehmen muss daher die Differenz zum neuen höheren Barwert aufwandswirksam passivieren.41 Dies macht deutlich, dass mit der Diskontierung die Belastung in die Zukunft verschoben wird. Mit der Abzinsung wird unterstellt, dass durch die Rückstellung Mittel gebunden werden, die dem Unternehmen für Betriebsmittel oder Investitionen zur Verfügung stehen. Die Rückstellung wird daher so behandelt, als spare das Unternehmen die Zinsen für eine Fremdfinanzierung in entsprechender Höhe. Der Rechnungszinsfuß soll dabei einerseits typisiert der Rendite entsprechen, die das Unternehmen auf längere Sicht mit dem durch die Pensionsrückstellung gebundenen Kapital erwirtschaften kann. Andererseits soll der für die Abzinsung verwendete Zinssatz annähernd dem durchschnittlichen Zinssatz für eine langfristige Fremdfinanzierung entsprechen.42 Bei der Rückstellungsbewertung ist das Vorsichtsprinzip in der Ausprägung des Imparitätsprinzips zu beachten. Es dient dem Gläubigerschutz und der Kapitalerhaltung.43 Vorhersehbare Risiken und Verluste müssen aufwandswirksam antizipiert werden. Mit dem Eintritt des Aufwandes muss ernsthaft zu

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38 Vgl. Hasenburg/Hausen, DB 2009 Beilage Nr. 5, S. 38, 45 f. 39 Vgl. zur Diskussion auch ASB, Working Paper, Discounting in Financial Reporting, 1997; EFRAG, Discussion Paper, The Financial Reporting of Pensions, 1.2008; IFRS zu IAS 19 Employee Benefit, 6.2011, Basis for Conclusion on IAS 19, BC 131. 40 Überschlägiger Wert; vgl. auch Gassen/Pierk/Weil, DB 2011, 1061, 1063; Buettner/ Lorson/Melcher, KoR 2009, 461 m. w. N. 41 Vgl. auch Moxter (Fn. 10), S. 216 f. 42 Vgl. Begründung zur Erhöhung des Abzinsungssatzes nach § 6a EStG, BT-Drucks. III/1811, S. 9. 43 Unstr., vgl. nur Winkeljohann/Büssow (Fn. 12), § 252 HGB Rz. 35 m. w. N.

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rechnen sein. Im Zweifel hat danach eine vorsichtige Bewertung Vorrang. Außerdem dürfen Erträge erst mit ihrer Realisierung am Markt erfasst werden. Das ist i. d. R. der Zeitpunkt der Leistungserbringung.44 Durch die Abzinsung werden rechnerische Erträge unterstellt, die noch nicht realisiert wurden. Daher verstößt die Abzinsung im Grundsatz gegen das Vorsichtsprinzip in der Ausprägung des Realisationsprinzips.45 Das lässt sich nur unter engen Voraussetzungen rechtfertigen, die mit den Funktionen des Jahresabschlusses im Einklang stehen müssen. bb) Gesetzliche Abzinsungspflicht nach HGB Sämtliche langfristige Rückstellungen sind nach den Änderungen durch das Bilanzrechtsmodernisierungsgesetz zu diskontieren (§ 253 Abs. 2 HGB n. F.). Das ist neu. Bisher durfte nur dann abgezinst werden, wenn die zugrundeliegende Verbindlichkeit einen Zinsanteil enthielt.46 Erforderlich war, dass die Beteiligten objektiv ein Kreditgeschäft gewollt hatten.47 Die Pensionsrückstellungen waren schon nach der Umsetzung der 4. EG-Richtlinie abzuzinsen. Bei dem anzuwendenden Diskontierungssatz bestand nach h. M. aber ein beachtlicher Beurteilungsspielraum.48 Durch das Bilanzrechtsmodernisierungsgesetz wurde dieser Spielraum nun eingeschränkt. Auch für Pensionsrückstellungen gilt der Einzelbewertungsgrundsatz. Danach muss für jeden einzelnen Pensions- und Anwartschaftsberechtigten ein der Laufzeit entsprechender Zinssatz ermittelt werden. Der dafür maßgebliche Diskontierungszinssatz wird bindend von der Deutschen Bundesbank festgesetzt (§ 253 Abs. 2 HGB n. F.). Grundlage ist ein vom Markt abgeleiteter Zinssatz für die Restlaufzeit der Verpflichtung. Der Berechnung wird der Durchschnittszinssatz der letzten sieben Jahre zugrunde gelegt, um eine gewisse Glättung zu erreichen.49 Zur Vereinfachung können die Pensionsrückstellungen mit einer Restlaufzeit von pauschal 15 Jahren gerechnet werden. Das heißt, auch hier besteht ein Wahlrecht. Bei der Ermittlung des Zinssatzes geht die Bundesbank nach der Rückstellungsabzinsungsverordnung50 vom Zinssatz für Unternehmensanleihen mit einer hochklassigen Bonitätseinstufung (§ 2 RückZinsV, AA-Rating) aus. Auf den 31.12.2010 war ein Abzinsungssatz von 5,15 % anzuwenden. Zur gleichen Zeit hat eine Anleihe der Bundesrepublik Deutschland mit einer Laufzeit zwischen 12 und 15,5 Jahren eine Rendite von 2,06 bis 2,33 % gebracht.

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44 Winkeljohann/Büssow (Fn. 12), § 252 HGB Rz. 44 m. w. N. 45 Früher ganz h. M., vgl. Clemm/Erle in Beck’scher Bilanz-Kommentar, 5. Aufl. 1999, § 253 HGB Rz. 161 m. w. N. auch zur Diskussion; vgl. auch Drinhausen/Ramsauer, DB 2009 Beilage Nr. 5, S. 46, 49, sie sprechen im Zusammenhang mit der Neuregelung von einer „Modifikation des Vorsichtsprinzips“; Moxter (Fn. 10), S. 216 f. 46 Drinhausen/Ramsauer, DB 2009 Beilage Nr. 5, S. 46, 49. 47 Clemm/Erle (Fn. 45), § 253 HGB Rz. 161 m. w. N. 48 Vgl. Ellrott/Rhiel (Fn. 29), § 249 HGB Rz. 201. 49 Vgl. Hasenburg/Hausen, DB 2009 Beilage Nr. 5, S. 38, 40; Ellrott/Rhiel (Fn. 3), § 249 HGB Rz. 200. 50 Rückstellungsabzinsungsverordnung v. 25.5.2009, BGBl. I 2009, 1102.

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d) Würdigung der Regelung im Gesamtgefüge der Rechnungslegungsvorschriften Es stellt sich die Frage, ob sich die gesetzlichen Regeln zur Bilanzierung der Pensionsverpflichtung ohne Wertungswidersprüche in die Gesamtheit aller Bilanzierungsvorschriften einfügen. Eine solche Frage ist möglich und sinnvoll, weil die Bilanzierungsregeln ein geschlossenes System darstellen. Dabei zeichnet sich das System dadurch einen vierstufigen Aufbau aus: Auf der ersten Stufe steht die spezielle Einzelregel, die einen besonderen Lebenssachverhalt regelt. Auf dieser Ebene sind die Vorschriften für Pensionsrückstellungen angesiedelt. Auf der nächsten Stufe stehen die allgemeinen Regeln, in unserem Fall die Regeln für Verbindlichkeiten. Darüber gibt es die allgemeinen Ansatzund Bewertungsregeln nach den Grundsätzen ordnungsmäßiger Rechnungslegung, wie sie teilweise, wenn auch nicht vollständig, in § 243 HGB und insbesondere in § 252 HGB kodifiziert sind. Schließlich stehen auf der vierten und letzten Stufe die generellen Jahresabschlussziele, insbesondere die Funktion der Bemessung der Gewinnansprüche und die Konkretisierung der Informationspflichten. Dabei gehen die Spezialvorschriften den allgemeinen Regeln vor. Wenn es aber Wertungswidersprüche gibt, stellt sich die Frage, ob diese gerechtfertigt sind. Fehlt eine plausible Erklärung, so handelt es sich um eine systemwidrige Ausnahme. Im Folgenden geht es demnach um zwei Kriterien: dem allgemeinen Kriterium der Widerspruchsfreiheit und dem spezifischen des angemessenen Gläubigerschutzes. aa) Ansatzwahlrechte Ansatzwahlrechte auf der Passivseite sind ein Anachronismus. Das bedarf nach allem bisher Gesagten keiner weiteren Erläuterung. Sie diskreditieren ein Bilanzierungssystem. Sie sind überhaupt nur dadurch zu erklären, dass der Gesetzgeber nicht den Mut aufgebracht hat, eine falsche Entscheidung zu korrigieren. Darin steckt noch ganz der Geist der Entscheidung des BGH aus dem Jahre 1961. Der Gesetzgeber zieht aus der Weiterentwicklung der Gläubigerposition der Anwartschafts- und Pensionsberechtigten durch das BetrAVG, des Gesellschaftsrechts, insbesondere auch hier des Gläubigerschutzes und der internationalen Rechnungslegung nicht die notwendigen Konsequenzen für die Passivierung dieser Verpflichtungen im handelsrechtlichen Jahresabschluss nach HGB. Man kann hier nur vermuten, dass dies aus falsch verstandenen Fiskalinteressen und der Rücksicht gegen Unternehmen geschieht, die nicht rechtzeitig Vorsorge getroffen haben. Dieses Problem regelt sich auch durch Zeitablauf (leicht zynisch als „biologische Lösung“ bezeichnet) nicht in angemessener Weise. Selbst in den Fällen, in denen keine Pensionszusagen mehr erteilt wurden, bleiben die Belastungen noch für Jahrzehnte bestehen. Der Arbeitnehmer z. B., der 1985 im Alter von dreißig Jahren eine Pensionszusage erhalten hat, geht 2020 in Rente und kann damit rechnen, dass er bis 2036 lebt. Die Anhangsangaben zur Unterdeckung kompensieren die Lücken im Gläubigerschutz nicht. Sie haben keinen Einfluss auf die Gewinnermittlung. Der Gläubigerschutz findet keine Beachtung. 214

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bb) Bewertungsspielräume Die Bewertungs- und Beurteilungsspielräume (Festlegung der Gehalts- und Rententrends, Verfeinerung der Sterbetafeln, PUCM oder Teilwertverfahren) gehen noch zu weit. Hier sind die Wissenschaft und der Berufsstand der Wirtschaftsprüfer aufgerufen, im Lichte des Vorsichtsprinzips schärfere Kriterien zu entwickeln und die Spielräume einzuengen, ganz nach dem Grundsatz: Im Zweifel eher vorsichtig bilanzieren, statt eine Last in die Zukunft zu schieben. cc) Abzinsung Die beachtliche Hebelwirkung des Diskontierungssatzes ist deutlich geworden. Die gesetzliche Regelung zur Bestimmung dieses Satzes ist nun eindeutig. Dies ist ein Fortschritt. Die Abzinsung stellt ein Abstrich vom Vorsichtsprinzip dar. Gleichwohl ist eine angemessene und vorsichtige Abzinsung für eine realistische Bewertung erforderlich. Die Abzinsung verstößt unter diesen Voraussetzungen nicht gegen das Realisationsprinzip.51 Die Nichtabzinsung von Verbindlichkeiten und Rückstellungen war, solange sie auch steuerlich uneingeschränkt anerkannt wurde, kaum Gegenstand der Kritik durch die betroffenen Unternehmen.52 Diese Position ist nun überwunden. Die entscheidende Frage ist aber, mit welchem Satz die Rückstellungen diskontiert werden. (1) Risikoaufschlag Der Abzinsungssatz wird heute aus den Renditen von Unternehmensanleihen mit einem guten Rating abgeleitet. Dieses Konzept vernachlässigt das Vorsichtsprinzip. Zwischen einer risikolosen Anlage (also einer Bundesanleihe) und einer Unternehmensanleihe besteht ein Renditeunterschied. Dieser Unterschied drückt das höhere Risiko einer Mittelbindung im Unternehmen aus. Der Zins für Unternehmensanleihen ist nicht deshalb höher als der einer risikolosen Anlage, weil das Unternehmen in der Lage ist, einen höheren Zins zu erwirtschaften, sondern weil die Gläubiger ihm weniger trauen. Legt man der Abzinsung die Rendite von Unternehmensanleihen zugrunde, so führt das zu dem paradoxen Ergebnis, dass die Rückstellungen sinken, wenn das Misstrauen der Anleihezeichner gegen Unternehmen zunimmt und dadurch die Rendite für Unternehmensanleihen steigt. Lässt man diesen Risikoaufschlag in die Rückstellungsbewertung als Aufschlag auf den Abzinsungssatz zu, verkehrt sich der Risikoaufschlag im Endeffekt in einen Abschlag. Als 2010 die Renditen für Unternehmensanleihen nach oben gingen, hat das dazu geführt, dass die Rück-

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51 Moxter (Fn. 10), S. 166. 52 Vgl. Kolusa in Schmidt (Fn. 30), § 6a EStG Rz. 457 zu den Stilllegungskosten von Kraftwerken und in Rz. 482 zu den Rekultivierungskosten im Bergbau, sowie die Klage gegen die Erhöhung des steuerlichen Abzinsungssatzes, BVerfG, VersR 1985, 193.

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stellungen z. T. gesunken sind. Ein absurdes Ergebnis: Weil die Lage des Schuldners riskanter geworden ist, darf dieser die Vorsorge zur Bedienung seiner Verpflichtungen reduzieren. Dies geschieht alles zu Lasten des Pensionsberechtigten. Neue Gläubiger waren demgegenüber in der Lage, höhere Zinsen zu fordern. Bedenklich ist es auch, dass die spezifischen Risiken des verpflichteten Unternehmens nicht in die Bewertung einfließen sollen.53 Das ist unter dem Gesichtspunkt der Typisierung akzeptabel. Angesicht der noch immer zahlreichen Wahlrechte und Beurteilungsspielräume beim Ansatz und bei der Bewertung von Pensionsrückstellungen ist das darauf aufbauende Argument der Vergleichbarkeit dagegen wenig tragfähig. Richtig wäre es, von der Rendite einer risikolosen Anlage auszugehen und von dieser Rendite die Differenz zur Rendite einer Unternehmensanleihe abzuziehen. Beispiel: Die Rendite einer Bundesanleihe mit einer Laufzeit von 15 Jahren beträgt 3 %, die Rendite einer gleichlang laufenden Unternehmensanleihe mit einer AA-Bewertung beträgt 5 %. Die Differenz ist also 2 %. Der richtige Abzinsungssatz wäre danach (3–2 =) 1 %. Der Betrag könnte auch negativ werden. In diesem Fall wären die Verpflichtungen nach dem Nominalprinzip mit dem unabgezinsten allerdings auch nicht aufgezinsten Verpflichtungsbetrag anzusetzen. Hiervon wäre nur dann und insoweit abzusehen, wie das Unternehmen Mittel zur Deckung der Pensionsverpflichtungen separiert hat. Soweit die Verpflichtungen ausfinanziert sind, kann die Rückstellung mit dem risikolosen Zinssatz abgezinst werden. (2) Beizulegender Wert Unter Umständen bietet sich auch ein anderer Ansatz an: Gäbe es die Sonderregelung des § 253 Abs. 2 HGB n. F. nicht, so wäre die Rückstellung nach „vernünftiger kaufmännischer Beurteilung“ zu bewerten (§ 253 Abs. 1 Satz 2 HGB n. F.). Darunter ist ein Schätzungsmaßstab zu verstehen.54 Als Ausdruck des Vorsichtsprinzips ist die Bewertung von Vermögensgegenständen des Anlagevermögens mit dem niedrigeren beizulegenden Wert bei dauerhafter Wertminderung zwingend (§ 253 Abs. 3 Satz 3 HGB n. F.).55 Auf den beizulegenden Zeitwert wird auch bei Altersversorgungsverpflichtungen abgestellt, deren Höhe sich ausschließlich nach dem Wert von Wertpapieren richtet (§ 253 Abs. 1 Satz 3 HGB n. F.). Der beizulegende Zeitwert ist der Marktpreis (§ 255 Abs. 4 HGB n. F.). Soweit es einen aktiven Markt gibt, muss der vernünftig urteilende Kaufmann bei der Wertfindung im Wege der Schätzung auf diesen Markt zurückgreifen. Eine bessere Objektivierung gibt es nicht.

__________ 53 Ablehnend IAS 19 BC 131 ff. zur ab 1.1.2013 geltend Fassung. 54 Kozikowski/Schubert (Fn. 32), § 253 HGB Rz. 154. 55 Kozikowski/Roscher/Schramm in Beck’scher Bilanz-Kommentar (Fn. 3), § 253 HGB Rz. 307.

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Dieser Gedanke lässt sich auf die Pensionszusagen übertragen. Den Markt für diese Verpflichtungen des Arbeitgebers gibt es in zwei Formen:56 Der Arbeitgeber kann eine Rückdeckungsversicherung abschließen oder zugunsten seines Arbeitnehmers eine Lebensversicherung in der Form der Leibrente. Eine solche Leibrente könnte auch so abgeschlossen werden, dass die Besonderheiten einer Verpflichtung abgebildet werden, die dem BetrAVG unterliegt. Die Versicherung kalkuliert den Preis für diese Leibrente auf der Basis der garantierten Mindestverzinsung für Lebensversicherungen. Dieser Zinssatz wird vom Bundesministerium für Finanzen in Abstimmung mit der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) und der Deutschen Aktuarsvereinigung festgesetzt. Er wurde ab 2012 von bisher 2,25 % auf 1,75 % herabgesetzt. Grundlage ist die durchschnittliche Umsatzrendite zehnjähriger Staatsanleihen. Davon wird ein Abschlag von 40 % gemacht (§ 65 VAG). Ziel dieser Regelung ist es, die Insolvenzgefährdung von Lebensversicherungen durch zu aggressiven Wettbewerb zu verhindern. Das geschieht im Interesse der Versicherten. Im Unterschied zur Bewertung der Pensionsverpflichtung in der Bilanz gilt der vorgeschriebene Mindestzinssatz im Zeitpunkt des Abschlusses der Versicherung aber auf Dauer. Obwohl die Begrenzung vordergründig eine ganz andere Zielrichtung hat, liegt dahinter der gleiche Gedanke wie beim Schutz der Berechtigten einer betrieblichen Altersversorgung. Damit wird im kritischen Umfeld der Altersversorgung eine besondere Ausprägung des Vorsichtsprinzips verwirklicht. Aus Sicht des Arbeitnehmers hat die betriebliche Altersversorgung keine geringere Bedeutung als die durch eine Lebensversicherung. Dagegen ließe sich nun einwenden, Lebensversicherungen erwirtschafteten regelmäßig eine höhere Rendite als den Mindestzins und diese flösse auch in die Rentenberechnung ein. Aber erstens haben viele Versicherungen in den letzten Jahren Mühe gehabt, die Mindestverzinsung zu erwirtschaften. Zweitens kann eine höhere Rendite nach dem Realisationsprinzip erst dann berücksichtigt werden, wenn der Gewinn realisiert ist. Aus der Sicht des Unternehmens, das die Pensionszusage erteilt hat, steht das erst fest, wenn der Rentenanspruch vollständig erfüllt ist, also bei Tod des Arbeitnehmers. Weiter ist zu bedenken, dass sich die Mindestverzinsung nur auf den Sparbetrag bezieht. Das ist der vom Versicherungsnehmer aufgebrachte Beitrag abzüglich der Abschluss- und Verwaltungskosten. D. h. tatsächlich ist der sog. Garantiezins noch deutlich niedriger. Zwar fallen auch bei einem Unternehmen, das eine Betriebsrente zusagt, Verwaltungskosten an, regelmäßig dürften die aber nicht ins Gewicht fallen. Selbstverständlich legen Lebensversicherungen auch längere Lebenserwartungen zugrunde (vgl. dazu oben III. 2. b)). Beim Erwerb einer Leibrente zugunsten des Arbeitnehmers bei einer Versicherung kommt hinzu, dass die BaFin die Versicherung überwacht und die Versicherung bei ihren Anlagen strenge Vorgaben beachten muss. Diese Sicherheit fehlt, wenn das Unternehmen auf die Einschaltung einer Versicherung verzichtet, sollte sich dann aber in der Risikobewertung der Verpflichtung widerspiegeln.

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56 Ein aktiver Markt wird bestritten in IAS 19 BC 26 (zur z. Z. anwendbaren Fassung).

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Einen vorsichtigen Abzinsungssatz ließe sich nach allem auch aus der garantierten Mindestverzinsung von Lebensversicherungen ableiten.

IV. Pensionsrückstellungen nach IAS 19 Kapitalmarktorientiert Mutterunternehmen sind verpflichtet, ihren Konzernabschluss nach den IFRS-Regeln aufzustellen.57 1. Unterschiede in der Jahresabschlussfunktion Der IFRS-Abschluss hat keine Ausschüttungsbemessungsfunktion und ist nicht Grundlage gesellschaftsrechtlicher Kapitalerhaltungsregeln. Der Gläubigerschutz ist daher weniger ausgeprägt als im HGB-Abschluss. Im Vordergrund steht die Informationsfunktion. Der IFRS-Abschluss ist zudem für die steuerliche Gewinnermittlung irrelevant. 2. Ansatzregeln für Pensionsverpflichtungen In IAS 1958 sind die Ansatzregel für Verpflichtungen aus betrieblicher Altersversorgung59 nach IFRS klar formuliert. Sie lassen keine Ausnahmen zu. Bereits eine faktische Verpflichtung ist zu erfassen.60 Es gibt im Gegensatz zum HGB auch keine Unterscheidung zwischen unmittelbaren und mittelbaren Pensionszusagen. Insoweit stellen sie einen echten Fortschritt dar. Dies in Deutschland zu akzeptieren fiel leichter, weil der zwingende Anwendungsbereich der IFRS- Bilanzierung begrenzt ist und insbesondere weite Teile des deutschen Mittelstandes verschont. 3. Bewertung Die versicherungsmathematischen Annahmen, die nach IFRS in die Bewertung einfließen, waren von Anfang an umfassender als nach HGB (IAS 19, 73). Die Neuregelungen durch das Bilanzrechtsmodernisierungsgesetz haben für den HGB-Abschluss zu einer Angleichung geführt, sodass insoweit auf die obigen Ausführungen verwiesen werden kann. a) Allgemeine Bewertungskriterien An einigen Stellen ist IAS 19 noch immer klarer als es die HGB-Regeln sind. Künftige Gehaltserhöhungen aufgrund einer wahrscheinlichen Karriere des

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57 Art. 4 der IAS-Verordnung, Verordnung der EG Nr. 1606/2002 v. 19.7.2002, ABI. EG Nr. L 243, S. 1. 58 Die aktuelle Fassung des IAS 19 wurde überarbeitet, ab 1.1.2013 gilt eine neue Fassung, vgl. dazu auch Fn. 62. 59 IAS 19, 3, 7; zu den unterschiedlichen Formen in der Terminologie der IFRS Rhiel in Lüdenbach/Hoffmann, IFRS Kommentar, 9. Aufl. 2011, § 22 Rz. 2 ff., 8 f. sowie 24. Hier werden nur die leistungsorientierten Zusagen (defined benefit plans – DBO) erörtert. 60 IAS 19, 52; Rhiel (Fn. 59), § 22 Rz. 24.

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Anwartschaftsberechtigten fließen zwingend in die Bewertung ein.61 Nur das PUCM-Verfahren ist zulässig, das Teilwertverfahren nicht. Damit sind die Beurteilungsspielräume eingeschränkt. An einer Stelle ist die aktuelle IASRegelung allerdings bisher zu Lasten des Vorsichtsprinzips großzügiger: Unvorhergesehene Steigerungen der Verpflichtungen, die größer als 10 % der leistungsorientierten Verpflichtungen oder des Vermögens eines externen Trägers sind, müssen nicht sofort bilanziert werden. Es werden bisher mehrere Glättungsmethoden zugelassen.62 Die Regelung fällt aber ab dem 1.1.2013 weg. b) Abzinsung Für die Ermittlung des Rechnungszinsfußes gibt es nur einen engen63 Bewertungsspielraum. Maßgeblich ist die Rendite, die am Abschlussstichtag für erstrangige festverzinsliche Industrieanleihen am Markt erzielt werden. Währung und Laufzeit der Referenzanleihen müssen mit der Währung und den voraussichtlichen Fristigkeiten der nach Beendigung der Arbeitsverhältnisse zu erfüllenden Verpflichtungen übereinstimmen (IAS 19, 78). Ausdrücklich wird klargestellt, dass weder das Anlagerisiko noch das Ausfallrisiko, das die Gläubiger des Unternehmens tragen, im Abzinsungssatz reflektiert werden (IAS 19, 79). Die Frage war heftig umstritten.64 In besonderen Situationen wie 2008 wurden in der Praxis niedrigere Zinssätze zugelassen.65 Unzulässig ist es, einen mehrjährigen Durchschnittszins für AA-Anleihen zu bilden.66 Die HGB-Regelung schreibt das dagegen ausdrücklich vor. c) Kritische Würdigung Die Unterschiede in den Bewertungsfragen zwischen IFRS und HGB sind gering. An einigen Stellen ist IAS 19 klarer und vorsichtiger. Die Glättungsmöglichkeiten nach IAS 19 bei größeren Veränderungen bieten (noch) zu viele Wahlrechte und eine zu lange Verteilungsmöglichkeit. Diese Regelung entfällt zu Recht. Bei der Abzinsungsregelung gelten die gleichen Bedenken wie beim HGB-Konzept. Zusätzlich gibt es einen weiteren systematischen Ansatz, die Widersprüchlichkeit des hohen Rechnungszinsfußes aufzuzeigen. Es ist dies der Vergleich mit den Regeln für die Berücksichtigung von Wertminderungen von Vermögenswerten (IAS 36 – Impairment of Assets).

__________ 61 IAS 19; 73, vgl. auch Ellrott/Rhiel (Fn. 3), § 249 HGB Rz. 292. 62 IAS 19, 92 ff.; Rhiel (Fn. 59), § 22 Rz. 49 f.; Ellrott/Rhiel (Fn. 3), § 249 HGB Rz. 294; in der neuen Fassung von IAS 19 abgeschafft, tritt am 1.1.2013 in Kraft. Zu ersten Schätzungen der Auswirkungen vgl. Managermagazin 11/2011, S. 26 mit Verweis auf Pellens. 63 Vgl. hierzu auch May/Querner/Schmitz, DB 2005, 1229 mit Erwiderung von Kühne/ Tonne, DB 2005, 2369 und Replik von May/Querner/Schmitz. 64 Vgl. Basis for Conclusion on IAS 19 (Juni 2011), BC 129 ff. 65 Ellrott/Rhiel (Fn. 3), § 249 HGB Rz. 292. 66 Ellrott/Rhiel (Fn. 3), § 249 HGB Rz. 292.

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Bernd Erle

Für bestimmte Vermögenswerte (IAS 36, 7 ff.) verlangen die IFRS eine Wertüberprüfung. Der Impairmenttest ist nichts anders als der im HGB vorgesehen Niederstwerttest. Bewertungsmaßstab nach IFRS ist entweder der Nettoverkaufserlös eines Vermögenswertes oder bei sogenannten zahlungsmittelgenerierenden Einheiten (z. B. ein Geschäftsbereich oder eine Produktionslinie)67 der Barwert des künftigen Cash flows (Nutzungswert) dieser Einheit. Der so ermittelte Wert wird in Bezug zum Buchwert gesetzt. Dieser Gedanke lässt sich auf die Passivseite übertragen. Nur ist hier beim Vergleich der jeweils höhere Wert für die Passivierung maßgeblich, um dem im Impairmenttest verwirklichten Vorsichtsprinzip gerecht zu werden. Soweit beim Impairmenttest auf den Nettoverkaufserlös abgestellt wird, gelten die Überlegungen zum Marktwert der Pensionsverpflichtung. Dieser bestimmt sich nach den Kosten für eine vergleichbare Leibrente bei einer Versicherung. Bei der Ermittlung des Nutzungswertes wird zunächst der künftige Cashflow bestimmt, den das Unternehmen durch die zu beurteilende Einheit erzielt. Dabei fließen Erwartungen im Hinblick auf eventuelle wertmäßige oder zeitliche Änderungen des Cashflows ein. Genau das geschieht bei der Ermittlung der Pensionsrückstellung. Der Unterschied ist nur, dass man beim Impairmenttest regelmäßig von einem Netto-Cash-Zufluss ausgeht. Beim Altersversorgungswerk für Mitarbeiter liegt dagegen immer ein Cash-Abfluss vor. Im zweiten Schritt wird beim Impairmenttest der Cashflow abgezinst. Ausgangspunkt für die Ermittlung des Rechnungszinsfußes ist der risikolose Zinssatz des aktuellen Marktes. Auf dessen Basis wird ein unternehmensspezifischer Aufschlag auf den Zinssatz für risikofreie Anlagen ermittelt.68 Es handelt sich um ein Kapitalkostenkonzept. Dieser Zinssatz lag 2010 bei zwei konkreten Fällen deutscher DAX-Werte zwischen 7 und 10 %. Der unternehmensspezifische Abzinsungssatz soll das Risiko ausdrücken, dass die zahlungsmittelgenerierende Einheit in das Gesamtunternehmen eingebunden ist, dessen Gesamtschicksal teilt und eine Anlage zum risikofreien Zinssatz gerade nicht möglich ist. Der Aufschlag gegenüber dem risikolosen Zinssatz führt dazu, dass der Barwert sinkt. Auf der Aktivseite hat das Vorsichtsprinzip einen niedrigeren Ansatz zur Folge, auf der Passivseite dagegen einen höheren. Die Methodik des Impairmenttests auf die Passivseite anzuwenden, führt dazu, dass statt eines Risikoaufschlages ein Risikoabschlag erforderlich ist. Konsequent zu Ende gedacht heißt das, der Unterschied zwischen risikolosem Zinssatz und unternehmensspezifischem Zinssatz ist vom risikolosen Basiszins abzuziehen, um für die Passivseite den Abzinsungssatz zu bestimmen. Sobald der Abzinsungssatz allerdings negativ wird, unterbleibt eine Abzinsung gänzlich (so schon oben III. 2. d) cc) (1)). Dieser Ansatz lässt sich auch auf die HGB-Bilanzierung übertragen.

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67 Weitere Beispiele bei Freiberg/Hoffmann in Lüdenbach/Hoffmann, IFRS Kommentar (Fn. 59), § 11 Rz. 85. 68 Worunter Anleihen mit höchster Bonität verstanden werden, IAS 36, 55 ff. mit Anhang A; Einzelheiten bei Freiberg/Hoffmann (Fn. 67), § 11 Rz. 57 ff.

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Pensionsrückstellungen in der deutschen Rechnungslegung

IAS 19 geht dagegen wie dargestellt ganz anders vor. Dieser Widerspruch ist auch im IFRS-Konzept systemwidrig. Eine plausible Rechtfertigung für die ungleiche Berücksichtigung des unternehmensspezifischen Risikos in IAS 19 und in IAS 36 wird in der Begründung nicht hinreichend deutlich und dürfte auch nicht möglich sein.69 Das wird mittlerweile durchaus erkannt. IFRS 1370 stellt für den beizulegenden Wert für Schulden auf den Markt ab. Das Risiko der Nichterfüllung dieser Schuld soll widergespiegelt werden. Dabei ist das Kreditrisiko des Unternehmens einzubeziehen (IFRS 13, 42). Wie die Konsequenzen für die Bewertung von Pensionsverpflichtungen aussehen, ist noch unklar. Bisher sind nur Änderungen für die Bewertung des Planvermögens vorgesehen. Es ist lediglich klargestellt, dass die Auswirkungen nicht offenzulegen sind (IFRS 13, 7). Das lässt vermuten, dass es um die Auswirkungen noch Diskussionen gibt. Bis zur Klärung bleibt das Abzinsungskonzept nach IAS 19 gegenüber IFRS 13 vorrangig.

V. Zusammenfassung und Ausblick Die betriebliche Altersversorgung ist eine private Zusatz-Altersversorgung.71 Der Arbeitnehmer hat dafür gearbeitet. Es ist kein Steuersparmodel für Unternehmen. Es darf aber auch nicht zu steuerlichen Nachteilen für die Unternehmen führen. Die sozialpolitische Bedeutung der betrieblichen Altersversorgung sollte Niederschlag finden im Vorsorgeverhalten der verpflichteten Unternehmen. Die bisherigen Ansatz- und Bewertungsregeln werden dem nicht gerecht. Sie vernachlässigen systemwidrig das Vorsichtsprinzip. Für eine Lösung ist kein kompliziertes Konzept erforderlich. Es reicht, dem Imparitätsprinzip folgend, die Vorsichtsregeln, die für die Aktivseite gelten, auf die Passivseite zu übertragen. Soweit das Unternehmen für die Bedienung der Pensionsverpflichtungen separierte und frei anlegbare Mittel in ausreichender Höhe hat, ist der risikofreie Zins angemessen. Sind die Mittel hingegen im Unternehmen gebunden, ist vom risikofreien Zins ein Abschlag vorzunehmen. Der Abschlag muss die Differenz zwischen risikofreiem Zins und den Kapitalkosten des Unternehmens widerspiegeln. Grenze des Abschlags ist ein Zins von null. Es ist klar, dass den gesetzlichen Regeln für die Pensionsrückstellungen mehr zugrunde liegt, als der konzeptionell richtige Ansatz. Es geht um Finanzierbarkeit und mittelbar um Fiskalinteressen, aber auch um die Grundphilosophie der Jahresabschlussfunktion. Ob aber eine systematisch zu niedrige Bewertung und die ungehinderte Ausschüttung der Differenz zwischen vollständigem Ansatz und vorsichtigerer Bewertung der richtige Weg ist, ist zweifelhaft. Das Ignorieren des Problems und das Hinausschieben einer Lösung ist ein Fehler.

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69 Basis for Conclusion on IAS 19 (Juni 2011), BC 129 ff. 70 IFRS 13 zum Fair value measurement (beizulegender Wert) tritt am 1.1.2013 in Kraft. 71 Die EU hat daher das Thema zu Recht auf ihre Agenda genommen, vgl. Europäische Kommission v. 16.2.2012, COM(2012) 55 final, Weißbuch „Eine Agenda für angemessene, sichere und nachhaltige Pensionen und Renten“. In Deutschland gab es darauf bisher überwiegend reflexartige Ablehnungen auf Arbeitgeber- und Arbeitnehmerseite.

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Holger Fleischer

Zu Bewertungsabschlägen bei der Anteilsbewertung im deutschen GmbH-Recht und im US-amerikanischen Recht der close corporation Inhaltsübersicht I. Unternehmensbewertung als rechtsvergleichende Forschungslücke II. Bewertung und Bewertungsabschläge im US-amerikanischen Recht der close corporation 1. Bewertungsanlässe und Bewertungsvorgaben 2. Bewertungsabschläge im Spiegel von Rechtsprechung und Rechtslehre a) Minderheitsabschlag b) Fungibilitätsabschlag 3. Entfaltung der Einzelargumente a) Argumente für Bewertungsabschläge

b) Argumente gegen Bewertungsabschläge III. Bewertung und Bewertungsabschläge im deutschen GmbH-Recht 1. Bewertungsanlässe und Bewertungsvorgaben 2. Bewertungsabschläge im Spiegel von Rechtsprechung und Rechtslehre a) Minderheitsabschlag b) Fungibilitätsabschlag IV. Zusammenfassung

Peter Hommelhoff war und ist es ein Anliegen, das fächerübergreifende Gespräch zwischen Rechtswissenschaft und Betriebswirtschaftslehre in Gang zu setzen und zu vertiefen.1 Davon zeugen zahlreiche Beiträge im Schnittfeld beider Disziplinen, die häufig in wirtschaftswissenschaftlichen Fachzeitschriften erschienen sind.2 Sie widmen sich vorwiegend der Abschlussprüfung, Unternehmensfinanzierung und Unternehmensorganisation. Behandelt werden aber auch „Grundfragen eines Rechts der Unternehmensbewertung“.3 Dies ermuntert den Verfasser, hier ein bewertungsrechtliches Spezialthema aufzugreifen, das sich mit der Anteilsbewertung in der GmbH beschäftigt – jener Rechtsform also, der sich Peter Hommelhoff als Herausgeber und Mitautor eines bedeutenden Kommentars seit Jahrzehnten verschrieben hat.4 Mit den herzlichen Glückwünschen zum 70. Geburtstag verbindet sich zugleich der Dank

__________ 1 Vgl. etwa Hommelhoff/Schwab, Zum Stellenwert betriebswirtschaftlicher Grundsätze ordnungsgemäßer Unternehmensleitung und -überwachung im Vorgang der Rechtserkenntnis, zfbf Sonderheft 36/1996, 149. 2 Vgl. etwa Hommelhoff, Die Geschäftsordnungsautonomie des Aufsichtsrats – Fragen an die Gestaltungsmacht des Satzungsgebers, BFuP 1977, 509. 3 So der Titel eines Beitrags im Jahrbuch der Fachanwälte für Steuerrecht 1987/88, S. 181. 4 Vgl. Lutter/Hommelhoff, GmbH-Gesetz, 17. Aufl. 2009.

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des Verfassers für die stete Förderung, die Peter Hommelhoff gerade den jüngeren Gesellschaftsrechtlern hat angedeihen lassen.

I. Unternehmensbewertung als rechtsvergleichende Forschungslücke „Bewerten heißt vergleichen“5 – so lautet ein geflügeltes Wort der betriebswirtschaftlichen Bewertungslehre, das im übertragenen Sinne auch dem Recht der Unternehmensbewertung den Weg weisen könnte. Eine umfassende rechtsvergleichende Aufarbeitung dieser sperrigen Materie steht bis heute aus.6 Dies gilt insbesondere für die Bewertung von Geschäftsanteilen an geschlossenen Kapitalgesellschaften.7 Sie weist schon aus betriebswirtschaftlicher Sicht manche Besonderheiten auf.8 Unter gesellschaftsrechtlichen Vorzeichen bietet vor allem die Statthaftigkeit von Bewertungsabschlägen Stoff für eine vertiefte Diskussion. Reichhaltiges Fallmaterial hierzu findet sich in den Vereinigten Staaten,9 während der Fragenkreis in Deutschland bisher vernachlässigt wurde.

II. Bewertung und Bewertungsabschläge im US-amerikanischen Recht der close corporation 1. Bewertungsanlässe und Bewertungsvorgaben Im US-amerikanischen Korporationsrecht werden Bewertungsfragen insbesondere bei zwei Bewertungsanlässen virulent: dem Abfindungsrecht der Anteilseigner bei Grundlagen- oder Strukturänderungen (appraisal remedy) und dem Zwangserwerb der Anteile grob unbillig behandelter Minderheitsgesellschafter

__________ 5 Moxter, Grundsätze ordnungsgemäßer Unternehmensbewertung, 2. Aufl. 1983, S. 123. 6 Für einen ersten Ansatz Heigl, Unternehmensbewertung zwischen Recht und Markt – Eine rechtsvergleichende Untersuchung und kritische Stellungnahme, 2007; aus betriebswirtschaftlicher Sicht Nicklas, Vergleich nationaler und internationaler Standards der Unternehmensbewertung. Ein kontingenztheoretischer Ansatz, 2008; zur „interkulturellen Unternehmensbewertung“ Großfeld in FS Koresuke Yamauchi, 2006, S. 123. 7 Für eine Pionierstudie zur Anteils- und Unternehmensbewertung im englischen Kapitalgesellschaftsrecht Fleischer/Strothotte, RIW 2012, 2. 8 Neuestens Schütte-Biastoch, Unternehmensbewertung von KMU. Eine Analyse unter besonderer Berücksichtigung dominierter Bewertungsanlässe, 2011; ferner Schulz, Größenabhängige Risikoanpassungen in der Unternehmensbewertung, 2009; aus USamerikanischer Sicht Pratt, Valuing a Business. The Analysis and Appraisal of Closely Held Companies, 5th ed. 2008; aus englischer Sicht Long/Bryant, Valuing the Closely Held Firm, 2008. 9 Vgl. aus der Aufsatzliteratur etwa Cavendish/Kammerer, Determining the Fair Value of Minority Ownership Interests in Closely Held Corporations: Are Discounts for Lack of Control and Lack of Marketability Applicable?, 82 Fla. B.J. 10 (2008); Durio, Discounts in Business Valuations after Cannon v. Bertrand, 57 La. B.J. 24 (2009); Miller, Discounts and Buyouts in Minority Investor LLC Valuation Disputes Involving Oppression or Divorce, 13 U. Pa. J. Bus. L. 607 (2011); Moll, Shareholder Oppression and „Fair Value“: Of Discounts, Dates and Dastardly Deeds in the Close Corporation, 54 Duke L.J. 293 (2004); aus der Handbuchliteratur Moll/Ragazzo, The Law of Closely Held Corporations, Loseblatt, Stand 2011, § 8.02[B][3], 8.28–8.54.6.

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Bewertungsabschläge im deutschen und im US-amerikanischen Recht

durch den Mehrheitsgesellschafter (buyout remedy). Das appraisal-Recht eröffnet Gesellschaftern, die mit bestimmten Grundlagen- oder Strukturänderungen nicht einverstanden sind, die Möglichkeit, gegen eine Abfindung aus der Gesellschaft auszuscheiden.10 Es ist praktisch in allen Gliedstaaten gesetzlich geregelt und hat sowohl im Model Business Corporation Act11 wie in den Principles of Corporate Governance des American Law Institute12 seinen Niederschlag gefunden. Das buyout-Recht gestattet Minderheitsgesellschaftern namentlich dann einen Ausstieg aus der Gesellschaft gegen eine Abfindung, wenn die Gesellschaftermehrheit ihre Machtstellung missbraucht hat (oppression).13 Es ist in zahlreichen Gliedstaaten gesetzlich geregelt und wird als ein möglicher Rechtsbehelf zumeist in die Hände des zuständigen Gerichts gelegt. Fehlt eine gesetzliche Grundlage, halten sich viele Gerichte aufgrund ihrer equitable authority gleichwohl für berechtigt, einen „Zwangsauskauf“ der Gesellschafterminderheit anzuordnen.14 Der Model Business Corporation Act sieht einen buyout durch Richterspruch vor,15 sein Model Statutory Close Corporation Supplement zählt ihn ebenfalls zum Kreis der verfügbaren Rechtsbehelfe.16 Die Wirksamkeit dieser zentralen gesellschaftsrechtlichen Schutzinstrumente hängt wesentlich von der Abfindungshöhe und damit von Bewertungsfragen ab.17 Beim buyout-Recht billigen Gesetzgeber und Spruchpraxis dem Minderheitsgesellschafter regelmäßig eine Abfindung zu einem „fair value“ zu, ohne indes zu erläutern, was hierunter zu verstehen ist. Weitere Orientierungshilfe erhoffen sich die Gerichte von den appraisal-Statuten der Gliedstaaten, die für die Abfindungsbemessung ebenfalls auf den Blankettbegriff des „fair value“ abstellen. Auch sie enthalten jedoch zumeist keine nähere Definition oder Umschreibung.18 Daher überrascht es nicht, dass sich zu vielen Bewertungsproblemen eine lebhafte Debatte entwickelt hat, die bis heute andauert.19

__________ 10 Eingehend Letsou, 39 B.C.L. Rev. 39 (1998), 1121; zur historischen Entwicklung Manning, 72 Yale L.J. 223 (1962); rechtsvergleichend Fleischer, ZGR 1997, 368, 394 ff. 11 §§ 13.01 MBCA. 12 §§ 7.21–7.25 ALI-Principles. 13 Näher Moll/Ragazzo (Fn. 9), § 8-19 ff. 14 Vgl. etwa Orchard v. Covelli, 590 F. Supp. 1548, 1560 (W.D. Pa. 1984); Davis v. Sheerin, 754 S.W.2d 375, 380, 383 (Tex. App. 1988). 15 § 14.34 MBCA. 16 §§ 41, 42 Model Stat. Close Corp. Supp. 17 Vgl. Moll/Ragazzo (Fn. 9), § 8-28: „When a controlling shareholder is ordered (or elects) to buy out the shares of a minority shareholder, the price at which the buyout occurs is obviously of critical importance to both parties.“ 18 Vgl. Emory, Wis. L. Rev. 1995, 1155, 1156 n. 8: „Fair value in the context of closely held corporations is clearly defined in the statutes of only two jurisdictions.“; ferner Moll, 54 Duke L.J. 293, 310-11 (2004): „Dissolution-for-oppression statutes usually fail to define fair value.“ 19 Vgl. Moll, 54 Duke L.J. 293, 314 (2004): „As the above discussion reveals, it is the ambiguity in the meaning of fair value that sets the stage for the thorny problem of discounts.“

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2. Bewertungsabschläge im Spiegel von Rechtsprechung und Rechtslehre Zu den bekanntesten Streitfragen gehört die Statthaftigkeit von Bewertungsabschlägen. Sie wird von den US-amerikanischen Gerichten im Ausgangspunkt als eine Rechtsfrage angesehen und nicht dem Urteil des Sachverständigen überlassen.20 Im konkreten Zugriff pflegt die Spruchpraxis einen Minderheitsabschlag (minority discount) und einen Fungibilitätsabschlag (marketability discount) zu unterscheiden.21 Zudem wird ein Abschlag für Schlüsselpersonen (key person discount) erwogen, der hier aus Raumgründen nicht näher behandelt werden kann.22 a) Minderheitsabschlag Minderheitsgesellschaftern fehlt die notwendige Stimmrechtsmacht, um die Geschicke der Gesellschaft zu bestimmen. Infolgedessen sind Minderheitsanteile an geschlossenen Kapitalgesellschaften im Geschäftsverkehr viel weniger wert als eine Mehrheitsbeteiligung. Höchst anschaulich hat ein US-amerikanisches Gericht diesen Befund einmal wie folgt zusammengefasst: „There are 51 shares … that are worth $ 250.000. There are 49 shares that are not worth a ___.“23 Empirischen Erhebungen zufolge beträgt der durchschnittliche Wertabschlag für Minderheitsanteile zwischen 26 und 33 %.24 Hieran schließt sich die Frage an, ob ein solcher Minderheitsabschlag auch bei der Abfindungsbemessung im Rahmen eines appraisal- oder buyout-Verfahrens angezeigt ist oder ob dem gesellschaftsrechtliche Grundwertungen entgegenstehen. Im Rahmen des appraisal-Rechts hat sich nach einer Leitentscheidung des Delaware Supreme Court aus dem Jahre 198925 die Auffassung durchgesetzt, dass ein Minderheitsabschlag unzulässig ist.26 So sehen es inzwischen auch der

__________ 20 Sehr klar für Minderheitsabschläge Balsamides v. Protameen Chemicals, Inc., 734 A.2d 721, 732 (N.J. 1999): „Likewise, the determination of whether a ‚marketability discount‘ is applicable implicates a question of law, and also is subject to de novo review.“; gleichsinnig Brown v. Arp. & Hammond Hardware Co, 141 P.3d 673, 687 (Wyo. 2006): „We join the majority of courts in holding, as a matter of law, that a minority discount may not be applied in determining the fair value of a dissenting shareholder’s interest.“ 21 Dazu etwa Brown v. Arp. & Hammond Hardware Co, 141 P.3d 673, 679 (Wyo. 2006): „It is important to distinguish the minority discount and another commonly discussed discount – the marketability discount, which adjusts for a lack of liquidity.“ 22 Dazu etwa Bernier v. Bernier, 873 N.E.2d 216, 231 (Mass. 2007): „It is appropriate to assess a keyman discount when an individual’s continued services are critical to the financial success of the business being valued and may be or will be lost.“; aus betriebswirtschaftlicher Sicht Pratt (Fn. 8), S. 459 f. 23 Humphrys v. Winous Co., 133 N.E.2d 780, 783 (Ohio 1956). 24 Vgl. Moll, 54 Duke L.J. 293, 316 (2004) m. w. N. 25 Cavalier Oil Corp. v. Harnett, 564 A.2d 1137 (Del. 1989). 26 Dazu m. w. N. Miller, 13 U. Pa. J. Bus. L. 607, 623 (2011): „Subsequent to Cavalier Oil, a majority of courts rejected the minority discount in the context of dissenters’ cases.“

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Bewertungsabschläge im deutschen und im US-amerikanischen Recht

Model Business Corporation Act27 und die Principles of Corporate Governance28 vor. Die nachfolgende Spruchpraxis hat diese ablehnende Haltung für die Abfindungsbemessung im Rahmen des buyout-Rechts übernommen.29 Fast alle Gerichte, die sich seither mit dieser Frage auseinandergesetzt haben, haben sich gegen einen Minderheitsabschlag ausgesprochen.30 In dieselbe Richtung weisen der offizielle Kommentar zum Uniform Partnership Act31 und die jüngst in diesem Punkt neu gefasste Regelung für limited liability companies in Florida, sofern die Gesellschaft nicht mehr als 10 Gesellschafter hat.32 b) Fungibilitätsabschlag Für Geschäftsanteile an geschlossenen Kapitalgesellschaften fehlt in aller Regel ein liquider Sekundärmarkt. Deshalb fällt es veräußerungswilligen Gesellschaftern häufig sehr schwer, Erwerbsinteressenten für ihre Anteile zu finden. Dieses größere Fungibilitätsrisiko schlägt sich in kräftigen Preisabschlägen nieder. Empirischen Erhebungen zufolge beträgt der Abschlag gegenüber börsennotierten Anteilen zwischen 35 und 50 %.33 Dies führt geradewegs zu der Folgefrage, ob im Rahmen des appraisal- oder buyout-Verfahrens Fungibilitätsabschläge vorzunehmen sind oder ob dies aus normativen Gründen unterbleiben muss. Das Meinungsbild zum marketability discount präsentiert sich uneinheitlicher als beim minority discount. Verschiedene Gerichtsentscheidungen aus New York,34 aber auch aus Florida35 und Oregon,36 haben sich dafür ausgesprochen, dem größeren Fungibilitätsrisiko durch einen gesonderten Bewertungsabschlag Rechnung zu tragen. So heißt es in einem jüngeren Urteil aus dem Jahre 2010: „In determining fair value, a minority shareholder’s stock should not be further discounted because of its minority status, however, in determining the fair value of a close corporation such as that at bar, any risk associated with

__________ 27 Vgl. § 13.01(4) MBCA: „Fair value means the value of the corporation’s shares determined […] (iii) without discounting for lack of marketability or minority status […].“ 28 Vgl. § 7.22 (a) ALI Principles: „The fair value of shares under § 7.21 (Corporate Transactions Giving Rise to Appraisal Rights) should be the value of the eligible holder’s (§ 1.17) proportionate interest in the corporation, without any discount for minority status or, absent extraordinary circumstances, lack of marketability.“ 29 Dazu m. w. N. Miller, 13 U. Pa. J. Bus. L. 607, 624 (2011): „The argument against minority discounts originating in dissenters’ rights cases has been extended to the broader context of close corporation oppression cases.“ 30 Umfassende Nachweise bei Moll/Ragazzo (Fn. 9), § 8-35 mit n. 12. 31 Vgl. sec. 701 UPA, comment 3: „[…] The notion of a minority discount in determining the buyout price is negated by valuing the business as a going concern.“ 32 Vgl. Fla. Stat. § 608.4351 (5): „Fair value means the value of the member’s membership interests determined […] (c) For a limited liability company with 10 or fewer members, without discounting for lack of marketability or minority status.“ 33 Vgl. Pratt (Fn. 8), S. 410. 34 Vgl. Blake v. Blake Agency, 486 N.Y.S.2d 341, 349 (N.Y. App. Div. 1985). 35 Vgl. Munshower v. Kolbenheyer, 732 So. 2d 385 (Fla. Dist. Ct. App. 1999). 36 Vgl. Columbia Mgmt. Co. v. Wyss, 765 P.2d 207, 213-14 (Or. Ct. App. 1988).

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illiquidity of the shares should be considered.“37 Die Mehrzahl der einzelstaatlichen Gerichte hält einen Fungibilitätsabschlag dagegen für unzulässig.38 Ebenso wertet der Model Business Corporation Act.39 Eine Spur vorsichtiger äußern sich die Principles of Corporate Governance40 und der Uniform Partnership Act,41 die Fungibilitätsabschläge zwar grundsätzlich ablehnen, hiervon aber beim Vorliegen besonderer Umstände Ausnahmen für möglich halten. 3. Entfaltung der Einzelargumente Welches sind nun die wesentlichen Argumente, die sich für oder gegen Bewertungsabschläge bei der Abfindungsbemessung ins Feld führen lassen? a) Argumente für Bewertungsabschläge Die Befürworter von Bewertungsabschlägen tragen in erster Linie vor, dass Minderheitsgesellschafter bei einem appraisal- oder buyout-Verfahren nicht besser stehen dürften als bei einer Anteilsveräußerung an einen Dritten.42 Bei einer solchen Veräußerung müssten sie sowohl einen Minderheits- als auch einen Fungibilitätsabschlag hinnehmen. Lehnten die Gerichte Bewertungsabschläge ab, so könne dies Minderheitsgesellschafter dazu ermuntern, bei Gesellschafterkonflikten voreilig den Klageweg zu beschreiten anstatt einen erwerbswilligen Dritten zu suchen.43 Ein zweites Argument geht dahin, dass Minderheitsgesellschafter ihre Anteile häufig zu einem Preis erworben hätten, der die fehlenden Einflussmöglichkeiten und das erhöhte Fungibilitätsrisiko bereits reflektierte.44 Erhielten sie nun eine Abfindung ohne jeden Bewertungsabschlag, so falle ihnen ein ungerechtfertigter Zufallsgewinn in den Schoß.45

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37 In the matter of Edward Murphy, 903 N.Y.S.2d 434, 437 (N.Y. App. Div. 2010). 38 Vgl. etwa Pueblo Bancorporation v. Lindoe, Inc., 63 P.3d 353, 369 (Col. 2003): „We hold that fair value, for the purpose of the dissenters’ right statute, means the shareholder’s proportionate ownership interest in the value of the corporation and therefore, it is inappropriate to apply a marketability discount at the shareholder level.“ 39 Vgl. Fn. 26. 40 Vgl. Fn. 27. 41 Vgl. sec. 701 UPA, comment 3: „[…] Other discounts, such as for a lack of marketability or the loss of a key partner, may be appropriate, however.“ 42 Vgl. Emory, Wis. L. Rev. 1995, 1155, 1171-72: „Advocates of discounts, on the other hand, point to the fact, that ordinarily the only way for minority shareholders to realize the value of their shares is to sell them at market prices.“ 43 So Emory, Wis. L. Rev. 1995, 1155, 1157: „In valuing dissenters’ shares above market prices by refusing to apply discounts, courts encourage minority shareholders to reap windfall profits through dissent and litigation, rather than through selling their shares on the market.“ 44 Vgl. Atlantic States Constr. v. Beavers, 314 S.E.2d 245, 251 (Ga. Ct. App. 1984): „Presumably, a dissenting shareholder took any relevant ‚minority interest‘ factor into account when he purchased the stock. Failure to account for that factor in the appraisal process would unfairly compensate the shareholder for ‚value‘ not properly attributable to his shares of stock.“ 45 Vgl. Seligman, 52 Geo Wash. L. Rev. 829, 844 (1984).

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Bewertungsabschläge im deutschen und im US-amerikanischen Recht

Darüber hinaus stehe der gesellschaftsrechtliche Gleichbehandlungsgrundsatz jedenfalls einem Fungibilitätsabschlag nicht entgegen, weil dieser nicht zwischen Mehrheits- und Minderheitsanteilen differenziere.46 Vielmehr beruhe er auf der Vorstellung, dass alle Geschäftsanteile an einer geschlossenen Kapitalgesellschaft wegen ihrer geringeren Verkehrsfähigkeit weniger wert seien als Anteile an einer börsennotierten Gesellschaft.47 b) Argumente gegen Bewertungsabschläge Die Gegner von Bewertungsabschlägen ziehen zunächst die Parallele zu einer freiwilligen Anteilsveräußerung in Zweifel: Bei einem buyout-Verfahren handle es sich um eine erzwungene Veräußerung, die man schlechterdings nicht mit einem „willing seller“-Standard zu Marktkonditionen vergleichen könne,48 zumal der Minderheitsgesellschafter auch den Zeitpunkt seines Ausscheidens nicht selbst ausgesucht habe.49 Ebenso wenig gehe es an, das appraisal-Recht als einen Verkaufsvorgang zu rekonstruieren, weil der ausscheidende Gesellschafter seinen Geschäftsanteil ohne die Grundlagen- oder Strukturänderung behalten hätte.50 Einem zweiten Einwand zufolge beruht der Minderheitsabschlag auf der Annahme, dass einem potentiellen Dritterwerber – ebenso wie den veräußernden Minderheitsgesellschaftern – die gesellschaftsrechtlichen Einflussmöglichkeiten fehlten. Diese Annahme sei aber unzutreffend, wenn der Mehrheitsgesellschafter die Minderheitsanteile im Rahmen eines buyout-Verfahrens erwerbe: „The rule justifying the devaluation of minority shares in closely-

__________ 46 Vgl. Balsamides v. Protameen Chems., Inc., 734 A2d. 721, 733 (N.J. 1999): „Even controlling interests in non-public companies may be eligible for marketability discounts, as the field of potential buyers is small, regardless of the size of the interest being sold.“ 47 Vgl. Blake v. Blake Agency, 486 N.Y.S.2d 341, 349 (N.Y. App. Div. 1985): „A discount for lack of marketability is properly factored into the equation because the shares of a closely held corporation cannot be readily sold on a public market. Such a discount bears no relation to the fact that the petitioner’s shares in the corporation represent a minority interest.“; ferner Bahls, 15 J. Corp. L. 285, 303 (1990). 48 Vgl. Chiles v. Robertson, 767 P.2d 903, 926 (Or. Ct. App. 1989): „This is not a sale by a willing seller to a willing buyer, and defendants should not benefit from reductions in value that are based on such a sale.“; aus dem Schrifttum Moll, 54 Duke L.J. 293, 321-22 (2004): „From the above discussion, it should be clear that the ‚voluntary sale‘ model contemplated by the fair market value approach is a poor fit in the oppression context. […] Instead of a voluntary sale conception, it is more accurate to characterize an oppression buyout as a compelled redemption of the minority’s ownership position.“ 49 Vgl. McKesson Corp. v. Islamic Republic of Iran, 116 F. Supp. 2d 13, 37 (D.D.C. 2000): „In a forced sale, discounts are inherently unfair to the forced-out shareholder who did not pick the timing of the transaction and thus is not in the position of a willing seller.“ 50 Vgl. Cavalier Oil Corp. v. Harnett, 564 A.2d 1137, 1145 (Del. 1989): „Where there is no objective market data available, the appraisal process is not intended to reconstruct a pro forma sale but to assume that the shareholder was willing to maintain his investment position, however slight, had the merger not occurred.“

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held corporations for their lack of control has little validity when the shares are to be purchased by someone who is already in control of the corporation.“51 Drittens verletze jedenfalls ein Minderheitsabschlag den gesellschaftsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz, weil er Mehrheits- und Minderheitsanteile entgegen der gesetzlichen Grundwertung unterschiedlich behandle: „Since the basic schemes are pro rata in nature, discounting a minority interest would upset the even-handedness inherent in the basic statutory schemes.“52 Weitere Stimmen machen darauf aufmerksam, dass ein buyout-Recht eine Alternative zur Auflösung der Gesellschaft darstelle. Bei einer gerichtlichen erzwungenen Auflösung seien Minderheitsgesellschafter aber anteilig an dem Liquidationserlös zu beteiligen.53 Daher liege es nahe, im Rahmen eines buyout-Verfahrens ebenso zu entscheiden.54 Schließlich wird darauf hingewiesen, dass Bewertungsabschläge in oppressionFällen dem Mehrheitsgesellschafter zugute kämen, der die Minderheitsgesellschafter grob unbillig benachteiligt habe.55 Dies könne man umso weniger hinnehmen, als die fair value-Abfindung ohnehin nicht geeignet sei, die den Minderheitsgesellschaftern entstandenen Schäden vollständig auszugleichen.56 Selbst wenn man unterstelle, dass eine Abfindung ohne Bewertungsabschläge zu einer Überkompensation der Minderheitsgesellschafter führe, könne dies angesichts der strukturellen Unterkompensation durch das buyout-Recht durchaus gerechtfertigt sein.57 Zuweilen liest man auch, dass der Verweigerung von Bewertungsabschlägen ein pönales Element innewohne, mit dem der schuldhaft handelnde Mehrheitsgesellschafter „abgestraft“ werden solle.58

__________ 51 Brown v. Allied Corrugated Box. Co., 154 Cal. Rptr. 170, 176 (Cal. Ct. App. 1979). 52 Murdock, 65 Notre Dame L. Rev. 425, 483 (1990). 53 Vgl. Brenner v. Berkowitz, 634 A.2d 1019, 1031 (N.J. 1993): „In the case of dissolution, a distribution results in the termination of the corporation’s business, with its assets being proportionately distributed to the stockholders.“ 54 Vgl. Brown v. Allied Corrugated Box. Co., 154 Cal. Rptr. 170, 176 (Cal. Ct. App. 1979). 55 Vgl. Balsamides v. Protameen Chems., Inc., 734 A.2d 721, 736 (N.J. 1999). 56 Dazu Moll, 54 Duke L.J. 293, 343-44 (2004): „As the above discussion demonstrates, the fair value leaves the employment and management components of a close corporation shareholder’s investment unprotected, even though these components are almost always harmed in shareholder oppression disputes.“ 57 So Moll, 54 Duke L.J. 293, 344 (2004). 58 Vgl. Bahls, 15 J. Corp. L. 285, 302 (1990): „To require application of a minority discount in this case would result in a windfall for majority shareholders which is inequitable particularly when it is the majority shareholder who initially acted oppressively.“; ähnlich Hollis II, 25 J. Corp. L. 137, 159 (1999): „There is an implicit contention in the ALI [Principles of Corporate Governance § 7.22] that the lack of marketability discount should be used as a punitive measure.“

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III. Bewertung und Bewertungsabschläge im deutschen GmbH-Recht 1. Bewertungsanlässe und Bewertungsvorgaben Im deutschen Gesellschaftsrecht verbindet man mit dem Stichwort der Anteils- und Unternehmensbewertung vor allem zwei Erscheinungsformen der Abfindung: diejenige beim Ausscheiden aus einer Personengesellschaft oder GmbH und die an außen stehende Aktionäre beim Abschluss eines Beherrschungs- oder Gewinnabführungsvertrages.59 Die Grundnorm für die erste „Ausgleichslage“60 findet sich in § 738 Abs. 1 Satz 2 BGB, der kraft gesetzlicher Inbezugnahme auch für die OHG (§ 105 Abs. 3 HGB) und KG (§ 161 Abs. 2 HGB) gilt. Danach ist dem Ausscheidenden dasjenige zu zahlen, was er bei der Auseinandersetzung erhalten würde, wenn die Gesellschaft zur Zeit seines Ausscheidens aufgelöst worden wäre. Für die Abfindung beim Austritt oder Ausschluss eines GmbH-Gesellschafters fehlt eine gesetzliche Regelung. Die herrschende Lehre stützt sich auf eine Analogie zu § 738 Abs. 1 Satz 2 BGB;61 der BGH hat sich zur methodischen Herleitung bislang nicht geäußert, aber in ständiger Rechtsprechung judiziert, dass ein ausgeschiedener GmbHGesellschafter auch ohne besondere Abrede einen Abfindungsanspruch zum vollen wirtschaftlichen Wert seines Geschäftsanteils hat.62 Für das Aktienkonzernrecht sehen §§ 304, 305 AktG einen alternativen Ausgleichsmechanismus vor: Danach ist dem außen stehenden Aktionär beim Abschluss eines Beherrschungs- oder Gewinnabführungsvertrages ein „angemessener Ausgleich“ (§ 304 Abs. 1 Satz 1 AktG) zu gewähren oder eine „angemessene Abfindung“ (§ 305 Abs. 1 AktG) zu zahlen. Den Angelpunkt für die Abfindungsbemessung bildet also in sämtlichen Ausgleichslagen ein unbestimmter Rechtsbegriff: die Abfindung zum vollen wirtschaftlichen Wert bzw. die angemessene Abfindung.63 2. Bewertungsabschläge im Spiegel von Rechtsprechung und Rechtslehre Hierzulande hat man Bewertungsabschläge bei der Abfindungsbemessung in Personen- und Kapitalgesellschaften bisher nur ausschnittartig in den Blick genommen: Die wenigen ausführlichen Stellungnahmen beziehen sich auf den Minderheitsabschlag, während der Fungibilitätsabschlag eher beiläufig erwähnt wird.

__________ 59 So Hommelhoff (Fn. 3), S. 181. 60 Hommelhoff (Fn. 3), S. 181, 184. 61 Dazu Fleischer in MünchKomm. GmbHG, 2010, Einl. Rz. 185 m. w. N. auch zu Alternativbegründungen. 62 Vgl. BGHZ 9, 157, 172, 176; BGHZ 16, 317, 322; BGHZ 116, 359 Leitsatz c). 63 Sehr klar Hommelhoff (Fn. 3), S. 181, 184.

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a) Minderheitsabschlag aa) Meinungsstand Ebenso wie in den Vereinigten Staaten hat sich die Diskussion um Minderheitsabschläge am aktienrechtlichen Abfindungsrecht entzündet. Im Vorfeld der Aktienrechtsreform von 1965 hatte sich eine frühe Stimme für einen Minderheitsabschlag ausgesprochen, weil außen stehende Aktionäre beim unfreiwilligen Ausscheiden nicht besser stehen sollten als beim Verkauf ihrer Anteile.64 Diese Auffassung vermochte sich aber nicht durchzusetzen. Nach heute ganz h. M. ist ein Minderheitsabschlag im Rahmen des § 305 AktG abzulehnen.65 Die Begründungen variieren. Zumeist verweist man schlagwortartig auf den aktienrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz.66 Ergänzend heißt es, der ausscheidende Aktionär sei nicht so zu stellen, wie wenn er seine Anteile unter offenen Verhandlungsbedingungen verkaufen würde (Schiedswert), sondern so, wie wenn er in der Gesellschaft verbleiben würde.67 Täte er dies, dann würde er nicht mit einem Minderheitsabschlag belastet, sondern hätte vielmehr Anspruch auf (relativ) dieselben Erträge wie der Hauptaktionär. Dies entspreche auch der Billigkeit, weil er die in Rede stehende Grundlagen- oder Strukturänderung nicht verhindern könne.68 Gegen einen Minderheitsabschlag spreche außerdem der wertende Vergleich mit dem Liquidationsfall, bei dem die unterschiedliche Stimmrechtsmacht der Aktionäre nichts an der anteiligen Verteilung des Liquidationserlöses ändere.69 Schließlich dürfe man dem Mehrheitsaktionär durch Verneinung eines Minderheitsabschlags keine Sondervor-

__________ 64 Vgl. Busse von Colbe, AG 1964, 263, 265; s. auch Frey, WPg 1963, 146, 147, der zur Bewertung von Minderheitsanteilen das Stuttgarter Verfahren empfahl und Abschläge von Substanz und Ertrag vornahm; neuerdings Schenk in Bürgers/Körber, 2. Aufl. 2011, § 305 AktG Rz. 48: „Konsequenterweise würde die Zuerkennung eines höheren Werts je Aktie bei einem gegebenen Gesamt-Unternehmenswert einen Wertabschlag für Minderheitsbesitz verlangen. […] Die Möglichkeiten, mit entspr. Mehrheiten weitergehenden Einfluss auf das Unternehmen zu gewinnen als dies den Minderheitsaktionären möglich ist, werden von § 53a nicht verboten; die Markt(und auch Börsen-)bewertung dieser Umstände kann daher auch nicht unberücksichtigt bleiben.“ 65 Vgl. OLG Düsseldorf, AG 1973, 282, 284; KG, AG 1964, 219; Großfeld, Recht der Unternehmensbewertung, 6. Aufl. 2011, Rz. 1187 ff.; Hüffer, AktG, 9. Aufl. 2010, § 305 AktG Rz. 24; Ränsch, AG 1984, 202, 207; Veil in Spindler/Stilz, AktG, 2. Aufl. 2010, § 305 AktG Rz. 94; pointiert Emmerich in Emmerich/Habersack, Aktien- und GmbH-Konzernrecht, 6. Aufl. 2010, § 305 AktG Rz. 75: „Ein Abschlag für den Minderheitsbesitz der außen stehenden Aktionäre (gleichsam als Kehrseite der Paketzuschläge für Großaktionäre) verbietet sich ebenso wie ein gelegentlich diskutierter Minderheitsaufschlag von selbst.“; eingehend Komp, Zweifelsfragen des aktienrechtlichen Abfindungsanspruchs nach §§ 305, 320b AktG, 2002, S. 400 ff. 66 Vgl. Deilmann in Hölters, AktG, 2011, § 305 AktG Rz. 68; Hirte/Hasselbach in Großkomm. AktG, 4. Aufl. 2005, § 305 AktG Rz. 212; Hüffer (Fn. 65), § 305 AktG Rz. 24; Paulsen in MünchKomm. AktG, 3. Aufl. 2010, § 305 AktG Rz. 141. 67 So Koppensteiner in KölnKomm. AktG, 3. Aufl. 2004, § 305 AktG Rz. 95. 68 Vgl. Kropff, DB 1962, 155, 158. 69 Vgl. Kropff, DB 1962, 155, 158.

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teile belassen, die er durch eigenes rechtswidriges Verhalten auf Kosten der außen stehenden Aktionäre erlangt habe.70 Im GmbH-Recht wird die Frage eines Minderheitsabschlags eher selten diskutiert und unter Hinweis auf den Gleichbehandlungsgrundsatz fast durchweg verneint.71 Die ausführlichste Begründung findet sich in einem Urteil des OLG Köln aus dem Jahre 1999, in dem es um einen GmbH-Gesellschafter ging, der durch missbräuchliches Verhalten der Mehrheitsgesellschafterin zum Austritt aus wichtigem Grund veranlasst worden war.72 Der Senat räumte ein, dass die unterschiedlichen Herrschaftsrechte von Geschäftsanteilen bei einer rein betriebswirtschaftlichen Betrachtung deren Bewertung beeinflussen, hielt dies aber für rechtlich irrelevant: „Für die Abfindung ausscheidender Gesellschafter von Kapital- und Personengesellschaften ist die h. M., der sich der Senat anschließt, allerdings der Ansicht, dass unterschiedliche Herrschaftsrechte den Anteilswert nicht beeinflussen. Dies wird begründet mit dem gesellschaftsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz, der für Aktiengesellschaften in § 53a AktG geregelt ist, aber gleichermaßen für die GmbH und Personengesellschaften Geltung hat. Wie schon oben ausgeführt, kommt es für die rechtlich zutreffende Einordnung des Anteilswerts nicht auf den maßgeblichen Verkehrswert, sondern auf den sog. Einigungs- oder Normwert an, d. h. also auf die Ermittlung des richtigen Wertes für das zugrunde liegende Rechtsverhältnis. Vor allem ein Gesellschafter, der, wie der Kl., unfreiwillig aus einem Unternehmen ausscheidet, braucht sich einen derartigen aus betriebswirtschaftlicher Sicht wertmindernden Umstand nicht entgegenhalten zu lassen. Vielmehr würde eine wertmindernde Berücksichtigung des minderen Herrschaftsrechts im Verhältnis der Kl. zu der Mehrheitsgesellschafterin zu einem durch nichts zu rechtfertigenden Bereicherung der – hinausdrängenden – Mehrheitsgesellschafterin – führen.“73

Eine Literaturstimme hat hiergegen allerdings Widerspruch angemeldet.74 Sie verweist auf die gängige Praxis von Minderheitsabschlägen bei der Veräuße-

__________ 70 Vgl. Gansweid, AG 1977, 334, 335; Großfeld, JZ 1981, 769, 772; Komp (Fn. 65), S. 402; Meilicke, Die Barabfindung für den ausgeschlossenen oder ausscheidungsberechtigten Minderheits-Kapitalgesellschafter – Rechtsgrundsätze zur Unternehmensbewertung, 1975, S. 56. 71 Vgl. OLG Köln, NZG 1999, 1222, 1227; Großfeld (Fn. 65), Rz. 1189; Reichert/Weller in MünchKomm. GmbHG, 2010, § 14 GmbHG Rz. 23; zum Personengesellschaftsrecht auch Hopt in Baumbach/Hopt, 35. Aufl. 2012, § 131 HGB Rz. 49; Neuhaus, Unternehmensbewertung und Abfindung, 1990, S. 87 f.; referierend Lorz in Ebenroth/Boujong/Joost/Strohn, HGB, 2. Aufl. 2008, § 131 HGB Rz. 98: „Während es in der Bewertung von Anteilen für die Zwecke des Kaufs oder Verkaufs gängige Praxis ist, unterschiedliche Herrschaftsrechte über einen Paketzuschlag oder einen Minderheitsabschlag zu berücksichtigen, soll dies nach h. M. für Abfindungen an ausscheidende Gesellschafter nicht gelten, wobei zur Begründung insbesondere auf den gesellschaftsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz verwiesen wird.“ 72 Vgl. OLG Köln, NZG 1999, 1222. 73 OLG Köln, NZG 1999, 1222, 1227. 74 Vgl. Sigle, ZGR 1999, 659, 669 f.; s. auch Strohn in MünchKomm. GmbHG, 2010, § 34 GmbHG Rz. 208: „Ggf. sind Besonderheiten der verloren gehenden Gesellschafterstellung durch Zu- oder Abschläge zu berücksichtigen. So kann etwa bei einer Mehrheitsbeteiligung ein ‚Paketzuschlag‘ gerechtfertigt sein.“

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rung von Geschäftsanteilen an geschlossenen Gesellschaften und knüpft hieran die rhetorische Frage: „Soll nun wirklich derjenige besser gestellt sein, der seinen Anteil nicht frei veräußern kann, sondern auf eine Kündigung oder einen Austritt verwiesen ist? Natürlich gibt es Fälle, in denen für einen Kleinanteil der anteilige Gesamtwert oder gar noch mehr bezahlt wird. Aber dies ist die Ausnahme und nicht die Regel. Im Zweifel sind deshalb Abschläge zu machen.“75

bb) Stellungnahme Würdigt man die beiderseits vorgebrachten Argumente zu Bewertungsabschlägen im GmbH-Recht, so fällt eine erste Zwischenbilanz ernüchternd aus: Dass Minderheitsabschläge bei nicht dominierten Markttransaktionen einer gängigen Praxis entsprechen, wie die gerade referierte Literaturstimme hervorhebt, kann die Abfindungsbemessung bei dominierten Bewertungsanlässen76 nicht präjudizieren: Für die rechtsgeprägte Unternehmensbewertung kommt es nach zutreffender h. M. nicht auf den Markt-, sondern auf den Normwert an.77 Hierauf hat das OLG Köln mit Recht hingewiesen. Seine eigene Begründung, Minderheitsabschläge liefen dem gesellschaftsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz zuwider, ist allerdings ebenfalls ergänzungsbedürftig. Nach allgemeiner Ansicht gilt der Gleichbehandlungsgrundsatz nämlich nur im Verhältnis zwischen Gesellschaftern und Organen, nicht im Verhältnis der Gesellschafter untereinander.78 Abfindungsstreitigkeiten in geschlossenen Kapitalgesellschaften werden aber der Sache nach (nicht formal) zwischen den streitenden Parteien – regelmäßig Mehrheits- und Minderheitsgesellschafter – ausgetragen.79 Eine argumentationsgesättigte Begründung muss breiter ansetzen und versuchen, das normative Bewertungsmodell des GmbH-Gesetzes herausarbeiten. Einen wertvollen Fingerzeig hierauf gibt der Verteilungsschlüssel des § 72 Satz 1 GmbHG: Danach teilen sich die GmbH-Gesellschafter den Liquidationserlös ungeachtet ihrer größeren oder geringeren Einflussmöglichkeiten im Verhältnis ihrer Geschäftsanteile. Betrachtet man das Ausscheiden eines GmbH-Gesellschafters als eine Art Teilauseinandersetzung, so liegt es nahe, hier ebenso zu werten. In die gleiche Richtung deutet § 738 Abs. 1 Satz 2 BGB, der nach

__________ 75 Sigle, ZGR 1999, 659, 669 f. 76 Zu diesem von der Betriebswirtschaftslehre entwickelten Ordnungskriterium etwa Drukarczyk/Schüler, Unternehmensbewertung, 5. Aufl. 2007, S. 94. Dominierte Bewertungsanlässe zeichnen sich dadurch aus, dass eine der Parteien eine Veränderung der Eigentumsverhältnisse auch gegen den Willen der anderen durchsetzen kann. 77 Eingehend dazu Großfeld (Fn. 65), Rz. 140 ff.; ders., JZ 1981, 769, 771 f.; aus österreichischer Sicht Winner, Wert und Preis im Zivilrecht, 2008, S. 467: „Die Unzulässigkeit von Minderheitsabschlägen ist nicht mit faktischen Beobachtungen zu widerlegen, die noch dazu andere Bewertungsanlässe betreffen. Minderheitsabschläge sind aus normativen Überlegungen unzulässig; der Normwert ist dasjenige, was das Unternehmen aus rechtlichen Erwägungen wert sein soll.“ 78 Vgl. Fleischer in K. Schmidt/Lutter, AktG, 2. Aufl. 2010, § 53a AktG Rz. 15 f. m. w. N. 79 Darauf hinweisend auch Adolff, Unternehmensbewertung im Recht der börsennotierten Aktiengesellschaft, 2007, S. 360.

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h. M. im GmbH-Recht entsprechend gilt:80 Er verweist den ausscheidenden Personengesellschafter für die Abfindungsbemessung auf die Regeln der Auseinandersetzung, die nach § 734 BGB ebenfalls eine quotale Teilhabe am Liquidationserlös vorsehen. Manches spricht dafür, dass sich das „BGB-Modell“81 der Unternehmensbewertung sogar als Fundament für eine allgemeine Bewertungslehre des gesamten Gesellschaftsrechts (einschließlich des Aktienrechts) eignet,82 doch kann dieser reizvolle Gedanke einer bewertungsrechtlichen Institutionenbildung hier nicht weiter verfolgt werden. Festhalten lässt sich aber die normative Regelungstendenz des GmbH- und Personengesellschaftsrechts, alle Gesellschafter im Auseinandersetzungsfall anteilig am Liquidationserlös zu beteiligen und sie auch im Ausscheidensfall (= Teilauseinandersetzung) nach Auseinandersetzungsregeln zu behandeln („Liquidationshypothese“83). Mit dieser gesetzgeberischen Grundwertung sind Minderheitsabschläge nicht vereinbar.84 Vor dem Hintergrund des entschiedenen Falles hat das OLG Köln seine Urteilsbegründung noch um einen zweiten (Wertungs-)Gesichtspunkt ergänzt: Es gehe nicht an, dass der durch missbräuchliches Verhalten des Mehrheitsgesellschafters zum Austritt aus wichtigem Grund veranlasste Minderheitsgesellschafter einen Bewertungsabschlag hinnehmen müsse, weil das zu einer ungerechtfertigten Bereicherung des Mehrheitsgesellschafters führe.85 Ähnliche Billigkeitserwägungen finden sich sowohl in US-amerikanischen Entscheidungen zum buyout-Recht86 als auch in der englischen Spruchpraxis zum funktional vergleichbaren unfair prejudice-Verfahren.87 Sie leuchten intuitiv ein, lassen sich aber nur schwer rationalisieren. Soweit bei ihnen ein pönales Begründungselement („punishment rationale“88) mitschwingt, wäre dies jedenfalls im

__________ 80 Vgl. den Text zu Fn. 61. 81 Böcking in FS Moxter, 1994, S. 1407, 1432. 82 Erste Ansätze bei Kropff, DB 1962, 155, 156; hieran anknüpfend Adolff (Fn. 79), S. 358; im Ergebnis auch Meilicke (Fn. 70), S. 46. 83 Adolff (Fn. 79), S. 357. 84 Im Ergebnis auch Neuhaus (Fn. 71), S. 88: „Ebenfalls sind verschiedene Herrschaftsrechte sowie Mehrheits- oder Minderheitsbeteiligungen nicht zu berücksichtigen, da sie bei der Auseinandersetzung einer Gesellschaft keine Rolle mehr spielen.“ 85 Vgl. OLG Köln, NZG 1999, 1222, 1227. 86 Vgl. den Text zu Fn. 55. 87 Grundlegend In re bird Precision Bellows Ltd [1984] 1 Ch. 419, 430: „On the assumption that the unfair prejudice has made it no longer tolerable for him to retain his interest in the company, a sale of his shares will invariably be his only practical way out short of winding up. In that case, it seems to me that it would not merely not be fair, but most unfair, that he should be bought out on the fictional basis applicable to a free election to sell his shares in accordance with the company’s articles of association, or indeed on any other basis which involved a discounted price. In my judgement the correct course would be to fix the price pro rata according to the value of the shares as a whole and without any discount, as being the only fair method of compensating an unwilling vendor of the equivalent of a partnership share.“; ausführlich zur Ablehnung eines Minderheitsabschlags bei quasi partnerships, aber auch zu seiner Anerkennung bei einer bloßen Kapitalbeteiligung Fleischer/Strothotte, RIW 2012, 2, 4 ff. 88 Moll, 54 Duke L.J. 293, 353 (2004).

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deutschen Privatrecht ein Fremdkörper. Auch die Verneinung eines Minderheitsabschlags unter Berufung auf die Unzulänglichkeit des gesetzlichen Abfindungsanspruchs („undercompensation argument“89) greift zu kurz, weil ihr eine allzu grobe Saldierungsmethode zugrunde liegt. Damit verbleibt der Hinweis auf eine ungerechtfertigte Bereicherung des Mehrheitsgesellschafters. Er erweist sich als stichhaltig, sofern es um treuwidrige Sondervorteile zum Nachteil der Minderheitsgesellschafter geht: Sie können bei der gebotenen normativen Betrachtung in der Tat keinen Bewertungsabschlag rechtfertigen (nemo auditur propriam turpitudimen allegans).90 Nicht alle Vorteile, die der Mehrheitsgesellschafter aus seiner Kontrollposition schöpft,91 werden jedoch rechtlich missbilligt;92 ebenso wenig gereichen sie den Minderheitsgesellschaftern notwendig zum Nachteil.93 Ungeachtet dessen bleiben Minderheitsabschläge auch in diesen Fällen mit der oben herausgearbeiteten Grundwertung des GmbH-Gesetzes unvereinbar. Liegt dem Ausscheiden aus der GmbH kein Machtmissbrauch des Mehrheitsgesellschafters, sondern eine grobe Pflichtverletzung des Minderheitsgesellschafters zugrunde, könnte man unter Billigkeitsgesichtspunkten über einen Bewertungsabschlag räsonieren, wird diesen Gedanken aber sogleich wieder fallen lassen: Nach zutreffender h. M. ist der Ausschluss aus wichtigem Grund nicht mit einem Unwerturteil verbunden und darf deshalb nicht mit Strafsanktionen bewehrt sein.94 Daraus folgt, dass auch der ausgeschlossene „Störenfried“95 Anspruch auf eine Abfindung zum vollen Wert seines Geschäftsanteils hat.96 So wenig wie er einen Minderheitsabschlag hinnehmen muss, steht ihm freilich ein Minderheitszuschlag für den „Lästigkeitswert“ seiner Beteiligung zu.97

__________ 89 Moll, 54 Duke L.J. 293, 338 (2004). 90 Für ein vergleichbares Problem im Rahmen des § 57 AktG zuletzt BGH, NZG 2011, 829, Tz. 26: „Die Verringerung der Abhängigkeit der Kl. von der Bekl. zu 1 als ihrer Großaktionärin ist schon normativ kein zu berücksichtigender Vorteil, weil der Großaktionär keine nachteiligen Maßnahmen ohne Nachteilsausgleich veranlassen darf (§ 311 AktG, vgl. Fleischer, ZIP 2007, 1969, 1975 f.).“ 91 Eingehend aus US-amerikanischer Sicht zuletzt Miller, 13 U. Pa. J. Bus. L. 607, 613 (2011): „These elements of control include the capacity to 1. Appoint management; 2. Determine management compensation and perquisites; 3. Set policy and change the course of the business; […] 12. Block any of the above actions.“ 92 Beispiel: Drittgeschäfte des Mehrheitsgesellschafters mit der Gesellschaft zu ausgeglichenen Bedingungen. 93 Beispiel: Festlegung der Unternehmensstrategie kraft Mehrheitsbeschlusses der Gesellschafterversammlung. 94 Vgl. BGHZ 9, 157, 167; Strohn (Fn. 74), § 34 GmbHG Rz. 119. 95 BGHZ 9, 157, 159. 96 Vgl. Strohn (Fn. 74), § 34 GmbHG Rz. 119. 97 Allgemein gegen Minderheitszuschläge Emmerich (Fn. 65), § 305 AktG Rz. 75; Großfeld, JZ 1981, 769, 773; Kropff, DB 1962, 155, 158; Meilicke (Fn. 70), S. 57.

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Bewertungsabschläge im deutschen und im US-amerikanischen Recht

b) Fungibilitätsabschlag Unter dem Fungibilitätsrisiko versteht man die Gefahr, dass ein Gesellschafter seine Anteile bei einer Veräußerung nur mit erheblicher zeitlicher Verzögerung und beträchtlichem Wertabschlag verkaufen kann. Gleichsinnig spricht man vom Illiquiditäts-, Wiederverkaufs- oder Mobilitätsrisiko.98 Dieses Risiko ist bei Geschäftsanteilen an geschlossenen Kapitalgesellschaften von besonderer Bedeutung. Für seine Abbildung im betriebswirtschaftlichen Bewertungskalkül kommen zwei verschiedene Wege in Betracht,99 die terminologische Verwirrung stiften: Einmal kann man nach US-amerikanischem Vorbild einen Abschlag vom vorläufigen Unternehmenswert vornehmen, den man dann als Fungibilitätsabschlag (vom Zukunftserfolgswert) bezeichnet.100 Zum anderen ist eine Erhöhung des Kapitalisierungszinssatzes um einen besonderen Risikozuschlag denkbar, weshalb man häufig auch von einem Fungibilitätszuschlag (zum Kapitalisierungszins) spricht.101 aa) Meinungsstand In Deutschland ist die gesellschaftsrechtliche Diskussion um eine Berücksichtigung des Fungibilitätsrisikos bisher kaum in Gang gekommen. Einzelne obergerichtliche Entscheidungen haben einen Fungibilitätsabschlag im Rahmen des aktienrechtlichen Spruchverfahrens teils befürwortet,102 teils verworfen.103

__________ 98 Vgl. Metz, Der Kapitalisierungszinssatz bei der Unternehmensbewertung, 2007, S. 118 mit Fn. 782; Schulz (Fn. 8), S. 74 mit Fn. 88; Schütte-Biastoch (Fn. 8), S. 197 mit Fn. 668. 99 Näher dazu Schütte-Biastoch (Fn. 8), S. 199 ff.; ausführlich auch Schulz (Fn. 8), S. 80 ff.; zusammenfassend Nicklas (Fn. 6), S. 158: „Üblicherweise berechnen sich in den USA die Zu- und Abschläge auf den vorläufig errechneten Unternehmenswert bzw. -anteil. In der deutschsprachigen Literatur wird das Mobilitätsrisiko überwiegend als ein Bestandteil des Kapitalisierungszinssatzes angesehen und ggf. als Mobilitätszuschlag zum Basiszinssatz berücksichtigt.“ 100 So die Terminologie bei Piltz, Die Unternehmensbewertung in der Rechtsprechung, 3. Aufl. 1994, S. 63, der a. a. O, S. 177 freilich auch von einem Fungibilitätszuschlag spricht. 101 So die Terminologie bei Barthel, DB 2003, 1181; Metz (Fn. 98), S. 121 ff.; gleichsinnig spricht Großfeld (Fn. 65), Rz. 955 von einem „Immobilitätszuschlag“. 102 Vgl. OLG Düsseldorf, BeckRS 2006, 07149: „Da die Anteile der Ag. zu 1) nicht an einer deutschen Wertpapierhandelsbörse notiert waren, hat der Sachverständige … darüber hinaus einen – wenn auch unterdurchschnittlichen – Fungibilitätszuschlag in Ansatz gebracht. In dem bewertungsrechtlichen Schrifttum und der Rechtsprechung ist ein Fungibilitätszuschlag bzw. die Berücksichtigung unterschiedlicher Fungibilität anerkannt. Die Investition in ein Unternehmen, dessen Aktien nicht börsennotiert sind, bedeutet eine enge Bindung von Kapital, da der Investor nicht kurzfristig auf günstigere Anlagemöglichkeiten zurückgreifen kann.“ 103 Vgl. OLG München, AG 2007, 701, 704: „Entgegen der Ansicht des gemeinsamen Vertreters ist es nicht geboten, wegen der geringeren Fungibilität der Anteile an der S. GmbH, für die im Gegensatz zu den Vorzugsaktien der P. AG kein geregelter Markt bestand, eine Erhöhung des Risikozuschlags vorzunehmen […]. Die gegenüber einer öffentlichen Anleihe geringere Fungibilität von Unternehmensanteilen und das damit verbundene Liquiditätsrisiko stellen dabei allenfalls einen Teilaspekt dar, der sich von den übrigen in die Bestimmung des Risikozuschlags maßgeblich

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Das RG hatte ihn bei der Ermittlung des Abfindungsguthabens eines ausscheidenden Kommanditisten abgelehnt;104 der BGH hat Abschläge bei der Bewertung unveräußerlicher Unternehmensbeteiligungen im Zugewinnausgleich dagegen nicht grundsätzlich ausgeschlossen.105 In der rechtsgeprägten Bewertungsliteratur wird eine gesonderte Berücksichtigung des Fungibilitätsrisikos häufig abgelehnt.106 Zur Begründung liest man in einem führenden Erläuterungswerk: Wenn der Gesellschafter gegen seinen Willen aus der Gesellschaft herausgedrängt werde, entfalle für diesen Vorgang die Beschränkung der Veräußerbarkeit. Daher sei es treuwidrig, wenn sich der Erwerber hierauf berufe.107 Zudem zeige er durch die Anteilsübernahme, dass er den Anteil so bewerte wie eine mobilere Anlage. Diese Sicht müsse er im Lichte des Gleichheitsgedankens auch dem Ausscheidenden zubilligen.108 Andere Stimmen lehnen eine Berücksichtigung des Fungibilitätsrisikos ab, weil ein nachvollziehbarer Maßstab für seine Bemessung fehle.109 Es gibt aber auch Schrifttumsstimmen für seine Einbeziehung.110 Im Steuerrecht hat das Niedersächsische FG einen Immobilitätszuschlag in einem Urteil aus dem Jahr 2000 gebilligt.111 Das neue Bewertungsgesetz sieht in §§ 199–203 Sondervorschriften für die Bewertung nicht notierter Anteile an Kapitalgesellschaften vor. Im Rahmen des vereinfachten Ertragswertverfahrens ist nach § 203 Abs. 1 BewG ein Kapitalisierungszinssatz anzuwenden, der sich aus einem Basiszinssatz und einem (Risiko-)Zuschlag von 4,5 % zusammensetzt. Dieser Zuschlag berücksichtigt neben dem Unternehmerrisiko pauschal

__________

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105 106 107 108 109 110

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einfließenden Gesichtspunkten nicht quantitativ abgrenzen lässt. Eine Berücksichtigung der unterschiedlichen Fungibilität börsennotierter und nicht börsennotierter Anteile an Unternehmen bei der Bemessung des Risikozuschlages ist deshalb nicht geboten. Es besteht auch kein Anlass, zum Basiszinssatz einen ‚Fungibilitätszuschlag‘ zusätzlich zum Risikozuschlag hinzuzufügen, für den es keine hinreichende Grundlage gibt.“ Vgl. RG, DR 1941, 1301, 1303: „Das Gutachten geht dann allerdings insofern in die Irre, als es von der errechneten Abfindungssumme von 10216,61 RM 25 % mit der Begründung absetzt, daß eine Kommanditeinlage ein schwer zu veräußernder Vermögensgegenstand sei. Das würde für die Berechnung des Abfindungsguthabens ohne Belang sein.“; dazu auch Barz, DR 1941, 1303, 1304. Vgl. BGH, NJW 2003, 1396: „Die eingeschränkte Verfügbarkeit der Beteiligung ist insoweit allenfalls wertmindernd zu berücksichtigen.“ Vgl. Großfeld (Fn. 65), Rz. 955 ff.; Meilicke (Fn. 70), S. 56 f.; W. Müller, JuS 1974, 424, 428. So Großfeld (Fn. 65), Rz. 956; der Sache nach schon W. Müller, JuS 1974, 424, 428; aus der Rechtsprechung LG Dortmund, NZG 2004, 723, 726. Vgl. Großfeld (Fn. 65), Rz. 957. So Gansweid, AG 1977, 334, 339 f. Vgl. Kropff, DB 1962, 155, 157; Neuhaus (Fn. 71), S. 129: „Plausibel erscheint eigentlich die betriebswirtschaftliche Einschätzung, die mangelnde Fungibilität eines Gesellschaftsanteils könne einen Zuschlag rechtfertigen.“; Piltz (Fn. 100), S. 63 und 177; Ränsch, AG 1984, 202, 211. Vgl. Niedersächsisches FG, DStRE 2001, 24, 27: „Der vom Gutachter in Ansatz gebrachte, vom Bekl. nicht akzeptierte, Immobilitätszuschlag entspricht üblichen Bewertungsgrundsätzen, so dass kein Verstoß gegen anerkannte Bewertungsmethoden vorliegt.“

Bewertungsabschläge im deutschen und im US-amerikanischen Recht

weitere Korrekturposten, zu denen ausweislich der Gesetzesbegründung auch ein Fungibilitätszuschlag gehört.112 Die neuere betriebswirtschaftliche Literatur empfiehlt zunehmend eine Anpassung des Bewertungskalküls um den Aspekt geringerer Fungibilität.113 Eine gerade erschienene Monographie hält dies auch bei der Abfindungsmessung in dominierten Entscheidungssituationen für sachgerecht und geboten.114 Gewichtige Gegenstimmen erheben allerdings zum Teil grundkonzeptionelle Einwände gegen einen Illiquiditätsabschlag,115 zum Teil verweisen sie auf dessen mangelnde Objektivierbarkeit.116 Der berufsständische Bewertungsstandard IDW S 1 in der Fassung von 2008 geht im Unterschied zu einer früheren Version117 auf den Liquiditätsaspekt nicht ein; das entsprechende Fachgutachten KFS BW 1 in Österreich lehnt eine pauschale Berücksichtigung des Mobilitätsrisikos ab.118 Das WP-Handbuch hatte sich noch im Jahre 2002 dafür ausgesprochen, einer geringen Fungibilität im Vergleich zur alternativen Geldanlage in öffentliche Anleihen angemessen Rechnung zu tragen;119 in der Fassung von 2008 lehnt es Liquiditätsabschläge für die Ermittlung objektivierter Unternehmenswerte nunmehr ausdrücklich ab.120

__________ 112 Vgl. Bericht des Finanzausschusses, BT-Drucks. 16/11107, S. 24: „Der Zuschlag berücksichtigt pauschal neben dem Unternehmerrisiko auch andere Korrekturposten, z. B. Fungibilitätszuschlag, Wachstumsabschlag oder inhaberabhängige Faktoren.“; aus dem Schrifttum etwa Eisele in Rössler/Troll, BewG, 15. Aufl. 2011, § 203 BewG Rz. 3. 113 Vgl. Bamberger, BFuP 1999, 653, 665; Barthel, DB 2003, 1181; Dörschell/Franken/ Schütte, WPg 2008, 444, 447 (für Personengesellschaften); Helbling, Unternehmensbewertung und Steuern, 9. Aufl. 1998, S. 423; Metz (Fn. 98), S. 123 ff.; Moxter, NJW 1994, 1852; Schütte-Biastoch (Fn. 8), S. 197 ff.; Zeidler in Baetge/Kirsch (Hrsg.), Besonderheiten der Bewertung von Unternehmensanteilen sowie von kleinen und mittleren Unternehmen, 2006, S. 41, 50; Zieger/Schütte-Biastoch, Finanz Betrieb 2008, 590, 598. 114 Vgl. Schütte-Biastoch (Fn. 8), S. 199. 115 So Ballwieser in FS Rudolph, 2009, S. 283, 295 ff.; s. auch schon ders., WPg 2002, 736, 742. 116 So Gampenrieder/Behrendt, Unternehmensbewertung und Management 2004, 85, 89: „Eine Nichtberücksichtigung der Fungibilität bei der Bewertung scheint angesichts willkürlicher Zuschläge die bessere Alternative zu sein.“; ähnlich Schulz (Fn. 8), S. 105: „Vor allem wenn der Unternehmenswert objektiviert im Sinne von IDW S 1 zu ermitteln ist, kann in der Konsequenz eine größenabhängige Risikoanpassung für eine fehlende Liquidität der Anteile an dem Bewertungsobjekt nur abgelehnt werden.“ 117 Vgl. IDW S 1 in der Fassung von 2000, Tz. 97, wo die Fungibilität der Unternehmensanteile als ein Einflussfaktor auf das Risiko erwähnt wird. 118 Eingehend dazu Bachl in FS Mandl, 2010, S. 27, 35 f. 119 Vgl. IDW (Hrsg.), WP-Handbuch 2002, 12. Aufl. 2002, Bd. II, S. 105 Tz. 296. 120 Vgl. IDW (Hrsg.), WP-Handbuch 2008, 13. Aufl. 2008, Bd. II, S. 155 Tz. 434: „In der internationalen Bewertungspraxis werden die Merkmale teilweise durch sog. ‚Small Company Discounts‘ sowohl als Abschlag von den zu diskontierenden finanziellen Überschüssen oder deren Barwert als auch als gesonderter Zuschlag im Kapitalisierungszinssatz berücksichtigt. Hierbei handelt es sich um Ansätze, deren empirische Validität noch nicht abschließend beurteilt werden kann und die den Besonderhei-

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bb) Stellungnahme Aus Sicht einer rechtsgeleiteten Unternehmensbewertung lässt sich die Statthaftigkeit eines Fungibilitätsabschlags jedenfalls nicht unter Berufung auf den Gleichbehandlungsgrundsatz verneinen: Anders als der Minderheitsabschlag erfasst er die geringere Verkehrsfähigkeit sämtlicher Anteile an geschlossenen Kapitalgesellschaften und differenziert gerade nicht zwischen Mehrheits- und Minderheitsanteilen. Auch der weitere Einwand, dass sich der Mehrheitsgesellschafter bei einem etwaigen Erwerb des Geschäftsanteils des ausscheidenden Minderheitsgesellschafters121 so behandeln lassen müsse, als gäbe es einen liquiden Markt,122 vermag nicht zu überzeugen,123 weil das Liquiditätsrisiko für zukünftige Transaktionen dadurch nicht beseitigt wird.124 Eher tragfähig erscheint der Gedanke, dass ein GmbH-Gesellschafter nicht mit einem fremdfinanzierten Ausscheiden zu rechnen braucht und daher auch nicht mit dem Fungibilitätsrisiko bei vorzeitigem Verlust seiner Mitgliedschaft belastet werden darf. Zudem könnte man darauf abstellen, dass der Grundsatz indirekter Anteilsbewertung Bewertungsabschläge verbietet, die an die Eigenschaften der konkreten Beteiligung anknüpfen. Aus betriebswirtschaftlicher Sicht spricht vor allem der Grundsatz der Risikoäquivalenz für eine Berücksichtigung des Fungibilitätsrisikos:125 Ein gesonderter Risikozuschlag zum Kapitalisierungszins (oder ein offener Wertabschlag vom Zukunftserfolgswert126) ist nach verbreiteter Ansicht geboten, um die Gleichwertigkeit der extrem liquiden Mittelanlage in festverzinslichen Papieren mit der deutlich weniger liquiden Mittelanlage in Geschäftsanteilen einer geschlossenen Kapitalgesellschaft herzustellen.127 Denn ein rationaler Anleger wird demjenigen von zwei sonst identischen Unternehmen einen geringeren Wert beimessen, dessen Anteile er nur mit größeren Schwierigkeiten wieder

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ten des einzelnen Bewertungsobjekts nicht hinreichend Rechnung tragen können. Für die Ermittlung objektivierter Unternehmenswerte kleiner und mittlerer Unternehmen ist daher die Anwendung abzulehnen.“; eingehend nunmehr auch Ihlau/ Duscha, WPg 2012, 489, 496 ff. Zum rechtlichen Schicksal des Geschäftsanteils ausscheidender Gesellschafter bei Ausschluss oder Austritt Strohn (Fn. 74), § 34 GmbHG Rz. 117. So Großfeld (Fn. 65), Rz. 957. Kritisch auch Neuhaus (Fn. 71), S. 129: „Die materiellrechtlichen Erwägungen mit denen diesem Mobilitätsargument entgegengetreten worden ist, überzeugen jedenfalls nicht.“; aus betriebswirtschaftlicher Sicht ferner Schütte-Biastoch (Fn. 8), S. 198 f. In diesem Sinne auch Moll, 54 Duke L.J. 293, 366 (2004): „The presence of an available purchaser in one transaction, however, does not negate the liquidity difficulties associated with the shares in subsequent transactions.“ Näher dazu Metz (Fn. 98), S. 123 ff. Dafür Schütte-Biastoch (Fn. 8), S. 205. So Moxter, NJW 1994, 1852; gleichsinnig Metz (Fn. 98), S. 124 mit Fn. 835: „Insbesondere wenn der Kapitalisierungszinssatz aus einer fungiblen, festverzinslichen Anlage abgeleitet wird und als Bewertungsobjekt ein nicht-börsennotiertes Unternehmen vorliegt oder die Anteile des Unternehmens an einem illiquiden Markt gehandelt werden, ist die Risikoäquivalenzbedingung i. d. R. nicht erfüllt.“

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veräußern kann.128 Dem hat eine prominente Gegenstimme kürzlich indes entgegengehalten, dass die Begründung eines Illiquiditätsfaktors mit der ZählerNenner-Äquivalenz nur auf den ersten Blick überzeuge: Zwar seien marktgängige Aktien, die den Nenner der Barwertformel determinieren, liquider als GmbH-Anteile. Sofern der GmbH-Gesellschafter aber keinen Anlass habe, einen Wiederverkauf zu erwägen, sei die geringere Liquidität dieser Anteile irrelevant.129 Ein zweiter Einwand geht dahin, dass sich das Fungibilitätsrisiko derzeit nicht hinreichend objektiviert ermitteln lasse.130 Insgesamt ist die betriebswirtschaftliche Diskussion um Fungibilitätsabschläge derzeit weiter im Fluss.

IV. Zusammenfassung 1. Fragen der Unternehmensbewertung sind in rechtsvergleichender Hinsicht noch wenig erschlossen. Dies gilt vor allem für die Bewertung von Geschäftsanteilen an geschlossenen Kapitalgesellschaften. Ein besonders lohnendes Forschungsobjekt bildet hier die Statthaftigkeit von Bewertungsabschlägen. 2. Am weitesten gediehen ist die Diskussion in den Vereinigten Staaten, wo Bewertungsabschläge vor allem bei zwei Bewertungsanlässen eine Rolle spielen: dem Abfindungsrecht der Anteilseigner bei Grundlagen- oder Strukturänderungen (appraisal remedy) und dem Zwangserwerb der Anteile grob unbillig behandelter Minderheitsgesellschafter durch den Mehrheitsgesellschafter (buyout remedy). Im konkreten Zugriff pflegt man einen Minderheits(minority discount) und einen Fungibilitätsabschlag (marketability discount) zu unterscheiden. Ein Minderheitsabschlag spiegelt die fehlende Stimmrechtsmacht des Gesellschafters wider, ein Fungibilitätsabschlag die erschwerte Wiederverkaufsmöglichkeit. 3. Die US-amerikanische Spruchpraxis und die einschlägigen Modellgesetze lehnen einen Minderheitsabschlag nahezu einhellig ab. Dagegen haben sich verschiedene Gerichte für einen Fungibilitätsabschlag bei geschlossenen Kapitalgesellschaften (close corporations) ausgesprochen, auch wenn der gegenteilige Standpunkt noch immer überwiegt. 4. In Deutschland werden Minderheitsabschläge für außen stehende Aktionäre im Aktienkonzernrecht (§ 305 AktG) ganz überwiegend abgelehnt. Für unfreiwillig ausscheidende GmbH-Gesellschafter wird die Frage eher selten diskutiert und unter Hinweis auf den Gleichbehandlungsgrundsatz verneint. Dem

__________ 128 So oder ähnlich Metz (Fn. 98), S. 118; Zeidler (Fn. 113), S. 41, 50; Zieger/SchütteBiastoch, Finanz Betrieb 2008, 590, 598. 129 So Ballwieser in FS Rudolph (Fn. 115), S. 283, 294. 130 Dazu aus juristischer Sicht Neuhaus (Fn. 71), S. 129; aus betriebswirtschaftlicher Sicht Metz (Fn. 98), S. 125: „Der grundsätzlichen Kritik an der mangelhaften Objektivierbarkeit des Fungibilitätszuschlags ist dagegen zuzustimmen. […] Somit bleibt es im Ergebnis dem Ermessen des fachkundigen Bewerters überlassen, einen adäquaten Fungibilitätszuschlag festzulegen.“

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ist im Ergebnis beizutreten. Umgekehrt scheiden auch Minderheitszuschläge für den „Lästigkeitswert“ einer Beteiligung aus. 5. Über eine Berücksichtigung des Fungibilitätsrisikos bei der Abfindungsbemessung wird hierzulande weder im Aktienkonzern- noch im GmbH-Recht ausführlicher diskutiert. Aus Sicht einer rechtsgeleiteten Unternehmensbewertung lässt sich die Statthaftigkeit eines Fungibilitätsabschlags vom vorläufigen Unternehmenswert (bzw. eines Fungibilitätszuschlags zum Kapitalisierungszinssatz) jedenfalls nicht unter Berufung auf den Gleichbehandlungsgrundsatz verneinen. Gegen einen solchen Abschlag sprechen allerdings der Grundsatz indirekter Anteilsbewertung sowie die Erwägung, dass ein GmbH-Gesellschafter nicht mit dem Illiquiditätsrisiko aufgrund eines fremdinduzierten Ausscheidens zu rechnen braucht.

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Kooperative Graduiertenkollegs – oder: Peter Hommelhoff als Makler zwischen Universitäten und Fachhochschulen Inhaltsübersicht I. Einleitung II. Ausgangssituation 1. Forschung an Fachhochschulen 2. Promotionsmöglichkeiten für Fachhochschulabsolventen

III. Kooperative Promotionsverfahren 1. Promotion von Fachhochschulabsolventen 2. Kooperative Forschungs- und Graduiertenkollegs IV. Fazit

I. Einleitung Als Rektorkollege lernte ich Prof. Dr. Dr. h.c mult. Peter Hommelhoff 2001 in der Hochschulrektorenkonferenz kennen. Er fiel auf durch seine scharfzüngigen und präzisen hochschulpolitischen Analysen und als dezidierter Kämpfer für die Sache der Universitäten. Im Jahre 2004 wurden wir beide Vizepräsidenten in der HRK, Peter Hommelhoff als Sprecher der Mitgliedergruppe der Universitäten, der Verfasser zuständig für das Ressort „Neue Medien und Wissenstransfer“. Uns verband von Beginn an eine kritische Haltung zur damaligen Amtsführung im Präsidium. Und die Umstände um den Wechsel an der Spitze der HRK im Jahre 2006 ließen nicht nur das Präsidium insgesamt näher zusammenrücken, sondern schweißten auch Peter Hommelhoff und den Verfasser noch enger zusammen. Dabei konnten die Typen eigentlich nicht gegensätzlicher sein: Auf der einen Seite Peter Hommelhoff, der eher konservativ orientierte Rektor der altehrwürdigen Universität Heidelberg; auf der anderen Seite der Fachhochschulrektor aus den neuen Bundesländern, vom ihm oft scherzhaft als „rote Socke“ tituliert. Dabei hat Peter Hommelhoff eine große Affinität zu den neuen Bundesländern, insbesondere zu Sachsen-Anhalt, da er dort nach der Wende bei der Neustrukturierung der Juristenausbildung Aufbauarbeit leistete. Schon früh stellten wir beide – vielleicht unausgesprochen – fest, dass wir für unsere jeweiligen Mitgliedergruppen und damit für die hochschulpolitische Landschaft in Deutschland insgesamt am meisten erreichen könnten, wenn wir über strategische Partnerschaften hinaus Kooperationsmöglichkeiten entwickelten, die langfristig das latente Misstrauen und die Abgrenzung zwischen den beiden Mitgliedergruppen überwinden könnten. Jedenfalls entsprach dies unserer jeweiligen Wahrnehmung der hochschulpolitischen Realitäten und nach 243

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der Wahl des Verfassers zum Sprecher der Mitgliedergruppe Fachhochschulen im Jahre 2006 haben wir unter diesen Zielperspektiven die gute Zusammenarbeit konstruktiv und auf Augenhöhe fortgesetzt, auch wenn wir beide von einigen Kolleginnen und Kollegen aus der jeweiligen Mitgliedergruppe ob dieses anfangs kollegialen, später sogar freundschaftlichen Umgangs manchmal kritisch beäugt wurden. Exemplarisch möchte ich dieses gemeinsame Wirken darstellen an einem Vorhaben, das uns beide über Jahre beschäftigt hat und dessen Erfolg uns beiden erst nach dem Ausscheiden von Peter Hommelhoff aus dem Amt des Vizepräsidenten beschert wurde: dem der kooperativen Forschungs- und Doktorandenprogramme zwischen Universitäten und Fachhochschulen.

II. Ausgangssituation Um den Hintergrund und die Rahmenbedingungen des genannten Vorhabens näher erfassen zu können, ist es notwendig, einen Blick auf die Entwicklung der Forschung an Fachhochschulen bzw. die Promotionsmöglichkeiten von Fachhochschulabsolvent/-innen zu werfen. 1. Forschung an Fachhochschulen Forschung an Fachhochschulen war nicht der originäre Auftrag, den Fachhochschulen bei ihrer Gründung in den 70er Jahren in der damaligen Bundesrepublik übernahmen. Forschung war Sache der Universitäten oder der außeruniversitären Forschungseinrichtungen. Doch schon in den 80er Jahren wurde die Diskrepanz deutlich zwischen dem Anspruch, anwendungs- bzw. praxisorientiert zu lehren – wobei die Lehrenden häufig aus der Forschungspraxis kamen – und dem Bedarf der regionalen Industrie oder anderer Institutionen aus der Region an eben dieser mit wissenschaftlichem Know-how unterfütterten Praxis bzw. prozessorientiertem Wissen und Handeln. Dies führte zwangsläufig zu kooperativen Ansätzen zwischen Praxiseinrichtungen und Hochschulen und kurz- bzw. mittelfristig zu gemeinsamen (Forschungs-)Vorhaben. Zwar war die gesetzlich verankerte Hauptaufgabe der Fachhochschulen weiterhin die „anwendungsbezogene Lehre“, die „auf einen Beruf vorbereiten [soll], der wissenschaftliche Erkenntnisse und wissenschaftliches Arbeiten verlangt.“1 Dennoch konnte aus den Fachhochschulgesetzen „der neueren Generation“ bereits abgeleitet werden, dass Fachhochschulprofessor/-innen das Recht zur Forschung wahrnehmen sollen, „das sich aus den Anforderungen an eine qualifizierte Lehre ergibt.“2 Der Wissenschaftsrat stellte damit bereits 1991 fest, dass qualifizierte Lehre Forschung erfordert, „weil nur

__________ 1 Wissenschaftsrat: Empfehlungen zur Entwicklung der Fachhochschulen in den 90er Jahren, 1991, S. 13. 2 Wissenschaftsrat: Empfehlungen zur Entwicklung der Fachhochschulen in den 90er Jahren, 1991, S. 14.

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über die Forschung die Aktualität der Lehre und ihr Bezug zur Berufspraxis gesichert werden kann.“3 So entwickelte sich kontinuierlich, aber zwangsläufig Forschung an Fachhochschulen und zwar analog zur anwendungsorientierten Lehre eben als anwendungsorientierte Forschung. Und dies, obwohl die Start- und Rahmenbedingungen alles andere als günstig waren. Denn Fachhochschulen waren und sind in ihrer Grundfinanzierung deutlich schlechter gestellt als Universitäten, es gibt in der Personalzuweisung nicht die für Universitäten übliche Kategorie des akademischen Mittelbaus und die Lehrbelastung der Fachhochschulprofessorinnen und -professoren ist doppelt so hoch wie die der Lehrenden an Universitäten. Dies alles hat die Entwicklung der Forschung an Fachhochschulen natürlich erschwert, aber es konnte den Forschungsdrang und den Ehrgeiz vieler Kolleginnen und Kollegen kaum hemmen. Und so war es nur folgerichtig, dass anwendungsorientierte Forschung zu einem festen Bestandteil einer jeden modernen Fachhochschule wurde und die Fachhochschulen sich zu Motoren regionaler Innovationsprozesse entwickelten. Diese Entwicklung bekam dann noch einmal einen weiteren Schub durch die Fachhochschulen in den neuen Bundesländern Anfang der 90er Jahre. Einmal, weil viele Professorinnen und Professoren, aus der universitären Forschungspraxis kommend, übergeleitet wurden und ihr neues Betätigungsfeld dann an der Fachhochschule fanden. Andere – insbesondere solche, deren Weg an eine neu gegründete Fachhochschule führte – kamen aus einer langjährigen Forschungspraxis oder aus dem akademischen Mittelbau und übertrugen so ihre Forschungsneigung und -erfahrung auf die neu gegründete Einrichtung. So ist Forschung an Fachhochschulen heute in jedem Hochschulgesetz der Länder verankert.4 Und auch wenn der übliche Gradmesser, nämlich die eingeworbenen Forschungsmittel pro Professor dem Vergleich mit den Kolleginnen und Kollegen an Universitäten natürlich noch nicht standhalten, ist hier in den 90er Jahren und Anfang dieses Jahrhunderts ein enormer Entwicklungsprozess erfolgt, der noch nicht zu Ende ist. Auch die Politik reagierte auf diese Entwicklung und legte entsprechende Förderprogramme für Forschung an Fachhochschulen auf. So ist gegenwärtig als einer der wichtigsten Motoren und Förderer anwendungsorientierter Forschung das BMBF-Programm FHprofUnt zu nennen. Dieses Programm trägt

__________ 3 Wissenschaftsrat (Fn. 2). 4 So heißt es z. B. in § 2 Abs. 1 Nr. 4 Landeshochschulgesetz Baden-Württemberg: „[…] die Fachhochschulen vermitteln durch anwendungsbezogene Lehre und Weiterbildung eine Ausbildung, die zu selbständiger Anwendung wissenschaftlicher Erkenntnisse und Methoden oder zu künstlerischen Tätigkeiten in der Berufspraxis befähigt; im Rahmen ihrer Aufgaben betreiben sie anwendungsbezogene Forschung und Entwicklung“ oder in § 3 Abs. 11 Hochschulgesetz Sachsen-Anhalt: „Die Fachhochschulen dienen den angewandten Wissenschaften und bereiten durch anwendungsbezogene Lehre auf berufliche Tätigkeiten vor, die die Anwendung wissenschaftlicher Erkenntnisse und Methoden oder die Fähigkeit zu künstlerischer Gestaltung erfordern. In diesem Rahmen nehmen die Fachhochschulen Forschungs- und Entwicklungsaufgaben und künstlerisch-gestalterische Aufgaben wahr.“

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dem Umstand Rechnung, dass Fachhochschulen in vielen anwendungsnahen Forschungs- und Entwicklungsfeldern zu den wichtigsten Partnern kleiner und mittelständischer Unternehmen avanciert sind. 2. Promotionsmöglichkeiten für Fachhochschulabsolventen Mit dem Anwachsen der Forschung an Fachhochschulen entwickelte sich natürlich zwangsläufig bei den in diesen Forschungsprozess eingebundenen wissenschaftlichen Mitarbeiter/-innen zunehmend der Wunsch, im Rahmen dieser Tätigkeit auch promovieren zu können. Dies war Neuland für die Universitäten und entsprechend gingen sie auch damit um. Denn die Frage stellte sich erst einmal, ob das Fachhochschuldiplom überhaupt eine hinreichende Qualifikation für die Aufnahme eines Promotionsstudiums bedeute. Kultusministerkonferenz und Hochschulrektorenkonferenz gaben Antwort darauf, indem sie seit 1994 den direkten Weg zur Promotion für Fachhochschulabsolvent/ -innen durch entsprechende Beschlüsse eröffnet haben.5 Auf Fakultätsebene wurde dieses Problem weitgehend dadurch gelöst, dass die Promotionsordnungen der meisten Fakultäten zwar dahingehend geändert wurden, dass Fachhochschulabsolvent/-innen grundsätzlich zur Promotion zugelassen sind, aber ihre besondere Eignung durch eine herausragende Diplomabschlussnote (meist „sehr gut“) nachweisen sowie sich einem Eignungsfeststellungsverfahren (zwischen zwei und max. fünf Semestern) unterziehen müssen, in dem sie ihre Fähigkeit zur selbständigen wissenschaftlichen Arbeit unter Beweis stellen. Dies waren enorme Hürden und entsprechend gering fiel die Zahl der erfolgreich absolvierten Promotionen von Fachhochschulabsolvent/-innen aus. Die Hochschulrektorenkonferenz hat seit 1996 regelmäßig im Abstand von drei Jahren den Stand der Promotion von Fachhochschulabsolvent/-innen erhoben. War die Zahl 1996/1997 mit 16 abgeschlossenen Promotionen von Fachhochschulabsolvent/-innen noch äußerst gering, so wuchs sie in den Folgejahren kontinuierlich bis auf 570 für den Erhebungszeitraum 2006 bis 2008. Angesichts von gegenwärtig über 600.000 Studierenden an Fachhochschulen weist der Vergleich mit 23.500 abgeschlossenen Promotionen von Universitätsabsolvent/-innen im selben Zeitraum bei etwa 1,4 Millionen Studierenden an Universitäten allerdings ein eklatantes Missverhältnis auf.6 Geschuldet war und ist dies einmal der erwähnten Tatsache, dass die Hürden für Fachhochschulabsolvent/-innen einerseits sehr hoch sind, dass auf der anderen Seite aber auch die die genannten Forschungsprozesse begleitenden Fachhochschulprofessorinnen und -professoren und damit Betreuer/-innen der Promotionsaspiranten meist nicht in die Promotions- bzw. entsprechenden

__________ 5 Wissenschaftsrat: Empfehlungen zur Entwicklung der Fachhochschulen, 2002, S. 55. 6 Die Zahlen stammen zum einen aus den Empfehlungen des Wissenschaftsrats zur Differenzierung der Hochschulen (2011, S. 141) und zum anderen aus der HRK-Umfrage „Promotionen von Fachhochschulabsolventen in den Prüfungsjahren 2006, 2007 und 2008“.

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Prüfungsverfahren mit eingebunden wurden. Die meisten Promotionsordnungen an Universitäten sahen diese Form der „kooperativen Promotion“ nicht vor, obwohl sie in den Empfehlungen und Beschlüssen von Wissenschaftsrat, HRK und KMK sowie in den meisten Hochschulgesetzen der Länder ausdrücklich genannt ist. Die Folge war, dass promotionswillige Fachhochschulabsolvent/-innen ihr Vorhaben nur realisieren konnten, wenn sie auf eine Promotionsstelle der entsprechenden Universität wechselten. Dass sie dabei dem Forschungsprozess an Fachhochschulen entzogen werden, schwächt die Fachhochschulen in ihrer Forschungsentwicklung, da nur durch solche wissenschaftlichen Mitarbeiter/innen der im Personalschlüssel nicht vorgesehene, aber für den Forschungsprozess eben notwendige Mittelbau aufgebaut werden kann. Diese insgesamt unbefriedigende Situation – unbefriedigend für die akademischen Karriereabsichten von Fachhochschulabsolvent/-innen einerseits, unbefriedigend aber auch im Hinblick auf die potentielle Vergeudung von akademischen Ressourcen – führte natürlich zwangsläufig vermehrt zu Forderungen, das Promotionsrecht für Fachhochschulen zu öffnen, sei es in genereller Form, sei es nur für forschungsstarke Bereiche oder aufgrund einschlägiger Akkreditierungen. Als erstes Bundesland öffnete Sachsen-Anhalt in dem 1998 verabschiedeten dritten Gesetz zur Änderung des Hochschulgesetzes das Promotionsrecht mit folgendem Wortlaut: „Das für Hochschulen zuständige Ministerium kann das Promotionsrecht auch an Fachhochschulen verleihen, sofern diese für den betreffenden Wissenschaftszweig die dafür notwendigen wissenschaftlichen Voraussetzungen nachweisen.“7

Die Folge war ein Aufschrei in der Wissenschaftslandschaft der Republik und die Konsequenz für die Hochschulen in Sachsen-Anhalt, dass das Gesetz in dieser Passage nie umgesetzt wurde. Diesbezügliche Überlegungen gab es aber auch in Sachsen und insbesondere in Hamburg, wo die CDU/GAL-Koalition in ihrem Koalitionsvortrag 2008 ausdrücklich formulierte, dass die Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg für einzelne Exzellenzbereiche in einem Modellversuch die Promotionsbefugnis erhalten solle.8 Aber auch diese Vereinbarung wurde nie umgesetzt, mit der Neubildung des Hamburger Senats im Jahr 2011 verschwand sie dann auch wieder. Zusammenfassend lässt sich aber sagen, dass der Druck auf die Universitäten, sich für promotionswillige Fachhochschulabsolventen stärker zu öffnen, sie in ihrem zusätzlichen Leistungsanspruch im Vergleich mit Universitätsabsolvent/-innen nicht zu diskriminieren und die betreuenden Fachhochschulkolleginnen und -kollegen im Rahmen von kooperativen Verfahren zu beteiligen, kontinuierlich wuchs. Entsprechende Formulierungen finden sich in Rahmenzielvereinbarungen wieder oder wurden im Rahmen der zunehmenden wettbewerblichen Ausrichtung des Hochschulsystems auch zu einem Kriterium

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7 § 22 Abs. 6 Satz 2 Hochschulgesetz Sachsen-Anhalt in der Fassung des dritten Gesetzes zur Änderung des Hochschulgesetzes Sachsen-Anhalt v. 19.3.1998 (GVBl. LSA S. 132). 8 Koalitionsvertrag CDU-GAL v. 17.4.2008.

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bei der leistungsorientierten Mittelverteilung. Dass es hier Handlungsbedarf gab, erkannte das Präsidium der HRK spätestens in den Jahren 2005/2006, insbesondere aber Peter Hommelhoff, der die Promotion immer als Proprium der Universitäten bezeichnete, sehr wohl aber wusste, dass dieses angesichts der gegenüber Fachhochschulabsolvent/-innen praktizierten Form durchaus gefährdet war.

III. Kooperative Promotionsverfahren Obwohl in vielen Vereinbarungen postuliert, vom Wissenschaftsrat angemahnt und vom Plenum der HRK in den Jahren 1992 und 1995 ausdrücklich empfohlen, entsprachen die sogenannten „kooperativen Promotionsverfahren“ weitgehend nicht ihrem eigentlichen Wortsinn. Auch wenn es einige rühmliche Ausnahmen von enger Kooperation zwischen Fachhochschulen und Universitäten gab, die auch gemeinsame Promotionsvorhaben vorsahen, schlossen die meisten Promotionsordnungen von universitären Fakultäten die Beteiligung der Fachhochschulkollegen an Begutachtung und Prüfung aus. Darüber hinaus zeigten auch die neuesten HRK-Umfragen zur Promotion von Fachhochschulabsolventen, dass sich trotz der aufgrund einer KMK-Entscheidung formalen Gleichstellung der Masterabschlüsse an Universitäten und Fachhochschulen Masterabsolventen von Fachhochschulen weiterhin Eignungsfeststellungsprüfungen an Universitäten unterziehen mussten. Gleichzeitig wurde aber auch deutlich, dass diese anhaltenden formalen Widerstände und Hürden angesichts der Entwicklung in der industriellen Welt den daraus resultierenden veränderten Anforderungen an die Forschung in keiner Weise mehr dem Zeitgeist entsprachen. Denn gerade in den Natur- und Technikwissenschaften war und ist die Trennschärfe zwischen Grundlagen- und angewandter Forschung nur noch schwer auszumachen. Und aufgrund beschleunigter Innovationszyklen in Schlüsselbereichen, in denen die Produktion in hohem Maße forschungsbasiert ist, wurde die enge Kooperation von Grundlagenforschung, angewandter Forschung und industrieller Produktion immer notwendiger. 1. Promotion von Fachhochschulabsolventen Dieser Entwicklung Rechnung tragend, bereitete das Präsidium der HRK Ende 2006 eine Empfehlung vor, die dann in der 103. Sitzung der Senats der HRK am 13.2.2007 mit großer Mehrheit verabschiedet wurde. Darin betont die HRK noch einmal, dass der Zugang zur Promotion sich grundsätzlich nach der individuellen Fähigkeit zum wissenschaftlichen Arbeiten richten muss, bestätigt ihre Empfehlungen aus den Jahren 1992 und 1995, hervorragend qualifizierten Fachhochschulabsolventen mit einem Diplomgrad ohne den vorausgehenden Erwerb eines universitären Abschlusses den Zugang zur Promotion zu ermöglichen und empfiehlt vor dem Hintergrund der Analysen zur Promotion von Fachhochschulabsolventen und angesichts der neuen Abschlüsse im Rahmen der Umsetzung der Ziele des Bologna-Prozesses im Einzelnen folgendes: 248

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– Alle Promotionsordnungen sollten im Rahmen des Landesrechts die Voraussetzungen für die Promotion von hervorragend qualifizierten Fachhochschulabsolventen mit einem Diplomgrad schaffen. In den meisten Ordnungen ist die Möglichkeit bereits gegeben. Ein Eignungsfeststellungsverfahren zielt darauf ab, die Fähigkeit zum wissenschaftlichen Arbeiten, wie sie für die Promotion erforderlich ist, zu gewährleisten. Die zeitliche Belastung der Kandidaten durch die Auflagen, die die Studierenden im Rahmen dieses Verfahrens erhalten, variiert stark, sollte aber möglichst gering gehalten werden. – Die Promotionsausschüsse sollten sicherstellen, dass Master-Absolventen von Fachhochschulen nach den gleichen Regeln zur Promotion zugelassen werden wie Universitätsabsolventen. Die Praxis der Hochschulen ist in diesen Fällen noch sehr uneinheitlich. Dazu können sie entweder die Promotionsordnung in entsprechender Weise ändern oder einen Beschluss fassen, der die Zulassungsvoraussetzungen eines universitären Abschlusses künftig auch durch einen Mastergrad, der an einer Fachhochschule erworben wurde, erfüllt sieht. Master-Absolventen von Fachhochschulen dürfen insbesondere nicht systematisch ein Eignungsfeststellungsverfahren durchlaufen. Sie dürfen aber – wie auch Universitätsabsolventen – vor dem Hintergrund der fachlichen Voraussetzungen für die angestrebte Promotion mit Auflagen belegt werden, die vor der Zulassung zu erfüllen sind. – Die Universitäten sollten Möglichkeiten für kooperative Promotionsverfahren mit Fachhochschulen schaffen, in denen Professorinnen und Professoren von Fachhochschulen als Betreuer, Gutachter und Prüfer im Promotionsverfahren wirken können. Diese Möglichkeit ist erst in wenigen Promotionsordnungen vorgesehen und wird darüber hinaus in einzelnen regionalen Verbünden praktiziert. Dazu sind einerseits die Promotionsordnungen um entsprechende Regelungen zu ergänzen. Andererseits sollten die Hochschulen regionale Verbünde von Fachhochschulen und Universitäten zu diesem Zweck auf der Basis bestehender oder aufzubauender Beziehungen in Forschung und Lehre entwickeln.9 Natürlich ist eine Empfehlung eines HRK-Gremiums nicht bindend für die Mitgliedshochschulen. Aber allein die Tatsache, dass diese Empfehlung in der damaligen Sitzung sehr kontrovers diskutiert wurde, zeigte, dass einige Universitätsvertreter in einer solchen Empfehlung eine Aufweichung des hergebrachten Alleinstellungsmerkmals der Universitäten, nämlich des Promotionsrechts, befürchteten. Peter Hommelhoff hat in dieser Diskussion eine entscheidende Rolle gespielt, denn es ist seiner Argumentationskraft ganz wesentlich zu verdanken, dass diese Empfehlung nicht nur insgesamt vom Senat, sondern auch mit deutlicher Mehrheit von den universitären Vertretern mit getragen wurde.

__________ 9 Empfehlung des 103. Senats der HRK v. 13.2.2007: Zur Promotion von Fachhochschul-Absolventen, S. 2 f.

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2. Kooperative Forschungs- und Graduiertenkollegs Die genannte Empfehlung des Senats der HRK stellte nicht nur erst einmal die Basis für weitergehende Überlegungen im Hinblick auf kooperative Forschungsund Promotionsvorhaben dar, sondern forderte solche geradezu heraus. Denn angesichts der skizzierten Entwicklung in der industriellen Welt, der Forderung nach integrierten Ansätzen von grundlagen- und anwendungsorientierter Forschungspraxis sowie der durch die Senatsempfehlung von den Hochschulen diesbezüglich bekundeten Kooperationsbereitschaft lagen Überlegungen zu gemeinsam getragenen strukturierten Promotionsstudien im Rahmen von gemeinsamen Forschungsvorhaben auf der Hand. Peter Hommelhoff war hier immer eine treibende Kraft, da er einerseits über Erfahrungen mit einem solchen kooperativen Promotionskolleg zwischen der Universität Heidelberg und der Hochschule Mannheim verfügte, die – aufgrund einer DFG-Begutachtung – erfolgte Einstellung dieses Kollegs für ihn aber gerade Ansporn war, diese Idee weiter zu verfolgen und auf eine breitere Basis zu stellen. Und so reiften in Folge dieser genannten Senatsentscheidung im engen Zusammenwirken mit dem Verfasser und der HRK-Präsidentin in der zweiten Jahreshälfte 2007 Ideen, ein gesondertes Programm zur Förderung von solchen kooperativen Graduiertenkollegs zwischen Universitäten und Fachhochschulen auf den Weg zu bringen. Es fand schnell die Unterstützung des gesamten Präsidiums und wurde informell auch schon mit der Politik, insbesondere mit der damaligen Bundesministerin, kommuniziert. Angesichts spontaner Interessensbekundungen einzelner Hochschulen, die Forschungskooperationen zwischen einer oder mehreren Universitäten bzw. einer oder mehreren Fachhochschulen auswiesen und die in diesem Kontext ein gemeinsames Graduiertenkolleg planten, gingen wir bei unseren Überlegungen in dieser Phase noch von einem Programm aus, dass eine Förderung von 20 bis 25 solcher Kollegs beinhalten und einen Förderrahmen von insgesamt ca. 25 bis 30 Millionen Euro umfassen sollte. Im Rahmen der als Strategiesitzung angelegten 106. Senatssitzung am 11.12.2007 wurde das Vorhaben von Peter Hommelhoff vorgestellt und damit erstmals in der Hochschulöffentlichkeit diskutiert. Er betonte, dass kooperative Graduiertenkollegs Einrichtungen sein sollten, „die jeweils gemeinsam von einer Universität und einer Fachhochschule getragen würden mit dem Ziel, Doktorandinnen und Doktoranden sowohl in der Universität als auch in der Fachhochschule die Möglichkeit einer strukturierten Doktorandenausbildung zu geben. Die Kollegs sollten ausdrücklich dem Ziel Rechnung tragen, die anwendungsbezogene Forschung in den Fachhochschulen und die Grundlagenforschung in den Universitäten zu verbinden. Diese institutionelle Komponente sei bei der Begutachtung besonders zu berücksichtigen.“10 Das Protokoll der 106. Senatssitzung vermerkt weiterhin, dass die Fachhochschulen den Vorschlag der experimentellen Einführung eines BMBF-finanzier-

__________ 10 Protokoll der 106. Sitzung des HRK-Senats am 11.12.2007 in Bonn, S. 5 f.

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Kooperative Graduiertenkollegs

ten Sonderprogramms „kooperative Graduiertenkollegs“ mit Nachdruck begrüßen; „die Kollegs böten den erfolgreichen Master-Absolventen eine verlässliche Perspektive und den beteiligten Fachhochschulen eine Option auf themenbezogene Forschung; die Bewilligung eines kooperativen Graduiertenkollegs mache Forschungsmaßnahmen sowohl individuell als auch institutionell planbar und berechenbar. Von Seiten der Universitäten wird dem kooperativen Ansatz unter Verweis auf die fachliche Begutachtung durch die DFG zugestimmt; es sei die Entscheidung der einzelnen Universitäten, sich an einem entsprechenden Programm zu beteiligen.“11 Zum damaligen Zeitpunkt gingen die HRK und die an diesem Prozess Beteiligten – insbesondere nach Rücksprache mit politischen Entscheidungsträgern – davon aus, dass das BMBF eine diesbezügliche Förderlinie auflegt und das Programm dann von der DFG administriert wird. Umso überraschender war es, dass die DFG im Frühjahr 2008 erklärte, dass sie ein solches Programm nicht unterstützen und im Falle der Bewilligung auch nicht durchführen werde. Diese Ablehnung geschah mit dem Hinweis, dass die Graduiertenkollegs der DFG durchaus auch für Fachhochschulabsolvent/-innen offen ständen und insofern kein gesondertes Programm notwendig sei. Der Hinweis, dass die Praxis und hierbei insbesondere die Tatsache, dass es außer dem oben genannten (und inzwischen eingestellten) Graduiertenkolleg kein weiteres zwischen einer Universität und einer Fachhochschule gäbe, dem widerspreche, fruchtete nicht. Die DFG blieb bei ihrer Ablehnung. In der Folgezeit gab es dann eine Reihe von Schreiben, so von der Präsidentin der HRK an die Bundesministerin und dem Verfasser an den zuständigen Abteilungsleiter im BMBF und in der Folge dann vor allen Dingen am 1.7.2008 ein Gespräch von Peter Hommelhoff und dem Verfasser mit dem damaligen Staatssekretär Thielen im BMBF. In der Protokollnotiz zu diesem Gespräch bemerkt Peter Hommelhoff: „Die Projektrealisierung wird offensichtlich nur sehr kleinschrittig erfolgen. Das FHprofUnt-Programm scheint in seiner gegenwärtigen Konzeption zwar nicht sehr geeignet, aber offensichtlich die einzige mögliche Programmlinie zu sein, in der ein Start möglich ist.“ Und optimistisch schätzte er zum damaligen Zeitpunkt noch ein, dass ein Pilotstart mit ca. drei kooperativen Promotionskollegs zum Sommersemester 2009 möglich sein könnte.12 Dies und viele weitere Gespräche machten deutlich, dass die DFG definitiv als Partnerin in einem solchem Programm nicht zur Verfügung stand und dass somit eine Förderlinie für ein eigenständiges Programm „kooperative Graduiertenkolleg“ in immer weitere Ferne rückte. Dabei betonten alle Beteiligten immer wieder, dass die Kollegs strukturell dadurch gekennzeichnet sein sollten, dass die Doktorandenausbildung kooperativ zwischen Universitäten, Fachhochschulen und natürlich auch außeruniversitären oder industriellen Forschungsvereinigungen vorgenommen werden solle. Antragsberechtigt sollten

__________ 11 Protokoll (Fn. 10). 12 Internes Gesprächsprotokoll zum Gespräch am 1.7.2008 mit Staatssekretär Thielen.

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Forschungsverbünde zwischen Universitäten und mindestens einer Fachhochschule (durchaus auch unter Einbeziehung weiterer Forschungseinrichtungen) auf der Basis einer vertraglichen Vereinbarung über die institutionelle Einbindung der Fachhochschule, das heißt einer gemeinsam definierten Forschungsplattform und der garantierten Beteiligung von Fachhochschulprofessoren an Betreuung, Prüfung und Begutachtung der Promotion sein. Grundsätzlich sollten die Qualitätsanforderungen an ein solch gefördertes Programm vergleichbar mit denen der von der DFG geförderten Kollegs sein. Im Bemühen um eine eigenständige Förderlinie für ein solches Programm wurden noch viele Gespräche geführt, aber auch im Hinblick auf mögliche Partner in der Umsetzung, die den erforderlichen Qualitätsstandards entsprechen – hier war sehr früh schon die VW-Stiftung im Gespräch. Und so verging fast noch ein Jahr für die Vorabstimmung, bis dann die Präsidentin der HRK in einem Schreiben vom 26.6.2009 an die Bundesministerin offiziell das Anliegen – nun unter dem Titel „kooperative Forschungskollegs“, da der Begriff „Graduiertenkollegs“ durch das diesbezügliche Programm der DFG besetzt war – herantrug. Zur Begründung hieß es dabei im Einzelnen: 1. Technologieführerschaft ist für den Standort Deutschland ein herausragendes Ziel. Sie ist aufgrund der enormen Verkürzungen der Zeitstrecke von einer Entdeckung in der Grundlagenforschung bis zum marktreifen Produkt einerseits und der erheblich beschleunigten Innovationszyklen in Schlüsselbereichen forschungsbasierter Produktion andererseits auf engste Kooperation von Grundlagenforschung, angewandter Forschung und industrieller Produktion angewiesen. Diese Kooperation kann auf eine enge Zusammenarbeit von Universitäten und Fachhochschulen nicht verzichten. 2. In der Entwicklung universitärer Grundlagenforschung und angewandter sowie produkt- und prozessorientierter Forschung der Fachhochschulen haben sich in den vergangenen Jahrzehnten Angleichungsprozesse ergeben: Namentlich in den Natur- und Technikwissenschaften hat sich die universitäre Forschung in weitem Umfang angewandter Forschung geöffnet, während die Anwendungsforschung jedenfalls an größeren Fachhochschulen auch aufgrund gestiegener Forschungsförderung seitens des Bundes und der Länder quantitativ wie qualitativ erheblich angewachsen ist. Namentlich dort, wo die Profile von Universitäten und Fachhochschulen bis in Studiengänge hinein aufeinander abgestimmt werden, ergeben sich erhebliche Chancen für Synergien, die konkrete Forschungs- und Entwicklungsprozesse und damit Innovationen deutlich intensivieren und beschleunigen können. 3. Dies hat in den vergangenen Jahren vereinzelt zu gemeinsamen Projekten, Kooperationsvereinbarungen und in Einzelfällen auch gemeinsam getragenen Doktorandenprogrammen zwischen Universitäten und Fachhochschulen geführt.

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Kooperative Graduiertenkollegs

Drei Faktoren ermutigen dazu, diese Entwicklung auf eine nachhaltige und tragfähige Basis zu stellen: a) Universitäten und Fachhochschulen bringen in diese Kooperation auf ihren jeweiligen Vernetzungen beruhende strategische Vorteile ein: nämlich die Verbindung mit außeruniversitären Forschungseinrichtungen auf Seiten der Universitäten und der enge Kontakt zur lokalen bzw. regionalen Wirtschaft auf Seiten der Fachhochschulen. Insoweit verspricht eine enge Kooperation erhebliche Chancen für eine thematisch ausgerichtete Bildung von Clustern, die ihrerseits potente Träger vor allem regionaler Innovationsprozesse sein können. b) Universitäten und Fachhochschulen verfügen über jeweils hoch professionalisierte Kompetenzen in der interdisziplinären Grundlagenforschung und der prozess-, anwendungs- und produktorientierten Forschung. Obgleich eine Verschmelzung beider Kompetenzen deren jeweilige Leistungsfähigkeit beeinträchtigen würde, ist doch in der Praxis beider Hochschultypen die stärkere Einbeziehung der jeweils anderen Kompetenz notwendig. c) Der HRK liegen konkret Pläne für einschlägige kooperative Projekte vor, die sich durch große Synergieeffekte auszeichnen und auf die Erschließung erheblichen innovativen Potentials hindeuten.13 Als Beispiele für schon gelungene Kooperationsprojekte zwischen Universitäten bzw. Fachhochschulen wurden eine Reihe von Skizzen, aber auch ein ausformulierter Antrag beigefügt. Zusammenfassend heißt es abschließend in dem Schreiben noch einmal: „Es geht in den einzelnen Vorhaben darum, spezifische Potentiale der Universitäten, der Fachhochschulen und der Entwicklungsabteilungen von Unternehmen (oder anderer praxisnaher Akteure) in den Bereichen von Grundlagenforschung, anwendungs- sowie prozess- und produktorientierter Forschung projektbezogen zusammen zu führen. Dies soll in Form von gemeinsamen Promotionsvorhaben – auch unter dem Dach von Fachhochschulen – realisiert werden, so dass dem dort geförderten Nachwuchs Karrierewege in allen Bereichen von Wissenschaft und Wirtschaft uneingeschränkt offen stehen.“14 Dieses Schreiben ebnete den Weg für weitere Gespräche, so z. B. eines der Präsidentin der HRK und dem Verfasser mit der Bundesministerin und dem zuständigen Abteilungsleiter am 14.9.2009, also kurz vor der damaligen Bundestagswahl. Und auch der Generalsekretär der Volkswagenstiftung engagierte sich noch einmal in einem Schreiben an die Bundesministerin, in dem er die Sinnhaftigkeit betonte, neben der bereits jetzt möglichen Förderung durch die DFG ein eigenes Programm des BMBF aufzulegen, dass verstärkt auch Promotionschancen für Fachhochschulabsolventen eröffnen solle. Mit kooperativen

__________ 13 Brief der HRK-Präsidentin an die Bundesministerin für Bildung und Forschung v. 26.6.2009. 14 Brief (Fn. 13).

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Forschungskollegs könnte ein programmatisch neuer Weg beschritten werden, der freilich ein faires und wissenschaftsgeleitetes Begutachtungs- und Entscheidungsverfahren voraussetze. Trotzdem vergingen noch einmal mehrere Monate, bis am 19.7.2010 in einem Gespräch zwischen dem zuständigen Abteilungsleiter im BMBF und dem Verfasser die Grundzüge einer pilothaften Förderung kooperativer Forschungskollegs abschließend besprochen wurden. Und in einem Schreiben vom 27.10.2010 – neben Peter Hommelhoff war inzwischen auch der Verfasser aus seinem Sprecheramt ausgeschieden – teilte die Staatssekretärin im BMBF der Präsidentin der HRK in einem Schreiben die Einzelheiten der Förderung unter dem Titel „Forschungskooperationen zwischen Fachhochschulen und Universitäten stärken – wissenschaftlichen Nachwuchs in Forschungskollegs fördern“ mit. Entgegen der ursprünglichen Intention legte das BMBF keine eigene Förderlinie auf, sondern öffnete seine fachlichen Förderprogramme für „vielversprechende Kooperationen zwischen Fachhochschulen und Universitäten“. Fachhochschulen und Universitäten sollte die Möglichkeit eröffnet werden, bestehende Forschungskooperationen auszubauen und im Rahmen gemeinsamer Forschungskollegs Absolventen zu promovieren. Angestrebt wurde eine Förderung von insgesamt sechs bis acht Pilotprojekten. Ausdrücklich werden neben den Ausgaben für Forschung und Entwicklung insbesondere Mittel für die Förderung der beteiligten Doktoranden erwähnt und bei den Kriterien für die Förderung werden neben der transparenten und verbindlichen Regelung des Promotionsverfahrens zwischen den beteiligten Hochschulen klar definierte, gemeinsame Betreuungsstrukturen, die Sicherstellung der Gleichbehandlung von Universitäts- und Fachhochschulabsolventen in den Programmen und der gleichberechtigte Einfluss von Fachhochschule und Universität auf die Gestaltung und Arbeit des Kollegs erwartet. Im Herbst (21.10.2010) erfolgte dann die Ausschreibung. Die abschließende Auswahl der Anträge traf eine Jury unter Vorsitz des Generalsekretärs der Volkswagenstiftung. Am 18.5.2011 erhielten sieben Projekte einen Förderbescheid.

IV. Fazit Natürlich entsprach das Ergebnis dieser langjährigen Bemühungen nicht dem, was wir ursprünglich angestrebt hatten. Aus einer intendierten eigenen Programmlinie mit 25 bis 30 geförderten Graduiertenkollegs wurde eine Förderung von Forschungskollegs in deutlich reduzierter Form aus den Fachprogrammen des BMBF. Aber es war und ist ein Einstieg in eine Kooperationsform zwischen Universitäten und Fachhochschulen, die beispielhaft ist. Und es ist nur zu hoffen, dass die angestrebte Evaluation die Sinnhaftigkeit und Zukunftsfähigkeit dieses Pilotprogramms unterstreicht, so dass eine eigene Programmlinie mit einem deutlich ausgeweiteten Fördervolumen die Konsequenz sein wird.

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Peter Hommelhoff hat sich um das Zustandekommen dieses Pilotprogramms große Verdienste erworben. Er hat, auch wenn es Rückschläge gab und wir manchmal nahe dran waren, die Hoffnung auf das Zustandekommen eines solchen Programms aufzugeben, immer wieder Mut gemacht und für die Idee gekämpft. Dabei habe ich ihn als fairen und außerordentlich kollegialen Partner erlebt. Und auch nach seinem Ausscheiden aus dem Amt als Sprecher der Universitäten war ihm viel am Gelingen dieses Vorhabens gelegen und er hat sowohl aktiv als auch mit Rat und neuen Ideen am Zustandekommen mitgewirkt. Für diesen außerordentlich konstruktiven und richtungweisenden Verständigungsprozess zwischen den beiden Mitgliedergruppen gebührt ihm großer Dank und ich blicke dankbar auf diese gemeinsame erfolgreiche Zeit der Zusammenarbeit zurück.

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Zum Prinzip des comply or explain und der Notwendigkeit einer „inhaltlich einheitlichen“ Entsprechenserklärung nach § 161 AktG Inhaltsübersicht I. Einleitung II. Entstehungsgeschichte, Sinn und Instrumentarium des Systems

IV. Die Entsprechenserklärung als Anknüpfungspunkt V. Fazit

III. Rechtspolitische Diskussion und Rechtsfolgen unrichtiger oder unvollständiger Entsprechenserklärungen

Fragen der Corporate Governance, wie dies heute in „modernem“ Sprachgebrauch heißt, haben den Jubilar mit seinem ausgeprägten Gespür für neue Problemfelder, mit seiner Bereitschaft und Fähigkeit, die so entdeckten neuen Herausforderungen anzunehmen, und der besonders bewunderten Kreativität bei der Entwicklung sachgerechter Lösungen sein ganzes berufliches Leben begleitet.1 Ihn hat sein praktischer Sinn dabei davor bewahrt, die Ergebnisse seines Nachdenkens als für alle Zeit „festgeschrieben“ und „richtig“ anzusehen, vielmehr zeigt sich Peter Hommelhoffs Offenheit für das Neue auch darin, dass er sich immer dem Diskurs mit anderen Meinungen gestellt und sich gegebenenfalls von als besser erkannten Argumenten hat überzeugen lassen. Auch wenn der Jubilar – zusammen mit seinem Schüler Martin Schwab – Profundes zu den „Regelungsquellen und Regelungsebenen der Corporate Governance“ und in diesem Zusammenhang auch zu § 161 AktG publiziert hat,2 besteht deswegen die Hoffnung, dass die nachfolgenden Gedanken zu einem Teilausschnitt der durch § 161 AktG aufgeworfenen Probleme – zumindest – auf sein Interesse stoßen werden.

I. Einleitung § 161 AktG verlangt von Vorstand und Aufsichtsrat einer börsennotierten Aktiengesellschaft, dass sie jährlich „erklären“, dass den vom Bundesministe-

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1 Vgl. nur das weit ausgreifende, zu neuen Ufern strebende Werk „Die Konzernleitungspflicht“ oder das zuletzt zusammen mit Hopt und v. Werder in 2. Aufl. herausgegebene Handbuch Corporate Governance, ferner „Die OECD-Principles“, ZGR 2001, 238 und „Corporate Governance“, ZHR-Beiheft 71 (2002). Jetzt: Gesellschaftsrecht in der Diskussion 2011, S. 175. 2 In Hommelhoff/Hopt/v. Werder, Handbuch Corporate Governance, 2. Aufl. 2011, S. 71 ff.

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rium der Justiz bekannt gemachten Empfehlungen der „Regierungskommission Deutscher Corporate Governance Kodex“ entsprochen wurde und wird oder welche Empfehlungen des Kodex (DCGK) nicht angewandt wurden oder werden; außerdem ist im Falle einer nicht vollständigen Befolgung in dieser Entsprechenserklärung neuerdings3 zu begründen, warum man von den Empfehlungen abweicht. Mit der genannten Vorschrift hat der Gesetzgeber die von Privaten stammende Zusammenstellung von Empfehlungen und Anregungen, die insgesamt die Regeln der Unternehmensführung abbilden, die die Kommission nach ihrem Erfahrungshorizont für „gut“ hält, auf die rechtliche Ebene gehoben und damit die von ihm nicht einmal versteckt beantwortete Frage heraufbeschworen, welche Rechtsfolgen an einen Verstoß gegen § 161 AktG zu knüpfen sind.4 Da die von Vorstand und Aufsichtsrat abzugebende Entsprechenserklärung das entscheidende Vehikel für die Transformation der wenig aussagekräftig als „soft law“5 bezeichneten Empfehlungen in das Aktienrecht ist, verdient sie als solche, aber auch hinsichtlich ihrer nicht unproblematischen „Einheitlichkeit“ eine nähere Betrachtung. Lösungen für die dabei auftretenden Fragen – auch der Jubilar6 hat sich hierzu geäußert – wird man indessen nur finden können, wenn man sich das gesamte Regelungssystem unter Berücksichtigung der Entstehungsgeschichte und der Ziele vergegenwärtigt, die der Gesetzgeber mit § 161 AktG verfolgt hat.

II. Entstehungsgeschichte, Sinn und Instrumentarium des Systems Die Entstehungsgeschichte der Vorschrift ist nur nachzuvollziehen, wenn man sie in den größeren Kontext der internationalen Entwicklung stellt, die in den letzten beiden Jahrzehnten, ausgehend von dem angelsächsischen Rechtskreis, im Zusammenwirken von Juristen und Ökonomen vorangetrieben worden ist.7 Allerdings darf man dabei nicht der Fehlvorstellung erliegen, als handele es sich um ein gänzlich neues, erstmals aufgetretenes Problem: Die Sachfragen, die u. a.8 durch den Konflikt zwischen Fremdmanager und Anteilseigner strukturell vorgegeben sind, waren schon immer, besonders im Rahmen der Regress-

__________ 3 § 161 Abs. 2 Satz 1 AktG ist durch das BilMoG entsprechend neu gefasst worden. 4 Vgl. dazu aus der höchstrichterlichen Rechtsprechung die Leitentscheidungen BGHZ 180, 9 – Kirch/Deutsche Bank und BGHZ 182, 272 – Umschreibungsstopp; dazu weiter W. Goette in FS Hüffer, 2010, S. 225 ff.; W. Goette, Gesellschaftsrecht in der Diskussion 2009, S. 38 ff., 39 f., 45 f. und W. Goette, GWR 2009, 459. 5 Semler in MünchKomm. AktG, 2. Aufl. 2004, § 161 AktG Rz. 28 im Anschluss an z. B. Lutter, ZGR 2000, 1, 18 und Ulmer, ZHR 166 (2002), 150, 162 sowie AcP 202 (2002), 143, 168. 6 Hommelhoff/Schwab in Hommelhoff/Hopt/v. Werder, Handbuch Corporate Governance (Fn. 2), S. 89 ff. 7 Vgl. dazu Hopt, ZHR 175 (2011), 444 ff. mit sehr eingehender Darstellung der bis auf Adam Smith zurückgehenden Entwicklung. 8 Konflikte, die durch sachgerechte Leitung und Überwachung beherrscht werden müssen, können natürlich auch in Gestalt von Mehrheits-/Minderheitssituationen entstehen. Entsprechendes gilt im Verhältnis zu den Arbeitnehmern oder Vertragspartnern der Gesellschaft.

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Zum Prinzip des comply or explain

nahme gegen Unternehmensführer,9 Gegenstand richterlicher Erkenntnisse und literarischer Erörterung. Die weltweiten Krisen der jüngeren Vergangenheit, vor allem die jüngste Finanzkrise haben aber die Frage10 aufgeworfen, ob eine gute Unternehmensführung ihren Eintritt hätte verhindern oder die Folgen jedenfalls hätte abmildern können; immerhin hat sie zu einer Bewusstseinsschärfung geführt,11 Anlass für zielgerichtete Forschung12 sowie vielfach für ein Tätigwerden des Gesetzgebers13 gegeben. Die Regierungskommission Corporate Governance,14 auf deren Wirken die gesetzliche Regelung zurückzuführen ist, ist vor dem Hintergrund des Falles Philip Holzmann mit dem Ziel eingesetzt worden, Defizite der deutschen Unternehmenskultur – das betrifft Leitung und Überwachung gleichermaßen – aufzuspüren und Vorschläge für eine Modernisierung des rechtlichen Regelwerks zu erarbeiten. Diese Vorschläge sollten sich indessen nicht auf die Beseitigung etwa vorhandener Mängel beschränken, sondern weiter ausgreifen und den „Finanzplatz Deutschland stärken“ und die Grundlagen für eine Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit deutscher Unternehmen auch bei der Internationalisierung der Märkte schaffen. Ausdrücklich eingeschlossen in diesen Auftrag war die „Neujustierung des Verhältnisses von staatlichem Ordnungsrahmen und Instrumenten der Selbstregulierung.“ Teil D des Berichts der Baums-Kommission15 enthält die näher begründeten Vorschläge, die die Unternehmensführung börsennotierter Gesellschaften betreffen. Gegenüber dem deutschen Recht, das durch einen zwingenden gesetzlichen Rahmen gekennzeichnet ist, der durch Satzung, Geschäftsordnung, Anstellungsverträge, allgemeine Übung und die Rechtsprechung konkretisiert, ergänzt und fortentwickelt wird, stellt die Kommission die Vorzüge der international verbreiteten, vor allem im angelsächsischen Bereich gebräuchlichen „Codes of Best Practice“ oder die Mindeststandards für an der Londoner Börse notierte Gesellschaften („Combinedcode“) als nicht staatliches, selbst geschaffenes „Recht“ der Wirtschaft heraus: Sie zeichnen sich nach Meinung der Kommissionsmitglieder nicht nur durch ein größeres Maß an Selbstregulierung, sondern auch dadurch aus, dass sie weniger abstrakt gestaltet sind, konkretere und eingehendere Einzelempfehlungen enthalten und damit ein höheres Maß an Verständlichkeit für die Investoren für sich in Anspruch nehmen

__________ 9 S. W. Goette in FS 50 Jahre BGH, 2000, S. 123 ff.; W. Goette in Hommelhoff/Hopt/ v. Werder, Corporate Governance Handbuch (Fn. 2), S. 713 ff., wobei nicht unberücksichtigt bleiben darf, dass sich der genannte Konflikt außer bei der Verfolgung von Haftungsansprüchen auch in anderer Weise, z. B. bei der Abberufung aus wichtigem Grund zeigen kann. 10 Nach den Ergebnissen neuerer Untersuchungen, vgl. z. B. Nachweise bei Hopt, ZHR 175 (2011), 444, 447 f. mit Fn. 11 sowie 461 und Bachmann, AG 2011, 181, 185 unter Hinweis u. a. Mülbert, ZHR 173 (2009), 1 ff., Spindler, AG 2010, 601, 605 und Möslein, JZ 2010, 72, 78 ff. soll dies eher nicht der Fall sein. 11 Vgl. Hopt, ZHR 175 (2011), 444, 461 f. 12 Vgl. Hopt, ZHR 175 (2011), 444, 446. 13 Vgl. Hopt, ZHR 175 (2011), 444, 447 mit Fn. 6. 14 S. Baums, Bericht der Regierungskommission Corporate Governance, 2001, S. 1. 15 Baums (Fn. 14), S. 49 Rz. 5 ff.

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können. Deutsche Unternehmen, die auf die Finanzmittel auch der international agierenden Investoren angewiesen sind, haben deswegen den Wunsch geäußert, ähnliche zusammenfassende Informationen über die Führung ihrer Gesellschaften zur Verfügung stellen zu können. Vor diesem Hintergrund ist die Erstellung des Frankfurter „Code of Best practice“ und des Berliner „German Code of Corporate Governance“ zu verstehen, die die Baums-Kommission vorgefunden hat.16 Sie hat, diesen Vorbildern folgend, die Schaffung eines einheitlichen Modellkodex17 vorgeschlagen, dessen wesentliches Ziel die Information der potentiellen Anleger und Aktionäre darüber ist, wie die konkrete deutsche börsennotierte Aktiengesellschaft geführt wird. Am Anfang dieser Information steht naheliegenderweise die Darstellung, nach welchen zwingenden Regeln jede deutsche Aktiengesellschaft organisiert und geführt werden muss. Deswegen enthält der DCGK einerseits eine – nicht immer glückliche, weil der erforderlichen sprachlichen Stringenz entbehrende und mitunter Missverständnisse hervorrufende18 – Darstellung des geltenden deutschen Aktienrechts. Wesentlicher ist demgegenüber, dass der Modellkodex – diesseits der als unerlässlich zwingend angesehenen Regeln – Empfehlungen zu den Führungsgrundsätzen enthält, die nicht verbindlich sind, aber Optionen für Deregulierung und Flexibilisierung schaffen und es dem Markt überlassen, ob sie als Ausweis einer „guten“ Unternehmensführung akzeptiert werden. Das Instrument, die künftigen Anleger und die gegenwärtigen Anteilseigner über die angewandten Führungsgrundsätze zu unterrichten, ist das comply or explain-System. Es beschränkt sich jedoch nicht allein auf diese Informationsfunktion, vielmehr verfolgt es zugleich das Ziel, die im DCGK zusammengestellten Grundsätze „guter“ Unternehmensführung auf dem Wege der Selbstregulierung und auf gesetzliche Anordnungen verzichtend möglichst weitgehend in der unternehmerischen Praxis zu etablieren: Weil sich keine Gesellschaft dem Markt gegenüber – so ist die später vom Gesetzgeber übernommene Erwartung der Baums-Kommission gewesen – gern als „nicht gut geführtes“ Unternehmen präsentieren mag, wird bewusst ein indirekter Zwang zur Befolgung ausgelöst, der durch die jetzt bestehende Begründungspflicht bei Abweichungen noch verstärkt wird. Obwohl das Prinzip des comply or explain nicht unbedingt gesetzlich hätte abgefedert werden müssen, man es vielmehr dem Markt hätte überlassen können, durch seine Reaktionen die Gesellschaften zu veranlassen, sich dazu zu äußern, wie sie sich zu dem Modellkodex stellen, hat die Baums-Kommission einen Mittelweg zwischen völliger Unverbindlichkeit und strikter Verbindlichkeit als vorzugswürdig angesehen. Die dafür gefundene Lösung, die die betroffenen Organmitglieder auf gesetzlichem Weg zwingt, sich mit dem Thema eingehend zu beschäftigen, das Für und Wider der Empfehlungen zu prüfen und

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16 Baums (Fn. 14), S. 49 f. Rz. 6. 17 Baums (Fn. 14), S. 51 f. Rz. 7. 18 Vgl. dazu auch Ringleb in Ringleb/Kremer/Lutter/v. Werder, DCGK, 4. Aufl. 2010, Rz. 42.

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Zum Prinzip des comply or explain

zwischen Befolgung und Abweichung zu wählen, ist die jährlich abzugebende Entsprechenserklärung. Sie unterrichtet die gegenwärtigen und die künftigen Aktionäre darüber, ob überhaupt und inwieweit die Kodexempfehlungen bei der Leitung und Überwachung der Gesellschaft befolgt werden. Mit diesem Schritt weg von der reinen Selbstregulierung aufgrund privater Initiative hin zu einem gesetzlich begründeten Zwang, über Befolgung oder Nichtbefolgung der Kodexempfehlungen zu entscheiden und das Ergebnis dieses Abwägungsprozesses zu kommunizieren, ist gleichzeitig das Erfordernis verbunden, dass der Staat durch die Besetzung der das Regelwerk aufstellenden und fortschreibenden Kodexkommission, aber auch durch die Bekanntmachung des Kodex eine Mitverantwortung dafür übernimmt, dass die Empfehlungen, auf die sich die gesetzliche Erklärungspflicht bezieht, mit dem zwingenden Recht in Einklang stehen.19 Der Gesetzgeber hat diese Vorschläge der Regierungskommission mit dem durch Art. 1 Nr. 15 des TransPuG geschaffenen § 161 AktG aufgegriffen und weitgehend umgesetzt. Wie die sehr differenzierenden, im Auftrag der Regierungskommission DCGK angestellten Untersuchungen belegen,20 ist das vom Gesetzgeber verfolgte Konzept weitgehend aufgegangen: Auch wenn bisher nur ein kleiner Teil der – großen – Gesellschaften das sog. Übernahmemodell gewählt hat, also nach seiner Entsprechenserklärung sämtliche Empfehlungen befolgt, lässt sich doch feststellen, dass die betroffenen Gesellschaften die Empfehlungen für eine „gute Unternehmensführung“ zu einem sehr hohen Anteil befolgen.21 Nicht überraschend dabei ist, dass tendenziell die großen, auf den Kapitalmarkt stärker angewiesenen Gesellschaften eher folgsam sind als kleinere Unternehmen; hier dürfte sich der bereits angesprochene Legitimationsdruck, der ja nach dem comply or explain-Konzept durchaus beabsichtigt ist, bemerkbar machen. Im Übrigen offenbaren diese begleitenden Untersuchungen einen weiteren Befund, der mit dem – dem deutschen Recht im Ansatz unbekannten – Selbstregulierungssystem verbunden ist: Einzelne, in den KodexReporten so genannte neuralgische Empfehlungen,22 bei denen in höherem Maße in der Vergangenheit die Befolgung abgelehnt worden ist – markante Beispiele dafür sind der Zwang zur Offenlegung der individuellen Vergütung,23 der zwingende Selbstbehalt bei der D&O-Versicherung,24 das grundsätzliche

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19 Vgl. dazu Bericht des Rechtsausschusses des Bundestages zum TransPuG bei Seibert, Materialiensammlung, 2002, S. 68. 20 Vgl. zuletzt v. Werder/Talaulicar, Kodexreport 2010, DB 2010, 853; ferner spezielle Untersuchungen von Werder/Talaulicar/Pissarczyk, AG 2010, 62 und v. Werder/ Pissarczyk/Böhme, AG 2011, 492. Ferner v. Werder in Ringleb/Kremer/Lutter/ v. Werder, DCGK, 4. Aufl. 2010, Rz. 1638 ff. m. w. N. zu den einschlägigen Forschungen. 21 v. Werder/Talaulicar, Kodexreport 2010, DB 2010, 853, 861. Bestätigt wird dieser Befund durch die Einzeluntersuchungen zur Begründung von Abweichungen, die bis zum Inkrafttreten des BilMoG „nur“ im DCGK empfohlen, für die Gesellschaften aber nicht verpflichtend war, s. v. Werder/Talaulicar/Pissarczyk, AG 2010, 62 und v. Werder/Pissarczyk/Böhme, AG 2011, 492. 22 v. Werder/Talaulicar/Pissarczyk, AG 2010, 62, 67. 23 § 285 Abs. 1 Nr. 9 lit. a Satz 5 HGB und § 314 Abs. 1 Nr. 6 lit. a Satz 5 HGB; dazu näher Ringleb (Fn. 18), Rz. 767 ff. 24 § 93 Abs. 2 Satz 3 AktG, dazu näher Ringleb (Fn. 18), Rz. 519 ff.

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Verbot eines unmittelbaren Wechsels vom Vorstand in den Aufsichtsrat25 oder der Abfindungs-Cap26 – müssen die betroffenen Organe der Gesellschaften in Zukunft nicht mehr belasten, weil der Gesetzgeber eingegriffen und die Empfehlung zu einer gesetzlichen Pflicht erhoben hat. Insofern – das hat sich insgesamt bei der Schaffung des VorstAG in besonderer Weise gezeigt – hat die Kodexkommission mit dem DCGK, wenn auch ungewollt,27 eine Art Vorreiterrolle übernommen: Der Gesetzgeber belässt es nicht bei der Selbstregulierung der beteiligten Kreise, sondern geht zur gesetzlichen Anordnung über, sobald ihm dies als sachgerecht erscheint, weil er auf identifizierte Lücken gestoßen worden ist oder aber weil er bestimmte gesellschaftspolitische Vorstellungen durchsetzen will.

III. Rechtspolitische Diskussion und Rechtsfolgen unrichtiger oder unvollständiger Entsprechenserklärungen Die Sinnhaftigkeit des Konzepts und seine Ausgestaltung waren von Anbeginn Gegenstand teils skeptischer, teils affirmativer Erörterung. Angesichts der für die deutsche Rechtspraxis eher ungewöhnlichen, von der Baums-Kommission vorgeschlagenen Kombination von Selbstregulierung durch eine nichtstaatliche Stelle mit einem über § 161 AktG ausgeübten gewissen Druck auf die Beteiligten kann dies nicht verwundern.28 Auch wenn nicht alle betroffenen Gesellschaften in gleichem Maße, vor allem nicht ohne Einschränkungen den Empfehlungen des Kodex folgen, so hat sich aus der Sicht der Initiatoren,29 das Konzept doch weitgehend bewährt, weil – natürlich abhängig von der Größe der Gesellschaft und ihres Angewiesenseins auf den Kapitalmarkt – die Sorge, vom Markt „abgestraft“ zu werden, den vom Gesetz durchaus intendierten faktischen Zwang zum comply hervorgerufen hat. Wenn die handelnden Organe sich allerdings nur von diesem Legitimationsdruck steuern lassen, umfängliche Entsprechenserklärungen abgeben, nach diesen Regeln aber nicht leben oder die Spielräume, die der DCGK eröffnet, möglichst weit in Richtung auf eine Nichtbefolgung der Empfehlungen ausschöpfen, weil sie an deren Sinnhaftigkeit oder Effizienz nicht glauben, relativieren sich die Erfolgszahlen.30 In jüngerer Zeit ist die – teilweise sehr kritische – Diskussion durch verschiedene Entwicklungen, zu denen auch der offenbar schwer zu bremsende Brüsse-

__________ 25 § 100 Abs. 2 Nr. 4 AktG; dazu näher Ringleb (Fn. 18), Rz. 1061 ff. 26 § 87 Abs. 1 Satz 3 Halbs. 2 AktG; dazu Ringleb (Fn. 18), Rz. 755 ff., 760a. 27 Vgl. K. P. Müller, Anhörung als Vorsitzender der Kodexkommission zum VorstAG, Prot. Nr. 143 des Rechtsausschusses S. 35, 159 f.; ähnlich Kremer für den BDI ebendort S. 113; vgl. dazu Seibert in FS W. Goette, 2011, S. 487, 495. 28 Skeptisch z. B. Ulmer, ZHR 166 (2002), 150, 178–181; Ulmer, AcP 202 (2002), 143 ff.; gegenteilig z. B. Lutter, ZGR 2001, 224, 237; vor dem Hintergrund der OECDPrinciples Hommelhoff, ZGR 2001, 238 ff., 264 (Thesen). 29 Vgl. z. B. v. Werder (Fn. 20), Rz. 1645. 30 Ähnlich Hoffmann-Becking, ZIP 2011, 1173, 1174 „These 3“; Hoffmann-Becking in FS Hüffer, 2010, S. 337, 353; vgl. auch den Appell von v. Werder, DB Standpunkte 2011, 49.

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ler Regulierungseifer31 gehört, wieder aufgeflammt32 und hat sogar zu der Forderung nach einer Abschaffung33 des Systems von Kodex und Entsprechenserklärung geführt, wobei zur Unterlegung der aus anderen Gesichtspunkten gespeisten Kritik teilweise schon seit langem bekannte Punkte, wie die als bedenklich angesehene Verfassungskonformität34 von § 161 AktG oder die fehlende parlamentarische Mitwirkung35 bei der Berufung der Kommissionsmitglieder und beim Inhalt der Empfehlungen angeführt werden. Dass diese Fragen wieder problematisiert werden, ist einerseits veranlasst durch die Entwicklung der höchstrichterlichen und der instanzgerichtlichen Rechtsprechung, die Verstöße gegen § 161 AktG, also gegen die Richtigkeit und Vollständigkeit der Entsprechenserklärung nicht sanktionslos36 lässt und damit die Sorge heraufbeschwört, dass über den Umweg des § 161 AktG das „soft law“ des DCGK doch eine ihm ohne parlamentarische Kontrolle nicht zustehende Verbindlichkeit für die Unternehmen mit erheblichen Folgen nach sich zieht. Andererseits

__________ 31 Das Grünbuch der EU-Kommission (KOM [2011] 164/03) – dazu Jung, BB 2011, 1987 ff. und jüngst Hommelhoff bei der Jahrestagung 2011 der Gesellschaftsrechtlichen Vereinigung (Fn. 1) – greift unter Missachtung der Kompetenzen der Kommission und des Subsidiaritätsgedankens weit in die nationalen Regeln ein und lässt eine deutliche Verschärfung gerade im Bereich des comply or explain erwarten, wenn sich die dort niedergelegten Vorstellungen durchsetzen sollten, vgl. dazu z. B. Peltzer, NZG 2011, 961 ff.; mit Recht strikt ablehnend Hennrichs, GmbHR 2011, R257 und Handelsrechtsausschuss des DAV, NZG 2011, 936 ff.; kritisch auch Weber-Rey, BB 2011 Heft 41, S. I. 32 Vgl. Jahn, FAZ v. 17.6.2010, v. 11.10.2010 und v. 1.7.2011; ferner Bachmann, AG 2011, 181, 191; Hoffmann-Becking (Fn. 30), S. 337, 353; Hoffmann-Becking, ZIP 2011, 1173; Hüffer, Gesellschaftsrecht in der Diskussion 2010, S. 63 ff., 79; Kremer, ZIP 2011, 1177; Gehling, ZIP 2011, 1181 (zusammenfassender Diskussionsbericht); Peltzer, NZG 2011, 281, 285; Peltzer vor dem Hintergrund des Grünbuchs der EUKommission, NZG 2011, 961 ff.; Mülbert, ZHR 174 (2010), 375, 382, 384; v. Werder, DB Standpunkte 2011, 49; Gehling, DB Standpunkte 2011, 51; Harbarth, DB Standpunkte 2011, 53; Kremer, DB Standpunkte 2011, 55; Spindler, NZG 2011, 1007; Bröcker, Der Konzern 2011, 313; zur internationalen Betrachtung vgl. Hopt, ZHR (2011), 444, 519 f. m. w. N.; Hopt, FAZ v. 15.2.2012; speziell zur Governance der Banken sei auf die Gutachten und die Erörterungen der wirtschaftsrechtlichen Abteilung des 68. DJT in Berlin hingewiesen; vgl. auch Priester, ZIP 2011, 2081, 2084 f. 33 Vgl. z. B. Waclawik, FAZ v. 15.6.2011; auch Spindler, NZG 2011, 1007 ff.; Bröcker, Der Konzern 2011, 313; Timm, ZIP 2010, 2125, 2128 mit dem auch bei selbstverständlicher Anerkennung der weitgehenden Freiheit, sich zu Rechtsfragen unsachlich zu äußern, bemerkenswerten dictum, es handele sich bei dem Konzept des Gesetzgebers um eine „drittblödeste“ Idee. 34 Mülbert nach Jahn FAZ v. 11.10.2010; vgl. dazu näher Wernsmann/Gatzka, NZG 2011, 1001; Spindler, NZG 2011, 1007 ff.; vgl. ausführlich Tröger, ZHR 175 (2011), 746 ff., 758 f.; a. A. Bachmann, AG 2011, 181, 191. 35 Vgl. z. B. die Wiedergabe der Diskussion bei Jahn, FAZ v. 11.10.2010; positiv dazu Harbarth, DB Standpunkte 2011, 53. 36 BGHZ 180, 9 – Kirch/Deutsche Bank; BGHZ 182, 272 – Umschreibungsstopp; OLG München, ZIP 2009, 133; LG Hannover, ZIP 2010, 833; vgl. dazu auch W. Goette (Fn. 4), S. 225 ff.; Kleindiek in FS W. Goette, 2011, S. 239 ff. mit dem zutreffenden Hinweis (S. 252), dass die Lösung der höchstrichterlichen Rechtsprechung vom Gesetzgeber erzwungen war; krass ablehnend und dabei verkennend, dass § 161 AktG zu den von § 243 AktG erfassten Normen gehört, z. B. Bröcker, Der Konzern 2011, 313.

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wird von Mitgliedern der Kommission selbst das Vorgehen des Gesetzgebers, ausgehend von bestimmten Kodexempfehlungen zwingendes Gesetzesrecht zu schaffen, als dem Gedanken der Selbstregulierung abträglich und die Arbeit der hochkarätig besetzten Kodexkommission desavouierend37 betrachtet. Schließlich wird aus der Sicht der Unternehmen eine gewisse Tendenz der EU-Kommission kritisch gesehen, ein mitunter unverhohlen angedrohtes gesetzgeberisches Eingreifen38 dadurch abwenden zu wollen, dass sie „vorauseilend“39 bestimmten allgemeinen gesellschaftspolitischen Forderungen nachgibt, ohne dass sichergestellt ist, dass die Empfehlung wirklich eine Verbesserung der Unternehmensführung zur Folge hat.40 Dass es zu einer Rückkehr zu dem vor dem TransPuG bestehenden Rechtszustand kommen könnte, die Kodexkommission also aufgelöst und § 161 AktG aufgehoben werden könnte,41 dürfte auszuschließen sein, nachdem im Zuge der Umsetzung der Abänderungsrichtlinie im Vertrauen auf die Wirkkräfte des Marktes gerade das System des comply or explain gestärkt und ausgebaut worden ist. Eine andere Frage ist indessen, ob der Gesetzgeber nicht die Vorschläge42 aufgreifen sollte, die darauf abzielen, dem jetzigen System größere Legitimation zu verschaffen, indem die Berufung der Mitglieder der Kommission parlamentarischer Kontrolle unterworfen wird oder der Gesetzgeber größere Zurückhaltung bei seinen Regulierungsbemühungen43 an den Tag legt.44

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37 Vgl. K. P. Müller, Anhörung als Vorsitzender der Kodexkommissionzum VorstAG, Prot. Nr. 143 des Rechtsausschusses S. 35, 159 f.; ähnlich Kremer für den BDI ebendort S. 113; vgl. dazu Seibert (Fn. 27), S. 487, 495; ferner Kremer, ZIP 2011, 1177, 1179. 38 Z. B. zur Frauenquote etwa die Drohung der Bundesministerin der Justiz oder der Justiz-Kommissarin Reding, vgl. dazu Hopt, ZHR 175 (2011), 460 Fn. 72 und 470 Fn. 125. 39 Paradigmatisch die „Diversity“-Empfehlungen in DCGK 5.4.1 Abs. 2; Jahn, FAZ v. 11.10.2010 spricht in diesem Zusammenhang gar von der Usurpation eines allgemeinpolitischen Mandats. 40 Vgl. die Kritik bei Jahn, FAZ v. 11.10.2010; s. ferner Mülbert, ZHR 174 (2010), 375 ff., 384, zugleich gegen die Tendenzen des Grünbuchs der EU; strikt ablehnend die Stellungnahme des Handelsrechtsausschusses des DAV, NZG 2011, 936 ff. zum Grünbuch unter Hinweis auf die fehlende Regelungskompetenz der EU für „geschlechterspezifische Diversität“ der Besetzung des Aufsichtsrates (Allgemeine Anmerkungen) und zur fehlenden Gewährleistung einer allein deswegen sachgerechten Besetzung, weil eine bestimmte Frauenquote erreicht wird (zu Frage 4, S. 938). A. A. Bachmann, ZIP 2011, 1131 ff. die Kodex-Empfehlungen begrüßend, um gesetzgeberisches Eingreifen zu verhindern. 41 Waclawik, FAZ v. 15.6.2011; das glaubt auch Hoffmann-Becking, ZIP 2011, 1173, 1176 „These 10“ nicht; wie hier Bachmann, AG 2011, 181, 192; vgl. jetzt auch noch einmal den Zuruf von Hopt, FAZ v. 15.2.2012. 42 Immerhin hat die Kodex-Kommission schon selbst einen ersten Schritt getan, indem sie die von ihr im laufenden Jahr ins Auge gefassten Änderungen vorab zur Diskussion stellt, vgl. zu entsprechenden Forderungen Hoffmann-Becking (Fn. 30), S. 337, 353; Hoffmann-Becking, ZIP 2011, 1173, 1175 „These 8“; vgl. auch Jahn, FAZ v. 24.2.2011; Gehling, DB Standpunkte 2011, 51; Kremer, DB Standpunkte 2011, 55 f. 43 Richtig Bachmann, AG 2011, 181, 193; s. auch Peltzer, NZG 2011, 961, 963. 44 S. jetzt Bundesfachausschuss Wirtschafts-, Haushalts- und Finanzpolitik der CDU – Pressemitteilung v. 17.10.2011 (vgl. auch Jahn, FAZ v. 19.10.2011), der diese Fragen aufgreift.

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Dem Gedanken des comply or explain würde es im Übrigen entsprechen, wenn die Gesellschaften in weit größerem Umfang als bisher den Mut aufbrächten, von ihnen als unpassend angesehene Empfehlungen nicht zu befolgen und dies in einer dem Sinn des Gesetzes entsprechenden Weise zu begründen.45 Allerdings muss man sehen, dass dieser Ruf nach einer größeren „Abweichungskultur“ zwar im Einklang mit dem System des comply or explain steht, dass er aber mit dem vom DCGK auch verfolgten Ziel konfligiert, die Empfehlungen als Ausprägung „guter“ Unternehmensführung, also als einen gewissen Standard anzusehen, von dem abzuweichen sich für eine sachgerecht geführte börsennotierte Aktiengesellschaft eigentlich „nicht gehört.“ Die Kodexkommission ihrerseits könnte zu einer gesteigerten Akzeptanz „aus Überzeugung“ sehr beitragen, wenn sie sich bei der Formulierung ihrer Empfehlungen mehr an deren Notwendigkeit und Effizienz als an deren – aus der Sicht ihrer Mitglieder bestehenden – Wünschbarkeit orientieren und vor allem strikt die Grenzen ihres Auftrags beachten, nämlich darauf verzichten würde, sich auf das ihr verschlossene Gebiet der abändernden Gesetzesinterpretation46 zu begeben. Für die gerichtliche Praxis schließlich ist zu wünschen, dass sie den differenzierenden47 Leitentscheidungen des II. Zivilsenats des BGH48 folgt und fehlerhafte Entsprechenserklärungen nur dann sanktioniert, wenn das mit § 161 AktG verfolgte Ziel, den Aktionären eine autonome Entscheidung auf richtiger und vollständiger Grundlage zu ermöglichen, in relevanter Weise verfehlt worden ist. Geschieht dies, besteht – jedenfalls im Hinblick auf Entlastungsbeschlüsse – keinerlei Anlass, die Anfechtbarkeit durch Gesetz auszuschließen, wie dies von Kritikern49 wiederholt vorgeschlagen worden ist; angezeigt wäre dieser

__________ 45 So auch Bachmann, AG 2011, 181, 192; auch Hopt verlangt mehr „Abweichungskultur“, FAZ v. 15.2.2012. 46 Vgl. die Kritik bei Timm, ZIP 2010, 2125, 2129, Fn. 84 m. w. N.; Hoffmann-Becking, ZIP 2011, 1173, 1175, „These 7“; Peltzer, NZG 2011, 961, 968; ferner Bundesfachausschuss Wirtschafts-, Haushalts- und Finanzpolitik der CDU – Pressemitteilung v. 17.10.2011 (vgl. auch Jahn, FAZ v. 19.10.2011). 47 Die Behauptung von Jahn, FAZ v. 1.7.2011, die höchstrichterliche Rechtsprechung habe die Anfechtbarkeit von Entlastungsbeschlüssen betr. Organe, die gegen § 161 AktG verstoßen haben, „erfunden“, geht daran vorbei, dass die Nichtbeachtung von § 161 AktG ein Gesetzesverstoß ist, der von § 243 AktG erfasst wird; BGHZ 182, 272 – Umschreibungsstopp belegt vielmehr das behutsame, restriktive Vorgehen des BGH, wenn nur relevante Unrichtigkeiten, die das Abstimmungsverhalten eines objektiven Aktionärs beeinflussen können, zu einer durchgreifenden Anfechtung des Beschlusses führen; zutreffend aber Kleindiek (Fn. 36), S. 239 ff., 252; Bachmann, AG 2011, 181, 192; polemisch gegen die Rechtsprechungslinie Timm, ZIP 2010, 2125, 2129, weil es nicht schlimm sei, wenn der Verstoß gegen eine „blödsinnige Regelung“ nicht mit Rechtsfolgen belegt werde. 48 BGHZ 180, 9 – Kirch/Deutsche Bank; BGHZ 182, 272 – Umschreibungsstopp. 49 Vgl. z. B. moderat Peltzer, NZG 2011, 961, 968; Priester, ZIP 2011, 2081, 2085 m. w. N.; jetzt Handelsrechtsausschuss des DAV, Stellungnahme Nr. 25/2012 zum RegE der Aktienrechtsnovelle 2012, Tz. 28 ff.; nicht überzeugend auf eine Analogie zu § 30g WpHG abstellend Leuering, DStR 2010, 2255 ff.

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Schritt allerdings, wenn die Gerichte auf dem – verfehlten50 – Weg fortfahren, andere51 als Entlastungsbeschlüsse mit Rücksicht auf § 161 AktG zu kassieren und nicht zugleich mit Hilfe der Regeln über die fehlerhafte Organbestellung52 zu verhindern, dass das gewählte Gremium auf Dauer arbeitsunfähig und der Gesellschaft großer Schaden zugefügt wird.

IV. Die Entsprechenserklärung als Anknüpfungspunkt Ist danach die von Vorstand und Aufsichtsrat abzugebende Entsprechenserklärung sozusagen der „Lift“, mit dem das von Privaten ersonnene und vom Bundesministerium der Justiz nur auf seine Gesetzeskonformität untersuchte Regelwerk des DCGK auf die Rechtsebene befördert wird, gilt es diese Erklärung näher zu betrachten. Dem „comply or explain“-Prinzip folgend haben sich Vorstand und Aufsichtsrat bei der Abgabe der Entsprechenserklärung u. a. dazu zu äußern, ob und in welchem Umfang die Empfehlungen des DCGK befolgt werden. In zeitlicher Hinsicht hat sich die Erklärung sowohl auf die Vergangenheit („entsprochen wurde“ und „nicht angewendet wurden“) als auch auf die Zukunft („entsprochen wird“ und „nicht angewendet werden“) zu erstrecken. Nach Inkrafttreten des Gesetzes ist verschiedentlich53 die Auffassung vertreten worden, einen Zukunftsbezug müsse die Entsprechenserklärung nicht haben. Dem kann nach der Entstehungsgeschichte54 der Vorschrift, ihrem Sinn und Zweck und ihrem Wortlaut nicht gefolgt werden; es handelt sich um einen untauglichen Versuch, die unerwünschten Regelungen möglichst weitgehend „weg zu argumentieren“, so dass dieser Standpunkt mit Recht als überwunden55 gelten kann, er ist auch von der höchstrichterlichen Rechtsprechung verworfen worden.56 Soweit es um die Verhältnisse in der Vergangenheit geht, handelt es sich um die Mitteilung von Wissen; der zukunftsbezogene Teil der Entsprechenserklärung gibt dagegen die Absicht künftigen Verhaltens wieder, ohne dass daraus eine verpflichtende Selbst-Bindung für die betreffenden Gesellschaftsorgane

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50 LG Hannover, NZG 2010, 744 – Continental; OLG München, ZIP 2009, 133; zustimmend Hölters in Hölters, § 161 AktG Rz. 60; vgl. ferner E. Vetter, NZG 2008, 121 ff.; E. Vetter in FS Uwe H. Schneider, 2011, S. 1345 ff. 51 Es geht vor allem um Wahlbeschlüsse, für die indessen nur unter ganz engen Voraussetzungen überhaupt an eine Anfechtbarkeit gedacht werden kann, vgl. auch Habersack in FS W. Goette, 2011, S. 121 ff. 52 Trefflich Habersack (Fn. 51), S. 121 ff. und ihm folgend Spindler, NZG 2011, 1007, 1012. 53 Schüppen, ZIP 2002, 1269, 1273; Seibt, AG 2002, 249, 251; Seibt, AG 2003, 465, 467 mit der feinsinnigen Behauptung, das Gesetz verwende mit dem Wort „wird“ nur die Präsenzform, obwohl allgemein bekannt ist, dass „wird“ häufig im Sinne von „werden wird“ verwandt wird. 54 Vgl. RegBegr. bei Seibert (Fn. 19), S. 67. So auch die ganz h. M., vgl. z. B. Ulmer, ZHR 166 (2002), 150, 171; Berg/Stöcker, WM 2002, 1569, 1573; Ihrig/Wagner, BB 2002, 789, 791; Pfitzer/Oser/Wader, DB 2002, 1120, 1121; Semler (Fn. 5), § 161 AktG Rz. 111. 55 A. A. jetzt wieder Ederle, NZG 2010, 655, 660, der zukunftsbezogene Teil sei freiwillig. 56 BGHZ 180, 9, Tz. 19 und Leitsatz d) – Kirch/Deutsche Bank.

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begründet würde, dieser verlautbarten Absicht zu folgen. Allerdings folgt aus der nach Sinn und Zweck des gesetzlichen Konzepts selbstverständlichen Pflicht zur Abgabe einer wahrheitsgemäßen57 Erklärung auch des künftigen Verhaltens, dass die Entsprechenserklärung unterjährig berichtigt werden muss, wenn Vorstand und/oder Aufsichtsrat sich später entschließen, anders als angekündigt vorzugehen.58 Das gilt in beiden Richtungen des „comply“, also sowohl dann, wenn die Empfehlungen künftig nicht befolgt werden sollen, wie für den umgekehrten Fall, dass die betreffenden Organe sich von der Sinnhaftigkeit der Empfehlungen überzeugt haben und sie entgegen ihrer ursprünglichen Absicht und Verlautbarung nunmehr anwenden wollen. Bei einer „no comply“Erklärung während der laufenden Periode ist diese Entscheidung zusätzlich zu begründen, während in dem umgekehrten Fall eine Begründung nicht vorgeschrieben ist, sinnvollerweise aber regelmäßig abgegeben werden wird, weil das Unternehmen daran interessiert sein wird, den aus seiner früheren „no comply“Erklärung möglicherweise hervorgerufenen Eindruck, nicht „gut“ im Sinne des DCGK geführt zu werden, zu beseitigen. Die für eine Abweichung von den DCGK-Empfehlungen durch das BilMoG nunmehr vorgeschriebene Begründung komplettiert die Absichtserklärung, gibt ihr aber keinen anderen Rechtscharakter. Allerdings ist der Inhalt dieser Begründung gegebenenfalls Anknüpfungspunkt für die Prüfung, ob sich die Organmitglieder überhaupt ordnungsgemäß mit dem Inhalt der Empfehlungen auseinandergesetzt und auf dieser Grundlage ihr unternehmerisches Ermessen59 sachgerecht ausgeübt haben. Vorhandene wie künftige Aktionäre sollen darüber informiert werden, welche Führungs- und Überwachungsgrundsätze die Gesellschaft lebt, der sie ihr Investment anvertraut haben oder anvertrauen wollen. Soweit es um die bereits vorhandenen Aktionäre geht, ist der vergangenheitsbezogene Teil der Entsprechenserklärung ein Akt der Rechenschaftslegung gegenüber den Anteilseignern, die auf dieser Grundlage auch besser beurteilen können, ob sie ihre Beteiligung aufrecht erhalten wollen oder ihre Gelder lieber in nach ihrer Ansicht besser geführten Gesellschaften investieren wollen. Vergangenheitsbezogen besteht aber auch für künftige Anleger ein bedeutsames Interesse an Information, weil auch auf ihrer Grundlage leichter und mit größerer Sicherheit für die künftige Entwicklung eines Engagements beurteilt werden kann, ob die Gesellschaft vernünftige Führungsgrundsätze befolgt, und weil auch deswegen eher abgeschätzt werden kann, ob sich ein Aktienerwerb lohnt. Entsprechendes gilt erst recht für den zukunftsbezogenen Teil der Entsprechenserklärung,

__________ 57 Kleindiek (Fn. 36), S. 239, 242 f. 58 BGHZ 180, 9, Tz. 19 – Kirch/Deutsche Bank; h. M. vgl. Semler (Fn. 5), § 161 AktG Rz. 120, 121; Spindler in K. Schmidt/Lutter, § 161 AktG Rz. 43; Hüffer, § 161 AktG Rz. 20; Lutter in KölnKomm. AktG, § 161 AktG Rz. 53; Runte/Eckert in Bürgers/ Körber, § 161 AktG Rz. 31; Ringleb (Fn. 18), Rz. 1572 ff.; Kleindiek (Fn. 36), S. 239, 242 f.; a. A. Theusinger/Liese, DB 2008, 1419, 1421; Heckelmann, WM 2008, 2146, 2148. 59 Zutreffend Krieger in FS Ulmer, 2003, S. 365, 378 f.

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der gleichfalls die aus der Sicht des Kapitalmarkts wichtige Transparenz bestimmter für die Anlageentscheidung wesentlicher Parameter herbeiführt. Bei der Abgabe der Entsprechenserklärung handelt es sich um eine dem Legalitätsprinzip unterliegende gesetzliche, organschaftliche Pflicht; nur bei der Frage, ob und in welchem Umfang die Empfehlungen als zu übernehmende Führungsund Überwachungsgrundsätze zu befolgen sind, besteht für die betroffenen Organmitglieder unternehmerisches Ermessen60 nach den Regeln der business judgement rule. Die Abgabe der Entsprechenserklärung ist nicht Aufgabe der Gesellschaft,61 etwa vertreten durch den Vorstand, verpflichtet sind vielmehr unmittelbar die beiden Organe, die die Leitungs- und die Überwachungsaufgabe in dem Unternehmen wahrnehmen, es handelt sich also um eine Organpflicht. Damit ist zugleich klar, dass die Hauptversammlung weder kraft Gesetzes62 noch kraft Delegation63 zuständig sein oder werden kann. Die Regierungsbegründung64 verweist in diesem Zusammenhang darauf, dass sich die Empfehlungen des DCGK an die Verwaltung richten, und macht durch die Hinzufügung des Wortes „insgesamt“ zusätzlich deutlich, dass für die gute Führung des Unternehmens in ihren aufeinander bezogenen Teilen Leitung und Überwachung beide Organe als solche65 – nicht etwa ihre einzelnen Mitglieder,66 mögen sie auch intern gegenüber der Gesellschaft und dem Organ, dem sie angehören, zur Mitwirkung an der Entsprechenserklärung verpflichtet sein67 – gleichermaßen verantwortlich sind.68 Wie auch sonst bei der Unternehmensführung müssen Vorstand und Aufsichtsrat auch bei der Vorbereitung und bei der Abgabe der Entsprechenserklärung im Interesse der Gesellschaft zusammenwirken und eine – zumindest inhaltlich – einheitliche Verlautbarung nach außen abgeben. Denn mit einer differierenden Aussage über die Befolgung oder Nichtbefolgung der Empfehlungen des DCGK wäre dem Informationszweck der Regelung nicht entsprochen, was zur Folge hat, dass es keine Enthaltung geben darf. § 161 AktG ordnet die Abgabe einer Entsprechenserklärung durch Vorstand und Aufsichtsrat an, schweigt sich aber darüber aus, wie es zur Formulierung und Abgabe dieser Erklärung kommt, ob sie z. B. in einer Urkunde gefasst sein muss und ob und welche sonstigen formellen Erfordernisse beachtet werden

__________ 60 Allg.M. vgl. nur Hüffer (Fn. 58), § 161 AktG Rz. 21. 61 Vgl. Spindler (Fn. 58), § 161 AktGRz. 18; Lutter (Fn. 58), § 161 AktG Rz. 13. 62 Semler (Fn. 5), § 161 AktG Rz. 93; Lutter (Fn. 58), § 161 AktG Rz. 20.; Spindler (Fn. 58), § 161 AktG Rz. 27. 63 Semler (Fn. 5), § 161 AktG Rz. 94; a. A. wohl Hommelhoff/Schwab, Corporate Governance Handbuch (Fn. 2), S. 91 f. für den Sonderfall des Dissenses von Vorstand und Aufsichtsrat. 64 Vgl. Seibert (Fn. 19), S. 65. 65 Semler (Fn. 5), § 161 AktG Rz. 69; Spindler (Fn. 58), § 161 AktG Rz. 18. 66 Semler (Fn. 5), § 161 AktG Rz. 69. 67 Darauf weist Lutter in Ringleb/Kremer/Lutter/v. Werder (Fn. 18), Rz. 1517 f. mit Recht hin. 68 Vgl. RegBegr. bei Seibert (Fn. 19), S. 65: „…, da sich die Verhaltensempfehlungen an die Verwaltung insgesamt richten“.

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müssen.69 Offenbar hat sich der historische Gesetzgeber, ohne allerdings hierfür passende verfahrensrechtliche Regeln zu schaffen, vorgestellt, dass die Entsprechenserklärung nach § 161 AktG von den beiden Organen als eine Erklärung verlautbart wird.70 Damit würde jedenfalls auch äußerlich zum Ausdruck gebracht werden, dass es sich um eine Erklärung der „Verwaltung insgesamt“ handelt, an welche die höchstrichterliche Rechtsprechung71 zutreffend die Konsequenz geknüpft hat, dass es zu einer wechselseitigen Zurechnung unvollständiger oder unrichtiger Erklärungen gegenüber den Mitgliedern des anderen Organs kommt, wenn und soweit diese Kenntnis davon hatten oder hätten haben müssen, auch wenn die Unrichtigkeit oder Unvollständigkeit eine Empfehlung betrifft, die nur an das andere Organ gerichtet ist. Zwingend ist es indessen nicht, dass nur mit einer auch äußerlich einheitlichen Entsprechenserklärung dem Zweck des § 161 AktG entsprochen werden kann; das mag erklären, warum das Gesetz keine Aussagen dazu trifft, wie es zur Formulierung und Abgabe dieser formell einheitlichen Erklärung kommen sollte, dass vielmehr durch dieses Schweigen auf die jeweils für Vorstand und Aufsichtsrat geltenden Beschlussvorschriften verwiesen wird. Unerlässlich ist indessen, dass beide Organe eine inhaltlich übereinstimmende Entsprechenserklärung abgeben, weil anders der Gesetzeszweck verfehlt würde, den Kapitalmarkt zutreffend und vollständig darüber zu unterrichten, ob sich die Verwaltung der Gesellschaft ganz oder teilweise an die Empfehlungen des DCGK hält oder ob und inwieweit sie von ihnen abweicht und welches die für eine solche Nichtbefolgung maßgebenden Gründe sind. Soweit also die beiden Organe nicht in einer gemeinsamen Sitzung über einen einheitlichen Text Beschluss fassen, der anschließend als die Entsprechenserklärung der Verwaltung publiziert werden kann, reicht es aus, wenn aufeinander abgestimmte Beschlüsse von Vorstand und Aufsichtsrat in den jeweiligen Gremien gefasst werden, die anschließend zu der Entsprechenserklärung der Verwaltung zusammengeführt werden. Das wird auch hier am besten in der Weise geschehen, dass eine textgleiche Beschlussvorlage zur Abstimmung gestellt wird; denkbar wäre aber auch ein Zustimmungsbeschluss zu dem entsprechend gestalteten, u. U. mit einer Begründung versehenen Beschluss des anderen Organs, solange die inhaltliche Einheitlichkeit der Erklärung gewährleistet ist. Mangels eigener verfahrensrechtlicher Bestimmungen über das Abstimmungsverfahren bei der Entsprechenserklärung müssen deswegen die allgemeinen Regeln herangezogen werden. Das bedeutet, dass sowohl der Vorstand wie der

__________ 69 Vgl. die Schilderung eines möglichen Verfahrensablaufs bei Ringleb (Fn. 18), Rz. 1527 ff. 70 Vgl. Materialen bei Seibert (Fn. 19), S. 65: „Die Compliance-Erklärung ist von Vorstand und Aufsichtsrat abzugeben, da die Verhaltensempfehlungen sich an die Verwaltung insgesamt richten“ (Hervorhebung hier). S. dazu auch Kleindiek (Fn. 36), 239, 250 f. der nur in diesem Fall beide Organe in die Gesamtverantwortung nehmen will. Dem ist nicht zu folgen, weil es nur auf die inhaltliche Übereinstimmung ankommen kann. 71 BGHZ 180, 9, Tz. 27 – Kirch/Deutsche Bank.

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Aufsichtsrat je für sich nach den für sie geschaffenen Bestimmungen zu einer Entschließung kommen müssen, die anschließend – jedenfalls inhaltlich, wenn nicht sogar der Form nach – zusammengeführt werden. Es bestehen jedoch keine rechtlichen Bedenken dagegen, dass beide Gremien in einer gemeinsamen Sitzung72 ihre für die Abgabe der Entsprechenserklärung konstitutiven Beschlüsse fassen; dabei versteht sich, dass es sich rechtlich um zwei Beschlüsse des Vorstands einerseits und des Aufsichtsrats andererseits handelt, selbst wenn über einen einheitlichen Text gleichzeitig beraten und abgestimmt wird. Der gesetzlichen Forderung nach Abgabe einer wahrheitsgemäßen und vollständigen Entsprechenserklärung gerecht zu werden, kann im praktischen Vollzug des § 161 AktG auf Schwierigkeiten stoßen. Denn nicht alle Empfehlungen richten sich sowohl an den Vorstand wie an den Aufsichtsrat, gleichwohl sollen beide Organe eine Erklärung abgeben; außerdem ist der zeitliche Bezug – Erklärung betreffend die Vergangenheit einerseits und das zukünftige Verhalten adressierend andererseits – zu berücksichtigen. Soweit es um die Beachtung der Empfehlungen in der Vergangenheit geht, verlautbaren Vorstand und Aufsichtsrat Wissen. Denn die Erklärung hat sich insofern nur zu der Frage zu verhalten, ob den Empfehlungen des DCGK entsprochen wurde oder welche Empfehlungen nicht angewandt wurden. Soweit es um Empfehlungen geht, die in die Zuständigkeit beider Organe fallen – Beispiele finden sich in den Empfehlungen unter DCGK 3.4 Abs. 3 Satz 1, 3.8 Abs. 3 oder 3.10 Satz 1 und 2 – oder von deren Umsetzung der nicht zuständige Teil Kenntnis hat – vgl. z. B. Fragen des Vergütungssystems (DCGK 4.2.2 Abs. 1) oder der Diversity (DCGK 4.1.5) – ist davon auszugehen, dass Vorstand und Aufsichtsrat ohne weiteres über das erforderliche Wissen verfügen, um eine wahrheitsgemäße und vollständige Erklärung abzugeben. Soweit dies ausnahmsweise nicht der Fall sein sollte oder die Beachtung der Empfehlungen sich dem Einblick des jeweils anderen Organs entzieht – Beispiele hierfür sind etwa DCGK 5.2 Abs. 3 Satz 3 (Information des Aufsichtsrates durch seinen Vorsitzenden) oder das Bestehen von Interessenkonflikten in den jeweiligen Gremien –, können die Wissenserklärung nur die dem jeweiligen Organ angehörenden Mitglieder abgeben. In deren Verantwortung liegt es deswegen, darauf zu achten, dass der Vorstand oder der Aufsichtsrat die für den jeweiligen Teilbereich maßgeblichen Beschlüsse richtig fasst. Beispielsweise hat ein einzelnes Aufsichtsratsmitglied über nur in seiner Person etwa bestehende Interessenkonflikte ggfs. von sich aus den Vorsitzenden zu informieren. Umgekehrt wird der Vorsitzende sicher zu stellen haben, dass nur bei einzelnen Mitgliedern vorhandenes Wissen abgefragt73 und die Antworten, zu deren Abgabe jeder Betrof-

__________ 72 Allg.M. vgl. z. B. Peltzer, NZG 2002, 593, 595; Ihrig/Wagner, BB 2002, 789 f.; Lutter in Ringleb/Kremer/Lutter/v. Werder (Fn. 18), Rz. 1540; Lutter/Krieger, Rechte und Pflichten des Aufsichtsrats, Rz. 491; Sester in Spindler/Stilz, § 161 AktG Rz. 11; Spindler (Fn. 58), § 161 AktG Rz. 19; Hüffer (Fn. 58), § 161 AktG Rz. 11; Hölters (Fn. 50), § 161 AktG Rz. 12; nur in einem solchen Fall soll nach Kleindiek (Fn. 36), S. 239, 250 f. Gesamtverantwortung beider Organe eintreten. 73 Allg.M. z. B. Hüffer (Fn. 58), § 161 AktG Rz. 14; Krieger (Fn. 59), S. 365, 372.

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fene aufgrund seiner Mitgliedschaft in dem Organ verpflichtet ist,74 schon bei der organbezogenen Vorbereitung der Entsprechenserklärung verwertet werden. Denn mit der hierauf bezogenen Beschlussfassung tritt die Gesamtverantwortung aller Organmitglieder für die Richtigkeit und Vollständigkeit dieser Erklärung ein.75 Ob es im Rahmen der danach bestehenden Selbstorganisationspflicht bestimmter Strukturen – etwa einer eigenen Dokumentation oder gar des Einsatzes von Mitarbeitern bedarf76 – lässt sich schwerlich generell beantworten; Vorstand wie Aufsichtsrat als Gesamtgremium und die jeweiligen Vorsitzenden in gesteigerter Verantwortung77 haben jedenfalls in geeigneter Weise dafür zu sorgen, dass der Gesetzesbefehl: „Abgabe einer wahrheitsgemäßen und vollständigen Entsprechenserklärung“ erreicht wird. Soweit entsprechende Beschlüsse des jeweils anderen Organs vorliegen und nicht ausnahmsweise Anhaltspunkte dafür bestehen, dass diese lückenhaft oder gar unrichtig sind, wird man das Bestehen einer besonderen Erkundigungspflicht ablehnen, sondern annehmen müssen, dass sich Vorstand bzw. Aufsichtsrat auf die Verlautbarung des je anderen Organs verlassen dürfen.78 Bei dem zukunftsbezogenen Teil der Entsprechenserklärung verlautbaren Vorstand und Aufsichtsrat nicht Wissen, sondern teilen Ihre Absicht mit, wie sie in der nach der Entsprechenserklärung liegenden Periode mit den Empfehlungen des DCGK umzugehen gedenken. Wie bei der vergangenheitsbezogenen Erklärung setzt dies auch in diesem Zusammenhang voraus, dass sich die Mitglieder beider Organe mit dem Kodexinhalt eingehend beschäftigen, vor allem zur Kenntnis nehmen, ob sich hinsichtlich des Kanons der Empfehlungen seit Abgabe der letzten Erklärung etwas geändert hat. Qualitativ besteht aber ein wesentlicher Unterschied. Denn nunmehr geht es nicht nur um die Feststellung in der Vergangenheit liegender Tatbestände, sondern es ist jetzt eine unternehmerische Entscheidung zu treffen, welche Führungs- und Überwachungsgrundsätze in der Zeit nach Abgabe der Entsprechenserklärung gelten sollen. Das setzt neben der Prüfung der Empfehlungen des DCGK voraus, dass sich Vorstand und Aufsichtsrat vergewissern, ob und wie sich ihr Umgang mit dem DCGK in der Vergangenheit bewährt hat, ob erwartet werden kann, dass nach den Verhältnissen ihrer Gesellschaft sich hieran auch in Zukunft nichts ändern wird, so dass die bisherigen Empfehlungen weiterhin befolgt werden sollen, oder aber, dass analysiert wird, welche Verbesserung eintreten wird, wenn die bisherige Befolgungspraxis geändert bzw. wenn sie der neuen Fassung des DCGK angepasst wird. Auch hier ist, ungeachtet der Adressierung einzel-

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74 Hölters (Fn. 50), § 161 AktG Rz. 22; Sester (Fn. 72), § 161 AktG Rz. 13; Spindler (Fn. 58), § 161 AktG Rz. 28. 75 Lutter (Fn. 58), § 161 AktG Rz. 27; Hüffer (Fn. 58), § 161 AktG Rz. 14; Semler/ Wagner, NZG 2003, 553, 555 f.; Kiethe, NZG 2003, 559, 561; das bestreitet Kleindiek (Fn. 36), S. 239, 250 für den Fall, dass Vorstand und Aufsichtsrat nicht eine „gemeinsame“, also eine Erklärung in einheitlicher Urkunde abgeben – eine feinsinnige Unterscheidung, die dem Geschehen schwerlich gerecht wird. 76 Dazu Hüffer (Fn. 58), § 161 AktG Rz. 14 m. w. N. 77 Zutreffend Hüffer (Fn. 58), § 161 AktG Rz. 14. 78 So auch Krieger (Fn. 59), S. 365, 372; Runte/Eckert in Bürgers/Körber (Fn. 58), § 161 AktG Rz. 13.

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ner Empfehlungen nur an den Vorstand oder nur an den Aufsichtsrat eine Gesamtentscheidung herbeizuführen, was gewisse Vorarbeiten erforderlich macht, u. U. aber auch zu Umsetzungsmaßnahmen zwingt. Die Beratungen von Vorstand und Aufsichtsrat und die am Wohl des Unternehmens ausgerichtete, nach Zweckmäßigkeitsgesichtspunkten79 zu treffende Entscheidung kann theoretisch dahin lauten, die Empfehlungen des DCGK würden in vollem Umfang („Übernahmemodell“), teilweise („Selektionsmodell“) oder in Gänze nicht („Ablehnungsmodell“) beachtet, wobei bei gänzlicher oder teilweiser Abweichung auch auf eigene, stattdessen angewandte Führungsgrundsätze („Alternativmodell“) hingewiesen werden kann. Wählen Vorstand und Aufsichtsrat das Übernahmemodell, bereitet die Formulierung der Entsprechenserklärung keine besonderen Schwierigkeiten; eine Begründung ist nicht veranlasst, vielmehr spricht die Vollübernahme für sich, weil sie zum Ausdruck bringt, dass die Gesellschaft nach den für passend erachteten Empfehlungen des DCGK geführt und überwacht wird. Im Anschluss an die Gesetzesmaterialien80 wird überwiegend81 angenommen, dass ein Fall der Vollbefolgung auch dann vorliegt, wenn die Gesellschaft „allgemein“ und ohne „ins Gewicht fallende Abweichungen“ nach den Empfehlungen gelebt hat. Dem wird man im Grundsatz folgen können. Denn hierin kommt der später von der höchstrichterlichen Rechtsprechung82 bei der Bestimmung der Folgen einer unrichtigen Entsprechenserklärung aufgegriffene Gesichtspunkt zum Ausdruck, dass nicht jede Unvollständigkeit oder Unrichtigkeit der Erklärung ihren Zweck verfehlt, sondern dass es entscheidend darauf ankommt, dass die Information in einem für deren Adressaten relevanten Punkt fehlerhaft ist. Wenn die Entsprechenserklärung ihren Sinn erreichen soll, darf indessen bei der Annahme eines nicht relevanten Mangels in diesem Zusammenhang keinesfalls großzügig verfahren werden, es geht lediglich darum zu verhindern, dass durch einen zu puristischen Maßstab die praktische Handhabbarkeit des Systems leidet.83 Üblich in der Praxis ist indessen, dass die Gesellschaften nicht das Übernahmemodell wählen, sondern hinsichtlich der Empfehlungen selektieren.84 Diese

__________ 79 Krieger (Fn. 59), S. 365, 378 f.; Hüffer (Fn. 58), § 161 AktG Rz. 21. 80 Vgl. Seibert (Fn. 19), S. 66. 81 S. etwa Seibt, AG 2002, 249, 252; Ringleb (Fn. 18), Rz. 1554; Hüffer (Fn. 58), § 161 AktG Rz. 16; Sester (Fn. 72), § 161 AktG Rz. 38; a. A. Spindler (Fn. 58), § 161 AktG Rz. 32 unter Hinweis darauf, dass der Gesetzeswortlaut und der Sinn einer solchen Interpretation entgegenstehe. 82 BGHZ 182, 272, Leitsatz c) und Tz. 18 – Umschreibungsstopp; vgl. dazu zuvor W. Goette (Fn. 4), S. 225 ff. 83 So auch Sester (Fn. 72), § 161 AktG Rz. 38. 84 Vgl. die Zusammenstellungen von v. Werder (Fn. 20), Rz. 1639 ff., wonach Anfang 2009 nur acht DAX-, TecDAX- und MDAX-gelistete Gesellschaften dem Übernahmemodell gefolgt sind, während die durchschnittliche Befolgungsquote für alle Empfehlungen bei rund 85 % liegt; in der neuesten Untersuchung haben v. Werder/ Pissarczyk/Böhme, AG 2011, 492 ff. bei DAX-Gesellschaften eine Befolgungsquote bezogen auf alle Empfehlungen von 96,3 % ermittelt, während sie bei Gesellschaften des General Standard mit 78,3 % deutlich darunter liegt.

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Teilabweichung kann darauf beruhen, dass beide Organe übereinstimmend bestimmte Empfehlungen für unpassend halten; die Gründe hierfür sind nach der Neufassung des § 161 AktG anzugeben und müssen in jedem Fall so gefasst sein, dass zu erkennen ist, dass die Teilabweichung Ergebnis einer auf rationaler Grundlage getroffenen unternehmerischen Entscheidung ist. Ob eine entsprechende Erklärung auch dann abzugeben ist, wenn Vorstand und Aufsichtsrat zu keiner einheitlichen Beschlussfassung gelangen, ist umstritten. Gegen die Auffassung, bei Dissens der beiden Organe entscheide das Votum des Gremiums, an das sich die Empfehlung richtet,85 spricht die klare gesetzliche Anordnung, dass Vorstand und Aufsichtsrat die Entsprechenserklärung abzugeben haben, es also einer – jedenfalls im Sinne inhaltlicher Übereinstimmung – einheitlichen86 Äußerung bedarf. Die aus diesem Gedanken hergeleitete, vereinzelt vertretene Auffassung,87 es bestehe ein Einigungszwang der beiden Organe, lässt sich dem Gesetz weder nach dem Wortlaut, noch nach seinem Sinn entnehmen. Zutreffend daran ist aber, dass die wohl überwiegend vertretene Ansicht, Vorstand und Aufsichtsrat müssten in diesem Fall ihren Dissens nach außen tragen,88 wenig praktikabel, weil für das Image der Gesellschaft, um das es bei dem comply or explain wesentlich geht, schädlich89 ist und deswegen schwerlich von sorgsam vorgehenden Organen gewählt werden wird. Richtigerweise stellt sich das Problem des Einigungszwangs nur indirekt, weil Vorstand und Aufsichtsrat eine Erklärung abgeben müssen und sich nicht insgesamt oder zu einzelnen Empfehlungen einer Stellungnahme enthalten dürfen. Deswegen wird in einem solchen Fall nur eine auf diese Empfehlung bezogene Abweichungserklärung abgegeben werden können. Denn mangels Einigkeit der beiden zur Abgabe der Entsprechenserklärung berufenen Organe scheidet die Aussage aus, die Empfehlung werde befolgt; nach dem System des § 161 AktG kann dies nur bedeuten, dass die Nichtbefolgung erklärt werden muss, weil eine Enthaltung schlechthin ausscheidet; die den Einigungszwang verlängernde Auffassung, notfalls müsse die – nach dem Organisationsgefüge zweifelsfrei unzuständige Hauptversammlung90 – diese Einigung herbeiführen, ist mit dem Gesetz nicht in Einklang zu bringen; die Hauptversammlung ist erst dann wieder am Zuge, wenn es um die Kundgabe des Vertrauens für Vergangenheit und Zukunft im Rahmen der Entlastung der Organmitglieder oder um die Wahl der Aufsichtsratsmitglieder geht. Ob Vorstand und Aufsichtsratin der im Falle einer no comply-Erklärung erforderlichen Begründung für die Abweichung den Dissens aufdecken oder die von dem dissentierenden Organ angeführten Argumente als Ablehnungsgrund mitteilen, ist eine Frage unter-

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85 Semler (Fn. 5), § 161 AktG Rz. 83. 86 So auch Hommelhoff/Schwab, Corporate Governance Handbuch (Fn. 2), S. 91 mit der allerdings hier nicht geteilten Folgerung, dass diese Einheitlichkeit notfalls durch die Hauptversammlung geschaffen werden muss. 87 Seibt, AG 2002, 249, 253. 88 So z. B. Claussen/Bröcker, DB 2002, 1199, 1204; Pfitzer/Oder/Wader, DB 2002, 1120 f.; Semler/Wagner, NZG 2003, 553, 555; Hüffer (Fn. 58), § 161 AktG Rz. 19; Spindler (Fn. 58), § 161 AktG Rz. 23. 89 Zutreffend Krieger (Fn. 59), S. 365, 370; Spindler (Fn. 58), § 161 AktG Rz. 23. 90 Hommelhoff/Schwab, Corporate Governance Handbuch (Fn. 2), S. 92.

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nehmerischen Ermessens. Der Fall eines solchen, nach außen getragenen Dissenses wird in der Praxis indessen nur in engen Ausnahmefällen vorkommen, weil mit der Sorgfalt eines ordentlichen Organmitglieds vorgehende Gremien sich den dadurch der Gesellschaft drohenden Imageschaden vor Augen führen und zu Kompromissen finden werden.

V. Fazit Nach dem geltenden Recht ist es Teil der organschaftlichen Pflichten, dass sich Vorstand und Aufsichtsrat mit den Empfehlungen des DCGK vertraut machen und gewissenhaft prüfen, welche Regeln der Führung und Überwachung für ihre Gesellschaft passen und welche nicht. Teil dieser dem Legalitätsprinzip unterliegenden Aufgabe ist ferner die Abgabe einer einheitlichen, den Geboten von Wahrheit und Vollständigkeit gerecht werdenden Entsprechenserklärung; Enthaltungen sind ausgeschlossen, ein Einigungszwang besteht nicht, vielmehr ist im Falle eines Dissenses der beiden Organe zu erklären, dass der DCGK insgesamt oder dass bestimmte Empfehlungen nicht beachtet werden; hierfür besteht Begründungszwang. Bei der Entscheidung, ob und inwieweit dem DCGK gefolgt wird, handeln Vorstand und Aufsichtsrat dagegen in Ausübung unternehmerischen Ermessens.

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Die actio pro socio und Ansprüche der Gesellschafter aus eigenem Recht in der Liquidation der Personengesellschaften Inhaltsübersicht I. Einleitung II. Der Ablauf der Liquidation im Überblick III. Die Ansprüche der Gesellschaft gegen ihre Gesellschafter und die actio pro socio 1. Der Anspruch auf Beitragsleistung 2. Der Anspruch auf Nachschuss 3. Anspruch auf Rückzahlung unzulässiger Entnahmen, Schadensersatzansprüche 4. Klage auf Auszahlung an den Gesellschafter

IV. Ansprüche gegen den Liquidator 1. Die Rechtsstellung der Liquidatoren 2. Die actio pro socio V. Eigene Ansprüche des Gesellschafters gegen den Liquidator 1. Ansprüche aus dem Rechtsverhältnis zwischen Gesellschaft und Liquidator 2. Abwehrrechte aus dem Mitgliedschaftsverhältnis VI. Bestellung eines besonderen Vertreters VII. Zusammenschau der Ansprüche/ Zusammenfassung

I. Einleitung Die actio pro socio ist die Befugnis eines Gesellschafters, Ansprüche der Gesellschaft gegen einen Mitgesellschafter im eigenen Namen geltend zu machen. Noch nicht abschließend geklärt ist, ob es sich um einen eigenen materiell rechtlichen Anspruch des Gesellschafters handelt oder ob der Gesellschafter den Anspruch der Gesellschaft als Prozessstandschafter durchsetzt. Diese Frage soll im Folgenden nicht aufgegriffen werden – sie ist schon vielfach diskutiert worden.1 Vielmehr wird im Weiteren mit der im Vordringen begriffenen, wohl schon herrschenden Meinung davon ausgegangen, dass die actio pro socio ein Fall der Prozessstandschaft ist.2 Das hat zugleich zur Folge, dass jeder auf dem Gesellschaftsverhältnis beruhende Anspruch der Gesellschaft gegen einen Gesellschafter von einem Mitgesellschafter auf diesem Wege geltend gemacht werden kann. In Folge der Anerkennung der Rechtsfähigkeit der BGB-Gesellschaft werden in zunehmendem Maße Ansprüche der Gesellschaft gegen ihre Gesellschafter

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1 Überblick bei Bork/Oepen, ZGR 2001, 515; Grunewald, Gesellschaftsrecht, 8. Aufl., 1. A. 62; Schäfer in Großkomm. HGB, 4. Aufl., § 105 HGB Rz. 265 ff.; Verse in FS Uwe H. Schneider, 2011, S. 1325, 1330. 2 Bork/Oepen, ZGR 2001, 515, 526; Grunewald (Fn. 1), 1. A. 62; Verse (Fn. 1), S. 1325, 1330.

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entwickelt. Dies gilt insbesondere auch im Liquidationsstadium. Dies wiederum führt dazu, dass auch der Anwendungsbereich der actio pro socio erweitert wird, zumal mittlerweile auch von der Judikatur anerkannt ist, dass die Gesellschafterklage auch in der Liquidationsgesellschaft erhoben werden kann.3 Besonderheiten gegenüber den allgemeinen Regeln der actio pro socio ergeben sich in der Liquidation nicht. Insbesondere ist daran festzuhalten, dass die Gesellschafterklage wie stets nur subsidiär greift. Denn in der Liquidationsgesellschaft sind vorrangig die Liquidatoren zur Durchsetzung der Ansprüche der Liquidationsgesellschaft legitimiert. Nur wenn deren Untätigkeit auf willkürlichen oder sachfremden Gründen beruht, kann von der Befugnis eines Gesellschafters zur Durchsetzung der Ansprüche der Gesellschaft im eigenen Namen ausgegangen werden.4 Dem ist entgegengehalten worden, dass in der Liquidation der Vorrang der allgemeinen Kompetenzordnung nicht mehr gelte, da die Gesellschafterklage dem Zweck der Abwicklungsgesellschaft diene.5 Dies überzeugt nicht. Denn auch in der Liquidationsgesellschaft ist die Kompetenzordnung einzuhalten und diese besagt dann eben, dass die Liquidatoren in erster Linie die Forderungen der Gesellschaft durchzusetzen haben und nicht die Gesellschafter.6 Neben der Möglichkeit, Ansprüche der Gesellschaft im eigenen Namen zu realisieren, steht dem Gesellschafter auch der Weg offen, eigene Rechte gegenüber seinen Mitgesellschaftern gestützt auf das Mitgliedschaftsverhältnis geltend zu machen. Des Weiteren können sich aus dem Vertragsverhältnis zwischen Liquidator und Gesellschaft Ansprüche des Gesellschafters ergeben. Im Folgenden soll überprüft werden, ob sich aus dieser Vielfalt ein sinnvolles Ganzes ergibt oder ob eine sinnlose Doppelung von Rechten entstanden ist, die sich wohlmöglich sogar wechselseitig blockieren.

II. Der Ablauf der Liquidation im Überblick Wie die Liquidation einer BGB-Gesellschaft zu erfolgen hat, regelt das Gesetz in §§ 730–735 BGB. Gemäß § 730 Abs. 2 Satz 2 BGB steht von der Auflösung der Gesellschaft an die Geschäftsführungsbefugnis den Gesellschaftern gemeinsam zu. Die Gesellschafter haben als Liquidatoren die schwebenden Geschäfte zu beenden und die zur Erhaltung und Verwaltung des Gesellschaftsvermögens bis zur Abwicklung erforderlichen Maßnahmen zu treffen (§ 730 Abs. 2 Satz 1 BGB). Gegenstände, die ein Gesellschafter der Gesellschaft zur Benutzung überlassen hat, sind zurück zu geben (§ 732 Satz 1 BGB). Sodann sind die Schulden der Gesellschaft zu begleichen (§ 733 Abs. 1 Satz 1 BGB). Für noch nicht fällige

__________ 3 BGH, NZG 2003, 215; OLG Düsseldorf, NZG 1999, 989; Bork/Oepen, ZGR 2001, 515, 539; Koller in Koller/Roth/Morck, 7. Aufl., § 149 HGB Rz. 2; K. Schmidt in MünchKomm. HGB, 3. Aufl., § 146 HGB Rz. 5; Wertenbruch in Westermann, Handbuch Personengesellschaften, Loseblatt (Stand: März 2011), Rz. I 1772. 4 Speziell bezogen auf die Liquidationsgesellschaft Bork/Oepen, ZGR 2001, 515, 530. 5 Hadding, JZ 1975, 159, 164. 6 So auch Bork/Oepen, ZGR 2001, 515, 539.

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Actio pro socio u. Ansprüche der Gesellschafter in der Liquidation der Personenges.

oder streitige Schulden sind Rücklagen zu bilden (§ 733 Abs. 1 Satz 2 BGB). Um dies zu erreichen und die Einlagen zurückzuzahlen, ist das Gesellschaftsvermögen zu Geld zu machen (§ 733 Abs. 3 BGB). Ein eventueller Überschuss wird gemäß den Gewinnanteilen an die Gesellschafter verteilt (§ 734 BGB). Ergibt sich ein Fehlbetrag, ist dieser gemäß den Verlustanteilen unter die Gesellschafter aufzuteilen (§ 735 BGB). Um wechselzeitige Zahlungen während der Abwicklung der Gesellschaft zu vermeiden, hat die Rechtsprechung den Grundsatz entwickelt, dass alle Ansprüche der Gesellschafter gegen die Gesellschaft und ihre Mitgesellschafter nicht mehr selbstständig durchgesetzt werden können.7 Diese sogenannte Durchsetzungssperre gilt auch für die Ansprüche der Gesellschaft gegenüber ihren Gesellschaftern.8 Von dieser Durchsetzungssperre werden Ausnahmen gemacht. Sofern feststeht, dass ein Gesellschafter nach der Schlussabrechnung auf jeden Fall einen bestimmten Mindestbetrag erhalten wird, kann er diesen direkt verlangen.9 Umgekehrt kann, wenn feststeht, dass ein Gesellschafter für einen Verlustbeitrag auf jeden Fall aufkommen muss, dieser Betrag auch schon vor der Schlussabrechnung verlangt werden.10

III. Die Ansprüche der Gesellschaft gegen ihre Gesellschafter und die actio pro socio 1. Der Anspruch auf Beitragsleistung Zu den Aufgaben der Liquidatoren gehört es – wie geschildert – die Ansprüche der Gesellschaft durchzusetzen. Zu diesen zählen auch gegen einen Gesellschafter gerichtete Forderungen, beispielsweise auf Leistung von Beiträgen. Ein solcher Anspruch kann nach herrschender Meinung aber nur durchgesetzt werden, soweit dies zur Befriedigung der Gläubiger erforderlich ist,11 wobei nicht abschließend geklärt ist, ob zu diesen Gläubigern auch die Mitgesellschafter gehören, die nach Feststellung der Endabrechnung einen Anspruch auf Auszahlung eines Auseinandersetzungsguthabens gegen die Gesellschaft haben.12

__________ 7 Hillmann in Ebenroth/Boujong/Joost/Strohn, 2. Aufl., § 149 HGB Rz. 21; Freud, MDR 2011, 577; Ulmer/Schäfer in MünchKomm BGB, 5. Aufl., § 730 BGB Rz. 49; Wertenbruch (Fn. 1), Rz. I 1754; Westermann in Erman, 13. Aufl., § 730 BGB Rz. 11. 8 BGH, ZIP 2011, 1359, 1360 (Ausscheiden eines Gesellschafters); K. Schmidt (Fn. 3), § 155 HGB Rz. 20; a. A. BGH, NZG 2003, 215. 9 BGHZ 37, 299, 305; BGH, WM 1974, 749, 751; BGH, NJW 1980, 1628; BGH, NJW 1995, 2843, 2844; BGH, NJW 1998, 376; BGH, WM 1981, 487; BGH, ZIP 1993, 919, 926; Ulmer/Schäfer (Fn. 7), § 730 BGB Rz. 34; Westermann (Fn. 7), § 730 BGB Rz. 12. 10 BGH, NJW-RR 1991, 549. 11 BGH, ZIP 1980, 192; BGH, NJW 1978, 2154; Hopt in Baumbach/Hopt, 34. Aufl., § 149 HGB Rz. 3; Hillmann (Fn. 7), § 149 HGB Rz. 11; Kamanabrou in Oetker, 2. Aufl., § 149 HGB Rz. 7. 12 Dazu zusammenfassend Grunewald in VGR, Gesellschaftsrecht in der Diskussion 2011, 2012, S. 34 ff.

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Umstritten ist des Weiteren die Beweislastverteilung. Der BGH geht davon aus, dass der Beitragsschuldner zwar nicht darlegen (sogenannte sekundäre Darlegungslast der Gesellschaft), wohl aber beweisen muss, dass die Beiträge für die Auseinandersetzung nicht erforderlich sind.13 Dem hat die Literatur unter Hinweis darauf widersprochen, dass die Liquidatoren, zu denen der Gesellschafter unter Umständen nicht gehört, die Interna der Gesellschaft besser kennen.14 Diese Sichtweise überzeugt nur im Ergebnis. Denn im Grunde geht es um die allgemeine Aussage, dass die Durchsetzungssperre nur dann nicht gilt, wenn klar ist, dass der Gesellschafter noch etwas leisten muss. Das ist in der Liquidation Voraussetzung für die Durchsetzung des Anspruchs auf Beitragsleistung und muss daher von demjenigen dargelegt und bewiesen werden, der den Anspruch geltend macht. Es handelt sich um eine Ausnahme von dem Grundsatz, dass zur Vermeidung von Hin- und Herzahlungen Forderungen zwischen Gesellschaft und Gesellschafter nur noch in die Schlussbilanz einzustellen sind. Der so umrissene Anspruch der Gesellschaft kann im Wege der actio pro socio geltend gemacht werden.15 Die (ältere) Judikatur hatte zwar gemeint, die Durchsetzung der Beitragsansprüche sei den Liquidatoren vorbehalten.16 Zur Begründung wurde gesagt, dass, da rückständige Beiträge nur verlangt werden können, soweit sie zur Abwicklung benötigt werden, darüber nur die Liquidatoren entscheiden könnten. In der Tat besteht der Anspruch – wie geschildert – nur, wenn der Beitrag für die Abwicklung erforderlich ist. Und in der Tat kann es sein, dass dieser Nachweis von einem Gesellschafter, der nicht auch Liquidator ist, nur schwer geführt werden kann. Aber daraus folgt ersichtlich nicht, dass der Gesellschafter von der Durchsetzung ausgeschlossen wäre. Denn Probleme bei der Darlegung und dem Beweis der Anspruchsvoraussetzungen gehören zu den Alltäglichkeiten der Rechtsdurchsetzung, haben aber keinen Einfluss auf das Bestehen des Rechtes. 2. Der Anspruch auf Nachschuss Nach § 155 Abs. 3 HGB haben die Liquidatoren bei Streit unter den Gesellschaftern über die Verteilung des Gesellschaftsvermögens die Verteilung bis zur Entscheidung des Streites auszusetzen. Die wohl noch herrschende Meinung folgert daraus, dass die Liquidatoren weder berechtigt noch verpflichtet sind, von den Gesellschaftern Nachschüsse in das Gesellschaftsvermögen zu

__________ 13 BGH, NJW 1980, 1522, 1523; BGH, WM 1978, 898; OLG Düsseldorf, NZG 1999, 998, 990. 14 Ulmer/Schäfer (Fn. 7), § 730 BGB Rz. 31; Ensthaler, Die Liquidation von Personengesellschaften, 1985, S. 59; tendenziell auch Westermann (Fn. 7), § 730 BGB Rz. 6. 15 OLG Düsseldorf, NZG 1999, 998, 990; Habersack in Großkomm. HGB, 4. Aufl., § 149 HGB Rz. 18; Klöhn in Henssler/Strohn, Gesellschaftsrecht, 2011, § 149 HGB Rz. 13; K. Schmidt (Fn. 3), § 146 HGB Rz. 55; Wertenbruch (Fn. 3), Rz. I 1772; Westermann (Fn. 7), § 730 BGB Rz. 9. 16 BGH, NJW 1960, 433, 434 (obiter dictum); offen gelassen in BGH, NJW 2003, 2676, 2677.

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verlangen. Für die BGB-Gesellschaft wird dann genauso entschieden.17 Dem gegenüber wird auch vertreten, dass die Liquidatoren auch Nachschüsse zur Befriedigung der Gläubiger verlangen können.18 Das überzeugt. Denn da die Gesellschafter zur Zahlung der Nachschüsse an die Gesellschaft verpflichtet sind, kann der Anspruch der Gesellschaft auch von den Liquidatoren geltend gemacht werden. Auch dieser Anspruch kann im Wege der actio pro socio durchgesetzt gemacht werden.19 Denn auch insoweit handelt es sich um einen Anspruch der Gesellschaft. Unterschiede zu dem Anspruch auf Beitragsleistung bestehen insoweit nicht. 3. Anspruch auf Rückzahlung unzulässiger Entnahmen, Schadensersatzansprüche Ansprüche der Gesellschaft auf Rückzahlung unzulässiger Entnahmen und auf Schadensersatz gegen Gesellschafter können unstreitig im Wege der actio pro socio geltend gemacht werden.20 Es bestehen keine Besonderheiten im Vergleich zur werbenden Gesellschaft. Es ist lediglich zu berücksichtigen, dass genauso wie bei der Durchsetzung rückständiger Beiträge und dem Einziehen von Nachschüssen zu beachten ist, dass die Einforderung voraussetzt, dass der Betrag für die Befriedigung der Gläubiger aller Voraussicht nach benötigt wird. Andernfalls greift wiederum die sogenannte Durchsetzungssperre. 4. Klage auf Auszahlung an den Gesellschafter Die actio pro socio ist regelmäßig auf Leistung an die Gesellschaft gerichtet. Von diesem Grundsatz wird eine Ausnahme gemacht, wenn es um die Geltendmachung letzter Ansprüche der Gesellschaft gegen einen Gesellschafter geht und klar ist, dass dieser Vermögenswert letztendlich dem Kläger zufällt.21 Eine Abwicklung über die Gesellschaft macht dann in der Tat keinen Sinn. Denn wenn feststeht, dass ein Gesellschafter mit Sicherheit bei der Schlussabrechnung einen bestimmten Betrag erhalten wird, gilt die Durchsetzungssperre wie geschildert nicht und der Betrag kann direkt verlangt werden. Demgemäß

__________

17 BGH, ZIP 2006, 232. 18 KG, NZG 2010, 1102; Habersack (Fn. 15), § 149 HGB Rz. 31; Klöhn (Fn. 15), § 149 HGB Rz. 12; K. Schmidt (Fn. 3), § 149 HGB Rz. 31; Timm/Schöne in Bamberger/ Roth, 2. Aufl., § 735 BGB Rz. 5; Wertenbruch (Fn. 3), Rz. I 1735a; offen gelassen in OLG München v. 2.7.2009 – 23 U 4240/08, BeckRS 2009, 20731; Ulmer/Schäfer (Fn. 7), § 735 BGB Rz. 5 f. mit Ausnahme für den Fall, dass der Anspruch nur benötigt wird zum Ausgleich unter den Gesellschaftern. 19 OLG Köln, NZG 1999, 152, 154; Habersack (Fn. 15), § 149 HGB Rz. 31; Klöhn (Fn. 15), § 149 HGB Rz. 13; K. Schmidt (Fn. 3), § 149 HGB Rz. 27; Ulmer/Schäfer (Fn. 7), § 735 BGB Rz. 5; Westermann (Fn. 7), § 735 BGB Rz. 1. 20 Beispiel: OLG Köln, NZG 2000, 1171, 1172; s. auch Wertenbruch (Fn. 3), Rz. I 1772; zu Schadensersatzansprüchen BGH, NJW 1960, 433. 21 BGHZ 10, 91, 102; BGH, WM 1971, 723, 725; Bork/Oepen, ZGR 2001, 515, 539; Ulmer/Schäfer (Fn. 7), § 730 BGB Rz. 35; Wertenbruch (Fn. 3), Rz. I 1772, I 1785a; Westermann (Fn. 7), § 730 BGB Rz. 9.

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wäre es in der Tat unzweckmäßig, eine Leistung an die Gesellschaft und dann die sofortige Auszahlung der Gesellschaft an den Kläger zu verlangen.

IV. Ansprüche gegen den Liquidator 1. Die Rechtsstellung der Liquidatoren Sofern die Liquidatoren nicht Gesellschafter sind, sind sie mit der Gesellschaft regelmäßig durch ein Vertragsverhältnis verbunden. Sollten die Gesellschafter demgegenüber selbst die Liquidatoren sein, so beruhen ihre Rechte und Pflichten auf dem Gesellschaftsverhältnis.22 Aus diesen Rechtsverhältnissen folgt z. B. die Pflicht zur Einziehung der Außenstände, zur Versilberung des Gesellschaftsvermögens, zur Einziehung der Beiträge von den Gesellschaftern und zur Geltendmachung von Nachschüssen – jeweils nur, sofern dies zur Befriedigung der Gläubiger erforderlich ist. Diese Pflichten bestehen gegenüber der Gesellschaft, die auch einen entsprechenden Anspruch hat. 2. Die actio pro socio Die geschilderten Ansprüche der Gesellschaft können, wenn der Liquidator Gesellschafter ist, im Wege der actio pro socio durchgesetzt werden. Allerdings ist eine solche Klage in den genannten Fällen auf die Durchführung bestimmter Geschäfte gerichtet.23 Damit wird besonders deutlich in die eigentlich den Liquidatoren zugewiesene Kompetenz zur Geschäftsführung eingegriffen. Doch ändert dies nichts an der Zulässigkeit der actio pro socio.24 Allerdings kann eine solche Klage nur Erfolg haben, wenn das an den Tag gelegte Unterlassen offensichtlich unvertretbar ist. Ansonsten haben die Liquidatoren eine Einschätzungsprärogative in Bezug auf die Frage, wie die Liquidation durchzuführen ist. Auch gegen Liquidatoren, die nicht Gesellschafter sind, sollte die actio pro socio zulässig sein. Auch im GmbH-Recht wird vermehrt vertreten, dass Ansprüche gegen Fremdgeschäftsführer ebenso wie gegen Gesellschaftergeschäftsführer im Wege der actio pro socio durchgesetzt werden können.25 Zur Begründung wird darauf hingewiesen, dass das Risiko der Inanspruchnahme für Fremdgeschäftsführer genauso groß sein müsse wie für Gesellschaftergeschäftsführer. Dieses Argument ist für die Inanspruchnahme von Liquidatoren durch Gesellschafter allerdings nicht von gleicher Bedeutung wie für die Inanspruchnahme

__________ 22 Hillmann (Fn. 7), § 146 HGB Rz. 11; K. Schmidt (Fn. 3), § 149 HGB Rz. 58, 59. 23 Beispiel für die Durchsetzung eines Schadenersatzanspruches im Wege der actio pro socio gegen einen Gesellschafterliquidator OLG Düsseldorf, NZG 2000, 475 m. Anm. Grunewald. 24 Becker, Verwaltungskontrolle durch Gesellschafterrechte, 1997, 536; Bork/Oepen, ZGR 2001, 515, 536; Grunewald (Fn. 1), 1. A. 65; a. A. BGHZ 76, 160, 167; Zöllner, ZGR 1988, 392, 430 ff. 25 Grunewald, Die Gesellschafterklage in der Personengesellschaft und der GmbH, 1990, S. 87; Verse (Fn. 1), S. 1325, 1334; Wiedemann, Gesellschaftsrecht I, 1980, S. 462.

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von Fremdgeschäftsführern, da – wie zu zeigen sein wird26 – die Gesellschafter auch Ansprüche aus eigenem Recht gegen die Liquidatoren haben. Gleichwohl muss es bei der Möglichkeit verbleiben, dass die actio pro socio erhoben werden kann, da eben auch Pflichtverletzungen gegeben sein können, die nicht zu einem Anspruch des Gesellschafters aus eigenem Recht führen.

V. Eigene Ansprüche des Gesellschafters gegen den Liquidator 1. Ansprüche aus dem Rechtsverhältnis zwischen Gesellschaft und Liquidator Wie geschildert verbindet einen Liquidator, der nicht Gesellschafter ist, ein Vertragsverhältnis mit der Gesellschaft. Verletzt der Liquidator seine Pflichten aus diesem Vertragsverhältnis, ergeben sich oftmals auch Ansprüche der Gesellschafter. Denn der Vertrag zwischen Gesellschaft und Liquidator entfaltet Schutzwirkung zu Gunsten der Gesellschafter,27 da sich eventuelle Pflichtverletzungen des Schuldners (= Liquidators) für den Liquidator erkennbar so wie auf die Gesellschaft auch auf die Gesellschafter auswirken. Die Regeln des Reflexschadens28 sind zu beachten. Diese Ansprüche sind insbesondere bei Verzögerungen bei der Aufstellung der Schlussbilanz sowie dann von Bedeutung, wenn der Liquidator mit der Auszahlung beginnt, obwohl die Endabrechnung angegriffen wird. Sollte der Liquidator nicht durch ein Vertragsverhältnis mit der Gesellschaft verbunden sein, können Ansprüche nach den Regeln des Vertrages mit Schutzwirkung zu Gunsten Dritter nicht greifen. Es handelt sich dann um den Fall, dass der Liquidator seine Pflichten auf der Basis des Gesellschaftsvertrages erfüllt.29 Dann treffen ihn entsprechende Treuepflichten im Verhältnis zu seinem Mitgesellschafter. Diese haben keinen anderen Inhalt als die Pflichten, die aus einem Vertragsverhältnis zwischen Gesellschaft und Liquidator folgen. 2. Abwehrrechte aus dem Mitgliedschaftsverhältnis Darüber hinausgehend haben die Gesellschafter gegen die Liquidatoren aus dem Mitgliedschaftsverhältnis folgende Abwehrrechte. Diese greifen, wenn die Liquidatoren kompetenzwidrig in die Mitgliedschaftsrecht eingreifen, und gelten unabhängig davon, ob der Liquidator Gesellschafter ist oder nicht. Auch insoweit ergibt sich keine Sondersituation im Vergleich zu einer werbenden Gesellschaft.30 Genauso wie dem Gesellschafter in der werbenden Gesellschaft Rechte gegen die Gesellschaft und ihre Geschäftsführer zustehen, wenn seine

__________ 26 Siehe dazu unten V. 1. 27 Habersack (Fn. 15), § 149 HGB Rz. 6; Grunewald (Fn. 12). 28 Habersack (Fn. 15), § 149 HGB Rz. 6: Gesellschafter kann nicht den Schaden ersetzt verlangen, der ihm dadurch entsteht, dass weniger im Vermögen der Gesellschaft enthalten ist. 29 Siehe dazu oben IV. 1. 30 Siehe zu kompetenzwidrigen Eingriffen Grunewald (Fn. 1), 1. A.132; K. Schmidt (Fn. 3), § 149 HGB Rz. 7; § 147 HGB Rz. 57.

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Mitverwaltungsrechte nicht beachtet werden, kann er auch gegen die Liquidatoren vorgehen. Eine solche Fallgestaltung ist gegeben, wenn die Liquidatoren rechtmäßige Weisungen der Gesellschafter nicht befolgen.31 In der Liquidation sind die Gesellschafterrechte zwar eingeschränkt, doch bestehen sie immerhin noch in der Form von Weisungsrechten und man wird in der Tat diese als Mitverwaltungsrechte anzusehen haben, deren Schutz der Gesellschafter aus eigenem Recht verlangen kann. Der Anspruch stützt sich dann auf das noch bestehende Mitgliedschaftsrecht des Gesellschafters.

VI. Bestellung eines besonderen Vertreters Wenn es um die Durchsetzung von Ansprüchen der Gesellschaft gegen einen Liquidator geht, sollte sich ein Gesellschafter, der eine actio pro socio erheben will, überlegen, ob er nicht stattdessen die Bestellung eines besonderen Vertreters analog § 46 Nr. 8 GmbHG, § 147 AktG in Erwägung zieht. Der BGH32 hat dies für eine werbende Publikums-KG akzeptiert. Es ging um die Inanspruchnahme des Komplementärs durch die KG, diese vertreten durch einen Beirat, dem die Gesellschafter eine entsprechende Vollmacht erteilt hatten. Da bei der Entscheidung der Frage, ob ein besonderer Vertreter beauftragt werden soll, der Gesellschafter, der in Anspruch genommen werden soll, nach Ansicht des BGH kein Stimmrecht hat, ist die Bestellung nicht außerhalb jeder Reichweite. Dies hätte zugleich den Vorteil, dass der Gesellschafter das Prozesskostenrisiko nicht zu tragen hat, da der besondere Vertreter als Vertreter der Gesellschaft auftritt, während die actio pro socio zur Folge hat, dass der Gesellschafter selbst Partei des Rechtsstreits und damit Kostenschuldner wird.33 Allerdings fragt es sich, ob ein solcher Vertreter auch noch in der Liquidation bestellt werden kann. Dies ist zu bejahen.34 Denn zum einen gelten die analog anzuwendenden Normen auch in der Liquidation35 und zum anderen ist auch die Interessenlage nicht anders als bei der werbenden Gesellschaft. Stets geht es darum, sicherzustellen, dass Ansprüche der Gesellschaft gegen die geschäftsführenden Personen durchgesetzt werden können. Dass ein Liquidator als Vertreter der Gesellschaft Ansprüche der Gesellschaft gegen einen anderen Liquidator realisieren wird, wird nur selten vorkommen. Abhilfe kann dann in der Tat die Bestellung eines besonderen Vertreters bringen.36

__________ 31 K. Schmidt (Fn. 3), § 149 HGB Rz. 7. 32 BGH, NZG 2010, 1381; dazu Grunewald in Liber amicorum Martin Winter, 2011, S. 167. 33 Ulmer in MünchKomm. BGB (Fn. 7), § 705 BGB Rz. 213. 34 Ebenso K. Schmidt (Fn. 3), § 146 HGB Rz. 57. 35 Zu § 46 Nr. 8 GmbHG; Haas in Baumbach/Hueck, 19. Aufl., § 69 GmbHG Rz. 18; Kleindiek in Lutter/Hommelhoff, 17. Aufl., § 69 GmbHG Rz. 11; K. Schmidt in Scholz, 10. Aufl., § 69 GmbHG Rz. 38. 36 Zum Verhältnis zwischen Bestellung eines besonderen Vertreters und actio pro socio Grunewald (Fn. 32), S. 167, 173.

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VII. Zusammenschau der Ansprüche/Zusammenfassung Der Streifzug durch die Möglichkeiten eines Personengesellschafters in der Liquidation seiner Gesellschaft hat eine reiche Ausbeute geliefert. Es können die Ansprüche der Gesellschaft gegen die Mitgesellschafter (z. B. auf Leistung von Beiträgen, Nachschüssen, Schadensersatz) im Wege der actio pro socio durchgesetzt werden. Gleiches gilt aber auch für die Ansprüche der Gesellschaft gegen die Liquidatoren – seien es Gesellschafter, Liquidatoren oder Fremdliquidatoren – zum Beispiel auf Einziehung der Beiträge sowie auf Durchführung der Liquidation. Der Gesellschafter hat zudem eigene Ansprüche gegen den Liquidator mit gleichem Inhalt (basierend auf einem Vertrag mit Schutzwirkung zu Gunsten Dritter oder auf dem Recht der Gesellschafter untereinander). Weiter hat der Gesellschafter Abwehransprüche (§ 1004 BGB analog) gegen Gesellschaft und Liquidator, sofern seine Gesellschafterrechte in der Liquidation nicht geachtet werden. Der Gesellschafterschutz ist also allumfassend. Inhaltliche Überschneidungen gibt es zwischen den im Wege der actio pro socio durchsetzbaren Rechten der Gesellschaft gegen die Mitgesellschafter und den ebenfalls im Wege der actio pro socio durchsetzbaren Rechten der Gesellschaft gegen den Liquidator sowie den eigenen Rechten, sofern es nicht um Abwehrrecht geht. Will zum Beispiel ein Gesellschafter erreichen, dass ein Mitgesellschafter seinen Beitrag leistet, kann er dies im Wege der actio pro socio von dem Mitgesellschafter verlangen oder er kann gegen den Liquidator im Wege der actio pro socio vorgehen und verlangen, dass dieser entsprechend tätig wird. Den gleichen Anspruch hat er gegen den Liquidator auch aus eigenem Recht. Diese Anhäufung von Rechtsschutz ist aber keine Besonderheit der Liquidationssituation. Auch sonst kann der Gesellschafter, wenn es um die Durchsetzung von Ansprüchen gegen den Mitgesellschafter geht, im Wege der actio pro socio gegen den Mitgesellschafter und gegen den Geschäftsführer vorgehen. Eher ungewöhnlich sind die geschilderten Ansprüche aus dem Vertrag zwischen Liquidator und Gesellschaft. Normalerweise ist dieser Vertrag kein Vertrag mit Schutzwirkung zu Gunsten Dritter. Schwierigkeiten, die gerade diese zusätzlichen Ansprüche bereiten könnten, sind aber nicht ersichtlich.

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Ein Plädoyer für die „Euro-GmbH“ Inhaltsübersicht I. Rechtsformen für kleine und mittelständische Unternehmen (KMUs) in der EU 1. KMUs im transeuropäischen Geschäft 2. Bestehende rechtliche Gestaltungsformen für Kapitalgesellschaften im europäischen Verkehr a) GmbH b) Betriebsstätten/Zweigniederlassungen im Ausland c) Gesellschaftsformen in anderen EU Ländern d) Societas Europaea (europäische Aktiengesellschaft) 3. Zwischenfazit – Verbesserung der Stellung von KMUs in Bezug auf europäische Rechtsformen II. Entstehung des Statut-Entwurfs der Societas Privata Europaea (SPE) 1. Ausgangslage 2. Schwerpunkte in der Debatte über das Statut a) Mindestkapital

b) Kapitalerhaltung c) Sitzaufspaltung d) Mitbestimmung 3. Fazit III. Angemessenheit der Regelungen des SPE Statuts 1. Regelungsumfang des SPE Statuts 2. Prüfung wesentlicher Regelungsaspekte a) Gründung b) Kapital c) Verfassung und Leitungsstruktur d) Verfahrensfragen e) Anteilskontrolle f) Fazit IV. Weitere europäische Harmonisierung 1. Großer Anteil an Verweisungen auf einzelstaatliches Recht 2. Bilanzierung a) Einheitliche Bilanzierung bei der SE b) Bilanzierung bei der SPE 3. Fazit

I. Rechtsformen für kleine und mittelständische Unternehmen (KMUs) in der EU 1. KMUs im transeuropäischen Geschäft Die Zahl von etwa 23 Millionen1 KMUs2 in der europäischen Union und von 3,67 Millionen3 in Deutschland lässt zunächst nicht vermuten, dass die europäischen Harmonisierungsbemühungen erst heute bei den Bedürfnissen der kleineren Unternehmen angekommen sind. Der europäische Binnenmarkt ent-

__________

1 EU Kommission, 2011, Pressenotiz IP/11/218 zum Small Business Act. 2 Kleine und mittlere Unternehmen werden für die Zwecke dieser Untersuchung entsprechend der EU-Empfehlung 2003/361/EG und § 267 HGB definiert (Unternehmen mit weniger als 250 Mitarbeitern und unter 50 Mio. Euro Umsatz). 3 Institut für Mittelstandsforschung Bonn, Kennzahlen zum Mittelstand 2009/2010 in Deutschland.

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hält viele Hürden für einen unbelasteten, grenzüberschreitenden Handel für die in ihm agierenden Unternehmen (weit jenseits von den unbestritten wesentlichen Errungenschaften der Zoll- und Währungsunion). Lange Jahre standen vor allem die großen, kapitalmarktorientierten Unternehmen im Fokus der Regelungen der europäischen Kommission, sicherlich auch, weil Ihnen die transnationale Tätigkeit häufig geschichtlich in die Gene geschrieben ist. Dahinter dürfen allerdings die Aktivitäten der KMUs in Europa nicht zurücktreten, die ebenso transeuropäisches Geschäft betreiben oder anstreben. Strukturelle Hemmnisse beim Aufbau innereuropäischer Organisationen treffen häufig KMUs um einiges stärker als ihre großen Wettbewerber. Im Verhältnis zu ihren Umsätzen stehen KMUs relativ weniger Kapazitäten und strukturelle Mittel für juristische Absicherung, ausländische Repräsentanzen und Verwaltung gegenüber. Dagegen leisten sich große kapitalmarktorientierte Unternehmen regelmäßig Spezialabteilungen für grenzüberschreitendes Gesellschafts-, Steuer- und Bilanzrecht. Die Bedürfnisse von KMUs liegen in schlanken, zuschneidbaren Strukturen, die sich europaweit ohne großen Verwaltungsaufwand umsetzen lassen. Dabei spielen für den im Gegensatz zu kapitalmarktorientierten Unternehmen verhältnismäßig kleinen Anlegerkreis vor allem Kontrollrechte und Gestaltungsmöglichkeiten eine besondere Rolle. Transparenz wird bei KMUs zu einem privatrechtlichen Thema, Gesellschaftsrecht wird zur Absicherung gegen ungewünschte Haftung und zur Gestaltung der Machtstrukturen genutzt. Dies gilt auch und insbesondere im Ausland. Gerade in Expansionsphasen sollten diese Strukturen dem Geschäft dienen. Im Wettbewerb besteht für lange Vorlaufzeiten oder rechtliche Unsicherheiten kein Spielraum. Die Frage nach der besten Rechtsform zur effizienten Erfüllung der genannten Bedürfnisse für KMUs ist daher aktueller denn je.4 2. Bestehende rechtliche Gestaltungsformen für Kapitalgesellschaften im europäischen Verkehr a) GmbH Die deutsche GmbH stellt für die meisten KMUs (entweder direkt oder als Mischform) eine wesentliche Rechtsform im Heimatmarkt dar. Mit der Umsetzung des MoMiG wurde das deutsche GmbH-Recht bereits angepasst und internationalisiert. Insbesondere die Hürden für Gründer und bei der Schaffung neuer Tochtergesellschaften dürften seit der Einführung des MoMiG gesunken sein. Die Unternehmergesellschaft mit einem Stammkapital ab einem Euro hat die GmbH wieder wettbewerbsfähig mit ausländischen Gesellschaftsformen,

__________ 4 An dieser Stelle wird vorwiegend auf die Bedürfnisse von KMUs eingegangen. Viele Themenstellungen bestehen jedoch gleichermaßen für Tochtergesellschaften großer Konzerne, wie bei Hommelhoff, Börsen-Zeitung, Nr. 134 v. 15.7.2008 in „EU-Privatgesellschaft auch für Konzerne interessant“.

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wie zum Beispiel der britischen Ltd., gemacht. Damit steht für Unternehmer bei der Wahl der Gesellschaftsform nun regelmäßig die innerdeutsche Flexibilität nicht mehr im Vordergrund, sondern vielmehr die einfache Strukturierung des innereuropäischen Niederlassungsnetzes. Eine allseits verwendbare „Blaupause“ für die europäische Expansion wird mit der deutschen GmbH allerdings noch nicht erreicht. Der europäische Gerichtshof hat die Niederlassungsfreiheit für Kapitalgesellschaften mit den Urteilen „Centros“5, „Überseering“6 und „Inspire Art“7 für Gesellschaften, deren Gründungsstaat eine Verlegung des Verwaltungssitzes erlaubt, grundsätzlich festgestellt.8 Darüber hinaus wurden in Deutschland mit dem MoMiG die Voraussetzung für eine Aufspaltung von Register- und Verwaltungssitz geschaffen.9 Somit könnte eine Verlegung des Verwaltungssitzes der GmbH bei Wahrung des deutschen Regelungsrahmens theoretisch10 möglich sein, wenn eine inländische Geschäftsanschrift11 bestehen bleibt. Doch selbst wenn rechtliche Fragestellungen zum Wegzug der Diskussion entfielen, bliebe die GmbH im Ausland ein Fremdobjekt für den dortigen Wirtschaftsverkehr.12 b) Betriebsstätten/Zweigniederlassungen im Ausland Unternehmer können Betriebsstätten, respektive Zweigniederlassungen, im europäischen Ausland etablieren. Die Vorgehensweise setzt entsprechende Kenntnis des jeweiligen Steuerrechts und der jeweiligen Handelsregister für die Anmeldung voraus. Darüber hinaus kann die Verwendung einer ausländischen Rechtsform – hier also einer GmbH – als Manko in einem fremden Markt gewertet werden. Neben der haftungsrechtlichen Unsicherheit für den Kunden oder Investor, der die Regularien des ausländischen Unternehmens zumeist nicht kennt, signalisiert der Niederlassungscharakter vor allem Kurzfristigkeit und mangelnde Identifikation mit dem Zielmarkt. c) Gesellschaftsformen in anderen EU Ländern Alle EU Länder kennen das Konzept einer haftungsbeschränkten Gesellschaft.13 Ausgehend von den unter b) genannten Schwächen einer reinen Vertriebs-

__________ 5 6 7 8 9 10

EuGH v. 9.3.1999 – Rs. C-212/97, Slg. 1999, I-1459 = AG 1999, 226. EuGH v. 5.11.2002 – Rs. C-208/00, Slg. 2002, I-9919 = GmbHR 2002, 1137. EuGH v. 30.9.2003 – Rs. C-167/01, Slg. 2003, I-10155 = AG 2003, 680. Michalski in Michalski, 2. Aufl. 2010, § 4a GmbHG Rz. 17 ff. Vergleiche im folgenden Michalski (Fn. 8), § 4a GmbHG Rz. 6 ff. Die Frage, inwiefern die Änderung des § 4a GmbHG einen generellen Wechsel von der Sitz- zur Gründungstheorie mit sich bringt, ist nicht abschließend geklärt. S. Michalski (Fn. 8), § 4a GmbHG Rz. 34 ff. 11 § 8 Abs. 4 i. V. m. § 10 GmbHG. 12 Es gelten dieselben Nachteile, wie unter c) für andere Europäische Rechtsformen beschrieben. 13 S. hierzu auch Rat der Europäischen Union, Dok. 10611/11, „SPE Statut-Entwurf“, Appendix 2.

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niederlassung stellen die nationalen GmbH-Äquivalente eine gute Alternative dar, um angemessen im Markt repräsentiert zu sein. Darüber hinaus können Haftungsrisiken entsprechend regional begrenzt und Governance-Strukturen innerhalb von europäischen Unternehmensgruppen etabliert werden. Die Anforderungen eines europaweiten Gesellschaftsnetzes bringen jedoch wesentliche Kosten mit sich. Die Vielfalt der nationalen Gesellschaftsrechte führt zu einem umfassenden Bedarf an Spezialwissen, das von der Gründung, über den Betrieb bis hin zur Abwicklung bereitgehalten werden muss. Beispielhaft seien hier die Regelungen zur Kapitalausstattung und -erhaltung, Mitteilungspflichten und gesellschaftsrechtliche Konsequenzen bei Aufzehrung des Kapitalstocks genannt. Neben Kosten und Aufwand aus der Verwaltung der verschiedenen Rechtsformen erschwert diese Vielfalt allerdings auch die Vereinheitlichung von Strukturen insbesondere in der Geschäftsführung innerhalb von Unternehmensgruppen. Effizienzgewinne mit steigender Anzahl von Ländern im Gesellschaftskreis kann es daher kaum geben. Alternativ zur Etablierung von nationalen Gesellschaftsformen in jedem Land bietet sich die Entscheidung für eine dieser Gesellschaftsarten an, um diese zu vervielfältigen und mittels Sitzverlegungen in das europäische Ausland ein Netzwerk aus haftungsbeschränkten Gesellschaften gleicher Struktur zu schaffen. Denkbar wäre beispielsweise die Verwendung der britischen Limited, die nach den oben geschilderten Urteilen des europäischen Gerichtshofs in Europa Niederlassungsfreiheit entsprechend der Gründungstheorie genießt. Diese Gestaltungen lassen sich zwar etablieren. Ihnen hängt dennoch der empfundene Makel des fremden ausländischen Rechtsrahmens an. Darüber hinaus stellen sich weiterhin in jedem Land spezifische Themenstellungen aus der Einordnung einer „fremden“ Rechtsform in den privatrechtlichen Rahmen des Landes. d) Societas Europaea (europäische Aktiengesellschaft) Die Societas Europaea, die europäische Aktiengesellschaft/europäische Gesellschaft, wurde im Oktober 2001 auf dem Wege einer Verordnung durch den Rat der europäischen Union nach 30-jähriger Verhandlungshistorie auf den Weg gebracht.14 Sie ist die erste EU-Rechtsform, die grenzüberschreitende Aktivitäten mit Gewinnerzielungsabsicht15 ermöglicht. Der Autor hat 1993 die Eignung der SE als europäische Rechtsform für grenzüberschreitend tätige kleine

__________ 14 Beginn durch Kommissionsvorschläge zu einer Verordnung über das SE Statut 1970 und 1975. Letztlich 2001 Verordnung des Rates der Europäischen Union Nr. 2157/ 2001 und Richtlinie zur Mitbestimmung 2001/86/EG. 15 Die EWIV besteht bereits seit 1985, sieht jedoch keine eigenständige Gewinnerzielungsabsicht vor. Siehe Verordnung des Rates der EWG 2137/85.

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und mittelständische Unternehmen geprüft16 und ist zu dem Schluss gekommen, dass die im damaligen Regelungsstatut vorliegende Gestaltung einer europäischen Aktiengesellschaft keine oder doch nur eine bedingt geeignete Rechtsform für KMUs ist.17 Der der damaligen Analyse zu Grunde liegende Vorschlag für eine Verordnung18 enthielt bereits die Anmerkungen des europäischen Parlaments und des Wirtschafts- und Sozialausschusses 1991. In den darauf folgenden zehn Jahren wurde vor allem die Thematik der Mitbestimmung in der SE weiter diskutiert, bevor die SE geschaffen werden konnte. Bis zum Sommer 2010 waren 595 SEs in den EU Mitgliedsstaaten registriert.19 Die EU Kommission hat mittels der durch sie in Auftrag gegebenen Studie zur Anwendung der SE-Verordnung verschiedene Trends ermittelt. Unter anderem wurde festgestellt, dass die erhöhten Kosten, das verhältnismäßig hohe Mindestkapital und die Komplexität der Gründung einen Hinderungsgrund in Ländern mit eher kleinen und mittleren Unternehmen darstellen.20 3. Zwischenfazit – Verbesserung der Stellung von KMUs in Bezug auf europäische Rechtsformen Das Bedürfnis von KMUs nach Vereinfachung Ihrer Aktivitäten im Binnenmarkt hat auch die europäische Kommission bewegt und den Small Business Act21 hervorgebracht. Dieser geht auf die Rolle von KMUs in Europa, deren Bedürfnisse und Kosten ein und versucht, eine Roadmap für die Anpassung verschiedener gesetzlicher und regulatorischer Rahmenbedingungen aufzuzeigen. Zusammenfassend lässt sich in Bezug auf die gesellschaftsrechtlichen Bedürfnisse von KMUs, die grenzüberschreitend innerhalb der EU tätig sein wollen, folgendes festhalten: Der Verwaltungsaufwand muss reduziert und die Vielfalt durch die verschiedenen europäischen Gesellschaftsformen überkommen werden. Des weiteren besteht Bedarf nach einer Rechtsform, die es erlaubt eine Sollstruktur zu etablieren und diese als Blaupause in allen Mitgliedsländern zu verwenden, ohne die bestehenden Unsicherheiten auf Unternehmerseite (wenn fremde lokale Rechtsformen gewählt werden müssen) oder auf Seiten der Kunden im Zielmarkt (wenn sie fremde Rechtsformen als Vertragspartner akzeptieren sollen) in Kauf nehmen zu müssen. Es gilt also einen gemeinsamen Nenner zu finden, der die private Ausrichtung der Gesellschafterstruktur und die besonderen Bedürfnisse bei der Ausgestaltung der Corporate Governance berücksichtigt.

__________ 16 Gutsche, Die Eignung der Europäischen Aktiengesellschaft für kleine und mittlere Unternehmen in Deutschland, 1. Aufl. 1993. 17 Gutsche (Fn. 16), S. 239. 18 Dokument des Rates der EWG Nr. 6516/91, 1991. 19 Europäische Kommission, Bericht über die Anwendung der Verordnung Nr. 2157/ 2001, KOM(2010) 676, S. 3. 20 Europäische Kommission (Fn. 19), S. 3 ff. 21 Europäische Kommission, Der „Small Business Act“ für Europa, KOM(2008) 394.

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II. Entstehung des Statut-Entwurfs der Societas Privata Europaea (SPE) 1. Ausgangslage Die Debatte zur Etablierung einer europäischen Privatgesellschaft wurde offiziell durch eine öffentliche Konsultation der europäischen Kommission im Jahr 2007 angestoßen. Der erste Vorschlag zu der zu erarbeitenden Verordnung wurde 2008 an das europäische Parlament und den Rat der europäischen Union übermittelt. Das Parlament hat in seiner Stellungnahme22 dem Vorschlag mit Anpassungen zugestimmt. Insbesondere wurden Veränderungen der Regelungen zum Mindestkapital, zur Rückerstattung zu hoher Ausschüttungen, zur Mitbestimmung und generell zur Vermeidung der Umgehung gesetzlicher Vorschriften der Mitgliedsstaaten angeregt. In den Anpassungen des Rates wurden einige der Vorschläge des europäischen Parlaments aufgegriffen und der Statut-Entwurf von 2008 wesentlich überarbeitet. Nach ersten Konsultationen wurden mit den Kompromissentwürfen während der schwedischen (2009) und der ungarischen (2011) Ratspräsidentschaft wesentliche Fortschritte erzielt. Dennoch ist für einige Regelungsbereiche noch keine finale Einigung gefunden. Auf diese wird im Folgenden kurz eingegangen. 2. Schwerpunkte in der Debatte über das Statut a) Mindestkapital Die Diskussion um die SPE begann vor der Vervollständigung des MoMiG. Seitdem ist der Trend zu sinkenden Gründungskapitalanforderungen in Europa generell vorangeschritten.23 Auch das GmbHG sieht inzwischen die Unternehmergesellschaft vor, die unter besonderen Auflagen und mit entsprechender Kennzeichnung ein Startkapital von einem Euro ausweisen darf. Der Kommissionsentwurf sah grundsätzlich ein Mindestkapital von einem Euro vor. Diese Regelung führte insbesondere in Ländern, bei denen die nationalen Kapitalgesellschaften ein höheres Mindestkapital kennen, zu Protesten. Durch den schwedischen Kompromissvorschlag wurde eingefügt, dass die Mitgliedstaaten ein jeweils höheres Mindestkapital festlegen dürfen, das jedoch 8.000 Euro nicht übersteigen darf.24 Um die Transparenz in Bezug auf die Kapitalausstattung zu erhöhen, sieht der Statut-Entwurf vor, dass Briefbögen und Bestellformulare der SPE das Kapital der SPE angeben müssen.25 b) Kapitalerhaltung Grundsätzlich ist laut Art. 21 des Statut-Entwurfs der maximal ausschüttbare Betrag auf das Nettoaktivvermögen abzüglich des Stammkapitals und der

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22 Europäisches Parlament, Stellungnahme P6_TA (2009) 0094, 2009. 23 Freudenberg/Rainer, Mindestkapital und Gründungshaftung in der SPE nach dem schwedischen Kompromissentwurf, NZG 2010, 527. 24 Diese Regelung ist 2 Jahre nach Inkrafttreten des Statuts durch die Europäische Kommission zu überprüfen. 25 Rat der Europäischen Union, Dok. 10611/11, „SPE Statut-Entwurf“, Art. 11 (2) c).

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gesetzlichen Rücklagen begrenzt. Dabei ist sowohl auf Eigenkapitalveränderungen nach dem entscheidenden Bilanzstichtag als auch noch nicht eingezahltes Kapital zu achten. Entgegen der ursprünglichen Fassung des Entwurfs ist in den Kompromissvorschlägen des Rates keine einheitliche Vorgabe zur Abschlusserstellung und zu Bilanzierungsstandards mehr enthalten. Vielmehr wird auf das maßgebende einzelstaatliche Recht verwiesen.26 Eine Gesellschaft müsste daher je nach Sitzstaat und den nationalen Bilanzierungsstandards unterschiedliche Ausschüttungsbeträge ermitteln. Dies ist besonders brisant, wenn unrealisierte Gewinne ergebniswirksam erfasst werden und somit ausgeschüttet werden dürfen (wie in der internationalen Rechnungslegung beispielsweise bei „percentage of completion“ Verträgen). Mit dem schwedischen Kompromissentwurf wurde den Mitgliedsländern eingeräumt, zusätzlich eine „Solvenzerklärung“ durch das geschäftsführende Gremium zu etablieren. Das Solvenzschutzmodell sieht vor, dass Auszahlungen an Gesellschafter nur erfolgen dürfen, wenn durch die Geschäftsführung eine schriftliche Aussage abgegeben wird, in der die Solvenz im Rahmen eines normalen Geschäftsverlaufs über den Zeitraum eines Jahres als gesichert erklärt wird. Ebenso wie beim Kapital, ist auch auf den Geschäftspapieren anzugeben, ob Ausschüttungen auf Basis eines Bilanz- oder Solvenztests vorgenommen werden. Das europäische Parlament hat eine grundsätzliche Pflicht zur Rückzahlung von ungerechtfertigten Ausschüttungen vorgeschlagen. Dagegen sieht der ungarische Kompromissvorschlag nur dann eine Rückgewähr von Ausschüttungen vor, wenn die SPE nachweist, dass der Gesellschafter sich der Tatsache bewusst gewesen sein muss, dass die Ausschüttung nicht hätte erfolgen dürfen.27 c) Sitzaufspaltung Der Europäische Gerichtshof erkennt, wie eingangs erwähnt,28 die Niederlassungsfreiheit von juristischen Personen innerhalb der EU an. Hierbei besteht die Rechtsform einer haftungsbeschränkten Gesellschaft auch in einem anderen als dem legislativen Heimatstaat fort. Diese Aufspaltung des Registersitzes (Einordnung des Rechtsrahmens) und Verwaltungssitzes (Zentrum der Tätigkeit) in zwei unterschiedlichen Mitgliedsstaaten war in der ersten Fassung des SPE Statut-Entwurfs explizit vorgesehen.29 Diese Vorgabe führte jedoch zu starkem Widerstand bei einigen Mitgliedsstaaten, die im Laufe der Zeit umfassende Regelungen in Bezug auf Schutzrechte der Gläubiger und Arbeitnehmer, sowie steuerliche Besonderheiten in der Gesetzgebung geschaffen hatten. Es bestand generell die Sorge, dass mit dem Umzug des Satzungssitzes ein Land mit einem weniger umfassenden Rechtsrahmen gewählt und somit der Ein-

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Rat der Europäischen Union, Dok. 10611/11, „SPE Statut-Entwurf“, Art. 26 (1). Rat der Europäischen Union, Dok. 10611/11, „SPE Statut-Entwurf“, Art. 22. S. oben bei Fn. 5, 6, 7. Europäische Kommission, Vorschlag für eine Verordnung des Rates über das Statut der SPE, KOM (2008) 396, Art. 7.

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fluss der nationalen Gesetzgeber unterwandert werden könnte. Durch den schwedischen Kompromissvorschlag wurde die generelle Freigabe zur Sitzaufspaltung gestrichen. Durch den ungarischen Kompromissvorschlag wurde in Art. 7 ergänzt, dass eine Sitzaufspaltung nur in Übereinstimmung mit der nationalen Gesetzgebung des Registersitzes durchgeführt werden kann. Dieser Vorschlag stellt letztlich nur im Falle der Umwandlung einer bestehenden nationalen Kapitalgesellschaft in eine SPE sicher, dass eine „strengere Gesetzgebung“ im Heimatland nicht umgangen wird. In anderen Fällen, wenn beispielhaft eine SPE zunächst in einem Mitgliedsstaat gegründet wird, der eine Sitzaufspaltung nicht untersagt und anschließend der Verwaltungssitz nach Deutschland verlegt wird, kann hierdurch kein Schutz erreicht werden. Daher sollte die Sitzaufspaltung nicht per se im Statut oder durch die nationalen Gesetzgeber untersagt werden. Es gilt vielmehr, eine gemeinsame Basis für Themen zu schaffen, bei denen eine Unterwanderung der nationalen Gesetzgebungen befürchtet wird. Als prominentestes Beispiel sei darum auf das Thema Mitbestimmung verwiesen. d) Mitbestimmung Die Mitbestimmung spielte bereits bei der Entstehung der SE eine wesentliche Rolle. Da eine Einigung auf ein Modell nicht möglich war, wurde eine Richtlinie in die Wiege der SE gelegt, mit der die Verordnung um mitbestimmungsrelevante Regelungen ergänzt und damit die Ausprägung der Mitbestimmung den Ländern in der nationalen Konkretisierung ermöglicht wurde.30 Auch bei der Entstehung der SPE war die Mitbestimmung bisher ein wesentliches Diskussionselement. Es existieren generell Befürchtungen, dass Mitbestimmungsmodelle, die bei den nationalen Kapitalgesellschaftsformen etabliert sind, oder durch den Firmensitz in einem Mitgliedsstaat kontrolliert werden können, unterwandert werden.31 Dem Grunde nach verweist der StatutEntwurf auf die Anforderungen zur Mitbestimmung in der Gesetzgebung des Sitzmitgliedsstaates.32 Wenn jedoch in einem vom Sitz abweichenden Land wesentliche Teile der Arbeitnehmer beschäftigt werden, wird auf die mit dem schwedischen Kompromissvorschlag hinzugefügten Art. 35a–d zurückgegriffen, die in ihrer Ausgestaltung sehr eng an der genannten Richtlinie gestaltet sind. Auch die Auffangklausel (Art. 35e), die sicherstellen soll, dass bestehende Mitbestimmungsrechte nicht durch eine Sitzverlegung verfallen sollen, wurde übernommen. Trotz dieser Regelungen kommen Bormann und Böttcher in ihrer Analyse zu dem Schluss, dass eine Unterwanderung der Mitbestimmung

__________ 30 Rat der Europäischen Union, Ergänzung des Statuts der Europäischen Gesellschaft hinsichtlich der Beteiligung der Arbeitnehmer, Richtlinie 2001/86/EG, 2001. 31 Rat der Europäischen Union, Dok. 10611/11, II Wichtigste noch offene Fragen. Außerdem Stellungnahme des Europäischen Parlaments (Fn. 22), Abänderung 74 und 76 des Statut-Entwurfs. 32 Rat der Europäischen Union, Dok. 10611/11, „SPE Statut-Entwurf“, Artikel 35.

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nur vermieden werden kann, wenn auf die Möglichkeit zur Sitzaufspaltung verzichtet wird.33 An dieser Stelle soll nicht weiter im Detail auf die Vorschläge zur Mitbestimmung im Statut eingegangen werden. Die Thematik ist kaum abschließend in der SPE Verordnung zu regeln. Letztlich wird sich die EU früher oder später umfassend mit einer Vereinheitlichung des Mitbestimmungsrechts auseinandersetzen müssen. 3. Fazit Der Entwurf des SPE Statut ist weit fortgeschritten. Wesentliche Elemente finden bereits breiten Konsens in den Mitgliedsstaaten der EU. Es ist nicht zu erwarten, dass die offenen Themenstellungen den Gesetzgebungsprozess endgültig scheitern lassen. So stellen die Regelungen zum Mindestkapital, insbesondere im Verhältnis zu anderen bestehenden Gesellschaftsformen, keinen schwerwiegenden Unterschied mehr dar. In Bezug auf die Regelungen zur Kapitalerhaltung ist dringend darauf zu achten, dass keine Kompromisslösung das Vertrauen in die SPE generell unterminiert. Die Form der Solvenzsicherung sollte transparent und in allen Mitgliedsstaaten nachvollziehbar sein. Bei der Sitzaufspaltung sollte nicht die Sitzaufspaltung an sich, sondern die nachgelagerten Problemstellungen im Zentrum der Diskussion stehen. Eine Vermeidung der Sitzaufspaltung in einigen wenigen Ländern ist letztlich nicht zeitgemäß und läuft dem Gedanken eines gemeinsamen Binnenmarktes entgegen. Insbesondere mitbestimmungsrechtliche Bedenken von deutscher Seite scheinen zuletzt die Finalisierung des SPE Statuts in Form des Kompromissvorschlags der ungarischen Ratspräsidentschaft verhindert zu haben.34 Die Mitgliedsstaaten sollten zügig eine gemeinsame Position zur Vermeidung fiskalischer Folgen und eine umfassende Lösung zum Thema Mitbestimmung entwickeln. Diesbezüglich hat die EU schon einmal bei der Diskussion der SE bewiesen, dass eine gemeinsame Perspektive zu den nötigsten Regelungssachverhalten möglich ist, wenn die Vorteile der gemeinsamen Rechtsform in den Vordergrund gestellt werden. Das steigende Interesse der Wirtschaft an einer Lösung fand beispielsweise Ausdruck in einem offenen Brief von Maschinenbau-Unternehmen an den Bundestag.35 Sie forderten, ein deutliches Zeichen für den Mittelstand zu setzen. Danach soll der Weg für die SPE möglichst bald geebnet werden.

__________ 33 Bormann/Böttcher, Vermeidungsstrategien bei der unternehmerischen Mitbestimmung in der SPE auf der Grundlage des ungarischen Kompromissvorschlags, NZG 2011, 411. 34 Handelsblatt v. 24.6.2011, Europa-GmbH steht vor dem Aus. 35 Handelsblatt v. 23./24.9.2011, Maschinenbauer fordern Europa-GmbH.

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III. Angemessenheit der Regelungen des SPE Statuts 1. Regelungsumfang des SPE Statuts Das SPE Statut soll als EU Verordnung unmittelbare Wirkung innerhalb der Europäischen Union entfalten. Die wesentlichen Merkmale der SPE, wie zum Beispiel Haftungsbeschränkung, nicht-Öffentlichkeit und grenzüberschreitender Bezug36 sind verbindlich im Statut geregelt. Die Ausgestaltung der Gesellschaft im Innenverhältnis ist im Wesentlichen frei. Das Statut schafft lediglich einen Rahmen und trifft Vorgaben darüber, welche Inhalte in der Gesellschaftssatzung zu regeln sind. Wird von der Möglichkeit, diese Themenfelder in der Satzung zu behandeln, kein Gebrauch gemacht, wird auf die Regelung in der nationalen Gesetzgebung des Sitzstaates zurückgegriffen. (Vergleiche hierzu auch IV.) Basis für die anstehende Analyse ist die von der Kommission vorgeschlagene Verordnung über die europäische Privatgesellschaft37 einschließlich der Ergänzungen des bisherigen Kompromissprozesses im Rat der Europäischen Union. Das sind insbesondere die Kompromissvorschläge der schwedischen und ungarischen Ratspräsidentschaft.38 Zum Zeitpunkt dieses Aufsatzes im Oktober 2011 sind neben den eingangs genannten Themenstellungen keine wesentlichen Veränderungen auf dem Weg zur Fertigstellung des Statuts zu erwarten. 2. Prüfung wesentlicher Regelungsaspekte Im Folgenden wird nun auf die Frage eingegangen, inwiefern der aktuelle Entwurf für eine SPE die in der Einleitung genannten Bedürfnisse von KMUs an eine europäische Kapitalgesellschaft erfüllt. Damit wird kein Vergleich mit bestehenden nationalen oder europäischen Rechtsformen angestrebt. Vielmehr geht es um eine Verprobung der Tauglichkeit des Regelungsstatuts für KMUs. Im Fokus dieser Verprobung stehen genau jene Kriterien, die KMUs, obwohl ein Bedarf nach einer europäischen Rechtsform besteht, davon abhalten, die Rechtsform der SE zu wählen: Gründung, Kapital, Verfassung und Leitungsstruktur, sowie Verfahrensfragen und Anteilskontrolle. a) Gründung Der Regelungsentwurf benennt in Art. 5 die Wege zur Gründung einer SPE: Neugründung, Umwandlung oder Verschmelzung. Somit ist eine unmittelbare Gründung möglich (im Gegensatz zur SE, bei der zunächst nationale Gesellschaften zu gründen sind). Die wesentlichen im Außenverhältnis wirksamen Sachverhalte sind unmittelbar in Art. 8 genannt und somit verpflichtend für

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36 Rat der Europäischen Union, Dok. 10611/11, „SPE Statut-Entwurf“, Art. 3. 37 Europäische Kommission, Vorschlag für eine Verordnung des Rates über das Statut der SPE, KOM(2008) 396. 38 Rat der Europäischen Union, Dok. 10611/11, „SPE Statut-Entwurf“.

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alle SPEs anzuwenden (z. B. Festlegung des Gesellschaftskapitals, der Firma, der Art des geschäftsführenden Gremiums sowie Nennung der Gesellschafter). Darüber hinaus werden durch die Gesellschafter in der Satzung zu definierende Sachverhalte aufgelistet. Die Gründung einer Ein-Gesellschafter SPE ist möglich.39 Bei einer Neugründung sind grundsätzlich die folgenden Schritte zu durchlaufen: Festlegung der Gesellschaftssatzung, Zeichnung des Kapitals, Unterschrift der Gründer und Eintragung beim zuständigen Registergericht sowie Veröffentlichung der Eintragung. Für die Form gelten die Vorschriften der nationalen Gesetzgebung. In Deutschland liegt noch kein Entwurf für das ergänzende Umsetzungsgesetz vor. Zu erwarten ist analog zum GmbHG eine notarielle Beurkundung als Formerfordernis (§ 2 GmbHG). Der Umfang der Unterlagen zur Anmeldung ist verbindlich festgelegt und darf durch die Mitgliedsstaaten nicht erweitert werden. Hierbei ist anzumerken, dass der Umfang der einzureichenden Unterlagen ein übliches Maß für die Errichtung einer Kapitalgesellschaft, wie Satzung, Kapital, Gesellschafter, Geschäftsführung etc. vorsieht. Mit Eintragung der Gesellschaft beim Registergericht erlangt die SPE Rechtspersönlichkeit. In Bezug auf die Gründung einer SPE werden wesentliche Ziele für eine einheitliche europäische Rechtsform erfüllt. Der Gründungsprozess ist gegenüber der SE stark vereinfacht und stellt die Dokumentation der Regelungen zwischen den Gesellschaftern ins Zentrum. Zu den tatsächlichen Kosten einer Gründung gibt es noch keine verbindlichen Schätzungen. Sie dürften in etwa den Kosten der Gründung einer deutschen GmbH entsprechen. Einmal aufgesetzt, lässt sich ein Standard SPE-Konstrukt etablieren und anschließend zum Aufbau einer Unternehmensgruppe in den Mitgliedsstaaten der EU verwenden. Der Weg für deutliche Kosteneinsparungen aufgrund sinkender Komplexität wäre bereitet. b) Kapital Je nach nationaler Konkretisierung gibt es ein Mindestkapital von einem Euro oder einen Mindestbetrag bis zu 8.000 Euro. Das Kapital muss vollständig gezeichnet, allerdings nicht voll einbezahlt sein. Bei Bareinzahlung sieht Art. 20 eine Untergrenze von 25 % des übernommenen Eigenkapitalanteils vor. Insgesamt ist in Mitgliedsstaaten, die ein Mindestkapital festgelegt haben, dieser Betrag zur Gründung nachzuweisen. Darüber hinaus ist der übersteigende Kapitalbetrag zu mindestens 25 % einzuzahlen. Sachgründungen bzw. Sacheinzahlungen sind möglich. Sie haben bei Anteilsübernahme vollständig zu erfolgen. Bezüglich der Prüfungserfordernisse durch einen Sachverständigen sind die Mitgliedsstaaten frei, Entsprechendes festzulegen. Sollte sich eine Sacheinlage nicht als werthaltig erweisen, so ist der Unterschiedsbetrag nachzuzahlen.

__________ 39 Rat der Europäischen Union, Dok. 10611/11, „SPE Statut-Entwurf“, Art. 28 (5).

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Die Anforderungen zur initialen Kapitalausstattung sowie für Sachgründungen erlauben den Gesellschaftern ausreichend Spielraum und sind aus Sicht der Gesellschafter40 positiv zu bewerten. Da das haftende Kapital von den Gesellschaftern frei festgelegt werden kann (abgesehen von einer möglichen Untergrenze von 8.000 Euro), sind sie in der Lage, die Kapitalausstattung vollständig an die Bedürfnisse ihrer Geschäftsbeziehungen anzupassen und entsprechend zu kommunizieren. Der geringe Anteil an verpflichtend einzuzahlendem Stammkapital lässt Flexibilität bei der Neugründung von Unternehmen zu. So kann die Haftsumme bereits dem künftigen Geschäftsmodell entsprechen. Es müssen aber nicht zwangsläufig liquide Mittel gebunden werden. Auch die Gestaltung der Regelungen zu Ausschüttungen lassen sich durch die Gesellschafter relativ frei festlegen. Die Obergrenze des ausschüttbaren Betrages wird, wie eingangs erwähnt, durch das Statut bestimmt. Grundsätzlich wird eine Ausschüttung mit einfacher Mehrheit der an das Kapital geknüpften Stimmrechte beschlossen. Auch hier können jedoch abweichende Regelungen in der Satzung getroffen werden. Der Aufwand der eventuell zu erstellenden Solvenzbescheinigung ist von der Ausgestaltung in den nationalen Umsetzungsgesetzen abhängig und daher schwer abzuschätzen. Mit Ausnahme der angesprochenen Solvenzbescheinigung, die zusätzlichen Dokumentationsbedarf hervorrufen dürfte, werden die Bedürfnisse von KMUs durch den Statut-Entwurf erfüllt. Die Freiheit bei der Höhe des Eigenkapitals, beim Grad der initialen Kapitalausstattung und bezüglich der Gestaltung der Ausschüttung erfüllt den derzeit nicht durch eine europäische Rechtsform abgedeckten Bedarf nach geringer Formalisierung und Flexibilität für einen kleinen Gesellschafterkreis. c) Verfassung und Leitungsstruktur Bei der insbesondere für KMUs wesentlichen Fragestellung zur Leitungsstruktur spielt die SPE ihren entscheidenden Vorteil aus. Das Statut hält in Art. 8 lediglich fest, dass der Typ des geschäftsführenden Gremiums sowie das eventuell erforderliche Aufsichtsgremium in der Satzung festzulegen sind. Es besteht bei Gründung ein Gestaltungsrecht wie die Geschäftsführungsgremien aufgesetzt werden. Dadurch sind die Gesellschafter eines KMUs weitgehend frei, wie sie das Leitungsgremium an den Gesellschafterkreis anbinden. Diese Flexibilität gibt den KMUs den nötigen Freiraum, die SPE-Satzung an ihre spezifischen Bedürfnisse anzupassen. Dies gilt insbesondere bei der Vorbereitung europaweiter Strukturen für Unternehmensgruppen. Jede Freiheit in Bezug auf die Ausgestaltung der Satzung bedeutet im Zweifel Bedarf nach juristischer Unterstützung, um Regelungslücken oder ungewollte Effekte ausschließen zu können. Diese kann die Attraktivität der Gesellschaftsform einschränken. Wesentlich vereinfachend können hier Beispieltexte und Mustersatzungen wirken. So müsste lediglich bei jenen SPEs, die

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40 An dieser Stelle werden die Vorteile für KMUs erörtert, nicht regelungspolitische Fragestellungen zur Problematik von nur teilweise einbezahltem Haftkapital.

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Sonderregelungen benötigen, auf juristische Gutachten zurückgegriffen werden. Für alle anderen Fälle könnte durch verbindliche Mustersatzungen im Anhang zum Statut Rechtssicherheit geschaffen werden.41 d) Verfahrensfragen Wie in den vorangegangenen Abschnitten bereits beschrieben, bestimmen die Gesellschafter über die Ausgestaltung der Gesellschaftssatzung den Großteil der Regelungen für den Umgang miteinander. Im Statut-Entwurf sind lediglich einige grundlegende Vorgaben zum Schutz von Gesellschaftergruppen vorgesehen. Der Kreis der Gesellschafter ist in einer durch die SPE zu führenden Gesellschafterliste festzuhalten. Hierin werden auch die entsprechenden Anteile am Gesellschaftskapital erfasst. Die Liste stellt die Basis für die Ausübung gesellschafterlicher Rechte und Pflichten dar und wird durch die Geschäftsführung gepflegt.42 Die Gesellschafter stellen das oberste Entscheidungsgremium. Veränderungen der Satzung, der Kapitalausstattung oder andere wesentliche Veränderungen setzen eine Mehrheit von mindestens zwei Dritteln des Kapitals voraus. Die Satzung kann hiervon abweichend nur höhere Grenzwerte definieren. Alle anderen Gesellschafterbeschlüsse sind grundsätzlich mit einfacher Mehrheit zu treffen. Eine abweichende Regelung in der Satzung ist möglich. Dies gilt zum Beispiel für die Bestellung und Entlassung der Geschäftsführung, der Feststellung des Jahresabschlusses und für Ausschüttungsbeschlüsse. Die Mitgliedstaaten können festlegen, dass die Feststellung des Jahresabschlusses nicht verpflichtend durch die Gesellschafterversammlung zu erfolgen hat. Informationsrechte der Gesellschafter gegenüber der Geschäftsführung sind als Schutzrecht unmittelbar im SPE Statut festgeschrieben (Art. 19). Wenn die Geschäftsführung Fragen beantwortet, sind Fragestellung und Antworten allen Gesellschaftern offenzulegen. Darüber hinaus können Anteilseigner, die mindestens 5 % der Stimmrechte auf sich vereinigen, die Geschäftsführung auffordern, einen Entscheidungsvorschlag in den Kreis der Gesellschafter zu geben. Auf Antrag von 10 % des vertretenen Kapitals muss die Geschäftsführung eine Gesellschafterversammlung einberufen. Diese Grenzsätze können durch die Satzung lediglich unterschritten werden. Die Vorgaben zu Verfahrensfragen sind auf ein nötiges Minimum begrenzt und werden eher den Alltag zur Steuerung von KMUs erleichtern, als zusätzliche Hürden aufzubauen. Insbesondere ist die Möglichkeit zur schriftlichen Beschlussfassung ohne die Einberufung einer Gesellschafterversammlung positiv zu bewerten.

__________ 41 Bereits gefordert in der Empfehlung des Europäischen Parlaments zu Erarbeitung des Statuts, P6_TA (2007) 0023, Empfehlung 8. Außerdem in der Stellungnahme zum Statut-Entwurf (Fn. 22), Abänderung 20 und 79 zu Art. 8, sowie Abänderung 63. 42 Rat der Europäischen Union, Dok. 10611/11, „SPE Statut-Entwurf“, Art. 15 (1).

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e) Anteilskontrolle Art. 16 verweist in Bezug auf die Veräußerung und Übertragung von Gesellschaftsanteilen auf nationales Recht. Danach wäre in Deutschland eine Übertragung von Gesellschaftsanteilen mittels eines notariell beurkundeten Vertrages möglich. Eine Erweiterung der Gesellschaftssatzung zur Beschränkung der Übertragbarkeit von Anteilen erfordert die Zustimmung aller Betroffenen, ist jedoch grundsätzlich möglich. Der Ausschluss eines Gesellschafters war in der ursprünglichen Fassung des Statuts in Art. 17 durch gerichtlichen Beschluss vorgesehen. Diese Regelung wurde im Rahmen des Kompromissverfahrens gelöscht. Es kommt einzelstaatliches Recht zur Anwendung. In Deutschland ergibt sich daher durch die Streichung kein Unterschied zu bestehenden Rechtsformen. Das SPE-Statut überlässt auch in diesem Fall die Ausgestaltung der Übertragung von Anteilen grundsätzlich den Gründern in der Satzung. Diese Freiheit ist von wesentlicher Bedeutung für KMUs, die sich gegen das Eindringen fremder Gesellschafter schützen wollen (z. B. Familienunternehmen oder Zulieferer mit Auflagen durch ihren Hauptkunden). f) Fazit Die SPE bietet dem Gründer- und Gesellschafterkreis umfangreiche Freiheiten. Damit werden die besonderen Bedürfnisse von KMUs erfüllt. So schafft die SPE den Rahmen für Kapitalgesellschaften mit einem klar definierten Gesellschafterkreis. Damit grenzt sie sich klar zur SE ab, die vorwiegend auf anonyme Kapitalmärkte ausgelegt ist. Die Freiheit in der Ausgestaltung kann für KMUs gewisse Risiken bergen, wenn einzelne Regelungen aufgrund fehlender Vorlagen oder ohne rechtlichen Beistand ungenügend konkretisiert werden. Dieser Sorge möglicher Anwender lässt sich allerdings mit verbindlichen Mustersatzungen und im Zeitverlauf durch die Etablierung gelebter Standards innerhalb der EU begegnen. Zunächst mag der Beratungsbedarf gegenüber den vielfältigen nationalen Rechtsformen daher nicht sinken. Mittelfristig ist aber mit einer zunehmenden Standardisierung zu rechnen. Die SPE hat ein beträchtliches Potential, die Bedürfnisse von KMUs im europäischen Binnenmarkt abzubilden und sollte daher so schnell wie möglich geschaffen werden. Darüber hinaus sollte der europäische Gesetzgeber seiner Verantwortung gerecht werden und zur Erhöhung der Rechtssicherheit Mustersatzungen in den Anhang des Statut-Entwurfs einbinden.

IV. Weitere europäische Harmonisierung 1. Großer Anteil an Verweisungen auf einzelstaatliches Recht SPEs unterliegen zunächst den Regelungen der Verordnung und der durch die Gesellschafter etablierten Satzung. Ist das nicht der Fall, wird auf ergänzende Rechtsvorschriften in den Mitgliedsstaaten oder auf das Recht der jeweiligen 298

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haftungsbeschränkten Privatgesellschaften (Anhang II nennt für Deutschland die GmbH) der Länder zurückgegriffen.43 Bereits in den Vorüberlegungen zur Kommissionsfassung des Statut-Entwurfs war im Sinne von Effizienzgewinnen und Kosteneinsparungen festgehalten, dass die SPE-Ausprägungen in den jeweiligen Ländern so wenig Abweichungen vom Statut wie möglich zeigen sollten.44 So waren ursprünglich nur Verweise auf einzelstaatliches Recht für die Themen Insolvenzrecht, Arbeitsrecht und Besteuerung geplant, um den Umfang des Statuts auf die Ausgestaltung der neuen Gesellschaftsform zu beschränken.45 Mit den Überarbeitungen des Rates stieg allerdings die Zahl dieser Verweise deutlich an. Das Statut nach dem ungarischen Kompromissvorschlag regelt auch Details der Vorgaben zu Mindestkapital, Sitzaufspaltung, Einbeziehung von Sachverständigen bei Sachgründungen, die Feststellung des Jahresabschlusses, Bilanzierung und einen möglichen Solvenztest zur Ausschüttungsbemessung, ebenso wie den Ausschluss und das Ausscheiden von Gesellschaftern, Haftung sowie Sanktionen über Verweise in das Recht der Mitgliedsstaaten.46 Während die Kompromisslösungen vermutlich ohne entsprechende Verweise nicht hätten gefunden werden können und sie somit einen wesentlichen Beitrag zur Entstehung der SPE leisten, widersprechen sie jedoch dem Ziel einer Vereinheitlichung. Sie setzen weiterhin Verständnis des einzelstaatlichen Rechts beim Anwender voraus. Hierin liegt ein großes Risiko für die Akzeptanz der neuen Gesellschaftsform. Daher sollte erwogen werden, alle Verweise des Statuts nach einem gewissen Zeitraum auf den Prüfstand zu stellen, um eventuell nach einigen Jahren eine Vereinheitlichung weiter voranzutreiben. Eine ähnliche Regelung findet sich bereits in den Vorgaben zum Mindestkapital in Art. 19 des Statut-Entwurfs. Auf eine weitere Vereinheitlichung innerhalb der EU lässt darüber hinaus die Initiative zu einer gemeinsamen konsolidierten Körperschaftsteuer-Bemessungsgrundlage (GKKB)47 hoffen. 2. Bilanzierung a) Einheitliche Bilanzierung bei der SE Die Verordnung zur SE legt fest, dass die Bilanzierungsregelungen durch das Recht des Sitzstaates definiert werden (Art. 61). Die Jahresabschlüsse europäischer Gesellschaften sind daher regelmäßig nicht zwischen SEs mit abwei-

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Rat der Europäischen Union, Dok. 10611/11, „SPE Statut-Entwurf“, Art. 4. Rat der Europäischen Union, Dok. 10611/11, „SPE Statut-Entwurf“, Erwägung Nr. 5. Rat der Europäischen Union, Dok. 10611/11, „SPE Statut-Entwurf“, Erwägung Nr. 6. Darüber hinaus auch die Übertragung von Geschäftsanteilen, den Umfang des Gesellschafterverzeichnisses, Einspruchsrechte. 47 Europäische Kommission, Vorschlag für eine Richtlinie des Rates über eine gemeinsame konsolidierte Körperschaftsteuer-Bemessungsgrundlage, KOM(2011) 0121.

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chenden Sitzländern vergleichbar. SEs, wie andere Aktiengesellschaften, sind jedoch sehr häufig Muttergesellschaften von Konzernen und darüber hinaus börsennotiert. Aus diesem Grund spielen für SEs vor allem Konzernabschlüsse eine Rolle, die bei börsennotierten Unternehmen nach den durch die EU übernommenen IFRS aufzustellen sind.48 Hierdurch wird für einen Großteil der SEs ein de-facto Standard in Form der EU-IFRS geschaffen, der nicht in der Gesellschaftsform als solcher, sondern eher in der Art des Unternehmens seine Begründung findet. b) Bilanzierung bei der SPE Im Verordnungsentwurf wird für die Erstellung, Vorlage, Prüfung und Veröffentlichung von Abschlüssen auf die Vorschriften des anwendbaren einzelstaatlichen Rechts verwiesen.49 Der Alltag von KMUs wird allerdings insbesondere durch verschiedenartige Bilanzierungsvorschriften in den jeweiligen Ländern belastet. Eine Vergleichbarkeit der Abschlüsse von SPEs in verschiedenen Ländern kann so nicht erreicht werden und schafft Blockaden für grenzüberschreitende Investitionen. Die Vereinheitlichungsbemühungen dürfen daher nicht mit der Schaffung des gesellschaftsrechtlichen Rahmens enden. Sicherlich ist die SPE nicht das geeignete Vehikel, um eine Vereinheitlichung der Rechnungslegungsstandards zu erreichen. Sie könnte allerdings einen Auslöser für notwendige nächste Schritte sein. Der Anwendung internationaler Rechnungslegungsstandards in Deutschland standen bisher vor allem die Überleitung zur Steuerbilanz und die Berechnung der Ausschüttung entgegen. Spätestens mit der Einführung des BilMoG ist allerdings auch in Deutschland fraglich geworden, inwieweit das Ziel einer Einheitsbilanz aufrecht erhalten werden kann. So finden sich bei der Wahrnehmung bestimmter Bilanzierungswahlrechte (Latente Steuern und Aktivierung von Entwicklungskosten) auch bereits Vorgaben zu Ausschüttungssperren im HGB. Im Sinne einer weiteren Vereinheitlichung und Erleichterungen in der täglichen Praxis sollte der nächste mutige Schritt, die Erarbeitung gemeinsamer Bilanzierungsstandards, im Vordergrund stehen. Die IFRS for SMEs wurden zwar zu diesem Zweck etabliert, konnten sich bisher jedoch nicht in der Gesetzgebung der Mitgliedsstaaten durchsetzen. Möglicherweise werden Sorgen vor Überausschüttungen mit einer Ergänzung des Solvenztests der SPE um gewisse Ausschüttungssperren beantwortet.

__________ 48 Rat der Europäischen Union, Verordnung 1606/2002. In Deutschland findet § 315a HGB Anwendung. 49 Rat der Europäischen Union, Dok. 10611/11, „SPE Statut-Entwurf“, Art. 26.

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Eine andere Lösung wäre, ein Euro-HGB zu schaffen. Dies könnte auf kontinentaleuropäischen Handelsgesetzbüchern aufsetzen und einen Kontrapunkt zur internationalen Rechnungslegung bilden. Klar ist allerdings, dass im Sinne einer zügigen Lösung das SPE Statut zunächst ohne eine Vereinheitlichung der Vorgaben zur Rechnungslegung verabschiedet werden sollte. Ein Modell für eine einheitliche Bilanzierung ist daher leider noch nicht in greifbarer Nähe. 3. Fazit Mit der Etablierung einer gemeinsamen europäischen Rechtsform für Privatgesellschaften wird ein wesentlicher Schritt in Richtung der Vereinfachung transeuropäischen Handels auch für kleine und mittelständische Unternehmen geschaffen. In der weiteren Entwicklung der SPE ist zwingend darauf zu achten, dass Verweisungen auf nationales Recht nicht den ursprünglichen Zweck der innereuropäischen Vereinheitlichung konterkarieren. Darüber hinaus wird aber auch deutlich, dass im Sinne europäischer Vergleichbarkeit und Transparenz die Vereinheitlichungsbemühungen nicht bei gemeinsamen Rechtsformen für Kapitalgesellschaften enden dürfen: Bilanzierung für KMUs, Bemessungsgrundlagen für Unternehmenssteuern und Haftungsregelungen sollten perspektivisch unter einen europäischen Mantel gestellt werden.

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Die Umplatzierung von Aktien und das Verbot der Einlagenrückgewähr Folgerungen aus der „DTAG“-Entscheidung des BGH, insbesondere hinsichtlich des Regresses des Aktionärs

Inhaltsübersicht I. Einführung II. Grundlagen 1. Prospekthaftung der Gesellschaft, nicht des Aktionärs 2. Aktienrechtliche Vermögensbindung III. Risikoübernahme und aktienrechtlicher Vermögensschutz 1. Zur Frage der Maßgeblichkeit der bilanziellen Betrachtungsweise 2. Kompensation der Risikoübernahme durch Freistellungsanspruch 3. Kompensation der Risikoübernahme nur durch Freistellungsanspruch? 4. Gemischte Platzierung

IV. Ausgestaltung und weitere Abwicklung der Freistellungszusage 1. Überblick 2. Pflicht zur Abtretung von Ersatzansprüchen gegen Dritte im Allgemeinen a) Unanwendbarkeit des § 255 BGB b) Drittschadensliquidation 3. Ansprüche aus § 93 Abs. 2 Satz 1 AktG im Besonderen a) Abtretbarkeit b) Zuständigkeit c) Gesellschaftsinteresse und Forderungszession 4. Fälligkeit des Anspruchs auf Abtretung – zur Frage eines Zurückbehaltungsrechts des Freistellungsschuldners V. Fazit

I. Einführung Great cases like hard cases make bad law. Ein Urteil, dem gar ein Sachverhalt zugrunde liegt, der sowohl auf das große Interesse der Fachwelt und weiterer Kreise stößt als auch ganz und gar atypischer Natur ist, wäre danach mit besonderer Vorsicht zu genießen. Das Urteil des II. Zivilsenats des BGH vom 31.5.2011 in Sachen Deutsche Telekom AG ./. Bund und KfW1 bietet eine gute Gelegenheit, die Eingangssentenz auf ihre Berechtigung zu überprüfen. Dass nämlich die Deutsche Telekom AG ihre beiden Großaktionäre – den Bund und die KfW – auf Erstattung des von ihr zum Zwecke der vergleichsweisen Bereinigung einer auf der Fehlerhaftigkeit eines Verkaufsprospekts gründenden Sammelklage in den USA geleisteten Betrags nebst Rechtsverteidigungskosten

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1 BGH, AG 2011, 548 = ZIP 2011, 1306 = NZG 2011, 829; die Beiträge von Nodoushani in ZIP 2012, 97 und Arnold/Aubel in ZGR 2012, 113 konnten nicht mehr berücksichtigt werden.

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– zusammen immerhin gut 112 Mio. Euro – in Anspruch nimmt, begegnet gewiss nicht alle Tage und verdient das Prädikat „great“. Der Umstand, dass der Verkaufsprospekt, für den die Deutsche Telekom AG die Prospektverantwortung übernommen hatte, allein der Platzierung von Altaktien der KfW diente, ohne dass daneben auch aus einer Kapitalerhöhung stammende Aktien der Gesellschaft angeboten wurden, der Emissionserlös mithin ausschließlich den Altaktionären zugute kam, und die Aktien der Gesellschaft längst an allen deutschen Wertpapierbörsen gehandelt wurden und in Form von American Depositary Receipts auch zum Handel an der New York Stock Exchange zugelassen waren, verleiht dem Fall atypischen Charakter und rechtfertigt das Prädikat „hard“.2 Der II. Zivilsenat des BGH hat bekanntlich in der Übernahme des Prospekthaftungsrisikos durch die Deutsche Telekom AG ohne gleichzeitige Freistellung der Gesellschaft von Prospekthaftungsrisiken durch die ihre Aktien abgebende KfW eine nach § 57 Abs. 1 Satz 1 AktG verbotene Auszahlung an die KfW erblickt. Was den Bund anbelangt, so hat der Senat das Vorliegen sowohl eines Beherrschungsverhältnisses im Sinne des § 17 Abs. 1 AktG als auch eines kompensationslos gebliebenen Nachteils bejaht und dem Berufungsgericht aufgegeben, zur Frage einer Veranlassung der Deutsche Telekom AG zum öffentlichen Angebot der Aktien der KfW Feststellungen zu treffen, mithin zu erkennen gegeben, dass die Übernahme des Prospekthaftungsrisikos ohne Freistellungszusage der KfW die Haftung des Bundes aus § 317 Abs. 1 Satz 1 AktG – und mit ihr nach Maßgabe der §§ 317 Abs. 3, 318 Abs. 1, 2 AktG die Haftung des gesetzlichen Vertreters des herrschenden Unternehmens und der Organwalter der Deutsche Telekom – nach sich ziehen kann.3 Das Urteil wirft eine Reihe reizvoller Fragen des Aktienrechts auf, denen im Folgenden näher nachzugehen ist. So ist bereits die Annahme des BGH, dass die Übernahme von Prospekthaftungsrisiken unter Verzicht auf eine Freistellungsverpflichtung der die Aktien abgebenden Aktionäre eine unzulässige Einlagenrückgewähr darstelle, überprüfungsbedürftig, zumal im Lichte des durch das MoMiG4 eingeführten § 57 Abs. 1 Satz 3 AktG. Auch fragt sich, ob die BGH-

__________ 2 Der atypische Charakter des „DTAG“-Sachverhalts wird zu Recht betont vom Arbeitskreis zum „Deutsche Telekom III Urteil“ des BGH, CFL 2011, 377 f.; Kremer/ Gillessen/Kiefner, CFL 2011, 328, 332 f. 3 Zu den – im Folgen aus Raumgründen nicht erörterten – spezifischen Fragen der §§ 311 ff. AktG s. im vorliegenden Zusammenhang namentlich Leuschner, NJW 2011, 3275 ff. 4 Gesetz zur Modernisierung des GmbH-Rechts und zur Bekämpfung von Missbräuchen (MoMiG) v. 23.10.2008, BGBl. I 2008, 2026; s. dazu RegE, BT-Drucks. 16/6140 = BR-Drucks. 354/07 = ZIP 2007, Beil. zu Heft 23; Stellungnahme des Bundesrates v. 6.7.2007 und Gegenäußerung der Bundesregierung v. 5.9.2007, BT-Drucks. 16/6140; Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses v. 18.6.2008, BT-Drucks. 16/9737 (dazu Seibert/Decker, ZIP 2008, 1208 ff.); zu dem im Februar 2006 vorgelegten Referentenentwurf s. Noack, DB 2006, 1475; Seibert, ZIP 2006, 1157 ff.; Schäfer, DStR 2006, 2085 ff. Einführung und umfassende Dokumentation des Gesetzgebungsverfahrens mit Abdruck aller Texte bei Goette, Einführung in das neue GmbH-Recht, 2008.

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Grundsätze für den ausschließlich aus Altaktien bestückten Börsengang einer bislang nicht börsennotierten Gesellschaft sowie für den – durchaus typischen – Fall, dass neben Altaktien auch junge Aktien platziert werden und deshalb ein Teil des Emissionserlöses der Gesellschaft zufließt, Geltung beanspruchen. Lässt man sich auf die Argumentation des BGH ein, so verbinden sich mit der als unerlässlich angesehenen Freistellungszusage Folgefragen, und zwar nicht zuletzt deshalb, weil der zur Freistellung verpflichtete Aktionär daran interessiert sein wird, seinerseits Regress bei den für den Prospektfehler Verantwortlichen, darunter insbesondere den Organwaltern der Gesellschaft, zu nehmen. Peter Hommelhoff, dem dieser Beitrag in herzlicher Verbundenheit und als Zeichen der dankbaren Erinnerung an gemeinsame Heidelberger Jahre gewidmet ist, hat sich, beginnend mit seiner großen Schrift über die Konzernleitungspflicht,5 immer wieder mit Fragen des Aktienrechts befasst; in der 2009 erschienenen 17. Auflage des Lutter/Hommelhoff stammt zudem die Kommentierung der Kapitalerhaltungsvorschriften der §§ 30 bis 32 GmbHG, deren aktienrechtliches Pendent – nämlich §§ 57, 62 AktG – im Folgenden ganz im Vordergrund stehen sollen, aus seiner Feder. Dieser Befund mag die Hoffnung rechtfertigen, dass die nachfolgenden Überlegungen auf das Interesse des verehrten Jubilars stoßen werden.

II. Grundlagen 1. Prospekthaftung der Gesellschaft, nicht des Aktionärs Die Problematik, um die es im Folgenden geht, rührt daher, dass sich die Gesellschaft bei der Umplatzierung von Altaktien, sofern sie an der Börse und damit auf der Grundlage eines Wertpapierprospekts erfolgt, dem Risiko der Prospekthaftung aussetzt, obgleich der Platzierungserlös den Altaktionären zufließt. Bei erstmaliger Zulassung der Altaktien zum Handel an einer inländischen Börse ergibt sich die Haftung der Gesellschaft aus § 21 WpPG;6 bei der Umplatzierung von bereits zugelassenen Aktien haftet die Gesellschaft nunmehr aus § 22 WpPG.7 Der abgebende Aktionär hingegen unterliegt der Prospekthaftung nur, wenn er als Prospektveranlasser im Sinne des § 21 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 WpPG eingestuft werden kann. Dies wiederum setzt nach herrschender Meinung voraus, dass der Aktionär in einer Weise auf den Inhalt des Prospekts

__________ 5 Hommelhoff, Die Konzernleitungspflicht – Zentrale Aspekte eines Konzernverfassungsrechts, 1982. 6 Die Neuregelung der Prospekthaftung ist durch das Gesetz zur Novellierung des Finanzanlagenvermittler- und Vermögensanlagenrechts v. 6.12.2011, BGBl. I 2011, 2481, erfolgt; dazu Lorenz/Schönemann/Wolf, CLF 2011, 346 ff. 7 Zur Rechtslage nach altem Recht – analoge Anwendung der §§ 13, 13a VerkProspG a. F. – s. Groß, Kapitalmarktrecht, 4. Aufl. 2009, § 13 VerkProspG Rz. 3 f.; Habersack in Habersack/Mülbert/Schlitt, Handbuch der Kapitalmarktinformation, 2008, § 28 Rz. 59; Mülbert/Steup in Habersack/Mülbert/Schlitt, Unternehmensfinanzierung am Kapitalmarkt, 2. Aufl. 2008, § 33 Rz. 19; Schäfer, ZIP 2010, 1877, 1878 f.

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Einfluss genommen hat, die über die Bereitstellung von Material hinausgeht,8 was im Allgemeinen nicht der Fall sein wird. 2. Aktienrechtliche Vermögensbindung Mit dem Risiko der Außenhaftung nach §§ 21 ff. WpPG verbindet sich für das Innenverhältnis der Gesellschaft zum abgebenden Aktionär die Frage, ob die Risikoübernahme im Einklang mit dem in § 57 AktG geregelten Verbot der Einlagenrückgewähr steht. Insoweit kann nicht in Abrede gestellt werden, dass es sich bei der Risikoübernahme um eine Leistung an den abgebenden Aktionär (mag dieser Aktionär bleiben oder nicht) handelt;9 sie ist, wie im weiteren Verlauf des Beitrags noch näher darzulegen ist, (nur) im Ansatz der Besicherung einer Verbindlichkeit des Aktionärs gegenüber einem Dritten durch die Gesellschaft vergleichbar.10 Auch steht es dem Vorliegen einer verbotenen Einlagenrückgewähr nicht entgegen, dass die Prospekthaftung nach § 23 Abs. 1 WpPG zumindest grobe Fahrlässigkeit voraussetzt, so dass es jedenfalls insoweit, als die Prospektangaben der Sphäre der Gesellschaft entstammen, die Gesellschaft selbst ist, die die Haftungsvoraussetzungen geschaffen hat.11 Die Gesellschaftsgläubiger, deren Schutz § 57 AktG bezweckt, brauchen sich das Verschulden der Gesellschaft nicht entgegenhalten zu lassen, zumal die Realisierung des Haftungsrisikos nichts daran zu ändern vermag, dass die Risikoübernahme als solche eine Leistung an den Aktionär darstellt, die nur dann mit § 57 AktG im Einklang steht, wenn sie als solche angemessen entgolten wird.12 Die für die Beurteilung der Risikoübernahme nach § 57 AktG entscheidende Frage ist deshalb diejenige nach der erforderlichen Kompensation; ihr ist im Folgenden näher nachzugehen.

III. Risikoübernahme und aktienrechtlicher Vermögensschutz 1. Zur Frage der Maßgeblichkeit der bilanziellen Betrachtungsweise Die Annahme, die Übernahme des Prospektrisikos im Falle der Platzierung von Altaktien könne nur durch eine Freistellungsvereinbarung ausgeglichen werden, gründet der BGH vor allem auf die im Rahmen des § 57 Abs. 1 Satz 3

__________

8 Näher und m. w. N. Schlitt/Schäfer, AG 2005, 498, 510; Wink, AG 2011, 569, 562 f.; krit. Schäfer, ZIP 2010, 1877, 1879; weitergehend Wackerbarth, WM 2011, 193, 196 f. m. w. N. 9 BGH, AG 2011, 548, Rz. 15 ff.; Bayer in MünchKomm. AktG, 3. Aufl. 2008, § 57 AktG Rz. 91; Fleischer, ZIP 2007, 1969, 1973; Haag in Habersack/Mülbert/Schlitt (Fn. 7), § 23 Rz. 60; Hirte in Lutter/Scheffler/Uwe H. Schneider, Handbuch der Konzernfinanzierung, 1998, § 35 Rz. 35, 37; Schäfer, ZIP 2010, 1877, 1880 f.; a. A. OLG Köln, ZIP 2010, 1276, 1283; Schlitt, CFL 2010, 304, 309; Wackerbarth, WM 2011, 193, 200. 10 Zutr. Bayer (Fn. 9), § 57 AktG Rz. 91; Schäfer, ZIP 2010, 1877, 1880 f.; näher dazu noch unter III. 1., IV. 2. 11 BGH, AG 2011, 548, Rz. 21 f.; Schäfer, ZIP 2010, 1877, 1882 f.; a. A. Schlitt, CFL 2010, 304, 309; Wackerbarth, WM 2011, 193, 200; unentschieden Fleischer/Thaten, NZG 2011, 1081, 1083. 12 BGH, AG 2011, 548, Rz. 21 f.; Schäfer, ZIP 2010, 1877, 1882 f.

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AktG maßgebende „bilanzielle“ Betrachtungsweise.13 Danach seien ein Eigeninteresse der Gesellschaft an der Platzierung der Altaktien oder nicht bezifferbare Vorteile nicht geeignet, die Übernahme des Haftungsrisikos zu kompensieren; erforderlich seien vielmehr konkrete, bilanziell messbare Vorteile, die aber weder vom Berufungsgericht festgestellt noch erkennbar seien. Im Schrifttum ist dies ganz überwiegend anders beurteilt worden. Zwar waren bereits vor Erlass des „DTAG“-Urteils Stimmen anzutreffen, die sich für das Erfordernis einer Freistellungszusage des Aktionärs ausgesprochen hatten.14 Klar vorherrschend waren indes diejenigen Stimmen, die es für immerhin vorstellbar hielten, dass die Gesellschaft über ein die Risikoübernahme rechtfertigendes Eigeninteresse an der Aktienplatzierung verfügt und die Risikoübernahme deshalb auch unabhängig von einer Freistellung von den Prospektrisiken zulässig ist.15 Dabei wurden teils konkret bezifferbare Vorteile verlangt,16 teils wurden auch nicht konkret bezifferbare, indes objektivierbare Vorteile wie namentlich die positiven Effekte für die Unternehmensfinanzierung als ausreichend angesehen.17 Der zuletzt genannten Ansicht hatte sich auch das OLG Köln – als Berufungsinstanz in Sachen Deutsche Telekom AG ./. Bund und KfW – angeschlossen.18 In der Tat lässt sich jedenfalls aus § 57 Abs. 1 Satz 3 AktG das Erfordernis einer Freistellungszusage nicht ohne Weiteres herleiten. In ersten Stellungnahmen zur „DTAG“-Entscheidung des BGH ist vielmehr zu Recht darauf hingewiesen worden, dass sich die Haftungsrisiken, die die Gesellschaft übernimmt, im Zeitpunkt der Platzierung der Aktien und der Veröffentlichung des Prospekts im Allgemeinen noch nicht konkretisiert haben und deshalb weder eine Passivierung echter Verbindlichkeiten noch die Bildung von Rückstellungen veranlasst ist,19 und dass Entsprechendes für den vom BGH als unerlässlich angesehenen Freistellungsanspruch zu gelten hat; dieser ist erst dann aktivierungsfähig, wenn die Verbindlichkeit, von der freizustellen ist, entstanden

__________ 13 BGH, AG 2011, 548, Rz. 24 ff. 14 So namentlich Bayer (Fn. 9), § 57 AktG Rz. 90, 91; Hirte (Fn. 9), § 35 Rz. 37; Podewils, NZG 2009, 1101, 1102; Schäfer, ZIP 2010, 1877, 1881; Witt, WuB II A. § 57 AktG 1.07, S. 848. 15 Henze in Großkomm. AktG, 4. Aufl. 2001, § 57 AktG Rz. 56; Fleischer in K. Schmidt/ Lutter, 2. Aufl. 2010, § 57 AktG Rz. 26 f.; Fleischer, ZIP 2007, 1969, 1975; Cahn/von Spannenberg in Spindler/Stilz, 2. Aufl. 2010, § 57 AktG Rz. 40; Haag (Fn. 9), § 23 Rz. 62; Hoffmann-Becking in FS Lieberknecht, 1997, S. 25, 37; Meyer in MarschBarner/Schäfer, Handbuch börsennotierte AG, 2. Aufl. 2008, § 8 Rz. 156; Schlitt, CFL 2010, 304, 308 ff.; Technau, AG 1998, 445, 457; aus anderen Gründen für Vereinbarkeit mit § 57 AktG Wackerbarth, WM 2011, 193, 199 ff.; Wardenbach, GWR 2009, 201. 16 Fleischer (Fn. 15). 17 Haag (Fn. 9), § 23 Rz. 62; Hoffmann-Becking in FS Lieberknecht, 1997, S. 25, 37; Schlitt, CFL 2010, 304, 308 ff. 18 OLG Köln, ZIP 2009, 1276; anders LG Bonn, WM 2007, 1695, 1699 f. 19 S. namentlich Kremer/Gillessen/Kiefner, CFL 2011, 328, 330 f.; allg. Ballwieser in MünchKomm. HGB, 2. Aufl. 2008, § 249 HGB Rz. 11 ff.

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und bezifferbar ist.20 Will man also im Zusammenhang mit der Übernahme von Prospektrisiken eine „bilanzielle“ Betrachtungsweise anstellen, so kann diese nur in der Weise erfolgen, dass das allgemeine und noch latente Prospekthaftungsrisiko entsprechend § 251 Satz 1 HGB „unter dem Strich“ vermerkt wird; der vom BGH als unerlässlich angesehene Freistellungsanspruch wäre sodann gleichfalls nur „unter dem Strich“ hinzuzudenken. Die Rechtslage ist damit im Ausgangspunkt derjenigen bei Verbürgung der Gesellschaft für die Verbindlichkeit des Aktionärs gegenüber einem Dritten vergleichbar, bei der gleichfalls die Bürgschaftsverpflichtung, solange sich eine Inanspruchnahme des Bürgen noch nicht abzeichnet, nur „unter dem Strich“ zu vermerken ist und gedanklich durch den Rückgriffsanspruch gegen den Hauptschuldner neutralisiert wird.21 Nach Ansicht des Jubilars ist zwar schon im Zeitpunkt der Sicherheitszusage oder -gewährung zu fingieren, dass die Gesellschaft aus der Sicherheit in Anspruch genommen wird und der Rückgriffsanspruch der Gesellschaft gegen den Gesellschafter wertlos ist.22 Dem kann indes nicht beigepflichtet werden.23 Wie nicht zuletzt §§ 39 Abs. 1 Nr. 5, 44a, 135 Abs. 1, 2 InsO zeigen, unterscheidet § 57 Abs. 1 Satz 4 AktG im Zusammenhang mit Aktionärsdarlehen nicht zwischen unmittelbarer und mittelbarer Finanzierung. Für den in § 57 Abs. 1 Satz 3 AktG geregelten umgekehrten Vorgang – die Finanzierung des Aktionärs durch die AG – kann schwerlich etwas anderes gelten. In beiden Fällen lässt es die – rechtspolitisch angreifbare – Vorschrift des § 57 Abs. 1 Satz 3 AktG zu, dass die Gesellschaft ihr Vermögen zum Zwecke der Finanzierung des Aktionärs einsetzt, sofern sie auf die Rückzahlung des Darlehens durch den Aktionär – sei es an die Gesellschaft (so bei unmittelbarer Finanzierung) oder an den Sicherungsnehmer (so bei mittelbarer Finanzierung) – vertrauen darf. Während sich allerdings bei der Bestellung einer Sicherheit für eine bereits existente Verbindlichkeit des Aktionärs das Risiko einer Inanspruchnahme der Sicherheit durch den Gläubiger nach der – wiederum aus der Sicht ex ante zu beurteilenden – Wahrscheinlichkeit eines Ausfalls des Aktionärs bemisst und damit seitens der Gesellschaft schon bei Bestellung der Sicherheit eine Prognose angestellt werden kann (und auch anzustellen ist), die derjenigen bei der Darlehensvergabe entspricht, kommt es im Zusammenhang mit der Übernahme von Prospekthaftungsrisiken zunächst darauf an, ob sich der Prospekt als fehlerhaft erweist und in welchem Ausmaß mit der Geltendmachung von Prospekthaftungsansprüchen über-

__________ 20 Kremer/Gillessen/Kiefner, CFL 2011, 328, 330 f.; Fleischer/Thaten, NZG 2011, 1081; für den Rückgriffsanspruch des Bürgen s. Hennrichs in MünchKomm. AktG, 2. Aufl. 2003, § 249 HGB Rz. 43. 21 Näher zur – im Einzelnen sehr umstrittenen – Beurteilung von Sicherungsgeschäften nach § 57 Abs. 1 Satz 3 AktG Cahn/von Spannenberg (Fn. 15), § 57 AktG Rz. 38 f., 141 ff.; J. Vetter in Goette/Habersack, Das MoMiG in Wissenschaft und Praxis, 2009, S. 107, 133 ff.; zu § 30 Abs. 1 Satz 2 GmbHG s. Hommelhoff in Lutter/Hommelhoff, 17. Aufl. 2009, § 30 GmbHG Rz. 34 ff.; Habersack in Ulmer/Habersack/Winter, GmbHG, Ergänzungsband MoMiG, 2010, § 30 GmbHG Rz. 16 f., 24 mit umf. Nachw. 22 So für die Parallelproblematik im Rahmen des § 30 Abs. 1 Satz 1, 2 GmbHG Hommelhoff (Fn. 21), § 30 GmbHG Rz. 35 f. 23 S. bereits Habersack (Fn. 21), § 30 GmbHG Rz. 16 f. m. w. N.

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haupt zu rechnen ist; in Frage steht mithin bereits, um bei der Bestellung von Sicherheiten als Vergleichsfall zu bleiben, das Bestehen einer „Hauptschuld“. Erst auf einer zweiten Ebene kann sodann gefragt werden, ob der Aktionär gegebenenfalls zur Freistellung der Gesellschaft von diesen Haftungsansprüchen – und damit zur Befriedigung der geschädigten Anleger mit der Folge des Freiwerdens der Gesellschaft nach §§ 267, 362 Abs. 1 BGB – imstande wäre; insoweit ist auch zu berücksichtigen, dass nach § 44 Abs. 2 Satz 1 BörsG ein einmal entstandener Anspruch aus Prospekthaftung nicht durch Veräußerung der Papiere erlischt, vielmehr auch ein Folgeerwerb zu Prospekthaftungsansprüchen führen kann, wenn er innerhalb der Frist des § 21 Abs. 1 Satz 1 WpPG erfolgt, so dass die Haftung nicht einmal durch das Platzierungsvolumen begrenzt wird.24 Ist somit die Ungewissheit hinsichtlich des Prospekthaftungsrisikos ungleich größer als im Regelfall der Bürgschaftsübernahme, ja gehen die Beteiligten sogar im Allgemeinen davon aus, dass der Prospekt fehlerfrei ist und Prospekthaftungsrisiken deshalb nicht bestehen, so fehlt es – abweichend von der Rechtslage bei der Sicherheitenbestellung – an jedem greifbaren Anhaltspunkt für die Bemessung des Prospektrisikos und des damit korrespondierenden Freistellungsanspruchs und damit wiederum an einer hinreichenden Basis für den in § 57 Abs. 1 Satz 3 AktG verlangten Vollwertigkeitstest. Sprechen somit die besseren Gründe dafür, die Übernahme von Prospektrisiken auf der Grundlage des allgemeinen Verbotstatbestands des § 57 Abs. 1 Satz 1, Abs. 3 AktG zu überprüfen, so gelangen die herkömmlichen Grundsätze über die Kompensation von Leistungen der Gesellschaft zur Anwendung. Dabei gilt es den schon eingangs betonten Umstand zu berücksichtigen, dass der Sachverhalt der „DTAG“-Entscheidung durchaus atypisch ist. Nimmt man statt dessen einen Börsengang im eigentlichen Sinne, mithin den Fall, dass die bislang nicht börsennotierte Gesellschaft den Status der börsennotierten Gesellschaft im Sinne des § 3 Abs. 2 AktG erlangt, so lässt sich kaum leugnen, dass ein solcher Vorgang auch dann spürbare Auswirkungen auf die Gesellschaft hat, wenn der Börsengang im Wege der Platzierung von Altaktien erfolgt, der Platzierungserlös also ausschließlich den Aktionären zufließt. Auf der „Haben“Seite stehen aus Sicht der Gesellschaft namentlich die Steigerung ihres Bekanntheitsgrades und ihrer Attraktivität als Arbeitgeber25 sowie der verbesserte Zugang zum organisierten Kapitalmarkt; häufig bereitet denn auch der auf einer Platzierung von Altaktien basierende Börsengang nur eine Kapitalerhöhung der Gesellschaft vor, vermittels derer die Gesellschaft sodann – auch in zeitlicher Hinsicht passgenau – ihren Liquiditätsbedarf deckt. Bedenkt man weiter, dass es in der Praxis die Aktionäre sind, die die ihrer Sphäre zuzuordnenden Kosten der Platzierung, darunter insbesondere die Provisionen der Emissionsbanken, tragen,26 so erscheint die Entscheidung des Vorstands, dass

__________ 24 Habersack (Fn. 7), § 28 Rz. 34 m. w. N. 25 Etwa aufgrund von Aktienoptionsprogrammen oder sonstigen Formen der Mitarbeiterbeteiligung, die bei nicht börsennotierten Gesellschaften zwar nicht ausgeschlossen, aber wenig verbreitet sind. 26 Vgl. die Angaben bei Kremer/Gillessen/Kiefner, CFL 2011, 328, 338 f., Fn. 90.

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die mit dem Börsengang verbundenen Vorteile die Übernahme von Prospektrisiken rechtfertigen, nicht von vornherein unvertretbar.27 Genau dies aber ist bei Leistungen, die über keinen Marktpreis verfügen, der weithin anerkannte Beurteilungsmaßstab.28 Verhält es sich so, dass sich die Gesellschaft greifbare – nicht notwendigerweise bezifferbare – Vorteile aus dem Börsengang erhoffen darf und der Vorstand, um sich die Vorteile zu sichern, auch im Verhältnis zu einem Nichtaktionär vergleichbare Risiken übernehmen würde, so erscheint es geboten, die Übernahme des Prospektrisikos als mit § 57 Abs. 1 Satz 1, Abs. 3 AktG vereinbar zu qualifizieren. 2. Kompensation der Risikoübernahme durch Freistellungsanspruch Geht man mit dem BGH davon aus, dass die Übernahme des Prospektrisikos nur durch Freistellung der Gesellschaften von den Prospektrisiken kompensiert werden kann, so sind die für die Darlehensvergabe und die Sicherheitenbestellung durch die Gesellschaft anerkannten Grundsätze zur Anwendung zu bringen. Die Vereinbarkeit mit dem Grundsatz der Vermögensbindung ist dann stichtagsbezogen festzustellen, wobei als maßgebender Stichtag allein die Übernahme der Risiken, nicht dagegen die Realisierung der Risiken in Betracht kommt.29 Der Vorstand hat deshalb bereits bei Veröffentlichung des Prospekts und unter Berücksichtigung des Platzierungsvolumens – und ungeachtet der bereits angesprochenen Unwägbarkeiten30 – zu prüfen, ob der Aktionär, zu dessen Gunsten die Gesellschaft das Prospektrisiko übernimmt, zur Erfüllung seiner Freistellungspflichten voraussichtlich imstande sein wird, sollte sich das Prospektrisiko je verwirklichen. Ungeachtet des Umstands, dass die Gesellschaft bei Veröffentlichung des Prospekts typischerweise vom Fehlen jeglicher Prospektmängel ausgeht, hat sie mithin schon zu diesem Zeitpunkt sicherzustellen, dass sie für den Fall der Risikoverwirklichung über einen hinreichend leistungsfähigen Freistellungsschuldner oder über die Besicherung des Freistellungsanspruchs verfügt; bei einer Mehrheit von Freiststellungsschuldnern hat der Vorstand zu berücksichtigen, ob diese nur anteilig oder gesamtschuldnerisch haften. Unberührt bleibt im Übrigen die Pflicht des Vorstands, auch unabhängig von § 57 Abs. 1 AktG fortwährend und damit über den Stichtag hinaus die Vollwertigkeit des Freistellungsanspruchs der Gesellschaft

__________ 27 Vgl. die Nachw. in Fn. 15, ferner Arbeitskreis zum „Deutsche Telekom III Urteil“ des BGH, CFL 2011, 377 f. 28 Bayer (Fn. 9), § 57 AktG Rz. 40; Drygala in KölnKomm. AktG, 3. Aufl. 2011, § 57 AktG Rz. 64 f.; Henze (Fn. 15), § 57 AktG Rz. 42; vgl. auch BGHZ 175, 365, Rz. 11 – UMTS; BGHZ 179, 71, Rz. 9 – MPS. 29 In diesem Sinne auch BGH, AG 2011, 548, Rz. 24 f.; C. Schäfer, ZIP 2010, 1877, 1882; Podewils, NZG 2009, 1101, 1102; zur Rechtslage bei der Sicherheitenbestellung s. bereits unter III. 1. 30 S. unter III. 1.; vgl. auch Kremer/Gillessen/Kiefner, CFL 2011, 328, 338, denen zufolge im europäischen Versicherungsmarkt ein Haftungslimit von 15–25 % des Marktwerts der zu platzierenden Aktien üblich und angesichts der bei bekanntgewordenen Prospekthaftungsfällen eingeklagten Summen ausreichend ist.

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gegen den Aktionär zu prüfen und gegebenenfalls auf Besicherung des Freistellungsanspruchs zu bestehen.31 3. Kompensation der Risikoübernahme nur durch Freistellungsanspruch? Tatsächlich kann die Übernahme des Prospekthaftungsrisikos nicht nur durch Einräumung eines Freistellungsanspruchs kompensiert werden.32 Neben greifbaren Vorteilen eines Börsengangs für die Gesellschaft33 kommt vielmehr auch die Übernahme der Kosten einer das Prospekthaftungsrisiko umfassend abdeckenden IPO-Versicherung in Betracht.34 Der Sache nach ist darin die Finanzierung der Freistellungszusage eines Dritten zu sehen; sie ist, ihre Verfügbarkeit auf dem Versicherungsmarkt unterstellt, der Freistellungszusage des Aktionärs gleichwertig. Als denkbar erscheint zudem die Zahlung einer – der einem Auftragsbürgen geschuldeten Avalprovision vergleichbaren – Risikoprämie.35 4. Gemischte Platzierung Platziert die Gesellschaft selbst in nennenswertem Umfang eigene oder junge Aktien der Gesellschaft am Kapitalmarkt und fließt ihr hierdurch ein Emissionserlös zu, stellt sich zunächst die Frage, ob der Gesellschaft auch in diesem Fall die Übernahme des Prospektrisikos zu kompensieren ist. Die Frage ist zu bejahen.36 Dafür spricht bereits, dass sich das Ausmaß der Prospekthaftung nach dem Volumen der Aktienplatzierung bemisst und die Gesellschaft in der Folge auch bei einer gemischten Platzierung Prospekthaftungsrisiken zu tragen hat, die nicht durch ein hinreichendes Eigeninteresse an der Aktienplatzierung kompensiert werden können, vielmehr ihre Grundlage in der Platzierung der von den Aktionären gehaltenen Aktien haben.37 Der verschiedentlich angedeutete Gedanke, dass die Gesellschaft mit Blick auf die von ihr zu platzierenden Aktien ohnehin zur Erstellung des Prospekts verpflichtet sei und deshalb ein „Sowieso-Risiko“ vorliege,38 vermag deshalb schon im Ansatz nicht einzuleuchten. Es kommt hinzu, dass der Grundsatz der Vermögensbindung die Er-

__________ 31 Vgl. für die Darlehensgewährung Begr. RegE, BT-Drucks. 16/6140, S. 41; BGHZ 179, 71, Rz. 13 f. – MPS; Habersack, ZGR 2009, 347, 361 ff. 32 So aber BGH, AG 2011, 548, Rz. 25; s. ferner die weit. Nachw. in Fn. 29. 33 Dazu unter 1. 34 Dazu namentlich Fleischer/Thaten, NZG 2011, 1081, 1083 m. w. N.; ferner Arbeitskreis zum „Deutsche Telekom III Urteil“ des BGH, CFL 2011, 377, 379 f. 35 Vgl. LG Bonn, ZIP 2007, 1267, 1271; Fleischer, ZIP 2007, 1969, 1976. 36 So auch Fleischer/Thaten, NZG 2011, 1081, 1083 f.; Wink, AG 2011, 569, 578; Ziemons, GWR 2011, 404, 405 f.; im Grundsatz auch Kremer/Gillessen/Kiefner, CFL 2011, 328, 334 ff., die freilich für Sonderkonstellationen Ausnahmen anerkennen; a. A. Meyer-Landrut, Börsen-Zeitung v. 8.6.2011, S. 2; im Ergebnis auch Seibt, BörsenZeitung v. 20.7.2011, S. 2; tendenziell auch Mackensen, GWR 2011, 331. 37 Zutr. Ziemons, GWR 2011, 404, 405 f.; s. ferner Fleischer/Thaten, NZG 2011, 1081, 1084, Fn. 47. 38 Vgl. Meyer-Landrut, Börsen-Zeitung v. 8.6.2011, S. 2; Seibt, Börsen-Zeitung v. 20.7.2011, S. 2; Mackensen, GWR 2011, 331.

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stattung der dem Aktionär auf Kosten der Gesellschaft zugeflossenen Vermögenswerte gebietet, so dass Anleihen beim Schadensersatzrecht – das in erster Linie auf die Vermögenseinbuße auf Seiten der Gesellschaft abstellt – ohnehin verfehlt sind. Auf der Grundlage der Grundsätze der „DTAG“-Entscheidung des BGH erscheint es nur konsequent und geboten, auch bei gemischten Platzierungen eine Freistellungsverpflichtung der Aktionäre zu verlangen. Auf der Grundlage der hier vertretenen Ansicht kommt hingegen auch eine anderweitige Kompensation in Betracht, etwa durch ein greifbares Interesse der Gesellschaft nicht nur am Börsengang als solchem, sondern an der bei dieser Gelegenheit erfolgenden Platzierung von Altaktien, aber auch durch Übernahme der Kosten für eine IPO-Versicherung oder durch Zahlung einer Risikoprämie. Dem Umstand, dass der Gesellschaft bei einer gemischten Platzierung ein Teil des Emissionserlöses zufließt und sie deshalb die Rolle des Prospektverantwortlichen auch im eigenen Interesse übernimmt, ist im Innenverhältnis zwischen der Gesellschaft und den Aktionären durch die quotale Aufspaltung des Prospektrisikos Rechnung zu tragen.39 Die Aktionäre sind mithin gehalten, der Gesellschaft hinsichtlich derjenigen Prospektrisiken eine Kompensation zu gewähren, die auf die Platzierung der bislang von ihnen gehaltenen Aktien entfallen. Verhält es sich so, dass das gesamte Aktienkapital der bislang nicht börsennotierten Gesellschaft zum Börsenhandel zugelassen wird, die Aktionäre indes einstweilen nur einen Teil ihrer Aktien platzieren, so erwachsen der Gesellschaft zwar zunächst nur hinsichtlich der platzierten Aktien Prospektrisiken. Doch haben es die Aktionäre in der Hand, ohne weiteres Zutun der Gesellschaft auch ihre übrigen Aktien zu platzieren mit der Folge, dass die Gesellschaft sodann auch insoweit die Inanspruchnahme aus Prospekthaftung droht. Die für die Kompensation maßgebende Quote muss deshalb auch die zunächst nicht platzierten, indes auf der Grundlage des Prospekts platzierbaren Aktien im Aktionärsbestand umfassen.

IV. Ausgestaltung und weitere Abwicklung der Freistellungszusage 1. Überblick Mag die Ansicht des BGH, dass die Übernahme des Prospektrisikos durch die Gesellschaft im Falle der Platzierung von Altaktien nur durch die Freistellungszusage des Aktionärs kompensiert werden kann, auch zu weit gehen, so ist die Praxis doch gut beraten, sie auch im Falle eines echten Börsengangs sowie in den Fällen gemischter Platzierung zu beherzigen. Mit der Freistellungsverpflichtung verbinden sich allerdings Folgeprobleme, die im Schrifttum, soweit ersichtlich, bislang nicht erörtert worden sind. So fragt sich bereits, ob und, wenn ja, aus welchem Grund die Gesellschaft zur Abtretung von Ersatzansprüchen gegen Dritte – insbesondere Berater und Organwalter – an den

__________ 39 Ziemons, GWR 2011, 404, 405 f.; Fleischer/Thaten, NZG 2011, 1081, 1084; Wink, AG 2011, 569, 578 f.; s. bereits Heider in FS Sigle, 2000, S. 251, 267.

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Aktionär verpflichtet ist, um diesem den Regress zu ermöglichen. Sofern die Gesellschaft zur Abtretung verpflichtet ist, fragt sich weiter, ob hiervon auch Ansprüche aus § 93 Abs. 2 AktG erfasst sind, was voraussetzt, dass Organhaftungsansprüche abtretbar sind. Schließlich fragt sich, ob die Freistellungszusage unter den Vorbehalt der Abtretung von Ersatzansprüchen gegen Dritte gestellt werden kann (mit der Folge, dass die Freistellung nur Zug um Zug gegen Abtretung zu erfolgen braucht), oder ob § 57 AktG eine unbedingte und vorbehaltslose Freistellungszusage verlangt. 2. Pflicht zur Abtretung von Ersatzansprüchen gegen Dritte im Allgemeinen a) Unanwendbarkeit des § 255 BGB Was zunächst die Frage anbelangt, ob die Gesellschaft verpflichtet ist, Ansprüche gegen Dritte, die auf Ausgleich des Schadens gerichtet sind, von dem die Aktionäre die Gesellschaft freizuhalten haben, an die Aktionäre abzutreten, so lässt sich eine solche Pflicht nicht aus § 255 BGB herleiten. Nach dieser Vorschrift kann zwar derjenige, der für den Verlust einer Sache oder eines Rechts Schadensersatz zu leisten hat, die Ersatzleistung von der Zug um Zug erfolgenden Abtretung von Ersatzansprüchen des Berechtigten abhängig machen.40 Ist allerdings schon im Allgemeinen zu bezweifeln, dass die Vorschrift des § 255 BGB auf andere als Schadensersatzpflichten analog angewendet werden kann,41 so muss die Analogie jedenfalls dann verneint werden, wenn, wie im Falle der Freistellungspflicht, eine Interzession oder zumindest eine der Interzession vergleichbare Verpflichtung in Frage steht, die, was die zeitliche Abfolge von Einstandspflicht, Zessionspflicht und Regressnahme anbelangt, ihren eigenen Regeln folgt. Der BGH verweist zwar in der „DTAG“-Entscheidung – wenn auch beiläufig – auf die entsprechende Anwendung des § 255 BGB, verbindet dies aber mit der weiteren Feststellung, dass die Abtretung „nach Zahlung“ an die Gesellschaft hätte erfolgen können,42 was wiederum mit § 255 BGB, wie erwähnt, gerade nicht im Einklang steht. b) Drittschadensliquidation Die Frage der Abtretungspflicht ist vielmehr unter Berücksichtigung der wirtschaftlichen Funktion der Ersatzansprüche zu würdigen. Geht man mit dem BGH von einer Freistellungsverpflichtung der Aktionäre gegenüber der Gesellschaft aus, so kommt den Ersatzansprüchen gegen Dritte aus Sicht der Gesellschaft die Funktion einer Besicherung des – vorrangig geltend zu machenden – Freistellungsanspruchs gegen die Aktionäre zu. Zwar wird im Schrifttum die Frage, ob der Freistellungsschuldner, nachdem er seiner Freistellungspflicht durch Leistung an den Gläubiger nachgekommen ist, vom Freistellungsgläubi-

__________ 40 Zum Zurückbehaltungsrecht des Ersatzpflichtigen s. RGZ 59, 367, 371; Bittner in Staudinger, 13. Bearbeitung 2009, § 255 BGB Rz. 40. 41 Gegen analoge Anwendung namentlich Bittner (Fn. 38), § 255 BGB Rz. 71 m. w. N. 42 BGH, AG 2011, 548, Rz. 55.

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ger Abtretung etwaiger Sicherheiten verlangen kann, soweit ersichtlich nicht erörtert. Verwundern kann dies indes schon deshalb nicht, weil typischerweise der Gläubiger der Forderung, hinsichtlich derer der Schuldner (der zugleich Freistellungsgläubiger ist) freizustellen ist, nicht dagegen der Freistellungsgläubiger über Sicherheiten verfügt, so dass sich im Allgemeinen allenfalls die Frage stellt, ob der Freistellungsschuldner vom Forderungsgläubiger die Abtretung der von diesem nicht mehr benötigten Sicherheiten beanspruchen kann. Insoweit aber lässt sich feststellen, dass akzessorische Sicherheiten mit Erlöschen der gesicherten Forderung gleichfalls erlöschen; eine cessio legis der Forderung, von der der Freistellungsgläubiger befreit worden ist, hätte zwar nach §§ 412, 401 BGB den Übergang der akzessorischen Sicherheiten auf den Freistellungsschuldner zur Folge, ist indes im BGB nicht vorgesehen und ergäbe auch deshalb keinen Sinn, weil der Freistellungsschuldner im Verhältnis zum Freistellungsgläubiger (dem Schuldner der Forderung) zur Leistung an den Gläubiger verpflichtet und in der Folge gerade nicht zum Regress berechtigt ist, was wiederum auch den Sicherungsgebern zugute kommen soll. Was nicht akzessorische Sicherheiten anbelangt, so muss im Ergebnis Entsprechendes gelten, ist doch der Gläubiger, nachdem der Freistellungsschuldner seine Forderung zum Erlöschen gebracht hat, dem Sicherungsgeber gegenüber aufgrund der Sicherungsabrede zur Rückübertragung verpflichtet, ohne diesem gegenüber einwenden zu können, dass nunmehr der Freistellungsschuldner die Übertragung der Sicherheit begehrt: Der Freistellungsschuldner leistet für den Freistellungsgläubiger und kann so wenig wie dieser die Übertragung von Sicherheiten beanspruchen. Auf die Freistellung von der Prospekthaftung lassen sich die vorstehend skizzierten Grundsätze freilich nicht übertragen. Zu berücksichtigen ist nämlich die Besonderheit, dass nicht das rechtliche Schicksal von Sicherheiten in der Hand des Gläubigers der Forderung, von der freizustellen ist, sondern dasjenige von Ersatzansprüchen in der Hand des Freistellungsgläubigers (und Schuldners der Forderung, von der freizustellen ist und die auf Ausgleich desselben Schadens gerichtet ist, von dem freizustellen ist) in Frage steht. Auch diese Ersatzansprüche haben zwar, wie erwähnt, aus Sicht des Freistellungsgläubigers – der Gesellschaft – die Funktion einer Sicherheit. Anders als der Forderungsgläubiger hinsichtlich für die Forderung bestellter Sicherheiten unterliegt die Gesellschaft hinsichtlich der Ersatzansprüche allerdings keiner Pflicht zur Rückübertragung oder zum Erlass. Die Ersatzansprüche gründen im Gegenteil darauf, dass sich die Gesellschaft Prospekthaftungsansprüchen ausgesetzt sieht, und würden in ihrem rechtlichen Bestand durch die Leistung der Gesellschaft an den Anleger nicht berührt; im Gegenteil würde sich durch eine solche Leistung überhaupt erst der Gesellschaftsschaden verwirklichen, so dass die Gesellschaft Anlass hätte, sich bei den Ersatzpflichtigen schadlos zu halten. Leistet nun der Freistellungsschuldner anstelle der Gesellschaft, so hat dies nach § 267 BGB das Erlöschen der Verbindlichkeit gegenüber dem Anleger zur Folge, womit an sich der Gesellschaftsschaden in Wegfall geriete. Es wäre indes eine nicht zu rechtfertigende Privilegierung der an sich zum Ersatz des Regressschadens verpflichteten Dritten, würden diese durch die Leistung des Frei314

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stellungsschuldners enthaftet. Die mit der Freistellungsvereinbarung verbundene Verlagerung des Schadens von der Gesellschaft auf den Freistellungsschuldner hat vielmehr aus Sicht der ersatzpflichtigen Dritten zufälligen Charakter und ist deshalb nach den Grundsätzen über die Drittschadensliquidation dadurch zu neutralisieren, dass der Schaden des Freistellungsschuldners dem Freistellungsgläubiger zugerechnet wird.43 Die Rechtslage ist damit derjenigen bei der mittelbaren Stellvertretung oder beim Versendungskauf vergleichbar: Die Sonderverbindung zwischen dem Geschädigten (der Gesellschaft) und dem Dritten (den Aktionären) sorgt für eine „Gefahrentlastung“ des Geschädigten, die dem Schädiger (dem ersatzpflichtigen Dritten, etwa dem Berater oder Organwalter) deshalb nicht zugute kommen darf, weil sie aus seiner Sicht zufällig und nicht zu erwarten war, der Schädiger vielmehr davon ausgehen musste, dass er dem Geschädigten gegenüber ersatzpflichtig ist, wenn er in seiner Person einen Haftungstatbestand verwirklicht. Die Drittschadensliquidation hat zunächst zur Folge, dass der ersatzpflichtige Dritte dem Geschädigten gegenüber verpflichtet bleibt; da dem infolge der obligatorischen Gefahrentlastung schadlos gestellten „Geschädigten“ der Schaden des Dritten zugerechnet wird, ist der Drittschaden zu ersetzen. Im Allgemeinen – und so auch im vorliegenden Zusammenhang – ist allerdings der Anspruchsinhaber im Innenverhältnis zum Dritten gehalten, seinen Anspruch entweder abzutreten oder im Interesse des Dritten geltend zu machen.44 Dies gilt auch dann, wenn es an einer speziellen Anspruchsgrundlage nach Art des § 285 BGB fehlt. Der Anspruchsinhaber würde nämlich widersprüchlich handeln, wenn er zwar die obligatorische Gefahrentlastung – mithin die Freistellungsverpflichtung – in Anspruch nehmen, dem Dritten (dem Freistellungsschuldner) indes nicht den Regress ermöglichen würde.45 3. Ansprüche aus § 93 Abs. 2 Satz 1 AktG im Besonderen a) Abtretbarkeit Sieht man von Ansprüchen gegen Berater ab, so dürften aus Sicht der zur Freistellung verpflichteten Aktionäre insbesondere gegen Mitglieder des Vorstands und – je nach Einbeziehung in die relevanten Vorgänge – gegebenenfalls auch des Aufsichtsrats der Gesellschaft gerichtete Ersatzansprüche von Interesse sein. Insoweit fragt sich bereits, ob diese Ansprüche abtretbar sind. Die Frage ist zunächst vor dem Hintergrund der §§ 93 Abs. 4 Satz 3, 116 Satz 1 AktG zu sehen, wonach die Gesellschaft erst drei Jahre nach der Entstehung des Anspruchs und nur mit Zustimmung der Hauptversammlung (und bei Fehlen eines Minderheitsverlangens) auf diese Ersatzansprüche verzichten oder sich über sie vergleichen kann. Nach zu Recht ganz herrschender Ansicht schließen

__________ 43 Näher zur Drittschadensliquidation Oetker in MünchKomm. BGB, 6. Aufl. 2012, § 249 BGB Rz. 287 ff. mit umf. Nachw. 44 Schiemann in Staudinger, 13. Bearbeitung 2005, Vor § 249 BGB Rz. 67, Oetker (Fn. 43), § 249 BGB Rz. 292, jew. m. w. N. 45 Schiemann (Fn. 44), Vor § 249 BGB Rz. 67.

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§§ 93 Abs. 4 Satz 3, 116 Satz 1 AktG die Abtretung des Ersatzanspruchs allerdings nicht aus.46 Anderes mag gelten, wenn die Abtretung der Umgehung von § 93 Abs. 4 Satz 3 AktG dient.47 Davon kann indes bei einer Abtretung an den Freistellungsschuldner nicht die Rede sein. b) Zuständigkeit Die Abtretung von Organhaftungsansprüchen hat durch das für die Anspruchsverfolgung zuständige Organ zu erfolgen, im Falle von gegen Aufsichtsratsmitglieder gerichteten Ansprüchen mithin durch den Vorstand, im Falle von gegen Vorstandsmitglieder gerichteten Ansprüchen durch den Aufsichtsrat. Letzteres ist nicht völlig zweifelsfrei, da dem Aufsichtsrat nach § 112 AktG die organschaftliche Vertretung der Gesellschaft nur „Vorstandsmitgliedern gegenüber“ obliegt, wohingegen die Abtretung eine Vereinbarung zwischen Gesellschaft und Zessionar voraussetzt. Doch kann davon ausgegangen werden, dass der Gesetzgeber die Abtretung von Organhaftungsansprüchen nicht bedacht hat und diese Regelungslücke in stimmiger Weise nur durch Annahme einer Annexkompetenz des Aufsichtsrats geschlossen werden kann. Bildet nämlich die Geltendmachung des Anspruchs aus § 93 Abs. 2 AktG einen Bestandteil der Überwachungsaufgabe des Vorstands, so muss der Aufsichtsrat auch für die Entscheidung über die Abtretung zuständig sein; andernfalls – bei Zuständigkeit des Vorstands – bestünde die Gefahr, dass die Abtretung zum Nachteil der Gesellschaft zu dem Zweck erfolgt, die Anspruchsverfolgung zu vermeiden. c) Gesellschaftsinteresse und Forderungszession Sind die Ansprüche aus § 93 Abs. 2 Satz 1 AktG somit im Grundsatz abtretbar, so hat allerdings das für die Abtretung zuständige Organ sicherzustellen, dass die Abtretung nicht dem Gesellschaftsinteresse zuwiderläuft.48 Pflichtwidriges Verhalten wiederum liegt zunächst vor, wenn der Gesellschaft keine adäquate Gegenleistung zufließt, was sich im Allgemeinen nach dem wirtschaftlichen Wert des abzutretenden Schadensersatzanspruchs beurteilt.49 Im vorliegenden Zusammenhang soll es die Abtretung indes den Aktionären ermöglichen, bei den ersatzpflichtigen Dritten Regress zu nehmen, nachdem sie die Gesellschaft von Prospekthaftungsansprüchen freigestellt haben. Die Abtretung als solche

__________ 46 Hopt in Großkomm. AktG, 4. Aufl. 1999, § 93 AktG Rz. 377; Spindler in MünchKomm. AktG, 3. Aufl. 2008, § 93 AktG Rz. 233; Mertens/Cahn in KölnKomm. AktG, 3. Aufl. 2010, § 93 AktG Rz. 172; Krieger/Sailer-Coceani in K. Schmidt/Lutter, 2. Aufl. 2010, § 93 AktG Rz. 51. 47 Hopt (Fn. 46), § 93 AktG Rz. 377; Spindler (Fn. 46), § 93 AktG Rz. 233; Krieger/ Sailer-Coceani (Fn. 46), § 93 AktG Rz. 51. 48 Hopt (Fn. 46), § 93 AktG Rz. 377; Spindler (Fn. 46), § 93 AktG Rz. 233; Mertens/ Cahn (Fn. 46), § 93 AktG Rz. 172; Krieger/Sailer-Coceani (Fn. 46), § 93 AktG Rz. 51. 49 Näher Mertens/Cahn (Fn. 46), § 93 AktG Rz. 172; s. ferner Hopt (Fn. 46), § 93 AktG Rz. 377; Spindler (Fn. 46), § 93 AktG Rz. 233; Krieger/Sailer-Coceani (Fn. 46), § 93 AktG Rz. 51.

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hat dann zwar auf Seiten der Gesellschaft keinen Vermögenszufluss zur Folge. Die Gesellschaft ist indes nach den Grundsätzen über die Drittschadensliquidation zur Abtretung verpflichtet,50 so dass sie durch die Abtretung von dieser Verbindlichkeit befreit wird und die Annahme pflichtwidrigen Verhaltens schon deshalb ausscheiden muss. Hinzu kommt, dass die Pflicht zur Abtretung daran anknüpft, dass die Aktionäre ihrer Freistellungspflicht nachgekommen sind und damit ein Haftungsschaden der Gesellschaft in Wegfall geraten ist, so dass ein Regress der Gesellschaft bei den verantwortlichen Organwaltern ohnehin ausgeschlossen wäre. Das für die Abtretung zuständige Organ hat freilich auch unabhängig von Art und Höhe der Gegenleistung sicherzustellen, dass die Abtretung dem Gesellschaftsinteresse nicht zuwiderläuft. Geht es um die Abtretung von gegen Organwalter gerichteten Schadensersatzansprüchen, hat das abtretende Organ deshalb zu bedenken, dass die Verfolgung der Ansprüche dem Unternehmensinteresse zuwiderlaufen kann. Denn zwar hat der II. Zivilsenat des BGH in seinem „ARAG/Garmenbeck“-Urteil entschieden, dass der Aufsichtsrat grundsätzlich verpflichtet ist, Ansprüche aus § 93 Abs. 2 AktG zu verfolgen.51 Auch kann davon ausgegangen werden, dass für die umgekehrte Konstellation – die Verfolgung von gegen Mitglieder des Aufsichtsrats gerichteten Ansprüchen durch den Vorstand – im Grundsatz Entsprechendes gilt. Die Pflicht zur Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen besteht indes bekanntlich nicht ausnahmslos. Vielmehr darf der Aufsichtsrat von der Inanspruchnahme des Vorstands absehen, wenn „gewichtige Gründe des Gesellschaftswohls dagegen sprechen und diese Umstände die Gründe, die für eine Rechtsverfolgung sprechen, überwiegen oder ihnen zumindest gleichwertig sind“.52 Eine nähere Auseinandersetzung mit der Frage, unter welchen Voraussetzungen das zuständige Organ von der Anspruchsverfolgung absehen darf, ist hier entbehrlich.53 Im Ausgangspunkt sollte jedenfalls Einvernehmen darüber bestehen, dass es Aufgabe des für die Abtretung zuständigen Organs ist, eine am Unternehmensinteresse orientierte Entscheidung zu treffen. In diesem Zusammenhang haben die Organwalter – selbstverständlich – zu prüfen und zu bewerten, welche Folgen die Verfolgung von Schadensersatzansprüchen für die Gesellschaft hat. So mag es sein, dass die Inanspruchnahme der Vorstandsmitglieder die Gefahr einer gerichtlichen Inanspruchnahme der Gesellschaft durch Dritte – etwa durch Anleger – erhöht und sich die Gesellschaft hinsichtlich ihres dadurch entstehenden Regressschadens nicht bei den verantwortlichen Vorstandsmitgliedern schadlos halten könnte, etwa weil der drohende Haftungsschaden das

__________ 50 51 52 53

Vgl. im Einzelnen unter IV. 2. BGHZ 135, 244, 252 ff. BGHZ 135, 244, 245 (2. Leitsatz). Überblick zum Meinungsstand bei Hopt/Roth in Großkomm. AktG, 4. Aufl. 2005, § 111 AktG Rz. 352 ff.; Habersack in MünchKomm. AktG, 3. Aufl. 2008, § 111 AktG Rz. 35 ff. und Spindler in Spindler/Stilz, 2. Aufl. 2010, § 116 AktG Rz. 47 ff.; aus dem Kreis der jüngeren Stellungnahmen s. Goette in Liber amicorum M. Winter, 2011, S. 153 ff.; Koch, AG 2009, 83 ff.; Paefgen, AG 2008, 761 ff.; Mertens in FS K. Schmidt, 2009, S. 1183 ff.; Wilsing in FS Maier-Reimer, 2010, S. 889 ff.

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Vermögen der Vorstandsmitglieder bei weitem übersteigt.54 In einem solchen Fall kann das Organ sogar verpflichtet sein, von der Inanspruchnahme der Vorstandsmitglieder abzusehen.55 Entsprechendes gilt, wenn die Gesellschaft ein Interesse am Verbleib des pflichtwidrig handelnden Vorstandsmitglieds hat; in diesem Fall wird der Aufsichtsrat unter anderem das Interesse an Aufrechterhaltung des Mandats auf der einen und die wirtschaftlichen Folgen des mit der Inanspruchnahme vermutlich verbundenen Ausscheidens des Vorstandsmitglieds auf der anderen Seite abwägen und je nach Lage des Falles – insbesondere in Fällen nur fahrlässigen und keineswegs eigennützigen Verhaltens des Vorstandsmitglieds – die Nichtverfolgung des Anspruchs beschließen können und gegebenenfalls auch müssen.56 Vor diesem Hintergrund erweist sich die Abtretung künftiger Ansprüche aus § 93 Abs. 2, §§ 93 Abs. 2, 116 Satz 1 AktG als überaus problematisch: Während nämlich das für die Anspruchsverfolgung zuständige Organ verpflichtet ist, seine Entscheidung über die Geltendmachung des Anspruchs am Gesellschaftsinteresse auszurichten, unterliegt der Zessionar einer solchen Bindung nicht. Dies gilt auch für Aktionäre. Mögen sie auch der gesellschaftsrechtlichen Treupflicht unterliegen, so folgt hieraus doch grundsätzlich keine Pflicht, im Zusammenhang mit der Geltendmachung von nicht dem mitgliedschaftlichen Rechtsverhältnis entstammenden Rechten auf das Gesellschaftsinteresse Rücksicht zu nehmen; schon gar nicht muss sich ein ehemaliger Aktionär entgegenhalten lassen, die Geltendmachung des ihm abgetretenen Anspruchs laufe dem Gesellschaftsinteresse zuwider. Auch § 404 BGB vermag die gesellschaftsrechtlichen Schranken nicht auf das Verhältnis zum Zessionar des Anspruchs zu erstrecken; denn der in Anspruch genommene Organwalter könnte auch gegenüber dem für die Anspruchsverfolgung zuständigen Organ nicht einwenden, dass dieser mit der Geltendmachung des Anspruchs gegen seine Pflichten aus dem organschaftlichen Innenverhältnis verstoße, so dass es schon an einer Einwendung im Sinne des § 404 BGB fehlt. Nach allem würde sich das für die Anspruchsverfolgung zuständige Organ dem Vorwurf sorgfaltswidrigen Verhaltens aussetzen, würde es Ansprüche aus § 93 Abs. 2 AktG, §§ 116 Satz 1, 93 Abs. 2 AktG abtreten, ohne zuvor festgestellt zu haben, dass die Geltendmachung des Anspruchs dem Unternehmensinteresse nicht zuwiderläuft. Diese Schranken der Abtretbarkeit müssen sich auch die Aktionäre als Freistellungsschuldner entgegenhalten lassen, haben sie doch das Risiko, dass sich die Gesellschaft zur Abtretung von gegen Organwalter gerichteten Ansprüchen außerstande sieht, sehenden Auges übernommen.

__________ 54 Vgl. Wilsing (Fn. 53), S. 889, 892 f.; Habersack (Fn. 53), § 111 AktG Rz. 36. 55 Vgl. Goette (Fn. 53), S. 153, 163. 56 Vgl. Habersack (Fn. 53), § 111 AktG Rz. 38.

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4. Fälligkeit des Anspruchs auf Abtretung – zur Frage eines Zurückbehaltungsrechts des Freistellungsschuldners Sofern nicht die Abtretung dem Gesellschaftsinteresse zuwiderläuft und ein Anspruch der Aktionäre auf Abtretung ohnehin ausgeschlossen ist, bleibt das Verhältnis zwischen Freistellungspflicht und Anspruch auf Abtretung zu klären. Der BGH steht ersichtlich auf dem Standpunkt, dass die Aktionäre die Freistellung vorbehaltslos schulden, insbesondere also die Freistellung nicht von der Abtretung von Schadensersatzansprüchen der Gesellschaft gegen Dritte abhängig machen dürfen.57 Dies ergibt sich aus Rz. 28 des „DTAG“Urteils,58 wo der II. Zivilsenat ausführt, dass etwaige Schadensersatzansprüche der Gesellschaft gegen Dritte nicht in Wegfall geraten und der Schutzzweck des § 57 AktG nicht berührt wird, wenn sich der Altaktionär solche Ansprüche „nach tatsächlich erfolgter Freistellung“ abtreten lässt.59 Von einer Vorleistungspflicht des Aktionärs im eigentlichen Sinne kann insoweit freilich schon deshalb nicht die Rede sein, weil die Freistellungszusage nach Ansicht des BGH ihrerseits die Übernahme von Haftungsrisiken durch die Gesellschaft kompensiert, so dass es bei Lichte betrachtet die Gesellschaft ist, die vorleistet, nämlich dadurch, dass sie die Rolle des Prospektverantwortlichen übernimmt. Wollte man vor diesem Hintergrund dem Aktionär das Recht zubilligen, seine Leistung (die, wie gesagt, die Gegenleistung für die Vorleistung durch die Gesellschaft ist) von der Abtretung von Ersatzansprüchen abhängig zu machen, so erhielte die Gesellschaft keinen uneingeschränkt und vorbehaltslos durchsetzbaren Gegenanspruch, so dass es – teilt man die Prämisse des BGH, dass die Übernahme von Prospektrisiken nur durch eine Freistellungsverpflichtung ausgeglichen werden kann – an einer hinreichenden Kompensation für die den Aktionär begünstigende Leistung durch die Gesellschaft fehlte. Dem entspricht es, dass die Übernahme von Prospektrisiken gegen eine Freistellungszusage des Aktionärs, wie bereits unter III. 1. dargelegt worden ist, im Ansatz der Besicherung einer Verbindlichkeit des Aktionärs durch die Gesellschaft vergleichbar ist. Die Vorschrift des § 774 Abs. 1 Satz 1 BGB zeigt indes, dass auch der Bürge die gesicherte Forderung erst erwirbt, nachdem er sein Leistungsversprechen erfüllt und an den Gläubiger geleistet hat.60 Zwar wird der Bürge nicht auf die Geltendmachung eines Anspruchs auf Abtretung der gesicherten Forderung verwiesen; die gesicherte Forderung geht vielmehr im Wege der cessio legis als Folge der Leistung des Bürgen an den Gläubiger über.

__________ 57 Unklar hingegen Ziemons, GWR 2011, 404, 406, der zufolge die Abtretung bereits in der Freistellungsvereinbarung „vereinbart“ werden kann, was offen lässt, ob die Verpflichtung zur Abtretung oder die Abtretung selbst gemeint ist. 58 BGH, AG 2011, 548. 59 Zu BGH, AG 2011, 548, Rz. 55 s. bereits unter IV. 2. 60 Der Freistellungsanspruch des Auftragsbürgen aus § 775 BGB kann in diesem Zusammenhang schon deshalb außer Betracht gelassen werden, weil er sich nur gegen den Hauptschuldner richtet und die Leistungspflicht des Bürgen im Außenverhältnis zum Gläubiger nicht berührt.

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Auch der Bürge kann indes seine Leistung an den Gläubiger nicht davon abhängig machen, dass ihm im Gegenzug die gesicherte Forderung abgetreten wird. Für den Aktionär, der die Gesellschaft von Prospektrisiken freizustellen hat, hat dies in gleicher Weise zu gelten, und zwar ungeachtet des Umstands, dass die Freistellung zum Zwecke der Kompensation der Risikoübernahme durch die Gesellschaft erfolgt, wohingegen der Bürge jedenfalls im Verhältnis zum Gläubiger unentgeltlich handelt. Es kommt hinzu, dass den Ersatzansprüchen der Gesellschaft gegen Dritte wirtschaftlich gesehen die Funktion einer Besicherung des Freistellungsanspruchs der Gesellschaft gegen den Aktionär zukommt. Übernimmt nämlich die Gesellschaft Prospektrisiken, obgleich der Platzierungserlös den Aktionären zufließt, so besteht ihr primäres Interesse in der Freistellung von diesen Risiken; ihre zum Ersatz verpflichteten Organwalter und Berater wird die Gesellschaft nur dann in Anspruch nehmen wollen, wenn sich der Freistellungsanspruch als uneinbringlich erweist. Eine Aufgabe der Sicherheiten kann der Schuldner indes allenfalls dann verlangen, wenn und soweit sich der Sicherungszweck erledigt hat. Dies aber ist bei der Prospekthaftung erst der Fall, wenn die weitere Inanspruchnahme der Gesellschaft durch Anleger aus rechtlichen Gründen ausgeschlossen ist. Solange hingegen die Inanspruchnahme der Gesellschaft durch Anleger möglich ist, ist es dem Vorstand nicht nur nach § 93 Abs. 1 Satz 1 AktG untersagt, Sicherheiten preiszugeben, etwa durch Abtretung an den Freistellungsschuldner; auch der Grundsatz der Vermögensbindung gebietet es vielmehr, dass die Gesellschaft auf die ihr als Sicherheit dienenden Ersatzansprüche zugreifen kann, solange sich der Sicherungszweck nicht erledigt hat, mithin die Geltendmachung von Prospekthaftungsansprüchen als möglich erscheint. Freilich ist die Gesellschaft verpflichtet, dafür Sorge zu tragen, dass die Inanspruchnahme der ersatzpflichtigen Dritten nicht durch Verjährung der gegen diese gerichteten Ersatzansprüche vereitelt wird. Zum Ergreifen verjährungshindernder Maßnahmen ist das zuständige Organ zum einen nach §§ 93 Abs. 1 Satz 1, 116 Satz 1 AktG – und damit im Verhältnis zur Gesellschaft – verpflichtet, sichern die Ersatzansprüche doch im Ergebnis den Freistellungsanspruch gegen die Aktionäre. Eine entsprechende Verpflichtung besteht aber auch gegenüber den Aktionären selbst, muss doch die Gesellschaft die Ersatzansprüche, sobald die Freistellung erfolgt und eine weitere Inanspruchnahme der Gesellschaft durch Anleger ausgeschlossen ist, an die Aktionäre abtreten, um diesen den Regress zu ermöglichen; dazu gehört auch die Pflicht, für die Werthaltigkeit der Sicherheiten – und damit für die Durchsetzbarkeit etwaiger Ersatzansprüche – zu sorgen.

V. Fazit Mit seinem „DTAG“-Urteil hat der II. Zivilsenat des BGH für einen atypischen Sachverhalt Grundsätze entwickelt, die den Gegebenheiten typischer Fallgestaltungen, darunter insbesondere des Börsengangs im eigentlichen Sin320

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ne, nicht durchweg Rechnung tragen. Die dem § 57 Abs. 1 Satz 3 AktG zugrunde liegende bilanzielle Betrachtungsweise ist, da das Prospekthaftungsrisiko latenter Natur ist und die bilanzielle Abbildung allenfalls „unter dem Strich“ erfolgen kann, nur bedingt geeignet, die Grenzen der Risikoübernahme durch die Gesellschaft zu fixieren. Soweit es allerdings einer Freistellung der Gesellschaft von den Prospektrisiken bedarf, hat diese unbedingt und vorbehaltslos zu erfolgen. Die Abtretung von Ersatzansprüchen kann der Aktionär erst nach erfolgter Freistellung und zudem nur mit der Maßgabe verlangen, dass die Abtretung von Organhaftungssprüchen nicht dem Gesellschaftsinteresse zuwiderlaufen darf.

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Stephan Harbarth

Unternehmerisches Ermessen des Vorstands im Interessenkonflikt Inhaltsübersicht I. Problemaufriss und Eingrenzung II. Unternehmerisches Ermessen 1. Grundlagen 2. ARAG/Garmenbeck-Entscheidung des BGH 3. Normierung der Business Judgment Rule in § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG III. Gesetzliche Regelungen von Interessenkonflikten IV. Voraussetzungen eines rechtlich relevanten Interessenkonflikts 1. Objektiver oder subjektiver Maßstab?

2. Interessenkonflikt bei Betroffenheit nahe stehender Personen? 3. Relevanz V. Rechtsfolgen eines Interessenkonflikts 1. Keine Pflichtverletzung per se 2. Maßstäbe gerichtlicher Kontrolle a) Kein unternehmerisches Ermessen? b) Eingeschränktes unternehmerisches Ermessen VI. Zusammenfassung

I. Problemaufriss und Eingrenzung Dass der Vorstand bei unternehmerischen Entscheidungen einen weiten Handlungsspielraum hat und in solchen Angelegenheiten nicht durch die Gerichte bevormundet werden darf, ist nicht erst seit der Kodifizierung der Business Judgment Rule durch das UMAG in § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG ein anerkannter Grundsatz des Gesellschaftsrechts. Allerdings besteht häufig die Gefahr, dass ein Vorstandsmitglied diesen Spielraum zu seinen persönlichen Gunsten ausnutzt und dadurch der Gesellschaft schadet, deren Interessen zu wahren seine vornehmste Aufgabe ist. Gleichwohl kann von einem Vorstandsmitglied nicht erwartet werden, dass es sich in seinem Privatleben jeglicher Geschäftstätigkeit enthält und keine persönlichen Bindungen eingeht.1 In der Praxis stellt sich daher häufig die Frage, unter welchen Voraussetzungen eine bestimmte unternehmerische Entscheidung, die das Eigeninteresse eines an ihr beteiligten Vorstandsmitglieds oder z. B. eines Verwandten dieses Vorstandsmitglieds berührt, eine Pflichtverletzung i. S. des § 93 Abs. 2 AktG darstellt und zu Schadensersatzforderungen berechtigt. Die Anlässe und Gefährdungslagen sind vielfältig. So ist es denkbar, dass ein Vorstandsmitglied zugleich im Aufsichtsrat einer Bank sitzt, die der betreffenden Gesellschaft

__________ 1 Zu dieser Problemlage vgl. insbes. Lutter in FS Priester, 2007, S. 417, 417 f.

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Kredite gewährt, oder das Vorstandsmitglied selbst Gesellschafter eines Unternehmens ist, das sich um Aufträge der Gesellschaft bemüht.2 Verwickeltere Fallkonstellationen kommen dann in Betracht, wenn nicht das Interesse des Vorstandsmitglieds selbst, sondern das Interesse eines Verwandten oder Bekannten berührt ist, wovon das Vorstandsmitglied vielleicht gar nichts weiß. Ziel dieses Peter Hommelhoff, dem verehrten akademischen Lehrer, gewidmeten Beitrags ist es, das Spannungsverhältnis zwischen unternehmerischem Ermessen und Interessenkonflikten näher zu beleuchten. Die Untersuchung beschränkt sich dabei auf Interessenkollisionen, die das Eigeninteresse des Vorstands einer Aktiengesellschaft betreffen, was eine Relevanz der Ausführungen auch für die Haftung von Aufsichtsratsmitgliedern oder von Organmitgliedern in Gesellschaften anderer Rechtsformen jedoch nicht von vornherein ausschließt.3

II. Unternehmerisches Ermessen 1. Grundlagen Um das Gewicht des Anliegens, die negativen Auswirkungen von Interessenkollisionen nach Möglichkeit zu minimieren, richtig zu bestimmen, empfiehlt es sich, zunächst die Beweggründe für die Anerkennung der Business Judgment Rule im deutschen und ausländischen Kapitalgesellschaftsrecht in den Blick zu nehmen. Von großer Bedeutung waren und sind insoweit ökonomische Erwägungen.4 Dies hängt u. a. damit zusammen, dass man sich in dieser Frage stark am US-amerikanischen Recht orientiert, das die Business Judgment Rule im Grundsatz seit dem 19. Jahrhundert anerkennt5 und das seit jeher vergleichsweise offen ist für die Einbeziehung ökonomischer (und psychologischer) Argumente. Das zentrale Argument für die Garantie eines unternehmerischen Entscheidungsspielraums liegt darin, dass es gerade auch im Interesse der Aktionäre liegt, wenn die Unternehmensleitung Risiken eingeht, denn nur so lassen sich Gewinne erwirtschaften und Marktanteile sichern.6 Die Anwendung risikoloser Geschäftspraktiken bedeutete in einem kompetitiven Umfeld nicht Wah-

__________ 2 Weitere Beispiele bei Lutter (Fn. 1), S. 417, 417; Hopt, ZGR 2004, 1, 8 ff. 3 Die vorliegende Untersuchung, die von Konstellationen des Interessenkonflikts bei betroffenen Eigeninteressen der Vorstandsmitglieder geprägt ist, vermag nicht alle denkbaren Arten von Interessenkollisionen in den Blick zu nehmen (z. B. konzernrechtliche Gefährdungslagen); die Ergebnisse der vorliegenden Untersuchung können auf bestimmte Konstellationen daher nicht oder nur eingeschränkt anwendbar sein. 4 Eingehend Paefgen, AG 2004, 245, 247 f.; Fleischer in FS Wiedemann, 2002, S. 827, 829 ff.; Oltmanns, Geschäftsleiterhaftung und unternehmerisches Ermessen, 2001, S. 21 ff., 237 ff. 5 Vgl. den rechtsvergleichenden Überblick bei Fleischer (Fn. 4), S. 827, 833 ff.; Oltmanns (Fn. 4), S. 19 ff. 6 Aus dem deutschen Schrifttum Brömmelmeyer, WM 2005, 2065, 2066; Paefgen, AG 2004, 245, 247; Fleischer (Fn. 4), S. 827, 829 f.; Ulmer, DB 2004, 859, 860.

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rung des Status quo, sondern Rückschritt und auf lange Sicht den wirtschaftlichen Ruin: „[B]ecause potential profits often correspond to the potential risk, it is very much in the interest of the shareholders that the law not create incentives for overly cautious corporate decisions.“7 Hinzu kommt, dass es in bestimmten Entscheidungssituationen, namentlich ab einem gewissen Komplexitätsgrad, gar nicht möglich ist, gefahrlos zu handeln.8 Würde man dies dennoch verlangen, stünde wohl niemand, der zur Erfüllung der Aufgaben eines Unternehmensleiters befähigt ist, für das Amt zur Verfügung.9 Im Übrigen hätte die Implementierung einer Erfolgshaftung zur Folge, dass letztlich Juristen und nicht Unternehmer unternehmerische Entscheidungen determinieren, weil diese aus Furcht vor Haftungsrisiken die Sehweise der Juristen antizipieren.10 Um aus den genannten Gründen den Kernbereich unternehmerischen Handelns der gerichtlichen Einflussnahme zu entziehen, hat das American Law Institute (ALI) in die Principles of Corporate Governance einen Passus aufgenommen, der zum Vorbild für die Business Judgment Rule gemäß § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG wurde (§ 4.01 (c)):11 „A director or officer who makes a business judgment in good faith fulfils the duty under this section [i. e. „duty of care“] if the director or officer: (1) is not interested in the subject of the business judgment; (2) is informed with respect to the subject of the business judgment to the extent the director or officer reasonably believes to be appropriate under the circumstances; and (3) rationally believes that the business judgment is in the best interest of the corporation.“12 2. ARAG/Garmenbeck-Entscheidung des BGH Dem deutschen Recht waren die Rationalitätserwägungen, die die amerikanische Rechtsprechung und Rechtswissenschaft zu Gunsten des unternehmerischen Ermessens ins Feld führen, auch schon vor der Kodifizierung der Business Judgment Rule im Aktiengesetz keineswegs fremd.13 So heißt es in der Amtlichen Begründung zu § 84 AktG in der Fassung von 1937, eine zu strenge

__________ 7 Joy v. North, 692 F. 2d 880, 886 (2d Cir. 1982). 8 Göppert, Reichweite der Business Judgment Rule bei unternehmerischen Entscheidungen des Aufsichtsrats der Aktiengesellschaft, 2010, S. 121; Ulmer, DB 2004, 859, 860; Fleischer (Fn. 4), S. 827, 830; Oltmanns (Fn. 4), S. 21 (mit Nachweisen aus der amerikanischen Rechtsprechung). 9 Göppert (Fn. 8), S. 121; Paefgen, AG 2004, 245, 247 (mit Nachweisen aus der amerikanischen Rechtsprechung). 10 Vgl. Fleischer (Fn. 4), S. 827, 831 f.; Oltmanns (Fn. 4), S. 21 (mit Nachweisen aus der amerikanischen Rechtsprechung). 11 Dazu u. a. Göppert (Fn. 8), S. 119 f.; Brömmelmeyer, WM 2005, 2065, 2065 f.; Fleischer (Fn. 4), S. 827, 833; Ulmer, DB 2004, 859, 860 f.; Oltmanns (Fn. 4), S. 37 ff. 12 American Law Institute, Principles of Corporate Governance: Analysis and Recommendations, 1994, S. 139. 13 Vgl. Goette in FS 50 Jahre BGH, 2000, S. 123, 125 ff.; Fleischer, ZIP 2004, 685, 686.

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Haftung der Vorstandsmitglieder sei nicht wünschenswert, weil ihnen ansonsten „jeder Mut zur Tat genommen“ werde.14 Als eigentliche Initialzündung der Rezeption der Business Judgment Rule im deutschen Recht gilt indes die ARAG/Garmenbeck-Entscheidung des BGH aus dem Jahre 1997,15 in der das höchste deutsche Zivilgericht so prononciert wie nie zuvor auf die Bedeutung eines weiten Handlungsspielraums des Vorstands hinwies, „ohne den eine unternehmerische Tätigkeit schlechterdings nicht denkbar ist“. Dazu gehöre „neben dem bewussten Eingehen geschäftlicher Risiken grundsätzlich auch die Gefahr von Fehlbeurteilungen und Fehleinschätzungen, der jeder Unternehmensleiter, mag er auch noch so verantwortungsbewusst handeln, ausgesetzt ist.“16 Eine Schadensersatzpflicht des Vorstands für unternehmerische Erfolglosigkeit komme nur dann in Betracht, „wenn die Grenzen, in denen sich ein von Verantwortungsbewußtsein getragenes, ausschließlich am Unternehmenswohl orientiertes, auf sorgfältiger Ermittlung der Entscheidungsgrundlagen beruhendes unternehmerisches Handeln bewegen muss, deutlich überschritten sind, die Bereitschaft, unternehmerische Risiken einzugehen, in unverantwortlicher Weise überspannt worden ist oder das Verhalten des Vorstands aus anderen Gründen als pflichtwidrig gelten muss.“17 3. Normierung der Business Judgment Rule in § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG Nachdem u. a. der Deutsche Juristentag im Jahr 2000 sich die in der ARAG/ Garmenbeck-Entscheidung artikulierten Grundsätze zum unternehmerischen Ermessen zu eigen gemacht hatte,18 reagierte schließlich auch der Gesetzgeber. Die Normierung der Business Judgment Rule in § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG erfolgte 2004 durch das UMAG. Zur Begründung heißt es, die Vorschrift grenze den Bereich unternehmerischen Handlungsspielraums aus dem Tatbestand der Sorgfaltspflichtverletzung nach § 93 Abs. 1 Satz 1 AktG aus und stelle dadurch klar, dass eine Erfolgshaftung der Organmitglieder gegenüber der Gesellschaft ausscheide.19 Ausdrücklich beruft sich die Regierungsbegründung auf Vorbilder „aus dem angelsächsischen Rechtskreis“ und auf die ARAG/GarmenbeckEntscheidung.20 Dabei enthält die Business Judgment Rule fünf Tatbestandsmerkmale, obwohl der Gesetzeswortlaut explizit nur vier Merkmale ausweist.

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14 Klausing, Gesetz über Aktiengesellschaften und Kommanditgesellschaften auf Aktien nebst Einführungsgesetz und Amtlicher Begründung, 1937, S. 71: „Eine Haftung des Vorstands für den Erfolg seiner Geschäftsführung ohne Rücksicht auf sein Verschulden würde nur zur Folge haben, dass die Verantwortungsfreudigkeit eines Vorstandsmitgliedes erheblich herabgemindert und ihm jeder Mut zur Tat genommen wird.“ 15 Fleischer, ZIP 2004, 685, 686; Henze, NJW 1998, 3309, 3310; Horn, ZIP 1997, 1129, 1134; Oltmanns (Fn. 4), S. 234; Ulmer, DB 2004, 859, 861; Paefgen, AG 2004, 245, 247. 16 BGH, NJW 1997, 1926, 1927. 17 BGH, NJW 1997, 1926, 1928. 18 Verhandlungen des 63. DJT (2000), Bd. II/1, S. O 79: „Die ‚business judgment rule‘ sollte in § 93 Abs. 2 AktG verankert werden.“ 19 Begr. RegE BT-Drucks. 15/5092, S. 11. 20 Begr. RegE BT-Drucks. 15/5092, S. 11.

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Die Anwendung setzt voraus, dass (1) eine unternehmerische Entscheidung vorlag, (2) das Vorstandshandeln auf angemessener Information basierte, (3) es frei von Sonderinteressen und sachfremden Einflüssen war, (4) es dem Wohle der Gesellschaft diente und (5) der Handelnde gutgläubig war.21 Dass es der Gesetzgeber nicht für nötig hielt, das Merkmal „Handeln ohne Sonderinteressen und sachfremde Einflüsse“ ausdrücklich in den Gesetzestext aufzunehmen, ist teilweise auf Kritik gestoßen,22 weil so der falsche Eindruck entstehen könne, dass man bereits dann gemäß der Business Judgment Rule handele, wenn man auch, aber nicht nur das Unternehmensinteresse verfolge.23 Es stelle sich die Frage, ob ohne eine ausdrückliche Erwähnung aller Tatbestandsmerkmale das Gesetz die erwünschte Appellfunktion, die mit der Aufnahme der Business Judgment Rule in das Aktiengesetz verbunden sein solle und die eine Tätigkeit des Gesetzgebers maßgeblich legitimiere, überhaupt erfüllen könne.24 In der Sache freilich besteht weitgehend Einigkeit, dass bei einer Interessenkollision § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG keine Anwendung findet.25

III. Gesetzliche Regelungen von Interessenkonflikten Interessenkonflikte sind im Wirtschaftsleben allgegenwärtig. Sie können auf familiären Bindungen, auf der Beteiligung an anderen Unternehmen, auf der Mitgliedschaft in Organisationen und auf vielen anderen Umständen beruhen. In Anbetracht dieser Vielfalt und Präsenz ist die Zurückhaltung der Gesetzgebung erstaunlich.26 Soweit der Gesetzgeber eingegriffen hat, betreffen die Regelungen nicht notwendigerweise unternehmerische Entscheidungen i. S. des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG. Das gilt etwa für § 136 Abs. 1 AktG, der jedem Aktionär die Ausübung des Stimmrechts untersagt, sofern darüber Beschluss gefasst wird, ob er zu entlasten oder von einer Verbindlichkeit zu befreien ist oder ob

__________ 21 Begr. RegE BT-Drucks. 15/5092, S. 11: „Diese Tatbestandseinschränkung setzt fünf – teils implizite – Merkmale voraus: Unternehmerische Entscheidung, Gutgläubigkeit, Handeln ohne Sonderinteressen und sachfremde Einflüsse, Handeln zum Wohle der Gesellschaft und Handeln auf der Grundlage angemessener Information. Dies entspricht Vorbildern der Business Judgment Rule aus dem angelsächsischen Rechtskreis und findet Parallelen in der neueren höchstrichterlichen Rechtsprechung des BGH …“ 22 Vgl. aber Schäfer, ZIP 2005, 1253, 1255, 1257. 23 Brömmelmeyer, WM 2005, 2065, 2068. 24 Ihrig, WM 2004, 2098, 2105. 25 Umstritten ist hingegen die dogmatische Verortung der Business Judgment Rule (vgl. einerseits Hopt/Roth in Großkomm. AktG, 4. Aufl. 2006, § 93 Abs. 1 Satz 2, 4 AktG n. F. Rz. 12; Spindler in MünchKomm. AktG, 3. Aufl. 2008, § 93 AktG Rz. 38; Hoffmann-Becking, NZG 2006, 127, 128; Zumbansen/Lachner, BB 2006, 613, 614; andererseits Fleischer in Spindler/Stilz, 2. Aufl. 2010, § 93 AktG Rz. 65; vgl. auch Brömmelmeyer, WM 2005, 2065, 2069; ferner Hüffer, 9. Aufl. 2010, § 93 AktG Rz. 4c, 4d; Lutter in FS Canaris, Bd. 2, 2007, S. 245, 247; Uwe H. Schneider in FS Hüffer, 2010, S. 905, 908). In der Regel, jedenfalls soweit feststeht, dass die Voraussetzungen der Business Judgment Rule nicht vorliegen, hat die dogmatische Einordnung allerdings keine praktischen Konsequenzen. 26 Vgl. auch den Überblick bei Vetter in FS Hopt, 2010, S. 2657, 2666 ff.

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die Gesellschaft gegen ihn einen Anspruch geltend machen soll. § 142 Abs. 1 Satz 2 AktG statuiert ein ähnliches Mitwirkungsverbot bei der Bestellung von Sonderprüfern. Sonderfälle von (potentiellen) Interessenkonflikten bei unternehmerischen Entscheidungen sind in §§ 88, 89 AktG normiert. Nach § 88 Abs. 1 Satz 2 AktG dürfen Vorstandsmitglieder ohne Einwilligung des Aufsichtsrats weder ein Handelsgewerbe betreiben noch im Geschäftszweig der Gesellschaft für eigene oder fremde Rechnung Geschäfte tätigen. § 89 Abs. 1 AktG gestattet eine Kreditgewährung an Vorstandsmitglieder nur unter engen Voraussetzungen, namentlich nur auf Grund eines Beschlusses des Aufsichtsrats. In Ermangelung einer Generalnorm zur Behandlung von Interessenkonflikten im Aktiengesetz greift die Literatur in diesem Zusammenhang auch auf § 34 BGB zurück, wonach ein Vereinsmitglied nicht stimmberechtigt ist, wenn die Beschlussfassung die Vornahme eines Rechtsgeschäfts mit ihm bzw. die Einleitung oder die Erledigung eines Rechtsstreits zwischen ihm und dem Verein betrifft. In analoger Anwendung dieser Vorschrift ergibt sich nach h. M. – jedenfalls für Aufsichtsratsmitglieder – ein Stimmverbot, sofern über ein Rechtsgeschäft abgestimmt wird, an dem die Aufsichtsratsmitglieder persönlich beteiligt sind.27 Neben handfesten Mitwirkungsverboten kommen bei Interessenkollisionen auch Offenlegungspflichten in Betracht. Eine solche Pflicht statuiert das WpÜG für den in der Praxis nicht seltenen Fall, dass bei einer Übernahme einzelne Mitglieder von Vorstand und Aufsichtsrat selbst Wertpapiere der Zielgesellschaft halten. Jedes Organmitglied, das auf eine solche Weise mit der Zielgesellschaft verbunden ist, hat im Rahmen der Stellungnahme nach § 27 WpÜG anzugeben, ob es im Hinblick auf die eigenen Beteiligungen das Angebot des Bieters anzunehmen beabsichtigt (§ 27 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 WpÜG).28 Auch der Deutsche Corporate Governance Kodex (DCGK) vertraut in erster Linie den positiven Effekten einer transparenten Unternehmensführung.29 Nach Ziffer 4.3.4 Satz 1 DCGK soll jedes Vorstandsmitglied Interessenkonflikte dem Aufsichtsrat gegenüber offen legen und die anderen Vorstandsmitglieder hierüber informieren. Darüber hinaus sieht der DCGK – freilich im Sinne einer unverbindlichen Wiedergabe des Gesetzesrechts, wie es der DCGK wahrnimmt – vor, dass alle Geschäfte zwischen dem Unternehmen einerseits und

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27 OLG Stuttgart, AG 2007, 873, 876; Habersack in MünchKomm. AktG, 3. Aufl. 2008, § 108 AktG Rz. 29; Hoffmann-Becking in Münch.Hdb. AG, 3. Aufl. 2007, § 31 Rz. 66; Ulmer, NJW 1982, 2288, 2289; Hüffer (Fn. 25), § 108 AktG Rz. 9; Hopt/Roth in Großkomm. AktG, 4. Aufl. 2005, § 108 AktG Rz. 54; Spindler in Spindler/Stilz (Fn. 25), § 108 AktG Rz. 26. 28 Dazu insbes. Vetter (Fn. 26), S. 2657, 2668 ff.; Fleischer/Schmolke, DB 2007, 95 ff.; Harbarth in Baums/Thoma, 2008, § 27 WpÜG Rz. 57 ff. 29 Dazu Ringleb in Ringleb/Kremer/Lutter/v. Werder, DCGK, 4. Aufl. 2010, Rz. 821 ff. Zur jüngsten Diskussion um die Änderung des DCGK in Bezug auf Interessenkonflikte bei Aufsichtsratsmitgliedern Scholderer, NZG 2012, 168 ff. Vgl. auch die (unverbindliche) Konkretisierung der Unabhängigkeit von Aufsichtsratsmitgliedern in Anhang II der Empfehlung der Kommission v. 15.2.2005 zu den Aufgaben von Aufsichtsratsmitgliedern (2005/162/EG).

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den Vorstandsmitgliedern sowie ihnen nahe stehenden Personen oder ihnen persönlich nahe stehenden Unternehmungen andererseits branchenüblichen Standards zu entsprechen haben (Satz 2). Zudem differenziert der DCGK zwischen „wesentlichen“ und „unwesentlichen“ Geschäfte, ohne allerdings die Wesentlichkeitsschwelle in irgendeiner Weise zu konkretisieren; nur wesentliche Geschäfte, die eigene Interessen berühren, sollen der Zustimmung des Aufsichtsrats bedürfen (Satz 3).

IV. Voraussetzungen eines rechtlich relevanten Interessenkonflikts 1. Objektiver oder subjektiver Maßstab? Nach h. M. muss das Handeln ohne Sonderinteressen und sachfremde Erwägungen objektiv vorliegen, um die Business Judgment Rule anwenden zu können. Es reiche nicht aus, wenn das Vorstandsmitglied gutgläubig das Nichtvorhandensein eines Interessenkonflikts angenommen habe.30 Dem kann in dieser Form nicht zugestimmt werden.31 Dagegen spricht, dass nach dem Verständnis der Regierungsbegründung die Freiheit von Interessenkonflikten Bestandteil des Tatbestandsmerkmals „Handeln zum Wohle der Gesellschaft“ ist. Nach dem Wortlaut des Gesetzes reicht es jedoch aus, dass das Vorstandsmitglied „vernünftigerweise annehmen durfte“, zum Wohle der Gesellschaft zu handeln. Dazu heißt es in der Regierungsbegründung: „Das Merkmal der ‚Annahme‘ zwingt zu einem Perspektivwechsel in der Beurteilung, die Voraussetzungen der Entscheidungsfindung sind also aus der Sicht des betreffenden Organs zu beurteilen. Diese Sichtweise wird durch das ‚annehmen Dürfen‘ begrenzt und objektiviert. Als Maßstab für die Überprüfung, ob die Annahme des Vorstands nicht zu beanstanden ist, dient das Merkmal ‚vernünftigerweise‘.“32 Folglich muss auch bei der Beurteilung der Frage, ob ein Interessenkonflikt vorlag oder nicht, ein objektivierter subjektiver Maßstab angelegt werden, der leichtgläubige, schlecht informierte Vorstandsmitglieder nicht privilegiert, zugleich aber auch nicht die Nachforschungspflichten überspannt. Grundsätzlich gilt, dass die Vorgabe des Fehlens eines Interessenkonflikts zu einer Verengung des Entscheidungsspielraums eines Vorstandsmitglieds führen soll, wenn die Unbefangenheit der Entscheidungsfindung in Frage steht. Dies kann indes nur dann der Fall sein, wenn das Vorstandsmitglied von den Umständen weiß oder wissen musste, die den Interessenkonflikt begründen.33

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30 Hopt/Roth (Fn. 25), § 93 Abs. 1 Satz 2, 4 AktG n. F. Rz. 41; Spindler (Fn. 25), § 93 AktG Rz. 55; besonders entschieden Lutter (Fn. 25), S. 245, 247 („objektiver Interessenkonflikt“); Lutter (Fn. 1), S. 417, 422 f. („… kann es sich nur um einen ‚objektiven Tatbestand‘ handeln. Es kommt also überhaupt nicht darauf an, ob sich das betreffende Organmitglied ‚befangen‘ fühlt oder nicht, ob es den Konflikt erkennt und empfindet oder nicht“); Göppert (Fn. 8), S. 140 („uneingeschränkt objektiv festzustellende Voraussetzung“); wohl auch Fleischer (Fn. 25), § 93 AktG Rz. 72. 31 Ebenso wohl Hüffer (Fn. 25), § 93 AktG Rz. 4e; Schäfer, ZIP 2005, 1253, 1257. 32 Begr. RegE BT-Drucks. 15/5092, S. 11. 33 Noch weitergehend für die Anwendung des „strikt subjektiven Ansatzes“ der Delaware-Rechtsprechung (allerdings wohl de lege ferenda) Paefgen, AG 2004, 245, 252.

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Nur dann kommt eine psychische Zwangslage in Betracht, die seine Urteilsfähigkeit beeinträchtigt. Die Formulierung in der Regierungsbegründung, die den Anschein erweckt, es sei ein objektiver Maßstab anzulegen („Das Handeln muss ferner unbeeinflusst von Interessenkonflikten, Fremdeinflüssen und ohne unmittelbaren Eigennutz sein“34),35 erklärt sich damit, dass sie hierbei den Normalfall im Blick hat und diesen in den Vordergrund stellt.36 Zu Recht: Ein Vorstandsmitglied darf nicht die Augen vor einer nahe liegenden, seine Person betreffenden (objektiven) Interessenkollision verschließen. Tut es dies, so kann es sich nicht auf die Business Judgment Rule berufen, auch wenn er sich subjektiv nicht in einer Zwangslage befindet. Andernfalls wären Schutzbehauptungen Tür und Tor geöffnet. Die Feststellung der Regierungsbegründung, das Merkmal der Gutgläubigkeit sei Bestandteil des „annehmen Dürfens“,37 bedeutet im Übrigen lediglich, dass die Gutgläubigkeit nicht per se das „annehmen Dürfen“ begründet, nicht aber umgekehrt, dass es bei einem objektiven Interessenkonflikt per se nicht auf die Bös- oder Gutgläubigkeit ankommt. In der Sache wäre die Anwendung eines objektiven Maßstabs nur einleuchtend, wenn man von vornherein den Kreis der in Betracht kommenden Interessenkonflikte sehr eng zöge, also etwa nur solche berücksichtigte, die die höchstpersönlichen Verhältnisse des Vorstandsmitglieds betreffen. Sofern man hingegen auch Interessenkonflikte unter Beteiligung nahestehender Personen einbezieht, erweist sich der objektivierte subjektive Maßstab als sachgerechter. So ist es beispielsweise alles andere als unrealistisch, dass ein enger Verwandter über Beteiligungen an einem anderen Unternehmen (z. B. einem Lieferanten) verfügt, die objektiv einen Interessenkonflikt begründen, von denen das Vorstandsmitglied indes nichts weiß und den Umständen nach auch nichts wissen konnte. In solchen Fällen automatisch § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG für unanwendbar zu erklären, wäre zu undifferenziert und würde letztlich die Business Judgment Rule aushöhlen. 2. Interessenkonflikt bei Betroffenheit nahe stehender Personen? Da noch nicht einmal die Abwesenheit von Interessenkonflikten explizit als Voraussetzung für die Anwendbarkeit des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG geregelt wurde, trifft das Gesetz natürlich auch keine Feststellung dazu, ob und inwieweit eine Kollision mit den Interessen dem Vorstandsmitglied nahe stehender Personen der Anwendung der Business Judgment Rule entgegen steht. Lediglich der Regierungsbegründung lässt sich entnehmen, dass auch ein „Handeln zum Nutzen von dem Geschäftsleiter nahe stehenden Personen oder Gesell-

__________ 34 35 36 37

Begr. RegE BT-Drucks. 15/5092, S. 11. Dazu Hopt/Roth (Fn. 25), § 93 Abs. 1 Satz 2, 4 AktG n. F. Rz. 41. Vgl. Schäfer, ZIP 2005, 1253, 1257. Begr. RegE BT-Drucks. 15/5092, S. 11.

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schaften“ erfasst sein soll.38 Näher erläutert wird dieses Merkmal nicht.39 Dies ist deshalb misslich, weil keine allgemeine Vorschrift existiert, die verbindlich festlegt, wer zur Gruppe „nahe stehender Personen“ gehört. Fast jede Norm, die von Interessenkonflikten (im weitesten Sinn) handelt, definiert das „Näheverhältnis“ anders. Nach § 89 Abs. 3 Satz 1 AktG bestehen Restriktionen und Zustimmungsvorbehalte nicht nur, wenn einem Vorstandsmitglied selbst ein Kredit gewährt wird, sondern auch wenn Kredite „an den Ehegatten, Lebenspartner oder an ein minderjähriges Kind eines Vorstandsmitglied“ zur Diskussion stehen. § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5 KWG stellt ebenfalls auf diese drei Gruppen ab. Anders hingegen das WpHG: Nach § 15a Abs. 1 Satz 1 WpHG haben Personen, die bei einem Emittenten von Aktien Führungsaufgaben wahrnehmen, eigene Geschäfte mit Aktien des Emittenten oder sich darauf beziehenden Finanzinstrumenten, dem Emittenten und der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht innerhalb von fünf Werktagen mitzuteilen. Nach Satz 2 gilt dies auch für „Personen, die mit einer solchen Person in einer engen Beziehung stehen“. Dies sind gemäß Abs. 3 Ehepartner, eingetragene Lebenspartner, unterhaltsberechtigte Kinder und andere Verwandte, die mit den Personen aus der Unternehmensführung seit mindestens einem Jahr im selben Haushalt leben. Im Insolvenzrecht ist der Begriff „nahestehende Personen“ bekanntlich längst etabliert. § 138 Abs. 1 InsO zieht den Kreis der betroffenen Personen vergleichsweise weit. Neben Verwandten des Schuldners in auf- und absteigender Linie sowie voll- und halbbürtigen Geschwistern sind auch Personen erfasst, die in häuslicher Gemeinschaft mit dem Schuldner leben (oder unlängst gelebt haben). Wieder einen anderen Maßstab legt § 1795 Abs. 1 BGB an. Danach kann ein Vormund den Mündel nicht vertreten bei einem Rechtsgeschäft unter Beteiligung seines – des Vormunds – Ehegatten, Lebenspartners oder eines Verwandten in gerader Linie. Die Beispiele zeigen, dass sich ein gemeinsamer Nenner zur Bestimmung von Nähebeziehungen, die Interessenkonflikte hervorrufen können, in der deutschen Gesetzgebung bislang nicht herausgebildet hat.40 Wenn man zusätzlich die Definitionen anderer Rechtsordnungen einbezieht, wird das Bild noch heterogener.41 Es ist zwar grundsätzlich richtig, dass sich der personelle Radius nach Sinn und Zweck des jeweiligen Gesetzes bestimmt. Doch dieser Grundsatz hilft in Einzelfragen nicht weiter, weil der Telos einer Norm selten so konkret ist, dass daraus zuverlässig abgeleitet werden könnte, ob beispielsweise nur die Interessen der Kinder und Enkel oder auch die der Geschwister

__________ 38 Begr. RegE BT-Drucks. 15/5092, S. 11. 39 Auch für den DCGK ist die Frage nicht geklärt; vgl. Ringleb (Fn. 29), Rz. 832 ff., der auf die „allgemeine Regel“ rekurriert: „‚Nahestehend‘ sind demnach Personen oder Unternehmungen dann, wenn der berechtigte Eindruck entsteht, dass das betroffene Vorstandsmitglied auf diese Personen und Unternehmungen unmittelbar Einfluss nehmen kann.“ 40 Zum Erfordernis einer allgemeinen Zurechnungsregel de lege ferenda Fleischer, WM 2003, 1045, 1057; ferner Hopt, ZGR 2004, 1, 24. 41 Vgl. den Überblick bei Fleischer, WM 2003, 1045, 1057.

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zugerechnet werden. Nicht ganz ohne Grund lehnt der BGH es in ständiger Rechtsprechung ab, Personen, „die dem vom Stimmrecht ausgeschlossenen Gesellschafter persönlich oder rechtlich nahestehen“, in das Stimmverbot nach § 136 Abs. 1 AktG und § 47 Abs. 4 GmbHG einzubeziehen.42 Soweit das Abgrenzungsproblem sich nicht auf diese Weise lösen lässt, wie wohl im Fall der Business Judgment Rule, bleibt zu hoffen, dass „sich Rechtsprechung und Rechtslehre behutsam vorantasten.“43 Mit Blick auf § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG sollten aber zumindest zwei Konstellationen auseinander gehalten werden:44 Es können entweder die Interessen enger Verwandter berührt sein oder die Interessen anderer Personen (z. B. Arbeitskollegen, entferntere Verwandte etc.). Nur die Mitglieder der zuerst genannten Gruppe sollten als „nahe stehende Personen“ gelten. In ihrem Fall bedarf es keines Nachweises, dass das Vorstandsmitglied selbst durch eine Entscheidung zu ihren Gunsten (mittelbar) einen Vorteil erlangt.45 Vielmehr reicht der Beleg aus, dass die Entscheidung mit den Interessen dieser nahe stehenden Personen kollidiert. Aus diesem Grund sollten insoweit wirklich nur enge Verwandte in Betracht kommen, also in jedem Fall die Ehegatten, Lebenspartner oder minderjährigen Kinder von Vorstandsmitgliedern, wie in § 89 Abs. 3 Satz 1 AktG bzw. § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5 KWG normiert. Als Beispiel für einen Standardinteressenkonflikt von Vorstandsmitgliedern führt denn auch die Literatur den Fall an, dass der Geschäftsleiter namens des von ihm geleiteten Unternehmens das Unternehmen seiner Frau kauft bzw. mit deren Unternehmen größere Geschäfte tätigt.46 Darüber hinaus sprechen gute Gründe dafür, auch noch die Geschwister (wohl aber nicht deren Kinder) und alle Verwandten in gerader Linie einzubeziehen. Immerhin bietet der objektivierte subjektive Maßstab (dazu 1.) einen gewissen Schutz vor einer Zurechnung, sofern – ausnahmsweise – keine enge Bindung zu diesen Verwandten besteht (man denke etwa an Fälle familiärer Zerwürfnisse). Alle übrigen Personen, zu denen ein Vorstandsmitglied regelmäßig Kontakte unterhält, sind keine „nahe stehenden Personen“. Trotzdem kann, wenn eine Vorstandsentscheidung ihre Interessen berührt, dies unter Umständen zu einem Ausschluss der Business Judgment Rule führen. Dies dürfte aber dann nicht eine Frage nach der personellen Reichweite, sondern eine nach der Relevanz (dazu 3.) sein, d. h. nach den Anforderungen an Qualität und Gewicht des Interesses, das das Vorstandsmitglied an guten Beziehungen zu den nicht ganz so nahe stehenden Personen hat.

__________ 42 BGHZ 80, 69, 71; 56, 47, 54 – kritisch dazu Roth in Roth/Altmeppen, 6. Aufl. 2009, § 47 GmbHG Rz. 79 ff. 43 Fleischer, WM 2003, 1045, 1057. 44 Bislang scheint man sich mit der allgemeinen Formel zu behelfen, es komme auf den Einzelfall an, zu fordern sei „eine enge Verbundenheit von gewisser zeitlicher Dauer und Intensität“: Göppert (Fn. 8), S. 140. 45 Vgl. zu diesem Merkmal Fleischer, WM 2003, 1045, 1057. 46 Brömmelmeyer, WM 2005, 2065, 2068; Lutter, ZIP 2007, 841, 844; Hauschka, GmbHR 2007, 11, 14.

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3. Relevanz Sodann stellt sich die Frage, welches Gewicht die Interessenkollision aufzuweisen hat, ob also nur schwere oder auch leichtere Interessenkonflikte zum Ausschluss der Business Judgment Rule führen. Wiederum fehlt es dazu an einer unzweideutigen Stellungnahme des Gesetzgebers, sei es auch nur in Form eines Hinweises in der Gesetzesbegründung, so wie sich auch die meisten Kommentare einer Konkretisierung enthalten.47 Diese Enthaltsamkeit könnte dafür sprechen, jeden Interessenkonflikt für beachtlich zu halten, zumal damit auch der Rechtssicherheit gedient wäre, weil man dann nicht vor der Aufgabe stünde, relevante von nicht-relevanten Interessenkonflikten abzugrenzen. Indessen sind in der Praxis Entscheidungen, die in keinerlei Hinsicht mit den eigenen Interessen, Wünschen, Plänen usw. kollidieren, kaum vorstellbar,48 so dass die Business Judgment Rule leer liefe, was gewiss nicht der Intention des Gesetzgebers entspricht.49 In Wahrheit geht daher wohl auch dieser davon aus, dass der Interessenkonflikt eine Relevanzschwelle überschreiten muss, um die Nichtanwendung des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG herbeizuführen, zumal nach der als Vorbild dienenden US-amerikanischen Rechtslage eine solche Differenzierung ebenfalls anerkannt ist.50 Es wird die Aufgabe der Gerichte sein, insoweit eine „Kasuistik ermessenshindernder Interessenkonflikte“ zu entwickeln.51 Bis dahin besteht notwendigerweise eine gewisse Rechtsunsicherheit. Eine Begrenzung ist hierbei allerdings in zweierlei Hinsicht vorgegeben: Zum einen muss gewährleistet sein, dass die Vorteile des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG wirklich nur derjenige in Anspruch nehmen kann, der keinen Anlass hat, sich nicht ausschließlich dem Unternehmensinteresse verpflichtet zu fühlen, zum anderen darf die Business Judgment Rule nicht aufgrund unrealistischer Anforderungen ausgehebelt werden. In den „Principles of Corporate Governance“ (1994) des American Law Institute findet sich die Formulierung des „material pecuniary interest in the transaction“, d. h. ein Interesse, das ernsthaft befürchten lasse, dass es ein Vorstandsmitglied in seinen Entscheidungen beeinflussen werde („… that controlling influence could reasonably be expected to affect the director’s … judgment with respect to the transaction … in a manner adverse to the corporation“). Angesichts der Vielfalt von Interessenkonflikten

__________ 47 Vgl. Hopt/Roth (Fn. 25), § 93 Abs. 1 Satz 2, 4 AktG n. F. Rz. 38 ff.; Fleischer (Fn. 25), § 93 AktG Rz. 72; Spindler (Fn. 25), § 93 AktG Rz. 55. 48 Weiss/Buchner, WM 2005, 162, 164. Man denke etwa daran, dass eine Akquisition für ein Vorstandsmitglied mit zusätzlicher Arbeit, der Verlegung eines Urlaubs etc., das Absehen von einer Akquisition damit verbunden sein kann, dass ein etwa persönlicher Eitelkeit entspringender Wunsch nach Vergrößerung des Unternehmens nicht realisierbar ist; wollte man solche Kollisionen mit eigenen Interessen, Wünschen oder Plänen zum Ausschluss der Anwendbarkeit der Business Judgment Rule führen lassen, würde deren Anwendungsbereich weit über Gebühr beschnitten. 49 Schlimm, Das Geschäftsleiterermessen des Vorstands einer Aktiengesellschaft, 2009, S. 296. 50 Dazu insbes. Schlimm (Fn. 49), S. 72 ff., 294 ff.; Paefgen, Unternehmerische Entscheidung und Rechtsbindung der Organe in der AG, 2002, S. 214 ff. 51 Paefgen (Fn. 50), S. 217.

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wird man im Rahmen einer allgemeingültigen Definition in der Tat keine konkretere Aussage treffen können als die, dass die „Wesentlichkeit“ oder „Erheblichkeit“ (materiality) eines Konflikts der Anwendung der Business Judgment Rule entgegensteht. Der Konflikt muss geeignet sein, sich auf die Entscheidung auszuwirken.52 Die Differenzierung zwischen wesentlichen und nicht wesentlichen Interessenkonflikten ist auch dem DCGK nicht fremd: „Wesentliche und nicht nur vorübergehende Interessenkonflikte“ sollen nach Ziffer 5.5.3 DCGK zur Beendigung des (Aufsichtsrats-)Mandats führen. Der BGH stellt in diesem Fall hohe Anforderungen an die „Wesentlichkeit“. Ein Interessenkonflikt sei nur „wesentlich“ bei „breitflächigen Auswirkungen auf weite Teile der Organtätigkeit.“53 Indes muss die Wesentlichkeitsschwelle im Hinblick auf die in Ziffer 5.5.3 DCGK angesprochene Mandatsbeendigung höher angesiedelt werden als bei der Beurteilung des Vorliegens eines Interessenkonflikts überhaupt. Nach unten hin begrenzt die „Marginalitätsformel“ das Wesentlichkeitskriterium. Sie wird vereinzelt von deutschen Gerichten (wenngleich wiederum in einem etwas anderen Kontext) verwendet, etwa wenn es heißt, dass ein Vertrag zwischen einer Aktiengesellschaft und einer GmbH, an der ein Mitglied des Aufsichtsrats der Aktiengesellschaft nicht nur marginal beteiligt ist, analog § 114 Abs. 1 AktG der Zustimmung des Aufsichtsrats bedürfe.54 Man wird also sagen können, dass ein Interessenkonflikt zumindest dann nicht den Ausschluss der Business Judgment Rule bedingt, wenn den widerstreitenden privaten Interessen lediglich eine „marginale“ Bedeutung zukommt. Die angeführte Definition der „Principles of Corporate Governance“ enthält noch zwei weitere Konkretisierungen. So soll es offenbar ausschließlich auf finanzielle (pecuniary) Interessen ankommen sowie darauf, was „vernünftigerweise“ (reasonably) als einer Manipulation förderlich gelten kann. Beide Aspekte tauchen auch in § 8.60 des Revised Model Business Corporation Act (RMBCA) auf. Diese Regelung stellt darauf ab, „whether … the director knows at the time of commitment that he or a related person is a party to the transaction or has a beneficial financial interest in or so closely linked to the transaction and of such financial significance to the director or a related person that the interest would reasonably be expected to exert an influence on the director’s judgment if he were called upon vote on the transaction.“55 Was die Begrenzung auf einen „finanziellen“ Interessenwiderstreit anbelangt, so sind Zweifel angebracht, ob nach deutschem Recht diese Einschränkung vorgenommen werden kann.56 Dem Begriff nach schließt „Interessenkollision“ auch die Kollision mit ideellen Interessen ein. Zudem ist unbestreitbar, dass auch

__________ 52 53 54 55 56

Schlimm (Fn. 49), S. 296; Paefgen (Fn. 50), S. 215. BGH, AG 2009, 285, 289. OLG Frankfurt, ZIP 2005, 2322, 2323. Dazu Paefgen (Fn. 50), S. 214 f. Für die Berücksichtigung ideeller Interessen auch Paefgen (Fn. 50), S. 215 f.; Schlimm (Fn. 49), S. 298.

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die Aussicht auf ideelle Vorteile für Vorstandsmitglieder einen hinreichenden Anreiz bieten kann, das Unternehmensinteresse zu vernachlässigen. Freilich wird man, wenn solche Vorteile in Betracht kommen, besonders gründlich zu untersuchen haben, ob sie von einer solchen Intensität sind, dass sie geeignet erscheinen, eine unternehmerische Entscheidung zu beeinflussen. Grundsätzliche Zustimmung verdient die Orientierung am Maßstab der objective reasonable person,57 sofern nicht ausnahmsweise sicher feststeht, dass das Verhalten des betreffenden Vorstandsmitglieds von diesen objektiven Standards in signifikanter Weise abweicht. Diese Einschränkung ist notwendig, um auszuschließen, dass trotz evidenter Rücksichtnahme auf eigene Interessen einem Vorstandsmitglied die Business Judgment Rule zugute kommt, nur weil ein „objektiver“, „vernünftiger“ Vorstand sich nicht hätte beeinflussen lassen.58 Sind die Interessen, die unmittelbar von der Entscheidung berührt werden, für das Vorstandsmitglied selbst oder für eine ihm nahestehende Person (dazu 2.) „wesentlich“ bzw. „nicht-marginal“, ist die Prüfung an dieser Stelle beendet und es steht fest, dass ein Interessenkonflikt vorliegt, der die Nichtanwendung der Business Judgment Rule zur Folge hat. Sollte die Entscheidung indes die Interessen eines Dritten wesentlich berühren, der zwar nicht dem Kreis der nahestehenden Personen (im oben definierten Sinn) angehört, aber an dessen Wohlergehen das Vorstandsmitglied dennoch ein Interesse hat, wirft das die Frage auf, ob dieses abgeleitete Interesse ausreicht, um eine Nichtanwendung zu rechtfertigen. Dies kann nicht durchgängig bejaht werden. Vielmehr kommt es entscheidend darauf an, ob aufgrund der Enge der Beziehung zur betroffenen Person die wesentliche Berührung der Interessen dieser Person zugleich dazu führt, eine wesentliche Berührung der Interessen des Vorstandsmitglieds zu bejahen. Dies kann dann der Fall sein, wenn der Dritte das Vorstandsmitglied gleichsam „in der Hand“ hat und in der Lage ist, das Verhalten des Vorstandsmitglieds zu sanktionieren.59 Aber auch unterhalb dieser Schwelle mag die persönliche Verbindung derart eng sein, dass durch die Drittbetroffenheit wesentliche Interessen auch des Vorstandsmitglieds berührt sein können.

V. Rechtsfolgen eines Interessenkonflikts Die Rechtsfolgen eines rechtlich relevanten Interessenkonflikts im Hinblick auf die Business Judgment Rule liegen auf der Hand: Dem Betroffenen kommt die Privilegierung des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG nicht zugute. Doch dieses Ergebnis ist nur auf den ersten Blick eindeutig. Zugleich wird nämlich die weitere Frage aufgeworfen, welcher andere Handlungsmaßstab gilt: Haftet das Vorstandsmitglied für etwa auftretende Schäden im Falle eines Interessenkonflikts

__________ 57 Vgl. Paefgen (Fn. 50), S. 215: „bei verständiger Würdigung“. 58 So die amerikanische Rechtsprechung (Delaware): Cinerama, Inc. v. Technicolor, Inc., Del. Supr., 663 A 2d 1156, 1168, n. 22 (1995). Zustimmend Schlimm (Fn. 49), S. 296. 59 Vgl. Schlimm (Fn. 49), S. 298.

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automatisch (dazu 1.)? Oder gilt lediglich ein anderer Maßstab gerichtlicher Kontrolle, gegebenenfalls welcher (dazu 2.)?60 1. Keine Pflichtverletzung per se Auch wenn es sicherlich Fälle von Interessenkollisionen gibt, die so eklatant sind, dass sich ein Handeln der Betroffenen zum Wohle der Gesellschaft ausschließen lässt, so ist doch an der Differenzierung zwischen Interessenkonflikt und Pflichtverletzung unbedingt festzuhalten. Ein Vorstandsmitglied, das so gehandelt hat, wie es den Anforderungen an das Handeln eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters entspricht, darf nicht allein deshalb für einen Verlust in Anspruch genommen werden, weil es ein erhebliches Eigeninteresse an der Entscheidung hat oder hatte. Das gilt natürlich erst recht für die Grenzfälle der „Erheblichkeit“ des Eigeninteresses. Dass ein Interessenkonflikt keine Pflichtverletzung per se begründet, ist daher in der Literatur weitgehend unstreitig.61 2. Maßstäbe gerichtlicher Kontrolle Somit bleibt zu klären, an welchem Maßstab Gerichte Entscheidungen von Vorstandsmitgliedern zu messen haben, die in einem Interessenkonflikt handeln. Möglicherweise besteht in solchen Fällen überhaupt kein unternehmerisches Ermessen (dazu a)), möglicherweise ist es aber auch nur reduziert (dazu b)).62 a) Kein unternehmerisches Ermessen? Dass die Business Judgment Rule wegen eines Interessenkonflikts nicht eingreift, könnte so verstanden werden, dass dann die Gerichte beurteilen, ob die betreffenden Vorstandsmitglieder sich damals „richtig“ verhalten haben. Auch wenn die Gerichte dazu verpflichtet sind, die ex ante-Perspektive einzunehmen,63 liefe dies in der Praxis wohl auf eine Erfolgshaftung bzw. eine Haftung für das Bestehen eines Interessenkonflikts hinaus.64 In der psychologischen

__________ 60 Nicht näher betrachtet werden können in dieser Untersuchung demgegenüber die weiteren Fragen, unter welchen Voraussetzungen die Entscheidung des Gesamtvorstands „infiziert“ wird, wenn ein Interessenkonflikt lediglich in der Person eines einzelnen Vorstandsmitglieds oder einiger weniger Vorstandsmitglieder vorliegt, und welche Verhaltenspflichten ein befangenes Vorstandsmitglied treffen. 61 Scholderer, NZG 2012, 168, 175; Göppert (Fn. 8), S. 141; Mertens/Cahn in KölnKomm. AktG, 3. Aufl. 2010, § 93 AktG Rz. 15; Fleischer (Fn. 25), § 93 AktG Rz. 65; Fleischer, ZIP 2004, 685, 689; Schäfer, ZIP 2005, 1235, 1255; Ihrig, WM 2004, 2098, 2103; Lutter (Fn. 25), S. 245, 250 f. 62 Vgl. dazu bereits Harbarth/Winter, ZIP 2002, 1, 10. 63 Vgl. BGHZ 75, 96, 113. Zur ex ante-Perspektive im Rahmen der Business Judgment Rule: Begr. RegE UMAG, BT-Drucks. 15/5092, S. 11 („Es geht dabei nicht um das ex post ermittelte Wohl der Gesellschaft“); Mertens/Cahn (Fn. 61), § 93 AktG Rz. 23; Fleischer (Fn. 25), § 93 AktG Rz. 71; Weiss/Buchner, WM 2005, 163, 164. 64 Vgl. Krieger in Krieger/Uwe H. Schneider (Hrsg.), Handbuch Managerhaftung, 2. Aufl. 2010, § 3 Rz. 18.

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Unternehmerisches Ermessen des Vorstands im Interessenkonflikt

Forschung ist das Phänomen unter dem Begriff „Rückschaufehler“ oder „hindsight bias“ bekannt:65 Menschen neigen dazu, in der Rückschau auf abgeschlossene Vorgänge die Wahrscheinlichkeit zu überschätzen, mit der sie die Abläufe vorhergesagt hätten.66 Hinzu kommt, dass sich ohnehin die volle Komplexität eines unternehmerischen Entscheidungsfeldes im Nachhinein kaum noch rekonstruieren lässt,67 zumal nicht von Richtern, die eben Richter und keine Manager sind und denen es an theoretischer wie praktischer Expertise in Fragen der Unternehmensführung fehlt.68 Diese Argumente, die für die gesetzliche Implementierung der Business Judgment Rule maßgeblich waren, verlieren nicht mit einem Schlag ihre Berechtigung, nur weil ein Vorstandsmitglied sich in einem Interessenkonflikt befindet. Auch dann noch erscheint ein gewisses Maß an Rücksichtnahme auf die konkrete Entscheidungssituation und die realistischen Entscheidungsalternativen geboten. Der Entscheidungsmaßstab muss so gewählt sein, dass er die Gerichte davon abhält, ihren Wissensvorsprung und ihre fehlende betriebswirtschaftliche Kompetenz zum Nachteil eines Vorstandsmitglieds zu verwenden, dessen einziges „Vergehen“ – beispielsweise – darin besteht, dass ein Bruder oder anderer naher Verwandter über Anteile an einer zu erwerbenden Gesellschaft verfügt. Ein strengerer Maßstab hätte zur Folge, dass Organmitglieder eine übertriebene Risikoscheu an den Tag legen.69 Ob in der Literatur dennoch die Auffassung vertreten wird, bei Interessenkonflikten könne es kein unternehmerisches Ermessen geben, ist nicht ganz klar. Einerseits geht man von einer „vollen gerichtlichen Überprüfbarkeit“ aus70 und weist auf den US-amerikanischen entire fairness test – im Sinne einer „vollständigen Überprüfung der unternehmerischen Entscheidung“71 – hin, andererseits stellt man auf die „inhaltliche Vertretbarkeit“ und „Plausibilität“ der Vorstandsentscheidung ab.72 Nur wenn sich die „volle Nachprüfbarkeit“ auf das (sogleich zu bestimmende) reduzierte unternehmerische Ermessen beziehen sollte,73 wäre dem zuzustimmen.

__________ 65 Fischhoff, Hindsight? Foresight. The Effect of Outcome Knowledge on Judgment under Uncertainty, J. Eperimental Psychol. Hum. Perception & Performance 1 (1975), 288 ff.; Fischhoff/Beyth, „I knew it would happen“: Remembered probabilities of once-future things, Organizational Behavior and Human Performance 13 (1975), 1 ff.; Pohl, Hindsight bias, in Pohl (Hrsg.), Cognitive illusions: A handbook on fallacies and biases in thinking, judgment and memory, 2004, S. 363 ff. 66 Fleischer (Fn. 4), S. 827, 832; Fleischer, ZIP 2004, 685, 686. 67 Fleischer (Fn. 4), S. 827, 831. 68 Fleischer (Fn. 4), S. 827, 831 f. 69 Vgl. Fleischer, ZIP 2004, 685, 685. 70 Scholderer, NZG 2012, 168, 175; Lutter (Fn. 25), S. 245, 247. 71 Ihrig, WM 2004, 2098, 2103. 72 Lutter (Fn. 25), S. 245, 247 (Fn. 23). Für einen der gerichtlichen Kontrolle nur bedingt unterworfenen Beurteilungsspielraum bei Nichteingreifen der Business Judgment Rule (bei Pflichtaufgaben) Holle, AG 2011, 778, 785. 73 In diesem Sinne Hopt/Roth (Fn. 25), § 93 Abs. 1 Satz 2, 4 AktG n. F. Rz. 59.

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b) Eingeschränktes unternehmerisches Ermessen Nach § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG liegt eine Pflichtverletzung nicht vor, wenn das Vorstandsmitglied bei einer unternehmerischen Entscheidung vernünftigerweise annehmen durfte, auf der Grundlage angemessener Information zum Wohle der Gesellschaft zu handeln. Da die Business Judgment Rule auf unternehmerisches Handeln im Interessenkonflikt nicht anwendbar ist, folgt daraus, dass auch „Vernünftigkeit“ bzw. „Rationalität“ als Ermessensmaßstab in diesem Fall ausscheidet. Um noch als gesetzeskonform gelten zu können, muss die Entscheidung des Vorstandes im Interessenkonflikt demnach mehr als nur „vernünftig“ (oder „nicht unvernünftig“) sein. Dieser Begriff markiert die Grenze zwischen vollem und eingeschränktem unternehmerischen Ermessen. Dazu passt, dass nach US-amerikanischem Recht, das bei der Normierung der deutschen Business Judgment Rule als Vorbild diente, eine rationale Begründung für die unternehmerische Entscheidung ausreicht, um in den Genuss der „normalen“ Business Judgment Rule zu gelangen.74 Die Rechtsprechung spricht von „any rational business purpose.“75 Das amerikanische Recht kennt aber auch noch eine „modified“ Business Judgment Rule, die strengere Maßstäbe anlegt.76 Als Pendant bietet sich im deutschen Recht das Kriterium der „Vertretbarkeit“ an.77 Die Rechtsprechung gebraucht es in verschiedenen Kontexten, die nach Lage der Dinge stets eine gewisse Sorge um das Unternehmenswohl beinhalten, die indes nicht soweit reicht, dass sich eine vollständige „Entmündigung“ der Unternehmensführung rechtfertigen lässt. Zu dieser Fallgruppe gehört allen voran – als ein Sonderfall eines Interessenkonflikts – die in § 89 AktG gesetzlich regulierte Kreditgewährung an Vorstandsmitglieder. Der BGH führt als ratio legis der Einschaltung des Aufsichtsrats nach § 89 Abs. 1 Satz 1 AktG an, diese solle gewährleisten, „dass das Gesellschaftsinteresse, der Rahmen des wirtschaftlich Vertretbaren und die Regeln ordentlicher Kreditvergabe in hinreichendem Maße beachtet werden.“78 In die gleiche Richtung weisen Entscheidungen zur Fortführungsprognose des Geschäftsführers bei einer rechnerischen Überschuldung der Gesellschaft. Auch in dem Fall billigt der BGH den Verantwortlichen einen „gewissen Beurteilungsspielraum“ zu und erkennt Sanierungsbemühungen an, „soweit sie vertretbar sind.“79 Ebenso gestattet es

__________ 74 Hopt/Roth (Fn. 25), § 93 Abs. 1 Satz 2, 4 AktG n. F. Rz. 58. 75 Sinclair Oil Corp. v. Levien 280 A. 2d 717, 720 (Del. 1971); dazu Paefgen, AG 2004, 245, 255. 76 Merkt/Göthel, US-amerikanisches Gesellschaftsrecht, 2. Aufl. 2006, Rz. 1428 ff.; Hopt/Roth (Fn. 25), § 93 Abs. 1 Satz 2, 4 AktG n. F. Rz. 57. 77 Hopt/Roth (Fn. 25), § 93 Abs. 1 Satz 2, 4 AktG n. F. Rz. 59; demgegenüber möchten Krieger/Sailer-Coceani die Begriffe „vertretbar“ und „vernünftigerweise“ als Synonyme verstanden wissen (Krieger/Sailer-Coceani in K. Schmidt/Lutter, 2. Aufl. 2010, § 93 AktG Rz. 14). 78 BGH, WM 1991, 1258, 1260; vgl. Hopt/Roth (Fn. 25), § 93 Abs. 1 Satz 2, 4 AktG n. F. Rz. 59. 79 BGH, NJW 1994, 2220, 2224; vgl. Hopt/Roth (Fn. 25), § 93 Abs. 1 Satz 2, 4 AktG n. F. Rz. 59.

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das Gericht, trotz wirtschaftlicher Schieflage von der Anmeldung von Kurzarbeit (§ 72 AFG a. F.) abzusehen, wenn das Abwarten noch als eine „vertretbare unternehmerische Ermessensentscheidung“ aufgefasst werden kann.80 Ob man den strengeren Maßstab begrifflich an das Kriterium der „Vertretbarkeit“ koppelt oder eine andere Bezeichnung präferiert, dürfte letztlich eine terminologische Frage sein, die die inhaltlichen Konturen des Maßstabs nicht zwingend determiniert. In der Sache entscheidend dürfte die nähere Ausgestaltung dieses Maßstabs sein. Es bleibt nach dem Vorgesagten mithin zunächst jedenfalls festzuhalten, dass der Rechtsordnung ein eingeschränktes unternehmerisches Ermessen nicht fremd ist. Es wird in den Fällen als angemessener Maßstab gerichtlicher Kontrolle empfunden, in denen die wirtschaftliche Situation des Unternehmens oder die spezifischen Interessenlagen der Handelnden eine Gefährdung des Unternehmenswohls nahe legen, in denen jedoch noch immer eine Vielzahl von unternehmerischen Handlungsoptionen offen stehen, deren Bewertung in erster Linie Aufgabe der Unternehmensführung und nicht der Gerichte ist. Besteht eine solche Gefährdungslage, kommt es darauf an, ob die Entscheidung des Vorstands wirtschaftlich vertretbar war oder nicht.81 Im Unterschied dazu genügt es im Anwendungsbereich der Business Judgment Rule nach § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG, wenn die Entscheidung nicht als völlig unvernünftig oder irrational erscheint. Dass diese Abstufung nicht konkret gefasst werden kann und einer kasuistischen Ausgestaltung durch die Rechtsprechung überlassen bleibt, liegt in der Natur der Sache; eine vergleichbare unvermeidbare Unschärfe besteht etwa auch bei der Abgrenzung zwischen einfacher und grober Fahrlässigkeit. Im Hinblick auf die Ausgestaltung dieses gegenüber der Business Judgment Rule strengeren Maßstabs ist zunächst zu konstatieren, dass auch dieser an der ex ante-, nicht an der ex post-Perspektive auszurichten ist. Angesichts der Zukunftsbezogenheit unternehmerischen Handelns und der diesem inne wohnenden Risiken und Unsicherheiten würde andernfalls unternehmerisches Agieren bei Interessenkonflikten weitgehend unmöglich. Ob ein Vorstand eine Maßnahme ergreift und, falls er dies tut, welche Maßnahme er ergreift, erfordert eine Abwägung der den verschiedenen Szenarien inne wohnenden Vor- und Nachteile. Der gegenüber der Business Judgment Rule strengere Maßstab gebietet grundsätzlich einen (ex ante) größeren Abstand des aus der jeweiligen Abwägung der Vor- und Nachteile für das konkrete Szenario sich ergebenden Gesamtresultats zwischen dem letztlich verfolgten Szenario und den hintangestellten Szenarien. Ist ex ante zu erwarten, dass das gewählte Szenario in seinem Chance-Risiko-Mix die übrigen in Betracht kommenden Szenarien aus Sicht des Unternehmensinteresses deutlich überwiegt, scheidet pflichtwidriges Handeln trotz eines Interessenkonflikts

__________ 80 BGH, NJW 2003, 358, 359; vgl. Hopt/Roth (Fn. 25), § 93 Abs. 1 Satz 2, 4 AktG n. F. Rz. 59. 81 Hopt/Roth (Fn. 25), § 93 Abs. 1 Satz 2, 4 AktG n. F. Rz. 59.

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aus.82 In Fällen eines solchen deutlichen Überwiegens wäre es aus Sicht eines wohlverstandenen Unternehmensinteresses nicht gerechtfertigt, das Verhalten des Vorstandsmitglieds als pflichtwidrig einzustufen, weil es andernfalls zu einer Lähmung unternehmerischer Initiative käme. Ergeben kann sich ein solch deutliches Übergewicht aus einem einzelnen hervorstechenden Vorteil des gewählten Szenarios oder einem ebensolchen Nachteil des hintangestellten Szenarios, aber auch aus der Summe diverser Vor- bzw. Nachteile. Ist ein deutliches Übergewicht im Sinne der vorstehend skizzierten Anforderungen zu verneinen, stellt sich die Frage, ob eine gleichwohl zugunsten des ex ante besten Szenarios getroffene Entscheidung allein deshalb pflichtwidrig ist. Mit anderen Worten: Ist es das Wesensmerkmal des strengeren Maßstabs, dass nur solche Maßnahmen statthaft sind, bei denen ein deutliches Übergewicht im vorstehenden Sinne besteht? Dies dürfte zu verneinen sein. Die Konsequenz der gegenteiligen Auffassung wäre nämlich, dass wegen der damit verbundenen Haftungsrisiken unternehmerisches Verhalten erschwert und der Vorstand unter Umständen zu – dem Unternehmensinteresse abträglichen – risikolosen Geschäftspraktiken gezwungen würde. Indes muss, wenn man eine Nivellierung der beiden Entscheidungsmaßstäbe (Entscheidungsmaßstab ohne Interessenkonflikt, Entscheidungsmaßstab mit Interessenkonflikt) vermeiden möchte, die Vorteilhaftigkeit des gewählten Szenarios gegenüber den übrigen Szenarien aus ex ante-Perspektive mit größerer Verlässlichkeit fest stehen. Dies kann, muss aber nicht notwendig die Qualität der Entscheidungsvorbereitung betreffen. Liegen etwa bei der unvermeidbaren Veräußerung einer Tochtergesellschaft im Wege eines Auktionsverfahrens zwei identische Angebote auf dem Tisch (einschließlich der Identität vertraglich nicht geregelter Umstände wie etwa der Bonität des Bieters), bietet der das eine Angebot abgebende Sohn eines Vorstandsmitglieds abweichend vom anderen Angebot noch eine geringfügige Earn Out-Zahlung an (und ist wegen der Geringfügigkeit ein deutliches Überwiegen im Sinne der vorstehenden Ausführungen zu verneinen), bedarf es keiner zusätzlichen entscheidungsvorbereitenden Maßnahmen, um die aus Sicht der veräußernden Gesellschaft bestehende Vorteilhaftigkeit des vom Sohn abgegebenen Angebots gegenüber dem anderen Angebot festzustellen. Liegt die (geringfügige) Vorteilhaftigkeit nicht auf der Hand, können zusätzliche Anforderungen auf Ebene der Entscheidungsvorbereitung bestehen: So mag es in Fällen des strengeren Maßstabs geboten sein, die Entscheidung noch sorgfältiger vorzubereiten, als dies im Anwendungsbereich der Business Judgment Rule der Fall ist, um hierdurch eine erhöhte Richtigkeitsgewähr der getroffenen Entscheidung sicherzustellen. Die zusätzlichen entscheidungsvorbereitenden Maßnahmen müssen dabei nicht zwingend unter Inanspruchnahme externen Rats erfolgen. Doch wird dies dem Vorstand in vielen Fällen zur Reduzierung seiner Haftungsrisiken anzuraten sein. In diesem Zusammenhang stellt sich die weitere Frage, ob der strengere Maßstab – um dies am vorerwähnten Beispiel zu illustrieren – nur im Falle der

__________

82 Vgl. in diesem Zusammenhang für den Spezialfall des § 33 Abs. 1 Satz 2 Alt. 3 WpÜG auch die Überlegungen bei Winter/Harbarth, ZIP 2002, 1, 10.

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Veräußerung an den Sohn oder auch im Falle der Veräußerung an den weiteren Bieter Anwendung findet. So mag im Falle der Veräußerung an den anderen Bieter die Anwendung der Business Judgment Rule nahe liegen, weil der Vorstand – so die denkbare Argumentation – sich nicht von den (ihm zugerechneten) eigenen Interessen habe leiten lassen. Werde gar nicht an diejenige Person veräußert, im Hinblick auf die der Interessenkonflikt vorliege, handele es sich nicht um die Realisierung des spezifischen Risikos, dass das Erfordernis des Fehlens eines Interessenkonflikts im Rahmen der Business Judgment Rule im Blick habe. Frei von Zweifeln ist diese Sicht freilich nicht: So ist durchaus fraglich, ob man durch die Zuordnung unterschiedlicher Haftungsmaßstäbe für die verschiedenen Entscheidungsszenarien letztlich einen gesetzlichen Anreiz schaffen sollte, dass der Vorstand zur Vermeidung seiner eigenen Haftungsrisiken einer Entscheidungsvariante stärker zuneigt als einer anderen. Dieser Fragenkreis kann hier indes nicht abschließend vertieft werden.

VI. Zusammenfassung 1. Sinn und Zweck der Garantie unternehmerischen Ermessens ist es, die Handlungsfähigkeit der Unternehmensführung zu gewährleisten. Nur ein Vorstand, der sich nicht zur Anwendung risikoloser Geschäftspraktiken gezwungen sieht, kann seinem Auftrag, Innovationspotentiale zu entfalten und die Wettbewerbsfähigkeit des Unternehmens zu erhalten und zu verbessern, gerecht werden. Der Unternehmensführung einen weiten Handlungsspielraum zu belassen ist auch deshalb geboten, weil die Komplexität unternehmerischer Entscheidungen aus der ex ante-Perspektive sich im Rückblick nur schwer rekonstruieren lässt. Diese Einsichten in die Notwendigkeit der Garantie unternehmerischen Ermessens sind älter als die gesetzliche Business Judgment Rule in § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG und beziehen sich überdies nicht nur auf Sachverhalte im Anwendungsbereich jener Vorschrift. 2. Der Umgang mit Interessenkonflikten ist bislang gesetzlich nur punktuell geregelt. Die Disparität und Inkonsistenz der Regelungen erschwert die Konkretisierung des – impliziten – Tatbestandsmerkmals „Handeln ohne Sonderinteressen“ in § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG. 3. Die Business Judgment Rule kommt nicht zur Anwendung, wenn ein Interessenkonflikt besteht und das betroffene Vorstandsmitglied sich dessen bewusst ist oder wenn das Vorstandsmitglied vom Interessenkonflikt wissen musste. 4. Auch die Kollision mit den Interessen von einem Vorstandsmitglied nahe stehenden Personen kann zum Ausschluss der Business Judgment Rule führen. Betroffen davon sind nur nahe Verwandte. Hinsichtlich der Interessen anderer Personen ist darauf abzustellen, ob sie auch die Wesentlichkeitsschwelle im Hinblick auf das betroffene Vorstandsmitglied tangieren.

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5. Die Nichtanwendung der Business Judgment Rule lässt sich nur bei Vorliegen eines erheblichen oder wesentlichen Interessenkonflikts rechtfertigen. Finanzieller Natur müssen diese Interessen jedoch nicht sein. 6. Ein Interessenkonflikt, der zur Nichtanwendung der Business Judgment Rule führt, begründet weder per se eine Pflichtverletzung noch einen Ausschluss des unternehmerischen Ermessens. 7. Bei Vorliegen eines Interessenkonflikts ist eine Pflichtverletzung jedenfalls dann zu verneinen, wenn ex ante aus Sicht des Unternehmensinteresses der Chance-Risiko-Mix des gewählten Szenarios den der übrigen in Betracht kommenden Szenarien deutlich überwiegt. Auch bei einem lediglich knappen Überwiegen kann eine Pflichtverletzung ausscheiden, wenn das knappe Überwiegen ex ante mit einem höheren Grad von Wahrscheinlichkeit als bei der Business Judgment Rule zu erwarten steht, was im Rahmen der Entscheidungsvorbereitung zusätzliche Maßnahmen erfordern kann.

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Die Verpflichtung von Vorstand und Aufsichtsrat zur Einleitung des Statusverfahrens (§§ 97, 98 AktG) Zugleich ein Beitrag zur sog. Legalitätspflicht beider Organe

Inhaltsübersicht I. Einleitung II. Grundsätzliches zur sog. Legalitätspflicht von Vorstand und Aufsichtsrat 1. Rechtsgrund der Legalitätspflicht 2. Der Normadressat als gedanklicher Ausgangspunkt einer Dogmatik der Legalitätspflicht a) An den Vorstand adressierte Normen b) An den Aufsichtsrat adressierte Normen c) An die Gesellschaft adressierte Normen 3. Zwischenfazit: Die Pflicht zur Legalität – eine Binsenweisheit III. Das Statusverfahren (§§ 97, 98 AktG) als Gewährleistungsmechanismus für die rechtmäßige Größe und Zusammensetzung des Aufsichtsrats 1. Herkömmliche Anwendungsfälle des Statusverfahrens (Überblick) 2. Insbesondere die Unionsrechtswidrigkeit der Zusammensetzung des Aufsichtsrats IV. Mögliche Anknüpfungspunkte für ein pflichtwidriges Vorstandshandeln und die sog. Business Judgement Rule (§ 93 Abs. 1 Satz 2 AktG)

1. Zu den Anforderungen an die Prüfung der Zusammensetzung des Aufsichtsrats durch den Vorstand im Einzelnen 2. Entscheidung für oder gegen die Einleitung des Statusverfahrens nach erfolgter Prüfung 3. Zum Verhältnis von Bekanntmachungspflicht (§ 97 AktG) und gerichtlichem Verfahren (§ 98 AktG) V. Mögliche Folgen einer Verletzung der Einleitungspflicht 1. Fragerecht der Aktionäre in der Hauptversammlung 2. Anfechtbarkeit des Entlastungsbeschlusses 3. Schadensersatzpflicht VI. Zur Eigenverantwortlichkeit des Aufsichtsrats für die Rechtmäßigkeit seiner Zusammensetzung 1. Die Zusammensetzung des Aufsichtsrats als Gegenstand der Überwachungspflicht 2. Die Zusammensetzung des Aufsichtsrats als Gegenstand der Selbstorganisationspflicht 3. Mögliche Folgen einer Verletzung der Einleitungspflicht

I. Einleitung Die Bibliographie des Jubilars bekundet sein Interesse an Fragen der Unternehmensverfassung. Bereits früh hat er dabei die prägende Kraft des europäischen Unionsrechts erkannt. Mehrfach hat sich der Jubilar auch mit der unternehmerischen Mitbestimmung und diesbezüglichen Reformansätzen be-

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fasst – zuletzt u. a. mit einigen kritischen Anmerkungen zu der von uns1 vertretenen Ansicht, dass die deutschen Vorschriften über die Wahl der Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat aufgrund der fehlenden Einbeziehung ausländischer Belegschaften gegen Unionsrecht (Art. 18, 45 AEUV) verstoßen.2 Daher hoffen wir, dass dieser Beitrag, der zunächst einige grundsätzliche Überlegungen zur sog. Legalitätspflicht von Vorstand und Aufsichtsrat anstellt, sich sodann mit der Verantwortlichkeit des Vorstands für die rechtmäßige Zusammensetzung des Aufsichtsrats als besonderer Ausprägung dieser Legalitätspflicht befasst und schließlich kurz auf die Eigenverantwortlichkeit des Aufsichtsrats für die Rechtmäßigkeit seiner Zusammensetzung eingeht, das Interesse des Jubilars findet.

II. Grundsätzliches zur sog. Legalitätspflicht von Vorstand und Aufsichtsrat Der Begriff der „Legalitätspflicht“ umschreibt nach allgemeinem Verständnis die Verpflichtung des Vorstands3 einer Aktiengesellschaft, bei der Ausübung seiner Tätigkeit Recht und Gesetz zu beachten. Im Schrifttum wird die Rechtsbindung des Vorstands als Binsenweisheit4 eingestuft, was auf den ersten Blick zumindest im Ergebnis als zutreffend erscheint und erklären mag, warum Rechtsgrund und Inhalt der Legalitätspflicht bislang – von Ausnahmen abgesehen5 – nur sporadisch untersucht wurden. 1. Rechtsgrund der Legalitätspflicht Was den Rechtsgrund der Legalitätspflicht anbelangt, begnügt sich die Literatur zumeist mit dem Hinweis, es handele sich um einen Unterfall der in § 93 Abs. 1 Satz 1 AktG normativ verankerten allgemeinen Sorgfaltspflicht.6,7 Man-

__________ 1 Hellwig/Behme, AG 2009, 261. 2 Hommelhoff, ZGR 2010, 48, 60 ff.; s. dazu noch unten III. 2. 3 Der Begriff der Legalitätspflicht wird im Allgemeinen nur im Kontext der Vorstandshaftung verwendet. Mit Blick auf den Aufsichtsrat wird ihr Bestehen offenbar aber als selbstverständlich vorausgesetzt; s. etwa Hopt/Roth in Großkomm. AktG, 4. Aufl. 2006, § 116 AktG Rz. 95. 4 Thole, ZHR 173 (2009), 504, 505; vgl. auch Paefgen, Unternehmerische Entscheidungen und Rechtsbindung der Organe in der AG, 2002, 17: „an sich selbstverständliches Prinzip“. 5 S. vor allem Thole, ZHR 173 (2009), 504 sowie die systematisierenden Darstellungen von Fleischer, ZIP 2005, 141, 142 ff. und Paefgen (Fn. 4), S. 17 ff. 6 Fleischer, ZIP 2005, 141, 142; ders., BB 2008, 1070; Thole, ZHR 173 (2009), 504, 509. 7 Nach überwiegender Auffassung erfüllt § 93 Abs. 1 Satz 1 AktG eine Doppelfunktion als Haftungsmaßstab und als Haftungsgrund: Einerseits soll er den Verschuldensmaßstab für die organschaftliche Haftung enthalten, seine Funktion insoweit derjenigen von § 276 BGB entsprechen. Andererseits soll sie eine generalklauselartige Umschreibung der haftungsbegründenden Pflichten von Organmitgliedern im Sinne einer „allgemeinen Sorgfaltspflicht“ enthalten; s. Fleischer in Spindler/Stilz, 2. Aufl. 2010, § 93 AktG Rz. 10; Hopt in Großkomm. AktG, 4. Aufl. 2008, § 93 AktG Rz. 19;

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che Autoren leiten die Legalitätspflicht mittelbar aus § 93 Abs. 4 Satz 1 AktG ab, wonach eine Ersatzpflicht gegenüber der Gesellschaft ausgeschlossen ist, wenn eine pflichtwidrige Handlung des Vorstands auf einem gesetzmäßigen Beschluss der Hauptversammlung beruht.8 Andere rekurrieren daneben auf § 130 OWiG9 oder verweisen auf die Erläuterung in 4.1.3 DCGK, wonach der Vorstand für die Einhaltung der gesetzlichen Bestimmungen und der unternehmensinternen Richtlinien zu sorgen hat. Der Versuch, die Rechtsgrundlage der allgemeinen Rechtsbindung von Vorstand und Aufsichtsrat in einer einzelnen gesetzlichen Vorschrift zu finden, ist jedoch bereits im Ansatz verfehlt. Zwar wird ein gesetzeswidriges Verhalten grundsätzlich als sorgfaltswidrig i. S. des § 93 Abs. 1 Satz 1 AktG einzustufen sein.10 § 93 AktG kann als aktienrechtliche Spezialvorschrift jedoch keine Aussage über die Verbindlichkeit des Normbefehls einer anderen, auf derselben Stufe der Normhierarchie stehenden gesetzlichen Vorschrift treffen.11 Die Geltung einfachgesetzlicher Vorschriften ist vielmehr das Resultat einer im Einklang mit formellem und materiellem Verfassungsrecht erfolgten Willensbildung des demokratisch legitimierten Gesetzgebers.12 Ebenso wenig kann § 93 AktG eine Aussage darüber entnommen werden, ob der Vorstand Adressat einer bestimmten gesetzlichen Vorschrift und damit zu ihrer Beachtung verpflichtet ist. Wer Adressat einer Norm ist, muss vielmehr durch Auslegung dieser Norm ermittelt werden.

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8 9 10 11 12

Mertens/Cahn in KölnKomm. AktG, 3. Aufl. 2010, § 93 AktG Rz. 10 f.; Spindler in MünchKomm. AktG, 3. Aufl. 2008, § 93 AktG Rz. 20; zur Parallelvorschrift in § 43 GmbHG Kleindiek in Lutter/Hommelhoff, 17. Aufl. 2009, § 43 GmbHG Rz. 7. Dogmatisch sprechen indes gute Gründe dafür, § 93 Abs. 1 S. 1 AktG lediglich als Normierung eines Haftungsmaßstabs aufzufassen und haftungsbegründende Pflichtverletzungen des Vorstands anhand spezialgesetzlich normierter Binnenpflichten und der „Grundnorm“ der Geschäftsführungsaufgabe (Zöllner/Noack in Baumbach/ Hueck, 19. Aufl. 2010, § 43 GmbHG Rz. 17) zu begründen; so Zöllner/Noack (a. a. O.), § 43 GmbHG Rz. 8, 18; zust. Koppensteiner in Rowedder/Schmidt-Leithoff, 4. Aufl. 2002, § 43 GmbHG Rz. 8; für die AG Hüffer, 9. Aufl. 2010, § 93 AktG Rz. 3a. Jedenfalls dürfte der eigenständige Gehalt einer „Sorgfaltspflicht“ gegenüber den genannten Pflichten gering sein. Im Rahmen von § 276 Abs. 1 Satz 1 BGB erscheint das von Staub, Die positiven Vertragsverletzungen, 2. Aufl. 1913, S. 7 formulierte Verständnis der Norm als Haftungsmaßstab („Definition der zivilrechtlichen Schuld“) heute als selbstverständlich. Historisch ist diese Sichtweise aber keineswegs zwingend; s. zum überkommenen Verständnis des § 276 BGB als „allgemeiner Haftungsanordnung“ ausführlich Westhelle, Nichterfüllung und positive Vertragsverletzung, 1978, S. 16 ff. unter Bezugnahme auf Himmelschein, AcP 135 (1932), 255 sowie in neuerer Zeit noch Huber, Leistungsstörungen, Bd. I, 1999, § 3 II 2; Wolf in Soergel, 12. Aufl. 1990, § 276 BGB Rz. 4. Paefgen (Fn. 4), S. 17; ebenso Dreher in FS Konzen, 2006, S. 85, 93. Bayer in FS K. Schmidt, 2009, S. 85, 89. Bayer (Fn. 9), S. 85, 89 f. Zum „Stufenbau“ der Rechtsordnung grundlegend Kelsen, Reine Rechtslehre, 1. Aufl. 1934 (2. Neudruck 1994), S. 62 ff., S. 65. Vgl. Böckenförde in Kirchhof/Isensee, Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland Bd. II, 3. Aufl. 2004, § 24 Rz. 21; vgl. auch Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl. 1991, S. 253.

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2. Der Normadressat als gedanklicher Ausgangspunkt einer Dogmatik der Legalitätspflicht Die soeben angesprochene Frage nach dem Adressaten einer Norm ist der eigentliche gedankliche Ausgangspunkt für die Entwicklung einer Dogmatik der Legalitätspflicht, oder besser: der Organpflichten im Allgemeinen.13 Für diesen Zweck lassen sich zwei Arten von Normen unterscheiden: Die erste Gruppe von Normen ist unmittelbar an den Vorstand oder den Aufsichtsrat adressiert. Es handelt sich dabei um Normen, die dem Vorstand oder dem Aufsichtsrat in ihrer Funktion als Organ der AG unmittelbare Pflichten auferlegen. Diese Pflichten treffen allein das Organ und sind nicht zugleich Pflichten der Gesellschaft. Adressat der zweiten Gruppe von Normen ist dagegen nicht ein Organ der Gesellschaft, sondern die Gesellschaft selbst. Diese im Schrifttum durchaus präsente Differenzierung14 wird vielfach durch die sprachlich wenig trennscharfe Unterscheidung zwischen einer „internen“ und einer „externen“ Ausprägung der Legalitätspflicht15 verschleiert. Die Schwäche dieser Terminologie besteht darin, dass der Gegensatz intern/extern im Kontext der Pflichtenbindung von Gesellschaftsorganen und ihrer Haftung für Pflichtverstöße ganz unterschiedliche Phänomene umschreiben kann: den Rechtsgrund von Pflichten (sie können intern aus der Satzung oder extern aus dem dispositiven Gesetzesrecht oder aus vertraglichen Bindungen resultieren), den Adressaten von Pflichten (sie können intern das Organ und extern die Gesellschaft treffen), mögliche Verletzungshandlungen (sie können sich als internes Organisationsverschulden oder als externes rechtswidriges Außenhandeln darstellen)16 oder schließlich die Person des Geschädigten (ein Schaden kann intern der Gesellschaft oder extern außenstehenden Dritten entstehen, die Haftung dementsprechend je nach Anspruchsberechtigtem als Innenhaftung oder als Außenhaftung ausgestaltet sein). a) An den Vorstand adressierte Normen Normen, deren Adressat der Vorstand ist, lassen sich weiterhin mit Thole einteilen in echte Außenpflichten des Vorstands, die gegenüber der Allgemeinheit oder Dritten bestehen, und Binnenpflichten, die ausschließlich gegenüber der Gesellschaft bestehen.17 Die Verletzung von Außenpflichten ist Voraussetzung einer Außenhaftung des Vorstands; die Verletzung von Binnenpflichten führt zu einer Innenhaftung gegenüber der Gesellschaft gemäß § 93 Abs. 2, 3 AktG. Außenpflichten können sich vor allem aus Schutzgesetzen i. S. des § 823 Abs. 2 BGB,18 ausnahmsweise auch aus Rechtsscheingrundsätzen oder aus

__________ 13 So im Ansatz auch Schlechtriem in Kreuzer (Hrsg.), Die Haftung der Leitungsorgane von Kapitalgesellschaften, 1991, S. 11. 14 S. etwa Spindler (Fn. 7), § 93 AktG Rz. 129. 15 Bayer (Fn. 9), S. 88 f.; Fleischer, ZIP 2005, 141, 142 ff.; Thole, ZHR 173 (2009), 504. 16 Vgl. Dreher (Fn. 8), S. 94 f. 17 Thole, ZHR 173 (2009), 504, 506 ff. 18 K. Schmidt, Gesellschaftsrecht, 4. Aufl. 2002, S. 427; ausführlich Zöllner/Noack (Fn. 7), § 43 GmbHG Rz. 67 ff.

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culpa in contrahendo19 ergeben. Der BGH hat darüber hinaus in seiner viel kritisierten „Baustoff-Entscheidung“20 – freilich ohne überzeugende Begründung21 – eine Garantenstellung des Geschäftsführers einer GmbH zum Schutz fremder Schutzgüter i. S. des § 823 Abs. 1 BGB angenommen, die ihre Träger der Einflusssphäre der Gesellschaft anvertraut haben; gleiches gilt für den Vorstand einer AG.22 Soweit die Verletzung der Außenpflicht in Ausführung einer dem Vorstand in seiner Eigenschaft als Vorstand zustehenden Verrichtung erfolgt, wird sie der Gesellschaft nach § 31 BGB zugerechnet. Vorstand und Gesellschaft haften dann nach außen als Gesamtschuldner; im Innenverhältnis kann das Organ zum Ausgleich verpflichtet sein (§ 840 Abs. 2 BGB analog).23 Binnenpflichten können sich aus dem Gesetz oder aus der Satzung ergeben. Sie sind, wie etwa Berichtspflichten oder auch die Pflicht zur Vorbereitung der Hauptversammlung, häufig organisatorischer Natur.24 Spezialgesetzliche und statutarische Binnenpflichten werden flankiert durch die allgemeine Geschäftsleitungspflicht, die sich normativ in § 76 Abs. 1 AktG verorten lässt. Ebenfalls um eine gegenüber der Gesellschaft bestehende Binnenpflicht handelt es sich bei der allgemeinen Sorgfaltspflicht, der Treuepflicht und der die Treuepflicht konkretisierenden Pflicht zur Verschwiegenheit (§ 93 Abs. 1 Satz 3 AktG).25 Die Verletzung von Binnenpflichten begründet eine Haftung des Vorstands gegenüber der Gesellschaft gemäß § 93 Abs. 2 AktG. Allerdings lassen sich nicht alle unmittelbar an den Vorstand adressierten Pflichten bloß einer der beiden Kategorien zuordnen. Manche Pflichten weisen vielmehr eine Doppelnatur auf, mit der eine Parallelität von Innenhaftung (§ 93 Abs. 2 AktG) und Außenhaftung (z. B. § 823 Abs. 2 BGB) korrespondiert. Ein Beispiel ist die seit Inkrafttreten des MoMiG26 für alle juristischen Personen in § 15a InsO normierte Insolvenzantragspflicht, deren Missachtung sich

__________ 19 K. Schmidt (Fn. 18), S. 427; ausführlich Brandner in FS Werner, 1984, S. 53 ff.; Medicus in FS Steindorff, 1990, S. 725 ff.; restriktiv auch BGH, NJW-RR 1991, 1314; BGH, NJW 1994, 2220. 20 BGH, NJW 1990, 976; s. dazu Medicus in FS Lorenz, 1991, S. 155; Westermann, DNotZ 1991, 809 sowie die Beiträge von Grunewald, ZHR 157 (1993), 451 einerseits und Lutter, ZHR 157 (1993), 464 andererseits. 21 Medicus (Fn. 20), S. 159 f. 22 Die Annahme einer solchen Garantenstellung liegt unausgesprochen auch dem „Kirch“-Urteil des BGH (NJW 2006, 830) zugrunde; darauf weisen zu Recht Hellgardt, WM 2006, 1514, 1515 und Möllers/Beutel, NZG 2006, 338, 340 hin. 23 Ellenberger in Palandt, 71. Aufl. 2012, § 31 BGB Rz. 13; Reuter in MünchKomm. BGB, 6. Aufl. 2012, § 31 BGB Rz. 45; Weick in Staudinger, Neubearb. 2005, § 31 BGB Rz. 49. 24 Thole, ZHR 173 (2009), 504, 508. 25 Zur Verschwiegenheitspflicht als besonderer Ausprägung der Treuepflicht Hopt (Fn. 7), § 93 AktG Rz. 187; Kittner, ZHR 136 (1972), 208, 220 ff.; Spindler (Fn. 7), § 93 AktG Rz. 96; a. A. (negativer Bestandteil der „Sorgfaltspflicht“) Spieker, NJW 1965, 1937. Nach Mertens/Cahn (Fn. 7), § 93 AktG Rz. 75 lässt sich die Verschwiegenheitspflicht sowohl auf die Pflicht zur ordnungsgemäßen Wahrnehmung der Organfunktionen als auch auf die Treuepflicht der Vorstandsmitglieder zurückführen. 26 Gesetz zur Modernisierung des GmbH-Rechts und zur Bekämpfung von Missbräuchen (MoMiG), BGBl. I 2008, S. 2026.

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sowohl als Verletzung einer Binnenpflicht gegenüber der Gesellschaft als auch als Verletzung einer Außenpflicht gegenüber den Gesellschaftsgläubigern erweist.27 b) An den Aufsichtsrat adressierte Normen In vergleichbarer Weise lassen sich auch die an den Aufsichtsrat adressierten Pflichten einteilen in Außenpflichten gegenüber der Allgemeinheit und Binnenpflichten gegenüber der Gesellschaft. Allerdings hat die Annahme einer Außenpflicht und damit einhergehend einer Außenhaftung des Aufsichtsrats noch größeren Ausnahmecharakter,28 als dies beim Vorstand der Fall ist. In Einzelfällen ist aber eine Haftung aus culpa in contrahendo29 oder auf deliktsrechtlicher Grundlage,30 insbesondere als Mittäter oder Teilnehmer an einer deliktischen Handlung des Vorstands31 denkbar, wobei nach herrschender, aber nicht zweifelsfreier Auffassung wiederum eine Zurechnung an die Gesellschaft gemäß § 31 BGB erfolgen soll.32 Die eigentlichen Funktionen des Aufsichtsrats in der Organisationsverfassung der AG sind als reine Binnenpflichten gegenüber der Gesellschaft konzipiert. Zu diesen speziellen Binnenpflichten des Aufsichtsrats zählt etwa die Pflicht zur Bestellung (§ 84 Abs. 1 AktG) und Überwachung der Vorstandsmitglieder (§ 111 Abs. 1 AktG), die Pflicht zur Festsetzung einer angemessenen Vergütung (§ 87 Abs. 1 AktG), aber auch die partielle Mitwirkung des Aufsichtsrats an der Geschäftsführung durch die Erteilung der Zustimmung zu bestimmten Arten von Geschäften (§ 111 Abs. 4 Satz 2 AktG). Die speziellen Binnenpflichten des Aufsichtsrats werden ebenso wie diejenigen des Vorstands flankiert durch die allgemeine Sorgfaltspflicht (§§ 116 Satz 1, 93 Abs. 1 Satz 1 AktG), die Treuepflicht und die in § 116 Satz 2 AktG eigenständig hervorgehobene Pflicht zur Verschwiegenheit. Ihre Verletzung begründet eine Haftung gegenüber der Gesellschaft gemäß §§ 116 Satz 1, 93 Abs. 2 AktG. c) An die Gesellschaft adressierte Normen Schließlich lassen sich auch die Normen, deren Adressat die Gesellschaft ist, in Außenpflichten der Gesellschaft und Binnenpflichten ohne Außenwirkung einteilen.

__________ 27 Bußhardt in Braun, 4. Aufl. 2010, § 15a InsO Rz. 22 f.; K. Schmidt (Fn. 18), S. 427. 28 Habersack in MünchKomm. AktG, 3. Aufl. 2008, § 116 AktG Rz. 79; Hopt/Roth (Fn. 3), § 116 AktG Rz. 313; das Kapitalmarktinformationsgesetz, das eine Außenhaftung von Aufsichtsratsmitgliedern für falsche Kapitalmarktinformationen vorgesehen hätte, ist über das Stadium eines Diskussionsentwurfs (dazu Sünner, DB 2004, 2460) nicht hinausgelangt. 29 S. dazu Spindler in Spindler/Stilz, 2. Aufl. 2010, § 116 AktG Rz. 198. 30 Spindler (Fn. 29), § 116 AktG Rz. 200 ff. 31 Drygala in K. Schmidt/Lutter, 2. Aufl. 2010, § 116 AktG Rz. 50. 32 S. sogleich Fn. 37.

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aa) Außenpflichten der Gesellschaft Außenpflichten der Gesellschaft sind Pflichten, die gegenüber der Allgemeinheit oder gegenüber Dritten bestehen und für deren Verletzung die Gesellschaft nach außen haftet – sei es auf vertraglicher oder auf deliktsrechtlicher Grundlage. Allerdings ist die Aktiengesellschaft als juristische Person nicht wie eine natürliche Person zu unmittelbarem selbstverantwortlichem Handeln fähig; ihr kann nur das Handeln natürlicher Personen zugerechnet werden.33 Die AG selbst kann als juristische Person die an sie adressierten Normen weder beachten noch gegen sie verstoßen. Die der AG durch Normen auferlegten Pflichten können nur eine die juristische Person als Organ repräsentierende natürliche Person treffen.34 Diese in der Literatur zumeist nicht näher begründete, sondern als selbstverständlich vorausgesetzte35 Pflichtenzurechnung findet ihre notwendige Entsprechung darin, dass der juristischen Person das Handeln ihrer Organe (und zwar auch deliktisches Handeln36) als Eigenhandeln zugerechnet wird und dass sie für die aus dem organschaftlichen Handeln erwachsenden Schäden haftet (§ 31 BGB). Organschaftliche Pflichten- und Handlungszurechnung sind zwei Seiten derselben Medaille. Im Innenverhältnis führt die Zurechnung der Außenpflichten der Gesellschaft an den Vorstand zu einer gemäß § 93 Abs. 2 AktG intern haftungsbewehrten Binnenpflicht des Vorstands, die Pflichten der Gesellschaft im Außenverhältnis zu erfüllen.

__________ 33 K. Schmidt (Fn. 18), S. 252. Diese Erkenntnis ist der berechtigte Kern der überkommenen Lehre von Savignys, wonach die juristische Person selbst nicht fähig zu handeln und zu wollen ist und hierzu – ähnlich wie Unmündige und Wahnsinnige – eines Vertreters bedarf (Vertretertheorie); so v. Savigny, System des heutigen Römischen Rechts, Bd. II, 1840, S. 282 f. Anders Gierke, Deutsches Privatrecht, unveränderter Neudruck 1936, Bd. I, S. 518: „Als eine reale Gesammtperson, deren einheitliches Gemeinleben sich durch Organe bethätigt, ist die Körperschaft handlungsfähig. Was ein Körperschaftsorgan im Bereiche seiner körperschaftlichen Funktion thut oder nicht thut, ist eine Handlung oder Unterlassung der Körperschaft selbst.“ Anders als die Vertretertheorie erkennt diese sog. Organtheorie, dass die organschaftliche Stellung des Leitungsorgans einer juristischen Person qualitativ über die eines bloßen Stellvertreters der juristischen Person hinausgeht. „Allein eine derartige Vertretung der Körperschaft durch eine andere Person bleibt von ihrer Vertretung durch ihr Organ grundsätzlich verschieden.“, Gierke (a. a. O.), S. 519. 34 Zutreffend Spindler (Fn. 7), § 93 AktG Rz. 64; vgl. auch Thole, ZHR 173 (2009), 504, 509. 35 S. statt vieler Fleischer (Fn. 7), § 93 AktG Rz. 23; Raiser/Veil, Recht der Kapitalgesellschaften, 5. Aufl. 2010, § 14 Rz. 81; Zöllner/Noack (Fn. 7), § 43 GmbHG Rz. 17: „Dieser (scil. der Geschäftsführer, die Verf.) hat ganz selbstverständlich die Pflicht gegenüber der GmbH, für die Einhaltung und Erfüllung der Gesellschaftspflichten einschließlich ihrer Verkehrspflichten zu sorgen.“ 36 Eine Zurechnung deliktischen Handelns wäre nach der Vertretertheorie nicht denkbar. Jedenfalls in diesem Punkt folgt das BGB der Organtheorie; s. K. Schmidt (Fn. 18), S. 251; weitergehend Enneccerus/Nipperdey, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, Bd. I, 1959, S. 617 f., wonach sich das BGB „vollständig“ der Organtheorie angeschlossen hat.

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Die an die Gesellschaft adressierten Pflichten werden stets und allein dem Vorstand, nicht dem Aufsichtsrat zugerechnet.37 Diese Zurechnung hat ihren unmittelbaren Grund in der Stellung des Vorstands als Organ der AG,38 nicht in § 93 Abs. 1 Satz 1 AktG.39 Dass die Zurechnung nur an den Vorstand und nicht an den Aufsichtsrat erfolgt, ergibt sich bereits daraus, dass die Erfüllung der Außenpflichten der Gesellschaft ein wesentlicher Bestandteil der Geschäftsführung ist. Von der Geschäftsführung ist aber der Aufsichtsrat gemäß § 111 Abs. 4 Satz 1 AktG ausdrücklich ausgeschlossen; sie ist allein dem Vorstand zugewiesen (§ 77 Abs. 1 AktG). Dem Aufsichtsrat fehlt zudem nicht nur die für die Erfüllung von Außenpflichten erforderliche Geschäftsführungsbefugnis im Innenverhältnis, sondern auch die Vertretungsbefugnis im Außenverhältnis. Es entspricht dem gesetzlichen Leitbild, dass der Aufsichtsrat nur ganz ausnahmsweise nach außen auftritt, nämlich im Rahmen der (freilich bloß passiven) Vertretung der Gesellschaft bei Führungslosigkeit (§ 78 Abs. 1 Satz 2 AktG) und als gerichtlicher und außergerichtlicher Vertreter der Gesellschaft gegenüber amtierenden und ausgeschiedenen40 Vorstandsmitgliedern (§ 112 AktG). Dass eine Zurechnung an den Aufsichtsrat nicht erfolgt, zeigt sich ferner daran, dass nach dem oben Gesagten die Pflichtenzurechnung aus der Natur der AG als juristischer Person folgt, der eingetragene Verein als Prototyp der juristischen Person41 aber über einen Aufsichtsrat nicht verfügt, ebenso wenig wie die mitbestimmungsfreie GmbH. Der Aufsichtsrat verdankt seine Existenz anders als der Vorstand als Leitungs- und die Hauptversammlung als Willensbildungsorgan nicht einem allgemeinen Strukturprinzip der juristischen Person, sondern der typischerweise besonders hohen gesamtwirtschaftlichen und politischen Bedeutung der Gesellschaften, für die seine Einrichtung gesetz-

__________ 37 Insofern ist es auch keineswegs selbstverständlich, dass der Gesellschaft nach § 31 BGB das deliktische Handeln von Aufsichtsratsmitgliedern einseitig zugerechnet werden soll; krit auch Reuter (Fn. 23), § 31 BGB Rz. 24; für eine Zurechnung aber die h. M., s. statt vieler Ellenberger (Fn. 23), § 31 BGB Rz. 5; Weick (Fn. 23), § 31 BGB Rz. 38. 38 So für den GmbH-Geschäftsführer zutreffend Kleindiek (Fn. 7), § 43 GmbHG Rz. 8 („kraft seiner Organfunktion“). 39 Weniger präzise, aber der Sache nach zutreffend mit Blick auf die gleichfalls aus der organschaftlichen Stellung und nicht aus einzelnen gesetzlichen Vorschriften resultierende Treuepflicht Kübler/Assmann, Gesellschaftsrecht, 6. Aufl. 2006, S. 208: „Nicht so sehr aus diesen Vorschriften (scil. § 93 Abs. 1, 3, 88 Abs. 1 AktG, die Verf.) als aus dem Strukturgefüge der AG ergibt sich die treuhänderische Stellung von Vorstand und Aufsichtsrat, die die Mitglieder beider Gremien gegenüber der Gesellschaft und den an ihr Beteiligten zu einem Maß an Loyalität verpflichtet, das über die den rechtsgeschäftlichen Verkehr beherrschenden Standards von Treu und Glauben hinausgeht.“ 40 BGH, NJW 1995, 2559; NJW 1997, 2324; NZG 2002, 393; ZIP 2009, 717; Habersack (Fn. 28), § 112 AktG Rz. 12 ff.; Hopt/Roth (Fn. 3), § 112 AktG Rz. 25 ff.; Spindler (Fn. 29), § 112 AktG Rz. 10; a. A. Behr/Kindl, DStR 1999, 119. 41 Reuter (Fn. 23), § 22 BGB Rz. 1; Steding, NZG 2001, 721, 725.

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lich vorgeschrieben ist und bei denen daher ein gesteigertes Bedürfnis nach einer effektiven Kontrolle und Beratung42 des Leitungsorgans besteht.43 bb) Binnenpflichten der Gesellschaft Als Binnenpflichten der Gesellschaft ohne Außenwirkung lassen sich Pflichten umschreiben, deren Erfüllung ihre Qualifikation als AG betrifft. Hierzu zählen Vorschriften über die Zusammensetzung der Gesellschaftsorgane, das gesetzliche Mindestkapital (§ 7 AktG) oder auch das Erfordernis eines inländischen Satzungssitzes (§ 5 AktG). Die Verletzung solcher Binnenpflichten der Gesellschaft führt regelmäßig nicht zu einer Haftung, sondern löst entweder weitere Binnenpflichten der Organe aus, die auf die Beseitigung des rechtswidrigen Zustands gerichtet sind (z. B. die Pflicht zur Einleitung des Statusverfahrens gemäß §§ 97, 98 AktG), oder sie zieht hoheitliche Maßnahmen nach sich, wozu die gerichtliche Bestellung von Aufsichtsratsmitgliedern (§ 104 AktG) ebenso zählt wie in letzter Konsequenz die Auflösung der AG (§ 262 Abs. 1 Nr. 3–6 AktG). Da die Erfüllung derartiger Organisationsvorgaben somit in erster Linie im Interesse der Gesellschaft liegt, liegt es nahe, sie eher als Binnenobliegenheiten denn als Binnenpflichten einzuordnen;44 praktische Auswirkungen hat eine solche Einordnung allerdings nicht. Unabhängig von der Einordnung als Pflicht oder als Obliegenheit ist der Vorstand jedenfalls verpflichtet, für die Einhaltung der entsprechenden Organisationsvorgaben Sorge zu tragen. Dabei handelt es sich – ebenso wie bei der Erfüllung der Außenpflichten der Gesellschaft – um eine Binnenpflicht des Vorstands gegenüber der Gesellschaft, deren Verletzung wiederum zu einer Haftung gegenüber der Gesellschaft gemäß § 93 Abs. 2 AktG führt. 3. Zwischenfazit: Die Pflicht zur Legalität – eine Binsenweisheit Gegenüber der Gesellschaft hat der Vorstand nach dem bisher Gesagten also eine doppelte Verpflichtung: Zum einen ist er zur Befolgung der Normen verpflichtet, die unmittelbar an ihn, den Vorstand, adressierte Binnenpflichten statuieren; zu diesen Binnenpflichten zählt auch die allgemeine Treuepflicht. Zum anderen ist er gegenüber der Gesellschaft aufgrund seiner Organstellung verpflichtet, sämtliche an die Gesellschaft adressierten Pflichten (Außenpflichten und Binnenpflichten) zu erfüllen. Dagegen ist der Aufsichtsrat gegenüber der Gesellschaft nur zur Erfüllung der an ihn adressierten Binnenpflichten verpflichtet.

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42 Zur Beratung des Vorstands durch den Aufsichtsrat als Bestandteil der Überwachungsaufgabe Hopt/Roth (Fn. 3), § 111 AktG Rz. 288 ff.; Lutter/Krieger, Rechte und Pflichten des Aufsichtsrats, 5. Aufl. 2008, Rz. 94 ff.; krit. Steinmann/Klaus, AG 1987, 29, 30 ff. 43 S. nur K. Schmidt (Fn. 18), S. 409: „Aufsichtsorgane sind keine funktionsnotwendigen Organe.“ 44 Zur Abgrenzung von Pflichten und Obliegenheiten Olzen in Staudinger, Neubearb. 2009, § 241 BGB Rz. 128 ff.; vgl. auch Gernhuber, Das Schuldverhältnis, 1989, § 2 III 1 (Obliegenheiten als „Verhaltensanforderungen in eigener Sache“) sowie Hähnchen, Obliegenheiten und Nebenpflichten, Tübingen 2010, S. 1 f. m. w. N.

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Kommt der Vorstand einer der genannten Verpflichtungen nicht nach, haftet er gegenüber der Gesellschaft gemäß § 93 Abs. 2 AktG auf Schadensersatz; auf diese Vorschrift verweist § 116 Satz 1 AktG für den Aufsichtsrat. Die – im Falle des Vorstands doppelte – Verpflichtung beider Organe gegenüber der Gesellschaft kann mit dem Begriff der „Legalitätspflicht“ charakterisiert, ihre Missachtung dementsprechend als Verletzung der Legalitätspflicht bezeichnet werden. Über einen eigenständigen, über die Funktion eines prägnanten Oberbegriffs hinausgehenden Gehalt verfügt eine so verstandene Legalitätspflicht freilich nicht: Die Verletzung einer allgemeinen Pflicht zur Legalität ist immer die Verletzung einer speziellen, entweder unmittelbar an das jeweilige Organ oder an die Gesellschaft adressierten gesetzlichen Pflicht. Dass eine Pflichtverletzung pflichtwidrig ist, ist aber in der Tat – wie zu Beginn des Beitrags angedeutet – eine Binsenweisheit, wenn nicht gar eine Tautologie.

III. Das Statusverfahren (§§ 97, 98 AktG) als Gewährleistungsmechanismus für die rechtmäßige Größe und Zusammensetzung des Aufsichtsrats Gesetzliche Vorschriften über die Größe und die Zusammensetzung des Aufsichtsrats finden sich für alle Aktiengesellschaften im Aktiengesetz (§ 95 AktG) und ergänzend in den Mitbestimmungsgesetzen (§ 4 Abs. 1 DrittelBG und § 7 MitbestG). Die genannten Vorschriften normieren an die Gesellschaft (bzw. zunächst an die Gesellschaftsgründer) adressierte Organisationsvorgaben. Ihre Verletzung durch die Gesellschaft löst keine Haftung, sondern eine spezielle und originäre Binnenpflicht des Vorstands aus: Die §§ 30 Abs. 3 Satz 2, 97, 98 AktG bringen zum Ausdruck, dass im Innenverhältnis der Vorstand die Verantwortung für die gesetzeskonforme Zusammensetzung des Aufsichtsrats trägt. Da der Vorstand im Vorfeld der Aufsichtsratswahlen weder die Wahl der Anteilseignervertreter45 noch die Wahl der Arbeitnehmervertreter46 beeinflussen kann, kann er dieser Verantwortung nur dadurch nachkommen und einen gesetzeswidrigen Zustand nur dadurch beseitigen, dass er ein Statusverfahren einleitet. Hierzu ist er nach dem klaren und eindeutigen Wortlaut des § 97 AktG nicht bloß berechtigt, sondern verpflichtet. Die Bekanntmachungspflicht besteht, sobald der Vorstand der Ansicht ist, dass die Zusammensetzung des

__________ 45 Insoweit ist gemäß § 124 Abs. 3 AktG allein der Aufsichtsrat vorschlagsberechtigt, da der Vorstand auf die Auswahl seiner Kontrolleure keinen Einfluss nehmen soll; s. Hoffmann-Becking in Münch.Hdb. AG, 3. Aufl. 2007, § 30 Rz. 15. 46 Die Mitbestimmungsgesetze und die einschlägigen Wahlordnungen statuieren lediglich am Rande unmittelbare Pflichten des Vorstands. So hat der Vorstand etwa die Namen der Mitglieder und der Ersatzmitglieder des Aufsichtsrats unverzüglich nach ihrer Bestellung in den Betrieben des Unternehmens bekanntzumachen und im elektronischen Bundesanzeiger zu veröffentlichen (§ 19 Satz 1 MitbestG). Auf die Durchführung der Wahlen hat der Vorstand keinen unmittelbaren Einfluss. Insbesondere hat die Wahlbekanntmachung des Unternehmens nach § 2 WO nur deklaratorische Bedeutung, s. Wißmann in Wlotzke/Wißmann/Koberski/Kleinsorge, Mitbestimmungsrecht, 4. Aufl. 2011, Vor § 9 MitbestG Rz. 12.

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Aufsichtsrats nicht den für ihn maßgebenden gesetzlichen Vorschriften entspricht. Die Einleitung eines Statusverfahrens nach § 97 oder § 98 AktG gewährleistet, dass der Aufsichtsrat bis zum Abschluss des Statusverfahrens auch dann rechtmäßig amtiert, wenn seine Zusammensetzung nicht den maßgebenden gesetzlichen Vorschriften entspricht.47 Es ist gemäß § 30 Abs. 3 Satz 2 erstmals vor Ablauf der Amtszeit des ersten Aufsichtsrats durchzuführen und gemäß §§ 97, 98 AktG bei jeder Änderung der Zusammensetzung des Aufsichtsrats zu wiederholen.48 Welchen der beiden in § 97 und in § 98 AktG vorgesehen Wege – Bekanntmachung oder gerichtliches Verfahren – der Vorstand wählt, liegt in seinem Ermessen.49 Aufgrund der mit einer gerichtlichen Entscheidung verbundenen Kosten ist das gerichtliche Verfahren jedoch nur dann einzuleiten, wenn im Falle der Bekanntmachung nach § 97 AktG mit einem Widerspruch der nach § 98 Abs. 2 AktG Antragsberechtigten zu rechnen ist, sodass ohnehin eine gerichtliche Entscheidung ergehen wird, deren Kosten gemäß § 99 Abs. 6 Satz 7 AktG die Gesellschaft zu tragen hat.50 1. Herkömmliche Anwendungsfälle des Statusverfahrens (Überblick) Zur Einleitung des Statusverfahrens ist der Vorstand verpflichtet, wenn er der Ansicht ist, dass die Zusammensetzung des Aufsichtsrats nicht den für ihn maßgebenden gesetzlichen Vorschriften entspricht. Zu den „gesetzlichen Vorschriften“ zählen auch die für die Größe des Aufsichtsrats maßgeblichen Schwellenzahlen innerhalb ein und desselben Mitbestimmungsmodells, mag auch der vom Gesetzgeber ursprünglich intendierte Anwendungsbereich der §§ 97 bis 99 AktG auf Änderungen des anwendbaren Mitbestimmungsmodells beschränkt gewesen sein.51 Dagegen findet das Statusverfahren angesichts des klaren Gesetzeswortlauts und des geringeren Ordnungsgehalts von Satzungsrecht gegenüber zwingendem Gesetzesrecht52 keine Anwendung bei Verstößen gegen statutarische Zusammensetzungsvorschriften.53 Zur Einleitung des Statusverfahrens ist der Vorstand damit jedenfalls in folgenden Fällen verpflichtet:

__________

47 Habersack (Fn. 28), § 97 AktG Rz. 1; Oetker, ZHR 149 (1985), 575, 576 f. Insbesondere hat eine fehlerhafte Zusammensetzung des Aufsichtsrats nicht seine Beschlussunfähigkeit zur Folge; vor oder während der Durchführung des Statusverfahrens getroffene Beschlüsse sind nicht anfechtbar oder gar nichtig. 48 Hopt/Roth/Peddinghaus in Großkomm. AktG, 4. Aufl. 2006, § 97 AktG Rz. 7. 49 Zum Verhältnis von § 97 und § 98 AktG s. noch unten IV. 3. 50 Vgl. Mertens in KölnKomm. AktG, 2. Aufl. 1996, §§ 97–99 AktG Rz. 4; vgl. auch Habersack (Fn. 28), § 97 AktG Rz. 15 f. 51 Habersack (Fn. 28), § 97 AktG Rz. 14; Hoffmann-Becking (Fn. 45), § 28 Rz. 53; Hopt/ Roth/Peddinghaus (Fn. 48), § 97 AktG Rz. 9; Oetker, ZHR 149 (1985), 575, 577 ff.; Wißmann (Fn. 46), § 7 MitbestG Rz. 7 f. 52 Henssler in Ulmer/Habersack/Henssler, Mitbestimmungsrecht, 2. Aufl. 2006, § 7 MitbestG Rz. 28; Hopt/Roth/Peddinghaus (Fn. 48), § 97 AktG Rz. 11. 53 Hoffmann-Becking (Fn. 45), § 28 Rz. 54; Hopt/Roth/Peddinghaus (Fn. 48), § 97 AktG Rz. 4; Martens, DB 1978, 1065, 1069; a. A. Wißmann (Fn. 46), § 7 MitbestG Rz. 10; für analoge Anwendung Oetker, ZHR 149 (1985), 575, 583 ff.

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Fall 1: Die Gesellschaft ist unrichtigerweise mitbestimmungsfrei oder mitbestimmt. Dies ist der Fall, wenn eine nicht mitbestimmte Gesellschaft in der Regel mehr als 500 Arbeitnehmer beschäftigt oder eine mitbestimmte Gesellschaft weniger als 500 Arbeitnehmer beschäftigt. Fall 2: Die Gesellschaft ist richtigerweise mitbestimmt, aber die Intensität der Mitbestimmung ist unrichtigerweise zu gering oder zu hoch. Zu gering ist die Mitbestimmungsintensität, wenn eine „drittelparitätisch“ mitbestimmte Gesellschaft in der Regel mehr als 2.000 Arbeitnehmer beschäftigt; zu hoch ist sie, wenn eine paritätisch mitbestimmte Gesellschaft weniger als 2.000 Arbeitnehmer beschäftigt. Fall 3: Die Gesellschaft ist richtigerweise paritätisch mitbestimmt, aber der Aufsichtsrat ist gemessen an den gesetzlichen Schwellenwerten (§ 7 Abs. 1 MitbestG) zu klein oder zu groß. Eine Überbesetzung des Aufsichtsrats liegt vor, wenn bei einer Gesellschaft im Anwendungsbereich des MitbestG die Zahl der beschäftigten Arbeitnehmer die in § 7 Abs. 1 Satz 1 MitbestG genannten Schwellenwerte unterschreitet.54 Das Statusverfahren ist dagegen nicht durchzuführen, wenn die Satzung explizit den größeren Aufsichtsrat vorgesehen hat (§ 7 Abs. 1 Satz 2 und Satz 3 MitbestG).55 Eine Unterbesetzung des Aufsichtsrats ist gegeben, wenn bei einer Gesellschaft im Anwendungsbereich des MitbestG die Zahl der im Unternehmen beschäftigten Arbeitnehmer die in § 7 Abs. 1 Satz 1 MitbestG genannten Schwellenwerte überschreitet.56

__________ 54 Faktisch überbesetzt ist der Aufsichtsrat auch dann, wenn sich bei einer Gesellschaft außerhalb des Anwendungsbereichs des MitbestG in Folge einer Kapitalherabsetzung die nach § 95 Satz 4 AktG zulässige Höchstzahl der Aufsichtsratsmitglieder reduziert. Teilweise wird die Anwendung des Statusverfahrens in diesem Falle nur bei einem nach Maßgabe des DrittelbG mitbestimmten Aufsichtsrat bejaht; bei einem nicht mitbestimmten Aufsichtsrat sollen dagegen die Aufsichtsratsmitglieder im Amt bleiben und die veränderten Höchstzahlen erst bei der Neuwahl der Aufsichtsratsmitglieder zu beachten sein; so Habersack (Fn. 28), § 97 AktG Rz. 11; Hopt/ Roth/Peddinghaus (Fn. 48), § 95 AktG Rz. 100; Mertens (Fn. 50), § 95 AktG Rz. 25. Eine solche Differenzierung ist im Wortlaut des § 97 AktG nicht angelegt und auch teleologisch nicht begründbar; wie hier Oetker, ZHR 149 (1985), 575, 580 ff.; gegen eine Differenzierung zwischen mitbestimmten und mitbestimmungsfreien Gesellschaften auch Göz, ZIP 1998, 1523, 1525. 55 Hoffmann-Becking (Fn. 45), § 28 Rz. 53; Göz, ZIP 1998, 1523, 1525 f.; Hopt/Roth/ Peddinghaus (Fn. 48), § 95 AktG Rz. 103; vgl. auch Wißmann (Fn. 46), § 7 MitbestG Rz. 8, wonach eine Bestimmung der Aufsichtsratsgröße in der Satzung regelmäßig konstitutiv ist. 56 Keine Unterbesetzung ist dagegen anzunehmen, wenn sich bei einer Gesellschaft außerhalb des Anwendungsbereichs des MitbestG in Folge einer Kapitalerhöhung die nach § 95 Satz 4 AktG zulässige Höchstzahl der Aufsichtsratsmitglieder erhöht. Denn § 95 Satz 4 AktG statuiert lediglich zulässige Höchstzahlen, ermöglicht also die Vergrößerung des Aufsichtsrats durch eine Änderung der Satzung, ohne dass eine Pflicht hierzu bestünde; s. Hopt/Roth/Peddinghaus (Fn. 48), § 95 AktG Rz. 99.

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2. Insbesondere die Unionsrechtswidrigkeit der Zusammensetzung des Aufsichtsrats Fall 4: Die Wahl der Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat ist unter Verstoß gegen höherrangiges Unionsrecht erfolgt. Unseres Erachtens stellt der völlige Ausschluss ausländischer Belegschaften von den Wahlen der Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat eine unionsrechtlich nicht zu rechtfertigende Diskriminierung aller im Ausland beschäftigten Arbeitnehmer (Art. 18 AEUV) dar; darüber hinaus liegt eine Beschränkung der Freizügigkeit (Art. 45 AEUV) zumindest derjenigen im Inland beschäftigten Arbeitnehmer vor, die infolge des Wechsels in einen ausländischen Betrieb ihr (passives) Wahlrecht und ggf. ihr Aufsichtsratsmandat verlieren.57 Die überwiegende Auffassung in der Literatur hat sich dem angeschlossen.58 Zuletzt hat eine von der Kommission einberufene Arbeitsgruppe (Reflection Group on the Future of EU Company Law) einen Bericht vorgelegt, in dem sie der Kommission unter anderem empfiehlt, wegen der diskriminierenden Ausgestaltung der Wahlvorschriften ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland und andere Mitgliedstaaten einzuleiten, deren Rechtslage der deutschen entspricht.59 Das Unionsrecht beansprucht Anwendungsvorrang gegenüber widersprechendem nationalen Gesetzesrecht.60 Wie wir an anderer Stelle ausführlich dargelegt haben, hat der Verstoß der geltenden Wahlvorschriften gegen Art. 18 AEUV und gegen Art. 45 AEUV daher zur Folge, dass sie nicht mehr angewandt werden können. Die Durchführung von Wahlen der Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat nach den geltenden Wahlvorschriften ist somit nicht mehr möglich.61 Der Vorstand ist allerdings nicht Adressat der Wahlvorschriften. Viel-

__________ 57 Hellwig/Behme, AG 2009, 261; Hellwig/Behme, ZIP 2009, 1791, 1793; Hellwig/ Behme, ZIP 2010, 871; s. zuvor bereits die Hinweise bei Steindorff, ZHR 141 (1977), 457, 460 sowie Habersack, AG 2007, 641, 647; ders., AG 2009, 1, 12. 58 Budras, FAZ v. 2.9.2010, S. 11; Habersack, Beilage ZIP 48/2009, 1, 3; Latzel, Gleichheit in der Unternehmensmitbestimmung, 2010, S. 164; Rieble, FAZ v. 12.6.2010, S. C2; Rieble/Latzel, EuZA 2011, 145; wohl auch Baums/Lutter, Der Aufsichtsrat 2009, 153; mit Blick auf die Arbeitnehmerfreizügigkeit Müller-Graff, EWS 2009, 489, 497; die Frage offen lassend Jacobs, Beilage ZIP 48/2009, 18, 25; a. A. Teichmann, Beilage ZIP 48/2009, 10, 12; ders., ZIP 2010, 874; Oetker in ErfurtKomm. Arbeitsrecht, 12. Aufl. 2012, Einl. MitbestG Rz. 5a; Wißmann (Fn. 46), Vorbem. Rz. 63a; krit. auch Hommelhoff, ZGR 2010, 48, 60 ff. 59 Report of the Reflection Group On the Future of EU Company Law, online abrufbar unter http://ec.europa.eu/internal_market/company/docs/modern/reflectiongroup_ report_en.pdf.; s. dazu Hellwig/Behme, AG 2011, 740. 60 EuGH v. 15.7.1964 – Rs. 6/64 (Costa/ENEL), Slg. 1964, 1251; EuGH v. 9.3.1978 – Rs. 106/77 (Simmenthal), Slg. 1978, 629; vgl. zum Anwendungsvorrang des Unionsrechts auch das Gutachten des Juristischen Dienstes des Rates v. 22.6.2007, beigefügt der Erklärung Nr. 17 zur Schlussakte der Regierungskonferenz zum Vertrag von Lissabon, ABl. 2008 C 115, S. 335 (344) sowie aus der deutschen Rechtsprechung BVerfG, NJW 1987, 577, 579 f. – „Solange II“; NJW 2009, 2267, 2284 – Vertrag von Lissabon; NJW 2010, 3422, 3423 f. – „Honeywell“. 61 Hellwig/Behme, AG 2009, 261, 271; dies., ZIP 2010, 871, 873; a. A. Teichmann, Beilage ZIP 48/2009, 10, 12; ders., ZIP 2010, 874.

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mehr obliegen die rechtzeitige Einleitung und Durchführung der Wahl sowie die Feststellung des Wahlergebnisses nach den einschlägigen Wahlordnungen allein den von den Organen der Betriebsverfassung bestellten Wahlvorständen.62 Der Vorstand kann daher nicht unmittelbar verhindern, dass die Wahlen der Arbeitnehmervertreter weiterhin nach den unionsrechtswidrigen Wahlvorschriften durchgeführt werden. Er kann auch nicht selbst die Organisation der Wahl in die Hand nehmen und auf diese Weise die Einbeziehung der ausländischen Belegschaften gewährleisten, da das MitbestG und die Wahlordnungen für ein solches Vorgehen keine Grundlage bieten. Die bloße Annahme einer Pflicht des Vorstands zur Nichtanwendung der Wahlvorschriften würde damit ins Leere zielen. Allerdings können Vorschriften, die aufgrund ihrer Unionsrechtswidrigkeit nicht angewandt werden können, auch nicht „maßgebend“ i. S. des § 97 AktG für die Zusammensetzung des Aufsichtsrats sein. Ein nach Maßgabe des MitbestG oder des DrittelbG mitbestimmter Aufsichtsrat ist daher nicht nach den für ihn maßgebenden Vorschriften zusammengesetzt. Aus diesem Grunde besteht eine originäre Binnenpflicht des Vorstands zur Einleitung eines Statusverfahrens. Dies gilt umso mehr, als der Anwendungsvorrang des Unionsrechts ins Leere laufen würde, würde man eine Verpflichtung des Vorstands zur Einleitung des Statusverfahrens aufgrund der Unionsrechtswidrigkeit der Wahlvorschriften verneinen. Denn von Seiten der im Rahmen von § 98 AktG ebenfalls antragsberechtigten Organe der Betriebsverfassung dürfte kaum zu erwarten sein, dass diese die Initiative zur Einleitung eines Verfahrens ergreifen, an dessen Ende de lege lata nur die – vorübergehende – Beseitigung der unternehmerischen Mitbestimmung im Aufsichtsrat stehen kann, bis der Gesetzgeber die Einbeziehung der ausländischen Belegschaften in die deutsche unternehmerische Mitbestimmung ermöglicht.63

__________ 62 § 7 Abs. 5 WO normiert jedoch eine Pflicht des Unternehmens, die Wahlvorstände bei der Erfüllung ihrer Aufgaben zu unterstützen und ihnen den erforderlichen Geschäftsbedarf zur Verfügung zu stellen; gemäß § 20 Abs. 1 MitbestG darf niemand die Wahlen behindern. 63 Konkrete Vorschläge hierzu existieren bereits; s. ausführlich Hellwig/Behme, AG 2009, 261, 267 f. Eine Reformierung der deutschen unternehmerischen Mitbestimmung durch die Einführung eines am Vorbild der SE-Beteiligungsrichtlinie orientierten Verhandlungsmodells wird in der Literatur bereits seit deren Inkrafttreten vorgeschlagen, vgl. etwa Fleischer, AcP 204 (2004), 502, 540 f.; Raiser in Verhandlungen des 66. DJT, 2006, Gutachten B, S. B 67 ff.; Teichmann, AG 2008, 797 ff. Einen konkreten Vorschlag, wie die Einführung eines Verhandlungsmodells im MitbestG rechtstechnisch umgesetzt werden könnte, hat 2009 der Arbeitskreis „Unternehmerische Mitbestimmung“ vorgelegt (abgedruckt in ZIP 2009, 885) und die Diskussionsbeiträge von Hommelhoff, ZIP 2009, 1785; Teichmann, ZIP 2009, 1787; Kraushaar, ZIP 2009, 1789 und Hellwig/Behme, ZIP 2009, 1791 sowie von Habersack, Hanau, Teichmann, Jacobs und Veil in Beilage ZIP 48/2009. Dieser Vorschlag weist jedoch einen erheblichen Schwachpunkt auf, da er – anders als unser Vorschlag – nicht gewährleistet, dass im Falle des Scheiterns der Verhandlungen über die Mitbestimmung eine unionsrechtskonforme gesetzliche Auffangregelung eingreift; s. dazu Hellwig/ Behme, ZIP 2009, 1791, 1793 f.

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Diese Sichtweise bestätigt sich vor dem Hintergrund der unmittelbaren Drittwirkung des Diskriminierungsverbots (Art. 18 AEUV)64 und der Arbeitnehmerfreizügigkeit (Art. 45 AEUV).65 Die unmittelbare Drittwirkung dieser Normen bedeutet, dass eine Außenpflicht der Gesellschaft zu ihrer Beachtung besteht. Diese Pflicht wird dem Vorstand aufgrund seiner Stellung als Organ der AG zugerechnet. Im Bereich des europäischen Kartellrechts (Art. 101 ff. AEUV) gilt die so verstandene Organpflicht des Vorstands zur Erfüllung unionsrechtlich normierter Außenpflichten der Gesellschaft längst als Selbstverständlichkeit. Die einzige Möglichkeit für den Vorstand, diese Pflicht zu erfüllen, besteht mangels anderweitiger Einflussmöglichkeiten auf die Wahl der Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat wiederum in der Einleitung des Statusverfahrens.

IV. Mögliche Anknüpfungspunkte für ein pflichtwidriges Vorstandshandeln und die sog. Business Judgement Rule (§ 93 Abs. 1 Satz 2 AktG) Gemäß § 97 AktG hat der Vorstand das Statusverfahren dann einzuleiten, wenn er der Ansicht ist, dass der Aufsichtsrat nicht nach den für ihn maßgebenden gesetzlichen Vorschriften zusammengesetzt ist. Erst die Ansicht des Vorstands löst danach die Einleitungspflicht aus. Sie ist notwendigerweise das Ergebnis eines internen Meinungsbildungsprozesses über die Rechtmäßigkeit der Zusammensetzung des Aufsichtsrats. Somit bestehen zwei unterschiedliche Anknüpfungspunkte für ein pflichtwidriges Verhalten des Vorstands: Zum einen der interne, der „Ansicht“ i. S. des § 97 AktG vorgelagerte Meinungsbildungsprozess, zum anderen die daran anschließende Entscheidung für oder gegen die Einleitung des Statusverfahrens am Ende dieses Meinungsbildungsprozesses. 1. Zu den Anforderungen an die Prüfung der Zusammensetzung des Aufsichtsrats durch den Vorstand im Einzelnen Im Rahmen der internen Meinungsbildung über die Rechtmäßigkeit der Zusammensetzung des Aufsichtsrats ist der Vorstand zunächst verpflichtet, Veränderungen der tatsächlichen Verhältnisse im Auge zu behalten, die sich auf die Zusammensetzung des Aufsichtsrats auswirken können, und aus eigener Initiative zu überprüfen, ob der Aufsichtsrat richtig zusammengesetzt ist.66 Zu einer laufenden Überprüfung ist der Vorstand nicht verpflichtet; er muss jedoch Hinweisen nachgehen und sich der Anwendbarkeit des MitbestG bzw. des DrittelbG sowie der erforderlichen Anzahl der Aufsichtsratsmitglieder jedenfalls anlässlich der Angabe der durchschnittlichen Zahl der während des

__________

64 Zur unmittelbaren Drittwirkung von Art. 18 AEUV von Bogdandy in Grabitz/Hilf/ Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, Art. 18 AEUV Rz. 26 f.; Hellwig/ Behme, AG 2009, 261, 271. 65 EuGH v. 15.12.1995, Rs. C-415/93 (Bosman); EuGH v. 6.6.2000, Rs. C-281-98 (Angonese). 66 Hopt/Roth/Peddinghaus (Fn. 48), § 97 AktG Rz. 27 im Anschluss an Geßler in Geßler/Hefermehl/Eckardt/Kropff, 1973, § 97 AktG Rz. 7.

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Geschäftsjahrs beschäftigten Arbeitnehmer im Anhang des Jahresabschlusses gemäß § 285 Nr. 7 HGB vergewissern.67 Mit Blick auf die Unionsrechtswidrigkeit der Wahlvorschriften wird man eine Verpflichtung des Vorstands, sich mit der Problematik der fehlenden Einbeziehung ausländischer Belegschaften zu befassen, jedenfalls bejahen müssen, nachdem über die grundsätzliche Problematik und die aktuellen Entwicklungen mehrfach in der überregionalen Tagespresse berichtet wurde.68 Bei der Beurteilung, ob der Aufsichtsrat rechtmäßig zusammengesetzt ist, hat sich der Vorstand zunächst eine möglichst breite Informationsgrundlage zu verschaffen.69 Dabei sind alle verfügbaren Erkenntnisquellen auszuschöpfen. Vertiefte Rechtskenntnisse werden dem Vorstand nicht abverlangt; soweit erforderlich, ist er jedoch verpflichtet, unabhängigen und rechtlich qualifizierten Rat einzuholen.70 Dies gilt namentlich in Konstellationen, in denen die Rechtslage unklar ist,71 aber auch dann, wenn Bedenken hinsichtlich ihrer Vereinbarkeit mit Verfassungs- oder Europarecht bestehen.72 Dabei ist für die Anwendung der sog. Business Judgement Rule (§ 93 Abs. 1 Satz 2 AktG) anerkannt, dass der Vorstand zwischen Kosten und Nutzen der Informationsbeschaffung abwägen muss; bei eilbedürftigen Entscheidungen kann eine summarische Prüfung genügen.73 Bei der Prüfung der Frage, ob ein Statusverfahren einzuleiten ist oder nicht, ist aber – anders als etwa bei Fragen der Ad hocPublizität (§ 15 WpHG) – für eine solche Eilbedürftigkeit nichts ersichtlich. Zwar verlangt § 97 Abs. 1 Satz 1 AktG, dass die Bekanntmachung „unverzüglich“ – d. h. ohne schuldhaftes Zögern (§ 121 Abs. 1 Satz 1 BGB) – erfolgt. Die Einholung von Rechtsrat oder die Konsultation von gemäß § 98 Abs. 2 AktG Antragsberechtigten ist aber nicht als schuldhaftes Zögern zu werten,74 zumal die Frage der Zusammensetzung des Aufsichtsrats für das Unternehmen von grundlegender Bedeutung ist. Eine jüngere Entscheidung des BGH unterstreicht nochmals, dass an die dem Vorstand obliegende Prüfung der Rechtslage äußerst strenge Anforderungen zu stellen sind. Erforderlich ist, dass sich der Vorstand „unter umfassender Darstellung der Verhältnisse der Gesellschaft und Offenlegung der erforderlichen Unterlagen von einem unabhängigen, für die zu klärende Frage fachlich qualifizierten Berufsträger beraten lässt und den erteilten Rechtsrat einer sorgfälti-

__________ 67 Hopt/Roth/Peddinghaus (Fn. 48), § 97 AktG Rz. 27. 68 Budras, FAZ v. 2.9.2010, S. 11; Rieble, FAZ v. 12.6.2010, S. C2; Latzel, FAZ v. 8.9.2011, S. 8. 69 Lutter, ZIP 2007, 841, 844 f. 70 BGH, WM 2011, 2092 (Leitsatz); NZG 2007, 545, 547; OLG Stuttgart, NZG 2010, 141, 143; Fleischer, NZG 2010, 121, 122; Spindler (Fn. 7), § 93 AktG Rz. 67. 71 Dreher (Fn. 8), S. 92 f. 72 So ausdrücklich Spindler (Fn. 7), § 93 AktG Rz. 71. 73 Krieger/Sailer-Coceani in K. Schmidt/Lutter, 2. Aufl. 2010, § 93 AktG Rz. 13; Spindler (Fn. 7), § 93 AktG Rz. 67. 74 Habersack (Fn. 28), § 97 AktG Rz. 20; Hopt/Roth/Peddinghaus (Fn. 48), § 97 AktG Rz. 43; Spindler (Fn. 29), § 97 AktG Rz. 18.

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gen Plausibilitätskontrolle unterzieht.“75 Die exakten Anforderungen an die erforderliche Qualifikation und Unabhängigkeit des rechtlichen Beraters sind noch ungeklärt. In der strafrechtlichen Literatur wird diskutiert, ob die Konsultation von Hausjuristen oder Syndikusanwälten (für die Unvermeidbarkeit eines Verbotsirrtums i. S. des § 17 StGB) genügen soll.76 Auch im gesellschaftsrechtlichen Schrifttum wird letzteren teilweise eine gewisse „Betriebsblindheit“77 unterstellt. Dazu soll hier nicht Stellung genommen werden. Will der Vorstand auf Nummer sicher gehen, ist jedenfalls die Konsultation externer, fachlich möglichst auf Fragen des Unternehmensrechts spezialisierter Rechtsanwälte oder Rechtsprofessoren zu empfehlen. 2. Entscheidung für oder gegen die Einleitung des Statusverfahrens nach erfolgter Prüfung Ist der Vorstand der Ansicht, dass der Aufsichtsrat rechtswidrig zusammen gesetzt ist und entscheidet er sich gleichwohl gegen die Einleitung des Statusverfahrens, so handelt er nach dem klaren und eindeutigen Wortlaut des § 97 Abs. 1 AktG („so hat er dies unverzüglich … bekanntzumachen“) pflichtwidrig; einen Ermessensspielraum räumt ihm das Gesetz nicht ein. Allerdings handelt der Vorstand nach der in § 93 Abs. 1 Satz 2 durch das UMAG78 kodifizierten Business Judgement Rule79 nicht pflichtwidrig, wenn er bei einer unternehmerischen Entscheidung vernünftigerweise annehmen durfte, auf der Grundlage angemessener Information zum Wohle der Gesellschaft zu handeln. Zwar betrifft diese Haftungsprivilegierung nach dem Wortlaut des Gesetzes ausschließlich „unternehmerische Entscheidungen“, die nach dem Willen des Gesetzgebers von rechtlich gebundenen Entscheidungen abzugrenzen sind, bei denen ein unternehmerisches Ermessen des Vorstands nicht besteht.80 Auch bei Verstößen von Vorstandsmitgliedern gegen die ihnen durch Gesetz oder Satzung auferlegten Pflichten kann es aber nach der Gesetzesbegründung im Einzelfall am Verschulden fehlen.81 Entscheidend ist, dass der Vorstand seine Entscheidung für oder gegen die Einleitung eines Statusverfahrens auf der

__________ 75 BGH, WM 2011, 2092 (Leitsatz). S. zu den Anforderungen an die Prüfungspflicht ferner Dreher (Fn. 8), S. 92 ff. 76 Vgl. Rudolphi in SystematKomm. StGB, 7. Aufl. 2002, § 17 GmbHG Rz. 40; Roxin, Strafrecht AT, Bd. 1, 4. Aufl. 2006, § 21 Rz. 62. 77 Spindler (Fn. 7), § 93 AktG Rz. 67; für eine Gleichwertigkeit von Syndikusanwälten aber Binder, AG 2008, 274, 285; Fleischer, NZG 2010, 121, 123 f. 78 Gesetz zur Unternehmensintegrität und Modernisierung des Anfechtungsrechts (UMAG) v. 22.9.2005, BGBl. I 2005, 2802. Der Anerkennung der Business Judgement Rule im deutschen Recht hatten zuvor bereits die BGH-Entscheidungen BGHZ 71, 40 – „Kali und Salz“ und BGHZ 135, 244 – „ARAG/Garmenbeck“ den Weg bereitet. 79 Die Bezeichnung stammt aus dem US-amerikanischen Recht, s. dazu Fleischer in FS Wiedemann, 2002, S. 827, 833 f.; Paefgen, AG 2004, 245, 246 f. m. w. N. 80 BT-Drucks. 15/5092, S. 11. 81 BT-Drucks. 15/5092, S. 11; zum Verschuldensgrundsatz im Rahmen von § 93 AktG Krieger/Sailer-Coceani (Fn. 73), § 93 AktG Rz. 29; Spindler (Fn. 7), § 93 AktG Rz. 5.

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Grundlage angemessener Informationen, ausschließlich zum Wohle der Gesellschaft und frei von Interessenkonflikten trifft.82 Für die in § 97 Abs. 1 AktG statuierte Verpflichtung des Vorstands zur Einleitung des Statusverfahrens bedeutet dies: Kommt ein vom Vorstand eingeholtes Rechtsgutachten entgegen der von uns vertretenen Auffassung zu dem Ergebnis, dass die Wahlvorschriften entweder schon tatbestandlich keine unionsrechtswidrige Diskriminierung darstellen oder jedenfalls auf der Rechtsfolgenseite keine Verpflichtung besteht, diese Vorschriften nicht mehr anzuwenden, ist der Vorstand zunächst zu einer eigenständigen Plausibilitätskontrolle verpflichtet und hat sodann abzuwägen, welcher Ansicht er sich anschließt und ob er ein Statusverfahren einleitet oder nicht. Maßgeblich ist dabei allein das Interesse der Gesellschaft. Eine Rolle spielen können neben der zu erwartenden Beurteilung der Frage durch die Gerichte83 insoweit auch mögliche Reaktionen Dritter oder die Befürchtung einer negativen Berichterstattung in der Presse, wenn durch ein Statusverfahren die Arbeitnehmervertreter aus dem Aufsichtsrat gedrängt werden. Korporatistisches Denken allein kann einen Verstoß gegen die aktienrechtliche und unionsrechtliche Pflichtenlage aber keineswegs rechtfertigen. 3. Zum Verhältnis von Bekanntmachungspflicht (§ 97 AktG) und gerichtlichem Verfahren (§ 98 AktG) Sowohl die Bekanntmachung gemäß § 97 Abs. 1 AktG als auch die Einleitung des gerichtlichen Verfahrens gemäß § 98 Abs. 1 AktG setzen einen Beschluss des Vorstands voraus.84 Eine Pflicht zur Bekanntmachung nach § 97 Abs. 1 AktG besteht daher nur dann, wenn der Vorstand insgesamt oder zumindest mit der nach der Satzung für die Beschlussfassung erforderlichen Mehrheit der Ansicht ist, dass der Aufsichtsrat nicht richtig zusammengesetzt ist; alternativ kann der Vorstand auch das gerichtliche Verfahren gemäß § 98 Abs. 1 AktG einleiten.85 § 98 AktG hat jedoch auch einen eigenständigen Anwendungsbereich, wenn sich der Vorstand zu einer einheitlichen Meinungsbildung nicht durchringen kann oder auch nach Einholung von Rechtsgutachten innerhalb des Vorstands Zweifel an der Vereinbarkeit der deutschen Mitbestimmungsregeln mit Unionsrecht und die Rechtmäßigkeit der Zusammensetzung des Aufsichtsrats bestehen. In diesem Falle bietet § 98 Abs. 2 Nr. 1 AktG dem Vorstand nicht nur die Möglichkeit, den „Schwarzen Peter“ dem Gericht zuzuschieben, sondern verpflichtet ihn – anders als die übrigen gemäß § 98 Abs. 2

__________ 82 Zu den Voraussetzungen der Business Judgement Rule s. Lutter, ZIP 2007, 841, 843 ff.; Krieger/Sailer-Coceani (Fn. 73), § 93 AktG Rz. 10 ff.; zur ökonomischen Rechtfertigung und Kritik Arnold, Die Steuerung des Vorstandshandelns, 2007, S. 174 ff. 83 Bayer (Fn. 9), S. 92. 84 Für § 97 Abs. 1 AktG Habersack (Fn. 28), § 97 AktG Rz. 17 f.; Mertens (Fn. 50), §§ 97–99 AktG Rz. 9; für § 98 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 1 AktG Habersack (a. a. O.), § 98 AktG Rz. 13; Hopt/Roth/Peddinghaus (Fn. 48), § 98 AktG Rz. 23; Mertens (a. a. O.), §§ 97–99 AktG Rz. 32. 85 S. bereits oben III. 1.

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AktG antragsberechtigten Personen – das gerichtliche Verfahren einzuleiten.86 Für eine die Antragspflicht auslösende Ungewissheit des Vorstands i. S. des § 98 Abs. 1 AktG dürfte es genügen, dass ein Vorstandsmitglied der Auffassung ist, der Aufsichtsrat sei nicht rechtmäßig zusammengesetzt. Einzelne Vorstandsmitglieder sind im Rahmen von § 98 Abs. 2 Nr. 1 AktG nicht antragsberechtigt; sie trifft aber die Pflicht, auf einen ihrer Ansicht nach rechtmäßigen Beschluss des Vorstands hinzuwirken87 und im Falle eines abweichenden Beschluss Gegenvorstellungen zu erheben oder sich an den gemäß § 98 Abs. 2 Nr. 2 AktG ebenfalls antragsberechtigten Aufsichtsrat zu wenden.88 Sie sind ferner berechtigt, nicht aber verpflichtet, den Beschluss im Wege der Feststellungsklage gerichtlich anzugreifen.89

V. Mögliche Folgen einer Verletzung der Einleitungspflicht Die Prüfung der Zusammensetzung des Aufsichtsrats im Rahmen eines Statusverfahrens birgt generell ein hohes Konfliktpotential. Dies gilt umso mehr, wenn ein Statusverfahren im Ergebnis bis zu einer unionsrechtskonformen Ausgestaltung des Wahlverfahrens durch den Gesetzgeber dazu führt, dass der Aufsichtsrat nur noch aus Anteilseignervertretern zusammenzusetzen ist. Wir haben an anderer Stelle darauf hingewiesen, dass Vorstände regelmäßig einen derartigen Konflikt mit den Arbeitnehmer- und Gewerkschaftsvertretern im noch amtierenden Aufsichtsrat scheuen und von der Einleitung eines Statusverfahrens absehen werden.90 Vor diesem Hintergrund stellt sich mit besonderer Dringlichkeit die Frage, welche Mechanismen das Aktienrecht bereithält, um Vorstandsmitglieder zur Erfüllung ihrer Pflichten anzuhalten bzw. welche Konsequenzen ihnen im Falle einer Verletzung ihrer Pflichten drohen. 1. Fragerecht der Aktionäre in der Hauptversammlung Zunächst muss der Vorstand nach den einschlägigen Artikeln in der überregionalen Tagespresse und dem Bericht der Reflection Group on the Future of EU Company Law während der Hauptversammlung mit Fragen von Aktionären rechnen, die gemäß § 131 AktG Auskunft darüber begehren, ob der Vorstand seiner Verantwortung für die Zusammensetzung des Aufsichtsrats nachgekommen und insbesondere Rechtsgutachten zu der Frage eingeholt hat, ob die Zusammensetzung des Aufsichtsrats mit höherrangigem Unionsrecht verein-

__________ 86 Habersack (Fn. 28), § 98 AktG Rz. 13; Hopt/Roth/Peddinghaus (Fn. 48), § 98 AktG Rz. 38; Mertens (Fn. 50), §§ 97–99 AktG Rz. 3. 87 Habersack (Fn. 28), § 97 AktG Rz. 17. 88 Vgl. Fleischer, BB 2004, 2645, 2649; ders. (Fn. 7), § 77 AktG Rz. 32; Hopt (Fn. 7), § 93 AktG Rz. 52; Mertens/Cahn (Fn. 7), § 77 AktG Rz. 50. 89 Fleischer, BB 2004, 2645, 2650; ders. (Fn. 7), § 77 AktG Rz. 35; Spindler (Fn. 7), § 93 AktG Rz. 152; zur entsprechenden Berechtigung von Vorstandsmitgliedern s. auch BGHZ 135, 244, 248. 90 Hellwig/Behme, AG 2009, 261, 271; Hellwig/Behme, AG 2011, 740, 743 f.; ferner Rieble/Latzel, EuZA 2011, 145, 167.

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bar ist. Vorstände sind gut beraten, sich künftig auf derartige Fragen im Vorfeld der Hauptversammlung vorzubereiten. Sofern der Vorstand ein Statusverfahren nicht einleitet, muss er der Hauptversammlung plausibel und umfassend darlegen können, dass er sich mit der Thematik befasst und aus welchen Gründen er von der Einleitung des Statusverfahrens abgesehen hat. Erteilt der Vorstand die Auskunft nicht, nicht vollständig oder nicht zutreffend,91 hat dies zur Folge, dass der betroffene Hauptversammlungsbeschluss – hier: die Entlastung des Vorstands gemäß § 120 Abs. 1 AktG – wegen einer Verletzung des Auskunftsrechts anfechtbar (§ 243 Abs. 1 AktG) ist.92 2. Anfechtbarkeit des Entlastungsbeschlusses Versäumt es der Vorstand, im Falle einer gesetzes- oder unionsrechtswidrigen Zusammensetzung des Aufsichtsrats ein Statusverfahren einzuleiten, hat dies zur Folge, dass eine durch die Hauptversammlung erteilte Entlastung materiell rechtswidrig ist; auch darauf kann eine Anfechtungsklage gestützt werden. Zwar wird im Schrifttum teilweise vertreten, dass die Hauptversammlung über die Entlastung des Vorstands nicht nach pflichtgemäßem, sondern nach freiem Ermessen entscheide.93 Nach dieser Auffassung hätten Gesetzes- oder Satzungsverstöße des Vorstands auf die materielle Rechtmäßigkeit der Entlastung keinen Einfluss; eine gleichwohl erfolgte Entlastung wäre daher auch nicht anfechtbar.94 In der Praxis ist seit der Macroton-Entscheidung des BGH davon auszugehen, „dass ein Entlastungsbeschluss anfechtbar ist, wenn Gegenstand der Entlastung ein Verhalten ist, das eindeutig einen schweren Gesetzes- oder Satzungsverstoß darstellt.“95 In Anbetracht der grundlegenden Bedeutung der Zusammensetzung des Aufsichtsrats für die Binnenorganisation der Gesellschaft ist ein Verstoß gegen § 97 oder § 98 AktG wohl ohne weiteres als „schwerer Gesetzesverstoß“ im Sinne dieser Rechtsprechung anzusehen; eine darauf gestützte Anfechtungsklage wäre somit begründet (§ 243 Abs. 1 AktG).96

__________ 91 Zu den möglichen Verletzungen des Auskunftsrechts Kubis in MünchKomm. AktG, 2. Aufl. 2004, § 131 AktG Rz. 150. 92 BGH, NJW 2005, 828 mit Anm. Noack, LMK 2005, 149827. Nach Baums/Drinhausen/Keinath, ZIP 2011, 2329, 2339 f. ist die Verletzung des Auskunftsanspruchs der in der Hauptversammlungspraxis am häufigsten geltend gemachte Anfechtungsgrund. 93 Kubis (Fn. 91), § 120 AktG Rz. 15; ähnlich Mülbert in Großkomm. AktG, 4. Aufl. 2008, § 120 AktG Rz. 75 f. 94 So Kubis (Fn. 91), § 120 AktG Rz. 47; Mülbert (Fn. 93), § 120 AktG Rz. 121. 95 BGH, NJW 2003, 1032, 1033; bestätigt durch BGH, NJW 2005, 828; NJW 2009, 2207; NZG 2009, 1270; s. ferner Hoffmann in Spindler/Stilz, 2. Aufl. 2010, § 120 AktG Rz. 27 und Rz. 49; Hüffer (Fn. 7), § 120 AktG Rz. 12; für die GmbH Zöllner in Baumbach/Hueck, 19. Aufl. 2010, § 46 GmbHG Rz. 43 f. 96 Bemerkenswert ist, dass sich in der Praxis die meisten erhobenen Anfechtungsklagen zumindest auch gegen die Entlastung von Vorstands- und Aufsichtsratsmitgliedern richten, s. Baums/Drinhausen/Keinath, ZIP 2011, 2329, 2337 sowie bereits Baums/ Keinath/Gajek, ZIP 2007, 1629, 1639.

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Die Legalitätspflicht von Vorstand und Aufsichtsrat und das Statusverfahren

3. Schadensersatzpflicht Kommt der Vorstand seiner Verpflichtung, durch die Einleitung eines Statusverfahrens für eine gesetzeskonforme Zusammensetzung des Aufsichtsrats zu sorgen, nicht nach, und kann er auch nicht nachweisen, dass er sich mit den einschlägigen Rechtsfragen befasst hat und insoweit qualifizierten Rechtsrat eingeholt hat, macht er sich gegenüber der Gesellschaft schadensersatzpflichtig. Der Schadensersatzanspruch besteht nur gegenüber der Gesellschaft, nicht aber gegenüber Aktionären und sonstigen Dritten wie etwa Arbeitnehmern oder Gewerkschaften. Er ergibt sich allein aus § 93 Abs. 2 AktG; § 97 AktG ist kein Schutzgesetz i. S. des § 823 Abs. 2 BGB.97 Mit Recht wird die rechtspraktische Bedeutung des Schadensersatzanspruches in der Literatur als gering beurteilt.98 Denn es lässt sich kaum je nachweisen, dass der Gesellschaft durch eine fehlerhafte Zusammensetzung des Aufsichtsrats ein ersatzfähiger Schaden entsteht. Im Falle einer zu hohen oder zu geringen Mitbestimmungsintensität ist ein Schaden selbst dann nicht bezifferbar, wenn man die im Schrifttum teilweise vertretene Auffassung teilt, dass sich die unternehmerische Mitbestimmung als solche oder jedenfalls die paritätische Mitbestimmung negativ auf die Ertragskraft des Unternehmens auswirkt99 oder potentielle Kapitalgeber von Investitionen in das Unternehmen abschreckt.100 Auf eine Schätzung gemäß § 287 ZPO wird sich kein Gericht einlassen.101 Auch wird es sich regelmäßig nicht nachweisen lassen, dass ein richtig zusammengesetzter Aufsichtsrat Schäden verhindert hätte, die der tatsächlich amtierende Aufsichtsrat nicht verhindert hat.102 Dafür wäre nachzuweisen, dass ein Zusammenhang zwischen der zu hohen oder zu geringen Mitbestimmungsintensität und dem entstandenen Schaden besteht. Der einzige Fall, in dem tatsächliche Anhaltspunkte für einen Schaden bestehen, ist eine Überbesetzung des Aufsichtsrats, aufgrund derer die Gesellschaft zur Fortzahlung von Bezügen an die überschüssigen Aufsichtsratsmitglieder verpflichtet ist. Regelmäßig erhält die Gesellschaft für diese Bezüge allerdings eine Gegenleistung, sodass sie keinen ersatzfähigen Schaden darstellen. Etwas anders gilt allenfalls dann, wenn sich aus der Satzung der Gesellschaft ergibt, dass die Gesellschaft nur das gesetzlich erforderliche Mindestmaß an Aufsichtsratsmitgliedern beschäftigen will.103

__________ 97 Drygala (Fn. 31), § 97 AktG Rz. 10; Habersack (Fn. 28), § 97 AktG Rz. 28; Hopt/ Roth/Peddinghaus (Fn. 48), § 97 AktG Rz. 54; Mertens (Fn. 50), §§ 97–99 AktG Rz. 7 f. 98 Hopt/Roth/Peddinghaus (Fn. 48), § 97 AktG Rz. 53; Mertens (Fn. 50), §§ 97–99 AktG Rz. 7; Spindler (Fn. 29), § 97 AktG Rz. 37. 99 Adams, ZIP 2006, 1561, 1563 unter Verweis auf Gorton/Schmid, Journal of the European Economic Association 2004, 863. 100 Adams, ZIP 2006, 1561, 1565; Pläster, EWS 2008, 173, 176 f.; Säcker, AG 2008, 17, 19 f. 101 Irrelevant sind in diesem Zusammenhang mögliche Auswirkungen der unternehmerischen Mitbestimmung auf den Wert der Aktien der Gesellschaft, da das Vermögen der Gesellschaft und das der Aktionäre strikt zu trennen sind; so zutreffend Spindler (Fn. 7), § 93 AktG Rz. 154. 102 Hopt/Roth/Peddinghaus (Fn. 48), § 97 AktG Rz. 53. 103 Hopt/Roth/Peddinghaus (Fn. 48), § 97 AktG Rz. 53.

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Was die Unionsrechtswidrigkeit der Wahlvorschriften anbelangt, kann sich die Alleinrepräsentation der inländischen Arbeitnehmer im Aufsichtsrat für die Gesellschaft nachteilig auswirken, wenn der Aufsichtsrat seine gemäß § 111 Abs. 4 Satz 2 AktG erforderliche Zustimmung zu einer bestimmten betriebswirtschaftlich sinnvollen Maßnahme (etwa einer Standortverlagerung ins Ausland) deshalb verweigert, weil davon die Interessen der deutschen Belegschaften betroffen sind. In einem solchen Falle ist es offensichtlich, dass ein auf Seiten der Arbeitnehmervertreter international besetzter Aufsichtsrat die Frage möglicherweise anders beurteilen wird als ein Aufsichtsrat, in dem allein deutsche Arbeitnehmer und ihre Gewerkschaften vertreten sind. Hier genügt bei geschlossenem Abstimmungsverhalten der Arbeitnehmer eine Enthaltung auf Seiten der Anteilseigner, um die Zustimmung scheitern zu lassen. Noch deutlich wird das Problem, wenn die Satzung – wie etwa die Satzung der Volkswagen AG – vorsieht, dass Beschlüsse über die Errichtung und Verlegung von Produktionsstätten einer mit qualifizierter Mehrheit erteilten Zustimmung des Aufsichtsrats bedürfen, da sie dann nur noch mit Zustimmung eines Teils der Arbeitnehmervertreter getroffen werden können.104 Lässt sich nachweisen, dass ein nicht mitbestimmter Aufsichtsrat die Zustimmung erteilt hätte und der Gesellschaft dadurch ein Schaden entstanden ist, kommt eine Ersatzpflicht des Vorstands durchaus in Betracht.

VI. Zur Eigenverantwortlichkeit des Aufsichtsrats für die Rechtmäßigkeit seiner Zusammensetzung Die Verpflichtung des Vorstands, für eine rechtmäßige Zusammensetzung des Aufsichtsrats zu sorgen, wird flankiert durch die Eigenverantwortlichkeit des Aufsichtsrats für die Rechtmäßigkeit seiner Zusammensetzung. Diese Pflicht ist einerseits Ausprägung der Überwachungspflicht (§ 111 Abs. 1 AktG), soweit es um die Frage geht, ob der Vorstand seiner Verantwortung für die rechtmäßige Zusammensetzung des Aufsichtsrats nachgekommen ist. Sie ist aber zugleich Ausfluss einer eigenständigen Pflicht der Aufsichtsratsmitglieder, auf eine gesetzmäßige und funktionsgerechte Organisation und Arbeitsweise des Aufsichtsrats hinzuwirken,105 die sich mit Blick auf die Zusammensetzung des Aufsichtsrats zu einer Antragspflicht i. S. des § 98 Abs. 2 Nr. 2 AktG verdichtet.

__________ 104 S. bereits Hellwig/Behme, AG 2009, 261, 270 zur Vereinbarkeit einer solchen Satzungsbestimmung und des inhaltsgleichen 4 Abs. 2 VW-Gesetz mit der Niederlassungsfreiheit (Art. 49, 54 AEUV). Die Kommission hat inzwischen beschlossen, Deutschland wegen Nichtbefolgung des EuGH-Urteils zum VW-Gesetz (EuGH v. 23.10.2007 – Rs. C-112/05) erneut zu verklagen (Pressemitteilung der Kommission v. 24.11.2011 – IP/11/1444). 105 Hopt/Roth (Fn. 3), § 111 AktG Rz. 45, § 116 AktG Rz. 120; s. ferner Habersack (Fn. 28), § 111 AktG Rz. 17; Lutter/Krieger (Fn. 42), Rz. 889.

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1. Die Zusammensetzung des Aufsichtsrats als Gegenstand der Überwachungspflicht Die Kernaufgabe des Aufsichtsrats besteht gemäß § 111 Abs. 1 AktG in der Überwachung der Geschäftsführung des Vorstands. Bei der Überwachung handelt es sich um eine Plenaraufgabe.106 Das einzelne Aufsichtsratsmitglied ist allerdings zur Mitarbeit im Gesamtaufsichtsrat und in den Ausschüssen, denen es angehört, verpflichtet.107 Aus der Überwachungsaufgabe des Gesamtaufsichtsrats leitet sich daher eine Verpflichtung jedes einzelnen Aufsichtsratsmitglieds ab, an der Überwachung der Geschäftsführung mitzuwirken.108 Eine quantitative und qualitative Begrenzung erfährt diese Pflicht durch den Grundsatz der Ausübung der Pflichten in der Sitzung und die Ausgestaltung der Aufsichtsratstätigkeit als Nebenamt.109 Um dem Sorgfaltsmaßstab gemäß §§ 116 Satz 1, 93 Abs. 1 Satz 1 AktG zu genügen, muss sich das Aufsichtsratsmitglied aber zumindest im Vorfeld der Sitzung so weit mit der zu verhandelnden Thematik befassen, dass es zu einer eigenständigen und sachgerechten Beurteilung der Geschäftsführung des Vorstands in der Lage ist.110 Die Einleitung des Statusverfahrens ist Geschäftsführungsaufgabe im Sinne des § 111 Abs. 1 AktG, sodass sich die Überwachungsaufgabe des Aufsichtsrats darauf erstreckt. Der Aufsichtsrat bzw. seine Mitglieder haben sich daher auf einer ersten Stufe präventiv über die Erfüllung dieser Aufgabe durch den Vorstand zu informieren. Dieser Informationspflicht wird der Aufsichtsrat nur gerecht, wenn er sich zum einen selbst mit der Rechtmäßigkeit seiner Zusammensetzung befasst und zum anderen die diesbezügliche Meinungsbildung des Vorstands nachvollzieht und bewertet. Soweit erforderlich, kann der Aufsichtsrat zu diesem Zwecke selbst externe Berater konsultieren und Rechtsgutachten einholen. Die Konsultation externer Berater liegt grundsätzlich im Ermessen des Gesamtaufsichtsrats;111 einzelne Aufsichtsratsmitglieder müssen

__________ 106 Drygala (Fn. 31), § 116 AktG Rz. 3; Hommelhoff in FS Werner, 1984, S. 315, 321; Hopt/Roth (Fn. 3), § 111 AktG Rz. 108; Spindler (Fn. 29), § 111 AktG Rz. 30. 107 Habersack (Fn. 28), § 116 AktG Rz. 31; Hopt/Roth (Fn. 3), § 111 AktG Rz. 135; Lutter/Krieger (Fn. 42), Rz. 886; Mertens (Fn. 50), § 116 AktG Rz. 10. 108 Hommelhoff (Fn. 106), S. 321; Hopt/Roth (Fn. 3), § 111 AktG Rz. 115; Mertens (Fn. 50), § 116 AktG Rz. 10. 109 Hopt/Roth (Fn. 3), § 111 AktG Rz. 131 f. und § 116 AktG Rz. 137. 110 Habersack (Fn. 28), § 116 AktG Rz. 31; Hopt/Roth (Fn. 3), § 111 AktG Rz. 135; Lutter/Krieger (Fn. 42), Rz. 886; Mertens (Fn. 50), § 116 AktG Rz. 10. 111 Eichner/Höller, AG 2011, 885, 889; Hopt/Roth (Fn. 3), § 111 AktG Rz. 753. Der Jubilar hat in einer Besprechung des Hertie-Urteils des BGH (BGHZ 85, 293) ein umfassendes Autarkiegebot für den Aufsichtsrat entwickelt, dessen Kehrseite ein allgemeines Unterstützungsverbot sei: Weder der Aufsichtsrat noch seine Mitglieder dürften auf die Hilfe außenstehender Dritter angewiesen sein (Hommelhoff, ZGR 1983, 551, 562). Eindrucksvoll werden dort die Gefahren geschildert, die insbesondere mit einer selbständigen Konsultation externer Berater durch einzelne Aufsichtsratsmitglieder verbunden sind; diese dürfe nur in engen Ausnahmefällen zulässig sein (ebd., S. 565). Richtig ist, dass der Konsultation externer Berater Grenzen gezogen sind, die sich insbesondere aus dem Grundsatz der Unübertragbarkeit der Aufgaben des Aufsichtsrats (§ 111 Abs. 5 AktG) und der Verschwiegenheitspflicht (§ 116 Satz 2 AktG) ergeben. Die Konsultation Dritter muss daher auf Ein-

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sich jedenfalls vor einer selbständigen Einschaltung von Beratern zunächst an das Plenum wenden.112 Des Weiteren zählt es zu den Aufgaben des Aufsichtsrats, etwaige Schadensersatzansprüche zu verfolgen, die der Gesellschaft aus einer Pflichtverletzung des Vorstands erwachsen (§ 112 AktG). Dass es dazu in der Praxis tatsächlich kommt, ist indes wenig wahrscheinlich, wenn auch der BGH in seiner ARAG/ Garmenbeck-Entscheidung dem Ermessensspielraum des Aufsichtsrats bei der Geltendmachung von Haftungsansprüchen gegen Vorstandsmitglieder enge Grenzen gezogen hat.113 Mit Recht hat nämlich Lutter die Überkreuzzuständigkeit von Vorstand und Aufsichtsrat für die Geltendmachung von Haftungsansprüchen als „ganz und gar verfehlte Lösung“114 gekennzeichnet. Die zunehmend engere kompetenzielle, in Einzelfällen auch personelle Verflechtung von Vorstand und Aufsichtsrat begünstigt eine falsch verstandene Solidarität zwischen den Mitgliedern der jeweiligen Organe. Erst recht werden einzelne Aufsichtsratsmitglieder die Thematisierung von Haftungsfragen scheuen, wenn die dem Vorwurf der Pflichtverletzung ausgesetzten ehemaligen Vorstandsmitglieder inzwischen selbst Mitglieder des Aufsichtsrats sind.115 Schließlich muss der Aufsichtsrat über die Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen gegen den Vorstand durch Beschluss entscheiden; es muss also eine Mehrheit für die Geltendmachung des Anspruchs votieren.116 Jedenfalls die Vertreter der (deutschen) Arbeitnehmer werden in einer zu hohen Mitbestimmungsintensität, einer Überbesetzung des Aufsichtsrats und erst recht in der Alleinrepräsentation der deutschen Belegschaften im Aufsichtsrat kaum einen Schaden erblicken und dementsprechend nicht dafür votieren, den Vorstand wegen seiner Untätigkeit in Anspruch zu nehmen.

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zelfragen von besonderer Komplexität beschränkt bleiben und darf sich nicht pauschal auf die gesamte Überwachungstätigkeit beziehen (Habersack [Fn. 28], § 111 AktG Rz. 35; Spindler [Fn. 29], § 111 AktG Rz. 80). Generell – insoweit ist dem Jubilar zu folgen – stellt sich bei der Konsultation Dritter durch den Aufsichtsrat eher die Frage des Dürfens als die Frage des Müssens (Hopt/Roth [Fn. 3], § 116 AktG Rz. 58). In Anbetracht der zunehmenden Professionalisierung der Aufsichtsratsarbeit und vor dem Hintergrund des Haftungsrisikos, dem auch die Mitglieder des Aufsichtsrats ausgesetzt sind, geht unseres Erachtens aber die Annahme eines so weitreichenden Unterstützungsverbots, wie es der Jubilar angenommen hat, zu weit; ebenso Hopt/Roth (Fn. 3), § 111 AktG Rz. 751 ff. Hopt/Roth (Fn. 3), § 111 AktG Rz. 754; Lutter/Krieger (Fn. 42), Rz. 488. BGHZ 135, 244, 253 ff.; Eichner/Höller, AG 2011, 885, 893; Lutter/Krieger (Fn. 42), Rz. 442. Lutter, ZIP 2009, 197, 201; zustimmend Hellwig in FS Maier-Reimer, 2010, S. 201, 212; vgl. auch Spindler (Fn. 7), § 93 AktG Rz. 2 („Achillesferse der deutschen Corporate Governance“); relativierend Arnold (Fn. 82), S. 189 f. Bayer (Fn. 9), S. 86; Hellwig (Fn. 114), S. 213. Drygala (Fn. 31), § 112 AktG Rz. 13; Habersack (Fn. 28), § 112 AktG Rz. 21; Hopt/Roth (Fn. 3), § 112 AktG Rz. 71.

Die Legalitätspflicht von Vorstand und Aufsichtsrat und das Statusverfahren

2. Die Zusammensetzung des Aufsichtsrats als Gegenstand der Selbstorganisationspflicht Neben der Überwachungspflicht trifft den Aufsichtsrat eine Organisationspflicht, die insbesondere die Wahl eines Vorsitzenden, die Entscheidung über die Einrichtung und Besetzung von Ausschüssen und die Entscheidung über den Erlass einer Geschäftsordnung umfasst.117 Ebenso wie bei der Erfüllung der Überwachungsaufgabe trifft auch im Rahmen der Selbstorganisationspflicht jedes einzelne Aufsichtsratsmitglied die Pflicht, auf eine funktionsgerechte Organisation des Aufsichtsrats hinzuwirken.118 Teilweise wird die Organisationspflicht als spezifische Ausprägung der in §§ 116, 93 Abs. 1 Satz 1 AktG normierten Sorgfaltspflicht eingestuft,119 was insofern unpräzise ist, als es sich bei der Organisationspflicht um eine eigenständige, an den Aufsichtsrat adressierte Binnenpflicht handelt, für deren Erfüllung freilich der Sorgfaltsmaßstab des § 93 Abs. 1 Satz 1 AktG gilt. Diese Pflicht kann dazu führen, dass der Aufsichtsrat als Gremium verpflichtet ist, von dem Individualantragsrecht seiner Mitglieder nach § 98 Abs. 1 Abs. 2 Nr. 2 AktG Gebrauch zu machen. Umstritten ist, ob das einzelne Aufsichtsratsmitglied über diese allgemeinen Anforderungen hinaus die konkrete Pflicht trifft, im Falle einer rechtswidrigen Zusammensetzung des Aufsichtsrats von seinem Antragsrecht nach § 98 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 2 AktG Gebrauch zu machen. Teilweise wird dies mit dem Hinweis verneint, der Gesetzgeber habe die Verantwortlichkeit für die rechtmäßige Zusammensetzung des Aufsichtsrats allein dem Vorstand auferlegen wollen, um auf diese Weise Konflikte innerhalb des Aufsichtsrats zu vermeiden.120 Die Gegenansicht bejaht die Antragspflicht des einzelnen Aufsichtsratsmitglieds mit dem Hinweis, anderenfalls würde es seine Sorgfaltspflicht verletzen.121 Dem ist zu folgen: § 97 AktG verpflichtet den Vorstand zu einer entsprechenden Bekanntmachung, wenn er der Ansicht ist, dass der Aufsichtsrat nicht nach den für ihn maßgeblichen gesetzlichen Vorschriften zusammengesetzt ist. § 98 AktG hingegen greift bereits unterhalb dieser Schwelle, um zu ermöglichen, dass Zweifelsfälle dem Gericht unterbreitet werden. Die Bekanntmachung nach § 97 AktG prädeterminiert das Ergebnis das Statusverfahrens; die Stellung des Antrags nach § 98 AktG lässt das Ergebnis offen. Insofern ist es sachgerecht, dass das einzelne Aufsichtsratsmitglied antragsberechtigt ist. Eine entsprechende Pflicht zur Antragstellung kann sich sodann aus der Sorgfaltspflicht ergeben. Dies gilt umso mehr, als eine trennscharfe Abgrenzung zur Überwachungspflicht nicht möglich ist. Dass es innerhalb des

__________ 117 Habersack (Fn. 28), § 116 AktG Rz. 17. 118 Habersack (Fn. 28), § 116 AktG Rz. 30; Hopt/Roth (Fn. 3), § 111 AktG Rz. 141, § 116 AktG Rz. 120; Lutter/Krieger (Fn. 42), Rz. 889; Mertens (Fn. 50), §§ 97–99 AktG Rz. 31; Spindler (Fn. 29), § 98 AktG Rz. 10. 119 Habersack (Fn. 28), § 116 AktG Rz. 17; Hopt/Roth (Fn. 3), § 116 AktG Rz. 120. 120 Mertens (Fn. 50), §§ 97–99 AktG Rz. 31; ebenso ohne nähere Begründung Drygala (Fn. 31), § 98 AktG Rz. 7; Habersack (Fn. 28), § 98 AktG Rz. 17 f.; Rittner, DB 1969, 2165, 2166. 121 Godin/Wilhelmi, AktG, 4. Aufl. 1971, § 98 AktG Anm. 2; Hopt/Roth/Peddinghaus (Fn. 48), § 98 AktG Rz. 39; Spindler (Fn. 29), § 98 AktG Rz. 10.

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Aufsichtsrats zu Konflikten kommen kann, nimmt das Gesetz auch an anderer Stelle hin, wenn es etwa in § 103 Abs. 3 AktG den Aufsichtsrat ermächtigt, einen gerichtlichen Antrag auf Abberufung einzelner Aufsichtsratsmitglieder zu stellen.122 3. Mögliche Folgen einer Verletzung der Einleitungspflicht Die Folgen einer Verletzung der Überwachungspflicht und der Selbstorganisationspflicht durch den Aufsichtsrat entsprechen denjenigen bei einer Pflichtverletzung des Vorstands: Die Erfüllung dieser Pflichten kann Gegenstand eines Auskunftsbegehrens auf der Hauptversammlung sein (§ 131 AktG), ihre Verletzung ggf. die Anfechtung der Entlastung des Aufsichtsrats begründen und Schadensersatzansprüche der Gesellschaft zur Folge haben, sofern der Gesellschaft aus der Untätigkeit der Aufsichtsratsmitglieder ein Schaden erwächst. Da der Pflichtverletzung des Aufsichtsrats allerdings immer eine Pflichtverletzung des Vorstands vorausgeht – es ist in erster Linie der Vorstand für die rechtmäßige Zusammensetzung des Aufsichtsrats verantwortlich – und der Vorstand für die Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen der Gesellschaft gegen Aufsichtsratsmitglieder zuständig ist, ist es sehr unwahrscheinlich, dass ein solcher Anspruch gegen den Aufsichtsrat in der Praxis tatsächlich durchgesetzt werden wird.123

__________ 122 Spindler (Fn. 29), § 98 AktG Rz. 10. 123 Hopt/Roth (Fn. 3), § 116 AktG Rz. 304.

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Dietmar Helms

Die Societas Privata Europaea (SPE) Zur Weiterentwicklung des Ursprungskonzepts im Wandel der Zeit

Inhaltsübersicht I. Einleitung II. Grundkonzeption der SPE 1. Bedarf nach einer weiteren supranationalen Rechtsform 2. Grundelemente a) Das Allzweckmöbel (nicht nur) für KMU b) Akzeptanzfragen

c) d) e) f)

Regelungstechnik Gründung und Eintragung Organisationsverfassung Gläubigerschutz

III. Mitbestimmung IV. Minderheitenschutz V. Ausblick

I. Einleitung Die Societas Privata Europaea (SPE) („Europa-GmbH“) hätte beinahe pünktlich zum Erscheinen dieser Festschrift das Licht der Welt erblickt. Nach dem überraschenden Rückzieher der deutschen Bundesregierung im Juni 20111 wird es aber doch noch eines beherzten weiteren Anlaufs bedürfen, um dieses große Projekt des europäischen Gesellschaftsrechts zum Abschluss zu bringen.2 Dass dieses Vorhaben überhaupt so weit gediehen ist, ist im Wesentlichen das Verdienst von Peter Hommelhoff, der als erster die Notwendigkeit einer solchen Rechtsform erkannt, ihre wesentlichen Strukturmerkmale herausgearbeitet und seit nunmehr 18 Jahren unermüdlich an ihrer Vollendung und Verabschiedung gearbeitet hat. Sein Geburtstag ist ein passender Anlass, die von Peter Hommelhoff erdachte Grundkonzeption mit dem jetzigen Verordnungsentwurf abzugleichen und herauszuarbeiten, wie unverfälscht der aktuelle Textvorschlag nach all’ den Diskussionsrunden, working groups und Überarbeitungen die Grundideen reflektiert, die Peter Hommelhoff maßgeblich mitentwickelt hat. Anfang der 90er Jahre richtete sich das Augenmerk und Interesse der Europäischen Kommission immer noch auf die Verabschiedung der Europäischen Aktiengesellschaft (SE), auf deren Erfolg nach jahrzehntelangen Debatten nicht mehr viele wetten wollten. Peter Hommelhoff wurde in dieser Zeit auf eine Studie des Centre de Recherche sur le Droit des Affaires (CREDA) der Pariser Industrie- und Handelskammer mit dem Titel „Pour une société fermée euro-

__________ 1 Hommelhoff/Teichmann, FAZ v. 29.6.2011, S. 23. 2 Im Überblick demnächst Teichmann in Leible/Reichert (Hrsg.), MünchHdb. Gesellschaftsrecht, Bd. 6, im Erscheinen.

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péenne“ aufmerksam, die bereits 1973 – 20 Jahre zuvor – in einer breit angelegten Befragung herausgearbeitet hatte, dass die europäisch grenzüberschreitend tätigen Unternehmen ein viel größeres Interesse an einer „geschlossenen“, d. h. nicht börsennotierten Gesellschaftsform geäußert hatten als an einer Europäischen Aktiengesellschaft. Er bat mich, dieses Buch in die deutsche Sprache zu übersetzen, um es einem breiteren Publikum zugänglich zu machen und die Diskussion über die Thematik anzustoßen. Es sollte der Beginn einer mehrjährigen gemeinsamen wissenschaftlichen Zusammenarbeit werden, wie sie sich einem jungen Doktoranden nur selten bietet. Schnell wurde klar, dass zwar das Thema genau so aktuell geblieben war wie Anfang der 70er Jahre. Im europäischen Gesellschaftsrecht war die Zeit gleichwohl nicht stehengeblieben; zahlreiche neue gesellschaftsrechtliche Richtlinien und Entwicklungen erforderten es, das Buch neu zu schreiben. Die Idee der SPE war geboren – eine Gruppe Wissenschaftler um Peter Hommelhoff aus Frankreich, den Niederlanden, England und Deutschland begann die Arbeit, das Grundkonzept der Rechtsform zu entwickeln und der Öffentlichkeit vorzustellen: „Pour une société fermée européenne“ hieß der Titel der Veröffentlichung, mit der die öffentliche Diskussion angestoßen wurde.3 In einer roadshow durch verschiedene europäische Länder warb die Gruppe und interessierte Industrieverbände für das Projekt.4 Aber erst ein Initiativantrag des Europäischen Parlaments5 veranlasste im Jahre 2008 die Europäische Kommission, den Entwurf einer SPE-Verordnung vorzulegen und das Projekt endgültig auf die politische Agenda zu heben.6 Es folgten im Jahre 2009 ein Vorschlag des Europäischen Parlaments7 sowie auf der Ebene des Rates weitere überarbeitete Entwürfe durch die tschechische, schwedische8 und ungarische Präsidentschaft.9

__________ 3 In deutscher Übersetzung mit dem Text des ersten Verordnungsentwurfs (nachfolgend „VOEC“) in Boucourechliev/Hommelhoff (Hrsg.), Vorschläge für eine Europäische Privatgesellschaft, 1999; hierzu ausführlich Wicke, GmbHR 2006, 356 ff.; Dejmek, NZG 2001, 878 ff. 4 Vgl. Helms, GmbHR 1998, R 1; ders., GmbHR 1999, 963 ff.; ders., GmbHR 2000, 125 ff.; zum Fortgang der Diskussion Krause, EuZW 2003, 747, 750 ff.; Hommelhoff/Teichmann, DStR 2008, 925 ff. 5 Vgl. hierzu Kuck/Weiss, Der Konzern 2007, 498 ff. 6 Hierzu umfassend mit zahlreichen Anregungen für den Fortgang des Normierungsprozesses Hommelhoff/Teichmann, GmbHR 2008, 897 ff.; Arbeitskreis Europäisches Unternehmensrecht, NZG 2008, 897 ff.; Peters/Wüllrich, NZG 2008, 807 ff.; zur Eignung der SPE als Konzernbaustein Brems/Cannivé, Der Konzern 2008, 629 ff. 7 Vgl. Teichmann/Limmer, GmbHR 2009, 537 ff. 8 („VOSE“); Hierzu im Überblick Jung, BB 2010, 1233 ff.; mit Lösungsvorschlägen zur Überwindung der rechtspolitischen Hindernisse Hommelhoff/Teichmann, GmbHR 2010, 337 ff. 9 („VOEU“); vgl. Wedemann, EuZW 2010, 534 ff.

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II. Grundkonzeption der SPE 1. Bedarf nach einer weiteren supranationalen Rechtsform Warum gab es überhaupt einen Bedarf, neben der SE, EWIV und Europäischer Genossenschaft eine weitere supranationale Rechtsform zu schaffen? Der Grund lag eigentlich auf der Hand: die europäischen KMU, die nicht weniger grenzüberschreitend agil agieren als Großunternehmen, haben ein ganz anderes Anforderungsprofil, das keine der vorhandenen Rechtsformen abdecken konnte. Gerade sie aber benötigen eine Organisationsform, die größenbedingte Wettbewerbsnachteile ausgleicht, allgemeine Akzeptanz im Rechtsverkehr genießt, psychologische Handelshemmnisse überwindet und europaweit einheitliche Strukturen erlaubt. An diesem Bedarf hat sich in den letzten Jahren trotz größerer Flexibilität nach Centros und MoMiG nichts geändert10 – gerade die Osterweiterung der Europäischen Union hat ihn eher noch verstärkt. 2. Grundelemente a) Das Allzweckmöbel11 (nicht nur) für KMU Die CREDA Studie aus dem Jahre 1973 hatte bereits herausgearbeitet, dass die KMU Bedarf an einer supranationalen Rechtsform haben, die ihnen zugleich die Haftungsbeschränkung und eine weitreichende Gestaltungsfreiheit bietet, um sie gleichermaßen für die Unternehmensgründung, als Konzernbaustein bzw. für joint ventures verwenden zu können.12 Damit scheidet eine börsennotierte Gesellschaft denknotwendig aus; die aus Gründen des Anlegerschutzes erforderliche Satzungsstrenge ließe die gewünschte Flexibilität nicht zu.13 Anders als bei der SE sollte eine Unterscheidung stattfinden, ob eine Frage das Außenverhältnis (z. B. den Gläubigerschutz) betrifft und damit europäisch zu regeln ist oder sich auf das Innenverhältnis der Gesellschaft bezieht und damit im Zweifel der Satzungsautonomie der Gründer der Vorrang vor einer einheitlichen Regelung zu geben ist.14

__________ 10 Hommelhoff, DB 40/2011, Standpunkte, S. 65; mit anschaulichem Beispielfall Teichmann, RIW 2010, 120 ff.; mit Fallbeispielen ebenfalls Münch/Franz, BB 2010, 2707 ff.; zur Sicht des VDMA als Vertreter vieler grenzüberschreitend tätiger KMU vgl. Steinberger, BB-Spezial 7, 2006, 27 ff. 11 Vgl. zur GmbH schon Wiedemann, JZ 1970, 592, 596. 12 Zutreffend in Anlehnung an Wiedemann (Fn. 11) von Hommelhoff als Allzweckmöbel bezeichnet, DB 40/2011, Standpunkte, S. 65, 66. 13 Zutreffend aber der Hinweis von Hommelhoff, dass der SPE sehr wohl der Kapitalmarktzugang durch börsennotierte Schuldverschreibungen offensteht, ZHR 173 (2009), 255, 271. 14 Vgl. Teichmann, RIW 2010, 120, 123.

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b) Akzeptanzfragen Die Arbeiten an der SPE waren von Beginn an rechtsvergleichend geprägt.15 Ihre Akzeptanz würde ersichtlich davon abhängen, inwieweit das Spannungsbzw. Konkurrenzverhältnis zu den nationalen GmbH-Pendants aufzulösen sein würde: weder würden andere Mitgliedstaaten akzeptieren, dass nationale Regelungskonzepte durch eine (wesentlich) flexiblere supranationale Rechtsform unterlaufen werden könnten,16 noch würden sie es gutheißen, rigidere oder komplexere Vorschriften zum Gläubigerschutz umzusetzen, die von den nationalen Konzepten stark abweichen.17 Mit Blick auf das Subsidiaritätsprinzip wurde früh erwogen, ein Mehrstaatlichkeitskriterium zu fordern, um die SPE grenzüberschreitenden Entstehungsvorgängen vorzubehalten.18 Während der SPE Verordnungsentwurf der Kommission und nachfolgend noch der tschechische Kompromissvorschlag auf ein solches Kriterium verzichten wollten,19 hatte das EU Parlament20 ein solches verlangt und dies wurde im schwedischen Kompromissvorschlag entsprechend aufgegriffen (Art. 3 III VOSE). Wenngleich dies unzeitgemäß, formal und leicht zu umgehen erscheinen mag – in der jetzigen Ausgestaltung ist diese Hürde indes kein Problem für den exportorientierten Mittelstand, da die bloße Absicht grenzüberschreitender Tätigkeit bereits ausreichen soll.21 Dass die unternehmerische Mitbestimmung einer der entscheidenden Stolpersteine im politischen Einigungsprozess werden könnte, war von Anbeginn – lange vor der späteren Aufnahme weiterer Mitgliedstaaten – absehbar. Unterschiedliche Lösungen wurden erwogen, um diese Klippe weitgehend zu vermeiden: vor allem die Begrenzung der Arbeitnehmerzahl auf maximal 500 schien mit Blick auf das deutsche Mitbestimmungsrecht eine gangbare Möglichkeit, den Adressatenkreis hinreichend groß zu lassen (99 % der europäischen KMU beschäftigen weniger als 250 Mitarbeiter)22 und den Mitgliedstaaten eine mitbestimmungsfreie Rechtsform vorzulegen. Zuletzt scheinen erfolgversprechende Lösungsansätze indes wieder in die Ferne zu rücken. Selbst die Verhandlungslösung, für die man sich bei der SE und der grenzüberschreitenden Verschmelzung nach langem Ringen entschieden hatte, scheint

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15 Lesenswert die synoptische Aufstellung von Huet in Boucourechliev/Hommelhoff (Fn. 3), S. 247 ff. 16 In erster Linie die „Flucht aus der Mitbestimmung“; Hommelhoff/Helms, GmbHR 1999, 53, 57; Hopt, ZIP 1998, 96, 104. 17 Vgl. dazu den Tagungsbericht bei Helms, GmbHR 1999, 963. 18 Dazu schon Hommelhoff/Helms in Boucourechliev/Hommelhoff (Fn. 3), S. 143, 162 ff.; Hommelhoff/Helms, GmbHR 1999, 53, 57; ausführlich Hügel, ZHR 173 (2009), 309, 310 ff. m. w. N. 19 Vgl. Kommission der Europäischen Gemeinschaften, Vorschlag für eine Verordnung des Rates über das Statut der Europäischen Privatgesellschaft v. 25.6.2008 – KOM (2008) 396 („VOKE“) und Rat der Europäischen Union, 9065/09, DRS34, SOC 277. 20 Beschluss v. 10.3.2009, Verfahren 2008/0130 (CNS), P6_TA (2009) 0094 („SPEVOPE“). 21 Vgl. schon Hommelhoff, GesRZ 2008, 337 ff.; Hommelhoff/Teichmann, GmbHR 2010, 337, 338; Wicke, GmbHR 2006, 356, 359. 22 Vgl. Übersicht des Statistischen Bundesamts unter www.destatis.de.

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den europäischen Gewerkschaften nicht mehr auszureichen.23 Bedauerlicherweise scheiterte der jüngste Kompromissvorschlag im Juni 2011 am Widerstand der deutschen Regierung, obwohl gerade die deutschen Unternehmen am meisten von der neuen Rechtsform profitieren würden und die Verabschiedung am nachhaltigsten bei verschiedenen Konsultationen gefordert hatten.24 c) Regelungstechnik Eine für KMU einfach handhabbare Rechtsform für die binnenmarktweite Geschäftstätigkeit bedingt eine weitgehend einheitliche Regelung. Die Verabschiedung einer Richtlinie bzw. einer bloßen Empfehlungen schieden damit aus, da sie keine uniforme Umsetzung hätten gewährleisten können.25 aa) Normenhierarchie und Verweis auf nationales Recht Von Beginn der Diskussion an wurde darum gerungen, ob und wie sich Verweise auf das nationale Recht am Sitz der Gesellschaft vermeiden lassen. Die SPE sollte gerade kein „Dampfer mit vielen Anstrichen“ werden.26 In diesem Punkt ließ sich die ursprüngliche Konzeption, die Peter Hommelhoff maßgeblich beeinflusst hatte, nicht durchhalten. Die Furcht vor Regelungslücken27 ließ sich weder mit dem Versuch einer Vollregelung in der Verordnung (vgl. noch Art. 12 VOEC), dem Vorschlag, umfassende Regelungsaufträge in der Verordnung vorzusehen, noch mit der Idee, Mustersatzungen als dispositive Auffanglösungen nach Vorbild des englischen Table A Statuts zu entwickeln,28 ausräumen. Der Kommissionsentwurf hatte an dieser Konzeption zunächst noch festgehalten und den Rückgriff auf nationales Recht verwehren wollen (vgl. Art. 4 II VOKE). Im schwedischen Kompromissvorschlag wurde dies aber schließlich aufgegeben (vgl. Art. 4 II, III VOSE)29 und im ungarischen Kompromissvorschlag nochmals weiter aufgeweicht. An ihre Stelle ist nun eine Normenhierarchie getreten, die das Zusammenspiel zwischen Verordnungstext, Satzungsregelungen, Umsetzungsgesetzen und nationalem GmbH-Recht regelt.30 Auch wenn der noch im Kommissionsentwurf unterstützte ambitionierte Ansatz einer abschließenden Regelung in der SPE-VO damit aufgegeben wurde, ließe sich die Einheitlichkeit der Rechtsform für die Verwendung als Konzerntochter zumindest dann retten, wenn die VO am Konzept der Sitzaufspaltung festhielte: durch die Konzentration aller Registersitze am Sitz der

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Teichmann, BB 2011, Heft 33, Die Erste Seite. Hommelhoff/Teichmann, FAZ v. 29.6.2011, S. 23. Boucourechliev in Boucourechliev/Hommelhoff (Fn. 3), S. 226. Hommelhoff/Helms, GmbHR 1999, 53, 55 m. w. N. Grundlegend bereits die von Hommelhoff betreute Dissertation von Völter, Der Lückenschluss im Statut der Europäischen Privatgesellschaft, 2000; ferner Fischer, ZEuP 2004, 737, 753 ff. 28 Hommelhoff/Helms, GmbHR 1999, 53, 57; Helms in Hommelhoff/Helms (Hrsg.), Neue Wege in die Europäische Privatgesellschaft, 2001, S. 259 ff. 29 Hierzu Teichmann, RIW 2010, 120, 124. 30 Wicke, GmbHR 2011, 566, 567.

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Konzernspitze ließe sich eine sehr schlanke, einheitliche Struktur realisieren, die gerade den Bedürfnissen der multinational tätigen KMU perfekt entspricht.31 Wesentlich ist daneben für den Erfolg der Rechtsform, dass am Prinzip der weitreichenden Gestaltungsfreiheit festgehalten wurde. Allerdings schreibt der schwedische Kompromissvorschlag vor, dass die SPE ihren statutarischen Sitz und ihre Hauptverwaltung für eine Periode von zwei Jahren im gleichen Mitgliedstaat haben muss und erst danach einzelstaatliches Recht gilt. Diese Frist dehnt der ungarische Kompromissvorschlag auf drei Jahre aus. bb) Regelungsaufträge Dass die SPE-VO auch in ihrer jetzigen Fassung immer noch ein großer Gewinn für diese Unternehmen wäre, liegt an dem Instrument des Regelungsauftrags, dessen Bedeutung Peter Hommelhoff bei Analyse der französischen société par actions simplifiée als einer der ersten erkannt hat: Sie geben den Gründern einer SPE eine Anleitung an die Hand, welche Themenbereiche sie im Gesellschaftsvertrag regeln sollten.32 Im ursprünglichen Entwurf hatte man diese Technik gewählt, um eine umfassende Regelung dispositiven Rechts zu vermeiden und um das Statut selbst schlank zu halten. Der von vielen geforderte Versuch einer Harmonisierung des dispositiven Rechts hätte das SPE Projekt zweifellos auf unbestimmte Zeit verzögert, wenn nicht von vornherein zum Scheitern verurteilt.33 Das Konzept wurde seither sinnvoll verfeinert. Der schwedische Kompromissvorschlag trifft nunmehr eine Unterscheidung zwischen obligatorischen (vgl. Art. 8 VOSE) und dispositiven Regelungsaufträgen (Anhang I VOSE): während der Gesellschaftsvertrag zu den obligatorischen Regelungsaufträgen zwingend eine Regelung vorsehen muss, liegt es bei den dispositiven Regelungsaufträgen im Ermessen der Gesellschafter, ob sie eine entsprechende Klausel aufnehmen wollen. Trotz der Verweisung auf nationales Gesellschaftsrecht am Ende der Normenhierarchie erreicht diese Regelungstechnik damit immer noch weitgehend das ursprüngliche Ziel einer wirklich supranationalen Regelung: soweit die europäisch gewährte Gestaltungsfreiheit reicht, kann ein nationales Gericht bestimmten Klauseln nicht mit dem Verweis auf anders lautendes nationales GmbH-Recht die Wirksamkeit absprechen. cc) Mustersatzungen Um den Gründern einer SPE eine gewisse Hilfestellung anzubieten und Regelungslücken zu vermeiden, sollten die Regelungsaufträge ursprünglich durch

__________ 31 Hierzu ausführlich Hommelhoff/Teichmann, GmbHR 2010, 337, 345 ff.; Hommelhoff, AuR 2011, 202, 204; a. A. Wicke, GmbHR 2011, 566, 571. 32 Monographisch dazu die von Peter Hommelhoff angeregte Arbeit von Beier, Der Regelungsauftrag als Gesetzgebungsinstrument im Gesellschaftsrecht, 2002; zuvor schon Hommelhoff/Helms, GmbHR 1999, 53, 55; Hommelhoff/Teichmann, GmbHR 2008, 897, 898; Teichmann, RIW 2010, 120, 123. 33 Teichmann, RIW 2010, 120, 124 m. w. N.

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„offizielle“ Mustersatzungen flankiert werden. Strittig war, ob diese entsprechend den Table A des englischen Companies Act bei Regelungslücken als dispositives Recht automatisch zur Anwendung gelangen sollten oder nur dann Geltung finden, wenn die Gründer dies ausdrücklich so geregelt haben. Die anfängliche Euphorie34 ist nach ersten Versuchen, entsprechende Mustersatzungen zu verfassen,35 inzwischen verflogen. Der schwedische Kompromissvorschlag erwähnt sie daher in seinem Erwägungsgrund Nr. 8a nur noch optional als mitgliedstaatliches Staatenwahlrecht, ohne ihnen eine „offizielle“ Funktion zuzuweisen. Es wurde deutlich, dass die Vielzahl der praktischen Einsatzzwecke eine einigermaßen harmonisierte Mustersatzung dem Versuch der Quadratur eines Kreises nahekommen lassen würde.36 Jedenfalls wird die rechtsberatende Praxis analog zu den nationalen GmbH-Rechtsformen zeitnah Mustertexte veröffentlichen, die eine gewisse Vollständigkeitskontrolle erlauben werden; auf eine darauf aufbauende individuelle Beratung zum konkreten Einzelfall wird indes kein SPE Gründer gänzlich verzichten können. d) Gründung und Eintragung Eine SPE sollte einfach, kostengünstig und vor allem schnell gegründet und eingetragen werden können – nicht zuletzt um komplexe Regelungen zur Vorgründungshaftung zu vermeiden. Der ambitionierte Kommissionsentwurf, der noch einheitlich ein einstufiges Kontrollverfahren vorgesehen hatte, wurde im schwedischen Kompromissvorschlag aufgeweicht: die Rechtmäßigkeitskontrolle erfolgt nunmehr nach dem einzelstaatlichen Recht, so dass in Deutschland beispielsweise am Prinzip der Doppelkontrolle durch beurkundendem Notar und Registergericht festgehalten wird.37 Die Praxis kann damit leben. Zu begrüßen ist, dass der schwedische Kompromissvorschlag ein eigenes Umwandlungsrecht zur Gründung durch Formwechsel aufgenommen hat. Der wichtigsten Zielgruppe der SPE wird damit die erforderliche Rechtssicherheit gegeben, um ein kompliziertes Nebeneinander von nationalem Umwandlungsrecht und SPE-Verordnung zu vermeiden.38 e) Organisationsverfassung Dem Prinzip der Gestaltungsfreiheit für Fragen des Innenverhältnisses folgend verzichtet der Verordnungstext weitgehend auf Regelungen zur Organisationsverfassung und sieht stattdessen Regelungsaufträge vor.39 Möglich ist damit, dass sich die Gründer entweder für ein Leitungsorgan aus Vorstand und Auf-

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34 Hommelhoff/Helms, GmbHR 1999, 53, 57. 35 Vgl. z. B. den Vorschlag der Europäischen Kommission v. Juni 2008 zitiert bei Teichmann, RIW 2010, 120 ff., Fn. 27. 36 Zu Recht skeptisch bereits Wicke, GmbHR 2006, 356, 360; ders., GmbHR 2011, 566, 570; zuvor schon Anzinger, BB 2009, 2606, 2608. 37 Hierzu Hommelhoff/Teichmann, GmbHR 2010, 337, 338. 38 Positiv ebenso Hommelhoff/Teichmann mit Verbesserungsvorschlägen zum Umwandlungsbericht, GmbHR 2010, 337, 338. 39 Ausführlich Bücker, ZHR 173 (2009), 281 ff.

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sichtsrat (dualistisches System) oder für ein einheitliches Verwaltungsgremium (monistisches System) entscheiden.40 Der personalistische Charakter der SPE hätte nahegelegt, das Leitungsorgan den Weisungen der Gesellschafter zu unterwerfen. Der Verordnungstext ist diesbezüglich unklar geblieben, inwieweit sich ein solches zumindest in der Satzung verankern lässt. f) Gläubigerschutz Als haftungsbeschränkte Gesellschaft stand die Frage des passenden Gläubigerschutzkonzepts ebenfalls im Mittelpunkt der Diskussion.41 Eine Vereinheitlichung der unterschiedlichen Gläubigerkonzepte der europäischen GmbHRechtsformen erschien keine Option: während das deutsche GmbHR sehr ausgeklügelte Konzepte zur Vorgründungshaftung, zur Kapitalaufbringung und zur Kapitalerhaltung entwickelt hatte, kannten andere europäische Rechtsordnungen keine vergleichbaren Regelungen. Das im Kommissionsentwurf zur Erleichterung der SPE Gründung noch sehr liberal ausgestaltete Gründungsrecht wurde im schwedischen Entwurf nochmals grundsätzlich modifiziert.42 Dieser kehrt zum kontinentalen System des präventiven Gläubigerschutzes zurück und meidet damit den Ansatz, den Gläubigerschutz primär repressiv durch Instrumente des nationalen Insolvenzrechts zu verwirklichen. Von ersten Überlegungen, im Interesse der Rechtseinheitlichkeit auch diese repressiven Instrumente behutsam zu harmonisieren, hat der Verordnungstext Abstand genommen.43 aa) Mindestkapital Der ursprüngliche Entwurf sah vor, dass die EPG zum Schutze ihrer Reputation ein Mindestkapital vergleichbar der deutschen GmbH und einfache Kapitalaufbringungsregelungen aufweisen sollte (vgl. Art. 3 und 4 VOEC). Der aktuelle Regelungsvorschlag entfernt sich inzwischen aber deutlich davon, was nicht zuletzt der schwindenden Bedeutung des Mindeststammkapitals in den europäischen Mitgliedstaaten geschuldet ist.44 Mehrere Staaten hatten es nie vorgesehen, andere haben es zwischenzeitlich abgeschafft.45 Bereits der Kommissionsentwurf sah nur 1 EUR Mindestkapital vor (Art. 19 IV VOKE), da Gläubiger heute eher Cashflow-orientierte Betrachtungen anstellten bzw. sich anderweitig absichern könnten.46 Der Parlamentsentwurf unterschied danach,

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40 Anzinger, BB 2009, 2606, 2610. 41 Zum Konzept des Gläubigerschutzes im Kommissionsentwurf vgl. Mock, Der Konzern 2008, 539 ff.; zur anschließenden wissenschaftlichen Diskussion und zum Parlamentsentwurf vgl. Greulich, Der Konzern 2009, 229 ff. 42 Hierzu Hommelhoff/Teichmann, GmbHR 2010, 337, 338 ff. 43 In diese Richtung bereits Helms, Die Europäische Privatgesellschaft, 1998, S. 319 ff. 44 Ausführlich hierzu Greulich/Rau, DB 2008, 2691 ff. 45 Überblick bei Freudenberg, NZG 2010, 527. 46 Vgl. Begründung VOKE S. 8; zu Recht zweifelnd Freudenberg, NZG 2010, 527, 529; zuvor bereits Anzinger, BB 2009, 2606, 2610; Hommelhoff, ZHR 173 (2009), 255, 263.

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ob die Satzung einen Solvenztest vorsieht: ohne einen solchen sollte das Mindestkapital auf 8.000 Euro angehoben werden.47 Seit dem schwedischen Kompromissvorschlag wird nun ein Staatenwahlrecht vorgesehen, den symbolischen Betrag von einem Euro auf 8.000 Euro anzuheben (vgl. Art. 19 III VOSE).48 Eine Einigung auf einen einheitlichen Standard schien zum damaligen Zeitpunkt bereits nicht mehr möglich: während Ländern wie Frankreich der Betrag zu hoch erschien, hielten ihn andere wie Österreich für zu niedrig. Fraglich ist, ob dies als Seriositätsschwelle, wie sie von Anbeginn gefordert wurde, noch ausreicht, um die Reputation der Marke „SPE“ im Binnenmarkt zu schützen und missbräuchliche Verwendungen der Rechtsform zu erschweren.49 bb) Kapitalaufbringung Auch vom Konzept eines möglichst einfachen Kapitalaufbringungsrechts hat sich der Verordnungsentwurf zwischenzeitlich entfernt. Während ursprünglich noch die Erbringung aller Einlagen zum Zeitpunkt der Eintragung verlangt wurde (Art. 3 VOEC), ließ der schwedische Kompromissvorschlag erstmals eine Teilaufbringung von 25 % zu, sofern das Kapital das mitgliedstaatlich festgelegte Mindestkapital übersteigt (Art. 20 I 2 VOSE). Eine Sachkapitalprüfung (so noch in Art. 4 VOEC gefordert)50 wurde bereits im Kommissionsentwurf nicht mehr verlangt (Art. 10 II g VOKE).51 Der schwedische Kompromissvorschlag führte dann ein Staatenwahlrecht ein (Art. 20 Ia 2 VOSE).52 Zumindest an dem Prinzip, dass Dienstleistungen nicht als Sacheinlage eingebracht werden können,53 wurde im schwedischen Kompromissvorschlag festgehalten (Art. 20 II VOSE). In den Staaten, die nicht von der Möglichkeit einer erhöhten Mindestkapitalanforderung Gebrauch machen werden, bleibt der Gläubigerschutz hinter dem der deutschen UG (haftungsbeschränkt) zurück, der zumindest eine Verpflichtung zur Bildung von Rücklagen in Höhe eines Viertels des Jahresüberschusses zur Kompensation des Verzichts auf ein höheres Mindestkapital vorsieht. cc) Kapitalerhaltung Die Kapitalerhaltung setzt zunächst an einem Bilanztest an: Ausschüttungsfähig sind nur Gelder, die nicht zur Erhaltung des Stammkapitals erforderlich sind und dürfen den Vorjahresgewinn nicht übersteigen.54 Die Mitgliedsstaaten können seit dem Kommissionsentwurf (vgl. Art. 21 II VOKE) zusätzlich

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47 Zum Instrument des Solvenztests in der EPG kritisch Greulich/Rau, DB 2008, 2691 ff. 48 Dazu Freudenberg, NZG 2010, 528; Hommelhoff/Teichmann, GmbHR 2010, 337, 339. 49 Hierzu Wicke, GmbHR 2011, 566, 572 sowie Freudenberg, NZG 2010, 527, 528; Cannivé/Seebach, GmbHR 2009, 519 ff. 50 Hierzu Hommelhoff/Teichmann, DStR 2008, 925, 931. 51 Vgl. Hommelhoff/Teichmann, GmbHR 2008, 905. 52 Vgl. Hommelhoff/Teichmann, GmbHR 2010, 339. 53 Vgl. Art. 3 Abs. 2 VOEC. 54 So schon Hommelhoff/Helms in Boucourechliev/Hommelhoff (Fn. 3), S. 143, 164.

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einen Solvenztest vorsehen, nach dem die Geschäftsführer der SPE zu bestätigen haben, dass die Gesellschaft im Rahmen der gewöhnlichen Geschäftstätigkeit voraussichtlich in der Lage sein wird, ihre Schulden zu bedienen.55 Bei diesbezüglichen Fehlern treten die Geschäftsführer in die Mithaftung neben den (bösgläubigen) Gesellschaftern: eine falsche Solvenzbescheinigung führt aufgrund der Verweisung in das nationale GmbH Recht im Sitzstaat bei einer „deutschen“ SPE zur Haftung nach § 43 II GmbHG.56 Zu Recht wurde darauf hingewiesen, dass das Konzept des Solvenztests spätestens dann von Bedeutung wird, wenn die IAS/IFRS Regelungen auf den Einzelabschluss ausgedehnt werden und damit dem Konzept der bilanzbasierten Kapitalerhaltung die Grundlage entziehen.57 Insoweit wäre eine obligatorische Regelung des Solvenztests zweifellos sinnvoller als ein Staatenwahlrecht.58 Satzungsregelungen sollen erlauben, dass Zwischendividenden ausgeschüttet werden (Art. 21 III VOSE).59 Unrechtmäßig erfolgende Ausschüttungen führen zu einem Erstattungsanspruch der Gesellschaft gegen die Gesellschafter – anders als ursprünglich einmal vorgesehen60 aber nur dann, wenn die Gesellschaft den Nachweis führen kann, dass dem Gesellschafter bekannt war oder angesichts der Umstände bekannt sein hätte müssen, dass die Ausschüttung zu Unrecht erfolgt war bzw. die Solvenzbescheinigung nicht hätte abgegeben werden dürfen (Art. 22 VOSE). dd) Geschäftsleiterhaftung Die aus Gründen der Rechtssicherheit zunächst einheitlich geregelte Geschäftsleiterhaftung bei Pflichtverletzungen (vgl. Art. 17 VOEC) wich im Kommissionsentwurf einer Handelndenhaftung (Art. 31 IV VOKE), die im Parlamentsvorschlag nochmals leicht modifiziert wurde (Art. 31 IV VOPE).61 Seit dem schwedischen Kompromissvorschlag verzichtet die Verordnung auf eine eigenständige, die nationalen Rechtsordnungen verdrängende Regelung und verweist stattdessen auf nationales Recht (Art. 4 II VOSE) – eine einheitliche Regelung schien angesichts der Unterschiede in den Mitgliedstaaten nicht mehr möglich. ee) Vorgründungshaftung Die ursprüngliche Konzeption sah zunächst keine automatische Übernahme der Verpflichtungen der Vorgründungsgesellschaft vor – sie kann aber nach

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Hierzu bereits schon Hommelhoff/Teichmann, DStR 2008, 925, 932. Freudenberg, NZG 2010, 527, 529. Zweifelnd bereits Anzinger, BB 2009, 2606, 2609. Hommelhoff/Teichmann, GmbHR 2010, 337, 340; Freudenberg, NZG 2010, 527, 529; Wicke, GmbHR 2011, 566, 573. 59 Hommelhoff/Teichmann, GmbHR 2010, 337, 340. 60 Vgl. Hommelhoff/Helms in Boucourechliev/Hommelhoff (Fn. 3), S. 143, 164; Art. 22 VOKE. 61 Zur Geschäftsleiterhaftung nach dem Kommissionsentwurf vgl. de Erice/Gaude, DStR 2009, 857 ff.

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Die Societas Privata Europaea (SPE)

Eintragung an die Stelle des ursprünglich Handelnden treten (ggf. nach Zustimmung des betreffenden Vertragspartners, vgl. Art. 10 I VOEC). Andernfalls gilt eine gesamtschuldnerische Haftung der Handelnden bis 5 Jahre nach dem Zeitpunkt der Eintragung (Art. 10 II VOEC). Der schwedische Kompromissvorschlag gab die einheitliche Regelung der Vorgründungshaftung schließlich auf und verweist stattdessen wiederum auf nationales Recht (Art. 12 VOSE). Damit stellt sich die Frage, ob vom Bestehen einer Vor-SPE in der Gründungsphase auszugehen ist – was das ursprüngliche Konzept vermeiden wollte.62 Nachdem sich das Ziel einer sehr raschen Eintragung der SPE nicht verlässlich erreichen ließ63 (in Deutschland auf Grund der Doppelkontrolle durch beurkundenden Notar und Registergericht), wird sich kaum vermeiden lassen, dass die Gründer vor Eintragung der Gesellschaft bereits unternehmerisch tätig werden und Rufe nach einer Vor-SPE laut werden.

III. Mitbestimmung Dass die Regelung der Arbeitnehmer-Mitbestimmung die Verabschiedung der Verordnung behindern könnte, war nach den jahrelang erfolglosen Bemühungen im Rahmen der SE Diskussion zu erwarten.64 Die auf Art. 352 AEUV gestützte Verordnung bedarf schließlich der Einstimmigkeit.65 Andererseits hoffte man, dass mit Blick auf die Zielgruppe der SPE – die grenzüberschreitend tätigen KMU mit fast immer weniger als 500 Arbeitnehmern – eine pragmatische Lösung denkbar und realistisch sein könnte. Eine einheitliche Regelung schien nicht möglich, daher verwies der erste Entwurf auf das Recht am Sitzstaat der SPE (Art. 33 VOEC).66 An diesem Konzept hielt der Kommissionsentwurf fest. Der Parlamentsvorschlag ergänzte dies durch eine etwas komplexere Regelung, die zusätzlich auf die Zahl der Arbeitnehmer in Mitgliedstaaten mit einem höheren Mitbestimmungsniveau abstellt (Art. 34 VOPE), um Umgehungsversuche zu unterbinden. Der Schwellenwert von 500 Arbeitnehmern war jedoch wiederum einigen Mitgliedstaaten (Ungarn, Niederlande, Österreich) zu hoch, anderen zu niedrig. Der schwedische Kompromissvorschlag reagierte darauf und führte eine Auffangregelung mit Verweis auf das höchste Mitbestimmungsniveau ein und gestaltete sie als Staatenwahlrecht aus.67 Nochmals eine neue Variante sah der ungarische Kompromissvorschlag insbesondere mit Blick auf den Widerstand aus Deutschland vor: wenn mindestens 500 Arbeitnehmer in einem Mitgliedstaat mit höherem Mitbestimmungsniveau arbeiten, soll eine Verhandlungslösung greifen. Eine Flucht aus der

__________ 62 Bejahend Freudenberg, NZG 2010, 527, 530. 63 Vgl. noch Helms (Fn. 43), S. 294. 64 Hommelhoff/Helms, GmbHR 1999, 53, 58; zum Kommissionsentwurf mit neuem Regelungsvorschlag zur Mitbestimmung vgl. Hommelhoff/Krause/Teichmann, GmbHR 2008, 1193 ff.; zuletzt ausführlich Hommelhoff, ZEuP 2011, 7 ff. 65 Zu den Umsetzungsfragen im Einzelnen vgl. Wicke, GmbHR 2011, 566, 574; Fleischer, ZHR 174 (2010), 385, 398 ff. 66 Boucourechliev in Boucourechliev/Hommelhoff (Fn. 3), S. 223, 239. 67 Dazu Hommelhoff, ZEuP 2011, 7, 19 ff.

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Dietmar Helms

Mitbestimmung durch Sitzverlegung68 soll dadurch verhindert werden, dass die Mitbestimmung beizubehalten ist, wenn mindestens ein Drittel der Arbeitnehmer, jedoch nicht weniger als 500, im Herkunftsstaat beschäftigt sind. Die Unterschiede zwischen den Regelungen zur Arbeitnehmermitbestimmung sind durch die Aufnahme zahlreicher neuer Mitgliedstaaten seit dem Davignon-Bericht zur SE noch größer geworden – eine europaweite Harmonisierung erscheint vor diesem Hintergrund ausgeschlossen. Aus deutscher Sicht sehr unbefriedigend wäre es, wenn sich bei anhaltender Blockade andere Mitgliedstaaten zusammenschließen und im Wege der verstärkten Zusammenarbeit die SPE nach Art. 326 AEUV zunächst ohne Deutschland einführen würden, da insbesondere der deutsche Mittelstand am meisten von der neuen supranationalen Rechtsform profitieren würde. Ob das Festhalten an Arbeitnehmerschwellenwerten noch eine Lösung verspricht, ist mittlerweile zumindest zweifelhaft: nur aus deutscher Sicht mag die Zahl von 500 Arbeitnehmern ein gangbarer Weg sein; andere Mitgliedstaaten wie etwa Schweden knüpfen an niedrigere Schwellenwerte an.69 Eine zwangsweise Umwandlung einer SPE in eine SE nach Überschreiten des Schwellenwertes wäre ein unbefriedigendes Ergebnis. Bleibt damit nur die Verhandlungslösung, die von einer gesetzlichen Auffangregelung im Falle des Scheiterns der Verhandlungen flankiert würde als realisierbare Option am Ende übrig?70 Zu Recht wurde darauf hingewiesen, dass damit der wesentliche Charme des schwedischen Kompromissvorschlags aufgegeben würde, der kleine und mittlere Unternehmen davor bewahren sollte, komplizierte und zeitaufwendige Verhandlungen führen zu müssen, die sie überfordern könnten.71

IV. Minderheitenschutz In einer als Vollstatut konzipierten SPE Verordnung sollte auch der gerade bei Familiengesellschaften relevante Bereich des Minderheitenschutzes abschließend geregelt werden.72 So sah der ursprüngliche Verordnungsentwurf noch verschiedene Rahmenregeln, etwa Klagerechte, Austrittsrechte, Informationsansprüche und Sonderprüfungsrechte vor (vgl. Art. 18–31 VOEC). Trotz der grundsätzlich favorisierten weitreichenden Gestaltungsfreiheit schien ein gewisses Grundgerüst des Minderheitenschutzes erforderlich.73 Der Kommissionsentwurf griff diesen Gedanken in Art. 17, 18 und 28 VOKE entsprechend auf. Der schwedische Kompromissvorschlag verweist hierzu nun auf entspre-

__________ 68 Hommelhoff, ZEuP 2011, 7, 23; zu Vermeidungsstrategien Bormann/Böttcher, NZG 2011, 411 ff. 69 Hommelhoff, ZEuP 2011, 7, 24. 70 Zu den Handlungsoptionen vgl. Henssler, DB 2011, 71, 72; skeptisch Teichmann, BB 2011, Heft 33, Die Erste Seite; ausführlich Hommelhoff, ZEuP 2011, 7, 38 ff. 71 Zutreffend Hommelhoff, AuR 2011, 202, 203; zuvor schon in diese Richtung Hommelhoff/Krause/Teichmann, GmbHR 2008, 1193, 1198. 72 Zur diesbezüglichen Verantwortung des Gesetzgebers bereits Hommelhoff/Helms, GmbHR 1999, 53, 55. 73 Hommelhoff/Teichmann, DStR 2008, 930.

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Die Societas Privata Europaea (SPE)

chende Satzungsregelungen, damit die Gesellschafter diesen Bereich noch besser nach ihren jeweiligen Bedürfnissen ausgestalten können.74 Auf Regelungen zum Austritt bzw. Ausschluss von Gesellschaftern wurde verzichtet.75 Im Übrigen gilt auch hier wiederum der Verweis auf nationales Recht (Art. 4 III VOEU)

V. Ausblick Derzeit ist nicht absehbar, wie die Stolpersteine in der Diskussion aus dem Weg geräumt werden können. Vereinzelt wird bereits der Vorschlag gemacht, die SPE auf dem Wege der Verstärkten Zusammenarbeit nach Art. 326 ff. AEUV nur zwischen den einigungsbereiten Mitgliedstaaten umzusetzen.76 Für Deutschland, das einerseits als exportstarkes Land mit sehr vielen grenzüberschreitend tätigen KMU besonders von der Einführung der SPE profitieren würde, andererseits in der streitigen Mitbestimmungsfrage den Einigungsprozess entscheidend aufhält, würde dadurch ein möglicherweise heilsamer Druck aufgebaut. Sicher ist aber, dass der Jubilar den Prozess – bereits jetzt schon dokumentiert durch zahlreiche wissenschaftliche Beiträge, die die ins Stocken geratene Diskussion mit neuen Lösungsvorschlägen immer wieder in Gang gesetzt und neue Mitstreiter gefunden haben – bis zur endgültigen Verabschiedung aktiv mitgestalten und begleiten wird77 und die SPE in allen wesentlichen Fragen am Ende der Grundkonzeption entsprechen wird, die Peter Hommelhoff vor beinahe 20 Jahren entscheidend mitentwickelt hat.78

__________ 74 75 76 77

Vgl. Erwägungsgrund 13, S. 7. Dazu Hommelhoff/Teichmann, GmbHR 2010, 337, 344. Henssler, DB 40/2011, Standpunkte, S. 71, 72. Den politischen Willen, an Problemlösungen rechtskonstruktiv mitzuwirken zuletzt wieder anmahnend Hommelhoff, DB 2011, 65, 66; vorsichtig optimistisch Neye, DB 2011, 68. 78 Hommelhoff/Helms, GmbHR 1999, 53 ff.; Hommelhoff/Helms in Boucourechliev/ Hommelhoff (Fn. 3), S. 143; Hommelhoff/Helms (Fn. 28), S. 3 ff.

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Joachim Hennrichs

Corporate Governance und Abschlussprüfung Zuständigkeiten, Interaktionen und Sorgfaltsanforderungen

Inhaltsübersicht I. Hintergrund und Fragestellung II. Die grundsätzliche Zwecksetzung der innergesellschaftlichen Prüfung der Abschlüsse durch den Aufsichtsrat III. Zusammenarbeit von Abschlussprüfer und Aufsichtsrat 1. Der Abschlussprüfer und die Organisationsverfassung der AG 2. Auswahl des Abschlussprüfers, Auswahlermessen und Ermessensleitlinien 3. Eigenverantwortlichkeit des Aufsichtsrats bei dem Vorschlag zur Wahl des Abschlussprüfers 4. Sanktionen bei Verletzung des § 124 Abs. 3 AktG

5. Prüfungsauftrag und Prüfungsschwerpunkte 6. Finanzierung: eigenes Budget des Aufsichtsrats IV. Sorgfaltspflicht und Verantwortlichkeit des Aufsichtsratsmitglieds 1. BGH v. 20.9.2011 – II ZR 234/09 a) Die wesentlichen Gründe b) Kritische Anmerkungen 2. Insbesondere: (Mit-)Verantwortlichkeit des Aufsichtsrats für die Rechnungslegung a) Persönliche Anforderungen b) Sorgfaltspflichten des Aufsichtsrats bei der Prüfung

I. Hintergrund und Fragestellung Fachtagungen sind Orte des wissenschaftlichen Diskurses, der Pflege beruflicher Kontakte, Plattform zur Darstellung und Diskussion neuer Thesen – und mitunter auch Quelle unerwarteter Ärgernisse. Auf einer Fachtagung der Schmalenbach-Gesellschaft für Betriebswirtschaft e.V. zum Thema Corporate Governance und Abschlussprüfung 2011 in Köln berichtete ein Finanzvorstand eines großen deutschen Konzerns über Erwartungen seines Konzerns an die Abschlussprüfer und das Verfahren einer Ausschreibung der Abschlussprüfung. Die sehr lebendig und überzeugt vorgetragene Präsentation löste aber noch im Saal eine gewisse Unruhe unter den Beteiligten aus und handelte der Gesellschaft am Ende sogar einen Gegenantrag auf der nächsten Hauptversammlung ein. Was war geschehen? Der Finanzvorstand hatte über das Anforderungsprofil und den Prozess der Auswahl des Abschlussprüfers in seinem Haus berichtet. Dabei waren die Anforderungen hoch, u. a. war von höchstem fachlichen Niveau (was selbstverständlich sein sollte) und durchgängiger Erreichbarkeit des Abschlussprüfers für den Vorstand die Rede (was bereits zweifelhaft ist). Vor allem aber machte der Referent deutlich, dass der Finanzvorstand bei der 383

Joachim Hennrichs

Auswahl des Abschlussprüfers eine wesentliche Rolle gespielt habe. So konnte der Zuhörer den (vielleicht falschen1) Eindruck gewinnen, die Auswahl des Abschlussprüfers sei zwar vom Finanzvorstand „im Auftrag des Aufsichtsrats“, letztlich aber nach den Kriterien des Vorstands erfolgt. So hatte offenbar ein beim Vorstand angesiedeltes Team die Ausschreibungskriterien konzipiert und die Auswahl durchgeführt. Dabei fanden nach der Darstellung des Referenten Auswahlgespräche statt, die der Vorstand persönlich mit den jeweiligen Kandidaten geführt und in deren Verlauf der Vorstand den Bewerbern ein Feedback über die Bewerbung nebst „Noten“ gegeben habe. Schließlich habe sich der Vorstand „eine ständige Erreichbarkeit“ des Abschlussprüfers „das ganze Jahr über sieben Tage die Woche/24 Stunden am Tag“, die Einsichtnahme in die elektronisch geführten Arbeitspapiere/EDV-Prüfungssoftware für sämtliche Konzernprüfungen während des Ablaufs der Prüfung sowie zudem Zwischenberichte über den Ablauf und die Zwischenergebnisse der Prüfung zusichern lassen. Schließlich sei ein wesentliches Auswahlkriterium für das Vorstandsteam gewesen, dass die Prüfungsmuttergesellschaft ein weltweites Weisungs- und Disziplinarrecht an die Prüfer ihrer Prüfungstochtergesellschaften habe, damit auf Wunsch des Vorstands (der zu prüfenden Gesellschaft) Maßnahmen bei nach seiner Auffassung schlechter Prüfungsqualität durchgesetzt werden könnten. Auch das habe die schließlich ausgewählte Prüfungsgesellschaft dem Vorstand im Zuge der Auswahlgespräche zugesichert. Vor diesem Hintergrund kritisiert der Gegenantrag in der Hauptversammlung, das vom Finanzvorstand durchgeführte Auswahlverfahren sei mit der vom Gesetzgeber vorgesehenen Stellung des Abschlussprüfers als unabhängige Instanz zur Überprüfung der Rechnungslegung des Unternehmens nicht vereinbar und daher vom Prüfungsausschuss des Aufsichtsrats neu durchzuführen. In seiner Stellungnahme zu diesem Gegenantrag hielt der Aufsichtsrat entgegen, der Vorschlag des Aufsichtsrats zur Wahl des Jahres- und Konzernabschlussprüfers sei ohne eine unzulässige Einflussnahme des Vorstands zustande gekommen. Bei der Auswahl der teilnehmenden Prüfungsgesellschaften sei ein vom Prüfungsausschuss beschlossenes Bewertungsmodell (Punktemodell) zum Einsatz gekommen. Der Prüfungsausschuss habe seine Auswahlentscheidung eigenverantwortlich getroffen und schließlich dem Aufsichtsrat diejenige Wirtschaftsprüfungsgesellschaft empfohlen, die auf Grundlage des eingesetzten Bewertungsmodells am besten abgeschnitten (die höchste Punktzahl erreicht) habe. Soweit der Vorstand bei einzelnen Elementen des Auswahlverfahrens einbezogen war, sei durch die entsprechende Gestaltung des Verfahrens sichergestellt gewesen, dass diese Personen keinen unzulässigen Einfluss auf die vom Bewertungsmodell generierten Ergebnisse oder sonst auf die Auswahlentscheidung von Prüfungsausschuss und Aufsichtsrat nehmen konnten.

__________ 1 Die Präsentation zu dem fraglichen Vortrag ist nicht mehr öffentlich zugänglich. Die „Faktenlage“ ist daher nur eine solche „vom Hörensagen“. Da zudem einerseits der Zeugenbeweis bekanntermaßen der unzuverlässigste Beweis überhaupt ist und außerdem andererseits die Übertreibung bei der Rede durchaus ein rhetorisches Mittel ist, enthält der Beitrag keinerlei Stellungnahme zu dem konkreten Fall. Es geht allein um das abstrakte Sachproblem.

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Corporate Governance und Abschlussprüfung

Erwartungsgemäß erhielt der Gegenantrag in der Hauptversammlung keine Mehrheit; der vorgeschlagene Abschlussprüfer wurde bestellt. Auch eine Anfechtung des Beschlusses erfolgte meines Wissens nicht. Der Fall wirft die Frage auf, welche Grundsätze guter Unternehmensführung bezogen auf die Auswahl des Abschlussprüfers im Speziellen und auf die Interaktionen zwischen Aufsichtsrat und Abschlussprüfer im Allgemeinen gelten (dazu unten III.). Eine aktuelle Entscheidung des BGH zur Haftung von Vorständen und Aufsichtsräten2 gibt außerdem Anlass, die Sorgfaltsanforderungen an Aufsichtsräte zu erörtern (unten IV.). Vorab seien aber kurz allgemeine Überlegungen zur grundsätzlichen Zwecksetzung der innergesellschaftlichen Prüfung der Abschlüsse durch den Aufsichtsrat (unten II.) vorangestellt. Da der Jubilar sich zu all diesen Themenkomplexen mehrfach selbst geäußert hat,3 finden die nachstehenden Ausführungen hoffentlich sein geschätztes Interesse.

II. Die grundsätzliche Zwecksetzung der innergesellschaftlichen Prüfung der Abschlüsse durch den Aufsichtsrat Die Prüfung des Jahres- und Konzernabschlusses nach Maßgabe der §§ 170, 171 AktG ist eine zentrale Aufgabe des Aufsichtsrats, und zwar des Aufsichtsratsplenums. Die unmittelbare Bedeutung der Prüfung der Abschlussunterlagen durch den Aufsichtsrat liegt darin, dass sie dem Aufsichtsrat eine Mitverantwortung hinsichtlich der geprüften Unterlagen und damit der Rechnungslegung der Gesellschaft überträgt.4 Sie beinhaltet nämlich neben einer zusätzlichen innergesellschaftlichen Kontrolle außerdem eine gestaltende Mitwirkung in diesem wichtigen Feld der Geschäftsführung.5 Denn der Aufsichtsrat stellt in aller Regel gemeinsam mit dem Vorstand den Jahresabschluss fest (§ 172 AktG). Dadurch trägt der Aufsichtsrat die Mitverantwortung für die Bilanz- und Dividendenpolitik der Gesellschaft. Die Prüfung i. S. des § 171 AktG obliegt gemäß § 107 Abs. 3 Satz 3 i. V. m. § 171 AktG zwingend (§ 107 Abs. 3 Satz 3, § 23 Abs. 5 AktG) dem Aufsichtsrat als Plenum. Es gilt Gesamtverantwortung.6 Zur Vorbereitung dieser Prüfung kann der Aufsichtsrat gemäß § 107 Abs. 3 Satz 1 und Satz 2 AktG7 allerdings einen Prüfungsausschuss (s. auch § 324 HGB) bestellen. Bei größeren Unternehmen mit großem Aufsichtsrat ist eine solche Vorbereitung in einem

__________ 2 BGH v. 20.9.2011 – II ZR 234/09, NZG 2011, 1271. 3 Vgl. z. B. Hommelhoff, ZGR 1983, 551; ders., BB 1998, 2567; ders., ZGR 2001, 238; ders., DB 2012, 389; 445; Hommelhoff/Mattheus, AG 1998, 249 ff. 4 Kropff in MünchKomm. AktG, 2. Aufl. 2003, § 171 AktG Rz. 5 ff. 5 Kropff (Fn. 4), § 171 AktG Rz. 6; Hennrichs in FS Röhricht, 2005, S. 881, 886 ff.; ders., ZHR 174 (2010), 683, 690 f. 6 Vgl. auch Hennrichs in FS Kollhosser, 2004, S. 201, 210. 7 Diese neue Regelung setzt Art. 41 Abs. 2 der Abschlussprüferrichtlinie (RL 2006/43/ EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 17.5.2006 über Abschlussprüfungen von Jahresabschlüssen und konsolidierten Abschlüssen) um.

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besonders sachkundigen Ausschuss sehr sinnvoll.8 Dies kann die Effizienz und die Qualität der Aufsichtsratsarbeit bei der Behandlung komplexer Sachverhalte steigern.9 Für börsennotierte Unternehmen empfiehlt Ziffer 5.3.2 des Deutschen Corporate Governance Kodex daher die Einrichtung eines Prüfungsausschusses. Die Empfehlung ist Gegenstand der Entsprechenserklärung gemäß § 161 AktG (zur diesbezüglichen Anhangsangabepflicht s. §§ 285 Nr. 16, 314 Abs. 1 Nr. 8 HGB). Allerdings kann der Prüfungsausschuss eine erschöpfende Diskussion im Plenum, die auch dokumentiert werden sollte, nicht ersetzen.10 Ob der Aufsichtsrat einen Prüfungsausschuss bestellt, liegt in seiner Organisationsautonomie (§ 107 Abs. 3 Satz 1 und Satz 2 AktG, „kann“). Das gilt gesetzlich selbst bei kapitalmarktorientierten Gesellschaften i. S. des § 264d HGB; §§ 107 Abs. 3 Satz 2, Abs. 4, 124 Abs. 3 Satz 2 AktG normieren keine Pflicht zur Bestellung eines Prüfungsausschusses, sondern treffen nur Regeln für den Fall, wenn ein solcher Ausschuss bestellt wird. Die Einrichtung eines Prüfungsausschusses ist bei börsennotierten Unternehmen allerdings gängige Praxis.11 Die der Prüfung sämtlicher Abschlussunterlagen dienende Sitzung des Aufsichtsrats, in der über die Billigung des Abschlusses entschieden wird (üblicherweise als „Bilanzsitzung“ bezeichnet12), gibt dem Aufsichtsrat die Gelegenheit, sich umfassend über Lage und Entwicklung der Gesellschaft und ggf. des Konzerns im vergangenen Geschäftsjahr zu informieren und darauf gestützt wesentliche Fragen der Geschäftsführung mit zu entscheiden. Damit bildet die Bilanzsitzung des Aufsichtsrats zugleich einen Schwerpunkt seiner Überwachungstätigkeit.

III. Zusammenarbeit von Abschlussprüfer und Aufsichtsrat 1. Der Abschlussprüfer und die Organisationsverfassung der AG Problematisch ist das Verhältnis der gesellschaftsinternen Prüfung durch den Aufsichtsrat zur externen Prüfung durch den Abschlussprüfer. Wie der Abschlussprüfer, so hat auch der Aufsichtsrat zunächst die Rechtmäßigkeit des vom Vorstand vorgelegten Abschlusses und Lageberichts zu prüfen.13 Die Aufgaben des Aufsichtsrats gehen aber weiter: er hat auch zu prüfen, ob die Vorstandsvorlagen zweckmäßig und insbesondere auf das Gesellschaftsinteresse

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8 Buhleier/Krowas, DB 2010, 1165, 1167; Hommelhoff/Mattheus, AG 1998, 249, 254 f.; Kropff (Fn. 4), § 171 AktG Rz. 72; Lutter, DB 2009, 775, 777; Schulze-Osterloh, ZIP 1998, 2129, 2135; E. Vetter, ZGR 2010, 751, 754 f.; für zwingende Einrichtung bei börsennotierten Gesellschaften Hommelhoff, ZGR 2001, 238, 258, 266. 9 So Begr.RegE zum BilMoG, BT-Drucks. 16/10067, S. 102; Ernst/Seidel, ZGR 2008, 631, 667; Lutter, DB 2009, 775, 777. 10 Zutr. Buhleier/Krowas, DB 2010, 1165, 1167. 11 Nach Befunden des Kodex Reports 2007 verfügen 100 % der DAX-Gesellschaften, 96,3 % der MDAX-Gesellschaften und 83,3 % der TecDAX-Gesellschaften über einen Prüfungsausschuss, s. Nonnenmacher/Pohle/v. Werder, DB 2007, 2412. 12 Vgl. zu Vorbereitung und Verfahren der Bilanzsitzung Kropff in Semler/v. Schenck, Arbeitshandbuch für Aufsichtsratsmitglieder, 3. Aufl. 2009, § 8 Rz. 231 ff. 13 Kropff (Fn. 4), § 171 AktG Rz. 13.

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ausgerichtet sind.14 Die zusätzliche Prüfung durch den Aufsichtsrat hat insbesondere den Zweck, innergesellschaftliches Spezialwissen des Aufsichtsrats zur Geltung zu bringen und damit die Prüfung insgesamt zu verbessern. Bei prüfungspflichtigen Gesellschaften kann und soll sich der Aufsichtsrat aber bei seiner Prüfung auf den Bericht des Abschlussprüfers stützen (s. auch unten IV. 2. b). Das KonTraG und jüngst auch das BilMoG haben die gewollte vertrauensvolle Interaktion zwischen Abschlussprüfer und Aufsichtsrat institutionell ausgebaut.15 Dies kommt im Verfahren an verschiedenen Stellen zum Ausdruck: Bereits zur Auswahl des Abschlussprüfers hat – nur – der Aufsichtsrat einen Vorschlag zu unterbreiten (§ 124 Abs. 3 AktG); sodann ist an den von der Hauptversammlung zu wählenden Abschlussprüfer (§ 119 Abs. 1 Nr. 4 AktG) der Prüfungsauftrag zu erteilen, was gemäß § 111 Abs. 2 Satz 3 AktG, § 318 Abs. 1 Satz 4 HGB i. V. m. § 112 AktG wieder Sache (allein) des Aufsichtsrats ist; gemäß § 321 Abs. 5 Satz 2 HGB muss der Prüfungsbericht unmittelbar dem Aufsichtsrat vorgelegt werden; und schließlich hat der Abschlussprüfer an der Bilanzsitzung des Aufsichtsrats teilzunehmen und ihm gegenüber zu berichten (§ 171 Abs. 1 Satz 2 AktG). All diese Vorschriften sollen sicherstellen, dass der Abschlussprüfer vom Vorstand, dessen Rechnungslegung er überprüfen soll, unabhängig ist.16 Der Prüfer ist in gewissem Sinne unabhängiger Berater oder, wie der Jubilar auf einer Kölner Veranstaltung so schön formuliert hat, „Sparringspartner“ des Aufsichtsrats und, jedenfalls in Prüfungsangelegenheiten,17 gerade nicht des Vorstands. 2. Auswahl des Abschlussprüfers, Auswahlermessen und Ermessensleitlinien Die gewollte vertrauensvolle Interaktion zwischen Abschlussprüfer und Aufsichtsrat beginnt bei dem Verfahren der Auswahl des Abschlussprüfers. Der Vorschlag zur Wahl des Abschlussprüfers obliegt allein dem Aufsichtsrat (§ 124 Abs. 3 Satz 1 AktG); bei kapitalmarktorientierten Gesellschaften i. S. des § 264d HGB ist der Vorschlag auf eine Empfehlung des Prüfungsausschusses zu stützen (§ 124 Abs. 3 Satz 2 AktG), wenn die Gesellschaft einen solchen hat. Bei dem Vorschlag hat der Aufsichtsrat (oder der Prüfungsausschuss) ein Auswahlermessen. Neben der (für den Aufsichtsrat naturgemäß schwierig zu beur-

__________ 14 Statt aller z. B. Gesell, ZGR 2011, 363, 372. 15 Dazu grundlegend und zustimmend namentlich Hommelhoff, BB 1998, 2567 ff., 2625 ff.; Mattheus, ZGR 1999, 682; Hommelhoff/Mattheus, AG 1998, 249 ff. 16 Vgl. auch BGHZ 153, 32, 35 f. m. w. N. 17 Soweit der Abschlussprüfer zusätzlich zu den Abschlussprüfungsleistungen noch weitere Leistungen erbracht hat, muss er den Aufsichtsrat hierüber informieren (§ 171 Abs. 1 Satz 3 AktG). Die Vorschrift soll „die Transparenz im Verhältnis zwischen Abschlussprüfer und Aufsichtsrat“ erhöhen (BT-Drucks. 16/10067, S. 105) und es dem Aufsichtsrat ermöglichen, seiner Aufgabe nachzukommen, die Unabhängigkeit des Abschlussprüfers zu überwachen (Ernst/Seidler, ZGR 2008, 631, 665).

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teilenden) fachlichen Expertise der Kandidaten sind insbes. die Unabhängigkeit des Abschlussprüfers (vgl. §§ 319, 319a, 319b HGB) und etwaige vom Abschlussprüfer zusätzlich erbrachte Leistungen zu berücksichtigen (arg. § 107 Abs. 3 Satz 2 AktG; s. auch Ziffer 5.3.2 DCGK). Bei der Ausübung des Auswahlermessens ist zu berücksichtigen, ob der in Rede stehende Abschlussprüfer oder die fragliche Wirtschaftsprüfungsgesellschaft über die erforderlichen personellen und sachlichen Ressourcen verfügt, um die Abschlussprüfung ordnungsgemäß durchführen zu können. Bei international aufgestellten Konzernen wird das eine entsprechende internationale Präsenz der Prüfungsgesellschaft oder ein adäquates internationales Netzwerk voraussetzen. Eine Verengung des Auswahlkreises auf die sog. Big-4-Prüfungsgesellschaften ist aktienrechtlich gleichwohl nicht geboten. Entsprechende Klauseln in Verträgen mit Gläubigern sind ordnungspolitisch bedenklich und sollten von der Gesellschaft grundsätzlich nicht akzeptiert werden. Vielmehr können prinzipiell alle qualifizierten Berufsträger (vgl. § 319 Abs. 1 HGB) vorgeschlagen werden. Auch sog. Joint-Audits, also die Beauftragung mehrerer Abschlussprüfer, ist zulässig und kann zumindest für ausgewählte Prüfungsschwerpunkte oder in besonderen Situationen (wie z. B. nach einer Verschmelzung) im Einzelfall sinnvoll sein. Solche Joint-Audits oder auch ein Wechsel des Abschlussprüfers (Rotation) z. B. nach sieben Jahren18 können helfen, aus einer Dauerverbindung zwischen der Gesellschaft und demselben Abschlussprüfer möglicherweise resultierende „Verkrustungen“ aufzubrechen und die Qualität der Abschlussprüfung zu verbessern.19 Zweckmäßig kann es ferner sein, die Aufgabe der Abschlussprüfung zumindest turnusmäßig neu auszuschreiben.20 Eine Pflicht zu all dem besteht aktienrechtlich aber gegenwärtig nicht.21 Der Vorschlag des Aufsichtsrats zur Wahl des Abschlussprüfers ist eine unternehmerische Entscheidung, für die das Haftungsprivileg der sog. business judgement rule (§ 93 Abs. 1 Satz 2 AktG) entsprechend gilt.22 Daher kann dem Auf-

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18 So beispielsweise das lettische Gesetz über die Wirtschaftsprüfer in 29.p.4.d. bezüglich der Finanzinstitutionen (Kreditinstitute, Versicherungsgesellschaften, Investment-Verwaltungsgesellschaften) oder der Kapitalgesellschaften, deren übertragbare/veräußerbare Wertpapiere in dem organisierten Kapitalmarkt der Mitgliedstaaten zugelassen sind. Vgl. auch die Vorschläge der Max Planck Institute Working Group On Auditor Independence, die einen verpflichtenden Wechsel des Abschlussprüfers und der Prüfungsgesellschaft nach acht Jahren vorschlagen, abrufbar unter http://papers.ssrn.com/sol3/papers.cfm?abstract_id=1723039. 19 Vgl. auch die Vorschläge der Europäischen Kommission im Grünbuch „Weiteres Vorgehen im Bereich der Abschlussprüfung: Lehren aus der Krise“, KOM(2010) 561 endg. Dazu (teils krit.) z. B. Arbeitskreis Bilanzrecht Hochschullehrer Rechtswissenschaft, NZG 2011, 176 f.; Handelsrechtsausschuss des DAV, NZG 2011, 16 ff. 20 Vgl. auch die Vorschläge der Max Planck Institute Working Group On Auditor Independence, die eine zweistufige Vorgehensweise mit erstmaliger Beauftragung des Abschlussprüfers für vier Jahre mit Verlängerungsoption um weitere vier Jahre vorschlagen, s. Fn. 18. 21 Vgl. allerdings die Überlegungen der Kommission im Grünbuch Abschlussprüfung, Fn. 19. 22 Zutr. E. Vetter, ZGR 2010, 751, 773.

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sichtsrat keinesfalls ein haftungsrechtlicher Vorwurf gemacht werden, wenn er auf der Grundlage angemessener Informationen einen Abschlussprüfer vorschlägt, der die erforderliche Berufsqualifikation aufweist. Die (Mit-)Berücksichtigung auch kleinerer und mittelgroßer Prüfungsgesellschaften kann je nach Lage der Dinge zweckmäßig sein und ist im Übrigen nach Ansicht der EU-Kommission im sog. Grünbuch Abschlussprüfung ordnungspolitisch erwünscht, um der für bedenklich und sogar als systemrelevant eingestuften Konzentration auf dem Markt für Prüfungen entgegenzuwirken.23 3. Eigenverantwortlichkeit des Aufsichtsrats bei dem Vorschlag zur Wahl des Abschlussprüfers Der Aufsichtsrat hat die Auswahl des Abschlussprüfers für den Vorschlag an die Hauptversammlung in jedem Fall eigenverantwortlich durchzuführen. Das Gesetz überträgt diese Aufgabe allein dem Aufsichtsrat und nicht dem Vorstand. Jeder Eindruck von zu großer Nähe des Abschlussprüfers zum Vorstand soll vermieden werden.24 Gleichzeitig soll die Position des Aufsichtsrats als Überwachungsorgan gestärkt werden. Inwieweit der Aufsichtsrat zur Vorbereitung seiner Entscheidung über den der Hauptversammlung vorzuschlagenden Abschlussprüfer sich der Hilfe des Vorstands bedienen darf, ist fraglich. Mit dem Wortlaut und Geist des § 124 Abs. 3 Satz 1 AktG ist es nicht vereinbar, wenn letztlich der Vorstand die Auswahl des Abschlussprüfers dominiert. Denn der Vorschlag zur Auswahl des Prüfers ist deshalb dem Aufsichtsrat und nicht dem Vorstand zugewiesen, weil der zu wählende Abschlussprüfer gerade die Tätigkeit des Vorstands überwachen und prüfen soll.25 Dem würde es nicht gerecht, wenn letztlich der Vorstand selbst sich „seinen“ Prüfer aussuchen könnte. Nach einer Entscheidung des BGH ist es dem Vorstand denn auch gesetzlich sogar versagt, „an dem Vorschlag des Aufsichtsrats“ auch nur „mitzuwirken.“26 Die Hilfe des Vorstands im Prozess der Auswahl des Abschlussprüfers sollte daher so weit wie möglich vermieden und jedenfalls auf bloße technische Unterstützung reduziert werden. Zur eigenverantwortlichen Auswahl des Abschlussprüfers durch den Aufsichtsrat gehört es mindestens, dass der Aufsichtsrat die Leitlinien und Kriterien für die Auswahl festsetzt.27 Darüber hinaus ist aber auch zu fordern, dass der Aufsichtsrat (bzw. sein Prüfungsausschuss) selbst die eingegangenen Angebote sichtet und die Auswahlgespräche auch persönlich führt. Diese für die ab-

__________ 23 Vgl. Fn. 19. 24 Das war bereits ein Anliegen des KonTraG, vgl. BT-Drucks. 13/9712, S. 16: „Die Hilfsfunktion des Prüfers für den Aufsichtsrat bei der Bewältigung seiner Kontrolltätigkeit und die Unabhängigkeit des Prüfers vom Management sollen unterstrichen werden.“ 25 Vgl. BGHZ 153, 32, 35; Hommelhoff, BB 1998, 2567, 2570; Drinhausen in Hölters, 2011, § 124 AktG Rz. 17; Rieckers in Spindler/Stilz, § 124 AktG Rz. 28; je m. w. N. 26 BGHZ 153, 32, 37. 27 Ebenso E. Vetter, ZGR 2010, 751, 772 f.

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schließende Entscheidung zentral wichtigen Verfahrensschritte an den Vorstand zu delegieren und letztlich nur noch die Vorauswahl seitens des Vorstands „abzusegnen“, wird weder der gewollten Stärkung der Überwachungsaufgabe des Aufsichtsrats noch der ebenfalls gewollten Unabhängigkeit des Abschlussprüfers vom Vorstand gerecht. Der Aufsichtsrat sollte sich selbst unmittelbar ein Bild von den in Betracht kommenden Kandidaten für den vorzuschlagenden Abschlussprüfer machen. Namentlich ist ein gutes persönliches Vertrauensverhältnis auch für die weitere Zusammenarbeit von Abschlussprüfer und Aufsichtsrat wichtig. Eben diese kontinuierliche Zusammenarbeit von Abschlussprüfer und Aufsichtsrat will das Gesetz aber erreichen und fördern. Gute Zusammenarbeit beginnt, ja basiert auf der Auswahlentscheidung. Daher sollten die hierfür wesentlichen Schritte nicht delegationsfähig sein, sondern vom Aufsichtsrat persönlich vorgenommen werden. Schließlich ist es bedenklich, wenn der Abschlussprüfer im Zuge des Auswahlverfahrens dem Vorstand (!) zusichert, bei der Abschlussprüfung ständig erreichbar zu sein, den Vorstand laufend über den Ablauf und die Zwischenergebnisse der Prüfung zu informieren und ggf. Prüfer auf nachgeordneten Prüfungsebenen auszutauschen, wenn sie nach Ansicht des Vorstands eine schlechte Prüfungsqualität abliefern. Kontaktperson für den Abschlussprüfer hat auf Seiten der Gesellschaft der Aufsichtsrat zu sein, nicht der Vorstand. Zwischen Aufsichtsrat und Abschlussprüfer ist in der Tat eine enge Kooperation und ein intensiver Austausch vom Gesetz gewünscht, aber gerade nicht zum Vorstand. Einmal mehr ist zu betonen, dass der Abschlussprüfer der Prüfer der Rechnungslegung des Vorstandes ist, diesem also gleichsam „auf die Finger zu schauen“ hat. Wenn umgekehrt der Vorstand den Abschlussprüfer „kontrolliert“ und sogar einzelne Prüfungspersonen „austauschen“ kann, dann stellt das die vom Gesetz gewollte Ordnung auf den Kopf. Allerdings stellt die persönliche Auswahl des Abschlussprüfers durch den Aufsichtsrat sowie die vom Gesetz gewollte intensive Zusammenarbeit zwischen Abschlussprüfer und Aufsichtsrat hohe Anforderungen an alle Beteiligten. Aber das ist lediglich ein Ausschnitt aus der allgemeinen Problematik der Professionalisierung der Aufsichtsratstätigkeit.28 Eine gute Corporate Governance erfordert gute, professionelle Aufsichtsräte. 4. Sanktionen bei Verletzung des § 124 Abs. 3 AktG Wird das Auswahlverfahren unter Verstoß gegen die dargestellten Grundsätze der Sache nach vom Vorstand dominiert, liegt darin ein Gesetzesverstoß. Gemäß § 124 Abs. 4 Satz 1 AktG darf zu diesem Tagesordnungspunkt dann kein Beschluss gefasst werden. Ein gleichwohl gefasster Beschluss ist wegen Gesetzesverletzung gemäß § 243 Abs. 1 AktG anfechtbar.29 Das hat der BGH für den Fall einer (bloß) falschen Bekanntmachung der Tagesordnung entschie-

__________ 28 Vgl. Ehren/Gros, Der Konzern 2011, 277 ff. 29 Vgl. statt aller Ziemons in K. Schmidt/Lutter, 2. Aufl. 2010, § 124 AktG Rz. 26 m. w. N.

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den30 und insoweit darauf hingewiesen, dass der Gesetzesverstoß „nicht so marginal“ sei, „dass ihm die erforderliche Relevanz für eine sachgerechte Meinungsbildung der Aktionäre abzusprechen wäre.“31 Erst recht muss das gelten, wenn nicht bloß die Bekanntmachung fehlerhaft erfolgt ist, sondern das Auswahlverfahren selbst gesetzeswidrig war, also sogar ein materieller Gesetzesverstoß vorliegt. In dem in Bezug genommenen Verfahren machte der BGH zudem deutlich, dass ein Gesetzesverstoß bei der Bekanntmachung der Tagesordnung nicht dadurch ungeschehen gemacht werde, dass die Organpersonen vor der Abstimmung erklären, der Wahlvorschlag werde nur vom Aufsichtsrat unterbreitet.32 Auch dem ist zuzustimmen. Entscheidend sind nicht Beteuerungen, sondern ist das tatsächliche Geschehen. Auswirkungen auf eine gleichwohl durchgeführte Abschlussprüfung und auf den geprüften Abschluss hat dieser Fehler allerdings zunächst nicht. Ein Mangel der Prüferbefähigung (§ 256 Abs. 1 Nr. 3, 1. Fall AktG) liegt nicht vor. Wird der Beschluss der Hauptversammlung zur Wahl des Abschlussprüfers allerdings erfolgreich angefochten, wird der Wahlbeschluss für nichtig erklärt (§§ 241 Nr. 5, 248 Abs. 1 Satz 1 AktG). Dann ist der Abschlussprüfer nicht wirksam bestellt (§ 256 Abs. 1 Nr. 3, 2. Fall AktG). Ein rechtskräftiges Anfechtungsurteil wirkt auf den Zeitpunkt der Beschlussfassung zurück. Damit ist grundsätzlich auch der Jahresabschluss gemäß § 256 Abs. 1 Nr. 3 AktG nichtig.33 Allerdings greift insoweit zum einen die Heilungsvorschrift des § 256 Abs. 6 Satz 1 AktG. Zum anderen kann die Hauptversammlung den anfechtbaren Wahlbeschluss vor Erlass eines Urteils durch einen neuen Beschluss bestätigen (§ 244 AktG). Geschieht dies vor Abschluss der Prüfung, ist die Prüferbestellung nicht mehr angreifbar und liegt nach h. M. kein Nichtigkeitsgrund i. S. des § 256 Abs. 1 Nr. 3 AktG vor, weil es für die Wirksamkeit der Prüferbestellung auf den Zeitpunkt des Abschlusses der Prüfung ankommen soll.34 5. Prüfungsauftrag und Prüfungsschwerpunkte Von der Wahl des Abschlussprüfers, die gemäß § 119 Abs. 1 Nr. 4 AktG der Hauptversammlung obliegt (s. auch § 318 Abs. 1 Satz 1 HGB), zu unterscheiden ist die Erteilung des Prüfungsauftrags an den gewählten Abschlussprüfer. Dies obliegt gemäß § 111 Abs. 2 Satz 3 AktG wiederum dem Aufsichtsrat (s. auch § 318 Abs. 1 Satz 4 HGB).35 Insoweit ist nach zutreffender Meinung nicht nur eine vorbereitende, sondern sogar eine abschließend beschließende Delegation an den Prüfungsausschuss zulässig (arg. e. § 107 Abs. 3 Satz 3

__________ 30 Im Streitfall war fälschlich bekannt gemacht worden, dass „Aufsichtsrat und Vorstand“ vorschlügen, eine Prüfungsgesellschaft zum Sonderprüfer zu bestellen; der Vorstand hatte dazu aber gar keinen Beschluss gefasst. 31 BGHZ 153, 32. 32 BGHZ 153, 32, Leitsatz 1 und 35. 33 T. Bezzenberger in Großkomm. AktG, 4. Aufl. 2010, § 256 AktG Rz. 148 m. w. N. 34 Einzelheiten bei T. Bezzenberger (Fn. 33), § 256 AktG Rz. 146 ff., 148, 150 m. w. N. 35 Velte, NZG 2011, 711 ff.

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AktG, wo § 111 Abs. 2 AktG gerade nicht genannt ist;36 vgl. auch Ziffer 5.3.2 DCGK). Bei der Erteilung des Prüfungsauftrags kann und soll der Aufsichtsrat oder der Prüfungsausschuss auch Prüfungsschwerpunkte bestimmen (vgl. Ziffer 5.3.2 DCGK).37 Dabei kann es sinnvoll sein, sich vom Abschlussprüfer einzelne Aspekte vorschlagen zu lassen. Jedenfalls sollte der Abschlussprüfer seine Prüfungsplanung mit dem Aufsichtsrat erörtern. Im Ergebnis können die Prüfungsschwerpunkte daher von Aufsichtsrat und Abschlussprüfer gemeinsam entwickelt werden.38 Solcherlei mit dem Aufsichtsrat abgestimmte Prüfungsschwerpunkte entbinden den Abschlussprüfer selbstverständlich nicht von seinen Pflichten gemäß § 317 HGB und seiner Eigenverantwortung für eine ordnungsgemäße und sachgerechte Abschlussprüfung (§ 323 HGB); daher kann und darf der Abschlussprüfer seine Prüfungshandlungen nicht auf die mit dem Aufsichtsrat vereinbarten Prüfungsschwerpunkte beschränken. Diese können dem Abschlussprüfer aber helfen, innergesellschaftliches Spezialwissen des Aufsichtsrats bei der Abschlussprüfung einzubeziehen und damit die Prüfung insgesamt zu verbessern. Für die vom Gesetz gewollte offene Kommunikation zwischen Aufsichtsrat und Abschlussprüfer ist es auch empfehlenswert, wenn die Mitglieder des Prüfungsausschusses sich regelmäßig mit dem Abschlussprüfer und den für die interne Prüfung zuständigen Personen treffen.39 6. Finanzierung: eigenes Budget des Aufsichtsrats Schließlich noch eine Bemerkung zu einer praktisch mit Vorstehendem verbundenen Frage. Wenn es der Aufsichtsrat ist, der eigenverantwortlich den Vorschlag zur Wahl des Abschlussprüfers zu entwickeln und diesem den Prüfungsauftrag zu erteilen hat, dann sollte der Aufsichtsrat selbst auch über die hierfür erforderlichen Mittel verfügen.40 Pellens hat auf der besagten Tagung der Schmalenbach-Gesellschaft zu Recht die Frage gestellt: „Wie soll der Aufsichtsrat einen Wirtschaftsprüfer auswählen […], wenn er kein Budget und kein operatives Personal dafür hat?“41 Der sachlichen Zuständigkeit sollte die Mittelkompetenz korrespondieren. Ob ein eigenes Budget des Aufsichtsrats bereits gesetzlich als Annexkompetenz zur Überwachungszuständigkeit anzu-

__________

36 Wie hier Hüffer, AktG, 9. Aufl. 2010, § 111 AktG Rz. 12c; Habersack in MünchKomm. AktG, 3. Aufl. 2008, § 111 AktG Rz. 86; krit. Velte, NZG 2011, 711 ff.; je m. w. N. zum Streitstand. 37 Buhleier/Krowas, DB 2010, 1165, 1168. 38 Buhleier/Krowas, DB 2010, 1165, 1169. 39 Ebenso Kropff (Fn. 4), § 171AktG Rz. 74 a. E., der solche Treffen „mindestens vierteljährlich“ empfiehlt; vgl. ferner Gesell, ZGR 2011, 361, 373: fortlaufende Information des Prüfungsausschusses, bei Anlass auch ad hoc außerhalb der turnusmäßigen Sitzungen. Vgl. auch die Vorschläge der Europäischen Kommission im Grünbuch „Weiteres Vorgehen im Bereich der Abschlussprüfung: Lehren aus der Krise“, KOM(2010) 561 endg. 40 Knoll/Zachert, AG 2011, 309 ff. 41 Vgl. auch FAZ v. 16.4.2011, S. 16: Der Prüfer dient dem Aufsichtsrat.

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erkennen ist,42 mag hier dahinstehen. Jedenfalls wäre ein solches Aufsichtsratsbudget, über das dieser sodann unabhängig vom Vorstand verfügen könnte (nebst Einräumung eines entsprechenden Aufsichtsratskontos), als Grundsatz guter Unternehmensführung und -kontrolle in der inneren Verbandsordnung verankert zulässig.43 Eine Empfehlung dazu könnte sogar in den Deutschen Corporate Governance Kodex aufgenommen werden.44 Ein solches eigenes Budget des Aufsichtsrats hätte mehrere Vorteile: Zum einen mag es dem einen oder anderen Aufsichtsrat möglicherweise unwürdig erscheinen, wenn er sich zur Finanzierung der von ihm befürworteten Schritte letztlich doch wieder an den Vorstand wenden muss. Zum anderen stellt die Notwendigkeit, sich kostenauslösende Maßnahmen vom Vorstand abzeichnen zu lassen, zumindest ein denkbares Druckmittel des Vorstands gegen unliebsame Überwachungsmaßnahmen dar.45 Demgegenüber würde ein eigenes Budget des Aufsichtsrats dessen Unabhängigkeit und letztlich damit auch die Unabhängigkeit des Abschlussprüfers gegenüber dem Vorstand stärken. „Wer das Geld hat, hat das Sagen!“ heißt es. Das sollte im Verhältnis zum Abschlussprüfer eben nicht der Vorstand sein, dessen Rechnungslegung der Abschlussprüfer zu prüfen hat. Schließlich könnte eine eigene Kostenstelle auch den Aufsichtsrat selbst stärker in die Pflicht nehmen, weil er damit eine eigene Finanzierungsverantwortung übernehmen müsste.

IV. Sorgfaltspflicht und Verantwortlichkeit des Aufsichtsratsmitglieds Die Pflicht zur Prüfung der Abschlussunterlagen stellt hohe Anforderungen an jedes einzelne Aufsichtsratsmitglied.46 Diese Aufgabe erfordert eine ausreichende Qualifikation der Aufsichtsratsmitglieder. Qualifikationsmängel sind haftungsrechtlich sanktioniert: Gemäß §§ 116, 93 AktG haftet ein Aufsichtsratsmitglied der Gesellschaft auf Schadensersatz, wenn es seiner Pflicht zur sorgfältigen Wahrnehmung der Organfunktion schuldhaft nicht nachkommt. 1. BGH v. 20.9.2011 – II ZR 234/09 a) Die wesentlichen Gründe In diesem Zusammenhang formuliert eine neuere Entscheidung des BGH v. 20.9.2011 zur Haftung von Vorständen und Aufsichtsräten strenge Maßstäbe,47 die auch für die Zusammenarbeit zwischen dem Aufsichtsrat und dem Abschlussprüfer Relevanz erlangen können. Es ging im Streitfall um eine komplizierte Gestaltung, bei der eine Sacheinlagevereinbarung getroffen, aber aufgrund der Festsetzung einer untauglichen Sacheinlage (eigene Aktien der

__________ 42 43 44 45 46 47

Vgl. auch Knoll/Zachert, AG 2011, 309, 311. Vgl. Knoll/Zachert, AG 2011, 309, 311 ff. Knoll/Zachert, AG 2011, 309, 311 m. w. N. Knoll/Zachert, AG 2011, 309, 310 f. Buhleier/Krowas, DB 2010, 1165. BGH, NZG 2011, 1271.

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Gesellschaft) unwirksam war. Die mangels wirksamer Sacheinlagevereinbarung bestehende Bareinzahlungspflicht des Aktionärs war nicht geleistet, die neuen Aktien aber ausgegeben worden, weil Vorstand und Aufsichtsrat die Sacheinlagevereinbarung für wirksam hielten. Die Gesellschaft musste schließlich Insolvenz anmelden. Der Insolvenzverwalter machte zwei Vorstandsmitglieder gemäß § 93 Abs. 3 Nr. 4 AktG und den stellvertretenden Aufsichtsratsvorsitzenden, der zugleich Partner einer großen Anwaltskanzlei war und die Gestaltung mit angeregt hatte, gemäß § 116 AktG haftbar. Der II. Zivilsenat bejahte hier zum einen die Haftung des Vorstands. Ein Organmitglied müsse wie jeder Schuldner für einen verschuldeten Rechtsirrtum einstehen. An das Vorliegen eines unverschuldeten Rechtsirrtums seien strenge Maßstäbe anzulegen. Ein Schuldner müsse die Rechtslage sorgfältig prüfen, soweit erforderlich Rechtsrat einholen und die höchstrichterliche Rechtsprechung sorgfältig beachten. Das Risiko, die Rechtslage zu verkennen, treffe grundsätzlich den Schuldner. Ein Vertretungsorgan, das selbst nicht über die erforderliche Sachkunde verfüge, könne den strengen Anforderungen an eine ihm obliegende Prüfung der Rechtslage und an die Beachtung von Gesetz und Rechtsprechung nur genügen, wenn er sich unter umfassender Darstellung der Verhältnisse der Gesellschaft und Offenlegung der erforderlichen Unterlagen von einem unabhängigen, für die zu klärende Frage fachlich qualifizierten Berufsträger beraten lasse und den erteilten Rechtsrat einer sorgfältigen Plausibilitätskontrolle unterziehe. Eine mündliche Beratung genüge bei nicht besonders eilbedürftiger und nicht einfacher Gestaltung nicht. Das Verschulden entfalle nicht, wenn von einer Plausibilitätsprüfung abgesehen oder sie schuldhaft fehlerhaft vorgenommen werde. Das Vertrauen in die Fachkompetenz des hinzu gezogenen Beraters ersetze die eigene Plausibilitätskontrolle nicht. Im Übrigen könne sich ein Vorstandsmitglied nicht darauf berufen, der Aufsichtsrat habe sie ungenügend überwacht oder fehlerhaft beraten, weil die Überwachungspflicht des Aufsichtsrats selbständig neben den Pflichten des Vorstandes bestünden. Auch der Umstand, dass weder der Sacheinlageprüfer noch das Registergericht die Untauglichkeit der Sacheinlage erkannt hatten, entlaste den Vorstand nicht. Daneben bejaht der BGH auch die Haftung des Aufsichtsratsmitglieds. Im Rahmen seiner Überwachungspflichten habe der Aufsichtsrat auch bei Kapitalerhöhungsmaßnahmen dafür zu sorgen, dass der Vorstand seine Aufgaben ordnungsgemäß in Übereinstimmung mit Gesetz und Satzung erfüllt, und habe gegebenenfalls einzugreifen und den Vorstand zu richtigem Verhalten anzuhalten. Auch ein Verschulden des Aufsichtsratsmitglieds liege vor. Er könne sich als Rechtsanwalt (!) angesichts der eindeutigen Rechtslage (?) grundsätzlich nicht auf einen unverschuldeten Rechtsirrtum berufen. Ein Aufsichtsratsmitglied, das über beruflich erworbene Spezialkenntnisse verfüge, unterliege, soweit sein Spezialgebiet betroffen sei, insoweit einem erhöhten Sorgfaltsmaßstab. Ein Aufsichtsratsmitglied, das über besondere Fachkenntnisse verfügt, sei gegenüber der Gesellschaft verpflichtet, diese einzusetzen.

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b) Kritische Anmerkungen Die Entscheidung hinterlässt ein gewisses Unbehagen. Die Anforderungen sind sehr streng. Dass die Rechtslage „eindeutig“ sei, wie der Senat im Zusammenhang mit der Haftung des Aufsichtsrats meint, kann man angesichts des Umstands, dass eine Rechtsanwaltskanzlei die Struktur (und sei es auch nur mündlich) beurteilt hat und der Fehler auch weder dem Sacheinlageprüfer noch dem Registergericht aufgefallen ist, kaum sagen. Überhaupt leuchtet es nicht wirklich ein, den Vorstand für einen Gestaltungsfehler haftbar zu machen, der keinem der anderen Berater und Prüfer aufgefallen ist. Dass der Schuldner auch bei Einholung externen Rechtsrats eine eigene Plausibilitätskontrolle vornehmen muss, entspricht zwar der ständigen Rechtsprechung. Warum aber der Vorstand hierbei „schlauer“ hätte sein sollen als seine Berater, ist nicht so recht ersichtlich. Wenn der Senat meint, das Verschulden entfalle nicht, wenn von einer Plausibilitätskontrolle abgesehen wurde, so ist das zwar auf den ersten Blick verständlich. Aber ob dieses Versäumnis wirklich kausal für den Schaden geworden ist, mag man doch bezweifeln. Denn auch bei vorgenommener Plausibilitätskontrolle wäre die Entscheidung angesichts der Umstände wohl nicht anders ausgefallen als sie tatsächlich getroffen worden ist. 2. Insbesondere: (Mit-)Verantwortlichkeit des Aufsichtsrats für die Rechnungslegung Die vorgenannte Entscheidung betrifft nicht besonders die Sorgfaltspflichten und Verantwortlichkeiten der Organpersonen bezogen auf die Rechnungslegung, kann aber auch insoweit bedeutsam werden. Sie sollte insbesondere das Bewusstsein dafür schärfen, – dass eine besondere Expertise haftungsrechtlich zu besonderer Verantwortlichkeit führt – eine Aussage, die für die Mitglieder des Prüfungsausschusses und insbesondere für den sog. Finanzexperten gemäß § 100 Abs. 5 AktG bedeutsam ist; und – dass auch die Einschaltung von externen Experten nicht von der Notwendigkeit einer eigenen Plausibilitätskontrolle entbindet, die zur Minimierung von Haftungsrisiken tunlichst auch dokumentiert werden sollte – eine Aussage, die das Verhältnis von Aufsichtsrat und Abschlussprüfer tangiert. Im Einzelnen ist hierzu auszuführen: a) Persönliche Anforderungen Haftungsbegründend kann zum einen sein, wenn das Aufsichtsratsmitglied nicht über die für sein Amt ausreichende Sachkunde verfügt. Der BGH fordert, dass jedes Mitglied eines Aufsichtsrats „alle normalerweise anfallenden Geschäftsvorgänge (grundsätzlich) auch ohne fremde Hilfe verstehen und sachgerecht beurteilen kann.“48

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48 BGHZ 85, 293, 295 f. – „Hertie“.

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Bezogen auf die Aufsichtsratsaufgabe der Prüfung des Jahresabschlusses verlangt das zwar nicht spezielle Kenntnisse des Bilanzwesens. Doch muss jeder Aufsichtsrat zumindest die Grundprinzipien der Rechnungslegung verstehen49 oder sich entsprechende Kenntnisse jedenfalls alsbald nach der Übernahme eines Mandats aneignen.50 Diese (Grund-)Anforderungen gelten auch für die von Arbeitnehmerseite entsandten Aufsichtsratsmitglieder.51 Weitergehende Anforderungen sind an die Mitglieder des Prüfungsausschusses zu stellen.52 Von allen Mitgliedern des Prüfungsausschusses muss erwartet werden, dass sie nicht nur mit den Grundprinzipien der Rechnungslegung vertraut sind, sondern auch in Rechnungslegungsfragen bewandert sind (financial literacy) und den Ausführungen des Abschlussprüfers mit Verständnis folgen können.53 Denn der Prüfungsausschuss ist in der Organisationsverfassung der AG das Gremium, das zum konstruktiven Dialog mit dem Abschlussprüfer besonders berufen ist. Wer sich dies nicht zutraut, sollte nicht Ausschussmitglied werden.54 Zwar verlangt § 100 Abs. 5 AktG nur, dass „mindestens ein“ Mitglied des Prüfungsausschusses (bei kapitalmarktorientierten Gesellschaften) „über Sachverstand auf den Gebieten Rechnungslegung oder Abschlussprüfung verfügen“ muss. Diese Vorschrift lässt aber die allgemeinen Sorgfaltsanforderungen, die sich aus § 116 AktG ergeben, unberührt. Die Einrichtung eines Prüfungsausschusses wirkt damit ähnlich wie eine Ressortaufteilung im Vorstand: Die „ressortzuständigen“ Ausschussmitglieder trifft eine gesteigerte Verantwortung. Die Mitglieder, die dem Ausschuss nicht angehören, können sich auf die Sachkenntnis der Ausschussmitglieder zunächst verlassen und dürfen prinzipiell auf die Berichte des Prüfungsausschusses vertrauen. Andernfalls würde man das Plenum zwingen, die Ausschusstätigkeit zu duplizieren.55 Unberührt bleibt aber die Pflicht aller Aufsichtsräte (auch der Nicht-Ausschussmitglieder) zu einer eigenen Plausibilitätskontrolle und zu kritischen Nachfragen, falls Unklarheiten oder Verdachtsmomente bestehen. Angesichts der dargestellten strengen Rechtsprechung des BGH zur Plausibilitätskontrolle sollte diese eigene Kontrolle nachweisbar dokumentiert werden. Nochmals weitergehende Anforderungen sind an den sog. Finanzexperten i. S. des § 100 Abs. 5 AktG zu stellen. Von ihm wird noch ein Stück weit mehr als „Bewanderung“ in Rechnungslegungsfragen erwartet; er soll der financial expert sein. Zwar würde es die Anforderungen überspannen, wenn man fordern wollte, dass er über die einem Abschlussprüfer äquivalente Ausbildung und Erfah-

__________ 49 Wie hier etwa Buhleier/Krowas, DB 2010, 1165, 116 (die zu Recht auf die „Schwachstelle Fachwissen des Aufsichtsrats“ hinweisen). Weitergehend in der Annahme verschärfter Anforderungen seit dem KonTraG Hommelhoff/Mattheus, AG 1998, 249, 255: „Spezialwissen auf dem Gebiet der Bilanzierung und Rechnungslegung“ jedenfalls bei den Mitgliedern eines Bilanzausschusses erforderlich. 50 Kropff (Fn. 4), § 171 AktG Rz. 78. 51 BGHZ 85, 293, 295 f.; Hommelhoff, ZGR 1983, 551, 573 f. 52 Kropff (Fn. 4), § 171 AktG Rz. 78. 53 OLG München, NZG 2010, 784 f.; Hüffer (Fn. 36), § 116 AktG Rz. 3. 54 Kropff (Fn. 4), § 171 AktG Rz. 78. 55 Kropff (Fn. 12), § 8 Rz. 369; Thümmel, AG 2004, 83, 90.

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rung verfügen müsste.56 Finanzexperten können nicht nur Wirtschaftsprüfer sein. Es geht bei der Prüfung des Abschlusses durch den Aufsichtsrat und bei der Vorbefassung im Prüfungsausschuss auch nicht um eine zweite Abschlussprüfung, sondern vor allem darum, innergesellschaftliches Wissen und besondere Erfahrungen des Aufsichtsrates fruchtbar zu machen. Aber der Finanzexperte soll mit dem Abschlussprüfer gleichsam „auf Augenhöhe“ kommunizieren können. Daher muss er über einen gegenüber den „normalen“ Aufsichtsratsmitgliedern und auch gegenüber dem „normalen“ Prüfungsausschussmitglied gesteigerten bilanziellen Sachverstand verfügen und in der Lage sein, sich in die Besonderheiten des Falles und dessen bilanzielle Beurteilung einzuarbeiten.57 Die genauen persönlichen Anforderungen wird man nur im Einzelfall konkretisieren können. Sie sind abhängig von der Größe und der Komplexität des Unternehmens. Bei kapitalmarktorientierten Unternehmen wird man von dem Finanzexperten i. S. des § 100 Abs. 5 AktG auch Kenntnisse, Fähigkeiten und Erfahrungen im Bereich der Rechnungslegung nach IFRS verlangen müssen,58 denn diese sind für den Konzernabschluss solcher Mutterunternehmen verpflichtend anzuwenden (§ 315a HGB i. V. m. der IAS-Verordnung Nr. 1606/2002). b) Sorgfaltspflichten des Aufsichtsrats bei der Prüfung Fraglich ist sodann, welche Sorgfaltspflichten des Aufsichtsrats bei der Prüfung bestehen, namentlich, welche Bedeutung einer Abschlussprüfung zukommt, wenn eine solche nach Maßgabe der §§ 316 ff. HGB (oder freiwillig) stattgefunden hat. Der Abschlussprüfer ist ein Experte in Rechnungslegungsfragen und vom Gesetz geradezu als Garant für die Richtigkeit der Bilanzierung in den Prozess der Rechnungslegung bei prüfungspflichtigen Unternehmen eingeschaltet. Darf der Aufsichtsrat auf das Prüferurteil deshalb vorbehaltlos vertrauen? aa) Wurde der Abschluss vom Abschlussprüfer uneingeschränkt testiert, so genügt der Aufsichtsrat nach h. M. seiner Sorgfaltspflicht grundsätzlich dadurch, dass er den Prüfungsbericht (§ 321 HGB) sorgfältig und kritisch mit dem erforderlichen Zeitaufwand durcharbeitet.59 Das setzt voraus, dass der Prüfungsbericht oder zumindest sein Entwurf60 dem Aufsichtsrat rechtzeitig vor-

__________ 56 OLG München, NZG 2010, 784 f.; Gesell, ZGR 2011, 361, 386. 57 Vgl. OLG München, NZG 2010, 784, 785; Gesell, ZGR 2011, 361, 387; strenger mit Bezug auf den Finanzexperten i. S. des § 100 Abs. 5 AktG aber z. B. Nowak, BB 2010, 2423, 2424. 58 Umfassend Th. Meyer, Der unabhängige Finanzexperte im Aufsichtsrat – Aufsichtsratsprofil und Prüfungsausschuss nach dem BilMoG (Diss. Köln, im Erscheinen). 59 Vgl. Buhleier/Krowas, DB 2010, 1165, 1168; Brönner in Großkomm AktG, 4. Aufl. 2003, § 171 AktG Rz. 6; Ellrott/Hoffmann in BeckBil-Komm., 7. Aufl. 2010, Vor § 325 HGB Rz. 22; Gesell, ZGR 2011, 361, 372 ff.; Kropff (Fn. 4), § 171 AktG Rz. 82; ders. (Fn. 12), § 8 Rz. 300 ff.; Schulze-Osterloh, ZIP 1998, 2129, 2134. 60 Vgl. OLG Stuttgart, DB 2009, 1521; Mackensen, GWR 2009, 225; krit. Hommelhoff, BB 1998, 2625, 2628.

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liegt. Die für die Prüfung der Abschlüsse relevanten Unterlagen müssen vollständig und so rechtzeitig vor der Bilanzsitzung vorgelegt werden, dass für eine angemessene Vorbereitung und Prüfung ausreichend Zeit verbleibt.61 Die Arbeit des Aufsichtsrats wird erleichtert und die Qualität seiner zusätzlichen Prüfung der Abschlüsse verbessert, wenn schon während der Abschlussprüfung durch den gesetzlichen Abschlussprüfung ein vertrauensvoller Informationsaustausch zwischen Prüfer und Aufsichtsrat stattgefunden hat.62 Auch mit einem uneingeschränkten Bestätigungsvermerk darf sich das Aufsichtsratsmitglied allerdings nicht unbesehen zufrieden geben.63 Eine eigene Plausibilitätsbeurteilung ist, das macht die oben skizzierte Entscheidung des BGH nochmals in aller Schärfe deutlich, in jedem Fall erforderlich. Wenn sich aus dem Bericht selbst Bedenken gegen die Rechtmäßigkeit des Jahresabschlusses ergeben oder wenn das Aufsichtsratsmitglied aus eigener Kenntnis der betrieblichen Geschehnisse (insbes. aus Berichten des Vorstands gemäß § 90 AktG) Zweifel hat, muss es dem nachgehen. Auch ein etwaiges Spezialwissen ist einzubringen.64 Beispielsweise werden Aufsichtsratsmitglieder, die früher dem Vorstand angehörten, den Wert einer Auslandsbeteiligung oder die Risiken eines Großauftrags, der zu ihrer Vorstandszeit akquiriert worden ist, oft sogar besser beurteilen können als der Abschlussprüfer.65 Bestehen Unklarheiten, ist nachzufragen und sind Erläuterungen einzufordern. Da der Aufsichtsrat nicht nur für die Rechtmäßigkeit, sondern im Rahmen der gesetzlich eröffneten Gestaltungsspielräume auch für die Zweckmäßigkeit der Rechnungslegung (mit-)verantwortlich ist, sollte ein Aufsichtsratsmitglied auch dann aktiv werden, wenn es eine andere bilanzielle Abbildung für zulässig und für im Unternehmensinteresse zweckmäßiger hält. Es sollte dann seine Auffassung selbständig überprüfen und die widerstreitenden Argumente im Plenum und ggf. mit dem Abschlussprüfer und dem Vorstand zur Diskussion stellen.66 Nach bislang ganz h. M. muss das Aufsichtsratsmitglied bei seiner Prüfung gemäß § 171 AktG grundsätzlich keine Stichproben vornehmen.67 Auf einen positiven Bestätigungsbericht des Abschlussprüfers dürfe der Aufsichtsrat vertrauen.68 Das gelte nur dann nicht, wenn „offensichtlich“ sei, dass die Beurteilung durch den Abschlussprüfer unzutreffend sei.69 Eigene Prüfungshandlungen selbst oder durch Sachverständige vorzunehmen, wird nach verbreiteter

__________ 61 Vgl. LG Saarbrücken, GmbHR 2010, 762 (764); Kropff (Fn. 4), § 170 AktG Rz. 26, 39. 62 Vgl. bei Fn. 39 m. w. N. 63 Allg. Ansicht, s. nur Hüffer (Fn. 36), § 171 AktG Rz. 5; Kropff (Fn. 4), § 171 AktG Rz. 83. 64 Vgl. zuletzt BGH, NZG 2011, 1271. 65 Kropff (Fn. 4), § 171 AktG Rz. 84. 66 Buhleier/Krowas, DB 2010, 1165, 1168. 67 Brönner (Fn. 59), § 171 AktG Rz. 6; Clemm, ZGR 1980, 454, 457; Gesell, ZGR 2011, 361, 373, 377. 68 Adler/Düring/Schmaltz, Rechnungslegung und Prüfung der Unternehmen, 6. Aufl. 2001, § 171 AktG Rz. 24 f.; Brönner (Fn. 59), § 171 AktG Rz. 6; Forster in FS Kropff, 1997, S. 71, 75 f.; Rürup in FS Budde, 1995, S. 543, 549 f. 69 So namentlich Forster (Fn. 68), S. 71, 75 f.

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Corporate Governance und Abschlussprüfung

Ansicht allenfalls dann für notwendig erachtet, wenn der Abschlussprüfer den Bestätigungsvermerk eingeschränkt hat.70 Diese großzügige Auffassung ist angesichts der Erfahrungen der letzten Jahre, u. a. nach den Erfahrungen der Finanzmarktkrise, und vor dem Hintergrund der strengen Rechtsprechung des BGH zur eigenen Plausibilitätskontrolle der Organpersonen bei Hinzuziehung von Experten nicht restlos überzeugend. Wie die zahlreichen Bilanzskandale leider belegen, schützt auch ein positives Testat des Abschlussprüfers nicht vor falschen Bilanzen. Zudem wollte das KonTraG die eigene Überwachungs- und Kontrolltätigkeit des Aufsichtsrats stärken und betonen. Für eine funktionierende Corporate Governance sind, wie die F.A.Z. in ihrem Wirtschaftsleitartikel vom 3.3.2004 mit Recht anmahnt, vor allem „selbstbewußte Aufsichtsräte“ vonnöten, „die ihrer Kontrollfunktion wirklich nachkommen.“71 Die bislang h. M. sollte daher behutsam ausgeweitet werden. Auch bei positivem Testat des Abschlussprüfers sollte der Aufsichtsrat als verpflichtet angesehen werden, zu besonders wesentlichen oder in der Öffentlichkeit umstrittenen Bilanzposten problemorientiert nachzufragen und, wenn die Antworten hierauf nicht restlos befriedigen, ggf. stichprobenartig eigene Prüfungshandlungen vorzunehmen, um die erforderliche eigene Urteilsbildung zu fundieren.72 Beispielsweise sollte der Abschlussprüfer in Fällen, in denen die Gesellschaft ganz erhebliche Umsätze mit einem Geschäftspartner erzielt, daraufhin befragt werden, welche Prüfungshandlungen er zur Verifizierung der Forderungen gegen den Schuldner vorgenommen hat. Nachfragen können auch zu erfahrungsgemäß schwierigen und manipulationsanfälligen Teilbereichen der Rechnungslegung veranlasst sein, etwa zu Rückstellungen von besonderer Größenordnung, zur Bilanzierung von Unternehmenstransaktionen, zu latenten Steuern, zu Änderungen der Bilanzierungs- und Bewertungsmethoden usw. Wenn die Antworten des Prüfers auf solche Fragen unbefriedigend ausfallen, muss der Aufsichtsrat selbst aktiv werden. Den Aufsichtsrat erst in die Pflicht zu nehmen, wenn ein Fehler des Abschlussprüfers „offensichtlich“ zu Tage tritt, ist zu großzügig. Der Aufsichtsrat übernimmt mit der Billigung des Abschlusses, die sich an die positive eigene Prüfung anschließt (§ 171 Abs. 2 Satz 4 AktG), eine eigene Mitverantwortung für die Rechnungslegung der Gesellschaft. Er prüft nicht nur, sondern er stellt den Abschluss mit fest (§ 172 AktG). Diese Entscheidung kann sachgerecht nur vor einem soliden Informationshaushalt getroffen werden. Die Mitverantwortung für die Rechnungslegung der Gesellschaft liegt und bleibt trotz positivem Bestätigungsvermerk des Abschlussprüfers beim Aufsichtsrat. Warum so verstandene Eigeninitiativen des Aufsichtsrats „praktisch nicht durchführbar“ sein sollen, wie mitunter

__________ 70 Forster (Fn. 68), S. 71, 76. 71 F.A.Z. v. 3.3.2004, Nr. 53/S. 13: „Die umstrittenen Konzernlenker“. 72 Hennrichs (Fn. 5), S. 881, 888 f.; ähnlich Schulze-Osterloh in Baumbach/Hueck, 18. Aufl. 2006, § 41 GmbHG Rz. 187; ders., ZIP 1998, 2129, 2134; s. auch Prühs, AG 1970, 347, 351 (Stichproben erforderlich).

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gesagt wird,73 ist nicht einsichtig. Zwar ist zuzugeben, dass dem Aufsichtsrat für eine solche eigenverantwortliche Prüfung und Mitverantwortung in der gegenwärtigen Praxis vielfach die Ressourcen fehlen. Auch ist der in der Praxis zur Verfügung stehende Zeitrahmen ambitioniert. Fehlende Ressourcen oder ein enger Zeitrahmen sind aber kein Grund, die gesetzlichen Anforderungen zu verwässern. Im Gegenteil sollte, wie oben unter III. 6. angesprochen, die Ausstattung des Aufsichtsrats den gesetzlichen Anforderungen entsprechen. Und solange der Aufsichtsrat keine fundierte eigene Informationsbasis hat, sollte er die Vorstandsvorlagen nicht verabschieden. bb) Hat der Abschlussprüfer den Bestätigungsvermerk eingeschränkt oder versagt, sind die Anforderungen an die Sorgfaltspflicht des Aufsichtsrats (noch) höher.74 In diesem Fall muss jedes Aufsichtsratsmitglied den Gründen der Einschränkung oder Versagung nachgehen und diese im Plenum mit dem Abschlussprüfer erörtern und ggf. auch die etwaige Gegenposition des Vorstands einholen.75 Teilt der Aufsichtsrat die Beanstandungen des Prüfers, muss er darauf dringen, dass der Vorstand den Abschluss entsprechend ändert; ist dies erfolglos oder sind die Mängel nicht behebbar, darf er dem Abschluss nicht zustimmen.76

__________ 73 Brönner (Fn. 59), § 171 AktG Rz. 6. 74 Kropff (Fn. 4), § 171 AktG Rz. 87. 75 Adler/Düring/Schmaltz (Fn. 68), § 171 AktG Rz. 27; Brönner (Fn. 59), § 171 AktG Rz. 7; Kropff (Fn. 4), § 171 AktG Rz. 87. 76 Kropff (Fn. 4), § 171 AktG Rz. 87.

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Die « association d’avocats à responsabilité professionnelle individuelle » als französisches „Pendant zur LLP“ Vorbild für die Reform des deutschen Personengesellschaftsrechts?

Inhaltsübersicht I. Einleitung – Das deutsche Recht der Personengesellschaften II. Aktuelle Entwicklungen im französischen Anwaltsrecht und auf dem französischen Anwaltsmarkt 1. Aktuelle Reformen des französischen Anwaltsrechts 2. Entwicklungen auf dem französischen Anwaltsmarkt III. Grundlagen der AARPI 1. Die „association“ des französischen Rechts

2. Die AARPI IV. Erkenntnisse für die Reform des deutschen Gesellschaftsrechts 1. Überlegungen zur Neuordnung des französischen Rechts der Anwaltsgesellschaften 2. Kleine Lösung: Spezifische Berufsausübungsgesellschaften für die Freien Berufe 3. Große Lösung: Neue Architektur des deutschen Personengesellschaftsrechts

I. Einleitung – Das deutsche Recht der Personengesellschaften Peter Hommelhoff, der verehrte Jubilar, dem dieser Beitrag in freundschaftlicher Verbundenheit und hoher Wertschätzung gewidmet ist, zählt zu jenen herausragenden Rechtswissenschaftlern, deren Anliegen es ist, über die dogmatische Aufbereitung des geltenden Rechts hinaus rechtspolitische Impulse zu geben, notwendige Reformen anzumahnen und sich dynamisch für ein „besseres“ Recht einzusetzen.1 Zahlreiche gesellschafts- und bilanzrechtliche Reformen sind von ihm initiiert und mitgestaltet worden. Aus der jüngsten Zeit verdient sein unermüdliches Engagement für die SPE Respekt und Anerkennung.2 Eine Herzensangelegenheit ist ihm ferner der Einsatz für die an-

__________ 1 Vgl. stellvertretend für viele rechtspolitisch ausgerichtete Beiträge des Jubilars: Hommelhoff, Corporate Group Law for Europe – the Principles and Proposals of the Forum Europaeum in Neville/Sørensen (Hrsg.), The Internationalisation of Companies and Company Laws, 2001, S. 11 ff. und das Gutachten für den 59. Deutschen Juristentag in Hannover 1992: Empfiehlt es sich, das Recht faktischer Unternehmensverbindungenneu zu regeln?; Hommelhoff, Gutachten zum 59. Deutschen Juristentag,1992. 2 Schon früh dazu Hommelhoff, WM 1997, 2101 sowie ferner Hommelhoff/Helms (Hrsg.), Neue Wege in die Europäische Privatgesellschaft, 2001; Hommelhoff, Die Europäische Privatgesellschaft – Diskussionsstand 2003 und Fortgang, in FS Doralt, 2004, S. 199 ff.; ders., Die Gesetzgebungsinitiative des Europäischen Parlaments zur Europäischen Privatgesellschaft, in FS Priester, 2007, S. 245 ff.; Hommelhoff/Teichmann, Eine GmbH für Europa: Der Vorschlag der EU-Kommission zur Societas Privata

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waltsorientierte Juristenausbildung und generell für die Verbindung von Rechtswissenschaft und Beratungspraxis. Die Juristische Fakultät seiner Heidelberger Heimatuniversität war dank seiner Förderung eines der ersten Zentren der anwaltsorientierten Ausbildung. Um dieser großen Bandbreite seines Wirkens gerecht zu werden, bietet es sich an, ein entsprechend weit gespanntes Thema zu wählen, das Rechtspolitik und anwaltliches Gesellschaftsrecht3 in einem Beitrag miteinander verbindet, der die notwendigen Reformen des anwaltlichen Gesellschaftsrechts aufgreift und zugleich den rechtsvergleichenden Neigungen des Jubilars durch einen Blick auf das französische Gesellschaftsrecht Rechnung trägt. Während das französische Recht der Kapitalgesellschaften in den vergangenen Jahrzehnten permanent an internationale Entwicklungen angepasst wurde, befindet sich das deutsche Recht der Personengesellschaften in einem beklagenswerten Zustand.4 Keine einzige der personengesellschaftsrechtlichen Rechtsformen kann als Vorzeigeobjekt zum Beleg für vorbildliche deutsche Rechtskultur gelten: Weder besteht ein in sich stimmiges Gesamtsystem von Gesellschaftsformen, das den Bedürfnissen der Praxis Rechnung trägt, noch sind die einzelnen personengesellschaftsrechtlichen Rechtsformen überzeugend und praxisgerecht ausgestaltet. Die Flucht in ausländische Rechtsformen ist ausgeprägt, nur in einer im Gesetz lediglich am Rande angesprochenen Mischform, nämlich der GmbH & Co KG, lebt die Personengesellschaft noch für gewerbliche Unternehmen weiter. Das Recht der BGB-Gesellschaft ist eine antiquierte Ruine eines Rechtsgebietes, in dem sich der Rechtsanwender nur bei Kenntnis der umfangreichen Rechtsprechung zurechtfindet, die sich vom Wortlaut des Gesetzes weitgehend gelöst hat. OHG und KG hinken mit der überholten Anknüpfung am Kaufmannsbegriff der Rechtsentwicklung und dem Bedarf der Praxis weit hinterher, wie am Beispiel der Freiberufler-GmbH & Co KG5 jüngst nur allzu deutlich geworden ist. Die Partnerschaft kann im Wettbewerb mit ausländischen Rechtsformen, insbesondere der LLP, nicht bestehen, wie die vermehrte Umwandlung auch nationaler Freiberufsgesellschaften in LLPs englischen Rechts zeigt. Der deutsche Gesetzgeber plant zwar eine Reform der Partnerschaft. Allerdings ist nur eine ganz enge Lösung angedacht im Sinne einer PartG mbH, die den Gesellschaftern nur im Bereich der beruflichen Pflichtverletzungen eine durch

__________

Europaea (SPE), GmbHR 2008, 897 ff.; dies., Auf dem Weg zur Europäischen Privatgesellschaft (SPE), DStR 2008, 925 ff.; Hommelhoff, Unternehmensfinanzierung in der Europäischen Privatgesellschaft (SPE), ZHR 173 (2009), 255 ff.; ders., Zum Formwechsel bei der Europäischen Privatgesellschaft (SPE), in FS Loewenheim, 2009, S. 591 ff.; Hommelhoff/Teichmann, Die SPE vor dem Gipfelsturm – Zum Kompromissvorschlag der schwedischen EU-Ratspräsidentschaft, GmbHR 2010, 337 ff.; Hommelhoff, SPEMitbestimmung: Strukturen, Wertungen und rechtspolitische Kompromisslinien, ZEuP 2011, 7 ff. 3 So hat sich der Jubilar auch schon früh zur Zulässigkeit einer Anwalts-GmbH geäußert vgl. Hommelhoff/Schwab, Wirtschaftsrechtliche Beratung (WiB) 1995, 115 ff. 4 Vgl. bereits Henssler, BB-Special 3/2010, 2 ff. 5 Vgl. BGH, NJW 2011, 3036 ff.; dazu nur K. Schmidt, DB 2011, 2477 ff.; Henssler, NZG 2011, 1121 ff.

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eine erhöhte Haftpflichtversicherung kompensierte Haftungsbeschränkung gewähren soll.6 Angesichts des Stillstands der Gesetzgebung, der sich in vielen Bereichen, insbesondere dem Arbeitsrecht, feststellen lässt, mag man sich pragmatisch mit dem Fazit zufrieden geben: „Besser als gar nichts“. Aus wissenschaftlicher Sicht kann eine solch kleine Lösung indes nicht zufriedenstellen.

II. Aktuelle Entwicklungen im französischen Anwaltsrecht und auf dem französischen Anwaltsmarkt 1. Aktuelle Reformen des französischen Anwaltsrechts Während es dem deutschen Gesetzgeber außerordentlich schwer fällt, längst überfällige Reformen des Gesellschaftsrechts der Freien Berufe voranzutreiben, schreitet die Entwicklung in anderen europäischen Staaten deutlich zügiger voran. Ein Beispiel dafür, wie bestrebt unsere Nachbarländer sind, insbesondere der Anwaltschaft, aber auch anderen Freien Berufen bzw. sogar allen Unternehmern Berufsausübungsformen zur Verfügung zu stellen, die international wettbewerbsfähig sind, bietet neben dem englischen Gesellschaftsrecht das französische Anwaltsrecht. Frankreich ist in vielen Bereichen bemüht, das Recht der Freien Berufe im Allgemeinen und speziell das Anwaltsrecht zukunftsfähig zu gestalten. Verwiesen sei nur auf die Bestrebungen, eine „grande profession du droit“ einzuführen und die zum 1.1.2012 umgesetzte Zusammenführung der Berufe der avocats und avoués (Anwälte bei den Berufungsgerichten).7 Im Bereich des Gesellschaftsrechts ist das komplizierte Geflecht der anwaltlichen Berufsregeln8 mit der Verordnung Nr. 2007-932 vom 15.5.20079 um drei wichtige Neuerungen ergänzt worden: – Zum einen ist das Recht der unserer Sozietät vergleichbaren, allerdings selbst nicht rechtsfähigen « association » dahingehend abgeändert worden, dass nunmehr auch juristische Personen, insbesondere Kapitalgesellschaften, Gesellschafter werden können, sofern sie den Anwaltsberuf ausüben.10 – Zum zweiten ist die ohnehin schon sehr breite Palette der denkbaren Gesellschaftsformen um die association d’avocats à responsabilité professionnelle

__________ 6 Zum Vorschlag des DAV Dahns, NJW-Spezial 2011, 574; Ewer, AnwBl. 2010, 857; Filges, BRAK-Mitt. 2011, 45; Hartung, AnwBl. 2011, 449; Hellwig, NJW 2011, 1557 ff.; Kilian, NJW 2011, 3413, 3414 ff. 7 Loi no 2011-94 du 25 janvier 2011 portant réforme de la représentation devant les cours d’appel, J.O. du 26 janvier 2011; vgl. den Überblick bei Junillon, La Semaine Juridique Edition Générale 2011, 99; zum Gesetzesvorhaben La Semaine Juridique Edition Générale 2008, act. 438; Recueil Dalloz 2008, 2712. 8 Einen Überblick über die verschiedenen anwaltlichen Berufsausübungsgesellschaften des französischen Rechts bietet Henssler, NJW 2010, 1425 ff. 9 Décret no 2007-932 du 15 mai 2007 portant diverses dispositions relatives à la profession d’avocat, J.O. du 16 mai 2007; vgl. dazu den Überblick in La Semaine Juridique Edition Générale 2007, act. 229. 10 Décret no 91-1197 du 27 nov. 1991 organisant la profession d’avocat, J.O. du 28 nov. 1991, Art. 124 Abs. 1.

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individuelle (AARPI) ergänzt worden, eine der angelsächsischen Limited Liability Partnership (LLP) vergleichbare Gesellschaftsform, deren Vorteil in der Beschränkung der beruflichen Haftung der Gesellschafter liegt.11 – Zum Dritten erleichtert das Gesetz die Umstrukturierung von Anwaltsgesellschaften, indem es neue Vorschriften für Fusionen und Spaltungen vorschreibt. So genügt für den Beschluss über eine derartige Neugestaltung eine Mehrheit von 3/4 der Gesellschafter und Stimmrechte.12 2. Entwicklungen auf dem französischen Anwaltsmarkt Ähnlich wie in Deutschland erfreut sich auch in Frankreich die Zusammenarbeit in Anwaltsgesellschaften wachsender Beliebtheit.13 Allein in den letzten 10 Jahren hat sich die Zahl der Zusammenschlüsse von ca. 4.000 auf 6.000 erhöht. Sie verteilen sich auf eine Vielzahl von Rechtsformen, die das französische Recht den Rechtsanwälten zur Verfügung stellt. Nur noch 38 % der französischen Rechtsanwälte üben ihren Beruf allein aus.14 Überlagert wird die gesellschaftsrechtliche Rechtsformwahl durch einen allgemeinen Grundsatz des französischen Rechts, der quasi als konstitutives Prinzip nicht nur für Rechtsanwälte, sondern für alle Freien Berufe angesehen wird: Das Prinzip der individuellen Verantwortlichkeit für die eigenen beruflichen Pflichtverletzungen.15 Das französische Recht ähnelt insoweit dem englischen Recht, das einen vergleichbaren Grundsatz aus dem common law herleitet.16 Auch für die französische Anwaltschaft ist dieser Grundsatz im Berufsrecht an keiner Stelle als allgemeines Prinzip fixiert, lediglich die einzelnen, die verschiedenen Gesellschaftsformen betreffende Gesetze schreiben diese persönliche Haftung fest.17 Obwohl damit auch die Kapitalgesellschaft keine Haftungsvorteile aufweist, die derjenigen in der deutschen Rechtsanwaltsgesellschaft mbH gleichen, konnte sie sich anders als in Deutschland auf dem französischen Anwaltsmarkt gleichwohl durchsetzen. Die unter Anwälten beliebteste Gesellschaftsform ist heute die societé d’exercice libéral à responsabilité limitée (SELARL).18 40 % aller Berufsausübungsgesellschaften entfallen auf diese der deutschen

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11 Loi no 71-1130 du 31 déc. 1971 portant réforme de certaines professions judiciaires et juridiques, J.O. du 5 janv. 1972, Art. 7 Abs. 1; décret no 91-1197, Art. 124 Abs. 5–7. 12 Décret no 92-680 du 20 juill. 1992 pris pour l’application à la profession d’avocat de la loi no 66-879 du 29 nov. 1966 relative aux sociétés civiles professionnelles, J.O. du 22 juill. 1992, Art. 57-5. 13 Hierzu und zum Folgenden Jensen, Cabinet d’avocats, 2011/2012, 111.12 ff.; Caussain, La Semaine Juridique Edition Générale 2010, 611 unter Berufung auf Ministère de la Justice, DACS Pôle d’évaluation de la justice civile, Statistique sur la profession d’avocat (1.1.2009). 14 Jensen, Cabinet d’avocats, 2011/2012, 111.12. 15 Daigre, Revue des sociétés 2008, 725. 16 Dazu Henssler/Mansel, NJW 2007, 1393, 1395 f.; Bank, Die britische Limited Liability Partnership: Eine attraktive Organisationsform für Freiberufler?, 2006, S. 110 ff. 17 Vgl. dazu die Nachweise bei Daigre, Revue des sociétés 2008, 725 in Fn. 17. 18 Caussain, La Semaine Juridique Edition Générale 2010, 611.

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Die « association d’avocats à responsabilité professionnelle individuelle »

Anwalts-GmbH vergleichbare Rechtsform, die auch als Einmanngesellschaft gegründet werden kann und dann als societé d’exercice libéral unipersonelle à responsabilité limitée (SELURL) auftritt. Wie alle Formen der SEL ist auch sie durch ein Modell der Haftungsbeschränkung gekennzeichnet, das allerdings aufgrund der geschilderten freiberuflichen Besonderheiten nicht die eigenen berufsbezogenen Pflichtverletzungen umfasst. Bei ihnen haftet die Gesellschaft neben dem Handelnden mit dem gesamten Gesellschaftsvermögen. Die übrigen Gesellschafter haften dagegen nur mit ihrer Einlage. Ein Mindesteigenkapital ist nicht erforderlich, statt Kapitaleinlagen können die Gesellschafter auch ihre Arbeitsleistung als Beitrag einbringen („apport en industrie“). Die Jahresabschlüsse der Gesellschaft unterliegen – so wie bei den meisten Gesellschaftsformen mit Ausnahme insbesondere der SA und SCA – erst bei Überschreitung bestimmter Schwellen der Prüfung durch einen „commissaire aux comptes“. Steuerrechtlich steht nur der SELURL ein uneingeschränktes Wahlrecht zwischen transparenter Besteuerung und Besteuerung der Gesellschaft zu, während bei den SELARL lediglich kleine Unternehmen die Option haben, für eine „Startphase“ von fünf Jahren wie eine Personengesellschaft besteuert zu werden.19 Dicht auf den Fersen folgt der SELARL auf der anwaltlichen Beliebtheitsskala die Societé Civile Professionelle (SCP) mit knapp 40 %. Ungeachtet ihrer Verbreitung war die Ausgestaltung der SCP, die der deutschen Sozietät zwar ähnlich, allerdings als juristische Person ausgestaltet ist und einer Registereintragung bedarf, in den letzten Jahren vermehrt in die Kritik geraten.20 Daraufhin hat der französische Gesetzgeber 2011 in einigen Punkten nachgebessert21 durch Lockerung der Vorgaben zur Namensgebung, Rückführung der gesamtschuldnerischen Haftung für Gesellschaftsschulden auf eine anteilige Haftung (entsprechend dem allgemeinen Grundsatz bei der französischen Personengesellschaft) und Erleichterung gesellschaftsvertraglicher Abfindungsklauseln. An dritter Stelle folgen die noch näher zu erläuternden associations mit gut 10 %. Alle weiteren Gesellschaftsformen spielen eine eher untergeordnete Rolle. Überraschenderweise betrifft dies auch die Aktiengesellschaften, deren Zahl sogar signifikant zurückgegangen ist. Das französische Anwaltsrecht kennt seit längerem die Möglichkeit einer société d’exercice libéral à forme anonyme (SELAFA). In den letzten 10 Jahren ist die Zahl dieser Gesellschaften von 246 auf 136 zum 1.1.2009 geschrumpft. An dem für diese Rechtsform geltenden Mindesteigenkapital von 37.000 Euro wird es kaum gelegen haben. Aber auch die attraktivere société d’exercice libéral par actions simplifiée (SELAS) ver-

__________ 19 Code général des impôts, Art. 206 Nr. 3 lit. e i. V. m. Art. 239 (SELURL); Art. 239 bis AB (SELARL). 20 Vgl. Caussain, La Semaine Juridique Edition Générale 2010, 611. 21 Loi no 2011-331 du 28 mars 2011 de modernisation des professions judiciaires ou juridiques et certaines professions réglementées, J.O. du 29 mars 2011; dazu Daigre, Revue des sociétés 2011, 543; Hovasse, Droit des sociétés 2011, comm. 108; Lucas, Bulletin Joly Sociétés 2011, § 223.

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zeichnet nur beschränkte Zuwächse. Sie vereinigt auf sich die Vorteile einer größeren Vertragsfreiheit, den Verzicht auf ein Mindesteigenkapital, die Möglichkeit Aktien mit unterschiedlichen Stimmrechten zu schaffen und (zeitlich beschränkt wie bei der SELARL) eine Besteuerung als Personengesellschaft zu wählen. Die Haftung ist grundsätzlich auf das Gesellschaftsvermögen begrenzt, allerdings haftet jeder Anwalt auch hier für seine eigenen beruflichen Pflichtverletzungen. Bemerkenswert erscheint, dass auch in Frankreich die LLP seit 2008 bekannt ist und an Boden gewinnt.

III. Grundlagen der AARPI 1. Die „association“ des französischen Rechts Die hier näher vorzustellende AARPI basiert auf der Grundform der „association d’avocats“. Das französische Verbandsrecht kennt eine Unterteilung in zwei Grundformen, die „association“ und die „société“. Der wesentliche Unterschied zwischen beiden Verbandsmodellen betrifft die Gewinnerzielungsabsicht. Während die Gesellschafter einer société die Absicht verfolgen, die erwirtschafteten Gewinne untereinander aufzuteilen, steht bei der – am ehesten dem deutschen Verein vergleichbaren – association die Gewinnerzielungsabsicht zumindest nicht im Vordergrund. Sie wird gesetzlich gekennzeichnet als „formée dans un but autre que de partager des bénéfices“ und verfolgt damit ideelle, nicht kommerzielle Zwecke.22 So sind etwa die in Deutschland als e.V. organisierten Arbeitgeberverbände in Frankreich als associations ausgestaltet.23 Das Recht der schon 1901 eingeführten association hat in den vergangenen 110 Jahren kaum gesetzliche Änderungen erfahren. Allerdings haben sich in der Praxis die beiden Grundformen der association und société aneinander angenähert, so dass die Unterscheidung an Trennschärfe verloren hat. Maßgeblich dazu beigetragen hat die Rechtsprechung, die es recht großzügig akzeptiert hat, dass von einer association auch kommerzielle Tätigkeiten ausgeübt werden.24 Vor dem Hintergrund dieser vereinsähnlichen Struktur der association ist es auf den ersten Blick etwas überraschend, dass die „association d’avocats“ die Urform anwaltlicher Berufsausübungsgesellschaften bildet, die bereits seit 1954 den Anwälten zur Verfügung gestellt wird. Erklärbar erscheint dies angesichts der in Kontinentaleuropa im letzten Jahrhundert lange Zeit vorherrschenden Auffassung, nach der allein die Praxis als Einzelanwalt die dem Anwaltsberuf angemessene Form der Berufsausübung ist und allenfalls ein lockerer Zusammenschluss mehrerer Berufsträger der persönlichen Verantwortlichkeit und Vertrauensstellung des Anwaltes gerecht wird. Bei der „association d’avocats“

__________ 22 Loi du 1er juill. 1901 relative au contrat d’association, Art. 1; zu Einzelheiten Cozian/ Viandier/Deboissy, Droit des sociétés, 24. Aufl. 2011, S. 31 ff. 23 Die Gewerkschaften haben dagegen eine eigene Rechtsform, die noch älter ist als die 1901 eingeführte association. 24 Vgl. Cass. com. v. 17.3.1981, Revue des sociétés 1982, 124; zum Ganzen Cozian/ Viandier/Deboissy (Fn. 22), S. 33.

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handelt es sich um eine anwaltsrechtliche Besonderheit, denn die association steht – anders als sonstige Gesellschaftsformen, etwa die société en participation d’exercice libéral (SEPEL)25 – den Angehörigen der anderen Freien Berufe nicht offen, sondern nur den Rechtsanwälten.26 Bei den anderen Freien Berufen nimmt ihre Funktion die SEPEL ein, deren Regelungen für das Ausscheiden von Gesellschaftern allerdings von denjenigen der association abweichen.27 Die société en participation dient zwar der gemeinsamen Berufsausübung, sie übt den jeweiligen Beruf indes nicht selbst aus und verfügt auch über kein eigenes Gesellschaftsvermögen. Die association ist mangels Registereintragung keine juristische Person28 und kann zudem vor Gericht weder klagen noch verklagt werden. Die Gesellschafter haften grundsätzlich nicht nur für die eigenen Pflichtverletzungen, sondern auch für diejenigen, die von anderen Gesellschaftern im Rahmen der Bearbeitung der Mandate der association begangen wurden.29 Vor dem Hintergrund dieser Unstimmigkeiten und Systembrüche stellt sich heute die Frage, ob die „association d’avocats“ ungeachtet ihrer formalen Bezeichnung überhaupt als „association“ im Sinne des Gesetzes von 1901 qualifiziert werden kann. Tatsächlich wird im jüngeren französischen Schrifttum eine Einordnung als „association“ i. S. des Vereinsrechts so gut wie gar nicht mehr vertreten. Behauptungen in diese Richtung finden sich praktisch nur bei ausländischen Beobachtern, insbesondere deutschen Rechtsvergleichern,30 die sich bei ihren rechtsvergleichenden Betrachtungen möglicherweise zu stark von der Bezeichnung beeinflussen lassen. Von Stimmen aus der französischen Literatur wird die Benennung als „association“ darauf zurückgeführt, dass bei Einführung dieser Kooperationsform im Code de Commerce die spätere „société en participation“ (SEP) noch als „association en participation“ bezeichnet wurde.31 Während im französischen Gesellschaftsrecht die sprachliche Angleichung vollzogen wurde, hat das anwaltliche Berufsrecht die antiquierte Bezeichnung beibehalten.

__________ 25 Die société en participation ist eine einfache Gesellschaftsform ohne Rechtspersönlichkeit, die keiner Registereintragung bedarf (Art. 1871 ff. des Code civil). Ihre Spezialausprägung für Freiberufler nennt sich „société en participation d’exercice libéral“ (SEPEL) und wurde im Zuge der Einführung der freiberuflichen Kapitalgesellschaften einer eher rudimentären Regelung zugeführt (loi no 90-1258 du 31 déc. 1990 relative à l’exercice sous forme de sociétés des professions libérales soumises à un statut législatif ou réglementaire ou dont le titre est protégé et aux sociétés de participations financières de professions libérales, J.O. du 5 janv. 1991, Art. 22 f.). Zu den Freien Berufen, die diese Gesellschaftsform wählen können, Groupe Revue Fiduciaire (Hrsg.), Professions libérales, 6. Aufl. 2010, S. 769. 26 Professions libérales (Fn. 25), S. 541. 27 Professions libérales (Fn. 25), S. 769. 28 Ausführliche Begründung bei Daigre, La Semaine Juridique Entreprise et Affaires 1997, 671. 29 Décret no 91-1197, Art. 124 Abs. 2 und 3. 30 Niessen, Frankreichs Anwaltschaft, 1994, S. 130 f.; Siems, ZVglRWiss 2008, 60, 71 f. (Fn. 52). 31 Daigre, La Semaine Juridique Entreprise et Affaires 1997, 671.

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Gegen eine Qualifikation als „normale“ association spricht eindeutig der Verbandszweck, der auf gemeinsame Gewinnerzielung gerichtet ist. Die bei der „association d’avocats“ zu beobachtenden Parallelen zum Vereinsrecht, insbesondere die Besonderheiten, dass es bei ihr weder eine Anteilsabtretung noch einen Abfindungsanspruch des ausscheidenden Gesellschafters gibt, deuten zwar in eine andere Richtung. Sie dürften aber eher zufälliger Natur sein. In Frankreich ging man lange Zeit von einer „société créée de fait“ i. S. des Art. 1873 Code civil aus.32 Mit dieser Bezeichnung werden Konstellationen umschrieben, bei denen objektiv die Voraussetzungen eines Gesellschaftsvertrags gegeben sind (Beiträge, Absicht der Gewinn-/Verlustverteilung, „affectio societatis“), die Parteien sich jedoch nicht bewusst sind, eine Gesellschaft zu gründen. Aus deutscher Sicht erscheint diese Rechtsfigur etwas kurios, da ein Gesellschaftsvertrag ja auch konkludent und ohne Bewusstsein der rechtlichen Qualifikation geschlossen werden kann. Eine unmittelbare gesellschaftsrechtliche Einordnung als SEP wurde in der Gesellschaftsrechtswissenschaft zunächst vor allem deshalb abgelehnt, weil der Gesetzgeber 1991 mit der SEPEL eine spezielle Unterform für Freiberufler geschaffen hatte, der man für alle Freien Berufe abschließenden Charakter zubilligte.33 Mittlerweile beginnt sich aber die Ansicht durchzusetzen, dass es sich bei der „association d’avocats“ doch um eine weitere spezielle Ausprägung der SEP handelt, die neben die SEPEL tritt.34 Im Ergebnis dürfte es sich um eine reine Konstruktionskontroverse handeln, da auf die „société créée de fait“ nach Art. 1873 des Code civil die Regeln über die SEP anwendbar sind. Letztlich erscheint es damit überzeugender, die „association d’avocats“ entgegen dem Wortlaut generell als Gesellschaft im Sinne einer „société“ einzuordnen, eine Qualifikation, die durch die noch zu schildernde Neufassung von Art. 124 des Dekrets im Zuge der Einführung der AARPI bestätigt wird. Anderenfalls sieht man sich mit der systematisch kaum vertretbaren Besonderheit konfrontiert, die „association d’avocats“ als vereinsrechtliche Rechtsform, ihre bloße Unterform der AARPI dagegen als „société“ zu behandeln. Die Rechtsform der „association d’avocats“ hat in der Praxis an Bedeutung verloren, seit 1966 die unserer Sozietät vergleichbare, selbst rechtsfähige société civile professionelle35 eingeführt und erst recht seit 1990 verschiedene Formen von Anwaltskapitalgesellschaften36 zugelassen wurden. Gleichwohl hat sie bis in die jüngste Zeit vehemente Befürworter, weil nur sie die Möglichkeit für eine sehr flexible gemeinsame Berufsausübung mit einem Minimum an Bindungen bietet. Auch die Commission Darrois37 hat sich für ihre Beibehaltung ausgesprochen.38 Die association d’avocats weist unter anderem den Vorteil

__________ 32 Nachweise bei Moog, Anwaltsgesellschaften in Deutschland und Frankreich, 2000, S. 64. 33 Daigre, La Semaine Juridique Entreprise et Affaires 1997, 671. 34 Daigre, Revue des sociétés 2008, 725; Massart, Droit et Patrimoine 2010, no 198, 76. 35 Eingehend dazu Professions libérales (Fn. 25), S. 612 ff. 36 Dazu Henssler, NJW 2010, 1425 ff.; eingehend Professions libérales (Fn. 25), S. 724 ff. 37 Rapport „Darrois“ sur les professions du droit v. 8.4.2009; dazu Jensen (Fn. 14), 011.52. 38 Rapport „Darrois“ (Fn. 37), S. 146 ff.; dazu Jensen (Fn. 14), 111.21.

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auf, dass sich an ihr auch juristische Personen, namentlich die SCP und die SEL, beteiligen können.39 Diese Möglichkeit besteht bei einer société en participation nicht, die zudem ausnahmslos eine unbeschränkte und persönliche (allerdings seit 2011 wie bei der SCP nur noch anteilige) Haftung für Gesellschaftsverbindlichkeiten kennt. Als wesentlicher Vorzug wird häufig der sehr einfache Ein- und Austritt genannt,40 weil es weder des Kaufs eines Anteils durch den Eintretenden noch eines Rückkaufs des Gesellschaftsanteils des Austretenden durch die Gesellschaft bedarf.41 Insbesondere für junge Anwältinnen und Anwälte, die weder langfristige Bindungen eingehen noch sich teuer in eine Gesellschaft einkaufen möchten, erscheint diese Form der Berufsausübung reizvoll. Insoweit ähnelt die association damit tatsächlich dem deutschen Verein.42 Schließlich gibt es keine Vorgaben für die Gestaltung des Gesellschaftsvertrages. Zusammenfassend lässt sich aus rechtsvergleichender Perspektive festhalten: Die association ist, da sie der gemeinsamen Berufsausübung dient und auch zu einer Haftung für die Pflichtverletzungen der Mitgesellschafter führt, mehr als eine reine Bürogemeinschaft. Die letztgenannte ist dem französischen Recht ebenfalls als société civile de moyens bekannt.43 Haftungsrechtlich ähnelt sie vielmehr der Sozietät. In gesellschaftsrechtlicher Hinsicht kann sie dagegen hinsichtlich des Ein- und Austritts der Gesellschafter am ehesten mit einem eingetragenen Verein verglichen werden. 2. Die AARPI Der französische Gesetzgeber hat – wie eingangs erwähnt – 2007 die Attraktivität der gemeinschaftlichen Berufsausübung in einer associaton deutlich erhöht, indem er einige Besonderheiten unter der Bezeichnung „AARPI“ eingeführt hat. Hierbei handelt es sich nicht um eine selbständige Rechtsform, sondern um gewisse Erleichterungen für die „association“, wie sie der deutsche Gesetzgeber in ähnlicher Form mit der UG als unselbständiger Ausgestaltung der GmbH eingeführt hat. Sie wird in der französischen Literatur recht miss-

__________ 39 Décret no 91-1197, Art. 124 Abs. 1. 40 Jensen (Fn. 14), 111.21; Massart, Droit et Patrimoine 2010, no 198, 76, 81. 41 Dies wird darauf zurückgeführt, dass die einzelnen Anwälte trotz Gründung der „association“ ihre eigene Klientel behalten. Die Gesellschaft als solche hat mangels Rechtspersönlichkeit kein eigenes Vermögen, so dass eine Übertragung der Klientel auf sie nicht möglich ist. Außerdem ist dadurch, dass das Gesetz eine Übertragung von Gesellschaftsanteilen ausschließt, gleichzeitig auch eine Abfindungszahlung beim Ausscheiden ausgeschlossen, da im französischen Recht die Abfindung formal über den „Rückkauf“ des Anteils durch die Gesellschaft gegen Entgelt gewährleistet wird. Zum Ganzen Massart, Droit et Patrimoine 2010, no 198, 76, 80 f. 42 Auch dort ist ein Austritt jederzeit möglich (§ 39 BGB) und es besteht nach dem Gesetz kein Abfindungsanspruch des Ausscheidenden, vgl. Schöpflin in Bamberger/Roth, Beck’scher Online-Kommentar BGB, 21. Aufl. 2011, § 38 BGB Rz. 20. 43 Loi no 66-879 relative aux sociétés civiles professionnelles, J.O. du 30 nov. 1966, Art. 36; dazu Professions libérales (Fn. 25), S. 555 ff.

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verständlich als Pendant zur angelsächsischen LLP eingestuft.44 Tatsächlich war der Anlass zu ihrer Einführung das Bestreben, den französischen Anwälten und den in Frankreich tätigen ausländischen Anwälten eine Rechtsform an die Hand zu geben, welche vergleichbare Vorteile wie die englische LLP aufweist.45 Dogmatisch betrachtet ähnelt sie freilich weder der LLP noch der deutschen PartG, obwohl sie zu dieser noch stärkere Parallelen aufweist als zur LLP. Zunächst ist die association auch in der Form der AARPI weder eine juristische Person (personne morale) noch sonst selbst rechtsfähig, während die LLP englischen Rechts als „body corporate“ über eine eigene Rechtsfähigkeit verfügt. Der französische Gesetzgeber hat sich damit begnügt, in Art. 124 des Décret vom 27.11.1991 einen Absatz 5 zu einzufügen, der vorsieht, dass in den Gesellschaftsvertrag durch einstimmige Entscheidung der Gesellschafter eine Bestimmung aufgenommen werden kann, derzufolge die berufliche Verantwortlichkeit eines der Gesellschafter nicht zur Mithaftung der übrigen Gesellschafter führt. Diese im Innenverhältnis der Gesellschafter vertraglich vereinbarte Haftungsbeschränkung kann – und hierin liegt die Besonderheit – auch Dritten entgegengehalten werden, wenn bestimmte Publizitätsanforderungen erfüllt sind.46 Die Haftungsbeschränkung muss zunächst durch ausdrücklichen und einstimmigen Gesellschafterbeschluss vereinbart werden. Sie muss ferner dem Präsidenten (bâtonnier) der zuständigen Rechtsanwaltskammer angezeigt sowie im zuständigen Journal veröffentlicht werden und schließlich muss die Gesellschaft im Geschäftsverkehr als association d’avocats à responsabilité professionnelle individuelle oder unter der Kurzform AARPI auftreten und auf diese Rechtsform auch auf Briefbögen und Kanzleischildern hinweisen. Einfache associations treten demgegenüber weiterhin schlicht als „associations d’avocats“ auf. Im gesellschaftsrechtlichen Schrifttum47 ist darauf hingewiesen worden, dass der Gesetzgeber anlässlich des Gesetzgebungsverfahrens erstmalig klargestellt habe, dass in der association ein Gesellschafter für alle Handlungen, die einer der Gesellschafter im Namen der association vornimmt, verantwortlich ist und zwar entsprechend seinem Anteil an der Gesellschaft.48 Der entsprechende Grundsatz findet sich in Art. 1872-1 des Code civil. Da die AARPI die Teilung der gemeinsam erwirtschafteten Gewinne erlaubt, lässt sich eine solche association von einer société nicht mehr unterscheiden. Damit bestätigen sich die Überlegungen, die bereits allgemein zur Rechtsnatur der association angestellt wurden. Genau genommen handelt es sich damit gar nicht mehr um eine association, sondern um eine société en participation.49 Die Bezeichnung als

__________ 44 Ader/Damien, Règles de la profession d’avocat, 13. Aufl. 2010, 52.11; Caussain, La Semaine Juridique Entreprise et Affaires 2007, 1955; Jensen (Fn. 14), 111.21; kritisch dagegen der rapport „Darrois“ (Fn. 37), S. 38. 45 Daigre, Revue des sociétés 2008, 725; Garnerie, Droit et Patrimoine 2007, no 161, 6. 46 Décret no 91-1197, Art. 124 Abs. 6; die Formalitäten sind in den Art. 124-1 bis 126 geregelt. 47 Daigre, Revue des sociétés 2008, 725. 48 Décret no 91-1197, Art. 124 Abs. 2, geändert durch décret no 2007-932, Art. 6. 49 Auf die Ähnlichkeit weist auch hin: Professions libérales (Fn. 25), S. 769.

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association ist, wie auch im französischen Schrifttum50 hervorgehoben wird, irreführend. Zur Beliebtheit der AARPI hat sicherlich beigetragen, dass 200951 die Möglichkeit einer steuerneutralen Umwandlung einer SCP in eine association und ihre anschließende Ausgestaltung als AARPI eröffnet wurde.52 Aus steuerrechtlicher Sicht besteht ein ebenfalls vorteilhaftes Wahlrecht zwischen einer Besteuerung als Personengesellschaft (transparente Besteuerung) und einer Besteuerung der Gesellschaft selbst.53 Anders als in den Fällen der deutschen PartG oder der englischen bzw. USamerikanischen LLP ist mit der AARPI also keine neue Gesellschaftsform geschaffen worden. Vielmehr handelt es sich nur um die atypische Anerkennung einer gesellschaftsvertraglichen Haftungsbeschränkung, die unter bestimmten Voraussetzungen auch im Außenverhältnis zu Dritten Wirkungen entfaltet. Damit ähnelt die Gesellschaft der GbR mit beschränkter Haftung, die der BGH auf der Grundlage der Theorie der Doppelverpflichtung für kurze Zeit anerkannt hatte,54 bis er dieser Konstruktion auf der Grundlage der Akzessorietätstheorie wieder den Boden entzog.55 Im Grunde bestätigt der französische Gesetzgeber damit die aktuelle Rechtsprechung des 2. Senates des BGH. Eine derart grundlegende Neuerung sollte in der Tat nur durch den Gesetzgeber auf einer klaren Publizitätsgrundlage eingeführt werden. Hervorzuheben ist, dass der Haftungsvorteil ebenso wie bei der PartG nur den berufsrechtlichen Bereich, nicht also die allgemeinen Gesellschaftsschulden betrifft, die aus Darlehen, Arbeits- oder Mietverträgen resultieren. Auch insoweit unterscheidet sich die AARPI von der LLP englischer Prägung, die einen umfassenden Haftungsvorteil bietet. Die Haftung ist in der LLP ebenso wie in der Kapitalgesellschaft auf das Gesellschaftsvermögen beschränkt. Nur aus der allgemeinen deliktischen Berufshaftung ergibt sich die Haftung des handelnden Rechtsanwaltes.

__________ 50 Daigre, Revue des sociétés 2008, 725; ebenso Caussain, La Semaine Juridique Entreprise et Affaires 2007, 1955; Cozian/Viandier/Deboissy (Fn. 22), S. 35; Massart, Droit et Patrimoine 2010, no 198, 76. 51 Loi no 2008-1425 du 27 déc. 2008 de finances pour 2009, J.O. du 28 déc. 2008, Art. 31; décret no 2009-336 du 26 mars 2009, J.O. du 28 mars 2009. 52 Dazu Caussain, La Semaine Juridique Entreprise et Affaires 2009, 1439; Demaison, Revue Lamy Droit des Affaires 2009, no 36 S. 93 ff. 53 Code général des impôts, Art. 238 bis LA i. V. m. Art. 206 Nr. 3 lit. e, 239; dazu Jensen (Fn. 14), 111.22. 54 BGHZ 61, 59, 67; 113, 216, 219. 55 BGHZ 142, 315, 320 ff.

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IV. Erkenntnisse für die Reform des deutschen Gesellschaftsrechts 1. Überlegungen zur Neuordnung des französischen Rechts der Anwaltsgesellschaften Aufgrund der europaweiten Rechtsformwahlfreiheit, die auf der Grundlage der Entscheidungen des EuGH in den Sachen Inspire Art56, Centros57 und Überseering58 anerkannt ist, könnten deutsche Rechtsanwaltsgesellschaften theoretisch auch die AARPI als Berufsausübungsform wählen. Anlass dazu besteht freilich kaum. Mit der PartG steht den deutschen Rechtsanwälten eine Gesellschaftsform zur Verfügung, die zumindest aus haftungsrechtlicher Sicht die gleichen Vorteile auf der Grundlage einer in Deutschland bereits etablierten Rechtsform bietet. Die Lehren, die aus dem Blick auf das französische Recht für die künftige Entwicklung des deutschen Rechts der Freiberuflergesellschaften gezogen werden können, sind damit begrenzt. Auffällig ist, dass die geschilderte Rechtsformvielfalt, die das französische Recht kennzeichnet, von den Berufsträgern in unserem Nachbarland eher als verwirrend empfunden wird. Interessanter erscheint damit ein Blick auf die aktuelle Reformdiskussion, die in Frankreich geführt wird. Allgemein wird in Frankreich der Wunsch nach einer Vereinfachung des unübersichtlichen Rechts der Berufsausübungsgesellschaften geäußert. Übrig bleiben sollten nach einem Reformvorschlag nur noch die 2011 reformierte SCP, die SELAS, die SELARL und die AARPI. Dagegen sollten die SELAFA, die SELCA (= societé d’exercice libéral en commandite par actions, entspricht der KGaA) und die SEPEL (societé en participation d’avocats, s. o.) aufgegeben werden.59 Es ist zu wünschen, dass diese Reformüberlegungen – und vergleichbare Erwägungen in anderen Ländern wie dem Vereinigten Königreich – auch in Deutschland eine Diskussion um die Neuordnung des Gesellschaftsrechts der Freien Berufe im Speziellen und der unternehmenstragenden Gesellschaften im Allgemeinen auslösen. Für eine Neuordnung stehen grundsätzlich zwei Wege zur Verfügung, zum einen eine auf die Freien Berufe beschränkte (kleine) Lösung und zum anderen eine große Lösung, die das Recht der unternehmenstragenden Personengesellschaften insgesamt auf eine neue Grundlage stellt. 2. Kleine Lösung: Spezifische Berufsausübungsgesellschaften für die Freien Berufe Das französische Gesellschaftsrecht hat sich, wie die vorstehende Darstellung gezeigt hat, für die Einführung spezifischer Freiberufsgesellschaften entschieden. Akzeptiert man diese Prämisse und konzentriert man sich in einem ers-

__________ 56 57 58 59

EuGH, Slg. 2003 I-10155 = NJW 2003, 3331 – Inspire Art. EuGH, Slg. 1999 I-1459 = NJW 1999, 2027 – Centros. EuGH, Slg. 2002 I-9919 = NJW 2002, 3614 – Überseering. Ader/Damien (Fn. 44), 52.07; Caussain, La Semaine Juridique Entreprise et Affaires 2010, 611.

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ten Schritt zunächst auf den Blickwinkel der Freien Berufe, so lässt sich ein Bedarf nach vier jeweils uneingeschränkt rechtsfähigen Rechtsformen für Berufsausübungsgesellschaften feststellen. Zur Verfügung gestellt werden sollten in einem aufeinander abgestimmten System von berufsrechtlichen und gesellschaftsrechtlichen Regelungen: 1. Eine reformierte GbR, die eine gesamtschuldnerische Haftung für alle Gesellschaftsschulden kennt. 2. Eine reformierte PartG, die im Grundsatz eine Haftungsbeschränkung auf das Gesellschaftsvermögen kennt, aber eine reine Handelndenhaftung für die eigenen Pflichtverletzungen im beruflichen Bereich vorsieht. 3. Eine neue Form der Personengesellschaft, für die eine umfassende Begrenzung der Haftung auf das Gesellschaftsvermögen gesellschaftsrechtlich angeordnet wird, und die für alle Freien Berufe mit einer Berufshaftpflichtversicherung verbunden ist. 4. Die Berufsausübung in der Kapitalgesellschaft, und zwar mit parallel ausgestalteten berufsrechtlichen Sondervorschriften für die GmbH, AG, KGaA und alle vergleichbaren ausländischen Kapitalgesellschaften. Für eine klassische KG mit der unbeschränkten Haftung eines Komplementärs, die unabhängig von dessen Mitwirkung an dem konkreten Auftrag greift, ist aus freiberuflicher Sicht kein dringender Bedarf zu erkennen. Gleichwohl lässt sich im Sinne einer Abrundung daran denken, die KG für solche Fälle zur Verfügung zu stellen, in denen ein Seniorpartner einer Berufsausübungsgesellschaft, der weiterhin persönlich die Verantwortung gegenüber seinen Mandanten/Klienten tragen will, zugleich jüngere Berufsträger durch Kommanditeinlagen an die Gesellschaft binden möchte, ohne diese zugleich dem Haftungsrisiko auszusetzen. An Bedeutung gewinnen könnte die Rechtsform der KG dann, wenn sich der deutsche Gesetzgeber für eine (behutsame) Öffnung für reine Kapitalbeteiligungen von nicht aktiv mitarbeitenden oder sogar berufsfremden Gesellschaftern entscheidet.60 Vorbilder hierfür gibt es im englischen Recht mit den nunmehr zugelassenen „alternative business structures“61 und auch die französischen SEL erlauben in engem Umfang Kapitalbeteiligungen. Man mag darüber streiten, ob es sinnvoll ist, in Übereinstimmung mit dem französischen Recht die berufsrechtlichen Besonderheiten im Rahmen des Gesellschaftsrechts mit abzuhandeln. Meines Erachtens wäre dies nur dann sachgerecht, wenn es für alle Freien Berufe identische Sonderregeln gäbe. Das PartG geht von dieser Prämisse aus, indem es etwa für den beruflichen Bereich einen Zwang zur Beteiligung aller Gesellschafter an der Geschäftsführung anordnet. Tatsächlich aber ist die Gruppe der Freien Berufe derart heterogen, dass sich gemeinsame gesellschaftsrechtlich relevante Besonderheiten kaum analysieren lassen. Die Bandbreite der Freien Berufe reicht von den verkammerten

__________ 60 Dazu Henssler, BRAK-Mitt. 2007, 186 ff.; Hartung, AnwBl. 2009, 704 ff.; Römermann, AnwBl. 2009, 681, 684 ff. 61 Dazu de Paoli, AnwBl. 2009, 419 f.; Kilian/Lemke, AnwBl. 2011, 800, 804 ff.

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Berufen, die strengen öffentlich-rechtlichen Berufspflichten und einer sogar strafrechtlich sanktionierten Verschwiegenheitspflicht (§ 203 StGB) unterworfen sind über moderat reglementierte Berufe bis hin zu Berufsgruppen, die völlig unreglementiert geblieben sind und die dementsprechend auch keinen Zwang zum Abschluss einer Berufshaftpflichtversicherung kennen. Der Blick auf das französische Recht spricht angesichts der geschilderten Besonderheiten für anwaltliche Berufsausübungsgesellschaften ebenfalls eher gegen die Verortung freiberuflicher Besonderheiten im Gesellschaftsrecht. Betrachtet man einerseits die schwächer werdenden Unterschiede zwischen Freiem Beruf und Gewerbe und andererseits das verbindende Element der unternehmerischen Tätigkeit, so erscheinen heute gesellschaftsrechtliche Unterschiede, die an der traditionellen Unterscheidung anknüpfen, überholt.62 Zwar bedarf die gesellschaftsrechtliche Haftungsbeschränkung einer Kompensation durch einen – eventuell erhöhten – Versicherungsschutz im Bereich der beruflichen Tätigkeit. Die Höhe dieses Versicherungsschutzes kann indes nur berufsbezogen geregelt werden. De lege ferenda sollten damit in allen Berufsgesetzen gesetzliche Regeln verankert werden, die im Sinne eines allgemeinen Teils rechtsformneutrale Vorgaben für sämtliche Berufsausübungsgesellschaften enthalten (etwa Anforderungen an den Gesellschafterkreis) und in einem besonderen Teil Sonderregeln für Gesellschaften, über die eine Beschränkung der Haftung für Berufsfehler erreicht werden kann. Bedeutsam wird insbesondere eine Pflicht zum Abschluss einer erhöhten Berufshaftpflichtversicherung sein. Weitere rechtsformbezogene Sonderregeln bieten sich für Gesellschaften an, bei denen sich eigenständige berufsrechtliche Probleme ergeben, wie dies bei der AG mit Blick auf die Besetzung des Aufsichtsrates der Fall ist. 3. Große Lösung: Neue Architektur des deutschen Personengesellschaftsrechts Parallel zu dieser aus dem Blickwinkel der Freien Berufe entwickelten Neuordnung des Rechts der Berufsausübungsgesellschaften stellt sich die dogmatisch noch spannendere Frage nach einer völlig neuen Architektur des deutschen Personengesellschaftsrechts. Die Prämisse sollte insoweit sein, dass im Grundsatz allen (gewerblichen und freiberuflichen) Unternehmern dieselben Rechtsformen zur Verfügung gestellt werden sollten und dass den schutzwürdigen Interessen der Auftraggeber bei bestimmten Unternehmensgegenständen gegebenenfalls durch eine Versicherungslösung Rechnung getragen werden kann. Aus der Sicht der Praxis lässt sich ein Bedarf nach vier Grundformen von Personengesellschaften bzw. personalistisch strukturierten Hybridgesellschaften definieren. Zur Verfügung gestellt werden sollten:

__________ 62 Henssler, AnwBl. 2008, 721, 725 f.

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1. Eine reformierte Grundform der unternehmenstragenden Personengesellschaft, die eine gesamtschuldnerische Haftung für alle Gesellschaftsschulden kennt (Unternehmenspersonengesellschaft63 oder Offene Gesellschaft). 2. Eine reformierte PartG, die im Grundsatz eine Haftungsbeschränkung auf das Gesellschaftsvermögen kennt, aber eine reine Handelndenhaftung für die aktiv mitarbeitenden Unternehmer für ihre eigenen Pflichtverletzungen vorsieht (Partnerschaftsgesellschaft). Diese Gesellschaft sollte für sämtliche unternehmerischen Zwecke, insbesondere auch für nicht freiberufliche Dienstleistungen geöffnet werden. 3. Eine reformierte KG, die ebenfalls allen Unternehmern zur Verfügung steht (Kommanditgesellschaft). Auch wenn der Bedarf der Freien Berufe derzeit eher gering ausgeprägt ist,64 bietet sich aus Gründen der Gleichbehandlung eine Öffnung für alle unternehmerischen Tätigkeiten an. 4. Eine neue Form einer Hybridgesellschaft, die an die englische LLP angelehnt ist. Für sie sollte eine umfassende Begrenzung der Haftung auf das Gesellschaftsvermögen gesellschaftsrechtlich gelten, steuerrechtlich sollte sie dagegen wie eine Personengesellschaft behandelt werden, somit einer transparenten Besteuerung unterliegen (Unternehmenspersonengesellschaft mit beschränkter Haftung). Die Berufsrechte einzelner Freier Berufe könnten der besonderen Vertrauensstellung der Berufsträger durch eine Pflicht zum Abschluss einer erhöhten Berufshaftpflichtversicherung Rechnung tragen. Es wäre sehr zu begrüßen, wenn Deutschland durch eine große Reform des Personengesellschaftsrechts wieder dem mit „law made in Germany“ verbundenen Anspruch gerecht würde.

__________ 63 Es ist ausgesprochen schade, dass der Gesetzgeber den allgemeinen Begriff der Unternehmergesellschaft schon in § 5a GmbHG wenig sachgerecht für eine Unterform der GmbH verwendet hat. 64 Siehe dazu oben IV. 2.

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Rechnungslegungsrecht als Gegenstand der juristischen Ausbildung Inhaltsübersicht I. Einleitung II. Rechnungslegungsrecht zwischen Rechtswissenschaft und Betriebswirtschaftslehre III. Rechnungslegungsrecht als Gegenstand der Juristenausbildung 1. Historische Entwicklung a) Staatsdienstorientierte Ausbildung als Ausgangspunkt b) Stärkung der wirtschaftsrechtlichen Bezüge in der Juristenausbildung c) Neubeginn und erneute Verstaatlichung der Juristenausbildung d) Anwaltsorientierung und vorläufiger Schlusspunkt 2. Erste Prüfung a) Pflichtfachbereich b) Schwerpunktbereichsprüfungen

3. Vorbereitungsdienst und Zweite Staatsprüfung a) Pflichtfachstoff b) Schwerpunktbereich 4. Exkurs: Rechnungslegungsrecht als Gegenstand anderer Studiengänge a) Betriebswirtschaftliche Studiengänge b) Wirtschaftsjurist 5. Zwischenergebnis IV. Kenntnisse des Rechnungslegungsrechts in juristischen Berufen 1. Anforderungen an die Anwaltschaft und an den Fachanwalt 2. Anforderungen an bestimmte Richterämter 3. Anforderungen an Insolvenzverwalter 4. Einsetzende Rückgewinnung aufgegebener Berufszweige V. Ausblick

I. Einleitung Das Rechnungslegungs- bzw. Bilanzrecht ist eine Materie, der sich Juristen meist nur zaghaft oder überhaupt nicht nähern und die sie wegen ihrer vermeintlichen Kompliziertheit lieber qualifizierten Fachleuten überlassen.1 Dies muss auf den ersten Blick verwundern, da jedenfalls das Handelsbilanzrecht als drittes Buch des Handelsgesetzbuches sogar Bestandteil einer der großen Kodifikationen des deutschen Rechts ist. Der Grundstein für diese Zurückhaltung der Juristen gegenüber dem Rechnungslegungsrecht wird in der Regel bereits in der Juristenausbildung gelegt, die sich jedenfalls nach geltendem Recht nur am Rande mit dem Rechnungslegungsrecht beschäftigt. Dies ist dabei aber letztlich nur eine Folge der insgesamt wenig an der wirtschaftsrechtlichen Praxis ausgerichteten Juristenausbildung, die dahingehend auch

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1 In diesem Sinne K. Schmidt, Handelsrecht, 5. Aufl. 1999, § 15 I 1; ähnlich Canaris, Handelsrecht, 24. Aufl. 2006, § 1 Rz. 5 (ausgesprochene Spezialmaterie).

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vom Jubilar immer wieder kritisiert wurde.2 Dass das so ist, ist andererseits (auch) eine Antwort auf eine – jedenfalls in Deutschland – weit verbreitete Aversion von Studenten gegenüber Zahlen und den stärker daran orientierten Wissenschaften wie der Betriebswirtschaftslehre (wie auch gegenüber den Ingenieur- und Naturwissenschaften): Wer in einer Erstsemestervorlesung nach dem Grund fragt, warum die Studenten in der rechtswissenschaftlichen und nicht in der betriebswirtschaftlichen Anfängervorlesung sitzen, wird dementsprechend häufig auf die fehlende Begeisterung für Mathematik (und die entsprechenden Noten) verwiesen.

II. Rechnungslegungsrecht zwischen Rechtswissenschaft und Betriebswirtschaftslehre Die Rechnungslegung bzw. das (betriebliche) Rechnungswesen ist eine der Kerndisziplinen der Betriebswirtschaftslehre und gehört zum unverzichtbaren Handwerkszeug eines jeden Kaufmanns bzw. Betriebswirts. Dabei wird das Rechnungswesen aber nur teilweise ausdrücklich bzw. relativ allgemein normativ adressiert (vgl. etwa die Buchführungspflicht nach § 238 HGB). Das ist Folge der Tatsache, dass das interne Rechnungswesen grundsätzlich3 keinen schützenswerten Informationsempfänger kennt und damit keines umfassenden rechtlichen Rahmens bedarf,4 während das externe Rechnungswesen gerade einer Information externer Dritter dient, für die sich eine Verlässlichkeit der gewährten Informationen gerade aus dem Bestehen einer gesetzlichen Pflicht und entsprechender Sanktionen ergibt. Da aber auch das externe Rechnungslegungsrecht auf der Tatbestandsseite zwingend auf das durch die Betriebswirtschaftslehre geprägte Rechnungswesen zurückgreifen muss, kann es auch insoweit nicht ausschließlich als (klassische) Rechtsmaterie begriffen werden.5 Daher kann eine tatsächliche Auseinandersetzung mit dem Rechnungslegungsrecht immer nur unter Berücksichtigung der betriebswirtschaftlichen Grundlagen erfolgen. Dies gilt allerdings auch umgekehrt: Denn eine Auseinandersetzung mit dem betriebswirtschaftlichen Rechnungswesen erfordert zwingend eine Berücksichtigung der normativen Grundlagen in diesem Bereich.6

__________ 2 Hommelhoff in FS Sigle, 2000, S. 463 ff.; ders. in FS Otte, 2005, S. 123, 129 ff.; Hommelhoff/Teichmann in Arbeitsgemeinschaft der Fachanwälte für Steuerrecht (Hrsg.), Der Fachanwalt für Steuerrecht im Rechtswesen, 1999, S. 537 ff.; dies., JuS 2001, 841 ff.; dies., JuS 2002, 839, 841 ff. 3 Etwas anderes gilt freilich für die Verbände, bei denen das interne Rechnungswesen in der Regel zum Pflichtenkreis der Geschäftsführung gehört. 4 Zur Bedeutung des internen Rechnungswesens Wöhe, Einführung in die allgemeine Betriebswirtschaftslehre, 23. Aufl. 2008, S. 689. 5 Vgl. zum Zusammenhang von Rechtswissenschaft und Betriebswirtschaftslehre im Rechnungslegungsrecht statt aller Wöhe/Mock, Die Handels- und Steuerbilanz, 6. Aufl. 2010, S. 1. 6 Für eine Berücksichtigung der normativen Grundlagen des Rechnungslegungsrechts in den betriebswirtschaftlichen Studiengängen s. unten III.4.

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Rechnungslegungsrecht als Gegenstand der juristischen Ausbildung

III. Rechnungslegungsrecht als Gegenstand der Juristenausbildung Diese zwingende Verbindung von Betriebswirtschaftslehre und Rechtswissenschaft auf dem Gebiet des Rechnungslegungsrechts wird durch die vielschichtigen Regelungswerke der deutschen Juristenausbildung allerdings nicht hinreichend bzw. überhaupt nicht adressiert. Diese fehlende Berücksichtigung des Rechnungslegungsrechts in der Juristenausbildung ist dabei teilweise historisch begründbar. 1. Historische Entwicklung a) Staatsdienstorientierte Ausbildung als Ausgangspunkt Die in den einzelnen deutschen Ländern bis zur Wiederherstellung der deutschen Reichseinheit von 1871 geltenden unterschiedlichen Ausbildungsanforderungen bzw. -konzepte7 wurden durch das Gerichtsverfassungsgesetz von 1877 und dessen Regelungen zur Befähigung zum Richteramt (§§ 2–9 GVG 1877) im Wesentlichen nicht berührt, da dieses lediglich einige Mindestvorgaben für die Befähigung zum Richteramt festlegte, ohne sich aber zum Inhalt der Juristenausbildung selbst zu äußern.8 Eine allgemeine deutsche Prüfungsordnung mit umfangreichen inhaltlichen Vorgaben für die Ausbildung bzw. für Prüfungen wurde im Rahmen der Gesetzgebungsarbeiten zwar erwogen, aufgrund der teilweise erheblichen Unterschiede zwischen den einzelnen deutschen Ländern aber nicht realisiert.9 Dabei lag aber weder bei den an einer theoretischen Ausbildung ausgerichteten süddeutschen Ländern10 noch bei dem stärker am praktischen Vorbereitungsdienst ausgerichteten Preußen11 ein Schwerpunkt der Ausbildung auf dem Wirtschaftsrecht. Der Grund dafür ist weniger in dem damals – jedenfalls auf normativer Ebene – noch im Entstehen begriffenen Wirtschaftsrecht, sondern vielmehr in der staatsdienstorientierten Ausbildung zu suchen, die im Wesentlichen darauf abzielte, Richter und Verwaltungsbeamte für den Staatsdienst auszubilden.12 Dies zeigt sich zuletzt auch an dem Umstand, dass die Rechtsanwaltsordnung von 187813 für die Zulassung als Rechtsanwalt lediglich die Fähigkeit zum Richteramt in einem Bundesstaat voraussetzte (§ 2 Rechtsanwaltsordnung).

__________ 7 Für einen Überblick etwa Kern, Gerichtsverfassungsrecht, 4. Aufl. 1965, § 8a GVG. 8 Zur Entstehungsgeschichte vgl. etwa Jescheck, Die juristische Ausbildung in Preußen und im Reich, 1939, S. 13 ff. 9 Protokolle der XI. Kommission des Reichstages zur Vorberathung über die Entwürfe eines Gerichtsverfassungsgesetzes, einer Civilprozeß-Ordnung und einer Strafprozeßordnung – Erste Lesung, S. 74 (abgedruckt bei Hahn, Die gesammelten Materialien zu dem Gerichtsverfassungsgesetz, 2. Aufl. 1883, S. 372 f.); vgl. dazu nur Keller, Gerichtsverfassungsgesetz, 1877, § 2 GVG Ziff. 6. 10 Vgl. nur Gneist in Verhandlungen des 14. Deutschen Juristentages – Bd. I, 1878, S. 119, 122 ff. 11 Jescheck (Fn. 8), S. 15. 12 Jescheck (Fn. 8), S. 12 ff. 13 RGBl. 1978, 177.

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b) Stärkung der wirtschaftsrechtlichen Bezüge in der Juristenausbildung Diese Zurückhaltung gegenüber dem Wirtschaftsrecht wurde allerdings zunehmend hinterfragt. So beschäftigte sich etwa der 31. Deutsche Juristentag 1912 mit der Förderung des Verständnisses von psychologischen, wirtschaftlichen und soziologischen Fragen im Rahmen der Juristenausbildung14 und empfahl insoweit, diese Aspekte bei den Studieninhalten deutlich stärker zu berücksichtigen. Dabei wurde auch explizit auf die Buchführung und das Bilanzrecht verwiesen.15 In der Folgezeit wurden daher die wirtschaftsrechtlichen Grundlagen des Rechts vor allem während der Weimarer Republik verstärkt in der Juristenausbildung berücksichtigt und in diese integriert, was nicht zuletzt Folge der politischen Veränderungen aufgrund des Endes des deutschen Kaiserreiches war, da man durch die bis dahin verfolgte rechtshistorisch orientierte Ausbildung eine Stärkung der konservativ-reaktionären Haltung befürchtete.16 Selbst die hauptsächlich auf den Staatsdienst ausgerichtete Juristenausbildung während des Dritten Reiches durch die für das gesamte Reich erlassene Justizausbildungsverordnung vom 22.7.1934 sah zwingend wirtschaftsrechtliche Kenntnisse vor. Die kurz darauf 1935 erlassene Studienordnung mit ihren detaillierten Vorgaben für die Studieninhalte sah daher auch eine ganze Reihe betriebs- und volkswirtschaftlicher Vorlesungen wie etwa Betriebswirtschaft und Finanzwissenschaft vor.17 c) Neubeginn und erneute Verstaatlichung der Juristenausbildung Die während des Dritten Reiches geschaffene reichsweite Einheitlichkeit der Juristenausbildung wurde nach Ende des Zweiten Weltkrieges wieder aufgehoben und es wurde die zuvor geltende Regelung der §§ 2 ff. GVG im Wesentlichen wieder in Kraft gesetzt,18 was konsequenterweise auch wieder eine Zuweisung der inhaltlichen Regelungskompetenz für die Juristenausbildung an die Bundesländer zur Folge hatte. In den dann von den Bundesländern neu geschaffenen Juristenausbildungsgesetzen findet sich das Rechnungslegungsrecht nicht ausdrücklich wieder. Allerdings ist eine deutliche Schwerpunktsetzung auf das Wirtschaftsrecht auszumachen. So sah zwar etwa das Juristenausbildungsgesetz von Nordrhein-Westfalen von 195619 als Prüfungsgegenstand neben dem Bürgerlichen Recht auch die Grundzüge des Handelsrechts (ohne Seerecht), das Handelsgesellschaftsrecht und das Recht der Wertpapiere vor (§ 3 Abs. 1 lit. a JAG 1956 [Nordrhein-Westfalen]). Auch andere Bundesländer wie

__________ 14 Vgl. dazu die Gutachten von Ehrlich und Gerland in Verhandlungen des 31. Deutschen Juristentages – Bd. II, 1912, S. 200 ff., 805 ff. 15 Vgl. Gerland (Fn. 14), S. 805, 895, der in seinem Gutachten zu dem Schluss kommt, dass der Jurist zwingend über Buchführungs- und Bilanzkenntnisse verfügen muss. 16 Vgl. zum Ganzen Jescheck (Fn. 8), S. 79 ff. m. w. N. 17 Vgl. dazu ausführlich Jescheck (Fn. 8), S. 167 f. 18 Gesetz zur Wiederherstellung der Rechtseinheit auf dem Gebiete der Gerichtsverfassung, der bürgerlichen Rechtspflege, des Strafverfahrens und des Kostenrechts, BGBl. I 1950, 455. 19 GVBl. Nordrhein-Westfalen v. 21.4.1956, S. 131.

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etwa Baden-Württemberg,20 Bayern21oder Rheinland-Pfalz22 wiesen vergleichbare wirtschaftsrechtliche Bezüge auf. Der Bundesgesetzgeber beschränkte sich fortan auf die Normierung eines allgemeinen Rahmens für die Juristenausbildung. Das 1961 geschaffene Deutsche Richtergesetz regelte in Fortführung der dafür aufgehobenen §§ 2–9 GVG die Grundlagen der Juristenausbildung in Form der Erlangung einer Befähigung zum Richteramt, enthielt dabei aber zunächst nur eine sehr allgemeinen Rahmenregelung, die auf die notwendigen Inhalte der Juristenausbildung nicht einging. Die wirtschaftsrechtlichen bzw. wirtschaftswissenschaftlichen Grundlagen für die Juristenausbildung wurden in der Folgezeit jedoch zunehmend wieder betont. So wurde etwa auf dem 48. Deutschen Juristentag hervorgehoben, dass der Besuch von Veranstaltungen auf dem Gebiet der Sozial- und Wirtschaftswissenschaften auch im Rahmen der universitären Juristenausbildung erforderlich sei.23 Teilweise übernahmen in der Folgezeit auch einzelne Bundesländer entsprechende Vorgaben in die Landesjuristenausbildungsgesetze.24 Bei den 198425 geschaffenen inhaltlichen Vorgaben von § 5a DRiG fanden diese Entwicklungen allerdings keine Berücksichtigung. Es wurden vielmehr nur die auch noch in der heute geltenden Fassung genannten drei (Grund-) Pflicht- und die Grundlagenfächer erwähnt. d) Anwaltsorientierung und vorläufiger Schlusspunkt Auch die jüngste Reform der Juristenausbildung von 200226 führte nicht zu einer tatsächlichen Erhöhung des Anteils wirtschaftsrechtlicher Bezüge oder zu einer Berücksichtigung des Rechnungslegungsrechts in der Juristenausbildung, sondern beschränkte sich vor allem auf die Stärkung der Anwaltsausbildung. Dabei ging es aber weniger um den Ausbau des notwendigen materiellen Wissens für die Ausübung des Anwaltsberufs, sondern vielmehr um die Stärkung der allgemeinen Anforderungen und der so genannten Theorie der Praxis des Anwaltsberufes. Die im Übrigen eingeführte Trennung von staatlicher

__________ 20 Vgl. § 6 Abs. 1 Nr. 1 JAO (Baden-Württemberg) v. 12.9.1955 (GBl. S. 187), wonach unter anderem das Handels- und Gesellschaftsrecht Prüfungsgegenstände waren. Darüber hinaus waren unter anderem auch Grundzüge der Volkswirtschaftslehre, Volkswirtschaftspolitik und Finanzwissenschaft Gegenstand der Prüfung (§ 6 Abs. 2 Nr. 5 JAO [Baden-Württemberg]). 21 Vgl. § 3 Abs. 1 Nr. 1 JuVAPO (Bayern) v. 21.6.1957 (GVBl. S. 213), wonach unter anderem das Handelsrecht, das Gesellschaftsrecht und das Wertpapierrecht Prüfungsgegenstände waren. Darüber hinaus waren unter anderem auch Grundzüge der Volkswirtschaftslehre und der Finanzwissenschaft Gegenstand der Prüfung (§ 3 Abs. 1 Nr. 6 JuVAPO [Bayern]). 22 Vgl. § 2 Abs. 1 lit. d) JAO (Rheinland-Pfalz) v. 14.3.1957 (GVBl. S. 45). 23 Vgl. dazu das Gutachten von Richter in Verhandlungen des 48. Deutschen Juristentages, 1970, S. F114 ff. 24 So etwa Nordrhein-Westfalen; siehe unten 2. a) bb). 25 Drittes Gesetz zur Änderung des Deutschen Richtergesetzes v. 25.7.1984, BGBl. I 1984, 995. 26 Gesetz zur Reform der Juristenausbildung v. 11.7.2002, BGBl. I 2002, 2592; vgl. dazu auch die Nachweise in Fn. 27.

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Pflichtfach- und universitärer Schwerpunktbereichsprüfung hatte auf die fehlende wirtschaftsrechtliche Orientierung der Juristenausbildung keinen Einfluss, auch wenn dadurch die Schwerpunkte und damit auch die wirtschaftsrechtlichen Schwerpunkte im Grunde aufgewertet wurden.27 2. Erste Prüfung a) Pflichtfachbereich Der Pflichtfachbereich wird zunächst durch die allgemeinen Vorgaben des Deutschen Richtergesetzes bestimmt (s. III. 2. a) aa)) und durch die Juristenausbildungsgesetze bzw. entsprechenden (Pflichtfach-)Prüfungsgegenständeverordnungen der Länder (s. III. 2. a) bb)) näher konkretisiert. aa) Allgemeine Vorgaben des Deutschen Richtergesetzes Das Deutsche Richtergesetz als gesetzlicher Rahmen für die Juristenausbildung macht zunächst keine ausdrücklichen Vorgaben für eine Auseinandersetzung mit dem Rechnungslegungsrecht. Denn als Pflichtfächer werden insofern nur die Kernbereiche des Bürgerlichen Rechts, des Strafrechts, des Öffentlichen Rechts und des Verfahrensrechts einschließlich der europarechtlichen Bezüge, der rechtswissenschaftlichen Methoden und der philosophischen, geschichtlichen und gesellschaftlichen Grundlagen (§ 5a Abs. 2 Satz 3 DRiG) angesehen. Überraschend ist dabei, dass der Gesetzgeber zwar völlig zu Recht die rechtswissenschaftlichen Methoden und die philosophischen, geschichtlichen und gesellschaftlichen Grundlagen zum Kernbereich zählt, die wirtschaftlichen Grundlagen oder Zusammenhänge der jeweiligen Kernbereiche aber in keiner Weise erwähnt, obwohl diese bereits vor dem Zweiten Weltkrieg fester Bestandteil der Juristenausbildung gewesen waren.28 Dass das Rechnungslegungsrecht schon als Teil der genannten Kernbereiche zwingender Bestandteil der Juristenausbildung ist, ist im Ergebnis zu verneinen. Zwar umfassen die Kernbereiche des Bürgerlichen Rechts neben den Grundzügen des Familien-, Erb- und kollektiven Arbeitsrechts vor allem auch das Handels-, Gesellschafts- und Wertpapierrecht.29 Damit wird für die Frage nach der Einbeziehung des Rechnungslegungsrechts aber lediglich auf eine andere (dogmatische) Ebene30 verwiesen, die aufgrund der Beschränkung auf die Grundzüge der genannten jeweiligen Rechtsmaterien sicherlich für das Rechnungslegungsrecht nicht erreicht wird. Das gilt auch dann, wenn man das Rechnungslegungsrecht als ausführliche Spezialregelung gegenüber den eindeutig zu dem Kernbereich gehörenden Regelungen der §§ 259–261, 666 BGB

__________ 27 Zu dieser Reform ausführlich Hommelhoff (Fn. 2), S. 123 ff.; Hommelhoff/Teichmann, JuS 2002, 839, 841 ff. 28 S. oben III.1.b). 29 Vgl. dazu nur Schmidt-Räntsch, 6. Aufl. 2009, § 5a DRiG Rz. 12. 30 Zur Bestimmung der Rechtsnatur des Rechnungslegungsrechts s. oben II.

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begreift.31 Auch im Rahmen des Kernbereichs des Öffentlichen Rechts erfolgt keine Erfassung des Rechnungslegungsrechts, obwohl die Grundzüge des Steuerrechts unzweifelhaft zu diesem Kernbereich gehören,32 da auch bei diesem eine Einbeziehung als Teil der Grundzüge sicherlich abgelehnt werden muss. Aber auch eine Erfassung des Rechnungslegungsrechts bzw. von dessen Grundzügen über die seit der Juristenausbildungsreform von 200233 nunmehr verstärkt ins Studium einbezogenen Schlüsselqualifikationen wie Verhandlungsmanagement, Gesprächsführung, Rhetorik, Streitschlichtung, Mediation, Vernehmungslehre und Kommunikationsfähigkeit (§ 5a Abs. 3 Satz 1 DRiG) wird im Ergebnis kaum möglich sein. Zwar ist die Aufzählung des § 5a Abs. 3 Satz 1 DRiG nicht abschließend;34 allerdings werden unter Schlüsselqualifikationen allgemeinhin nur soft skills verstanden.35 Dies muss umso mehr überraschen, als die Einführung dieser Schlüsselqualifikationen als Inhalte des juristischen Studiums gerade darauf abzielte, der zunehmenden anwaltsorientierten Berufswahl der Absolventen zu entsprechen.36 Vor allem die für viele Absolventen in Betracht kommende selbständige Tätigkeit als Rechtsanwalt setzt aber berufsrechtlich ebenso wie unternehmenssteuerrechtlich eben solche Kenntnisse voraus.37 Insofern setzt sich das Regelungsregime des DRiG zu den erklärten Zielen der Ausbildungsreform in einen gewissen Widerspruch. Professor Hans-Jürgen Rabe hat daher als Vertreter des Deutschen Anwalt Vereins völlig zu Recht auf dem Deutschen Juristen-Fakultätentag 2011 einen Ausbau der Kenntnisse in diesem Bereich im Rahmen der Vermittlung der Schlüsselqualifikationen gefordert.38 bb) Konkretisierung der Prüfungsgegenstände durch die Juristenausbildungsgesetze der Länder Die Abstinenz in der bundesrechtlichen Rahmenordnung für die Juristenausbildung setzt sich in den Juristenausbildungsgesetzen bzw. entsprechenden (Pflichtfach-)Prüfungsgegenständeverordnungen im Wesentlichen fort.

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31 Zum Zusammenhang von Rechnungslegungsrecht und den §§ 259–261, 666 BGB Claussen in FS Ulmer, 2003, S. 801, 815; Krüger in MünchKomm. BGB, 5. Aufl. 2007, § 259 BGB Rz. 6 f.; Lutter in IDW, Das vereinigte Deutschland im europäischen Markt, 1992, S. 409 ff.; Mock, Finanzverfassung der Kapitalgesellschaften und internationale Rechnungslegung, 2008, S. 12; Wolf in Soergel, BGB, 12. Aufl. 1990, § 259 BGB Rz. 8. 32 Eine Erfassung des Steuerrechts als Kernbereich des Öffentlichen Rechts allerdings nicht vornehmend Schmidt-Räntsch (Fn. 29), § 5a DRiG Rz. 14. 33 S. oben III.1.d). 34 Begr. RegE Juristenausbildungsreformgesetz, BT-Drucks. 14/7176, S. 11; SchmidtRäntsch (Fn. 29), § 5a DRiG Rz. 28. 35 Schmidt-Räntsch (Fn. 29), § 5a DRiG Rz. 28; s. aber dazu die Rechtslage in BadenWürttemberg III.2.a)bb). 36 Begr. RegE Juristenausbildungsreformgesetz, BT-Drucks. 14/7176, S. 10 f. 37 S. dazu unten IV.1. 38 „Daher müsse das universitäre Studium methodische Grundlagenkompetenzen vermitteln. Hierzu gehörten für angehende Anwälte auch Fächer mit Relevanz für den anwaltlichen Beruf wie Buchhaltung oder Bilanzkunde.“ (Protokoll des 91. Deutschen Juristen-Fakultätentages v. 24.6.2011, S. 3).

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So wird etwa in keinem einzigen Bundesland das Rechnungslegungsrecht im Pflichtfachkanon des Handels- oder des Gesellschaftsrechts ausdrücklich berücksichtigt. Freilich wird vor allem im Pflichtfachbereich des Gesellschaftsrechts meist pauschal auf das Recht der offenen Handelsgesellschaft und der Kommanditgesellschaft39 bzw. auf die Grundzüge des Handels- und Gesellschaftsrechts40 verwiesen, ohne dabei das Rechnungslegungsrecht auszunehmen. Auch wenn daher vor allem im Zusammenhang mit der Bestimmung des Gewinns bzw. des Verlusts (§§ 120, 167 HGB), dessen Verteilung (§§ 121, 168 HGB) und für die Entnahme (§§ 122, 169 HGB) bei den Personenhandelsgesellschaften auch Rechnungslegungskenntnisse abgeprüft werden könnten, unterbleibt dies in der bisherigen Praxis der Prüfungsämter. Einige wenige Bundesländer haben das Rechnungslegungsrecht insofern sogar ausdrücklich ausgenommen.41 Dies erscheint vor dem Hintergrund der fehlenden praktischen Bedeutung der sonstigen meist im Rahmen des Handels- und Gesellschaftsrecht von den Prüfungsämtern geprüften Materien allerdings mehr als zweifelhaft. Denn die Fragen der Registerpublizität (§ 15 HGB), der Vorgesellschaft, der Firmennachfolge (§§ 25 ff. HGB) und der unendlichen Verästelungen der Kommanditistenhaftung – um nur einige Prüfungsklassiker zu nennen – spiegeln bereits seit langem weder die rechtsberatende noch die richterliche Rechtswirklichkeit wider, auch wenn diese Probleme aus rechtsdogmatischer Sicht durchaus anspruchsvolle Herausforderungen beinhalten. Zudem führt diese Ausrichtung auf (veraltete) Standardprobleme des Handels- und Gesellschaftsrechts lediglich dazu, dass vor allem die Kandidaten ohne einen unternehmensrechtlich orientierten Schwerpunktbereich insofern ein umfangreiches (historisches) Inselwissen anhäufen, das ihre Möglichkeiten der Ausübung einer anwaltlichen Tätigkeit kaum verbessert. Aber auch im Rahmen der Konkretisierung der Schlüsselqualifikationen findet das Rechnungslegungsrecht bisher in den Juristenausbildungsgesetzen der Länder nahezu keine Anerkennung, obwohl die vom Bundesgesetzgeber in § 5a Abs. 3 Satz 1 DRiG geschaffene Rahmenregelung durchaus Spielraum für eine Erweiterung der dort genannten Schlüsselqualifikationen bietet.42 Eine Ausnahme bildet lediglich Nordrhein-Westfalen, das als einziges Bundesland Kenntnisse der Buchhaltungs- und der Bilanzkunde ausdrücklich als Schlüsselquali-

__________ 39 Vgl. § 8 Abs. 2 Nr. 3 JaPrO (Baden-Württemberg); § 3 Abs. 4 Nr. 1 lit. c JAO (Berlin); § 3 Abs. 4 Nr. 1 lit. c JAO (Brandenburg); § 7 Satz 1 Nr. 2 lit. g JAG (Hessen); § 11 Abs. 2 Nr. 1 lit. d JAPO (Mecklenburg-Vorpommern); § 16 Abs. 1 Nr. 2 lit. b JAVO (Niedersachsen); § 1 Abs. 2 Nr. 1 (Anlage A IV.) JAPO (Rheinland-Pfalz); § 3 Abs. 3 Nr. 3 JAVO (Schleswig-Holstein). 40 § 8 Abs. 2 Nr. 2 JAG (Saarland); § 14 Abs. 2 Nr. 2 lit. c JAPO (Thüringen). 41 Vgl. etwa § 18 Abs. 2 Nr. 2 b JAPO (Bayern); § 5 Abs. 1 Nr. 1 lit. d JAPG (Bremen), wonach die Vorschriften über die Handelsbücher bzw. das Dritte Buch des HGB ausdrücklich kein Prüfungsgegenstand sind. Im Ergebnis ebenfalls § 1 Abs. 1 Nr. 4 PrüfungsgegenständeVO (Hamburg), wonach aus dem Handelsgesetzbuch lediglich Teile des Ersten und Vierten Buches Prüfungsgegenstand sind, ähnlich auch § 11 Abs. 2 Nr. 3 und 4 JAG (Nordrhein-Westfalen) und wohl auch § 14 Abs. 3 Nr. 2 JAPO (Sachsen). 42 S. oben III.2.a).aa).

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fikation verlangt (§ 7 Abs. 2 Satz 3 JAG [Nordrhein-Westfalen]). Zwar werden die Kenntnisse der Buchhaltungs- und der Bilanzkunde nicht ausdrücklich als Schlüsselqualifikation im Sinne von § 5a Abs. 3 Satz 1 DRiG bezeichnet, aber als Grundlagenkenntnisse neben die Schlüsselqualifikationen gestellt. Dabei ist bemerkenswert, dass die Kenntnisse der Buchhaltungs- und der Bilanzkunde dort bereits seit 1970 Bestandteil des Pflichtfachstoffes sind und seinerzeit eingeführt wurden, um der in der Rechtswirklichkeit zunehmenden Bedeutung dieser Materie hinreichend Rechnung zu tragen;43 darauf beruht auch die erste Berührung des Erstverfassers mit dem Rechnungslegungsrecht in seiner juristischen Ausbildung.44 Berücksichtigt man die Entwicklung des Rechnungslegungsrechts seit 1970, erscheint diese damalige Begründung des Gesetzgebers geradezu prophetisch. In eine gewisse inhaltliche Nähe rückt zudem Baden-Württemberg, das Grundkenntnisse der Wirtschafts- und Sozialwissenschaften allerdings als Schlüsselqualifikation voraussetzt (§ 3 Abs. 5 Satz 1 JaPrO [Baden-Württemberg]). Ob dies auf das Wirken von Peter Hommelhoff zurückzuführen ist, konnten die Unterzeichner nicht in Erfahrung bringen. Dabei bleibt aber weitgehend unklar, was unter diesen Grundkenntnisse genau zu verstehen ist. b) Schwerpunktbereichsprüfungen Für den Bereich der Schwerpunktbereichsprüfungen, die seit der Juristenausbildungsreform von 2002 in ihrer konkreten inhaltlichen Ausgestaltung im Verantwortungsbereich der einzelnen Universitäten liegen, findet sich das Rechnungslegungs- oder Bilanzrecht im Rahmen der unternehmensrechtlich45 bzw. steuerrechtlich46 – aber teilweise auch wirtschaftsstrafrechtlich47 – ausgerichteten Schwerpunkte hingegen meist wieder. Dies geht nicht zuletzt auf das Wirken von Peter Hommelhoff zurück, der sich als Vorsitzender der Arbeitsgruppe „Juristenausbildungsreform“ der Hochschulrektorenkonferenz für die

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43 Vgl. die Begründung des Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über die juristischen Staatsprüfungen und den juristischen Vorbereitungsdienst (Juristenausbildungsgesetz – JAG), LT-Drucks. 6/1839, S. 12. 44 In der Veranstaltung von Jochen Thiel an der Universität zu Köln, aus der sein Werk Bilanzrecht (1. Aufl. Köln 1980) hervorgegangen ist. 45 Vgl. etwa die Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn mit „Bilanzrecht“ im Schwerpunkt Unternehmen, Kapitalmarkt und Steuern (Anhang III Studienordnung für den Studiengang Rechtswissenschaft der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn v. 10.2.2009) oder die Universität Heidelberg mit „Rechnungslegung, Abschlussprüfung und Publizität“ bzw. „Workshop Bilanzrecht“ in den Schwerpunkten Unternehmensrecht und Steuerrecht (Neuregelung der Schwerpunktbereiche der Juristischen Fakultät Heidelberg v. 19.12.2007). 46 Vgl. etwa an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf „Recht der Rechnungslegung“ im Schwerpunkt Steuerrecht und Wirtschaftsrecht/Unternehmenssteuerrecht (§ 2 Absatz 2 Nr. 3 Satz 2 Schwerpunktbereichsprüfungsordnung für den Studiengang Rechtswissenschaft an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf). 47 So etwa an der Universität Bayreuth als Bilanzrecht im Schwerpunkt Wirtschaftsund Steuerstrafrecht (§ 5 Abs. 2 Nr. 6 Studien- und Prüfungsordnung für den Studiengang Rechtswissenschaft der Universität Bayreuth).

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Aufnahme des Rechts der Rechnungslegung, der Prüfung und Publizität (unter Einbezug der interdisziplinären Hintergründe) einschließlich gemeinschaftsrechtlicher und rechtsvergleichender Bezüge in den Schwerpunkt 8 (Unternehmensrecht – zivilrechtlicher Schwerpunkt) ausgesprochen hatte.48 Allerdings haben einige Universitäten das Rechnungslegungsrecht trotz dieser Empfehlung aus dem Bereich der genannten Schwerpunkte verwiesen. So hat etwa die Universität Hamburg das Rechnungslegungsrecht aus dem Schwerpunktbereich Handelsrecht mit gesellschaftsrechtlichen Bezügen als Materie des HGB ausdrücklich ausgenommen, versteht insofern freilich das Seehandelsrecht als umfasst.49 Demgegenüber wird es vom Schwerpunkt Gesellschaftsrecht mit handelsrechtlichen Bezügen in der Prüfungspraxis als erfasst angesehen, ohne dort aber ausdrücklich erwähnt zu werden.50 3. Vorbereitungsdienst und Zweite Staatsprüfung Die fehlende Berücksichtigung des Rechnungslegungsrechts findet eine Entsprechung im praktischen Teil der Juristenausbildung im Rahmen des Referendariats. Dabei ist zunächst anzumerken, dass sich § 5b DRiG – im Gegensatz zum universitären Ausbildungsteil51 – sowohl hinsichtlich der genauen Lehrinhalte des Vorbereitungsdienstes als auch hinsichtlich der genauen Prüfungsgegenstände der Zweiten Prüfung vollständig zurückhält. a) Pflichtfachstoff Die Normierung des Pflichtfachstoffes orientiert sich in den meisten Bundesländern an dem jeweiligen Pflichtfachstoff für die erste Prüfung, der um entsprechende prozessuale Aspekte erweitert wird.52 Das Rechnungslegungsrecht

__________ 48 Vgl. Arbeitsgruppe „Juristenausbildungsreform“ der Hochschulrektorenkonferenz, Abschlussbericht für das Präsidium der HRK v. 15.1.2001, Rz. 41, abrufbar unter http://www.hrk.de/de/beschluesse/109_321.php. 49 § 8 Abs. 2 (SPB III) Spiegelstrich 2 Schwerpunktbereichsprüfungsordnung der Fakultät für Rechtswissenschaft der Universität Hamburg v. 7.11.2007. 50 § 8 Abs. 2 (SPB III) Spiegelstrich 3 Schwerpunktbereichsprüfungsordnung der Fakultät für Rechtswissenschaft der Universität Hamburg v. 7.11.2007 beschreibt den Schwerpunktbereich als „Gesellschaftsrecht mit arbeitsrechtlichen oder handelsrechtlichen Bezügen: die nicht zum Pflichtfach gehörenden Bereiche des Vereinsrechts und des GmbH-Rechts; das Recht der GmbH & Co. und anderer Mischformen; Aktienrecht; Konzernrecht; Umwandlungsrecht; Kapitalmarktrecht; UnternehmensInsolvenzrecht; gesellschaftsrechtliche Vertragsgestaltung; europäisches Gesellschaftsrecht“. 51 S. dazu oben III. 2. a) aa). 52 Dies ist der Fall in Baden-Württemberg (§ 51 Abs. 1 Nr. 2 JaPrO [Baden-Württemberg]), in Berlin und Brandenburg (§ 27 Abs. 2 Nr. 1 JAO [Berlin]), in Bremen, in Hamburg und in Schleswig-Holstein (§§ 7 Abs. 2, 8 Abs. 2 Nr. 2 Übereinkunft der Länder Freie Hansestadt Bremen, Freie und Hansestadt Hamburg und SchleswigHolstein über ein Gemeinsames Prüfungsamt und die Prüfungsordnung für die zweite Staatsprüfung für Juristen); in Hessen (§ 45 JAG [Hessen]), in Niedersachsen (§ 37 Abs. 2 Nr. 1 JAVO [Niedersachsen]), in Rheinland-Pfalz (§ 37 Abs. 1 JAPO [Rhein-

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spielt daher konsequenterweise auch in diesem Ausbildungsabschnitt keine Rolle. Teilweise finden sich zwar einzelne wirtschaftsrechtliche Erweiterungen des Prüfungsstoffes im Vergleich zur ersten Prüfung; diese beschränken sich aber meist nur auf Grundzüge des Steuerrechts53 oder sogar Grundzüge des Wertpapierrechts,54 was bei letzterem vor dem Hintergrund der Entwicklung des elektronischen Zahlungsverkehrs und des Kapitalmarktrechts als eigenständigem Rechtsgebiet nur verwundern kann – wenn man es nicht (was unklar ist) als generischen Begriff für Zahlungsverkehrs- und Kapitalmarktrecht auffasst. Einige Bundesländer gehen sogar so weit, dass für die Erste Prüfung noch vorgesehene Handels- und Gesellschaftsrecht ausdrücklich aus dem Prüfungsbereich herauszunehmen!55 b) Schwerpunktbereich Aber auch in den Schwerpunktbereichen nimmt das Rechnungslegungsrecht nur teilweise eine herausragende Stellung ein. So finden lediglich in Berlin, Brandenburg und in Rheinland-Pfalz das Handels- und Steuerbilanzrecht bzw. die Buchführung und die Bilanzkunde ausdrücklich Erwähnung.56 In den meisten Bundesländern bleibt aber eine Erfassung des Rechnungslegungsrechts eher nebulös bzw. unklar, da zumeist nur auf das Handels- und Gesellschaftsrecht57 bzw. das Steuerrecht58 im Allgemeinen verwiesen wird. Schließlich nimmt der Freistaat Bayern die Vorschriften über die Handelsbücher ausdrücklich aus

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land-Pfalz]), in Mecklenburg-Vorpommern (§§ 45, 11 Abs. 2 JAPO [Mecklenburg-Vorpommern]), in Nordrhein-Westfalen (§ 52 Abs. 1 Nr. 1 JAG [Nordrhein-Westfalen]), in Sachsen (§ 43 Abs. 2 Nr. 1 lit. c) JAPO [Sachsen]), in Sachsen-Anhalt (§ 48 Abs. 2 JAPrVO [Sachsen-Anhalt]). So die Rechtslage in Sachsen (§ 37 Abs. 6 Satz 2 JAPO [Sachsen]). So die Rechtslage in Thüringen (§ 46 Abs. 2 Nr. 2 lit. d JAPO [Thüringen]). Dies gilt vor allem für das Saarland (§ 27 Abs. 2 JAO [Saarland]); wohl auch für Bayern (§ 58 Abs. 2 JAPO [Bayern]). Vgl. § 37 Abs. 2 Nr. 7 JAPO (Rheinland-Pfalz) für den Schwerpunkt Steuerrecht und § 27 Abs. 3 Nr. 5 lit. b JAO (Berlin) und § 27 Abs. 3 Nr. 5 lit. b JAO (Brandenburg) für den Schwerpunkt Wirtschaft, bei dem allerdings auch alternativ das Recht des unlauteren Wettbewerbs, Handels- und Gesellschaftsrecht (ohne Aktien- und Konzernrecht) gewählt werden kann. Dies ist der Fall in Baden-Württemberg im Schwerpunktbereich Wirtschaft (§ 51 Abs. 2 Nr. 3 JaPrO [Baden-Württemberg]), in Berlin im Schwerpunktbereich Wirtschaft § 27 Abs. 3 Nr. 5 lit. a JAO [Berlin]), in Brandenburg im Schwerpunktbereich Wirtschaft (§ 27 Abs. 3 Nr. 5 lit. a JAO [Brandenburg]), in Mecklenburg-Vorpommern im Schwerpunkt Wirtschaftsrecht (§ 47 Nr. 3 JAPO [Mecklenburg-Vorpommern]), in Rheinland-Pfalz im Schwerpunkt Wirtschaftsrecht (§ 37 Abs. 2 Nr. 2 JAPO [Rheinland-Pfalz]). In Bremen, Hamburg und Schleswig-Holstein fehlt es an einer gesetzlichen Grundlage für die Bestimmung der Schwerpunktbereiche. Niedersachsen verzichtet schließlich vollständig auf eine inhaltliche Eingrenzung des Schwerpunktbereiches und verweist insofern nur auf die Stellen, bei denen die jeweilige Wahlstation abgeleistet werden kann (§§ 39 Abs. 2, 29 Abs. 1 Nr. 3 lit. h und lit. i JAVO [Niedersachsen]). Ebenso verzichten Nordrhein-Westfalen (§§ 51 f. JAG [NordrheinWestfalen]) und Sachsen (§ 49 JAPO [Sachsen]) darauf. Dies ist der Fall in Sachsen im Schwerpunkt Steuerrecht (§ 43 Abs. 3 Nr. 6 JAPO [Sachsen]) und in Thüringen im Schwerpunktbereich Wirtschaft (§ 46 Abs. 3 Nr. 3 lit. b JAPO [Thüringen]).

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dem Schwerpunktbereich Wirtschaft heraus, will in diesem aber das Recht der Börse und der börsenfähigen Wertpapiere und der Kapitalgesellschaften prüfen.59 Diese im Ergebnis doch recht zurückhaltende Einstellung gegenüber dem Rechnungslegungsrecht muss allerdings bei einem weiteren Studium der einzelnen Prüfungsordnungen überraschen, da teilweise ausdrücklich die Durchführung einer Referendariatsstation bei einem Wirtschaftsprüfer oder einem Steuerberater gestattet wird.60 Letztlich wird man im Ergebnis wohl in einem Umkehrschluss annehmen müssen, dass dann konsequenterweise wenigstens die Grundzüge der Buchführung und des Rechnungslegungsrecht Prüfungsbestandteil sein können. 4. Exkurs: Rechnungslegungsrecht als Gegenstand anderer Studiengänge a) Betriebswirtschaftliche Studiengänge Bei einer Betrachtung der Bezüge der Juristenausbildung zum Rechnungslegungsrecht stellt sich zwangsläufig die Frage nach den rechtlichen Bezügen in den betriebswirtschaftlichen Studiengängen. Dabei ist festzustellen, dass die beim Studium der Rechtswissenschaften auszumachende Verengung der Studieninhalte auf juristische Inhalte in der Betriebswirtschaftslehre keine Entsprechung findet. So sind juristische Themenbereiche selbstverständlich in teilweise erheblichen Umfang Studieninhalte der betriebswirtschaftlichen Studiengänge.61 b) Wirtschaftsjurist In ähnlicher Weise widmen sich aber auch die speziell auf das Wirtschaftsrecht ausgerichteten Studiengänge dem Rechnungslegungsrecht bzw. beinhalten dieses als zentralen Bestandteil. So sieht etwa der von der Universität Siegen angebotene Bachelor of Laws für Deutsches und Europäisches Wirtschaftsrecht mehrere Vorlesungen zur Buchführung bzw. zum Rechnungslegungsrecht vor.62 Aber auch im Rahmen des auf die Erste Prüfung ausgerichteten Studienganges findet sich inzwischen eine Reihe von Zusatzausbildungsmöglichkeiten, die das Rechnungslegungsrecht adressieren. So bietet etwa die Universität

__________ 59 Vgl. § 58 Abs. 3 Nr. 4 JAPO (Bayern). 60 Vgl. etwa in Baden-Württemberg (§ 42 Abs. 1 Nr. 5 lit. c JaPrO [Baden-Württemberg]); in Mecklenburg-Vorpommern (§ 38 Abs. 1 Nr. 5 lit. c JAPO [Mecklenburg-Vorpommern]); in Niedersachsen (§ 29 Abs. 1 Nr. 3 lit. h und lit. i JAVO [Niedersachsen]) und in Sachsen-Anhalt (§ 38 Abs. 2 Nr. 2 lit. g, Nr. 7 lit. d und e JAPrVO [SachsenAnhalt]). 61 Vgl. etwa die Modulstruktur des wirtschaftswissenschaftlichen Teils des Bachelorstudiengangs Betriebswirtschaftslehre (B.Sc.) an der Universität Hamburg v. 15.4.2009 (abrufbar unter www.wiso.uni-hamburg.de), wonach im Grundstudium neben dem Wirtschaftsprivatrecht auch das Gesellschaftsrecht und das Wirtschaftsverfassungsrecht Lehrinhalt sind. 62 Vgl. die Prüfungsordnung für den Studiengang Bachelor of Science Deutsches und Europäisches Wirtschaftsrecht an der Universität Siegen v. 8.11.2010, abrufbar unter www.uni-siegen.de.

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Bayreuth die wirtschaftswissenschaftliche Zusatzausbildung als Wirtschaftsjurist an. Im Rahmen dieser wirtschaftswissenschaftlichen Zusatzausbildung bildet das Rechnungslegungsrecht nicht nur einen Grundlagen-, sondern auch einen vertiefenden Schwerpunktteil.63 Schließlich hat sich auch die EBS Universität für Wirtschaft und Recht i.Gr. in Wiesbaden umfassend auf eine wirtschaftsrechtliche Juristenausbildung ausgerichtet und wird ihren Studierenden neben der klassischen universitären Juristenausbildung auch eine betriebswirtschaftliche Zusatzqualifikation anbieten, die selbstverständlich auch das Rechnungslegungsrecht mit umfassen wird.64 5. Zwischenergebnis Das Rechnungslegungsrecht führt in der deutschen Juristenausbildung weitgehend ein Schattendasein. So sehen nur wenige Bundesländer in ihren Juristenausbildungsgesetzen entsprechende Anforderungen hinsichtlich der Studieninhalte vor. Dies ist dabei aber weniger dem Umstand der interdisziplinären Ausrichtung des Rechnungslegungsrechts als vielmehr der Vernachlässigung des Wirtschaftsrechts in der juristischen Ausbildung im Allgemeinen geschuldet. Zwar verlangt eine Reihe von Juristenausbildungsgesetzen Grundkenntnisse im Handels- und Gesellschaftsrecht im Rahmen der Ersten und der Zweiten Prüfung; allerdings beschränkt sich dies meist auf Probleme, die in der heutigen Wirtschaftspraxis keine herausragende Rolle mehr spielen.

IV. Kenntnisse des Rechnungslegungsrechts in juristischen Berufen Die weitgehende Ignoranz der juristischen Ausbildung gegenüber dem Rechnungslegungsrecht wird nicht nur dessen tatsächlicher Bedeutung, sondern vor allem auch der Notwendigkeit entsprechender Kenntnisse in zahlreichen juristischen Berufen nicht gerecht. 1. Anforderungen an die Anwaltschaft und an den Fachanwalt Dies gilt dabei zunächst auch für den (einfachen) Rechtsanwalt. Auch wenn diese bei ihrer Berufsausübung nicht den allgemeinen Buchführungspflichten der §§ 238 ff. HGB bzw. §§ 140 f. AO unterfallen, müssen sie dennoch im Rahmen ihrer anwaltlichen Tätigkeit eine Einnahmen-Überschuss-Rechnung nach § 4 Abs. 3 EStG erstellen. Soweit der Rechtsanwalt im Rahmen einer Sozietät als Gesellschaft bürgerlichen Rechts oder einer Partnerschaftsgesellschaft tätig wird, muss zudem in der Regel aufgrund des Gesellschaftsvertrages bzw. aufgrund von §§ 721 Abs. 2, 722 BGB65 oder – im Falle ausländischer Ge-

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63 Vgl. die Prüfungsordnung für die wirtschaftswissenschaftliche Zusatzausbildung für Juristen an der Universität Bayreuth, abrufbar unter www.wirtschaftsjurist.unibayreuth.de. 64 Vgl. dazu http://www.ebs.edu. 65 Zur entsprechenden Anwendung von §§ 721 Abs. 2, 722 BGB auf die PartGG vgl. nur Ulmer/Schäfer in MünchKomm. BGB, 5. Aufl. 2009, § 721 BGB Rz. 45.

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sellschaftsformen – der entsprechenden ausländischen Bestimmungen ein Rechnungsabschluss zur Ermittlung der Gewinnverteilung erstellt werden. Die Notwendigkeit derartiger Kenntnisse kann dabei auch nicht mit einem Verweis auf die Möglichkeit besonderer Beratung entkräftet werden, da die Möglichkeit der tatsächlichen Inanspruchnahme einer solchen Beratung etwa durch einen Steuerberater meist die tatsächlichen wirtschaftlichen Verhältnisse verkennt. Berücksichtigt man bei dieser Betrachtung zudem, dass den Rechtsanwalt im Rahmen seiner Tätigkeit die Pflicht zur getrennten Verwahrung von Mandantengeldern und zur Abrechnung gegenüber diesen trifft (§ 43a Abs. 5 BRAO), erscheinen jedenfalls Grundkenntnisse des Rechnungslegungsrechts schon berufsrechtlich unabdingbar. Die mit der Einführung der Fachanwaltschaften geschaffenen Spezialisierungsmöglichkeiten der Anwaltschaft66 machen ebenfalls Kenntnisse im Rechnungslegungsrecht zum zwingenden Bestandteil des vorhandenen Wissens. So erfordern der Fachanwalt für Handels- und Gesellschaftsrecht (§ 14i Nr. 2 lit. f Fachanwaltsordnung),67 der Fachanwalt für Insolvenzrecht § 14 Nr. 3 lit. a und b Fachanwaltsordnung)68 und schließlich der Fachanwalt für Steuerrecht (§ 9 Nr. 1 Fachanwaltsordnung)69 besondere Kenntnisse im Bereich des Rechnungslegungsrechts. Für den Fachanwalt für Steuerrecht schließlich bilden die Buchhaltung und das Bilanzwesen sogar einen zusätzlich Ausbildungsteil, der die Gesamtdauer des erforderlichen Lehrgangs entsprechend erhöht (§ 4 Abs. 1 Satz 2 Fachanwaltsordnung). 2. Anforderungen an bestimmte Richterämter Weiterhin werden jedenfalls für bestimmte Richterämter erhöhte (formale) Qualifikationsanforderungen diskutiert. So kann ab Inkrafttreten70 des ESUG71 ein Richter nur noch dann mit Insolvenzsachen betraut werden, wenn dieser belegbare Kenntnisse auf den Gebieten des Insolvenzrechts, des Handels- und Gesellschaftsrechts sowie über Grundkenntnisse der für das Insolvenzverfahren notwendigen Teile des Arbeits-, Sozial- und Steuerrechts und des Rechnungswesens nachweisen kann (§ 22 Abs. 6 Satz 2 GVG n. F.). Diese Anforderungen gelten künftig auch für Rechtspfleger (§ 18 Abs. 4 RPflG n. F.). Diese von der Praxis begrüßte Professionalisierung des Richteramts (für Insolvenzsachen) wurde allerdings im Gesetzgebungsverfahren vom Bundesrat mit der Begründung als unnötig abgelehnt, dass dies einen gravierenden Bruch mit der

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66 Zur Bedeutung und Aufgabe des Fachanwaltes in der Anwaltschaft vgl. nur Feuerich/Weyland, 7. Aufl. 2008, § 43c BRAO Rz. 16 ff. 67 Dabei soll es sich um Grundzüge des Bilanz- und Steuerrechts handeln. 68 Dies wird als betriebswirtschaftliche Grundlagen Buchführung, Bilanzierung und Bilanzanalyse und der Rechnungslegung in der Insolvenz bezeichnet. 69 Dabei handelt es sich um besondere Kenntnisse im Bereich der Buchführung und des Bilanzwesens einschließlich des Rechts der Buchführung und des Jahresabschlusses. 70 Diese Änderungen treten erst zum 1.1.2013 in Kraft. 71 Entwurf eines Gesetzes zur weiteren Erleichterung der Sanierung von Unternehmen (ESUG), BT-Drucks. 17/5712, S. 1 ff.; vgl. dazu ausführlich Hirte/Knof/Mock, DB 2011, 632 ff., 693 ff.; dies., Das neue Insolvenzrecht nach dem ESUG, 2012, S. 65 f.

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deutschen Ausbildungskonzeption nach § 5 Abs. 1 DRiG bedeuten würde, zumal der deutsche Einheitsjurist sich ohne Weiteres aufgrund seiner Rechtskenntnisse und seiner wissenschaftlich-methodischen Fähigkeiten in neue Rechtsmaterien einarbeiten könnte.72 Diese Bewertung muss vor allem hinsichtlich der Kenntnisse des Rechnungslegungsrechts mehr als überraschen, da dieses gerade nicht ein klassisches juristisches Kerngebiet darstellt73 und hinsichtlich seiner wissenschaftlichen Methodik teilweise deutlich von der Rechtswissenschaft abweicht. Diese Diskussion um die Notwendigkeit von Spezialkenntnissen für die Ausübung bestimmter Richterämter – jenseits von allgemeiner Berufserfahrung – zeigt letztlich die Notwendigkeit der Integration des Rechnungslegungsrechts in die juristische Ausbildung. Denn gerade aufgrund des nur teilweise bestehenden rechtlichen Bezugs dieser Materie74 kann sich der Einheitsjurist dieser in der Regel mit seinem in der Juristenausbildung erlernten juristischen Handwerkszeug nicht nähern. 3. Anforderungen an Insolvenzverwalter Auch andere juristische Berufsbilder setzen in großem Umfang Kenntnisse des Rechnungslegungsrechts voraus. Dies gilt vor allem für Insolvenzverwalter, die nach § 56 Abs. 1 InsO geeignet und geschäftskundig sein müssen. Kenntnisse in der Buchführung, Bilanzierung und Bilanzanalyse sowie hinsichtlich der Rechnungslegung gelten dabei als unverzichtbar.75 4. Einsetzende Rückgewinnung aufgegebener Berufszweige Schließlich sind Kenntnisse des Rechnungslegungsrechts für die Berufe des Wirtschaftsprüfers und des Steuerberaters unverzichtbar und integraler Bestandteil der jeweiligen Zulassungsprüfungen (§ 4 WiPrPrüfV, § 37 Abs. 3 Nr. 6 StBerG). Auffällig ist dabei, dass eine nicht unbeträchtliche Zahl von diesen Berufsträgern ein rechtswissenschaftliches Hochschulstudium absolviert hat. In der Berufsgruppe der Wirtschaftsprüfer trifft dies auf ca. 6 % und in der Berufsgruppe der vereidigten Buchprüfer auf ca. 13 % zu.76 Aufgrund des in der juristischen Ausbildung nahezu vollständig vernachlässigten Rechnungslegungsrechts befinden sich (Voll-)Juristen im Vergleich zu den Absolventen der betriebswirtschaftlichen Studiengänge in einem klaren Wettbewerbsnachteil. Be-

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72 Stellungnahme des Bundesrates zum Entwurf eines Gesetzes zur weiteren Erleichterung der Sanierung von Unternehmen (ESUG), BR-Drucks. 127/11, S. 26. 73 S. oben III. 2. 74 S. oben II. 75 Vgl. nur Uhlenbruck in Uhlenbruck/Hirte/Vallender, 13. Aufl. 2010, § 56 InsO Rz. 16; ebenso die Empfehlungen (II.2.b)) der Kommission zur Vorauswahl und Bestellung von InsolvenzverwalterInnen sowie Transparenz, Aufsicht und Kontrolle im Insolvenzverfahren (Uhlenbruck-Kommission [abgedruckt bei Uhlenbruck, ebda., § 56 InsO Rz. 29]). 76 Vgl. WPK, Statistische Informationen zu unseren Mitgliedern (Stand 1.1.2011), die abrufbar sind unter http://www.wpk.de/beruf-wp-vbp/statistiken.asp.

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Heribert Hirte und Sebastian Mock

rücksichtigt man die große Sättigung des Anwaltsmarktes, ist ein solcher Wettbewerbsnachteil nicht zu rechtfertigen.

V. Ausblick Das Rechnungslegungsrecht ist integraler Bestandteil des Wirtschaftsrechts und ist vor allem Grundvoraussetzung für eine vollständige Durchdringung des Gesellschafts- und Kapitalmarktrechts. Während dieser Gesichtspunkt in der historischen Entwicklung der Juristenausbildung immer wieder adressiert wurde, zeigen vor allem die jüngeren Entwicklungen eine zunehmende Entfremdung der Juristenausbildung vom Rechnungslegungsrecht. Aufgrund der großen Bedeutung des Wirtschaftsrechts für die Praxis aller juristischen Berufe ist eine Wiederentdeckung dieser Materien nicht zuletzt zur Erhaltung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Juristenausbildung zwingend erforderlich. Der (erneuten) Integration des Rechnungslegungsrechts in das juristische Studium kann auch nicht entgegengehalten werden, dass damit lediglich eine weitere Ausweitung der Stoffmenge verbunden wäre, die mit der Aufgabe des Studiums der Rechtswissenschaft in Form der Vermittlung der Grundlagen und Methodik unvereinbar wäre. Denn im Gegensatz zu den zahlreichen anderen rechtlichen Spezialmaterien kann das Rechnungslegungsrecht nur sehr begrenzt anhand der allgemeinen methodischen Grundlagen, die im Laufe eines juristischen Studiums erworben werden sollen, später von selbst erlernt oder erschlossen werden. Die enge Verknüpfung des Rechnungslegungsrechts mit der Betriebswirtschaftslehre erfordert nämlich gerade eine Auseinandersetzung mit diesen gerade nicht juristisch vorgeprägten Bereichen. Und auch der geringe Anteil von Juristen in den vom Rechnungslegungsrecht geprägten Berufen77 trotz ihrer teilweise originär juristischen Tätigkeit legt deutlich Zeugnis davon ab, dass eine Auseinandersetzung mit dem Rechnungslegungsrecht auch im Rahmen der späteren juristischen Tätigkeit in der Regel nicht mehr stattfindet.

__________ 77 S. oben IV.

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Michael Hoffmann-Becking

Gibt es das Konzerninteresse? Inhaltsübersicht I. Einleitung II. Möglicher Inhalt eines Konzerninteresses III. Möglicher Konflikt zwischen Konzerninteresse und Interesse der Konzernobergesellschaft IV. Konzerninteresse als rechtlicher Verhaltensmaßstab

V. Konzerninteresse als Grenze des Weisungsrechts im Vertragskonzern VI. Konzerninteresse als Verhaltensmaßstab für die Aufsichtsratsmitglieder der Konzernobergesellschaft VII. Ergebnisse

I. Einleitung Dreißig Jahre sind vergangen seit dem Erscheinen der für die Entwicklung des deutschen Konzernrechts wegweisenden Habilitationsschrift von Peter Hommelhoff mit dem Titel „Die Konzernleitungspflicht“. Aber noch immer streiten die Konzernrechtler darüber, ob es die Konzernleitungspflicht wirklich gibt oder damit nur eine Selbstverständlichkeit ausgedrückt wird, nämlich die Verpflichtung des Vorstands, das ihm anvertraute Beteiligungsvermögen bestmöglich zu nutzen.1 Mit dem „Konzerninteresse“ verhält es sich ähnlich: Gibt es das Konzerninteresse überhaupt oder handelt es sich nur um ein begriffliches Missverständnis? Gibt es ein vom Interesse der Konzernobergesellschaft unterscheidbares Konzerninteresse oder ist damit bei Licht besehen nichts anderes als das Interesse der Konzernobergesellschaft gemeint? Kann es, wenn mit dem Konzerninteresse etwas anderes gemeint sein soll als das Interesse der Konzernobergesellschaft, einen Konflikt zwischen den beiden Interessen geben und welches Interesse bestimmt dann den rechtlich verbindlichen Verhaltensmaßstab für die Organe der Konzerngesellschaften? In einem Vortrag zum „Aufsichtsrat im Konzern“, den ich auf dem ZHR-Symposion im Jahre 1995 gehalten habe, habe ich von einem „diffusen Nebel“ gesprochen, der den Begriff des Konzerninteresses umgibt, und die Aussage gewagt, dass es kein Konzerninteresse gibt, jedenfalls nicht im Sinne eines Gesamtinteresses des Konzernverbands als rechtliche Verhaltensnorm für die Organe der einzelnen Konzerngesellschaften, und zwar auch nicht für die

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1 Zum Streitstand, ausgehend von Hommelhoff, Die Konzernleitungspflicht, 1982, S. 43 ff., s. Koppensteiner in KölnKomm. AktG, 3. Aufl. 2004, Vorb. § 291 AktG Rz. 71; Krieger in MünchHdb. AG, 3. Aufl. 2007, § 69 Rz. 24; Altmeppen in MünchKomm. AktG, 3. Aufl. 2010, § 311 AktG Rz. 390 ff.; Hüffer, 10. Aufl. 2012, § 76 AktG Rz. 17 f.; Fleischer in Spindler/Stilz, 2. Aufl. 2010, § 76 AktG Rz. 84 ff.

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Organe der Konzernobergesellschaft.2 Dies erschien mir so einleuchtend und klar, dass ich glaubte, auf eine nähere Begründung verzichten zu können. Aber schon in der an meinen Vortrag anschließenden Diskussion stieß meine These auf heftige Kritik,3 und heute muss ich bei Durchsicht der Literatur feststellen, dass nicht nur die Begriffsverwirrung weiterhin anhält, sondern immer deutlicher erkennbar wird, dass sich hinter dem Streit über den Begriff des Konzerninteresses eine erhebliche sachliche Meinungsverschiedenheit verbirgt. Deshalb will ich der Frage nach der Existenz eines vom Interesse der Konzernobergesellschaft zu unterscheidenden Konzerninteresses als Verhaltensmaßstab für die Organe der Konzerngesellschaften noch einmal nachgehen. Die Untersuchung soll die folgenden Fragen beantworten: Kann in einem Unterordnungskonzern mit dem Konzerninteresse inhaltlich etwas anderes gemeint sein als das Interesse der Konzernobergesellschaft? (II.) Kann es einen Konflikt geben zwischen dem Interesse der Konzernobergesellschaft und einem davon nicht nur begrifflich, sondern auch inhaltlich unterschiedenen Konzerninteresse? (III.) Folgt aus einem vom Interesse der Konzernobergesellschaft unterschiedenen Konzerninteresse ein rechtlicher Verhaltensmaßstab? (IV.) Und schließlich die beiden spezielleren Fragen: Ergibt sich aus dem Konzerninteresse eine Beschränkung des beherrschungsvertraglichen Weisungsrechts nach § 308 AktG? (V.). Sind die Aufsichtsratsmitglieder der Konzernobergesellschaft zur Wahrung des Konzerninteresses verpflichtet? (VI.)

II. Möglicher Inhalt eines Konzerninteresses Manche meinen, wenn sie von „Konzerninteresse“ sprechen, bei näherem Hinsehen nichts anderes als das Interesse der Konzernobergesellschaft.4 Wenn das Konzerninteresse begriffsnotwendig mit dem Interesse der Konzernobergesellschaft identisch wäre, also gar nichts anderes mit dem Begriff des Konzerninteresses gemeint sein könnte, könnte man die Diskussion schon an diesem Punkt beenden. Aber das wäre vorschnell. Losgelöst von der erst anschließend zu beantwortenden Frage, ob ein eigenständig definiertes Konzerninteresse einen rechtlich verbindlichen Verhaltensmaßstab abgeben kann, ist zunächst zu klären, ob sich ein Konzerninteresse inhaltlich im Unterschied zu den Interessen der einzelnen Konzerngesellschaften definieren lässt. Die Betriebswirtschaftslehre dürfte damit schon deshalb kein großes Problem haben, weil sie den Konzern anders als die Rechtswissenschaft als ein einziges Unternehmen und nicht als eine Vielheit von Unternehmen begreift. Aber

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2 ZHR 159 (1995), 325, 330 f. 3 Diskussionsbericht von Carsten Schäfer, ZHR 159 (1995), 346, 348 f. 4 So z. B. Hommelhoff (Fn. 1), S. 247 f.; Hirte in Großkomm. AktG, 4. Aufl. 2005, § 308 AktG Rz. 51; Marsch-Barner in ArbHdb. für Aufsichtsräte, 3. Aufl. 2009, Rz. 132. Auch auf Ebene der EU gibt es offenbar einen entsprechenden unscharfen Sprachgebrauch. Wenn z. B. im Bericht der Reflection Group On the Future of EU Company Law v. 5.4.2011 auf den S. 59 ff. von „interest of the group“ die Rede ist und dies mit „Konzerninteresse“ übersetzt wird, ist damit vermutlich das Interesse der Konzernobergesellschaft gemeint.

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auch für den Juristen ist die Vorstellung eines übergreifenden Verbandsinteresses, das aus einer Gewichtung und Abgleichung der Interessen der einzelnen Verbandsglieder resultiert, keine von vorneherein fremde Vorstellung. In jedem Personenverband, sei es eine Gesellschaft, ein Verein oder eine Genossenschaft, lässt sich, gleichgültig, ob der Verband rechtsfähig ist oder nicht, ein gemeinsames Verbandsinteresse definieren, das sich nicht als Summe der Einzelinteressen der Verbandsglieder ergibt, sondern als gemeinsamer Nenner aus einem Abgleich der Einzelinteressen gleichsam „herausdestilliert“ werden muss. Und noch allgemeiner: Bei jeder Gruppe, die zusammenarbeiten will oder muss, gibt es ein gemeinsames Interesse, und sei es nur entsprechend dem kleinsten gemeinsamen Nenner. Ein solches gemeinsames Interesse aller Konzernglieder ist, zunächst rein faktisch und noch nicht normativ betrachtet, auch in einem Konzern als Verbund rechtlich selbstständiger Konzerngesellschaften denkbar. In der Tat verstehen zahlreiche Autoren unter dem „Konzerninteresse“ ein korporatives Gesamtinteresse aller Gliedunternehmen des Konzerns. Die Bezeichnungen für dieses Phänomen sind zwar unterschiedlich, aber immer ist ein eigenständig definiertes Interesse des als Korporation verstandenen Konzerns gemeint. Ganz deutlich gilt das für Bälz, der den Konzern als „polykorporatives Unternehmen“ bezeichnet und meint, in dem „Konzerninteresse“ werde „der von den einzelnen Unternehmensgliedern verfolgte Unternehmenszweck zu einem gemeinsamen Zweck zusammengefasst“, dessen Träger nicht die Obergesellschaft, sondern der Verbund der Unternehmensglieder sei.5 Schlegelberger/Quassowski sprachen in ihrer Kommentierung des § 101 AktG 1937 von dem „höheren Interesse der in dem Konzern zusammengefassten Gemeinschaft“, hinter dem das Interesse des einzelnen Konzernunternehmens zurücktreten müsse.6 Semler sieht in dem „Konzerninteresse“ anders als Schlegelberger/Quassowski kein höherrangiges Interesse im Verhältnis zum Interesse der Konzerntöchter, sondern will mit Hilfe des „Konzerninteresses“, das er aus einer Abgleichung der Interessen der originären Interessenträger herleiten will, im Gegenteil begründen, dass im Konzern eine ausschließliche Berücksichtigung der Interessen des herrschenden Unternehmens verboten sei; wer das wolle, müsse von einer Konzernbildung absehen.7 Ähnlich argumentiert Lutter, der meint, im Konzern dürfe es für den Vorstand der Obergesellschaft „nicht nur um deren Bestes, sondern um die Förderung des Konzerns“ gehen, und Maßstab des Vorstandshandelns im Konzern sei „das Konzerninteresse, die Förderung des Unternehmensverbundes als Ganzem“.8 Ganz in diesem Sinne bezeichnet Immenga das Konzerninteresse als das „Interesse der übergeordneten, im Konzern verkörperten Unternehmenseinheit“,9 und eben-

__________ 5 Bälz, Einheit und Vielheit im Konzern, FS Ludwig Raiser, 1974, S. 287, 320, 324. 6 Schlegelberger/Quassowski, AktG, 3. Aufl. 1939, § 101 AktG Rz. 10. 7 Semler, Leitung und Überwachung der Aktiengesellschaft, 2. Aufl. 1996, S. 222 f.; s. auch Semler in FS Stiefel, 1987, S. 719, 742. 8 Lutter in Lutter/Krieger, Rechte und Pflichten des Aufsichtsrats, 5. Aufl. 2008, § 4 Rz. 137. 9 Immenga, ZHR 140 (1976), 301, 304 f.

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so spricht Geßler von dem „nicht nur gegenüber der abhängigen Gesellschaft, sondern auch gegenüber dem Eigeninteresse des herrschenden Unternehmens übergreifenden Konzerninteresse.“10 Altmeppen meint, dass es sich bei dem Unternehmensverbund des Konzerns um ein Gesamtunternehmen handelt, „bei welchem die Interessen der einzelnen Konzernunternehmen mit demjenigen des ‚Gesamtunternehmens‘ verschmelzen.“11 Ob dies rechtlich richtig gesehen ist, soll hier zunächst noch offen bleiben. Festzuhalten ist jedenfalls, dass es verbreitet für möglich gehalten wird, ein Konzerninteresse im Sinne eines alle Konzernunternehmen verbindenden Verbandsinteresses zu definieren, das nicht mit dem Interesse der Konzernobergesellschaft identisch ist. In einem auf Vertrag beruhenden Gleichordnungskonzern von zwei Gesellschaften ist es nicht nur möglich, sondern sogar notwendig, das verbindende Konzerninteresse zu ermitteln, da es den rechtlich verbindlichen Verhaltensmaßstab für die Organe der horizontal verbundenen Gesellschaften abgibt – mit dem wesentlichen Unterschied zum Unterordnungskonzern, dass beim Gleichordnungskonzern „jedes der beteiligten Unternehmen an der Bildung des Konzernwillens mitwirkt“.12 Im Unterordnungskonzern ist das, was die normative Bindungswirkung des Konzerninteresses betrifft, anders zu beurteilen, wie nachstehend dargelegt wird. Aber im Ausgangspunkt ist es auch im Unterordnungskonzern zumindest theoretisch möglich, ein eigenständiges Konzerninteresse zu definieren. Konkret ist seine Ermittlung schwierig und unsicher, da es nicht um die aus einer Addition folgende Summe der Einzelinteressen der Konzernglieder geht, sondern um eine aus einem wertenden Abgleich der Einzelinteressen folgende Resultante. In diesen Abgleich müssen die Interessen der einzelnen Konzernglieder mit unterschiedlichem Gewicht eingehen, nicht nur entsprechend ihrer Größe, sondern auch nach Maßgabe ihrer Rentabilität, ihres Interesses am Fortbestand der Konzernverbindung, der Interessen ihrer Arbeitnehmer und sonstigen Stakeholder etc.

__________ 10 Geßler, ZHR 140 (1976), 423, 437. 11 Altmeppen in MünchKomm. AktG, 3. Aufl. 2010, § 308 AktG Rz. 103. 12 Untersuchungen zur Reform des Konzernrechts, Bericht der Studienkommission des Deutschen Juristentags, 1967, S. 39 Rz. 209. Die Studienkommission hält das „Konzerninteresse“ mit Bezug auf den Gleichordnungskonzern für maßgeblich, lehnt dagegen für den vertraglichen Unterordnungskonzern eine Begrenzung des Weisungsrechts durch das „Interesse des Gesamtkonzerns“ ab (S. 94 Rz. 576). Zur gleichberechtigten Mitwirkung der Partner des Gleichordnungskonzerns an der Bildung des einheitlichen Leitungswillens und zur Gleichrichtung ihrer Interessen s. auch Krieger (Fn. 1), § 68 AktG Rz. 82; Gromann, Die Gleichordnungskonzerne im Konzern- und Wettbewerbsrecht, 1979, S. 47 ff.; Milde, Der Gleichordnungskonzern im Gesellschaftsrecht, 1996, S. 102 f.

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III. Möglicher Konflikt zwischen Konzerninteresse und Interesse der Konzernobergesellschaft In der nächsten Stufe der Prüfung geht es um die Frage, ob Konflikte zwischen dem Interesse der Konzernobergesellschaft und dem Konzerninteresse im vorstehend verstandenen Sinne, also dem Gesamtinteresse aller Gliedunternehmen des Konzerns, in der Konzernpraxis auftreten können. Manche bezweifeln, dass es Interessenkonflikte zwischen der Konzernobergesellschaft und dem Konzern in seiner Gesamtheit überhaupt geben kann.13 Interessenkonflikte seien, wenn überhaupt, allenfalls in einem Stammhauskonzern, nicht dagegen bei einem von einer reinen Holding geführten Konzern möglich.14 Tatsächlich dürfte es eher umgekehrt liegen: Gerade bei einem Holding-Konzern kann es zu einem Konflikt zwischen dem Interesse der Holding und dem Gesamtinteresse des Konzerns im vorstehend beschriebenen Sinne kommen, namentlich bei Portfolio-Entscheidungen der Holding. Richtig ist zwar, dass sich im Holding-Konzern der wirtschaftliche Erfolg der Holding ausschließlich aus der Geschäftsentwicklung in den Tochter- und Enkelunternehmen ergibt.15 Aber das bedeutet nur, dass die Holding im Eigeninteresse an einer rentablen Entwicklung der Konzerntöchter interessiert ist und es derzeit als in ihrem Interesse liegend erachtet, ihr Vermögen gerade in diesen Tochter- und Enkelunternehmen investiert zu haben. Die Einschätzung kann sich ändern und die Holding zum Beispiel veranlassen, eine große Tochtergesellschaft, die nach Größe, Arbeitnehmerzahl und vielleicht auch weiteren Kriterien ein erhebliches Gewicht besitzt, zu veräußern, weil die Holding aufgrund ihrer Finanzlage Kapital freisetzen muss oder weil der Vorstand der Holding meint, er könne die in der Tochtergesellschaft gebundenen Mittel ertragreicher in einer anderen Gesellschaft einsetzen. Bei solchen Entscheidungen kann das Interesse der Konzernobergesellschaft mit einem Gesamtinteresse aller vorhandenen Konzernglieder kollidieren. So kann in dem angesprochenen Beispielsfall die Tochtergesellschaft intensiv am Fortbestand der Konzernverbindung interessiert sein, weil ihre Belegschaft und vielleicht auch ihr Management den Verkauf an einen anderen Konzern fürchten, da dies erfahrungsgemäß zum Abbau von Arbeitsplätzen und zu einem Wechsel des Managements führt. Ein Interesse der Konzerntochter an ihrer unveränderten Zugehörigkeit zum Konzern ist jedoch nicht maßgeblich für das Interesse der Kon-

__________ 13 Krieger (Fn. 1), § 69 Rz. 31a; Lutter in Lutter/Krieger (Fn. 8), § 4 Rz. 137 Fn. 1; Heller, Unternehmensführung und Unternehmenskontrolle unter besonderer Berücksichtigung der Gesamtverantwortung des Vorstands, 1998, S. 128. Vgl. auch Scheffler, DB 1994, 793, 797 („Interessenkonflikte zwischen dem Konzern und der Konzernobergesellschaft sind selten“) und Altmeppen in MünchKomm. AktG, § 308 AktG Rz. 102 („Typischerweise deckt sich das Konzerninteresse genau mit dem eigenen Interesse des herrschenden Unternehmens.“). 14 Löbbe, Unternehmenskontrolle im Konzern, 2003, S. 51; Heller (Fn. 13), S. 128. Vgl. auch Diskussionsbericht in ZHR 159 (1995), 346, 348. 15 So Löbbe (Fn. 14), S. 51.

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zernobergesellschaft, das ausschließlich darauf gerichtet ist, eine bestmögliche Investition der zur Verfügung stehenden Mittel zu gewährleisten. An diesem Beispiel zeigt sich, dass ein vom Interesse der Obergesellschaft losgelöstes Gesamtinteresse aller Konzernglieder tendenziell auf die Bewahrung des angestammten Zuschnitts des Konzerns hinausläuft. Wäre das so verstandene Konzerninteresse maßgeblich für die rechtliche Pflichtenbindung der Organe der Konzernobergesellschaft, müssten diese unter Umständen der Erhaltung des Status Quo den Vorzug geben, obwohl das Interesse der Konzernspitze in eine andere Richtung geht.

IV. Konzerninteresse als rechtlicher Verhaltensmaßstab Nach den begrifflichen Vorklärungen geht es nun um die entscheidende Sachfrage: Folgt aus dem als Gesamtinteresse der Konzernglieder definierten Konzerninteresse ein rechtlich verbindlicher Maßstab für die Organe der einzelnen Konzerngesellschaften? Dagegen spricht, dass es keinen Träger dieses Interesses gibt, denn der Konzern ist nun einmal kein Rechtssubjekt mit eigenen Rechten und Pflichten. Da, wie Zöllner formuliert, ein „konzerntragender Verband“ fehlt, ist es „nicht möglich, das Konzerninteresse aufzufassen als ein Gesamtinteresse analog dem Verbandsinteresse bei der Einzelgesellschaft.“16 Aber dieser Einwand ist nicht zwingend. Es ist immerhin denkbar, dass die Organe der einzelnen Konzerngesellschaft wegen der Konzernverbindung gewissermaßen altruistisch auf ein fremdes Interesse, nämlich das Gesamtinteresse des Konzernverbands, verpflichtet sind, auch wenn diesem Konzerninteresse ein Träger fehlt. Deshalb sollte man sich nicht mit dem Einwand des fehlenden Rechtsträgers begnügen, sondern die Interessen und Pflichten der Konzerngesellschaften und ihrer Organe differenziert betrachten. Zunächst zur Pflichtenlage der Organe der Konzerntöchter. Bei der vertraglich konzernierten Tochtergesellschaft haben wir es mit einer besonderen Konstellation zu tun, die nachstehend anhand der gesetzlichen Regelung in § 308 AktG behandelt wird. Bei der nur faktisch konzernierten Tochter kann nach heutigem Recht kein Zweifel bestehen, dass ihre Organe nur auf das individuelle Interesse der Tochtergesellschaft verpflichtet sind, nicht aber auf ein angeblich höherrangiges Konzerninteresse. Zur Zeit des Aktiengesetzes 1937 wurde das, wie die vorstehend zitierte Kommentierung des § 101 AktG 1937 durch Schlegelberger/Quassowski und die amtliche Begründung dieser Vor-

__________ 16 Zöllner, Die Schranken mitgliedschaftlicher Stimmrechtsmacht bei den privatrechtlichen Personenverbänden, 1963, S. 82; ebenso Zöllner in KölnKomm. AktG, 1. Aufl. 1984, Einl. Rz. 137. S. auch Habersack in MünchKomm. AktG, 3. Aufl. 2008, § 111 AktG Rz. 54; Koppensteiner in KölnKomm. AktG, § 308 AktG Rz. 38; Mülbert, Aktiengesellschaft, Unternehmensgruppe und Kapitalmarkt, 1995, S. 181; Paefgen, Unternehmerische Entscheidungen und Rechtsbindung der Organe in der AG, 2002, S. 509 f.

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schrift zeigen,17 noch verbreitet anders gesehen. Aber jedenfalls unter der Geltung des Konzernrechts des Aktiengesetzes 1965 steht fest, dass die Organe der nur faktisch konzernierten Tochter ausschließlich auf deren Unternehmensinteresse verpflichtet sind, also im Konfliktfall nicht dem Interesse der Konzernobergesellschaft und auch nicht einem irgendwie definierten Gesamtinteresse des Konzerns den Vorzug geben dürfen. Das dürfte unstreitig sein. Wie verhält es sich aber mit der Pflichtenbindung der Organe der Konzernobergesellschaft? Hier scheiden sich die Geister. Die Vertreter eines die Organe verpflichtenden Konzerninteresses sind der Auffassung, dass Vorstand und Aufsichtsrat der Obergesellschaft nicht befugt seien, sich bei der Konzernführung nach dem Unternehmensinteresse der Obergesellschaft zu richten, sondern dem davon zu unterscheidenden Konzerninteresse folgen müssten.18 Begründet wird dies mit zwei Argumenten: Zum einen folge die notwendige Berücksichtigung des Konzerninteresses aus der Tatsache, dass die Obergesellschaft ihr Vermögen in den Tochtergesellschaften investiert hat, und zum anderen sei die Bindung an das Konzerninteresse erforderlich, um die Tochtergesellschaften, für die die Muttergesellschaft durch die Konzernierung Verantwortung übernommen habe, vor schädigenden Eingriffen zu schützen. Beide Argumente sind nicht überzeugend: Wenn die Obergesellschaft Teile ihres Vermögens oder sogar – im reinen Holding-Konzern – ihr gesamtes Vermögen in Tochtergesellschaften investiert hat, ist sie nicht in einem irgendwie definierten Gesamtinteresse des Konzerns, sondern im Eigeninteresse am Wohlergehen der einzelnen Töchter interessiert, so lange sie davon überzeugt ist, dass die betreffende Tochter auch weiterhin in ihrem Beteiligungsbesitz bleiben soll und nicht besser veräußert wird. Die These vom angeblich verpflichtenden „Konzerninteresse“ beruht auf demselben Missverständnis wie die irrige Vorstellung, dass sich die Organe der Konzernobergesellschaft durch die Konzernbildung zum „Konzernvorstand“ und „Konzernaufsichtsrat“ mit einer entsprechenden konzernweiten Pflichtenbindung wandeln. Es gibt aber weder einen Aufsichtsrat noch eine Geschäftsführung des Konzerns, sondern nur die entsprechenden Organe der Konzernobergesellschaft, die für den bestmöglichen Einsatz der Mittel der Obergesellschaft zu sorgen haben und aus diesem Grund verpflichtet sind, sich um das Geschehen in den Tochtergesellschaften zu kümmern.19 Und folgerichtig gibt es kein die Organe verpflichtendes Konzerninteresse, sondern nur das Interesse der Konzernobergesellschaft, dass die nachgeordneten Unternehmen bestmöglich zu Ergebnis und Wertentwicklung der Obergesellschaft beitragen.

__________ 17 Nachw. bei Hommelhoff (Fn. 1), S. 27, Zöllner (Fn. 16), S. 86 u. Dettling, Die Entstehungsgeschichte des Konzernrechts im Aktiengesetz von 1965, 1997, S. 64, 78. 18 Semler (Fn. 7).; Lutter (Fn. 8); Heller (Fn. 13), S. 127; auch Immenga (Fn. 9), Gessler (Fn. 10) und Langenbucher in K. Schmidt/Lutter, 2. Aufl. 2010, § 308 AktG Rz. 27 zum Weisungsrecht im Vertragskonzern. Dagegen Habersack (Fn. 16); Koppensteiner (Fn. 1), § 308 AktG Rz. 37; Mülbert (Fn. 16), S. 181 f.; Zöllner (Fn. 16), Einl. Rz. 137; Paefgen (Fn. 16); Löbbe (Fn. 14), S. 50 ff.; v. Schenck in ArbHdb. für Aufsichtsräte, 3. Aufl. 2009, Rz. 152. 19 Hoffmann-Becking in MünchHdb. AG, 3. Aufl. 2007, § 29 Rz. 25; v. Schenck (Fn. 18).

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Auch das zweite Argument geht fehl, weil es dem System des geltenden Konzernrechts widerspricht. Der Schutz der abhängigen Tochter wird nicht durch die Bindung der Obergesellschaft an ein übergreifendes Konzerninteresse gewährleistet, sondern durch den unmittelbaren Schutz des Eigeninteresses der faktisch konzernierten Tochter gegen schädigende Eingriffe der Mutter. Das konzernspezifische Spannungsverhältnis wird nach geltendem Recht nicht durch ein von Ober- und Untergesellschaft zu beachtendes übergreifendes Konzerninteresse aufgehoben, sondern der Schutz der Tochtergesellschaft wird, wie insbesondere Hommelhoff dargelegt hat, dadurch gewährleistet, dass sich das Interesse der Obergesellschaft an den Gegenkräften aus dem Recht der Tochtergesellschaft bricht.20 Die Obergesellschaft kann sich zur Verfolgung ihrer Interessen die Tochtergesellschaft nur insoweit dienstbar machen, als nicht die rechtlichen Vorkehrungen zum Schutz der Interessen der Tochtergesellschaft entgegenstehen, im faktischen AG-Konzern also die Beschränkungen der §§ 311 ff. AktG und im GmbH-Konzern die Beschränkung der Konzernherrschaft des Mehrheitsgesellschafters durch die Treuepflicht. Der Bindung an ein Gesamtinteresse des Konzerns bedarf es nicht, um das Interesse der Tochtergesellschaft zu schützen, und auch nicht, um die Interessenbindung der Organe der Konzernobergesellschaft sachgerecht auszurichten. Das geltende Konzernrecht ist vielmehr bipolar angelegt und regelt das Spannungsverhältnis zwischen Mutter- und Tochtergesellschaft vorwiegend durch Vorkehrungen im Recht der Tochtergesellschaft zum Schutz des Tochterinteresses und außerdem, wie erst relativ spät erkannt wurde, durch Änderungen im Organisationsrecht der Konzernobergesellschaft. Zusammenfassend ist festzuhalten: Die Vorstellung von einem übergreifenden und für die Organe der Konzerngesellschaften bindenden Konzerninteresse ist jedenfalls mit dem heutigen Konzernrecht nicht vereinbar und war wohl auch schon in den Zeiten des Aktiengesetzes 1937 verfehlt.21 Letztlich äußert sich in der These vom korporativen Gesamtinteresse aller Konzernglieder ein heute merkwürdig anmutendes Gemeinschaftsdenken, das den Unterordnungskonzern als eine Korporation, vergleichbar einem föderalen Bundesstaat,22 oder gar als eine Art Genossenschaft zum Nutzen aller Konzernglieder missversteht.23

__________ 20 Hommelhoff (Fn. 1), S. 109 ff., 247 f. et passim. 21 Vgl. die scharfe Kritik von Zöllner (Fn. 16), der zwar im Ergebnis ein Konzerninteresse akzeptiert, aber nur als Interesse der Allgemeinheit an der Bildung, Erhaltung und Funktionsfähigkeit von Konzernen, und zwar auch noch unter der Geltung des AktG 1965; dazu mit Recht ablehnend Mülbert (Fn. 16), S. 181 Fn. 128. 22 Bälz (Fn. 5), S. 330. 23 Zur Überwindung des Genossenschaftsgedankens in der Entwicklung des Konzernrechts s. Haussmann, Grundlegung des Rechts der Unternehmenszusammenfassungen, 1926, S. 26 ff.

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V. Konzerninteresse als Grenze des Weisungsrechts im Vertragskonzern Ob es das Konzerninteresse als verpflichtenden Verhaltensmaßstab gibt, ist keine bloß akademische Frage. Sie wird zum Beispiel bei den beiden Themen relevant, die nachfolgend näher beleuchtet werden, nämlich den Grenzen des aus einem Beherrschungsvertrag folgenden Weisungsrechts und der Pflichtenbindung der Mitglieder des Aufsichtsrats der Konzernobergesellschaft. Zunächst zur Begrenzung des Weisungsrechts: Besteht ein Beherrschungsvertrag, so ist das herrschende Unternehmen berechtigt, dem Vorstand der Tochtergesellschaft hinsichtlich der Leitung der Gesellschaft Weisungen zu erteilen. Das herrschende Unternehmen kann auch Weisungen erteilen, die für die Tochtergesellschaft nachteilig sind, vorausgesetzt, sie dienen den Belangen des herrschenden Unternehmens oder der mit ihm und der Gesellschaft konzernverbundenen Unternehmen, § 308 Abs. 1 Satz 2 AktG. Der Vorstand der Tochtergesellschaft ist nur dann befugt, die Befolgung einer nachteiligen Weisung mit dem Argument zu verweigern, sie diene nicht den Belangen des herrschenden Unternehmens oder der mit ihm und der Gesellschaft konzernverbundenen Unternehmen, wenn die Weisung offensichtlich nicht diesen Belangen dient, § 308 Abs. 2 Satz 2 AktG. Weder in § 308 Abs. 1 Satz 2 noch in § 308 Abs. 2 Satz 2 AktG ist vom Konzerninteresse die Rede, und das Aktiengesetz gebraucht das Wort Konzerninteresse auch in keiner anderen Vorschrift. Dennoch entspricht es einem verbreiteten Sprachgebrauch, das Weisungsrecht dürfe nur im Konzerninteresse ausgeübt werden. Manche Autoren meinen damit nichts anderes als das Interesse der Konzernobergesellschaft, andere sind dagegen der Auffassung, das Weisungsrecht werde durch das Konzerninteresse im Sinne eines korporativen Gesamtinteresses der Konzernglieder begrenzt.24 Für diese Interpretation können sie weder Wortlaut noch Sinn der zitierten Vorschriften in Anspruch nehmen.25 Die im Gesetz genannten „Belange des herrschenden Unternehmens“ decken sich mit dem Interesse der Konzernobergesellschaft. Auch der Zusatz „oder der mit ihm und der Gesellschaft konzernverbundenen Unternehmen“ verweist nicht auf ein übergreifendes Gesamtinteresse aller Konzernunternehmen, sondern bezieht sich auf die Interessen anderer Konzernunternehmen, zu deren Gunsten nach dem Willen der Konzernobergesellschaft eine Benachteiligung der vertraglich beherrschten Gesellschaft erfolgen soll. Der Zusatz enthält bei genauerem Hinsehen, was die Rechtfertigung der nachteiligen Weisung betrifft, keine Ausweitung über das Interesse des herrschenden Unternehmens hinaus. Wenn die nachteilige Weisung an die Tochter einem anderen Konzern-

__________ 24 Geßler (Fn. 10); Immenga (Fn. 9); Langenbucher (Fn. 18), § 308 AktG Rz. 27; Scheffler, DB 1994, 793, 797; Altmeppen (Fn. 1), § 308 AktG Rz. 102; Bälz (Fn. 5), S. 306, 324; unklar Emmerich in Emmerich/Habersack, Aktien- und GmbH-Konzernrecht, 6. Aufl. 2010, § 308 AktG Rz. 47 ff.; unentschieden Hommelhoff (Fn. 1), S. 148 Fn. 2. 25 Ablehnend schon die DJT-Studienkommission, s. Fn. 12.

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unternehmen einen Vorteil bringt, dann dient sie zumindest mittelbar dem Interesse der Obergesellschaft. Das soll für die Rechtfertigung der Weisung ausreichen, und das wäre nicht anders zu beurteilen, wenn der Gesetzgeber auf den Zusatz verzichtet hätte. Im Ergebnis geht es immer um das Interesse der Obergesellschaft, das im konkreten Fall darauf gerichtet sein kann, ein anderes Konzernunternehmen zu Lasten der vertraglich beherrschten Gesellschaft zu stärken, weil sich der Vorstand der Obergesellschaft durch die veränderte Allokation der Mittel einen Nutzen für die Obergesellschaft verspricht. Wenn im Zusammenhang mit § 308 AktG vom Konzerninteresse die Rede ist, kann damit also nichts anderes gemeint sein als das „Interesse des herrschenden Unternehmens an einer rentablen Ausnutzung der im Konzern zusammengefassten Wirtschaftskraft“26 und eine „Abbreviatur für das unter Berücksichtigung der Beteiligungsrechte zu ermittelnde Unternehmensinteresse des herrschenden Unternehmens“.27 Im Schrifttum widerspricht vor allem Geßler28 der vorstehenden Auslegung des § 308 AktG. Er meint, es sei von einem nicht nur gegenüber der abhängigen Gesellschaft, sondern auch gegenüber den Eigeninteressen des herrschenden Unternehmens „übergreifenden Konzerninteresse“ auszugehen. Eine Weisung, die nur den eigenen Interessen des herrschenden Unternehmens dient und nicht im Konzerninteresse liegt, sei unzulässig. Und weiter wörtlich: „Die umständliche und vielleicht missverständliche Formulierung ist wohl auf Zöllner zurückzuführen. Er hatte aus der Sicht des AktG 1937 rechtliche Bedenken gegen ein vom Eigeninteresse der einzelnen Konzernunternehmen verschiedenes Gesamtinteresse des Konzerns erhoben, weil es damals im Konzern an einer Ertrags- und Vermögenszusammenfassung fehlte. Deshalb sind die Unternehmen, denen der Nachteil als Vorteil zugutekommen musste, aufgezählt worden. Während § 293 Abs. 1 RefE z. AktG aber noch von ‚eigenen schutzwürdigen‘ Belangen sprach, sind diese beiden weiter zu Missverständnissen Anlass gebenden Worte gestrichen worden. Aus heutiger Sicht hätte auf Belange des Konzerns abgestellt werden können. Nach der Anerkennung von Beherrschungs- und Gewinnabführungsverträgen durch das AktG 1965 stellt der vertragliche Konzern eine ertrags- und vermögensmäßige Zusammenfassung, eine neue wirtschaftliche Einheit dar, in dem an die Stelle der eigenen Belange des einzelnen Konzernunternehmens die des Konzerns treten. Es würde dem Sinn und Zweck der Vorschrift widersprechen, sie dahin auszulegen, dass es genügt, wenn eine Weisung dem eigenen Interesse eines Konzernunternehmens, namentlich des herrschenden Unternehmens, dient. Was beabsichtigt war, ergibt sich klar aus der Entstehungsgeschichte der Vorschrift und der Begründung zum Regierungsentwurf zum AktG. Dort wird ausdrücklich von

__________ 26 Koppensteiner (Fn. 1), § 308 AktG Rz. 37. Zustimmend Sina, AG 1991, 1, 5; v. Schenck (Fn. 18), Rz. 152; Hüffer (Fn. 1) § 308 AktG Rz. 16; Mülbert (Fn. 16), S. 181 f.; Hoffmann-Becking (Fn. 2), S. 331. In diesem Sinne auch schon Brachvogel, Leitungsmacht und Verantwortlichkeit im Konzern, 1967, S. 21, 50. 27 Habersack (Fn. 16). 28 Geßler (Fn. 10).

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Gibt es das Konzerninteresse?

einer ‚Konzernverfassung‘ und von dem ‚Zurückstellen der Interessen der eigenen Gesellschaft zu Gunsten von Konzernbelangen‘ gesprochen.“ Wenn die Gesetzesfassung auf Zöllner zurückzuführen ist, so ist dies ein Beleg dafür, dass gerade kein Konzerninteresse im Sinne eines übergreifenden Gesamtinteresses maßgebend sein soll. Zöllner hat seine Kritik an einem so verstandenen Konzerninteresse nicht nur zum AktG 1937, sondern in beinahe noch schärferen Worten auch zum AktG 1965 vorgetragen.29 Das Argument von Geßler, aus der gesetzlichen Anerkennung des Beherrschungs- und Gewinnabführungsvertrags im AktG 1965 folge eine Verlagerung vom Interesse der Obergesellschaft zum Gesamtinteresse des Konzerns, ist nicht haltbar; ganz im Gegenteil legitimiert der Beherrschungsvertrag die einseitige Durchsetzung des Interesses des herrschenden Unternehmens. Und schließlich ist die Bezugnahme von Geßler auf die Begründung des Regierungsentwurfs zumindest nicht zwingend. Die Begründung zu § 308 AktG spricht nicht vom Konzerninteresse, sondern von „den Belangen des herrschenden Unternehmens und der mit ihm und der Gesellschaft konzernverbundenen Unternehmen“. An anderen Stellen der Begründung ist zwar von „Konzernbelangen“ die Rede, und auch davon, dass der Entwurf eine Benachteiligung abhängiger Gesellschaft im „Interesse des herrschenden Unternehmens oder im Konzerninteresse“ nur zulässt, wenn ein Beherrschungsvertrag besteht. Es mag sein, dass die Verfasser der Begründung damit ein vom Interesse der Obergesellschaft unterschiedenes Konzerninteresse für möglich gehalten haben, aber das steht nicht der aus dem klaren Wortlaut der Vorschrift folgenden Interpretation entgegen, dass schon allein das Interesse der Obergesellschaft und nicht erst ein davon zu unterscheidendes Konzerninteresse eine nachteilige Weisung rechtfertigen kann. Zur Auslegung und Anwendung von § 308 Abs. 1 Satz 2 und Abs. 2 Satz 2 AktG ist somit festzuhalten: Die nachteilige Weisung ist zulässig, wenn sie dem Interesse des herrschenden Unternehmens dient, und der Vorstand kann die Befolgung der Weisung nur dann verweigern, wenn die Weisung offensichtlich nicht dem Interesse des herrschenden Unternehmens dient. Eine derart begründete Nichtbefolgung der Weisung dürfte nur höchst selten in Betracht kommen, denn sie setzt voraus, dass der Vorstand der Tochter das Interesse der Mutter zutreffend definiert, während die Mutter bei ihrer Weisung ihr eigenes Interesse verkannt hat. Noch schärfer formuliert: Die Tochter weiß besser als die Mutter, was der Mutter nutzt. Angesichts des weiten unternehmerischen Ermessens, dass die Organe der Mutter bei der Definition des Interesses des herrschenden Unternehmens besitzen, ist eine solche Konstellation zwar theoretisch denkbar, faktisch aber so gut wie ausgeschlossen.

__________ 29 Zöllner (Fn. 16).

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VI. Konzerninteresse als Verhaltensmaßstab für die Aufsichtsratsmitglieder der Konzernobergesellschaft Die Mitglieder des Aufsichtsrats sind – nicht anders als die Mitglieder des Vorstands – verpflichtet, bei ihrer Amtsführung das Interesse der Gesellschaft zu wahren. Das gilt unstreitig auch für die Vertreter der Obergesellschaft im Aufsichtsrat der nur faktisch konzernierten Tochter. Sie haben in dieser Eigenschaft ausschließlich das Unternehmensinteresse der Tochter zu wahren, dürfen also im Konfliktfall nicht dem Interesse der Konzernobergesellschaft den Vorzug geben. Wenn es sich um den Aufsichtsrat der Obergesellschaft eines Konzerns handelt, könnte man auf den Gedanken kommen, die Interessenbindung der Aufsichtsratsmitglieder wandele sich in die Bindung an ein vom Interesse der Obergesellschaft zu unterscheidendes Konzerninteresse. Aber dies wäre, wie vorstehend dargelegt wurde, ein Missverständnis. Es gibt rechtlich weder einen „Konzernvorstand“ noch einen „Konzernaufsichtsrat“, und Gegenstand der Aufsichtspflichten des Aufsichtsrats der Konzernspitze ist nicht eine „Konzernkontrolle“, sondern ausschließlich die Kontrolle des Vorstands der Konzernobergesellschaft, dies allerdings auch insoweit, als der Vorstand der Konzernobergesellschaft konzernleitend tätig wird oder werden sollte. Und entsprechend gibt es auch kein Konzerninteresse, auf das die Mitglieder des Aufsichtsrats verpflichtet wären, sondern nur das Interesse der Gesellschaft, deren Aufsichtsrat sie angehören und von deren Interesse sie sich in ihrer Amtsführung leiten lassen müssen. Im Aufsichtsrat der Obergesellschaft ergibt sich allerdings die folgende Besonderheit: Die Anteilseignervertreter im Aufsichtsrat der Obergesellschaft werden durch deren Hauptversammlung gewählt und repräsentieren somit ausschließlich die Aktionäre der Obergesellschaft, nicht dagegen auch die außenstehenden Gesellschafter der nachgeordneten Konzernunternehmen. Anders verhält es sich bei den Arbeitnehmervertretern. Sie werden nicht nur durch die Belegschaft der Obergesellschaft, sondern durch die gesamte Konzernbelegschaft gewählt. Kann es sein, dass sich aus dieser unterschiedlichen Legitimationsbasis auch eine unterschiedliche Interessenbindung ergibt? Sind nur die Aktionärvertreter in der Obergesellschaft auf deren Interesse verpflichtet, die Arbeitnehmervertreter dagegen auf ein davon zu unterscheidendes Konzerninteresse? Im Schrifttum wird in der Tat vertreten, dass die unterschiedliche Legitimation der Vertreter der beiden Bänke zu einer unterschiedlichen Interessenbindung der Mitglieder führe. Da die Arbeitnehmervertreter im Mutter-Aufsichtsrat ihre Legitimation von der Konzernbelegschaft ableiten, sind sie nach Auffassung von Wiedemann dazu berufen, das Gesamtinteresse der Konzernunternehmen und ihrer Belegschaften zu formulieren und nach Möglichkeit durchzusetzen; das habe zwar zur Folge, dass „für die beiden Aufsichtsratsbänke im mitbestimmten Konzernaufsichtsrat unterschiedliche Interessenmaßstäbe gelten“; aber diese „Asymmetrie“ und „Aufspaltung“ des Aufsichtsrats müsse 444

Gibt es das Konzerninteresse?

als Konsequenz der Konzernmitbestimmung hingenommen werden.30 Andere Autoren meinen, es bleibe zwar dabei, dass alle Mitglieder des Aufsichtsrats an ein einheitliches Interesse gebunden seien; die Wahl der Arbeitnehmervertreter durch die Konzernbelegschaft führe jedoch dazu, dass die Arbeitnehmerinteressen aller konzernabhängigen Unternehmen in die Definition des Unternehmensinteresses des herrschenden Unternehmens einzubeziehen seien.31 Löbbe beruft sich dazu auf die in den Mitbestimmungsgesetzen vorgeschriebene Zurechnung der Arbeitnehmer der konzernangehörigen Gesellschaften: Da die Arbeitnehmer der Konzernunternehmen nach der Fiktion des § 5 MitbestG als solche des herrschenden Unternehmens gelten, müssten ihre Interessen „auch schon begrifflich in das Unternehmensinteresse der Muttergesellschaft einfließen.“32 Ob das richtig ist, ist wiederum nicht nur eine akademische Frage, sondern kann praktisch bedeutsam sein, z. B. bei der Entscheidung über den Verbleib einer Tochtergesellschaft im Konzernverbund.33 Entgegen den zitierten Äußerungen ist mit der ganz herrschenden Meinung daran festzuhalten, dass die Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat der Obergesellschaft, obwohl sie von den Belegschaften aller Konzernunternehmen gewählt werden, ebenso wie die Anteilseignervertreter auf dasselbe Unternehmensinteresse der Konzernobergesellschaft verpflichtet sind.34 Sie haben dort dieselben Rechte und Pflichten wie die Anteilseignervertreter. Die durch die Mitbestimmungsgesetze vorgeschriebene Wahl von Arbeitnehmervertretern in den Aufsichtsrat ändert nach der ständigen Rechtsprechung des BGH nichts daran, dass alle Aufsichtsratsmitglieder ohne Rücksicht darauf, wer sie in den Aufsichtsrat berufen hat, strikt die gleichen Rechte und Pflichten haben, soweit nicht die Mitbestimmungsgesetze durch Sonderbestimmungen diesen Grundsatz ausnahmsweise durchbrechen.35 Weder aus dem Wortlaut noch der systematischen Stellung noch der Entstehungsgeschichte des § 5 MitbestG lässt sich entnehmen, dass der Gesetzgeber, was die Pflichtenbindung der Aufsichtsratsmitglieder betrifft, den Aufsichtsrat in solche Mitglieder, die auf das Interesse der Obergesellschaft verpflichtet sind, und solche, die ein Gesamtinteresse aller Konzerngesellschaften verfolgen sollen, aufspalten wollte. Die Arbeitnehmer der Konzerntöchter gelten nach § 5 MitbestG für die Anwendung des MitbestG auf das herrschende Unternehmen als Arbeitnehmer des herrschenden Unternehmens, aber diese Art der Begründung des aktiven und passiven Wahlrechts der Arbeitnehmer aller Konzernunternehmen ändert nichts daran, dass die Vertreter der

__________

30 Wiedemann, Die Unternehmensgruppe im Privatrecht, 1988, S. 128; ebenso Windbichler, Arbeitsrecht im Konzern, 1989, S. 553 ff. 31 Semler, Leitung und Überwachung der Aktiengesellschaft, S. 213 ff. Rz. 357 f.; Löbbe (Fn. 14), S. 54 ff. 32 Löbbe (Fn. 14), S. 55 f. 33 So ausdrücklich Windbichler (Fn. 30), S. 556. 34 Nachw. bei Wlotzke/Wissmann/Koberski/Kleinsorge, Mitbestimmungsrecht, 4. Aufl. 2011, § 25 MitbestG Rz. 76 u. Ulmer/Habersack in Ulmer/Habersack/Henssler, Mitbestimmungsrecht, 2. Aufl. 2006, § 25 MitbestG Rz. 7. 35 Grundlegend BGHZ 83, 106, 112 f., s. auch BGHZ 83, 144, 147; 83, 151, 154 f.; 122, 342, 357.

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Arbeitnehmer nicht in einen Konzernaufsichtsrat, sondern in den Aufsichtsrat der Konzernobergesellschaft gewählt werden und dort dieselben Rechte, aber auch dieselben Pflichten haben wie die Vertreter der Anteilseigner. Es kann deshalb nur darum gehen, inwieweit die Interessen der Arbeitnehmer der nachgeordneten Konzerngesellschaften für die Definition des Unternehmensinteresses der Obergesellschaft von Belang sind. Das sind sie in der Tat, aber nur in dem Sinne, dass die Obergesellschaft im eigenen Interesse am Wohlergehen ihrer Tochtergesellschaften und deren Belegschaften interessiert ist, weil diese Tochtergesellschaften mit ihren Belegschaften zum Ertrag und zum Wert der Obergesellschaft beitragen. Die Vorstellung, dass die Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat der Obergesellschaft an ein Konzerninteresse der Konzernbelegschaft gebunden wären, beruht somit auf demselben Missverständnis wie die Vorstellung, der Aufsichtsrat der Obergesellschaft habe als „Konzernaufsichtsrat“ die gesamte geschäftsführende Tätigkeit, die sich in den einzelnen Konzernunternehmen entfaltet, zu überwachen.

VII. Ergebnisse 1. Es ist möglich, ein Konzerninteresse im Sinne eines alle Konzernunternehmen verbindenden Verbandsinteresses zu definieren, das nicht mit dem Interesse der Konzernobergesellschaft identisch ist. 2. Es ist auch möglich, dass ein so definiertes Konzerninteresse mit dem Interesse der Konzernobergesellschaft kollidiert. 3. Die Organe der Konzerngesellschaften sind jedoch nach dem geltenden Konzernrecht nicht an ein übergreifendes Konzerninteresse, sondern nur an das Interesse der einzelnen Konzerngesellschaft gebunden. 4. Auf der Grundlage eines Beherrschungsvertrags sind nachteilige Weisungen zulässig, wenn sie dem Interesse des herrschenden Unternehmens dienen. Aus § 308 AktG folgt keine Begrenzung des Weisungsrechts durch das Konzerninteresse. 5. Alle Mitglieder des Aufsichtsrats der Konzernobergesellschaft sind auf das Unternehmensinteresse der Obergesellschaft, nicht jedoch auf das Konzerninteresse verpflichtet. Das gilt auch für die von der Konzernbelegschaft gewählten Arbeitnehmervertreter.

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Der Public Corporate Governance Kodex des Bundes Herausforderungen guter Unternehmensführung und -überwachung bei privatrechtlichen Unternehmen der öffentlichen Hand

Inhaltsübersicht I. Einleitung II. Der Public Corporate Governance Kodex 1. Hintergrund und Zielsetzung 2. Struktur und Verankerung a) Verankerung des PCGK b) Abgabe einer Entsprechenserklärung 3. Anwendungsbereich a) Anwendbarkeit des PCGK auf GmbHs b) Zwischenergebnis 4. PCGK-Vorschriften im Einzelnen a) Abweichungen vom DCGK

b) Widerstreitende Interessen bei privatrechtlichen Unternehmen der öffentlichen Hand c) Einflussnahme der öffentlichen Hand über die Aufsichtsräte 5. Anwendbarkeit des PCGK im Konzern a) Anwendbarkeit des PCGK auf Konzernunternehmen b) Einrichtung eines Risikomanagement-Systems c) Einrichtung eines Prüfungsausschusses in den Aufsichtsräten der Konzernunternehmen III. Resümee

I. Einleitung Im Jahr 2002 wurde von der durch die Bundesministerin für Justiz eigens eingesetzten Regierungskommission der Deutsche Corporate Governance Kodex1 verabschiedet. Ausweislich seiner Präambel stellt der DCGK wesentliche gesetzliche Vorschriften zur Leitung und Überwachung deutscher börsennotierter Gesellschaften dar und enthält international und national anerkannte Standards guter und verantwortungsvoller Unternehmensführung. Dabei befasst sich der DCGK mit den in der internationalen Diskussion über Corporate Governance aufgeworfenen Kritikpunkten an der Ausgestaltung der deutschen Unternehmensverfassung, wie etwa der dualen Führungsstruktur durch Vorstand und Aufsichtsrat, der mangelnden Unabhängigkeit der deutschen Aufsichtsräte sowie der Intransparenz der deutschen Unternehmensführung. Der DCGK hat in den letzten Jahren ein großes Maß an Zustimmung erfahren2 und

__________ 1 Im Folgenden mit „DCGK“ abgekürzt“. Der Kodex (hier zitiert in seiner Fassung v. 26.5.2010) kann im Internet abgerufen werden unter: http://www.corporategovernance-code.de. 2 v. Werder/Talaulicar, DB 2009, 689, 696; dies., DB 2010, 853, 861.

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zu einer Verbesserung der Qualität der Unternehmensführung bei börsennotierten Unternehmen beigetragen.3 So überraschte es nicht, dass im Anschluss an die Verabschiedung des DCGK die Einführung ergänzender Corporate Governance Grundsätze für öffentliche Unternehmen gefordert wurde,4 um den rechtlichen und tatsächlichen Besonderheiten bei Unternehmen der öffentlichen Hand gerecht zu werden.5 Der DCGK empfiehlt in seiner Präambel zwar auch nicht börsennotierten Gesellschaften die Beachtung des Kodex. Jedoch unterliegen Unternehmen der öffentlichen Hand, die privatrechtlich organisiert sind, besonderen Interessenkonflikten, so dass spezifische Anforderungen an eine gute und effiziente Unternehmensführung und -überwachung bei diesen Unternehmen zu stellen sind.6 Darüber hinaus ist ein Großteil insbesondere der kommunalen Unternehmen in der Rechtsform einer GmbH organisiert, so dass der DCGK auf diese Unternehmen ohne Modifikationen ohnehin keine Anwendung finden könnte. Unternehmen der öffentlichen Hand haben in erster Linie spezifische Aufgaben des Bundes bzw. Aufgaben kommunaler Träger und demnach einen öffentlichen Auftrag zu erfüllen. Dieser kann von der Daseinsvorsorge, wie etwa bei Unternehmen im Verkehrs- und Beförderungswesen, der Abfall- und Abwasserbeseitigung, sowie Bildungs- und Kultureinrichtungen bis zu einem stärker auf Gewinnerzielung ausgerichteten erwerbswirtschaftlichen öffentlichen Auftrag, wie etwa bei öffentlichen Energieversorgungsunternehmen oder der Deutschen Bahn AG reichen. Zum anderen sind öffentliche Unternehmen, die privatrechtlich ausgestaltet sind, neben ihrem öffentlichen Auftrag dem wirtschaftlichen Erfolg des Unternehmens verpflichtet. Diese verschiedenen Interessen führen oftmals zu einer Vermischung von politisch begründeten Unternehmenszielen und der Wettbewerbstätigkeit des Unternehmens.7 Darüber hinaus unterliegen privatrechtlich organisierte Unternehmen der öffentlichen Hand komplexeren und mehrstufigen Stakeholder- Interessen als dies bei privaten Unternehmen der Fall ist. Diese Mehrstufigkeit tritt insbesondere dann zutage, wenn neben öffentlichen Eigentümern private Eigentümer an der Gesellschaft beteiligt sind. Um diesen verschiedenen Interessen gerecht zu werden, verabschiedete die Bundesregierung unter Federführung des Bundesministeriums der Finanzen im Rahmen der „Grundsätze guter Unternehmens- und Beteiligungsführung im Bereich des Bundes“ am 1.7.2009 erstmals den Public Corporate Governance

__________ 3 Raiser, ZIP 2011, 353. 4 Schwintowski, NVwZ 2001, 607, 608; Uwe H. Schneider, AG 2005, 493, 498; Alsheimer/Jacob/von Wietzlow, WPg 2006, 937; Preussner, NZG 2005, 575, 578. 5 Uwe H. Schneider, AG 2005, 493, 494. 6 Schürnbrand, ZIP 2010, 1105. 7 Uwe H. Schneider, AG 2005, 493, 495.

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Der Public Corporate Governance Kodex des Bundes

Kodex des Bundes.8 Daran angelehnt haben einzelne Bundesländer und Städte Public Corporate Governance Kodices erlassen.9 Die einzelnen Regelungen des PCGK sowie dessen Zielsetzung werden im Folgenden näher erläutert. Dabei werden insbesondere die im Vergleich zum DCGK und den Vorgaben des Aktien- und GmbH-Gesetz restriktiveren Regelungen des PCGK untersucht und geprüft, ob es den Verfassern des PCGK gelungen ist, den Interessenkonflikten bei privatrechtlich organisierten Unternehmen der öffentlichen Hand und den daraus erwachsenden höheren Anforderungen an eine gute Corporate Governance Rechnung zu tragen.

II. Der Public Corporate Governance Kodex 1. Hintergrund und Zielsetzung Der PCGK zielt darauf ab, die Unternehmensführung- und -überwachung in nicht-börsennotierten Unternehmen, an denen die Bundesrepublik Deutschland beteiligt ist, transparenter zu machen und die Rolle des Bundes als Anteilseigner klarer zu fassen. Daneben soll das Bewusstsein für eine gute Corporate Governance erhöht werden.10 Durch mehr Transparenz, größeres Verantwortungsbewusstsein und eine stärkere Kontrolle soll das Vertrauen der Öffentlichkeit in Unternehmen mit Bundesbeteiligung und in den Bund als Anteilseigner gestärkt werden. Über Standards guter und verantwortungsvoller Unternehmensführung soll die Leitung und Überwachung des Unternehmens durch seine Organe verbessert werden. Daneben soll eine bessere und wirtschaftlichere Erfüllung der mit der Unternehmensbeteiligung durch den Bund verfolgten Ziele gesichert werden.11 2. Struktur und Verankerung Die Struktur des PCGK ist an die Struktur des DCGK angelehnt. Auch der PCGK enthält neben den Regelungen, die geltendes Recht wiedergeben, Empfehlungen und Anregungen.12 Daneben erhält der PCGK Anmerkungen, die die einzelnen Regelungen näher erläutern. Empfehlungen sind durch die Verwendung des Wortes „soll“ gekennzeichnet, Anregungen durch die Worte „sollte“ oder „kann“. Empfehlungen stellen ein erhöhtes Maß an Verbindlichkeit dar;13

__________ 8 Im Folgenden mit „PCGK“ abgekürzt. Der PCGK kann im Internet abgerufen werden unter: http://www.bundesfinanzministerium.de. 9 S. z. B. Richtlinie guter Unternehmensführung – Public Corporate Governance Kodex – für Beteiligungen an privatrechtlichen Unternehmen der Stadt Frankfurt am Main, abrufbar unter: www.frankfurt.de; Hamburger Corporate Governance Kodex (HCGK), abrufbar unter: http://beteiligungsbericht.fb.hamburg.de; Mannheimer Corporate Governance Kodex; abrufbar unter: http://www.publicgovernance.de/pdf/PCGK_ Mannheim.pdf. 10 Ziffer 1.1 PCGK. 11 Ziffer 1.1 PCGK. 12 Ziffer 1.2 PCGK. 13 Mühl-Jäckel, LKV 2010, 209, 210.

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die Geschäftsleitung und das Überwachungsorgan können zwar von den Empfehlungen abweichen, sind aber verpflichtet, die Abweichungen jährlich in ihrem Corporate Governance Bericht offenzulegen und nachvollziehbar zu begründen (sog. „Comply or Explain“ – Regel). Diese Erklärung ist auf der Internetseite des Unternehmens oder im elektronischen Bundesanzeiger dauerhaft zugänglich zu machen und als Teil des Corporate Governance Berichts zu veröffentlichen.14 Eine Abweichung von bloßen Anregungen führt hingegen nicht zu einer entsprechenden Erklärungspflicht des Unternehmens im Corporate Governance Bericht. a) Verankerung des PCGK Fraglich ist jedoch, wie die Regelungen des PCGK für die Unternehmen der öffentlichen Hand und deren Gesellschaftsorgane verbindlich gemacht werden können. Bei dem PCGK handelt es sich nicht um ein Gesetz, da der PCGK per se noch keine Außenwirkung entfaltet.15 Soweit Public Corporate Governance Kodices von Gemeinden oder Städten erlassen wurden, handelt es sich um kommunalrechtliche Richtlinien, die lediglich auf die Behörden der Stadt und deren Mitarbeiter unmittelbare Wirkung entfalten16 und demnach im verwaltungsrechtlichen Innenverhältnis wirken. Bei börsennotierten Unternehmen werden die Regelungen des DCGK über § 161 AktG gesetzlich verankert. Denn nach jener Vorschrift haben Vorstand und Aufsichtsrat einer börsennotierten Gesellschaft jährlich zu erklären, dass den vom Bundesministerium der Justiz im amtlichen Teil des elektronischen Bundesanzeigers bekannt gemachten Empfehlungen der „Regierungskommission Deutscher Corporate Governance Kodex“ entsprochen wurde und wird oder welche Empfehlungen nicht angewendet wurden oder werden und warum nicht. Da § 161 AktG allerdings allein auf den DCGK Bezug nimmt (und zudem auch nur für börsennotierte Unternehmen Geltung beansprucht), ist fraglich, wie sich die Rechtslage bei Unternehmen der öffentlichen Hand darstellt, auf die der PCGK anwendbar ist. Nach Ziffer 1.4 PCGK stellt das für die Führung der Beteiligung zuständige Bundesministerium die Beachtung des von der Bundesregierung beschlossenen PCGK und die Verankerung im Regelwerk der Unternehmen sicher. Ein Globalverweis auf den PCGK in der Satzung eines in der Rechtsform einer AG geführten Unternehmens der öffentlichen Hand erscheint aufgrund des in § 23 Abs. 5 AktG geregelten Grundsatzes der Satzungsstrenge problematisch. Gemäß § 23 Abs. 5 AktG darf die Satzung von den Vorschriften des Aktiengesetzes nur dann abweichen, wenn es ausdrücklich zugelassen ist; ergänzende Bestimmungen der Satzung sind nur zulässig, soweit das Gesetz keine abschließende Regelung trifft. Daraus folgt, dass bei einer AG die Aufnahme individueller Regelungen des PCGK in die Satzung des Unternehmens nur dann möglich ist,

__________ 14 Ziffer 1.4 PCGK. 15 So auch Raiser, ZIP 2011, 353, 354. 16 Raiser, ZIP 2011, 353, 354.

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soweit geltendes Aktienrecht wiedergegeben wird. Gehen einzelne Regelungen des PCGK oder von Kommunen erlassener Public Coporate Governance Kodices, die die Prinzipien guter Unternehmensführung näher definieren, über das geltende Aktienrecht hinaus, ist eine Aufnahme dieser Regelung in die Satzung der AG aufgrund § 23 Abs. 5 AktG nicht möglich. Demgegenüber ist bei öffentlichen Unternehmen, die in der Rechtsform einer GmbH organisiert sind, eine Verankerung des PCGK im Gesellschaftsvertrag angesichts des im GmbH-Recht geltenden Grundsatzes der Gestaltungsfreiheit grundsätzlich unproblematisch.17 b) Abgabe einer Entsprechenserklärung Daneben stellt sich die Frage, ob und inwieweit Vorstand und Aufsichtsrat verpflichtet werden können, eine Entsprechenserklärung abzugeben. Wie bereits oben erläutert, kann eine entsprechende Verpflichtung nicht aus § 161 AktG folgen. Sie kann auch nicht in die Satzung öffentlich-rechtlicher Unternehmen, die in der Rechtsform einer AG geführt werden, aufgenommen werden. Durch die Aufnahme einer Entsprechenserklärung in der Satzung einer AG könnte der Hauptaktionär auf Vorstand und Aufsichtsrat indirekt Druck ausüben, die Vorgaben des PCGK umzusetzen.18 Dies würde letzten Endes gegen §§ 76 Abs. 1, 111 AktG verstoßen, wonach der Vorstand das Unternehmen unter eigener Verantwortung zu leiten und der Aufsichtsrat den Vorstand zu überwachen hat. Insoweit ist die Verankerung der Abgabe einer Entsprechenserklärung durch Vorstand und Aufsichtsrat in der Satzung einer AG nichtig.19 Vorstand und Aufsichtsrat können also nicht gezwungen werden, eine Entsprechenserklärung abzugeben. Die Nichtabgabe stellt daher auch keine Pflichtverletzung der entsprechenden Organe dar. Die Abgabe einer Entsprechenserklärung privater Unternehmen der öffentlichen Hand in der Rechtsform einer AG ist daher rein freiwilliger Natur. 3. Anwendungsbereich Der PCGK richtet sich an nicht-börsennotierte Unternehmen in der Rechtsform einer juristischen Person des Privatrechts, an denen die Bundesrepublik Deutschland mehrheitlich beteiligt ist; hält der Bund auch nur eine Minderheit an dem Unternehmen in dieser Rechtsform, wird die Anwendung des PCGK empfohlen.20 Unternehmen in der Rechtsform einer juristischen Person des öffentlichen Rechts wird die Anwendung des PCGK empfohlen, soweit rechtliche Bestimmungen nicht entgegenstehen.21 Gemäß Ziffer 1.3 PCGK ist der Begriff „Unternehmen“ entsprechend Zweck und Zielsetzung des PCGK

__________ 17 S. zur Gestaltungsfreiheit in der GmbH statt anderer Bayer in Lutter/Hommelhoff, 17. Aufl. 2009, § 3 GmbHG Rz. 34. 18 Raiser, ZIP 2011, 353, 357. 19 So auch Raiser, ZIP 2011, 353, 356; a. A. Schürnbrand, ZIP 2010, 1105, 1110. 20 Ziffer 1.1 und 1.3 PCGK. 21 Ziffer 1.3 PCGK.

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weit zu verstehen. Von dem Unternehmensbegriff sind neben den Kapitalgesellschaften auch andere juristische Personen des Privatrechts und des öffentlichen Rechts umfasst, deren Gegenstand ein gewerblicher oder sonstiger wirtschaftlicher Betrieb ist oder einen solchen überwiegend umfasst. Auf Unternehmen, an denen der Bund beteiligt ist und die an der Börse notiert sind, ist freilich nicht der PCGK, sondern allein der DCGK anwendbar.22 a) Anwendbarkeit des PCGK auf GmbHs Bezüglich der Anwendbarkeit unterscheidet sich der PCGK erheblich vom DCGK. Während sich der DCGK in erster Linie an börsennotierte Gesellschaften richtet und seine Beachtung nicht börsennotierten Gesellschaften lediglich empfiehlt (so die Präambel des DCGK), findet der PCGK auf nicht an der Börse notierte Aktiengesellschaften, aber auch auf und vor allem auf GmbHs Anwendung.23 Insbesondere Kommunen organisieren ihre Unternehmen zu einem Großteil in der Rechtsform der GmbH, da sie durch das Weisungsrecht der Gesellschafterversammlung einen größeren Einfluss auf die in dieser Rechtsform organisierten Unternehmen haben. Auf diesem Weg finden die teilweise strikteren Regelungen des Aktienrechts, die sich im PCGK wiederfinden, auch auf die GmbHs Anwendung. So ist etwa die sonst abgeschwächte Informationspflicht des Aufsichtsrats bei einer GmbH der des Aufsichtsrats einer AG im PCGK angepasst.24 Bei einer GmbH muss der Aufsichtsrat aktiv auf die Geschäftsführung zugehen und Berichte anfordern.25 § 52 GmbHG verweist auf § 90 Abs. 3, 4, 5 Satz 1 und Satz 2 AktG. Insoweit obliegt der Geschäftsführung – anders als dem Vorstand einer AG – keine laufende Berichterstattung gegenüber dem Aufsichtsrat. Ziffer 3.1.3 PCGK geht jedoch über die Vorgaben des GmbH-Gesetzes hinaus. Danach sollen sich Inhalt und Turnus der Berichtspflichten der Geschäftsleitung auch bei GmbHs an dem gesamten § 90 AktG orientieren. Die Geschäftsführung einer GmbH der öffentlichen Hand soll daher ihrem Aufsichtsrat regelmäßig aktiv Bericht erstatten. Auf den ersten Blick verwundet es, dass die Verfasser des PCGK einen Kodex verfasst haben, der sowohl auf nicht an der Börse notierte Aktiengesellschaften als auch auf GmbHs anwendbar sein soll. Denn damit waren sie vor die Aufgabe gestellt, Regeln guter Unternehmensführung für zwei völlig unterschiedliche Organisationsgefüge abzubilden. Dies wird schon angesichts der unterschiedlichen Befugnisse des Vorstands einer AG und des Geschäftsführers einer GmbH deutlich. Während der Vorstand die Aktiengesellschaft gemäß § 76 Abs. 1 AktG eigenverantwortlich leitet, ist der Geschäftsführer einer GmbH nach § 37 Abs. 1 GmbHG den Weisungen der Gesellschafterversammlung unterworfen. Insbesondere die Unternehmenspolitik wird nicht von den Geschäfts-

__________ 22 23 24 25

Ziffer 1.3 PCGK. Ziffer 1.3 PCGK. Ziffer 3.1.3 PCGK. Lutter in Lutter/Hommelhoff, 17. Aufl. 2009, § 52 GmbHG Rz. 22.

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führern, sondern von den Gesellschaftern einer GmbH bestimmt.26 Ferner können den Geschäftsführern Befugnisse entzogen und auf andere interne Stellen übertragen werden. Im Extremfall kann der Geschäftsführer durch Regelungen im Gesellschaftsvertrag zu einem rein ausführenden Organ herabgesetzt werden.27 Demgegenüber übt der Vorstand einer AG seine Leitungsaufgaben unter eigener Verantwortung aus.28 Er unterliegt nicht den Weisungen eines anderen Gesellschaftsorgans, auch nicht den Weisungen der Aktionäre. Von dieser Leitungskompetenz ist sowohl die Führung des Unternehmens – und damit vor allem die Festlegung der Unternehmenspolitik – als auch deren Umsetzung umfasst.29 Daraus wird die im Vergleich zum Vorstand der AG unterschiedliche Stellung des Geschäftsführers in einer GmbH deutlich. In einer GmbH ist die Gesellschafterversammlung das oberste – gegenüber dem Geschäftsführer weisungsbefugte – Organ der Gesellschaft. Ferner hat der Aufsichtsrat in einer GmbH, ob fakultativ oder verpflichtend,30 eine andere rechtliche Bedeutung als der Aufsichtsrat einer AG. Aufgrund der herausragenden Stellung der Gesellschafterversammlung in der GmbH hat der Aufsichtsrat dort geringere Bedeutung als der Aufsichtsrat einer AG. So kann die Gesellschafterversammlung die vom Aufsichtsrat getroffenen Maßnahmen aufheben oder abändern31 sowie bei einer durch den Aufsichtsrat abgelehnten zustimmungspflichtigen Maßnahme die Zustimmung ersetzen.32 Der Aufsichtsrat einer AG muss andererseits aufgrund der starken Stellung des Vorstands mit eigenen Kompetenzen ausgestattet sein, die nicht von der Hauptversammlung aufgehoben oder abgeändert werden können. Eine weitere grundlegende Unterscheidung besteht in der Frage der Verschwiegenheitspflicht. Zwar ist grundsätzlich jedes Aufsichtsratsmitglied einer AG und einer GmbH zu absoluter Vertraulichkeit verpflichtet, d. h. die Aufsichtsratsmitglieder dürfen Informationen, die sie aus dem Unternehmen sowie aus den Aufsichtsratssitzungen haben, nicht an Dritte weitergeben.33 Aus dem Gedanken des § 51a GmbHG folgt jedoch, dass eine derartige Verpflichtung der Aufsichtsratsmitglieder einer GmbH aber nicht gegenüber den Gesellschaftern besteht.

__________ 26 27 28 29 30

Kleindiek in Lutter/Hommelhoff, 17. Aufl. 2009, § 37 GmbHG Rz. 8. Kleindiek (Fn. 26), § 37 GmbHG Rz. 12. Hüffer, 9. Aufl. 2010, § 76 AktG Rz. 10. Spindler in MünchKomm. AktG, 3. Aufl. 2008, § 76 AktG Rz. 17. Bei einer GmbH mit i. d. R. mehr als 1.000 Arbeitnehmern und Tätigkeit im Montanbereich nach MontanMitbestG 1951, bei einer GmbH mit i. d. R. mehr als 2.000 Arbeitnehmern nach dem MitbestG 1976 sowie bei einer GmbH mit mehr als 500 Arbeitnehmern nach dem DrittelbG ist die Bildung eines Aufsichtsrates obligatorisch. 31 Davon ausgenommen sind die Bestellung/Abberufung sowie die Anstellung der Geschäftsführer durch den Aufsichtsrat nach dem MontanMitbestG und dem MitbestG 1976. Lutter (Fn. 25), § 52 GmbHG Rz. 2. 32 Weckerling-Wilhelm/Mirtsching, NZG 2011, 327, 330. 33 § 52 Abs. 1 GmbHG i. V. m. § 93 Abs. 1 Satz 3 AktG.

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b) Zwischenergebnis An diesen grundsätzlich unterschiedlichen Konzepten der Organisationsverfassung von GmbH und AG zeigt sich bereits, welchen „Spagat“ der PCGK erbringen muss, um Regelungen für eine gute Unternehmensführung und -überwachung in der AG und GmbH zu entwerfen, die den zum Teil völlig unterschiedlichen organisatorischen Gefügen in beiden Gesellschaftsformen gerecht werden. 4. PCGK-Vorschriften im Einzelnen Der PCGK ist in seiner Zielsetzung stark an den DCGK angelehnt. Beide Kodices zielen auf eine transparente und gute Unternehmensführung und -überwachung. Die Gliederung des PCGK entspricht der des DCGK. Dies ist konsequent, denn das allgemeine Gesellschaftsrecht ist auch auf privatrechtlich organisierte Unternehmen der öffentlichen Hand anwendbar,34 so dass eine entsprechende Gliederung im PCGK wie im DCGK sinnvoll ist. Der PCGK weicht jedoch in einigen Regelungen vom DCGK und den aktienrechtlichen Bestimmungen ab. a) Abweichungen vom DCGK So sollte nach Ziffer 3.3.2 PCGK eine Vermögenshaftpflichtversicherung für die Mitglieder von Geschäftsleitung und Überwachungsorgan (D&O-Versicherung) nur von Unternehmen abgeschlossen werden, die erhöhten unternehmerischen und/oder betrieblichen Risiken ausgesetzt sind, wobei die Entscheidung und ihre Begründung insbesondere zur Zweckmäßigkeit einer D&O-Versicherung dokumentiert werden sollen. Eine derartige Einschränkung ist dem DCGK fremd. Ferner geht auch die Regelung über die Vergütung der Mitglieder der Geschäftsleitung über die entsprechende Regelung im DCGK und den aktienrechtlichen Vorgaben hinaus. Laut Ziffer 4.3.1 PCGK wird die Vergütung der Mitglieder der Geschäftsleitung vom Überwachungsorgan unter Einbeziehung von etwaigen Konzernbezügen in angemessener Höhe auf der Grundlage einer Leistungsbeurteilung festgelegt. Kriterien für die Angemessenheit der Vergütung bilden insbesondere die Aufgaben des jeweiligen Mitglieds der Geschäftsleitung, dessen persönliche Leistung, die Leistung der Geschäftsleitung sowie die wirtschaftliche Lage, der nachhaltige Erfolg und die Zukunftsaussichten des Unternehmens unter Berücksichtigung seines Vergleichsumfelds. Die entsprechende aktienrechtliche Vorschrift, § 87 Abs. 1 AktG, geht nicht so weit. Danach müssen die Gesamtbezüge eines Vorstandsmitglieds lediglich in einem angemessenen Verhältnis zu den Aufgaben des Vorstandsmitglieds und zur Lage der Gesellschaft stehen. Die Regelung des PCGK geht auch weiter als diejenige des DCGK in dessen Ziffer 4.2.3. So sollen nach Ziffer 4.3.1 PCGK vari-

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34 Hüffer (Fn. 28), § 394 AktG Rz. 2a; Kropff in MünchKomm. AktG, 2. Aufl. 2006, vor §§ 394/395 AktG Rz. 23 ff.

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able Vergütungsbestandteile auch Komponenten mit langfristiger Anreizwirkung und Risikocharakter (Bonus-Malus-System) enthalten. Ferner sollen gemäß Ziffer 4.3.2 PCGK die variablen Komponenten erst am Ende des Bemessungszeitraums ausgezahlt werden. Aus diesen Regelungen des PCGK und ihren Anmerkungen geht leider nicht hervor, warum sie im Vergleich mit dem DCGK und den aktienrechtlichen Vorgaben verschärft wurden. Dass dies der besonderen Verantwortung des öffentlichen Trägers geschuldet ist, lässt sich nur vermuten. b) Widerstreitende Interessen bei privatrechtlichen Unternehmen der öffentlichen Hand Die Bundesregierung hat es versäumt, bei Formulierung des PCGK den Unternehmenszweck von Unternehmen der öffentlichen Hand und damit die dem PCGK immanente zentrale Problematik der widerstreitenden Interessen – nämlich des öffentlichen Interesses auf der einen und des Unternehmensinteresses auf der anderen Seite – klar herauszuarbeiten.35 So fehlt insbesondere auch eine mit Ziffer 4.1.1 DCGK vergleichbare Formulierung, nach der der Vorstand das Unternehmen mit dem Ziel nachhaltiger Wertschöpfung in eigener Verantwortung und im Unternehmensinteresse, d. h. unter Berücksichtigung der Belange der Aktionäre, seiner Arbeitnehmer und der sonstigen dem Unternehmen verbundenen Gruppen, leitet. In Ziffer 4.1.1 PCGK ist lediglich eine Formulierung enthalten, nach der die Geschäftsleitung die originäre Verantwortung für die Leitung des Unternehmens trägt und dabei an Unternehmensgegenstand und Unternehmenszweck gebunden ist. Auch in der Präambel des PCGK findet sich keine entsprechende Präzisierung. So statuiert Ziffer 1.1 PCGK lediglich, dass das Ziel des PCGK sei, die Unternehmensführung und -überwachung transparenter und nachvollziehbarer zu machen und die Rolle des Bundes als Anteilseigner klarer zu fassen. Grundlage und Legitimation der Beteiligung des Bundes an Unternehmen sei die Erfüllung spezifischer Aufgaben des Bundes (öffentlicher Auftrag). Diese Formulierung umschreibt jedoch noch nicht in hinreichendem Maße die vielfältigen Interessen und Widersprüche, die der öffentliche Auftrag mit sich bringt. c) Einflussnahme der öffentlichen Hand über die Aufsichtsräte Anders als bei privaten Unternehmen zielen bei Unternehmen der öffentlichen Hand die Trägerkörperschaften darauf ab, ihren Einfluss bezüglich der Erfüllung der öffentlichen Aufgaben insbesondere über die Besetzung der Aufsichtsorgane geltend zu machen.36 Der Bund soll sich an einem Unternehmen in der Rechtsform des Privatrechts unter anderem nur dann beteiligen, wenn er einen angemessenen Einfluss, insbesondere im Aufsichtsrat oder in einem entsprechenden Überwachungsorgan, ausüben kann.37 In diesem Kontext werden die

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35 Schürnbrand, ZIP 2010, 1105, 1108. 36 Schürnbrand, ZIP 2010, 1105, 1108. 37 § 65 Abs. 1 Nr. 3 BHO.

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verschiedenen Interessen – die Einhaltung und Verfolgung des öffentlichen Auftrags auf der einen sowie die Steigerung des Unternehmenswertes auf der anderen Seite – deutlich. Es überrascht deshalb nicht, dass der PCGK auch bezüglich der Besetzung der Aufsichtsräte an einigen Stellen schärfere Regelungen als der DCGK vorgesehen hat. aa) Besetzung der Aufsichtsräte Gemäß Ziffer 5.1.2 PCGK soll die Erstbestellung eines Mitglieds des Überwachungsorgans abweichend von Ziffer 5.1.2 DCGK auf drei Jahre beschränkt sein. Ferner sollen die auf Veranlassung des Bundes gewählten oder entsandten Mitglieder des Überwachungsorgans in der Regel nicht mehr als drei Mandate in Überwachungsorganen gleichzeitig inne haben.38 Der DCGK enthält eine vergleichbare Regelung lediglich bezüglich Aufsichtsratsmitgliedern, die gleichzeitig dem Vorstand einer börsennotierten Gesellschaft angehören.39 Darüber hinaus ist bezüglich der Zusammensetzung des Aufsichtsrats nach Ziffer 5.2.1 PCGK auf eine gleichberechtigte Teilhabe von Frauen hinzuwirken. Der DCGK stellt in der vergleichbaren Regelung lediglich darauf ab, bei der Formulierung der konkreten Ziele für seine Zusammenarbeit im Aufsichtsrat insbesondere Frauen angemessen zu berücksichtigen.40 bb) Interessenkonflikte Auch im Hinblick auf die Unabhängigkeit der Mitglieder in den Überwachungsorganen ist der PCGK enger gefasst als der DCGK. Mitglied eines Überwachungsorgans soll nach Ziffer 5.2.1 PCGK nicht sein, wer in einer geschäftlichen oder persönlichen Beziehung zu dem Unternehmen oder dessen Geschäftsleitung steht, die einen wesentlichen und nicht nur vorübergehenden Interessenkonflikt begründet. Nach Ziffer 5.4.2 DCGK soll dem Aufsichtsrat eine nach seiner Einschätzung ausreichende Anzahl unabhängiger Mitglieder angehören. Danach ist ein Aufsichtsratsmitglied als unabhängig anzusehen, wenn es in keiner geschäftlichen oder persönlichen Beziehung zu der Gesellschaft oder deren Vorstand steht, die einen Interessenkonflikt begründet. Die Frage der Interessenskonflikte wird im PCGK nochmals im Rahmen des Kapitels 3 „Zusammenwirken von Geschäftsleitung und Überwachungsorgan“ aufgegriffen. Danach soll von jeglicher Kreditgewährung an Mitglieder der Geschäftsleitung oder des Überwachungsorgans sowie an deren Angehörige abgesehen werden.41 Darüber hinaus sollen weder Berater- noch sonstige Dienstleistungs- und Werkverträge eines Mitglieds eines Überwachungsorgans mit dem Unternehmen abgeschlossen werden.42 Gemäß Ziffer 5.5.4 DCGK sind derartige Verträge zwischen einem Aufsichtsratsmitglied und der Gesellschaft

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Ziffer 5.2.1 PCGK. Ziffer 5.4.5 DCGK. Ziffer 5.4.1 DCGK. Ziffer 3.4 PCGK. Ziffer 5.4.2 PCGK.

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grundsätzlich zulässig. Sie bedürfen lediglich der Zustimmung des Aufsichtsrats. Auch wenn die Regelung des PCGK restriktiver als die des DCGK ist und über Regelung der §§ 114, 115 AktG hinausgeht, ist dies gleichwohl vor dem Hintergrund der besonderen Verantwortung der öffentlichen Hand zu begrüßen. cc) Entscheidungskompetenzen von Ausschüssen Gänzlich anders stellt sich die Lage bezüglich der Entscheidungskompetenzen von Aufsichtsratsausschüssen dar. Damit die Überwachungsorgane die ihnen obliegenden Aufgaben sorgfältig, schnell und gründlich erarbeiten können, hat sich aufgrund der Größe der Gremien die Einrichtung von Ausschüssen als sinnvoll erwiesen. Gemäß Ziffer 5.3.1 DCGK sowie Ziffer 5.1.6 PCGK dienen die Ausschüsse der Steigerung der Effizienz der Aufsichtsratsarbeit und der Behandlung komplexer Sachverhalte. Nach dem Grundsatz der Autonomie des Aufsichtsrats steht es dem Aufsichtsrat gemäß § 107 Abs. 3 AktG frei, Ausschüsse aus seiner Mitte zu bilden. Aus dem Umkehrschluss aus § 107 Abs. 3 Satz 3 AktG folgt, dass der Aufsichtsrat Aufgaben grundsätzlich auch zur Entscheidung einem Ausschuss übertragen kann; dieser entscheidet dann abschließend. In diesem Fall ist der Beschluss des Ausschusses für das gesamte Aufsichtsratsgremium bindend. Der PCGK empfiehlt indes in Ziffer 5.1.8, von der Möglichkeit, einzelnen Ausschüssen des Überwachungsorgans Entscheidungskompetenzen zu übertragen, abzusehen. Dies gilt ebenso für die Festsetzung der Vergütung für Mitglieder der Geschäftsleitung. Den Anmerkungen zu Ziffer 5.1.8 PCGK ist zu entnehmen, dass angesichts der zunehmenden Bedeutung und Verantwortung des Überwachungsorgans das Plenum und damit das Wissen und die Kompetenz seiner Mitglieder soweit wie möglich dem Unternehmen zugutekommen sollen. Eine weitgehende Verlagerung von Entscheidungskompetenzen auf Ausschüsse stünde dem entgegen. Diese Anmerkungen geben jedoch keine hinreichende Erklärung für die grundsätzliche Verlagerung der Entscheidungskompetenz der Ausschüsse auf das Aufsichtsratsplenum. Insbesondere bei großen Gesellschaften hat sich die Bildung von Ausschüssen als äußerst praktisch erwiesen. So können die Aufsichtsratsmitglieder durch das arbeitsteilige Arbeiten effizienter arbeiten, ihre vorhandene Expertise besser und sinnvoller einsetzen und so ihrer originären Überwachungsaufgabe besser nachkommen.43 Auch vertrauliche Angelegenheiten können etwa im kleinen Kreis des Personalausschusses besser behandelt werden. Zwar ist infolge des Gesetzes zur Angemessenheit der Vorstandsvergütung44 der Aufsichtsrat nur noch als Plenum über die Gesamtvergütung der einzelnen Vorstandsmitglieder entscheidungsbefugt.45 Jedoch ist es sinn-

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43 Gittermann in Semler/v. Schenck, Arbeitshandbuch für Aufsichtsratsmitglieder, 3. Aufl. 2009, § 6 Rz. 1. 44 Gesetz zur Angemessenheit der Vorstandsvergütung (VorstAG), BGBl. I 2009, 2509– 2511. 45 § 107 Abs. 3 Satz 3 AktG i. V. m. § 87 Abs. 1 AktG.

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voll, die Vorauswahl der Vorstandskandidaten sowie die Verhandlung bezüglich des Abschlusses, der Änderung und der Beendigung der Anstellungsverträge der Vorstände dem Personalausschuss zu überlassen. Die Durchsicht der Bewerbungen um einen Vorstandsposten sowie die Einholung von Informationen über die einzelnen Bewerber erfordert neben einem ausgeprägten Sachverstand auch großen zeitlichen Aufwand, die das Aufsichtsratsplenum in der Tiefe aufgrund der oftmals bestehenden Größe nicht leisten kann.46 Es wäre daher sinnvoller gewesen, bei Erstellung des PCGK dem geltenden Gesetzesrecht zu folgen. Denn der Gesetzgeber hat bei der Frage, welche Aufgaben des Aufsichtsrats an Ausschüsse übertragen werden können, genau festgelegt, inwieweit der Delegation von Entscheidungsbefugnissen an Ausschüsse Grenzen gesetzt sind. Die Bestellung und Abberufung der Mitglieder des Vorstands gehört z. B. zu den originären Aufgaben des Aufsichtsratsplenums,47 die nicht an einen Ausschuss delegiert werden können. Ferner verbleiben gemäß § 107 Abs. 3 Satz 3 AktG dem Aufsichtsratsplenum die Wahl des Aufsichtsratsvorsitzenden und dessen Stellvertreter, die Zustimmung zu Abschlagszahlungen auf den Bilanzgewinn, der Erlass der Geschäftsordnung für den Vorstand, die Ernennung eines Vorstandsvorsitzenden, die Einberufung der Hauptversammlung gemäß § 111 Abs. 3 AktG, die Prüfung des Jahresabschlusses, des Lageberichts und des Vorschlags für die Verwendung des Bilanzgewinns sowie ggf. die Prüfung des Konzernabschlusses und Konzernlageberichts und des Berichts über die Beziehung zu verbundenen Unternehmen. Und schließlich sind Beschlüsse, dass bestimmte Arten von Geschäften nur mit Zustimmung des Aufsichtsrats vorgenommen werden dürfen, zwingend dem Aufsichtsratsplenum vorbehalten. Auch die dem Aufsichtsrat ureigens obliegende Aufgaben, den Vorstand zu überwachen, kann nicht an die Ausschüsse delegiert werden.48 Darüber hinaus hat der Aufsichtsrat ohnehin jederzeit die Möglichkeit, die Ermächtigung, die er einem Ausschuss zur abschließenden Entscheidung übertragen hat, zu widerrufen.49 dd) Geheimhaltung Wie eingangs bereits erläutert, versucht der öffentliche Unternehmensträger über die Aufsichtsräte Einfluss auf die Unternehmensentscheidungen zu nehmen. Vor diesem Hintergrund verwundert es, dass das Bundesministerium der Finanzen den Aspekt der Geheimhaltung und der Weitergabe von Informationen an den öffentlichen Träger bei der Erstellung des PCGK nicht restriktiver gehandhabt hat. Ziffer 3.2.1 PCGK statuiert, dass Geschäftsleitung und Überwachungsorgan bei ihrer Arbeit miteinander und innerhalb ihrer Organe die Vertraulichkeit umfassend zu wahren haben. Dabei haben die Organmitglieder auch sicherzu-

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Gittermann (Fn. 43), § 6 Rz. 141. § 107 Abs. 3 Satz 3 AktG i. V. m. § 84 Abs. 1 und 3 AktG. Semler, AG 1988, 60, 61. Hüffer (Fn. 28), § 107 AktG Rz. 18, 47; Semler, AG 1988, 60, 63.

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stellen, dass von ihnen eingeschaltete Dritte die Verschwiegenheit in gleicher Weise einhalten. Laut Anmerkung zu Ziffer 3.2.1 PCGK kommt der Wahrung der Vertraulichkeit mit Blick auf die Beratungs- und Überwachungsaufgabe des Überwachungsorgans eine entscheidende Bedeutung zu. Allerdings sind nach § 394 AktG Aufsichtsratsmitglieder einer AG, die auf Veranlassung einer Gebietskörperschaft in den Aufsichtsrat entsandt oder gewählt worden sind, von der Verschwiegenheitspflicht bezüglich der Berichte, die sie der Gebietskörperschaft zu erstatten haben, befreit. Dies gilt jedoch nicht für vertrauliche Aufgaben und Geheimnisse der Gesellschaft, namentlich Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse, wenn ihre Kenntnis für die Zwecke der Berichte nicht von Bedeutung ist. Unklar ist, wie Ziffer 3.2.1 PCGK in Bezug auf die Vertraulichkeit der Organe in der GmbH zu verstehen ist. Zwar ist auch jedes Aufsichtsratsmitglied einer GmbH zu absoluter Vertraulichkeit Dritten gegenüber verpflichtet.50 Dieses Erfordernis gilt jedoch nicht gegenüber den Gesellschaftern einer GmbH.51 Ziffer 3.2.1 PCGK sowie dessen Anmerkungen schweigen dazu. Dabei hätten die Verfasser des PCGK sich insbesondere mit dieser Thematik befassen müssen. Denn dadurch wird insbesondere bei GmbHs, aber auch durch die in den Aufsichtsrat einer AG entsandten Mitglieder der Kreis der Geheimnisträger vergrößert und die Geheimhaltung der Beratungen innerhalb des Aufsichtsrats erschwert, wenn diese Informationen an den öffentlichen Träger weitergeben.52 Bei öffentlichen Unternehmen in der Rechtsform des Privatrechts sind die Aufsichtsräte oftmals mit Beamten der Beteiligungsverwaltung, Gemeinderatsmitgliedern, Abgeordneten oder (parlamentarischen) Staatssekträten besetzt. Diese Besetzung hat nicht nur erhebliche Auswirkungen auf die Arbeit und Funktionsfähigkeit des Aufsichtsrats. Daran verdeutlicht sich auch die schwierige Doppelfunktion, die diesen Aufsichtsratsmitgliedern zukommt und das daraus resultierende Konfliktpotential, das es zu lösen gilt. Die Aufsichtsratsmitglieder müssen gemäß Ziffer 3.1.1 PCGK bei ihren Entscheidungen zum einen darauf achten, dass das Wohl des Unternehmens und demnach die Interessen der unterschiedlichen Stakeholder gewahrt werden. Auf der anderen Seite arbeiten die Mitglieder des Aufsichtsrats als Vertreter der Interessen der Anteilseigner oder der Arbeitnehmer.53 Insbesondere politische Mandatsträger in den Aufsichtsräten können geneigt sein, vertrauliche Unternehmensinterna für ihre politischen Zwecke einzusetzen. Der BGH und das Schrifttum haben die Schwierigkeit der Doppelfunktion der Aufsichtsratsmitglieder und das daraus resultierende Konfliktpotential dahingehend gelöst, dass sie dem Unternehmensinteresse einen grundsätzlichen Vorrang vor den partikularen Interessen der verschiedenen im Aufsichtsrat repräsentierten Gruppen gewährt

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§ 52 Abs. 1 GmbHG i. V. m. §§ 116, 93 Abs. 1 Satz 3 AktG. Lutter (Fn. 25), § 52 GmbHG Rz. 25. Schürnbrand, ZIP 2010, 1105, 1106. Raiser, ZIP 2011, 353, 358.

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haben.54 Insofern unterliegen die entsandten Aufsichtsratsmitglieder auch keinen Weisungen ihrer Dienstvorgesetzten,55 da andernfalls eine einheitliche Willensbildung der Repräsentanten der unterschiedlichen Gruppierungen im Aufsichtsrat nicht möglich wäre. Dies würde schlussendlich dem Gedanken nach § 116 AktG widersprechen, nach dem die Aufsichtsratsmitglieder bei ihrer Überwachungsaufgabe dem Wohl des Unternehmens verpflichtet sind. Bezüglich des fakultativen Aufsichtsrats einer GmbH ist das Bundesverwaltungsgericht allerdings jüngst in Rahmen einer Revision zu dem Ergebnis gekommen, dass eine Weisungsgebundenheit der seitens der Kommune in den fakultativen Aufsichtsrat einer GmbH entsandten Mitglieder mit § 52 GmbHG vereinbar ist, sofern sich aus dem Gesellschaftsvertrag oder dessen „normativem Umfeld“ eine Weisungsgebundenheit entnehmen lässt.56 Danach könne der dem Aktienrecht aus § 111 Abs. 5 AktG abgeleitete Grundsatz, nach dem die Aufsichtsratsmitglieder allein dem Unternehmensinteresse verpflichtet sind und keinen Weisungen unterliegen, nicht für den fakultativen Aufsichtsrat einer GmbH begründet werden. § 52 GmbHG lasse ausdrücklich abweichende Regelungen im Gesellschaftervertrag zu. Diese Entscheidung ist insoweit kritisiert worden, als eine Abbedingung der Bestimmungen des Aktiengesetzes im Gesellschaftsvertrag für die Begründung eines Weisungsrechts nicht ausreiche, da der „Normalzustand“ auch bei einem fakultativen Aufsichtsrat derjenige der Unabhängigkeit und demnach der Weisungsunabhängigkeit sei.57 Daher könne die Weisungsgebundenheit in diesem Fall auch nicht aus einer landesrechtlichen Vorschrift hergeleitet werden. Die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts kann aber auch grundsätzlich insoweit kritisiert werden, als ein Weisungsrecht der Gesellschafter gegenüber den Aufsichtsratsmitgliedern dem Gedanken aus § 111 Abs. 5 AktG widerspricht, nach dem die Aufsichtsratsmitglieder ihr Amt persönlich wahrzunehmen haben.58 Der Rechtsverkehr, dessen Vertrauen auf dem Handelsregister beruht, sei getäuscht, wenn die dort aufgeführten Aufsichtsratsmitglieder ihre Aufgaben nicht in eigener Verantwortung, sondern abhängig von den Weisungen der Gesellschafter wahrnähmen. Die Beschlussfassung des Aufsichtsrats beruhe dann schlussendlich nicht auf der Kompetenz der einzelnen Mitglieder, sondern auf den Vorgaben der Gesellschafter. Der Rechtsverkehr werde dadurch über die Wahrnehmung der Überwachungsaufgabe getäuscht. § 52 GmbHG müsse insoweit teleologisch reduziert werden, als auch die Aufsichtsratsmitglieder im fakultativen Aufsichtsrat keinen Weisungen unterliegen. Eine anderweitige Regelung im Gesellschaftsvertrag sei daher nichtig. Diese Ansicht entspricht jedoch nicht dem ausdrücklichen Wortlaut des § 52 GmbHG, so dass bei fakultativen Aufsichtsräten eine Weisungsgebun-

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54 BGHZ 64, 325, 329; BGHZ 135, 244, 255; Hüffer (Fn. 28), § 116 AktG Rz. 5; Hopt/ Roth in Großkomm. AktG, 2. Aufl. 2010, § 116 AktG Rz. 34, 174, 199 ff.; Möllers, ZIP 2006, 1615, 1616. 55 BGHZ 36, 296, 306. 56 BVerwG, GmbHR 2011, 1205, 1206. 57 Weckerling-Wilhelm/Mirtsching, NZG 2011, 327, 330. 58 Vetter, GmbHR 2011, 449, 457.

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denheit bei entsandten Aufsichtsratsmitgliedern dann bestehen kann, wenn der Gesellschaftsvertrag dies ausdrücklich festlegt. Eine Abbedingung aktienrechtlicher Vorschriften und eine mangelnde Festschreibung eines Weisungsrecht im Gesellschaftsvertrag reichen jedoch nicht aus, um ein Weisungsrecht zu begründen. Grundsätzlich sollte bei der Abwägung der verschiedenen Interessen durch die Aufsichtsratsmitglieder das Unternehmensinteresse aber auch vor dem Hintergrund des Wettbewerbs, dem sich privatrechtliche Unternehmen aussetzen, im Vordergrund stehen. Stünden die Partikularinteressen der Aufsichtsratsmitglieder im Vordergrund, könnten die Unternehmen wohl kaum auf Dauer im Wettbewerb standhalten und die Vorteile genießen, die der Wettbewerb bietet.59 Dieser Gedanke gilt in gleichem Maße für öffentliche Unternehmen, die privatrechtlich organisiert sind. Denn mit der Wahl der Rechtsform einer AG oder GmbH werden die öffentlichen Unternehmen den privatwirtschaftlichen Anforderungen und damit den unternehmerischen Rentabilitätsinteressen ausgesetzt. Ein entsandtes Aufsichtsratsmitglied muss daher bei der Abwägung der Interessen des Unternehmens und der Interessen der öffentlichen Hand grundsätzlich dem Unternehmensinteresse den Vorrang einräumen. Gelingt dies nicht, darf das Aufsichtsratsmitglied bei der konkreten Entscheidung im Aufsichtsrat nicht mitwirken und muss gegebenenfalls sogar sein Amt niederlegen.60 Bei Erstellung des PCGK hätte das Bundesfinanzministerium sich eingehender mit dieser, der den entsandten Aufsichtsratsmitgliedern immanenten Problematik des Spannungsfelds zwischen dem Unternehmensinteresse und den Interessen der Trägerkörperschaft befassen müssen. Der Aufgabe, die entsandten Aufsichtsratsmitglieder vor einer unstatthaften Einflussnahme durch die öffentliche Trägerschaft zu schützen, hätte das Bundesfinanzministerium bei der Erstellung des PCGK nachkommen sollen.61 5. Anwendbarkeit des PCGK im Konzern Leicht missverständlich formuliert ist die Regelung in Ziffer 1.3 PCGK. Danach richtet sich der PCGK bei einem Unternehmen mit Mehrheitsbeteiligung des Bundes, das einen Konzern unter einheitlicher Leitung führt, „auch an die Führung des Konzerns“. Unklar bleibt damit zunächst die Frage, ob sich der PCGK auch an die Führung der Konzernunternehmen richten soll. a) Anwendbarkeit des PCGK auf Konzernunternehmen Unternehmen, an denen der Bund mehrheitlich beteiligt ist und die einen Konzern unter einheitlicher Leitung führen, sind unter anderem die Deutsche Bahn AG sowie die KfW Bankengruppe. Die Deutsche Bahn AG, auf deren

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59 Raiser, ZIP 2011, 353, 359. 60 Raiser, ZIP 2011, 353, 359; Seibt in FS Hopt, 2010, S. 1363 ff. 61 Raiser, ZIP 2011, 353, 358.

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Führung der PCGK wegen der (noch) 100 %-igen Eigentümerschaft des Bundes anwendbar ist, hat erklärt, dass sowohl das Mutterunternehmen Deutsche Bahn AG als auch das Tochterunternehmen DB Mobility Logistics AG ihre Regularien an den PCGK angepasst haben. Für die Konzernunternehmen der DB AG und DB Mobility Logistics AG komme der PCGK aber nur in dem Maße zur Anwendung, in dem dies angesichts der Besonderheiten der Konzernstruktur rechtlich möglich und zulässig sei.62 Auch Vorstand und Verwaltungsrat der KfW Bankengruppe sind der Empfehlung des PCGK gefolgt und haben als Anstalt des öffentlichen Rechts eine Entsprechenserklärung zur Einhaltung des PCGK abgegeben.63 Die KfW Bankengruppe hat erklärt, dass der PCGK auch auf die (großen) Konzernunternehmen, d. h. die KfW IPRX Bank und die DEG anwendbar und dementsprechend umzusetzen sei.64 Aus dem Handeln der Deutschen Bahn AG und der KfW Bankengruppe lässt sich freilich noch nicht entnehmen, ob der PCGK auch in den dortigen Tochterunternehmen angewandt wird. Der Formulierung in Ziffer 1.3 PCGK und dem Wort „auch“ nach zu schließen, ist der PCGK jedoch direkt auf die Konzernunternehmen anwendbar.65 Da laut PCGK sich dieser „auch“ an die Führung des Konzerns richtet, scheinen die Verfasser des PCGK von einer grundsätzlichen Anwendung auf Konzernunternehmen ausgegangen zu sein. Gleichwohl fraglich bleibt, ob eine Anwendung sämtlicher Vorschriften des PCGK auf Konzernunternehmen sinnvoll ist. In einem Konzern behalten die einzelnen Konzernunternehmen ihre rechtliche Selbständigkeit; die Organe und Organfunktionen bleiben deshalb den jeweiligen Konzerngesellschaften (Mutterunternehmen und Konzerntöchter) zugeordnet.66 Dementsprechend müssen sich grundsätzlich auch die Leitungs- und Überwachungsorgane eines Konzernunternehmens an die Maßstäbe guter und verantwortungsbewusster Unternehmensführung halten. Eine gute Corporate Governance ist in einem Konzern daher nicht nur Aufgabe der Verwaltungsorgane der Obergesellschaft, sondern auch derer der Konzernunternehmen. Jedoch muss die Corporate Governance der besonderen Struktur und den besonderen Risiken eines Konzernverbunds Rechnung tragen.67

__________ 62 Corporate Governance Bericht der Deutschen Bahn AG 2010, S. 25, abrufbar auf der Website der Deutschen Bahn AG, www.deutschebahn.com. 63 Finanzbericht der KfW Bankengruppe 2010, S. 60, abrufbar auf der Website der KfW Bankengruppe, www.kfw.de. 64 http://nachhaltigkeit.kfw.de/DE_Home/Unternehmensverfassung/Public_Corporate_ Governance_Code. 65 Ziffer 1.3 PCGK lautet „Führt das Unternehmen, an dem der Bund mehrheitlich beteiligt ist, einen Konzern unter einheitlicher Leitung, so richtet sich der Public Corporate Governance Kodex des Bundes auch an die Führung des Konzerns“. 66 Kleindiek in P. Hommelhoff/Hopt/v. Werder (Hrsg.), Handbuch Corporate Governance, 2. Aufl. 2009, S. 787, 788. 67 Kleindiek (Fn. 66), S. 787, 788.

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Auch der DCGK weist keinen gesonderten Abschnitt über dessen Anwendbarkeit im Konzern auf. Dies ist jedoch der Tatsache geschuldet, dass der DCGK – anders als der PCGK – als Adressat börsennotierte Unternehmen im Blick hat und sich daher per se bereits an Konzernverbünde wendet.68 Ausweislich der Präambel des DCGK wird daher in all den Regelungen der Begriff „Unternehmen“ anstatt „Gesellschaft“ verwendet, in denen der DCGK nicht nur die Gesellschaft, d. h. die Obergesellschaft, sondern auch die Konzernunternehmen betreffen soll. Da eine ausdrückliche an den DCGK angelehnte Unterscheidung der Begrifflichkeiten „Gesellschaft“ und „Unternehmen“ im PCGK fehlt, ist nach Sinn und Zweck zu prüfen, welche Regelungen auch auf die Konzernunternehmen bzw. nur auf die Obergesellschaft anwendbar sein sollen, wobei hier zwei Regelungen exemplarisch herausgenommen werden. b) Einrichtung eines Risikomanagement-Systems Gemäß Ziffer 4.1.3 PCGK sorgt die Geschäftsleitung für ein angemessenes Risikomanagement und Risikocontrolling im Unternehmen. Ziffer 5.1.5 PCGK enthält Regelungen über die entsprechenden Verpflichtungen des Aufsichtsrats bzw. Aufsichtsratsvorsitzenden, nach denen dieser gemeinsam mit der Geschäftsführung das Risikomanagement des Unternehmens berät. Zwar obliegt es grundsätzlich dem Aufsichtsrat der Konzernunternehmen, den Vorstand bzw. die Geschäftsführung des Konzernunternehmens zu überwachen. Jedoch ist von der Leitungsverantwortung des Konzernvorstands eine „umfassende Leitungsverantwortung für das Gesamtgeschehen im Konzern“69 umfasst. D. h. der Vorstand der Konzernholding ist auch für die Steuerung des Gesamtgeschehens im Konzern verantwortlich, so dass ihm auch die Leitung und Überwachung der operativen Konzernunternehmen obliegen.70 Um dieser umfassenden Pflicht nachkommen zu können, muss der Konzernvorstand ein umfassendes Kontrollsystem und konzernweites Risikomanagement, d. h. auch in den Konzerntöchtern, implementieren. Mit dieser Verantwortung für die Leitung des Konzerns korreliert die Verantwortung des Konzernaufsichtsrats. Dem Konzernaufsichtsrat obliegt es zu prüfen, ob der Konzernvorstand die Leitung und Überwachung der Konzernunternehmen wahrnimmt und ein entsprechendes konzernweites, kohärentes Risikokontrollsystem eingerichtet hat. Insofern können Ziffer 4.1.3 und Ziffer 5.1.5 PCGK durch die Formulierung „Unternehmen“ leicht missverstanden werden. Denn zu der Implementierung und Überwachung eines konzernweiten und kohärenten Risikomanagements sind in einem Konzern nur Holdingvorstand und -aufsichtsrat verpflichtet.

__________ 68 Kleindiek (Fn. 66), S. 787, 788. 69 P. Hommelhoff, Die Konzernleitungspflicht, 1982, S. 182. 70 Kleindiek (Fn. 66), S. 787, 796; P. Hommelhoff (Fn. 69), S. 182.

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c) Einrichtung eines Prüfungsausschusses in den Aufsichtsräten der Konzernunternehmen Gemäß Ziffer 5.1.7 PCGK soll das Überwachungsorgan in Abhängigkeit von der Anzahl seiner Mitglieder und von den spezifischen wirtschaftlichen Gegebenheiten des Unternehmens einen Prüfungsausschuss (Audit Committee) einrichten, der sich insbesondere mit Fragen der Rechnungslegung und des Risikomanagements, der erforderlichen Unabhängigkeit des Abschlussprüfers, der Erteilung des Prüfungsauftrags an den Abschlussprüfer, der Bestimmung von Prüfungsschwerpunkten und der Honorarvereinbarung befasst. Diese Formulierung ist an Ziffer 5.3.2 DCGK angelehnt, wobei dort kein Verweis auf den Begriff „Unternehmen“ zu finden ist. Geht man also davon aus, dass die Verfasser des PCGK sich bei der Erstellung an dem DCGK orientiert haben, hieße dies, dass aufgrund des Begriffs „Unternehmen“ in Ziffer 5.1.7 PCGK diese Regelung auch auf die Konzernunternehmen Anwendung fände. Zwar steht es den Aufsichtsräten der Konzernunternehmen frei, einen Prüfungsausschuss einzurichten.71 Jedoch ist die Einrichtung separater Prüfungsausschüsse durch die Aufsichtsräte der Konzerntöchter bezüglich der dem Prüfungsausschuss obliegenden Fragen, wie der erforderlichen Unabhängigkeit des Abschlussprüfers, der Erteilung des Prüfungsauftrags an den Abschlussprüfer, der Bestimmung von Prüfungsschwerpunkten und der Honorarvereinbarung nicht erforderlich. Diese Aufgaben obliegen in einem Konzern dem Aufsichtsrat der Konzernobergesellschaft und werden daher gesamthaft und einheitlich durch den Prüfungsausschuss des Aufsichtsrats der Konzernobergesellschaft abgedeckt. Darüber hinaus kann der Aufsichtsrat der Konzernobergesellschaft seiner Aufgabe, den Vorstand der Konzernobergesellschaft bezüglich seiner Leitungsund Überwachungspflichten gegenüber den Tochterunternehmen zu überwachen, nur dann gewissenhaft nachkommen, wenn er prüfen kann, ob der Vorstand der Konzernmutter ein konzernweites Risikomanagement implementiert hat. Dafür ist erforderlich, dass das Risikomanagement und dessen Überwachung sowie die Bestellung des Abschlussprüfers und die Festlegung dessen Aufgaben einheitlich durch den Prüfungsausschuss des Konzernaufsichtsrats erfolgen. Den Aufsichtsräten der Konzernunternehmen hätte daher anheimgestellt werden sollen, ob sie einen Prüfungsausschuss einrichten wollen, der sich mit Fragen befasst, die bereits durch den Prüfungsausschuss des Aufsichtsrats der Konzernmutter abgedeckt werden. Insofern hätten die Verfasser gut daran getan, Ziffer 5.1.7 PCGK in Form einer Anregung und nicht einer Empfehlung auszugestalten. Festzuhalten bleibt: Bei der Erstellung des PCGK wäre es wünschenswert gewesen, wenn dieser konsequent zwischen den Begriffen „Unternehmen“ und „Gesellschaft“ unterschieden hätte. Dann wäre deutlich geworden, dass bestimmte Aufgaben nur vom Vorstand bzw. vom Aufsichtsrat der Konzernholding wahrgenommen werden sollen. Insbesondere bezüglich der Regelungen über die Einrichtung eines Prüfungsausschusses sowie der Einrichtung

__________ 71 § 107 Abs. 3 Satz 2 AktG.

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Der Public Corporate Governance Kodex des Bundes

eines Systems des Risikomanagements und -controllings hätten die Verfasser des PCGK stärker zwischen Vorstand und Aufsichtsrat der Konzernholding und jenen Organen der Konzernunternehmen unterscheiden sollen.

III. Resümee Die Verabschiedung eines Corporate Governance Kodex für privatrechtlich organisierte Unternehmen der öffentlichen Hand war dringend notwendig, um Regelungen guter Unternehmensführung und -überwachung auch für diese Art von Unternehmen zu normieren und für die Öffentlichkeit transparent zu machen. Gerade seitens der Öffentlichkeit besteht ein besonderes Interesse, dass ein Unternehmen der öffentlichen Hand eine transparente Organisationsverfassung besitzt und die öffentlichen Ziele wirksam umgesetzt werden.72 Mangels Anwendbarkeit des § 161 AktG auf die Empfehlungen des PCGK können die Regelungen des PCGK bei Aktiengesellschaften in öffentlicher Hand nur insoweit in den Satzungen verankert werden, als sie nicht dem geltenden Aktienrecht entgegenstehen. Auch eine Verpflichtung zur Abgabe einer Entsprechenserklärung entsprechend § 161 AktG besteht bezüglich des PCGK nicht. Es ist zu begrüßen, dass die Verfasser des PCGK an einigen Stellen Verschärfungen im Vergleich zum DCGK vorgenommen haben, auch wenn sich die Gründe dafür nur vermuten lassen. Die Verfasser des PCGK hätten jedoch darauf achten müssen, Verschärfungen insbesondere dort zu normieren, wo die Besonderheiten von Unternehmen der öffentlichen Hand zu Tage treten, wie etwa bei den Vorschriften über die Geheimhaltungspflichten der Aufsichtsratsmitglieder und den besonderen Interessenkonflikten, denen diese gerade bei Unternehmen der öffentlichen Hand unterliegen. Einige Restriktionen im PCGK im Vergleich zum DCGK sind nicht nachzuvollziehen. So ist die Herabstufung der Aufsichtsratsausschüsse auf solche mit lediglich vorbereitendem Charakter unverständlich. Denn auch bei Unternehmen der öffentlichen Hand können entscheidende Ausschüsse in erheblichem Maße zu einer Effektivität der Aufsichtsratsarbeit beitragen. Es hat den Anschein, dass die Verfasser des PCGK bei Formulierung der Empfehlungen und Anregungen zunächst von deren Geltung für Aktiengesellschaften ausgegangen sind und erst in einem zweiten Schritt über die Anwendbarkeit auf GmbHs nachgedacht haben. So finden sich vor allem in den Anmerkungen zu den Regelungen des PCGK Verweise auf die GmbH. Auch die Gewichtung der Organe und die Einteilung der Regelungen sind im PCGK stark auf Aktiengesellschaften ausgerichtet. Dies zeigt sich bereits an dem sehr kurzen Abschnitt über die Anteilseignerversammlung, die in einer GmbH eine hervorgehobene Bedeutung hat. Der sehr kurze Abschnitt im PCGK wird dem nicht gerecht. Ferner sind auch nicht die Besonderheiten des Aufsichtsrats in einer GmbH berücksichtigt worden. Durch das Weisungsrecht der Ge-

__________ 72 Schürnbrand, ZIP 2010, 1105, 1107.

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Kirsten Hommelhoff

sellschafterversammlung und dem Recht derselben, jederzeit die Beschlüsse des Aufsichtsrats aufzuheben oder abzuändern, ist die Stellung des Aufsichtsrats in einer GmbH im Gegenzug zu dem einer Aktiengesellschaft deutlich abgeschwächt. Darüber hinaus hätten die Verfasser des PCGK der insbesondere bei einer GmbH zutage tretenden Problematik der Geheimhaltung stärker Einhalt gewähren müssen. Da die Aufsichtsratsmitglieder grundsätzlich zur Weitergabe von Informationen aus dem Aufsichtsrat an die Gesellschafter berechtigt sind, zeigen sich an dieser Stelle insbesondere die widerstreitenden Interessen der öffentlichen Hand auf der einen Seite und des Unternehmenswohls auf der anderen. Diese widerstreitenden Interessen aufzuzeigen, wäre aber die Hauptaufgabe der Verfasser des PCGK gewesen. Auch die Frage seiner Anwendbarkeit auf Konzerne ist im PCGK nicht stringent beantwortet worden. Hier hätten die Verfasser gut daran getan, eingehender zu prüfen, welche Vorschriften des PCGK für Konzernunternehmen wirklich sinnvoll sind. Es bleibt zu hoffen, dass bei einer Fortschreibung des PCGK73 jene Defizite ausgeglichen werden.

__________ 73 Nach Ziffer 1.3 PCGK wird der Kodex vom Bundesministerium der Finanzen regelmäßig vor dem Hintergrund nationaler und internationaler Entwicklungen hinsichtlich Inhalt und Anwendungsbereich überprüft und bei Bedarf angepasst.

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Incoterms 2010 Ein Meilenstein für Recht und Praxis des internationalen Handelsrechts*

Inhaltsübersicht I. Die Incoterms der Internationalen Handelskammer 1. Begriff der Incoterms 2. Bedeutung der Incoterms 3. Entwicklung der Incoterms a) Sieben Revisionen seit 1936 b) Die Revision 1990 c) Die Revision 2000 4. Die Incoterms 2010 im Überblick 5. Regelung und Rechtsnatur der Incoterms a) AGB b) Geschäftstyp c) Verhältnis zum nationalen Recht 6. Auslegung der Incoterms II. Der Inhalt der Incoterms 2010 1. Einteilung der Incoterms 2010 a) Klauseln für alle Transportarten b) Klauseln für den See- und Binnenschiffstransport 2. Vier Klauselgruppen (E, F, C, D) nach Kosten- und Gefahrübergang a) Einteilung in vier Gruppen

b) Regelungen für die vier Gruppen 3. Aufbau einer jeden Klausel nach Verkäufer- und Käuferpflichten a) Aufbau und Reihenfolge b) Pflichtenverteilung zwischen Verkäufer und Käufer 4. Definitionen und Begriffe a) Frachtführer b) Zollformalitäten c) Lieferung (und Abnahme) d) Transportdokument e) Elektronischer Beleg oder Verfahren f) Verpackung g) Weitere Begriffe III. Die richtige Klauselwahl 1. Klauselunterschiede nach Transportart 2. Klauselunterschiede nach Verantwortungsbereichen 3. Auswirkung auf den Vertrag im Übrigen 4. Gesamtwürdigung

I. Die Incoterms der Internationalen Handelskammer 1. Begriff der Incoterms Die Incoterms sind, so die offizielle Bezeichnung, Die Regeln der Internationalen Handelskammer zur Auslegung nationaler und internationaler Handels-

__________ * Dieser Beitrag ist Peter Hommelhoff gewidmet, dem langjährigen Freund und Mitstreiter bei der Herausgabe der ZGR, gemeinsamen Publikationen und rechtspolitischen Anliegen in Deutschland und Europa. Eine mehr praxisorientierte, die einzelnen Incoterms kommentierende Fassung wird in der 35. Auflage des Baumbach/Hopt, HGB, 2012, erscheinen.

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klauseln (International Commercial Terms).1 Die Internationale Handelskammer (International Chamber of Commerce, ICC) in Paris wurde 1919 gegründet, hat in mehr als 60 Ländern Nationalkomitees und ist in mehr als 130 Ländern vertreten. Sie ist damit die größte, weltweit tätige, alle Branchen umfassende Wirtschaftsorganisation. Zu den Mitgliedern der Internationalen Handelskammer Deutschland in Berlin gehören zahlreiche DAX 30-Unternehmen, Industrie- und Handelskammern und Verbände. Besonders wichtig ist die internationale Schiedsgerichtsbarkeit der Internationalen Handelskammer mit Gerichtshof in Paris seit 1923. Dies ist die international erfolgreichste, institutionelle Schiedsgerichtsbarkeit mit Hunderten von Fällen pro Jahr aus aller Welt.2 Ebenso wichtig sind die Verhaltensregeln der Internationalen Handelskammer, darunter die Incoterms, die seit 1936 siebenmal modernisiert wurden,3 die 2007 revidierten Einheitlichen Richtlinien und Gebräuche für Dokumenten-Akkreditive4 und die Einheitlichen Richtlinien für Inkassi von 1995.5 Der Originaltext ist englisch, der Vorrang hat. Die inoffizielle deutsche Übersetzung stammt von der International Chamber of Commerce Deutschland e.V. Die Durchnummerierung der einzelnen Klauseln von 1 bis 116 ist inoffiziell und dient nur der Übersichtlichkeit. Die Abkürzungen7 sind standardisiert (englische Anfangsbuchstaben), mit der Wirtschaftskommission der Vereinten Nationen für Europa (United Nations Economic Commission for Europe, ECE) abgestimmt und heute offiziell.8 2. Bedeutung der Incoterms Die Incoterms beziehen sich ausschließlich auf das Verhältnis zwischen Verkäufer und Käufer (nur Kaufvertrag, nicht Beförderungsvertrag) und betreffen nur den Warenkauf, nicht den Kauf von immateriellen Gütern. Sie sind für die B2B-Handelspraktiken gedacht,9 aber, falls so gewollt, auch gegenüber Privaten verwendbar. Sie regeln auch insoweit nur ganz bestimmte Punkte (nur Teil-

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1 Die Incoterms 2010 sind als ICC(IntHK)-Publikation Nr. 715E, 2010 ed., auf Englisch sowie 715EF auf Englisch und Französisch erhältlich (die Incoterms 2000 Nr. 560 auf Englisch und auf Deutsch). Der Text der Incoterms 2010 in der inoffiziellen deutschen Übersetzung der ICC Deutschland e.V. wird in Baumbach/Hopt, HGB, 35. Aufl. 2012, (6) Incoterms abgedruckt mit freundlicher Genehmigung der Deutschen Gruppe der Internationalen Handelskammer, Berlin (ohne die dortigen Seitenzahlen). Kommentierung außer in Baumbach/Hopt in Graf von Bernstorff, Incoterms 2010, 2010; Ramberg, Guide to Incoterms® 2010, 2011 ICC Publication No. 720E. 2 Hopt in Baumbach/Hopt, 34. Aufl. 2010, Einl. vor § 1 HGB Rz. 97. 3 Unten I. 4. 4 Hopt (Fn. 2), Nebengesetze (11) ERA. 5 Hopt (Fn. 2), Nebengesetze (12) ERI. 6 Hopt (Fn. 2), (6) Incoterms 2010. 7 Übersichten unten II. 1. und 2. 8 Einführend zur ICC z. B. Hopt in Basedow/Hopt/Zimmermann (Hrsg), Handwörterbuch des Europäischen Privatrechts, 2009, Bd. I, S. 896 (Stichwort: Internationale Handelskammer). 9 Business to business, Incoterms 2010 Einführung Abs. 1.

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Incoterms 2010

regelung, nicht umfassende Regelung des Kaufvertrags),10 insbesondere bestimmte Verkäufer- und Käuferpflichten, namentlich betreffend Lieferung, Gefahrübergang und Kostenverteilung, also nicht oder nicht näher zum Beispiel Versendungsanzeigepflicht (Art. 32 Abs. 1 CISG), Lieferzeit (Art. 33 CISG), Übergabe von Dokumenten (Art. 34 CISG), Eigentumsübergang, Gewährleistung und Haftungsausschlüsse. Insoweit kommt es auf das anwendbare Recht an.11 Auch Handelsbräuche12 und Hafenusancen spielen eine erhebliche Rolle.13 Die Incoterms sind primär für den internationalen Verkehr bestimmt, können aber auch für den nationalen Verkehr verwandt werden, worauf schon die offizielle Benennung hinweist,14 dann aber ohne A 2/B 215 und andere auf Export/Import bezogene Bestimmungen. 3. Entwicklung der Incoterms a) Sieben Revisionen seit 1936 Die Incoterms sind die bekanntesten und verbreitetsten internationalen Handelsklauseln. Sie hatten unter anderem mit CIF und FOB ihren Ursprung im Überseehandel16 und sind auch noch 201017 von diesem geprägt. Sie wurden zwecks Vereinheitlichung der Trade Terms unabhängig von den nationalen Handelsbräuchen 1936 von der Internationalen Handelskammer in Paris aufgestellt und 1953, 1967, 1976, 1980, 1990, 2000 und 2010 neu ausgelegt, allerdings ohne einen festen Zehnjahresturnus.18 1967 kamen die Klauseln „Geliefert Grenze“ und „Geliefert verzollt“ hinzu, 1976 „FOB Flughafen“ und 1980 „Frei Frachtführer“ und „Frachtfrei versichert“. b) Die Revision 1990 Die Revision 1990 galt ab 1.7.1990 und umfasste 13 (statt zuvor 14) Klauseln. Gründe für die Revision waren die modernen Transporttechniken (Containerverkehr, multimodaler Transport, Ro-Ro-Transporte), der elektronische Datenaustausch (EDI, bei allen Klauseln möglich) und das Ziel größerer Übersichtlichkeit. Die einfachere FCA-Klausel ersetzte die Spezialklauseln für Luft- und Eisenbahntransport FOR/FOT und FOB Flughafen. Neu war auch DDU (geliefert unverzollt im Einfuhrland). Weitere Änderungen betrafen die Verpackungspflichten des Verkäufers, Dokumentenfragen bei FCR und CIF und die Versicherung bei CIP (wie bei CIF).

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10 Zum ICC Model International Sale Contract, ICC Publication No. 556, näher Ramberg (Fn. 1). 11 Unten I. 5. c) und Kommentare zum UN-Kaufrecht bzw. CISG, Nachweise bei Hopt (Fn. 2), Überbl. vor § 373 HGB Rz. 46 und Kommentaren zum HGB. 12 Hopt (Fn. 2), § 346 HGB Rz. 1, 12. 13 Unten I. 6. 14 Oben I. 1.; ausdrücklich Incoterms 2010 Einführung Hauptmerkmale Nr. 3. 15 Unten II. 3. a). 16 Hopt (Fn. 2), Überbl. vor § 373 HGB Rz. 50 (internationales Abladegeschäft). 17 Spezielle See- und Binnenschiffstransportklauseln unten II. 1. 18 Ramberg (Fn. 1), S. 8, dort auch zum Inhalt seit 1936.

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c) Die Revision 2000 Die Incoterms 2000 sind eine Teilüberarbeitung der Incoterms 1990. Während Zahl, Reihenfolge und Aufbau der 13 Incoterms gleich blieben, betrafen die wichtigsten Einzeländerungen FAS, vor allem Zuweisung der Exportfreimachung an den Verkäufer, und DEQ, vor allem Zuweisung der Importfreimachung an den Käufer. In der FCA-Klausel, die ebenso wie CPT auf alle Transportarten abstellt, wurde der Hinweis auf die verschiedenen Transportarten gestrichen (A 4), also Änderungen der Be- und Entladepflichten unter FCA. 4. Die Incoterms 2010 im Überblick Die Incoterms 2010 wurden nach zehnjährigen Arbeiten mit mehr als 2000 eingegangenen Kommentaren revidiert. Sie haben vor allem zwei neue Incoterms-Klauseln, DAT und DAP, anstelle der alten DAF, DES, DEQ und DDU19 gebracht. Mit den neuen Klauseln können dieselben Ergebnisse erreicht werden wie mit den alten, so kann bei Verwendung von DAT der benannte Terminal auch in einem Hafen liegen (statt DEQ Geliefert ab Kai) und bei DAP kann die Ware dem Käufer entladebereit zu Verfügung gestellt werden (wie nach DAF, DES und DDU). Die elf Incoterms 2010 sind in ihrer Reihenfolge neu geordnet und in zwei Kategorien eingeteilt: Klauseln für alle Transportarten (EXW, FCA, CPT, CIP, DAT, DAP und DDP) und solche für den Seeund Binnenschiffstransport (FAS, FOB, CFR und CIF).20 Die neuen Incoterms sind ausdrücklich auch für den inländischen Verkehr gedacht. Weitere Neuerungen betreffen die ausführlicheren Anwendungshinweise vor jeder einzelnen Klausel, die elektronische Kommunikation (nunmehr jeweils in A1/B1 angesprochen, in den Incoterms 2000 noch unter A8/B8),21 die Versicherungsdeckung (jeweils in A3/B3 angesprochen),22 die sicherheitsrelevanten Freigaben und hierfür benötigten Informationen (jeweils A2/B2 und A10/B10 einiger Incoterms, zum Beispiel FOB,23 die Hafenumschlaggebühren (deshalb klarere Kostenverteilung, jeweils A6/B6) und die Verkaufsketten (string sales).24 Insgesamt wurde auf noch mehr Anwenderfreundlichkeit und Verständlichkeit geachtet. Infolge der Änderungen gibt es insgesamt acht verschiedene Fassungen der Incoterms. Folglich ist zum Beispiel „CIF Hamburg“ unklar, im Zweifel ist aber die zur Zeit des Vertragsabschlusses geltende Fassung gemeint. Bei Vertragsschluss ab 2011 gelten also im Zweifel die Incoterms 2010.25 Das sollte aber besser im Vertrag ausdrücklich gesagt werden. Um Streit darüber zu vermeiden, sollte der Vertrag also klarstellen, welche Fassung gemeint ist.26

__________ 19 Hopt in Baumbach/Hopt (Fn. 2), 34. Aufl., (6) Incoterms 2000. 20 So auch die Reihenfolge des Abdrucks des Textes der 11 Klauseln im Kommentar Baumbach/Hopt, HGB, 35. Aufl. 2012. 21 Unten II. 4. e). 22 Zum Beispiel Hopt (Fn. 2), (6) Incoterms 2010, CIF Nr. 11 Rz. 5. 23 Ebenda FOB Nr. 9 Rz. 13. 24 Incoterms 2010 Einführung Hauptmerkmale Nr. 1–9. 25 Unten I. 6. 26 Magnus/Lüsing, IHR 2007, 1, 6.

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Incoterms 2010

5. Regelung und Rechtsnatur der Incoterms a) AGB Die Incoterms gelten nicht kraft Gesetz und nur ausnahmsweise als Handelsbrauch i. S. von § 346 HGB, sondern nur insoweit, als die Vertragsparteien im (nationalen oder internationalen) Kaufvertrag auf sie Bezug nehmen.27 Sie sind also vorformulierte Vertragsklauseln, deren Einbeziehung (nicht auch ihr Inhalt) bewiesen werden muss,28 und die bei Geltung des deutschen Rechts der AGB-Kontrolle nach §§ 305 ff. BGB unterliegen, etwa zur wirksamen Einbeziehung von AGB unter Art. 8 CISG.29 Eine Einbeziehung der Incoterms kraft Handelsbrauch kann nicht angenommen werden. Auch soweit die Incoterms nicht in den Vertrag aufgenommen wurden, tragen sie aber unter Umständen zur Auslegung des maßgeblichen nationalen Handelsbrauchs bei bzw. decken sich im Einzelfall mit diesem. Soweit die Incoterms wie in der Regel unter Unternehmern verwendet werden, finden nach § 310 Abs. 1 Satz 1 BGB die §§ 305 Abs. 2 und 3, 308, 309 BGB keine Anwendung, wohl aber zum Beispiel die Generalklausel des § 307 BGB. Dazu ist allerdings in der Rechtsprechung ein problematischer Trend zur Übernahme der Grenzen aus §§ 308, 309 BGB in § 307 BGB festzustellen.30 Diese Gefahr wird allgemein für internationale Klauseln in der Praxis unterschätzt, ist jedoch für die Incoterms angesichts der langjährigen, sorgfältigen Austarierung31 gering. Bei individueller Abweichung von diesen Klauseln, die möglich, wenn auch nicht unbedingt ratsam ist,32 nimmt die Gefahr jedoch zu. Werden die Incoterms allerdings gegenüber Privaten gebraucht,33 ist das zwingende Verbraucherschutzrecht zu beachten.34 b) Geschäftstyp Rechtlich entspricht nicht jede Gruppe der Incoterms 2010 einem einzigen Geschäftstyp. Vielmehr finden sich in verschiedenen Gruppen Abnahmegeschäfte (zum Beispiel ab Werk, ab Schiff, ab Kai), Versendungsgeschäfte (so die F- und C-Geschäfte FCA, FAS, FOB, CPT, CIP, CFR, CIF) und Fern- oder An-

__________ 27 Basedow, RabelsZ 43 (1979), 125; Piltz, IHR 2004, 133, 138; Berger in FS Horn, 2006, S. 3, 18; Magnus in FS Kritzer, 2008, S. 321. 28 LL, BGH, RIW 1975, 578; Schmidt in Wolf/Lindacher/Pfeiffer, AGB-Recht, 5. Aufl. 2009, Handelsklauseln H 61. 29 Schmidt-Kessel in Schlechtriem/Schwenzer, Kommentar zum Einheitlichen UNKaufrecht – CISG –, 5. Aufl. 2008, Art. 8 CISG Rz. 52. 30 M. w. N. Hopt (Fn. 2), Einl. vor § 305 BGB Rz. 4. 31 Oben I. 4. 32 Unten III. 3. 33 Oben I. 2. 34 Zum Ganzen (für internationale Anleihebedingungen) Hopt (Fn. 2), (7) Bankgeschäfte Rz. Y/3; Überbl. vor § 373 HGB Rz. 46 (Internationales Einheitsrecht); Überbl. vor § 373 HGB Rz. 50 (Klauselpraxis im internationalen Abladegeschäft). Zu AGB im internationalen Geschäftsverkehr s. H. Schmidt in Ulmer/Brandner/Hensen, AGBRecht, 11. Aufl. 2011, Anh. zu § 305 BGB.

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kunftsgeschäfte (so die D-Geschäfte Geliefert Terminal, Geliefert benannter Ort, Geliefert verzollt). c) Verhältnis zum nationalen Recht Zwingendes Recht geht in jedem Fall vor. Dispositives Recht findet Anwendung, sofern es nicht durch die Incoterms wirksam abbedungen bzw. die Frage anders geregelt worden ist.35 Die Incoterms beschränken sich auf einige Hauptprobleme des Kaufs (Lieferung, Abnahme, (Preis-)Gefahrübergang und Fragen der Aus-, Durch- und Einfuhr der Ware). Alle nicht in den Incoterms geregelten Fragen (zum Beispiel Vertragsabschluss, Leistungsstörungen, Zahlungsabwicklung und vor allem Eigentumsübergang) bestimmen sich nach dem auf den Vertrag anzuwendenden Recht.36 Im Übrigen gehen Individualvereinbarungen den Incoterms vor.37 6. Auslegung der Incoterms Incoterms sind nach ihrem Zweck und dem Parteiwillen objektiv und international einheitlich auszulegen.38 Den Parteien wird ausdrückliche Einbeziehung, spezifizierte Bezugnahme (englische oder andere Ausgabe, Fassung mit Jahr, Klausel; zum Beispiel „Incoterms 2010 cif“) und eine möglichst präzise Ortsangabe empfohlen.39 Bei allgemeiner Bezugnahme gelten im Zweifel die Incoterms 2010 in der englischen Originalfassung.40 Die Vereinbarung der Incoterms bedeutet nicht zugleich auch die Vereinbarung der Schiedsgerichtsbarkeit der Internationalen Handelskammer41 und auch nicht Abbedingung des CISG.42 Sehr hilfreich sind die ausführlichen Anwendungshinweise vor jeder einzelnen Klausel, aber auch die Auslegungshinweise für die Incoterms 2010 in der offiziellen Einführung, auch wenn diese Einführung nicht Bestandteil des Regelwerks ist.43 Gleiche Pflichten sind seit 1990 mit gleichlautenden Formulierungen ausgedrückt, was eine einheitliche Auslegung erleichtert. Soweit möglich, sind in den Incoterms dieselben Ausdrücke wie im CISG44 verwandt worden. Die offizielle Einleitung zu den Incoterms 2000 enthielt Erklärungen zur Terminologie,45 zum Beispiel Verlader/shipper (bei FOB sowohl der Verkäufer, der die Ware zur Beförderung übergibt, als auch der Käufer, der

__________ 35 Zur objektiven Geltung von Handelsbräuchen Hopt (Fn. 2), § 346 HGB Rz. 8. 36 Oben I. 2.; auch internationales Einheitsrecht, Hopt (Fn. 2), Überbl. vor § 373 HGB Rz. 46. 37 § 305b BGB. 38 von Hoffmann, RIW 1970, 247, 252 (str.). 39 Incoterms Einführung Auslegungshinweise Nr. 1–3. 40 Oben I. 4. 41 Hopt (Fn. 2), Einl. vor § 1 HGB Rz. 97. 42 Magnus/Lüsing, IHR 2007, 1; Piltz, RIW 2010, 672, 673; öOGH, IHR 2002, 26. 43 Incoterms – Einführung – Bedeutung dieser Einführung, wird abgedruckt in Baumbach/Hopt (Fn. 1). 44 Hopt (Fn. 2), Überbl. vor § 373 HGB Rz. 46. 45 Ebenda, S. 1694.

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Incoterms 2010

den Vertrag mit dem Frachtführer abschließt), zur Verfügung stellen (Übergabe der Ware), Lieferung bzw. Abnahme/delivery (zwei Bedeutungen), üblich/usual (soweit feststellbar tatsächliche Praxis, unter gewissen Umständen „angemessen“), Abgaben (nicht mehr unbedingt „öffentliche“, sondern nach den anwendbaren Einfuhrbestimmungen zu zahlen, aber nicht zum Beispiel Lagergebühren, diese stehen mit der Freimachung nicht in Beziehung), ship/vessel (in der Regel synonym) und andere. Die Incoterms 2010 Einführung (wie bereits gesagt, kein Bestandteil des Regelwerks) geben nicht nur Auslegungshinweise, sondern erläutern auch die Verwendung der Begriffe Frachtführer, Zollformalitäten, Lieferung, Transportdokument, Elekronischer Beleg oder Verfahren und Verpackung.46 Die Auslegung kann auch von den Gebräuchen des jeweiligen Hafens (Hafenusancen) oder Ortes (jeweilige Handelsbräuche) abhängen, worauf die Incoterms Einführung Nr. 2 besonders hinweisen (zum Beispiel FAS und FOB jeweils A 4 I: in der im Hafen üblichen Weise). Zu den Handelsbräuchen und Gepflogenheiten ist Art. 9 CISG zu beachten und zu ihrer Bedeutung für die Auslegung von Erklärungen und Verhalten Art. 8 Abs. 3 CISG. Handelsbräuche gelten anders als bloße Handelsübung auch ohne Kenntnis und Unterwerfungswillen der Parteien.47

II. Der Inhalt der Incoterms 2010 1. Einteilung der Incoterms 2010 Die Incoterms 2010 sind anders als noch die Incoterms 2000 nach Eignung für die verschiedenen Transportarten gegliedert.48 a) Klauseln für alle Transportarten aa) 1. EXW bb) 2. FCA cc) 3. CPT 4. CIP dd) 5. DAT 6. DAP 7. DDP

Ab Werk Frei Frachtführer Frachtfrei Frachtfrei versichert Geliefert Terminal Geliefert benannter Ort Geliefert verzollt

b) Klauseln für den See- und Binnenschiffstransport aa)

8. FAS 9. FOB

Frei Längsseite Schiff Frei an Bord

__________ 46 Unten II. 4. 47 Hopt (Fn. 2), § 346 HGB Rz. 8. 48 Incoterms Einführung Hauptmerkmale Nr. 2.

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bb) 10. CFR 11. CIF

Kosten und Fracht Kosten, Versicherung und Fracht

Klauseln, die nur für den See- und Binnenschiffstransport vorgesehen sind, zum Beispiel beim Transport von Öl, Erzen, Eisen oder Getreide, sind also für den Einsatz verschiedenartiger Beförderungsmittel bzw. den multimodalen Transport49 nicht geeignet.50 2. Vier Klauselgruppen (E, F, C, D) nach Kosten- und Gefahrübergang a) Einteilung in vier Gruppen Die 11 Incoterms sind in vier Gruppen gegliedert mit 1 E-Klausel, 3 F-Klauseln, 4 C-Klauseln und 3 D-Klauseln. Diese Gliederung, die noch der Einteilung der Incoterms 2000 zugrunde lag,51 entspricht der gesamten Skala zwischen Abholklausel (E-Klausel, am wenigsten Verkäuferpflichten) und Ankunftsklausel (D-Klauseln, am meisten Verkäuferpflichten) über die F-Gruppe (wegen des Kosten- und Gefahrübergangs schon bei Übergabe an den vom Käufer beauftragten Frachtführer eher dem Verkäufer günstig) und die C-Klauseln (wegen des unterschiedlichen Zeitpunkts des Kosten- und Gefahrübergangs eher dem Käufer günstig). Das zu wissen, ist für die Auswahl der Parteien unter den Klauseln, von der Transportart abgesehen, am wichtigsten: aa) Gruppe E. Kosten- und Gefahrübergang am Lieferort (Abholklausel) 1. EXW Ab Werk … (benannter Lieferort) Ex Works … (named place of delivery) bb) Gruppe F. Kosten- und Gefahrübergang bei Übergabe an den vom Käufer beauftragten Frachtführer 2. FCA Frei Frachtführer … (benannter Lieferort) Free Carrier … (named place of delivery) 3. FAS Frei Längsseite Schiff … (benannter Verschiffungshafen) Free Alongside Ship … (named port of shipment) 4. FOB Frei an Bord … (benannter Verschiffungshafen) Free On Board … (named port of shipment) cc) Gruppe C. Gefahrübergang am Lieferort/Kosten am Bestimmungsort 5. CFR Kosten und Fracht … (benannter Bestimmungshafen) Cost and Freight … (named port of destination) 6. CIF Kosten, Versicherung und Fracht … (benannter Bestimmungshafen) Cost, Insurance and Freight … (named port of destination) 7. CPT Frachtfrei … (benannter Bestimmungsort) Carriage Paid To … (named place of destination)

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49 Vgl. §§ 452 ff. HGB. 50 Zu den praktischen Unterschieden zwischen beiden Klauselarten Ramberg (Fn. 1), S. 48. 51 Baumbach/Hopt (Fn. 2), 34. Aufl., S. 1691 ff., 1706 ff.

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Incoterms 2010

8. CIP

Frachtfrei versichert … (benannter Bestimmungsort) Carriage and Insurance Paid to … (named place of destination)

dd) Gruppe D. Kosten- und Gefahrübergang am Bestimmungsort (Ankunftsklausel) 9. DAT Geliefert Terminal … (benannter Terminal im Bestimmungshafen/-ort) Delivered at Terminal … (named terminal at port or place of destination) 10. DAP Geliefert benannter Ort … (benannter Bestimmungsort) Delivered at Place … (named place of destination) 11. DDP Geliefert verzollt … (benannter Bestimmungsort) Delivered Duty Paid … (named place of destination). b) Regelungen für die vier Gruppen aa) Gruppe E Die einzige Klausel dieser Gruppe „Ab Werk“ (EXW) ist eine reine Abholklausel. Alle Kosten (Export, Import, Transportvertrag, unter Umständen Versicherung) trägt der Käufer. Lieferort ist das Werk bzw. die Plantage des Verkäufers. Gefahr und Kostentragung gehen am Lieferort über. bb) Gruppe F Die drei Klauseln F („free of risk and expense to the buyer“) betreffen den Haupttransport, der vom Verkäufer nicht bezahlt wird. Der Verkäufer trägt nur die Exportkosten und liefert entweder nur frei an den Frachtführer (FCA), frei an die Längsseite des Schiffes (FAS) oder frei an Bord des Schiffes (FOB) jeweils an dem benannten Lieferort bzw. Verschiffungshafen. Gefahr- und Kostenübergang erfolgen beide jeweils bei Übergabe, also am Lieferort bzw. mit Verladung an Bord. Der Käufer kann ein Interesse an der Übernahme des Transports haben, zum Beispiel wegen eines Mengenrabatts oder sonst günstiger Frachtbedingungen, bei bestimmten Devisenregeln oder im Hinblick auf den Einsatz von Transportmitteln des Importlandes (sog. FOB-Importieren).52 Bei den F-Klauseln handelt es sich um Absendeverträge (shipment contracts), denn der Verkäufer erfüllt seine Vertragsverpflichtungen noch im Exportland. cc) Gruppe C Auch die vier C-Klauseln („costs even after delivery and transfer of risk“) betreffen den Haupttransport, aber nur, wenn er vom Verkäufer bezahlt wird. Der Verkäufer zahlt entweder nur Kosten und Fracht (CFR) oder Kosten, Versicherung und Fracht (CIF), beides zum benannten Bestimmungshafen (im Unterschied zum Verschiffungshafen). Mit der Klausel „frachtfrei“ (CPT) über-

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52 Zu derartigen Interessenkonstellationen Ramberg (Fn. 1), S. 27.

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nimmt der Verkäufer die Bezahlung des Transports bis zum benannten Bestimmungsort, je nachdem zuzüglich der Versicherungsprämie „frachtfrei versichert“ (CIP). Gefahr- und Kostenübergang fallen bei allen C-Klauseln auseinander (sog. Zweipunktklauseln), die Gefahr geht mit Verladung am Lieferort bzw. an Bord über, die Kostentragung geht bis zum Bestimmungshafen bzw. Bestimmungsort. Der Verkäufer kann ein Interesse an der Übernahme des Transports haben, zum Beispiel wegen eines Mengenrabatts oder sonst für ihn günstiger Frachtbedingungen, bei bestimmten Devisenregeln oder im Hinblick auf den Einsatz von Transportmitteln des Exportlandes (sog. CIF-Exportieren). Die C-Klauseln sind auch dann, wenn die Versicherung übernommen wird (bei CIF und CIP hat der Verkäufer jeweils für eine Mindestdeckung zu sorgen), keine Ankunftsklauseln wie die D-Klauseln, sondern wie die F-Klauseln Absendeverträge.53 Denn der Verkäufer erfüllt seine vertraglichen Verpflichtungen im Verschiffungs- bzw. Versandland. dd) Gruppe D Alle drei Klauseln der Gruppe D („destination“) sind Ankunftsklauseln54: Geliefert Terminal (DAT), Geliefert benannter Ort (DAP) oder Geliefert verzollt (DDP) jeweils an den benannten Terminal im Bestimmungshafen/-ort bzw. an den benannten Bestimmungsort. Außer bei DDP ist der Verkäufer nicht verpflichtet, die Ware im Bestimmungsland zur Einfuhr freizumachen. Gefahr und Kosten gehen über mit Übergabe, also Terminal im Bestimmungshafen/-ort bzw. am Bestimmungsort. Den D-Klauseln liegen Ankunftsverträge zugrunde. 3. Aufbau einer jeden Klausel nach Verkäufer- und Käuferpflichten a) Aufbau und Reihenfolge Bei allen Klauseln stehen sich, erstmals in den Incoterms 1990, unter gleichen Überschriften und in derselben Reihenfolge die korrespondierenden Pflichten des Verkäufers (A 1–10) und des Käufers (B 1–10) spiegelbildlich gegenüber (im folgenden V/K): A. Verpflichtungen des Verkäufers (V)

B. Verpflichtungen des Käufers (K)

A 1 Allgemeine Verpflichtungen des V

B 1 Allgemeine Verpflichtungen des K

A 2 Lizenzen, Genehmigungen, Sicherheitsfreigaben und andere Formalitäten

B 2 Lizenzen, Genehmigungen, Sicherheitsfreigaben und andere Formalitäten

A 3 Beförderungs- und Versicherungsverträge

B 3 Beförderungs- und Versicherungsverträge

A 4 Lieferung

B 4 Übernahme

A 5 Gefahrenübergang

B 5 Gefahrenübergang

__________ 53 Oben II. 2. b) bb). 54 Ramberg (Fn. 1), S. 49 ff.; Graf von Bernstorff, RIW 2010, 672, 677.

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Incoterms 2010 A 6 Kostenverteilung

B 6 Kostenverteilung

A 7 Benachrichtigungen an den Käufer

B 7 Benachrichtigungen an den Verkäufer

A 8 Transportdokument

B 8 Liefernachweis

A 9 Prüfung – Verpackung – Kennzeichnung

B 9 Prüfung der Ware

A 10 Unterstützung bei Informationen und damit verbundene Kosten

B 10 Unterstützung bei Informationen und damit verbundene Kosten

Auch wenn danach bei einer bestimmten Klausel den Verkäufer oder Käufer keine Pflicht trifft, kann sich eine solche doch aus dem anwendbaren Recht oder aus einer Individualvereinbarung ergeben.55 b) Pflichtenverteilung zwischen Verkäufer und Käufer Inhaltlich ergibt sich danach vereinfacht folgende Pflichtenverteilung:56 aa) Transportvertrag: Sein Abschluss ist bei Gruppe E und F Sache des K, bei Gruppe C und D Sache des V. Die Ware zum Export freimachen, also die Exportkosten tragen muss K bei Gruppe E, sonst V. Die Ware zum Import freimachen, also die Importkosten tragen muss immer K außer bei DDP, nach der der Verkäufer verzollt zu liefern hat. bb) Ort der Lieferung: Die Incoterms bieten eine ganze Skala von Lieferorten an: Werk des V bei Gruppe E; Ort der Übergabe an den Frachtführer bei FCA; Längsseite Schiff im Verschiffungshafen bei FAS; Schiff im Verschiffungshafen: FOB, CFR, CIF; Ort der Übergabe an den ersten Frachtführer bei CPT und CIP; Bestimmungsort bei DAP und DDP; Terminal im Bestimmungshafen/-ort bei DAT. Der Bestimmungsort kann entsprechend spezifiziert werden, zum Beispiel an der Grenze wie früher bei DAF, Schiff im Bestimmungshafen wie früher bei DES, Kai des Bestimmungshafens wie früher bei DEQ oder sonst näher bei allen drei D-Klauseln. cc) Gefahrübergang: jeweils am Lieferort.57 dd) Kostenübergang: Der Kostenübergang von V auf K findet grundsätzlich am Ort des Gefahrübergangs, also dem Lieferort, statt. Eine Ausnahme gilt bei der C-Gruppe, bei der V ja die Kosten besonders übernommen hat: Kostenübergang bei CFR und CIF also im Bestimmungshafen, bei CPT und CIP am Bestimmungsort. Wegen dieses Auseinanderfallens von Gefahrübergang und Kostenübergang spricht man bei den C-Klauseln von Zweipunktklauseln.58 ee) Transportversicherung: Eine Transportversicherungspflicht hat der Verkäufer grundsätzlich nicht, anders nur aufgrund ausdrücklicher Bestimmung,

__________ 55 56 57 58

Oben I. 5. c). Hopt (Fn. 2), (6) Incoterms 2010, Übersichtstabelle in Rz. 45. Soeben bb). Unten II. 2. b) cc).

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nämlich bei CIF und CIP, dann jeweils Versicherung mit Mindestdeckung (jeweils A 3 b). Die Transportversicherung ist eine Güterversicherung.59 4. Definitionen und Begriffe In Incoterms (offizielle) Einführung Erläuterung sind sechs in den Incoterms verwendete Begriffe erläutert. Es handelt sich um: a) Frachtführer Die Partei, mit der der Frachtvertrag (in der Regel vom Absender) geschlossen worden ist (vgl. zum Beispiel CFR A3 a, CIF A3 a: Beförderungsvertrag).60 Der Begriff kann in anderen Zusammenhängen als den Incoterms 2010 unter Umständen anders gebraucht werden. Der Empfänger ist nicht Vertragspartei, aber der Frachtvertrag wird zu seinen Gunsten geschlossen (§ 328 BGB).61 Zur Abgrenzung von Frachtführer und Spediteur sind § 407 Abs. 1 HGB (Beförderung des Guts zum Bestimmungsort und Ablieferung an den Empfänger) und § 453 HGB (Besorgung der Versendung des Gutes ohne eigene Beförderungspflicht) zu beachten. Der Frachtvertrag ist auch mit der entsprechenden Incoterm-Klausel62 abzustimmen, dabei ist auf den Gebrauch der Termini FAS, FOB, CFR und CIF durch die charter parties abweichend von der Incoterm-Bedeutung zu achten.63 b) Zollformalitäten Dabei handelt es sich um die zur Einhaltung anwendbarer zollrechtlicher Bestimmungen notwendigen Formalitäten (zum Beispiel DDP A6c, FOB A 6 b, CIF A 6 d), diese können auch Verpflichtungen zu schriftlicher Dokumentation, Sicherheitsleistungen, Informationsbereitstellung oder Warenkontrolle enthalten. Der häufig zu findende Vorbehalt „falls zutreffend“ bzw. „where applicable“ (auch sonst bei den Klauseln unter A 2, B 2 und anderen) trägt dem Umstand Rechnung, dass solche Formalitäten in größeren Handelsräumen wie dem EU-Binnenmarkt oder Freihandelszonen nicht mehr notwendig sind. Bei den verschiedenen Klauseln ist in der Regel der Verkäufer für die Ausfuhrabfertigung verantwortlich, der Käufer für die Einfuhrabfertigung, anders bei EXW, nach der es dem Käufer obliegt, auch die Ausfuhrabfertigung zu beschaffen, und der Verkäufer den Käufer dabei nur unterstützen muss (B 2, A 2). c) Lieferung (und Abnahme) Dies ist der Ort, an dem die Gefahr des Verlustes oder der Beschädigung der Ware vom Verkäufer auf den Käufer übergeht. Der Lieferung durch den Ver-

__________

59 Dazu ADS Güterversicherung, Incoterms und Versicherung, Ramberg (Fn. 1), S. 34; Graf von Bernstorff, RIW 2010, 672, 678. 60 Auch II. 3. b) aa). 61 Merkt in Baumbach/Hopt, 35. Aufl. 2012, § 407 HGB Rz. 16. 62 Ramberg (Fn. 1), S. 27. 63 Ramberg (Fn. 1), S. 28.

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Incoterms 2010

käufer entspricht die Abnahme bzw. Übernahme durch den Käufer (jeweils A 4/B 4). Das gilt nur für die Incoterms 2010. Nach dem jeweiligen Recht64 und nach der Handelspraxis hat der Begriff Lieferung ebenso wie der der Abnahme häufig eine andere Bedeutung. Abnahme ist zum Beispiel nach § 640 BGB die körperliche Hinnahme verbunden mit der Anerkennung (Billigung) des Werks als zumindest in der Hauptsache vertragsgemäße Leistung;65 diese Bedeutung hat die Abnahme nach den Incoterms 2010 gerade nicht. Bei EXW bedeutet Lieferung nur: Bereitstellung der Ware für den Käufer am genannten Lieferort und dort an der gegebenenfalls vereinbarten Stelle (A4).66 d) Transportdokument Transportdokument bzw. delivery document ist das Dokument, das beweist, dass die Lieferung67 stattgefunden hat, entsprechend Lieferdokument, so die Überschrift von jeweils A 8/B 8 jeder Klausel. Oft ist das ein Liefernachweis bzw. eine Empfangsbescheinigung oder Quittung oder ein entsprechender elektronischer Nachweis, es kommt dabei auf die Üblichkeit an (zum Beispiel FOB A 8 I üblicher Nachweis).68 Bei EXW, FCA, FAS und FOB kann es sich bei dem Transportdokument auch nur um eine Empfangsbestätigung handeln. Das Transportdokument kann auch weitere Funktionen, etwa bei der Zahlungsabwicklung, haben. Das Transportdokument muss nach den Incoterms 2010 grundsätzlich datiert sein (ausdrücklich zum Beispiel CIF A 8 ohne Angabe welches Datum, Unterschrift ist nicht erwähnt), Datierung und Unterzeichnung sind in den verschiedenen nationalen Rechten sehr unterschiedlich geregelt, zum Beispiel in Deutschland für das Konnossement Tag der Ausstellung und Unterzeichnung nur auf Wunsch.69 In bestimmten Fällen muss ein vollständiger Satz von Originalen übergeben werden (zum Beispiel CIF A 8 III). In Frage kommen ganz verschiedene Transportdokumente wie Ladeschein (§ 444 HGB), Seekonnossement (§ 650 HGB) und anderen Traditionspapiere (§ 448 HGB), Orderpapiere (§§ 363 ff. HGB) und Dokumente beim multimodalen Transport.70 e) Elektronischer Beleg oder Verfahren Das bedeutet einen Satz von Informationen bestehend aus einer oder mehrerer elektronischer Nachrichten. Er steht, falls zutreffend,71 seiner Funktion nach dem entsprechenden Papierdokument gleich, nämlich sofern die Parteien dies vereinbaren oder es handelsüblich ist (bei den Klauseln jeweils A1/B1).72

__________ 64 65 66 67 68 69 70 71 72

Oben I. 2., dort zu BGB und CISG. BGHZ 48, 262; BGH, NJW 1993, 1974. Zur Ablieferung unter Incoterms 2010 Graf von Bernstorff (Fn. 1), Rz. 171. Oben II. 4. c). Zur Üblichkeit Graf von Bernstorff (Fn. 1), Rz. 187. Graf von Bernstorff (Fn. 1), Rz. 178 f. Merkt (Fn. 61), § 452 HGB Rz. 9. Oben II. 4. c). Incoterms (offizielle) Einführung Hauptmerkmale Nr. 5, s. auch II. 4. d). Zum BOLERO-System Ramberg (Fn. 1), S. 40.

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f) Verpackung Das bedeutet entweder Verpackung der Ware entsprechend den Vertragsbestimmungen oder Verpackung der Ware, so dass sie transportfähig ist. Die Incoterms 2010 betreffen nicht das Verstauen der verpackten Waren im Container, das muss gegebenenfalls im Vertrag besonders geregelt werden. g) Weitere Begriffe Zu nennen sind zum Beispiel Ware, das sind grundsätzlich nur bewegliche körperliche Gegenstände, nicht Immobilien und unkörperliche Gegenstände wie Rechte, Software und Dienstleistungen. Wichtig sind auch die Begriffe Ort73 und Liefertermin.74

III. Die richtige Klauselwahl Die Wahl der richtigen Incoterms-Klausel ist entscheidend für die passgenaue Vertragsgestaltung. Die meisten Incoterms-Klauseln passen zwar für alle Transportarten, vier von elf aber nur für den See- und Binnenschiffstransport,75 sonst gibt es Friktionen. Aus diesem Grund teilen die Incoterms 2010 die Klauseln auch danach ein.76 Sodann sind die Incoterms so abgestuft, dass sie das ganze Spektrum der eher dem Verkäufer oder eher dem Käufer günstigen Vertragsgestaltung abdecken. Sie reichen also von Abholklauseln, die den Verkäufer am meisten begünstigen, bis zu Ankunftsklauseln, die den Käufer bevorzugen.77 Welche Klausel Verkäufer und Käufern wählen, hängt von ihren jeweiligen Interessen ab (zum Beispiel FOB-Importieren oder CIF-Exportieren),78 zum Teil aber auch von ihrer jeweiligen Verhandlungsstärke ab. Die Incoterms insgesamt sind dazu neutral. Bei der Wahl der richtigen Klausel helfen die offiziellen Anwendungshinweise, die vor jeder Klausel stehen. 1. Klauselunterschiede nach Transportart Besonders darauf zu achten ist, dass nicht jede Incoterms-Klausel für jede Transportart geeignet ist.79 a) Geeignet sind für alle Transportarten einschließlich des multimodalen Transports: EXW, FCA, CPT, CIP, DAT, DAP, DDP und früher DAF und DDU; b) See- und Binnenschiffstransport: FAS, FOB, CFR, CIF und früher DES und DEQ.

__________ 73 74 75 76 77 78 79

Graf von Bernstorff (Fn. 1), Rz. 143 ff., 146 ff., 209. Vgl. Art. 33 CISG. Oben II. 1. und 2. Oben II. 1. und 2. Oben II. 1. b). Oben II. 2. b) bb) und cc). Oben II. 1.

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c) Lufttransport: Unter den Incoterms 2000 galt dafür als besonders geeignet FCA und d) Eisenbahntransport: ebenfalls FCA. Beides, also Eignung der FCA, trifft, ohne dass sich das aus der offiziellen Einteilung ergibt, auch noch auf die Incoterms 2010 zu. 2. Klauselunterschiede nach Verantwortungsbereichen Die Incoterms regeln elf Vertragstypen. Ihre Gruppierung80 ermöglicht zunächst eine Auswahl unter dem Aspekt weniger oder mehr Verkäufer- bzw. umgekehrt Käuferpflichten. 3. Auswirkung auf den Vertrag im Übrigen Bei der Auswahl (und vor allem bei der Abänderung)81 einer Incoterms-Klausel ist besonders darauf zu achten, dass der Klauselinhalt im Einzelnen mit dem Vertragsinhalt im Übrigen zusammenpasst.82 Außerdem hat die Wahl bestimmter Incoterms (obschon ohne Geltung für Dritte) Rückwirkungen auf die dazu passenden Fracht-, Akkreditiv- und Versicherungsvertragsgestaltungen. So muss der Verkäufer zum Beispiel bei CFR und CIF dem Käufer ein Seekonnossement oder ein anderes Seetransportdokument stellen (jeweils A 8 der Klausel) und bei CIP und CIF eine Transportversicherung mit Mindestdeckung nach den Institute Cargo Clauses (nunmehr Fassung 2009)83 abschließen.84 4. Gesamtwürdigung Die Incoterms 2010 stellen einen Meilenstein für Recht und Praxis des internationalen Handelsrechts dar. Die Incoterms beherrschen schon bisher die internationale Vertragspraxis des Warenkaufs. Da sie nunmehr so gestaltet sind, dass sie auch für Inlandswarenkäufe passen, ist mit einer weiteren Zunahme ihrer Bedeutung und Verbreitung zu rechnen.

__________ 80 81 82 83 84

Oben II. 2., so noch unter den Incoterms 2000. Incoterms – (Offizielle) Einführung nach Hauptmerkmale Nr. 9. Ramberg (Fn. 1), S. 41 zu EXW, FOB, FCA und C-Klauseln. Näher A 3 b der Klausel. Näher Bredow/Seiffert, Incoterms 2000, S. 8, 22; Graf von Bernstorff (Fn. 1), Rz. 43, 224 ff.; Ramberg (Fn. 1), S. 59.

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Bestellung, Mandatierung und Ersetzung von Abschlussprüfern Inhaltsübersicht I. Einführung II. Bestellung und Mandatierung; gesetzlicher Abschlussprüfer 1. Bestellung des Abschlussprüfers 2. Prüfungsauftrag 3. Gesetzlicher Abschlussprüfer III. Die Ersetzung des Abschlussprüfers 1. Überblick 2. Aufhebung des Wahlbeschlusses a) Keine Bindung durch den Erstbeschluss b) Sperrwirkung des gerichtlichen Ersetzungsverfahrens nur bei Bestellung und Mandatierung

c) Schutzwürdiges Vertrauen auf eine Auftragserteilung? 3. Exkurs: Einzelfragen zum gerichtlichen Ersetzungsverfahren IV. Keine Risiken für die Gültigkeit des Jahresabschlusses 1. Fehlen der Prüfereigenschaft als Nichtigkeitsgrund 2. Fehlende Bestellung zum Abschlussprüfer V. Keine Rückwirkungen des § 256 Abs. 1 Nr. 3 AktG auf die Auslegung des § 318 Abs. 1 Satz 5 HGB VI. Fazit

I. Einführung Angenommen: Die Hauptversammlung einer nach § 316 Abs. 1 HGB prüfungspflichtigen AG hat einen Abschlussprüfer gewählt. Der Aufsichtsrat hat ihn aber noch nicht mandatiert. Dass in dieser Lage der Wunsch aufkommt, den gewählten Prüfer durch einen anderen zu ersetzen, mag nicht häufig sein, ist aber zuweilen anzutreffen. So etwa dann, wenn sich nachträglich Umstände herausstellen, die an einen Ausschlussgrund im Sinne des § 319 Abs. 3 HGB immerhin denken lassen, oder dann, wenn das Kreditinstitut, das beachtliche Fremdmittel bereitstellen soll, einen anderen Prüfer für wünschenswert hält. Auch ist es vorstellbar, dass Aufsichtsrat und gewählter Prüfer keinen Konsens zu den Schwerpunkten der Prüfung und/oder über die Höhe des Prüfungshonorars erzielen. In solchen und ähnlichen Fällen fragt sich, ob der gewählte Prüfer ersetzt werden kann oder ob dem aktienrechtliche Hindernisse oder die in § 318 Abs. 3 HGB getroffene Sonderregelung entgegenstehen. Peter Hommelhoff, dem der Beitrag zu diesem Themenfeld gewidmet ist, hat seine besondere Affinität zum Prüfungswesen durch manche Beiträge im Grenz-

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bereich zwischen Gesellschafts- und Prüfungsrecht gezeigt.1 Es liegt auch zwangsläufig im Blickfeld des KPMG-Partners Hommelhoff. Das lässt auf Interesse und, wenn möglich, Zustimmung des Geehrten zu den Überlegungen dieser Studie hoffen. Sie beschränkt sich auf die Rechtsform der AG, doch können ihre Ergebnisse auf andere Rechtsformen übertragen werden, soweit sie eine vergleichbare Struktur aufweisen, also neben der gesellschaftsrechtlichen Bestellung mit dem Wahlbeschluss der Gesellschafter als Kernelement die davon auch kompetentiell unterschiedene vertragsrechtliche Mandatierung kennen. Der AG voll vergleichbar ist naheliegenderweise die dualistisch verfasste SE, für die § 111 Abs. 2 Satz 3 AktG gilt.2 Auch die monistisch verfasste SE stimmt aber wegen der aus § 22 Abs. 4 Satz 3 SEAG folgenden Kompetenz des Verwaltungsrats für die Mandatserteilung3 strukturell überein. Dem Aktienrecht vergleichbar ist auch die für die GmbH bestehende Regelung, nach der die Gesellschafterversammlung gemäß § 318 Abs. 1 Satz 1 HGB den Abschlussprüfer wählt, während seine Mandatierung nach § 318 Abs. 1 Satz 4 HGB den Geschäftsführern obliegt, sofern nicht ein fakultativer oder obligatorischer Aufsichtsrat besteht.4 Der Gedankengang setzt bei der Frage an, durch welche rechtlichen Teilakte der Abschlussprüfer sein „Amt“ erlangt,5 insbesondere die im Schrifttum so genannte Stellung als „gesetzlicher Abschlussprüfer“ (II). Nur auf dieser Grundlage lassen sich die Ersetzungsmöglichkeiten sinnvoll erörtern (III). Schließlich ist noch das Problem aufzugreifen, ob sich aus der Ersetzung Risiken für die Gültigkeit des Jahresabschlusses ergeben können (IV und V).

II. Bestellung und Mandatierung; gesetzlicher Abschlussprüfer 1. Bestellung des Abschlussprüfers Nach § 119 Abs. 1 Nr. 4 AktG beschließt die Hauptversammlung über die Bestellung des Abschlussprüfers. Sachlich übereinstimmend ergibt sich das auch aus der allgemeineren Vorschrift des § 318 Abs. 1 Satz 1, 1. Halbs. HGB, nach welcher der Abschlussprüfer von den Gesellschaftern gewählt wird. Speziell die Aktionäre üben nämlich ihr Wahlrecht gemäß § 118 Abs. 1 Satz 1 AktG in der Hauptversammlung aus. Dass deren Bestellungsbeschluss ein Wahlbeschluss ist, bedarf keiner Vertiefung. Eine gesellschaftsrechtliche Ausnahme von der Zuständigkeit der Hauptversammlung (vgl. im Übrigen § 341k Abs. 2 HGB für die Versicherungs-AG) gibt es nur für das erste Rumpf- oder Voll-

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1 Vgl. z. B. Hommelhoff in Großkomm. HGB, 4. Aufl., Bd. 3/1 2002, Bearb. des § 290 HGB; ferner dens., a. a. O., Bd. 3/2 2002, Bearb. des § 292a HGB; dens., Die neue Position des Abschlußprüfers im Kraftfeld der aktienrechtlichen Organisationsverfassung, BB 1998, 2567 ff. und 2625 ff. 2 Teichmann in Lutter/Hommelhoff (Hrsg.), SE-Kommentar, 2008, Anh. Art. 43 SE-VO § 22 SEAG Rz. 34. 3 Kleindiek in Lutter/Hommelhoff (Fn. 2), Art. 61 SE-VO Rz. 26. 4 Vgl. Kleindiek in Lutter/Hommelhoff, 17. Aufl. 2009, Anh. § 42 GmbHG Rz. 17. 5 S. zur Rechtsstellung des Abschlussprüfers Schürnbrand, Organschaft im Recht der privaten Verbände, 2007, S. 214 ff.

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geschäftsjahr, weil die Bestellung insoweit den Gründern obliegt (§ 30 Abs. 1 Satz 1 AktG). Auch das korrespondiert mit § 318 Abs. 1 Satz 1, 1. Halbs. HGB; denn die Gründer sind die Aktionäre, die die Satzung festgestellt haben (§ 28 AktG). Hinsichtlich des Beschlussverfahrens ist vor allem § 124 Abs. 3 Satz 1, 2 AktG zu beachten. Nach § 124 Abs. 3 Satz 1, 2. Fall AktG bedarf es eines Wahlvorschlags – nur – des Aufsichtsrats.6 Gemäß § 124 Abs. 3 Satz 2 AktG ist dieser Wahlvorschlag auf die Empfehlung des Prüfungsausschusses zu stützen, wenn die AG unter § 264d HGB fällt, insbesondere also, wenn sie börsennotiert ist, und der Aufsichtsrat einen Prüfungsausschuss auch eingerichtet hat7, was Ziffer 5.3.2 DCGK empfiehlt. Das eigentliche Beschlussverfahren zeigt keine Besonderheiten. Für die Wahl ist erforderlich und genügend, dass der Antrag die einfache Stimmenmehrheit (§ 133 Abs. 1 AktG) findet, soweit die Satzung nichts anderes bestimmt (§ 133 Abs. 2 AktG), was für Prüferwahlen weniger üblich ist. Durch die Wahl allein ist der Gewählte noch nicht zum Abschlussprüfer bestellt worden. Vielmehr bedarf es noch der Bekanntgabe an den Gewählten. Erst beide Vorgänge zusammen ergeben seine Bestellung,8 verschaffen ihm also den korporationsrechtlichen Status des Abschlussprüfers. 2. Prüfungsauftrag Die Bestellung schließt die Erteilung des Prüfungsauftrags nicht ein.9 Genauer ist darunter der Abschluss des Prüfungsvertrags zu verstehen, der sich in den Kategorien des bürgerlichen Rechts als Geschäftsbesorgungsvertrag (§ 675 BGB) darstellt,10 und zwar, was hier nicht vertieft werden soll, in der Werkvertragsvariante. Die Zuständigkeit für die Erteilung des Prüfungsauftrags liegt nach § 111 Abs. 2 Satz 3 AktG nicht bei der Hauptversammlung, sondern beim Aufsichtsrat, an dessen Stelle nach § 107 Abs. 3 Satz 2 AktG auch ein beschließender Ausschuss tätig werden kann. Die Zuständigkeit umfasst nicht nur die Willensbildung, sondern auch die Vertretung der AG im Vertragsschluss. Dieser ist erfolgt, wenn der zum Abschlussprüfer Bestellte die Auftragserteilung auch angenommen hat und die Annahme durch Zugang (§ 130 BGB) wirksam geworden ist.

__________ 6 BGHZ 153, 32, 35 ff. = NJW 2003, 970; Hüffer, 9. Aufl. 2010, § 124 AktG Rz. 13; Ziemons in K. Schmidt/Lutter (Hrsg.), 2. Aufl. 2010, § 124 AktG Rz. 26. 7 Wozu § 264d HGB nicht verpflichtet, s. RegBegr., BT-Drucks. 16/10067, S. 103; Hüffer (Fn. 6), § 124 AktG Rz. 13b; Noack/Zetzsche in KölnKomm. AktG, 3. Aufl., Bd. 3, 2. Lfg. 2011, § 124 AktG Rz. 71. 8 Unstr., vgl. Hüffer (Fn. 6), § 256 AktG Rz. 13. 9 Es ist auch etwas unscharf, die Annahme der Bestellung in der Annahme des Prüfungsauftrags zu finden; so etwa Kleindiek (Fn. 4), Anh. § 42 GmbHG Rz. 14. Letztere mag allerdings die Annahme der Bestellung konkludent zum Ausdruck bringen. 10 BGH, NJW 2000, 1107; Adler/Düring/Schmaltz, Rechnungslegung und Prüfung der Unternehmen, 6. Aufl., Teilbd. 7 2000, § 318 HGB Rz. 191 ff.; Hopt/Merkt in Baumbach/Hopt, 34. Aufl. 2010, § 318 HGB Rz. 3; Kleindiek (Fn. 4), Anh. § 42 GmbHG Rz. 14; Zimmer in Großkomm. HGB, 4. Aufl., Bd. 3/2 2002, § 318 HGB Rz. 28.

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3. Gesetzlicher Abschlussprüfer Nicht in der gesetzlichen Terminologie, aber in Teilen des Schrifttums findet sich der etwas tautologische Begriff des gesetzlichen Abschlussprüfers.11 Damit ist derjenige Berufsträger bezeichnet, der für die konkrete Prüfung die gesetzlichen Rechte und Pflichten des Abschlussprüfers innehat und diesen Rechtsstatus auch nicht ohne weiteres verlieren kann. Vielmehr kann gemäß § 318 Abs. 3 HGB nur das Gericht in einem antragsabhängigen Verfahren der freiwilligen Gerichtsbarkeit (§ 375 Nr. 1 FamFG) und nur aus Gründen, die in der Person des gewählten Prüfers liegen, einen anderen Abschlussprüfer bestellen. Die gerichtliche Entscheidung tritt also an die Stelle des Beschlusses der Hauptversammlung und seiner Bekanntgabe. Nur im Falle einer solchen Entscheidung kann nach § 318 Abs. 1 Satz 5 HGB der Prüfungsauftrag widerrufen werden. Die Zuständigkeit für den Widerruf als actus contrarius zur Erteilung liegt beim Aufsichtsrat.12 Nach richtiger und gefestigter Meinung wird die Rechtsstellung des gesetzlichen Abschlussprüfers nur in einem zweistufigen Verfahren erworben, nämlich durch die Bestellung (Wahlbeschluss und dessen Bekanntgabe) und die Erteilung des Prüfungsauftrags (genauer: den Abschluss des auf die Prüfung gerichteten Geschäftsbesorgungsvertrags).13

III. Die Ersetzung des Abschlussprüfers 1. Überblick Der Abschlussprüfer ist ersetzt, wenn er seine bisherige Rechtsstellung zugunsten eines anderen Prüfers eingebüßt hat. Die bisherigen Überlegungen zeigen, dass dieses Ergebnis zwar auf dem Weg des § 318 Abs. 3 HGB erreicht werden kann, die Vorschrift dafür aber hohe verfahrensmäßige und materielle Erfordernisse begründet. So könnte dieser Weg allenfalls im ersten eingangs gebildeten Beispielsfall beschritten werden. Auch dann würde aber nicht ein mehr oder minder ausgeprägter Befangenheitsverdacht genügen. Vielmehr würde ein erfolgreicher Ersetzungsantrag voraussetzen, dass ein Ausschlussgrund nach §§ 319 Abs. 2 bis 5, 319a, 319b HGB oder ein anderer vergleichbarer Hinderungsgrund wie das Fehlen erforderlicher unternehmensspezifischer Kenntnisse oder eines für die sachgerechte zeitnahe Prüfung erforderlichen Mitarbeiterstabs zu gerichtlicher Überzeugung gebracht werden kann.14 Wegen des engen Anwendungsbereichs des § 318 Abs. 3 HGB und auch wegen des zeitlichen Aufwands bis zu einer rechtskräftigen gerichtlichen Entscheidung (§ 318 Abs. 3 Satz 8 HGB lässt die Beschwerde zu) wird dieser Weg kaum in Betracht kommen.

__________ 11 Adler/Düring/Schmaltz (Fn. 10), § 318 HGB Rz. 187; Kropff in Geßler/Hefermehl, Bd. III 1973, § 163 AktG Rz. 16; Zimmer (Fn. 10), § 318 HGB Rz. 44. 12 Für kumulative Zuständigkeit von Aufsichtsrat und Vorstand (insoweit kaum überzeugend) Adler/Düring/Schmaltz (Fn. 10), § 318 HGB Rz. 266. 13 Adler/Düring/Schmaltz (Fn. 10), § 318 HGB Rz. 187; Kropff (Fn. 11), § 163 AktG Rz. 16. 14 S. zu den „anderen“ Ersetzungsgründen noch unten III 3.

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Für die Praxis fragt sich deshalb vor allem, ob, wie und bis wann der Wahlbeschluss aufgehoben werden kann (2.). Einzelaspekte des gerichtlichen Ersetzungsverfahrens können gesondert angesprochen werden (3.). 2. Aufhebung des Wahlbeschlusses a) Keine Bindung durch den Erstbeschluss Die Organe der AG sind zwar an einen Beschluss der Hauptversammlung gebunden, solange er wirksam besteht (vgl. § 83 Abs. 2 AktG für den Vorstand). Die Hauptversammlung ist aber nicht selbst in dem Sinne gebunden, dass sie ihren eigenen Beschluss nicht aufheben könnte. Eine solche Aufhebung ist möglich und kommt durch erneute Beschlussfassung zustande, wenn die Hauptversammlung mit einfacher Stimmenmehrheit (§ 133 Abs. 1 AktG) den Willen bildet und erklärt, das zunächst Beschlossene nicht mehr als Regelung der Gesellschaftsverhältnisse zu wollen. Das entspricht der rechtsgeschäftlichen Natur des Beschlusses;15 denn für Rechtsgeschäfte ist die Aufhebungsmöglichkeit auch ohne ausdrückliche Zulassung im BGB anerkannt.16 Ob die Aufhebungsmöglichkeit schrankenlos besteht oder ob die Hauptversammlung an ihren zunächst gebildeten und geäußerten Willen gebunden bleibt, wenn ihr Beschluss durchgeführt worden ist, muss nicht vertieft werden. Die erste Stufe der Durchführung läge nämlich in der Bekanntgabe des Beschlusses gegenüber dem Gewählten, die aber nur den korporationsrechtlichen Bestellungsvorgang abschließt. Darin liegt also noch kein Vollzug, von dem eine Selbstbindung ausgehen könnte.17 Diese ergibt sich erst aus dem Doppeltatbestand von Bestellung und Mandatierung, weil der Gewählte nur dadurch die Prüfereigenschaft erlangt.18 Dabei mag dahinstehen, ob die Bindungswirkung insoweit das Resultat beschlussrechtlicher Dogmatik ist; denn jedenfalls ergibt sie sich aus der schon angesprochenen Regelung des § 318 Abs. 1 Satz 5, Abs. 3 HGB. Was den Inhalt des Beschlusses anbetrifft, so wäre es für die Aufhebung des Erstbeschlusses genügend, wenn die Hauptversammlung einen anderen als den bisher gewählten Prüfer bestimmt. In der Wahl des neuen Prüfers kommt nämlich hinreichend klar zum Ausdruck, dass die Hauptversammlung an der Wahl seines Vorgängers nicht mehr festhält. Immerhin mag es wie in anderen Fällen im Interesse vollständiger Klarheit liegen, den ersten Wahlbeschluss vorsorglich ausdrücklich aufzuheben. Nach allgemeinen beschlussrechtlichen Regeln

__________ 15 Vgl. zum rechtsgeschäftlichen Charakter des Hauptversammlungsbeschlusses BGHZ 65, 93, 97 f. = NJW 1976, 49; Hüffer (Fn. 6), § 133 AktG Rz. 3 f.; Spindler in K. Schmidt/Lutter (Hrsg.), 2. Aufl. 2010, § 133 AktG Rz. 3; für die hier interessierenden innergesellschaftlichen Wahlbeschlüsse auch Ulmer in FS Niederländer, 1991, S. 415, 428 (insoweit Rechtsgeschäft, aber kein Vertrag). 16 S. nur Flume, Das Rechtsgeschäft, 3. Aufl. 1979, § 33 Nr. 5 (S. 607 ff.); Larenz/Wolf, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, 8. Aufl. 1997, § 33 Rz. 38 ff. 17 Dazu Zöllner in KölnKomm. AktG, Bd. 1, 5. Lfg. 1973, § 133 AktG Rz. 111 ff. 18 Dazu oben II 3.

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wäre es auch möglich, es bei der Aufhebung des Erstbeschlusses zu belassen.19 Das sollte jedoch nur in dem Ausnahmefall in Betracht gezogen werden, dass sich nach dem Wahlbeschluss die Prüfungsfreiheit der Gesellschaft herausstellt.20 Im Regelfall der Prüfungspflicht (§ 316 Abs. 1 HGB) spricht einiges dafür, die aus §§ 119 Abs. 1 Nr. 4 AktG, 318 Abs. 1 Satz 1 HGB folgende Befugnis als Pflichtrecht aufzufassen und auf dieser Grundlage den Rechtsgedanken des § 318 Abs. 3 Satz 1 HGB, nach dem das Gericht keine Abberufungs-, sondern nur eine Ersetzungsbefugnis hat, auf den Zweitbeschluss der Hauptversammlung zu erstrecken. b) Sperrwirkung des gerichtlichen Ersetzungsverfahrens nur bei Bestellung und Mandatierung aa) Gesetzlicher Abschlussprüfer Wenn der Gewählte durch Bestellung und Mandatierung im konkreten Fall die Stellung des gesetzlichen Abschlussprüfers erlangt hat, ist nach § 318 Abs. 3 HGB klar, dass ihm diese Stellung nicht durch Aufhebungsbeschluss entzogen werden kann, auch nicht unter gleichzeitiger Bestellung eines anderen Prüfers durch die Hauptversammlung. Der bloße Wortlaut der Vorschrift könnte zwar auch eine andere Beurteilung zulassen. Die materiellen Beschränkungen der gerichtlichen Ersetzungsbefugnis und die verschiedenen verfahrensmäßigen Kautelen wären jedoch unverständlich, wenn die Hauptversammlung in beschlussrechtlicher Freiheit am Gericht vorbei handeln dürfte. Ersichtlich soll die Ersetzung des gesetzlichen Abschlussprüfers nur unter den normierten Ausnahmevoraussetzungen möglich sein. Das entspricht auch Sinn und Zweck der Regelung. Sie ist nämlich erstens darauf gerichtet, die Rechtsstellung des gesetzlichen Abschlussprüfers der konkreten Gesellschaft zu stärken, um durch seine Unabhängigkeit die Prüfungsqualität zu gewährleisten.21 Zweitens soll gesichert sein, „daß die Gesellschaft nicht ohne Abschlußprüfer dasteht.“22 Während das zweite Regelungsziel – vorbehaltlich der Probleme des Beschlussmängelrechts – wohl auch durch eine entsprechende Vorgabe für den Inhalt des Hauptversammlungsbeschlusses erreicht werden könnte, würde der erste Regelungszweck verfehlt, wenn der gesetzliche Abschlussprüfer zur Disposition der Hauptversammlung stände. bb) Keine Sperrwirkung bei bloßer Bestellung Es bleibt die Frage, ob die von § 318 Abs. 1 Satz 5, Abs. 3 HGB ausgehende Sperrwirkung zeitlich vorverlagert werden kann, und zwar in dem Sinne, dass

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19 Zöllner (Fn. 17), § 133 AktG Rz. 111. In der Annahme des Aufhebungsantrags läge ein positiver, nicht ein negativer Beschluss. 20 Erforderlich wäre eine kleine Kapitalgesellschaft im Sinne des § 267 Abs. 1 HGB, und zwar bei einem Wechsel der Größenklasse gemäß § 267 Abs. 4 Satz 1 HGB an zwei aufeinander folgenden Abschlussstichtagen; vgl. Adler/Düring/Schmaltz (Fn. 10), § 316 HGB Rz. 24 ff. 21 Adler/Düring/Schmaltz (Fn. 10), § 318 HGB Rz. 26; Hopt/Merkt (Fn. 10), § 318 HGB Rz. 4; Ebke/Jurisch, AG 2000, 208, 215 f. 22 LG München I, AG 2000, 235, 236; Ebke/Jurisch, AG 2000, 208, 215 f.

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schon die bloße Bestellung zum Abschlussprüfer den von § 318 Abs. 3 HGB ausgehenden Bestandsschutz erfährt, mithin seine Ersetzung durch Beschluss der Hauptversammlung unzulässig ist. Das wird von der herrschenden Meinung verneint.23 Einzelne Literaturstimmen lassen sich aber auch so verstehen, dass der von der handelsrechtlichen Sonderregelung ausgehende Schutz unabhängig von der Stellung des gesetzlichen Abschlussprüfers eingreift, namentlich also ohne Rücksicht auf die Mandatierung des Bestellten.24 Sollte dieses Ergebnis von der Mindermeinung tatsächlich gewollt sein – stattdessen könnte auch eine untechnische Verwendung des Bestellungsbegriffs vorliegen –, so hätte diese Auffassung Wortlaut, Systematik und Zweck des § 318 Abs. 1 Satz 5, Abs. 3 HGB gegen sich. Soweit es um den Gesetzeswortlaut geht, ist unübersehbar, dass § 318 Abs. 1 Satz 5 HGB vom Prüfungsauftrag und nicht von Wahl oder Bestellung des Abschlussprüfers spricht. Weil dem Gesetz, wie § 318 Abs. 1 Satz 1 und 4 HGB zeigt, die terminologische Unterscheidung von Prüfungsauftrag und Wahl des Abschlussprüfers geläufig ist, kann von vornherein nicht angenommen werden, dass vom ersten gesprochen wird, aber das zweite gemeint ist. Rechtssystematisch würde sich ein derartiges Normverständnis auch über den unmittelbaren Zusammenhang von § 318 Abs. 1 Satz 4 und 5 HGB hinwegsetzen. Die Betonung der Aufsichtsratszuständigkeit in § 318 Abs. 1 Satz 4 HGB schließt es aus, in § 318 Abs. 1 Satz 5 HGB Bestellung statt Prüfungsauftrag zu lesen, obwohl die entsprechende Kompetenz nach § 119 Abs. 1 Nr. 4 AktG, § 318 Abs. 1 Satz 1 HGB bei der Hauptversammlung liegt. Blickt man ergänzend auf die Regelungszwecke,25 so bestätigen sich die bisherigen Auslegungsergebnisse. Soweit es darum geht, die Rechtsstellung des gesetzlichen Abschlussprüfers im Interesse der Prüfungsqualität zu stabilisieren, ist die Erteilung des Prüfungsauftrags vorausgesetzt, weil erst dadurch der geschützte Rechtsstatus begründet wird. Ähnlich liegt es, soweit die Regelung darauf abzielt, der Gesellschaft den Abschlussprüfer zu erhalten; sie kann ihn nämlich erst verlieren, wenn sie ihm zuvor diese Eigenschaft verschafft hat. Die Auslegung des § 318 Abs. 1 Satz 5, Abs. 3 HGB bestätigt also die herrschende Meinung, nach der das gerichtliche Ersetzungsverfahren einem Ersetzungsbeschluss der Hauptversammlung nicht entgegensteht, wenn er vor der Mandatierung gefasst wird.

__________ 23 Klar vor allem Adler/Düring/Schmaltz (Fn. 10), § 318 HGB Rz. 260 f.; Hopt/Merkt (Fn. 10), § 318 HGB Rz. 4; Winkeljohann/Hellwege in Beck’scher BilanzKommentar, 6. Aufl. 2006, § 318 HGB Rz. 16. Der h. M. zuzurechnen ist auch, wer den Widerruf als Kündigung aus wichtigem Grund qualifiziert (OLG Düsseldorf, ZIP 1996, 1040, 1041; AG Wolfsburg, AG 1992, 205); denn die Kündigung kann sich nur auf das Auftragsverhältnis, nicht auf den Wahlbeschluss beziehen. 24 Claussen/Korth in KölnKomm. AktG, 2. Aufl., Bd. 4, 2. Lfg. 1991, § 318 HGB Rz. 27; WP-Handbuch 2006, 13. Aufl., Bd. I 2006, Abschnitt A Rz. 527, 547. 25 Dazu oben bei Fn. 21 f.

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c) Schutzwürdiges Vertrauen auf eine Auftragserteilung? In Kürze einzugehen ist noch auf §§ 280 Abs. 1, 311 Abs. 2 BGB. Danach könnte der gewählte Abschlussprüfer nach Bekanntgabe des Wahlergebnisses, also nach seiner Bestellung, deshalb einen Anspruch auf Schadensersatz haben, weil ihm der erwartbare Prüfungsauftrag nicht erteilt worden ist. Zu ersetzen wäre dann das Vertrauensinteresse, nämlich ein vergeblich gebliebener Arbeits- und Zeitaufwand und ein dadurch bedingter Verlust von Geschäftsvorteilen. Das hätte jedoch zur Voraussetzung, dass durch die Wahl und die Bekanntgabe des Wahlergebnisses allein ein schutzwürdiges Vertrauen auf den Abschluss des Prüfungsvertrags (§ 675 BGB) zustande kommt.26 Damit würde aber vernachlässigt, dass es sich bei der Bestellung und beim Prüfungsvertrag um getrennte rechtliche Ebenen handelt und der Aufsichtsrat bei der ihm obliegenden Mandatierung (§ 111 Abs. 2 Satz 3 AktG) auch nicht schlechthin an den Wahlbeschluss der Hauptversammlung gebunden ist.27 Die besseren Gründe sprechen deshalb gegen die Annahme eines vorvertraglichen Schuldverhältnisses, doch mag das unter besonderen Umständen des Einzelfalls auch anders zu beurteilen sein. 3. Exkurs: Einzelfragen zum gerichtlichen Ersetzungsverfahren Wenngleich der Beitrag die Zulässigkeit einer von der Hauptversammlung ausgehenden Prüferersetzung untersucht, bliebe das Gesamtbild doch unvollständig, wenn die Besonderheiten des von § 318 Abs. 3 HGB geregelten gerichtlichen Ersetzungsverfahrens ganz ausgeblendet würden. Auf einige gesellschaftsrechtsnahe Fragen soll deshalb in Kürze eingegangen werden. Entgegen der früher herrschenden Meinung28 steht das Ersetzungsverfahren des § 318 Abs. 3 HGB zur Anfechtungsklage in einem Verhältnis verdrängender Spezialität.29 Das ergibt sich zwar nicht aus der handelsrechtlichen Regelung, folgt jedoch seit der Änderung des § 243 AktG durch Art. 4 Nr. 7 BilReG30 aus § 243 Abs. 3 Nr. 3 AktG. Danach kommen Ersetzungsgründe (wohl aber andere Mängel des Wahlbeschlusses) als Anfechtungsgründe nicht in Betracht. Der gewollte Vorrang des Ersetzungsverfahrens ginge vielfach ins Leere, wenn zwar nicht die Anfechtungs-, wohl aber die Nichtigkeitsklage (§ 249 AktG) zulässig wäre. Der Regelungszweck gebietet deshalb, verdrängende Spezialität auch

__________ 26 Am ehesten ließe sich an die Anwendung von § 311 Abs. 2 Nr. 3 BGB denken, doch ist die bloße Bestellung, falls sie überhaupt einen „geschäftlichen Kontakt“ darstellen sollte, den vorvertraglichen Sonderverbindungen gerade nicht „ähnlich“. 27 Mit dem Übergang von der Vorstands- zur Aufsichtsratskompetenz ist § 83 Abs. 2 AktG unanwendbar geworden und § 318 Abs. 1 Satz 4 HGB steht einer begrenzten Gestaltungsfreiheit des Aufsichtsrats nicht entgegen; vgl. Hopt/Merkt (Fn. 10), § 318 HGB Rz. 1; Hommelhoff, BB 1998, 2567, 2569. 28 BGHZ 153, 32, 44 ff. = NJW 2003, 970; OLG Hamburg, AG 2002, 460, 462; Zimmer (Fn. 10), § 318 HGB Rz. 44a. 29 OLG München, WM 2009, 265, 270; Hüffer (Fn. 6), § 243 AktG Rz. 44c; Göz in Bürgers/Körber, 2. Aufl. 2011, § 243 AktG Rz. 20; Englisch in Hölters, 2011, § 243 AktG Rz. 80; früher schon Ebke/Jurisch, AG 2000, 208, 213 ff. 30 Gesetz v. 4.12.2004, BGBl. I 2004, 3166.

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gegenüber der Nichtigkeitsklage anzunehmen.31 Weiterhin lässt der aktienrechtliche Standort der Spezialitätsregel die Frage aufkommen, wie das entsprechende Problem bei prüfungspflichtigen Gesellschaften anderer Rechtsform zu behandeln ist. Bei der GmbH liegt es nahe, bei festgestellten Beschlüssen im Rahmen der insoweit gebotenen analogen Anwendung der §§ 243 ff. AktG32 auch § 243 Abs. 3 Nr. 3 AktG sinngemäß heranzuziehen.33 Auch soweit es wie bei den Personengesellschaften, deren Prüfungspflichtigkeit sich aus §§ 1, 6 PublG ergeben kann, dabei verbleibt, dass Beschlussmängel durch Klage auf Feststellung der Nichtigkeit geltend gemacht werden (§ 256 ZPO),34 wird es richtig sein, wegen des hier ebenfalls zur Verfügung stehenden gerichtlichen Ersetzungsverfahrens (§ 6 Abs. 1 Satz 2 PublG) die Zulässigkeit der Feststellungsklage zu verneinen. Insgesamt, so zeigt sich, wäre, einer verengenden Problemanschauung folgend, die Vorrangregel wohl besser in § 318 Abs. 3 HGB integriert worden als in § 243 AktG. Wirft man schließlich noch einen Blick auf die Ersetzungsgründe, so stellen Befangenheitssachverhalte zwar die wesentlichen Anwendungsfälle dar, doch steht das Verfahren auch aus anderen in der Person des Prüfers liegenden Gründen zur Verfügung. Was darunter zu subsumieren ist, wird nicht einheitlich beurteilt. Richtig erscheint zunächst, dass ein unspezifisch erhobener Vorwurf mangelnder fachlicher Qualifikation gegenüber einem zugelassenen Berufsträger keine Ersetzung rechtfertigen kann.35 Soweit die Prüfung besondere Branchenkenntnisse oder andere unternehmensspezifische Kenntnisse erfordert, ist deren Fehlen jedoch als Ersetzungsgrund anzusehen.36 Dasselbe gilt, wenn die Ausstattung des gewählten Prüfers mit Mitarbeitern und sachlichen Hilfsmitteln für die konkrete Prüfung nicht ausreicht und er zur Abhilfe nicht willens oder nicht in der Lage ist.37 Insgesamt sollte die Wechselwirkung zwischen § 243 Abs. 3 Nr. 3 AktG und § 318 Abs. 3 HGB bedacht werden, die bis zur Reform von 2005 noch keine Rolle gespielt hat. Danach eröffnet die einengende Interpretation der Gründe, die ein Ersetzungsverfahren rechtfertigen, nämlich die sonst ausgeschlossene Anfechtungsmöglichkeit, was nicht im Sinne des Reformgesetzgebers liegen kann.

__________ 31 Englisch (Fn. 29), § 243 AktG Rz. 80. 32 StRspr., vgl. BGHZ 11, 231, 236 = NJW 1954, 385; BGHZ 101, 113, 116 = NJW 1987, 2514; BGHZ 104, 66, 68 ff. = NJW 1988, 1844; BGHZ 153, 285, 287 = NJW 2003, 2314; Raiser in Großkomm. GmbHG, Bd. II 2006, Anh. § 47 GmbHG Rz. 3 ff., 107; krit. Zöllner in Baumbach/Hueck, 19. Aufl. 2010, Anh. § 47 GmbHG Rz. 3 ff. 33 Die Frage ist bisher nicht aufgegriffen worden. 34 BGH, NJW 1995, 1218, 1219; OLG Hamm, NJW-RR 1997, 989; Hüffer (Fn. 6), § 243 AktG Rz. 2; zum Verein BGH, NJW 2008, 69 Rz. 36. 35 Adler/Düring/Schmaltz (Fn. 10), § 318 HGB Rz. 371; Claussen/Korth (Fn. 24), § 318 HGB Rz. 42; Zimmer (Fn. 10), § 318 HGB Rz. 58; a. A. Kropff (Fn. 11), § 163 AktG Rz. 25 mit Angaben zu den Materialien. 36 Vgl. die in der vorigen Fußnote Genannten; ferner Kleindiek (Fn. 4), Anh. § 42 GmbHG Rz. 27. 37 Adler/Düring/Schmaltz (Fn. 10), § 318 HGB Rz. 374; Claussen/Korth (Fn. 24), § 318 HGB Rz. 42; Zimmer (Fn. 10), § 318 HGB Rz. 59; Kleindiek (Fn. 4), Anh. § 42 GmbHG Rz. 27.

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IV. Keine Risiken für die Gültigkeit des Jahresabschlusses 1. Fehlen der Prüfereigenschaft als Nichtigkeitsgrund Von der zulässigen Ersetzung des gewählten Prüfers durch einen anderen und dessen Mandatierung wird man absehen wollen, wenn sich daraus Risiken für die Gültigkeit des geprüften Jahresabschlusses ergeben sollten. Rechtlicher Ansatzpunkt kann insoweit nur § 256 Abs. 1 Nr. 3 AktG sein. Danach ist der festgestellte Jahresabschluss unter der Prämisse einer gesetzlichen Prüfungspflicht nichtig, wenn eine Prüfung zwar stattgefunden hat, dem Prüfer jedoch die sogenannte Prüfereigenschaft abgegangen ist. Nach der Neufassung der Vorschrift durch Art. 4 Nr. 9 BilReG38 trifft das nur noch in zwei Fällen zu: Entweder mangelt es an der Prüferbefähigung, die sich ihrerseits allein nach § 319 Abs. 1 HGB, Art. 25 EGHGB beurteilt, oder die tätig gewordenen Personen „sind nicht zum Abschlussprüfer bestellt“ gewesen, ohne dass dies auf bloße Ausschlussgründe zurückginge (§§ 319 Abs. 2 bis 4, 319a HGB). 2. Fehlende Bestellung zum Abschlussprüfer Von den beiden Nichtigkeitsgründen des § 256 Abs. 1 Nr. 3 AktG ist allein die fehlende Bestellung zum Abschlussprüfer näher in Betracht zu ziehen. Dass ein derartiger Fall deshalb vorliegt, weil die Gesellschaft den zunächst gewählten, aber noch nicht vom Aufsichtsrat mandatierten Prüfer ersetzt, ist angesichts der Zulässigkeit dieser Vorgehensweise von vornherein wenig naheliegend. Eine solche Annahme trifft auch nicht zu. Wenn man nämlich vom Sonderfall der gerichtlichen Bestellung (§ 318 Abs. 3 und 4 HGB) absieht, ist der Jahresabschluss wegen fehlender Prüferbestellung nur dann nichtig,39 wenn – die Hauptversammlung keinen Bestellungsbeschluss im Sinne der §§ 119 Abs. 1 Nr. 4 AktG, 318 Abs. 1 Satz 1 HGB gefasst hat; – die Hauptversammlung zwar einen Bestellungsbeschluss gefasst hat, dieser aber nichtig ist, ohne dass es dabei um bloße Ausschlussgründe (§§ 319 Abs. 2 bis 4, 319a HGB) geht; – zwar ein gültiger Wahlbeschluss vorliegt, dieser aber nicht bekanntgegeben wird (fernliegend); – zwar ein gültiger Wahlbeschluss vorliegt, der Aufsichtsrat aber einen anderen als den Gewählten beauftragt. Die Aufhebung des zunächst gefassten Wahlbeschlusses unter Neuwahl eines anderen Prüfers, der nach Bekanntgabe dieser Wahl tatsächlich als Abschlussprüfer tätig wird, fällt ersichtlich in keine der genannten Kategorien. Kein Bestellungsmangel im Sinne des § 256 Abs. 1 Nr. 3 AktG und damit auch kein Nichtigkeitsgrund liegt nach ganz herrschender Meinung im bloßen Feh-

__________ 38 Bilanzrechtsreformgesetz v. 4.12.2004, BGBl. I 2004, 3166. 39 Hüffer (Fn. 6), § 256 AktG Rz. 13; Rölike in Spindler/Stilz, 2. Aufl. 2010, § 256 AktG Rz. 36 ff.; Schwab in K. Schmidt/Lutter, 2. Aufl. 2010, § 256 AktG Rz. 26; Waclawik in Hölters (Fn. 29), § 256 AktG Rz. 14.

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len eines Prüfungsauftrags. Der Jahresabschluss ist also gültig, wenn der tatsächlich tätig gewordene Prüfer von der Hauptversammlung gültig bestellt worden ist, der Aufsichtsrat ihm aber keinen oder keinen gültigen Prüfungsauftrag erteilt hat.40 Vereinzelt findet sich allerdings auch die Ansicht, dass es im Rahmen des § 256 Abs. 1 Nr. 3 AktG neben der Bestellung auch auf die Erteilung des Prüfungsauftrags ankommt. Dabei wird die Vorstellung wirksam, dass es für die Nichtigkeit des Jahresabschlusses auf das Fehlen der Eigenschaft als gesetzlicher Abschlussprüfer der konkreten Gesellschaft ankommt. Lesen lässt sich nämlich:41 „Die Bestellung, auf die sich die zweite Alternative des Abs. 1 Nr. 3 bezieht, ist der zweiaktige Vorgang aus Wahl und Beauftragung; nur wenn beide Teilakte vollzogen sind und der Wirtschaftsprüfer den Auftrag auch angenommen hat (vgl. § 51 WPO), erlangt der Wirtschaftsprüfer die Stellung als gesetzlicher Abschlußprüfer.“

Diese Auffassung trifft nicht zu. Sie läuft auf eine parallel gerichtete Auslegung von § 318 Abs. 1 HGB und § 256 Abs. 1 Nr. 3 AktG hinaus und verkennt damit den besonderen Regelungszweck des Nichtigkeitstatbestands. Die Norm soll die Nichtigkeitsfälle im Interesse der Rechtssicherheit einschränken, und zwar nicht nur gegenüber § 134 BGB, sondern auch gegenüber § 241 AktG, und lässt die Nichtigkeitsfolge deshalb nur bei besonders gravierenden und durchweg auch evidenten Mängeln eintreten.42 Dies gebietet es, die Bestellung im Sinne des § 256 Abs. 1 Nr. 3 AktG in Übereinstimmung mit der ganz herrschenden Meinung allein als den korporationsrechtlichen Vorgang zu interpretieren, also als Wahlbeschluss und dessen Bekanntgabe. Die vertragsrechtliche Ebene (Erteilung und Annahme des Prüfungsauftrags) kann dagegen mit vielen Unsicherheiten belastet sein, die nicht auf die Gültigkeit des Jahresabschlusses durchschlagen sollen. Das ist auch deshalb gerechtfertigt, weil Mängel der Vertragsbeziehung einen geringeren Stellenwert haben als die mangelnde Bestellung durch die Hauptversammlung. Diese entzieht der Tätigkeit des Prüfers nämlich die gesellschaftsrechtliche Legitimation, jene nicht.

V. Keine Rückwirkungen des § 256 Abs. 1 Nr. 3 AktG auf die Auslegung des § 318 Abs. 1 Satz 5 HGB Die zuletzt schon angesprochene Vorstellung einer gleichgerichteten Auslegung von § 318 Abs. 1 HGB und § 256 Abs. 1 Nr. 3 AktG lässt sich auch in entgegengesetzter Richtung entwickeln, also nicht so, dass die Bedeutung der handelsrechtlichen Vorschrift die Tragweite des Nichtigkeitstatbestands be-

__________

40 Vgl. zur Unerheblichkeit des Prüfungsauftrags im Rahmen des § 256 Abs. 1 Nr. 3 AktG z. B. Adler/Düring/Schmaltz, Rechnungslegung und Prüfung der Unternehmen, 6. Aufl., Teilbd. 4 1997, § 256 AktG Rz. 20; Hüffer (Fn. 6), § 256 AktG Rz. 13; Rölike (Fn. 39), § 256 AktG Rz. 37. 41 Vgl. WP-Handbuch 2006 (Fn. 24), Abschnitt U Rz. 194. 42 Hüffer (Fn. 6), § 256 AktG Rz. 1; Rölike (Fn. 39), § 256 AktG Rz. 1.

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stimmt, sondern so, dass auch die Ersetzung des (nur) bestellten Prüfers durch Aufhebung des Wahlbeschlusses und Wahl eines anderen Prüfers ohne Rücksicht darauf ausgeschlossen ist, dass ein Prüfungsauftrag weder erteilt noch angenommen wurde. Jedoch: In diesem Sinne die herrschende und auch sachlich überzeugende Auffassung aufzugeben, ist nicht veranlasst. Mit dem angeblichen Postulat einer gleichgerichteten oder parallelen Auslegung von § 318 Abs. 1 HGB und § 256 Abs. 1 Nr. 3 AktG würde vielmehr auch hier verkannt, dass die genannten Vorschriften unterschiedliche Zwecke verfolgen. Greift man auf den Sinn der aus § 318 Abs. 1 Satz 5 HGB folgenden Kündigungsbeschränkung zurück, nämlich die Stärkung der Stellung des gesetzlichen Abschlussprüfers und den Schutz der Gesellschaft vor einer Prüferlosigkeit,43 so erscheint es als sachgerecht, die zwar nicht vollständige, aber weitgehende Bindung der Gesellschaft nicht schon mit dem Wahlbeschluss und seiner Bekanntgabe eintreten zu lassen, und zwar aus den schon oben dargelegten Gründen. Insbesondere ist es einsichtig, dass die Eigenschaft als gesetzlicher Abschlussprüfer erst mit Erteilung und Annahme des Prüfungsauftrags erworben wird und deshalb die vom Gesetz gewollte Stabilisierung dieser Stellung auch die zweite Verfahrensstufe voraussetzt, während sie für die Nichtigkeit des Jahresabschlusses unerheblich bleibt. Insoweit ist nur das Fehlen eines gültigen Bestellungsbeschlusses entscheidend, weil die Tätigkeit des angeblichen Prüfers damit ihre gesellschaftsrechtliche Legitimation einbüßt. Dagegen sind Mängel der vertraglichen Ebene nur für die relative Rechtsbeziehung zwischen Prüfer und Gesellschaft von Interesse und schlagen deshalb zu Recht nicht auf den Jahresabschluss durch.

VI. Fazit In der Summe bleibt festzuhalten: Durch seine Bestellung allein erlangt der Gewählte noch nicht die Stellung eines gesetzlichen Abschlussprüfers. Die Hauptversammlung kann deshalb in diesem Stadium unter Aufhebung ihres Erstbeschlusses einen anderen Abschlussprüfer bestellen. § 318 Abs. 1 Satz 5, Abs. 3 HGB stehen dem nicht entgegen. Risiken für die Gültigkeit des Jahresabschlusses bestehen nicht. Insbesondere liegt der Nichtigkeitsgrund des § 256 Abs. 1 Nr. 3 AktG nicht vor, wenn ein neuer Abschlussprüfer gewählt und ihm der Wahlbeschluss bekannt gegeben wird. Vielmehr müsste es dafür an einem gültigen Wahlbeschluss fehlen. Die Erteilung des Prüfungsauftrags bleibt insoweit unerheblich. Auf das Verständnis des § 318 Abs. 1 Satz 5 HGB ist das wegen des eindeutigen Wortlauts und der unterschiedlichen Normzwecke nicht zu übertragen.

__________ 43 Oben III 2b aa.

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Cash Pool und Fremdfinanzierung im Konzern Zusammenhänge und rechtliche Fallstricke Inhaltsübersicht I. Cash Pool als Finanzierungsinstrument II. Haftungsrisiken für Geschäftsführer im Zusammenhang mit Cash Pooling 1. Cash Pool und Kapitalerhaltungsgrundsätze 2. Laufende Überwachungspflicht 3. Praktische Umsetzung III. Zulässigkeit von Cash Pooling in Konsortialkreditverträgen 1. Konzerninterne Vergabe und Aufnahme von Darlehen 2. Beschränkungen bei der Besicherung von Verbindlichkeiten 3. Auswahl der den Cash Pool führenden Bank IV. Cash Pool und Gläubigervereinbarungen 1. Vertraglicher Nachrang konzerninterner Verbindlichkeiten

2. Auswirkungen auf den Cash Pool Vertrag V. Behandlung von Intra-Group Loans in der Limitation Language 1. Hintergrund der Limitation Language 2. Durchbrechung der Haftungsbeschränkung VI. Forderungsbasierte Finanzierung und verlängerter Eigentumsvorbehalt im Zusammenhang mit Cash Pooling 1. Konflikt zwischen Forderungsabtretung und verlängertem Eigentumsvorbehalt 2. Rechtsprechung zum „echten“ Factoring 3. Situation beim Cash Pool VII. Zusammenfassung

I. Cash Pool als Finanzierungsinstrument Cash Pooling, d. h. die Bündelung der im Konzern vorhandenen Liquidität bei einer Gruppengesellschaft, die diese – gleich einer hausinternen Bank – anderen Konzerngesellschaften zur Verfügung stellt, erfreut sich in der Praxis weiterhin großer Beliebtheit. Zwar wurde im Zusammenhang mit dem Gesetz zur Modernisierung des GmbH-Gesetzes („MoMiG“) aus dem Jahr 2008 vielfach kritisiert, dass das erklärte Ziel der Erleichterung und Förderung von Cash Pooling im Konzern nicht oder zumindest nicht vollständig erreicht wurde und die Haftungsrisiken für die Geschäftsleiter der teilnehmenden Gesellschaften weiterhin beachtlich seien.1 Dennoch steht in Zeiten volatiler Kapi-

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1 Vgl. unter anderem Azara, Das Eigenkapitalersatzrecht der GmbH nach dem Gesetz zur Modernisierung des GmbH-Rechts und zur Bekämpfung von Missbräuchen (MoMiG), 2010, S. 266; Bayer in Lutter/Hommelhoff, 17. Aufl. 2009, § 19 GmbHG Rz. 108; Burg/Westerheide, BB 2008, 62, 65; Erne, GWR 2009, 387; Grigoleit/Rieder, GmbH-Recht nach dem MoMiG, 2009, S. 84; Kleindiek, GWR 2010, 75; Klink/ Gärtner, NZI 2008, 457.

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talmärkte und beschränkter Verfügbarkeit von Liquidität auf dem Bankenmarkt die Optimierung konzerninterner Cash Flows zwecks Reduzierung des Fremdfinanzierungsbedarfes naturgemäß stark im Fokus. Die Anforderungen an die Gestaltung von Cash Pool Systemen und Cash Pool Verträgen wurden in der Literatur – gerade im Nachgang zum MoMiG – vielfach diskutiert und von der Rechtsprechung auch schon teilweise konkretisiert.2 Wenig beachtet wurde dabei bisher jedoch die Wechselwirkung zwischen der konzerninternen Liquiditätssteuerung im Wege des Cash Pooling und den Rahmenbedingungen externer Finanzierungen, sei es durch Banken oder den Kapitalmarkt. Da aber der wohl überwiegende Teil der Unternehmensgruppen, die sich mit dem Thema Cash Pooling befassen, auch auf Fremdmittel in Form von Liquiditätslinien, Darlehen, Schuldverschreibungen oder forderungsbasierten Finanzierungen (wie z. B. Factoring oder ABCP Strukturen) angewiesen sein dürfte, soll sich dieser Beitrag mit einigen ausgewählten Aspekten befassen, die in Zusammenhang mit Cash Pool Systemen bei fremdfinanzierten Gesellschaften zu beachten sind. Spricht man von „Cash Pooling“ wird üblicherweise zwischen dem sogenannten „virtuellen“ und dem „echten“ (physischen) Cash Pool unterschieden.3 Während beim virtuellen Cash Pool lediglich eine (virtuelle) Verrechnung von Guthaben und Verbindlichkeiten auf den bei einer Bank geführten Konten verschiedener Konzerngesellschaften zum Zweck der Zinsberechnung erfolgt, zeichnet sich das physische Cash Pooling dadurch aus, dass die Konten der teilnehmenden Gruppengesellschaften (Cash Pool Teilnehmer) regelmäßig (meist täglich) zugunsten bzw. zulasten des Kontos (Master Account) der den Cash Pool führenden Konzerngesellschaft (Poolführer) auf Null („zero balancing“) oder einen anderen Zielbetrag („target balancing“) gestellt werden. Die Zahlungsströme zwischen den Teilnehmern und dem Poolführer werden konzernintern verbucht und – meist auf Grundlage einer bilateralen Vereinbarung zwischen dem Poolführer und dem jeweiligen Cash Pool Teilnehmer (Cash Pool Vertrag) – verzinst und in festgelegten Intervallen saldiert. Aus rechtlicher Sicht entstehen durch den Cash Pool täglich neue Darlehensforderungen4 zwischen dem jeweiligen Cash Pool Teilnehmer einerseits und dem Poolführer andererseits, die zunächst kumuliert und anschließend saldiert werden.

__________ 2 Vgl. BGHZ 166, 8 (Cash-Pool I); BGHZ 182, 103 (Cash-Pool II); BGHZ 179, 71 (MPS); zu weiterer Rechtsprechung vgl. Gärtner, Die rechtlichen Grenzen der Zulässigkeit des Cash Pooling, 2011, S. 59; Komo, BB 2011, 2307. 3 Zu Differenzierung und Funktionsweise von Cash Pool Systemen vgl. Ammelung/ Kaeser, DStR 2003, 655; Gärtner (Fn. 2), S. 52; Hangebrauck, Kapitalaufbringung, Kapitalerhaltung und Existenzschutz bei konzernweiten Cash-Pooling-Systemen, 2008, S. 35. 4 Ganz h. M.; BGHZ 166, 8, 12; BGHZ 183, 103, 107; Altmeppen in Roth/Altmeppen, 6. Aufl. 2009, § 30 GmbHG Rz. 92; Freitag/Mülbert in Staudinger, Neubearb. 2011, § 488 BGB Rz. 92; Überblick zum Meinungsstand bei Hangebrauck (Fn. 3), S. 52; Hommelhoff in Lutter/Hommelhoff, 17. Aufl. 2009, § 30 GmbHG Rz. 37.

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II. Haftungsrisiken für Geschäftsführer im Zusammenhang mit Cash Pooling 1. Cash Pool und Kapitalerhaltungsgrundsätze Da Poolführer in den meisten Fällen die Konzernmutter oder eine von ihr eingesetzte Treasury- oder Finanzierungsgesellschaft ist und die Teilnahme am Cash Pool regelmäßig durch die Konzernmutter veranlasst sein dürfte, sind Zahlungen bzw. Darlehen von Konzerngesellschaften an den Poolführer am Maßstab von § 30 GmbHG bzw. § 57 AktG zu messen.5 Seit dem MoMiG erlauben diese Vorschriften explizit die Rückgewähr von Gesellschafterdarlehen sowie die Gewährung von Darlehen an Gesellschafter (bzw. mit ihnen verbundene Unternehmen), soweit diese durch einen vollwertigen Rückgewähranspruch gedeckt sind. Da der Cash Pool Rahmenvertrag die rechtlichen Bedingungen für die wechselseitigen Leistungen und Darlehensverhältnisse fixiert und zumeist einen Automatismus für das laufende Entstehen wechselseitiger Darlehensverträge in Gang setzt, liegt es nahe, bereits den Abschluss des Cash Pool Vertrages und die damit eingegangene Verpflichtung zur Abführung der Liquidität einer GmbH bzw. Aktiengesellschaft an eine Konzerngesellschaft an den Kapitalerhaltungsgrundsätzen zu messen.6 2. Laufende Überwachungspflicht Daneben hat der BGH in seinem MPS-Urteil7 aus dem Jahr 2008 entschieden, dass den Verwaltungsorganen nicht nur bei Abschluss des Cash Pool Vertrages eine „ex-ante“ Analyse betreffend die Vollwertigkeit des Rückzahlungsanspruches gegenüber dem Poolführer obliegt, sondern sie auch die Verpflichtung trifft, „laufend etwaige Änderungen des Kreditrisikos zu prüfen und auf eine sich andeutende Bonitätsveränderung mit einer Kreditkündigung oder der Anforderung von Sicherheiten zu reagieren“. Bei Cash Management Systemen könne dies die „Einrichtung eines geeigneten Informations- oder Frühwarnsystems“ zwischen den beteiligten Gesellschaften erforderlich machen. Unterlässt das Management entsprechende Maßnahmen (einschließlich der rechtzeitigen Fälligstellung des Kredits), kann dies dem BGH zufolge Schadenersatzansprüche (im Fall des MPS-Urteils gemäß §§ 93 Abs. 2, 116, 311, 317 AktG) auslösen.

__________ 5 Vgl. Mülbert/Leuschner, NZG 2009, 281. 6 Erne, GWR 2010, 314, 315; Hommelhoff (Fn. 4), § 30 GmbHG Rz. 38; kritisch hierzu Heidinger in Michalski, 2. Aufl. 2010, § 30 GmbHG Rz. 82. 7 Urt. v. 1.12.2008 – II ZR 102/07, BGHZ 179, 71; das Urteil erging zwar zu einem Altfall vor Inkrafttreten des MoMiG, aber unter Verweis auf die durch das MoMiG erfolgte „Klarstellung des Gesetzgebers“; zu den Anforderungen an die laufende Überwachungspflicht vgl. auch Altmeppen, NZG 2010, 361, 367; Erne, GWR 2009, 387; ders., GWR 2010, 314.

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3. Praktische Umsetzung In der Folge wird es inzwischen wohl allgemein für erforderlich gehalten, dass sich Konzerngesellschaften für den Fall des Vermögensverfalls beim Poolführer bzw. der sonstigen Gefährdung des Rückzahlungsanspruches des Cash Pool Teilnehmers sowohl in konzerninternen Cash Pool Verträgen als auch in Verträgen mit der den Cash Pool führenden Bank ein (sofortiges) Kündigungsrecht bzw. sonstige effektive Reaktionsbehelfe einräumen lassen.8 Inwieweit dem Hinweis des BGH auf die Möglichkeit zur Anforderung von Sicherheiten in der Praxis gefolgt werden kann, dürfte wohl stark vom Einzelfall abhängen. Soweit Poolführer nicht die Konzernmutter, sondern eine Gesellschaft mit rein konzerninterner Finanzierungsfunktion ist, wird der Poolführer zumeist keine wesentlichen Vermögensgegenstände besitzen, die zur Besicherung herangezogen werden könnten. Bei fremdfinanzierten Konzernen unterhalb eines Investmentgrade Ratings werden daneben häufig bereits alle wesentlichen bzw. werthaltigen Vermögensgegenstände (wie Beteiligungen, Forderungen gegenüber Kunden, Kontoguthaben, Umlauf- und/oder Anlagevermögen, Grundstücke bzw. gewerbliche Schutzrechte) der Konzerngesellschaften zur Besicherung der Bank- oder sonstigen Finanzverbindlichkeiten herangezogen sein und stehen daher für die Besicherung konzerninterner Verbindlichkeiten schon tatsächlich nicht mehr oder nur sehr eingeschränkt zur Verfügung.9

III. Zulässigkeit von Cash Pooling in Konsortialkreditverträgen Bankfinanzierungsverträge sowie (in einem meist geringeren Umfang) Schuldverschreibungsbedingungen können die Zulässigkeit von Cash Pools in verschiedener Hinsicht beschränken. Die im Folgenden dargestellten Beschränkungen sind insoweit beispielhaft dem auch im deutschen Markt vielfach verwendeten „LMA Standard“10 für Konsortialkreditverträge mit Unternehmen im Leveraged Bereich (also unterhalb eines Investmentgrade Ratings) entnommen. 1. Konzerninterne Vergabe und Aufnahme von Darlehen In solchen Kreditverträgen ist sowohl die Aufnahme von Darlehen durch Gruppengesellschaften als auch die Gewährung von Darlehen an Gruppengesellschaften nur erlaubt, soweit dies im Kreditvertrag explizit vorgesehen ist. Konzerninterne Darlehensbeziehungen, wie sie durch den „Cash Sweep“ vom Konto eines Cash Pool Teilnehmers auf das Master Konto des Poolführers

__________

8 Gärtner (Fn. 2), S. 819; Geißler, Haftungsrisiken für Geschäftsleiter bei Konzernfinanzierungen, 2011, S. 171; Hommelhoff (Fn. 4), § 30 GmbHG Rz. 41; Weitzel/ Socher, ZIP 2010, 1069, 1070. 9 Kritisch insoweit auch Erne, GWR 2010, 314, 317. 10 „LMA“ steht für die „Loan Market Association“, einen Interessenverband von Banken, Finanzinvestoren und internationale Rechtsanwaltskanzleien, der die Erstellung und Verbreitung von allgemein anerkannten Mustern für Vertragsdokumentationen anbietet und fördert.

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bzw. durch den Abruf von Mitteln durch einen Cash Pool Teilnehmer entstehen, sind nach diesem Standard regelmäßig nur zwischen Konzerngesellschaften erlaubt, die zugleich auch als Kreditnehmer oder Garantiegeber gegenüber den finanzierenden Banken haften, d. h. deren Vermögen den Kreditgebern als Haftungsmasse zur Verfügung steht. Darlehen an andere Konzerngesellschaften außerhalb des Kreises dieser sogenannten „Obligors“ sind dagegen meist betragsmäßig begrenzt und vom Beitritt des jeweiligen Darlehensnehmers zu einer Gläubigervereinbarung mit den Banken (vgl. unten IV.) abhängig. Entsprechend ist in solchen Fällen die Teilnahme von Konzerngesellschaften, die den finanzierenden Banken nicht haften, am Cash Pool nur sehr eingeschränkt möglich. Der Poolführer wird (soweit nicht bereits Partei) dem Kreditvertrag wohl in aller Regel als Haftender beitreten müssen, um seine Funktion als gruppeninterner Darlehensgeber und Darlehensnehmer überhaupt ausüben zu können. 2. Beschränkungen bei der Besicherung von Verbindlichkeiten Zu beachten sind im Zusammenhang mit Cash Pooling daneben auch die in Konsortialkreditverträgen regelmäßig zu findenden „Negative Pledge“-Klauseln. Diese untersagen es dem Kreditnehmer und den mit ihm verbundenen Gesellschaften, Verbindlichkeiten gegenüber Dritten durch Gewährung von Rechten an den Vermögensgegenständen der Gruppengesellschaften (dinglich) zu besichern. Die Bestellung von Sicherheiten zugunsten anderer Konzerngesellschaften, wie vom BGH im MPS-Urteil für den Fall eines Vermögensverfalls beim Darlehensnehmer vorgeschlagen (vgl. oben II.2), wäre hierunter regelmäßig unzulässig. Auch die Besicherung eines Überziehungskredits, der dem Poolführer von der den Cash Pool führenden Bank eingeräumt wird, kann mit dieser Klausel kollidieren. 3. Auswahl der den Cash Pool führenden Bank Schließlich kann in Konsortialkreditverträgen schon die Auswahl der den Cash Pool führenden bzw. verwaltenden Bank eingeschränkt sein, wenn nämlich die Finanzierungsdokumentation vorsieht, dass sämtliche Bankkonten der Konzerngesellschaften bei einer der kreditfinanzierenden Banken zu führen und in die Besicherung der Bankfinanzierung mit einzubeziehen sind.

IV. Cash Pool und Gläubigervereinbarungen Daneben ergeben sich aus den bei komplexeren Finanzierungsstrukturen regelmäßig abzuschließenden Gläubigervereinbarungen (Intercreditor Agreements) häufig weitere Beschränkungen. Partei solcher Gläubigervereinbarungen sind regelmäßig alle Fremdkapitalgeber bzw. deren Agenten oder (z. B. im Fall von Schuldverschreibungen) Treuhänder sowie die Kreditnehmer bzw. Emittenten von Schuldverschreibungen und vergleichbarer Verbindlichkeiten und alle Konzerngesellschaften, die hierfür eine Haftung übernommen haben oder an 499

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den konzerninternen Liquiditätsströmen partizipieren wollen. Die Gläubigervereinbarungen verfolgen dabei vor allem das Ziel, den zwischen den verschiedenen Gläubigergruppen vereinbarten Rang rechtlich abzusichern. Dabei sollen konzerninterne Verbindlichkeiten (sogenannte „Intra-Group Liabilities“) gegenüber den Fremdkapitalverbindlichkeiten vollständig in den Nachrang treten, d. h. die Rückführung der Verbindlichkeiten gegenüber den Banken bzw. dem Kapitalmarkt soll vorrangig vor der Rückzahlung konzerninterner Verbindlichkeiten sichergestellt werden. 1. Vertraglicher Nachrang konzerninterner Verbindlichkeiten Um diesen Nachrang rechtlich abzusichern, sehen Gläubigervereinbarungen regelmäßig vor, dass Zahlungen auf Intra-Group Liabilities nur geleistet werden dürfen, solange entweder noch kein Kündigungsgrund unter den Darlehensoder anderen Finanzierungsverträgen vorliegt oder ein Kündigungsrecht aufgrund eines solchen Kündigungsgrundes zumindest noch nicht ausgeübt wurde. Daneben ist es Gruppengesellschaften meist auch unter der Gläubigervereinbarung explizit untersagt, sich konzerninterne Verbindlichkeiten dinglich besichern zu lassen, soweit dies in den Finanzierungsverträgen nicht (ausnahmsweise) explizit erlaubt oder von den Fremdkapitalgebern im Einzelfall genehmigt wurde. Auch die Vornahme von Vollstreckungshandlungen zur Durchsetzung konzerninterner Verbindlichkeiten ist regelmäßig erst erlaubt, wenn alle vorrangigen Gläubiger befriedigt sind bzw. das Insolvenzverfahren über den jeweiligen Konzernschuldner eröffnet wurde. Soweit eine Konzerngesellschaft eine Zahlung erhalten sollte, die ihr auf Grundlage der Gläubigervereinbarung nicht zusteht, ist sie darunter verpflichtet, den erhaltenen Betrag an den von den Banken bestimmten Sicherheitentreuhänder zur Verteilung an die (vorrangigen) Fremdkapitalgeber auszukehren, solange diese noch nicht vollständig befriedigt sind. 2. Auswirkungen auf den Cash Pool Vertrag Im Ergebnis führen solche Regelungen in der Gläubigervereinbarung zu einer erheblichen Einschränkung der Handlungsalternativen bzw. der Reaktionsmöglichkeiten der Verwaltungsorgane im Rahmen ihrer Überwachungs- und Reaktionspflicht auf Grundlage des MPS-Urteils des BGH. Soweit ein Zahlungsstopp bereits an das Vorliegen oder die Mitteilung vom Vorliegen eines Kündigungsgrundes geknüpft wird und somit der Cash Pool Teilnehmer schon ab diesem Zeitpunkt keine Rückzahlung der in den Cash Pool eingespeisten Mittel mehr verlangen könnte, müsste ein dem Gedanken des MPS-Urteils entsprechendes Überwachungssystem eventuell bereits das Entstehen von Kündigungsgründen unter den Finanzierungsdokumenten in einem so frühen Stadium erfassen, dass hierauf noch eine rechtzeitige Reaktion möglich wäre. Da unter Finanzierungsverträgen meist nicht nur das Unter- oder Überschreiten von bestimmten Finanzkennzahlen des Konzerns bzw. einzelner Gruppengesellschaften einen Kündigungsgrund darstellt, sondern auch schwer zu steuernde Ereignisse von außen, wie z. B. materielle Rechtsstreitigkeiten oder 500

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ein Gesellschafterwechsel ein Kündigungsrecht auslösen können, scheint dies in der Praxis nur schwer möglich. Es scheint vielmehr auch nicht ausgeschossen, dass selbst dem Poolführer (soweit er nicht zugleich Konzernobergesellschaft ist) die relevanten Informationen nicht rechtzeitig zur Verfügung stehen bzw. zugänglich sind. Insoweit erscheint es aus der Sicht der Verwaltungsorgane der an den Gläubigervereinbarungen beteiligten Cash Pool Teilnehmer vorzugswürdig, wenn nicht schon das Vorliegen eines Kündigungsgrundes, sondern erst die tatsächliche Kündigung der Fremdfinanzierung den Zahlungsstopp auslöst, da der Kündigung in der Praxis häufig Verhandlungen über Handlungsalternativen bzw. Restrukturierungsmaßnahmen vorausgehen werden und somit eher die Möglichkeit zur Kenntnisnahme von der entsprechenden Situation bzw. mehr Zeit für eine Reaktion darauf bleibt. Eine aus Sicht des Cash Pool Teilnehmers noch bessere Alternative wäre es daneben, Forderungen aus dem Cash Pool komplett vom Zahlungsstopp auszunehmen. Allerdings werden sich die finanzierenden Banken mit solchen Ansätzen schwertun, da damit der wirtschaftliche gewollte Vorrang der Bankforderungen gegenüber konzerninternen Forderungen faktisch aufgehoben bzw. zumindest stark relativiert würde. Wie dieser Konflikt – insbesondere in Zeiten eines gesteigerten Sicherungsbedürfnisses auf Seiten der Banken – in der Praxis tatsächlich gelöst wird, bleibt abzuwarten. Ganz vereinzelt finden sich in Gläubigervereinbarungen inzwischen Regelungen, wonach ein Zahlungsstopp bzw. vergleichbare Einschränkungen nicht eingreifen sollen, wenn und soweit diese zu einer (unvermeidbaren) persönlichen Haftung des Managements der jeweiligen Gruppengesellschaft führen.

V. Behandlung von Intra-Group Loans in der Limitation Language Ein weiterer Risikofaktor für das Management von Cash Pool Teilnehmern in fremdfinanzierten Konzernen ist die Behandlung von konzerninternen Verbindlichkeiten im Rahmen der sogenannten „Limitation Language“. 1. Hintergrund der Limitation Language Sinn und Zweck einer solchen Limitation Language ist es, die persönliche Haftung des Managements beteiligter Kapitalgesellschaften in Zusammenhang mit der Besicherung fremder Verbindlichkeiten zu vermeiden. Dabei stehen mögliche Verstöße gegen die Kapitalerhaltungsgrundsätze des § 30 GmbHG bzw. § 57 AktG im Vordergrund, daneben sollen teils auch Haftungsrisiken aus § 64 Satz 3 GmbHG oder § 71a AktG abgedeckt werden.11 Dahinter steht die Anerkennung des Grundsatzes, dass das Interesse der Banken bzw. der

__________ 11 Vgl. Freitag, WM 2003, 805; Hommelhoff (Fn. 4), § 30 GmbHG Rz. 44; Kollmorgen/ Santelmann, BB 2009, 1818; Merkel/Tetzlaff in Schimansky/Bunte/Lwowski, Bankrechts-Handbuch, 4. Aufl. 2011, § 98 Rz. 156; Theusinger/Kapteina, NZG 2011, 881, 886; Wand/Tillmann/Heckenthaler, AG 2009, 148.

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Kapitalmarktteilnehmer an einer möglichst umfassenden Besicherung ihrer Forderungen dort seine Grenze findet, wo die agierenden Verwaltungsorgane aufgrund der Abgabe von Garantien oder der Stellung von Sicherheiten persönlich haftbar gemacht werden können. Dieses Risiko besteht immer dann, wenn deutschem Recht unterliegende Garantien oder Sicherheiten nicht nur eigene Verbindlichkeiten des Garantie- oder Sicherheitengebers besichern, sondern „up-stream“ oder „cross-stream“ begeben werden, d. h. wenn diese Garantien oder Sicherheiten Verbindlichkeiten von verbundenen Gesellschaften absichern, die nicht vom Garantie- oder Sicherheitengeber abhängige Gesellschaften, sondern z. B. seine (direkten oder indirekten) Mutter- oder Schwestergesellschaften sind. Die Haftungsvermeidung bei Gesellschaften mit beschränkter Haftung soll dadurch erreicht werden, dass die zur Vollstreckung zur Verfügung stehende Masse auf das nach HGB und § 30 GmbHG ausschüttungsfähige Nettovermögen der relevanten Gesellschaft beschränkt und somit verhindert wird, dass das gezeichnete (oder anderweitig gesperrte) Kapital der Gesellschaft durch die Vollstreckung angegriffen wird. 2. Durchbrechung der Haftungsbeschränkung Allerdings wird dieses Prinzip in der Praxis in einzelnen Punkten wiederum durchbrochen, um in den Fällen, in denen die dadurch bewirkte Schmälerung der Haftungsmasse vermeidbar oder zumindest beherrschbar erscheint, neben dem Bedürfnis des Managements nach Haftungsvermeidung auch dem Interesse der finanzierenden Banken am Erhalt einer möglichst umfangreichen Haftungsmasse Rechnung zu tragen. Eine in diesem Zusammenhang regelmäßig anzutreffende „Korrektur“ bei der Berechnung des für die Vollstreckung zur Verfügung stehenden Nettovermögens ist die Nichtberücksichtigung von Verbindlichkeiten aus Darlehen, die gemäß § 39 Abs. 1 Nr. 5 InsO nachrangig sind. Dies entspricht dem oben (mit Blick auf die Gläubigervereinbarung) bereits dargestellten Verständnis, dass gruppeninterne Verbindlichkeiten den Verbindlichkeiten gegenüber den externen Fremdkapitalgebern grundsätzlich nachrangig sein sollen und dass die im Konzern getroffene Wahl einer Konzerninnenfinanzierung in Form von Gesellschafterdarlehen an Stelle von z. B. der Einzahlung in die Kapitalrücklagen die Banken nicht benachteiligen soll. Da im Fall einer Insolvenz Cash Pool Verbindlichkeiten regelmäßig nach § 39 Abs. 1 Nr. 5 InsO nachrangig sein werden,12 werden also die Verbindlichkeiten eines Cash Pool Teilnehmers gegenüber dem Poolführer im Rahmen der Limitation Language bei der Berechnung des ausschüttungsfähigen Betrages ignoriert und somit die Haftungsmasse zugunsten der Fremdkapitalgeber erhöht. Je nach Häufigkeit der Verrechnung bzw. Saldierung der im Cash Pool wechselseitig entstehenden Darlehensforderungen kann dies dazu führen, dass signifikante Verbindlichkeiten des Cash Pool Teilnehmers gegenüber dem Poolführer auf der Passivseite ignoriert werden, während eventuell zur gleichen

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12 Burg/Westerheide, BB 2008, 62; Klink/Gärtner, NZI 2008, 457; Zahrte, NZI 2010, 596.

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Zeit bestehende Forderungen des Sicherheitengebers gegenüber dem Poolführer (soweit werthaltig) auf der Aktivseite voll in Ansatz gebracht werden. Da andererseits § 30 GmbHG als die für die Geschäftsführerhaftung relevante Norm den insolvenzrechtlichen Nachrang von konzerninternen Verbindlichkeiten nicht berücksichtigt, sondern im Rahmen dieser Norm auch Gesellschafterdarlehen voll zu passivieren sind,13 kann die Nichtbeachtung von Cash Pool Verbindlichkeiten im Rahmen der Limitation Language zu einer persönlichen Haftung des GmbH-Geschäftsführers führen. Diese Problematik besteht zwar nicht nur im Rahmen eines Cash Pools, sondern betrifft alle Gesellschafterdarlehen (insbesondere auch solche, die der Gesellschafter zwecks langfristiger Finanzierung zur Verfügung stellt), allerdings kann die Teilnahme am Cash Pool insoweit eine Vertiefung des Haftungsrisikos des Geschäftsführers der abhängigen Gesellschaft bedeuten, als die Höhe der insoweit haftungsbegründenden „Zahlung“ an den Gesellschafter (oder mit ihm verbundene Unternehmen) von dem relativ zufälligen Ergebnis abhängt, ob die am Cash Pool teilnehmende Gesellschaft am Tag der Vollstreckung aus der Sicherheit gerade ein Guthaben oder eine Verbindlichkeit aus dem Cash Pool hat bzw. ob eine tägliche oder z. B. nur wöchentliche Saldierung der Darlehen aus dem Cash Pool vereinbart wurde.

VI. Forderungsbasierte Finanzierung und verlängerter Eigentumsvorbehalt im Zusammenhang mit Cash Pooling Eine aktuell vermehrt in den Blickpunkt von Unternehmen gelangende Finanzierungsform ist die Finanzierung auf Basis von (Kunden)Forderungen, die das Unternehmen generiert. Diese trat in Deutschland traditionell in der Form des Factoring, also des Verkaufs von Forderungen an eine Bank, oder in Form von Verbriefungsstrukturen (z. B. Asset Backed Commercial Paper) auf. Letztere bieten den Vorteil des Zugangs zum Kapitalmarkt mit teils günstigeren Refinanzierungsbedingungen. Daneben können deutschem Recht unterliegende Forderungen aber auch im Rahmen grenzüberschreitender Forderungsfinanzierungen (Asset Based Lending) im Konzern eine Rolle spielen. Die insoweit im Hinblick auf deutsche Forderungen zu beachtenden Rechtsprobleme (wie z. B. die Qualifikation der Forderungsabtretung als sogenannter „True Sale“) ähneln sich in all den vorgenannten Finanzierungsformen. Die rechtlichen Probleme im Zusammenhang mit diesen Finanzierungsformen in Deutschland sind weitgehend diskutiert.14 Im Rahmen dieses Beitrags soll insoweit nur ein kurzer Blick darauf geworfen werden, ob und inwieweit die Teilnahme einer in dieser Form finanzierten Gesellschaft an einem Cash Pool einen Einfluss auf die Bewertung der bekannten Rechtsprobleme haben kann.

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13 H. M.; Hommelhoff (Fn. 4), § 30 GmbHG Rz. 14; Hueck/Fastrich in Baumbach/Hueck, GmbHG, 19. Aufl. 2010, § 30 Rz. 15; Ekkenga in MünchKomm. GmbHG, 2010, § 30 GmbHG Rz. 111. 14 Umfassend hierzu Martinek in Schimansky/Bunte/Lwowski, Bankrechts-Handbuch, 4. Aufl. 2011, § 102 m. w. N.

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Im Vordergrund steht insoweit der Konflikt zwischen der Forderungsabtretung und dem verlängerten Eigentumsvorbehalt. 1. Konflikt zwischen Forderungsabtretung und verlängertem Eigentumsvorbehalt Ein insoweit relevanter und von der Rechtsprechung im Grundsatz gelöster Konflikt ist der Wettstreit zwischen dem verlängerten Eigentumsvorbehalt eines Lieferanten und der (Global)Abtretung von Forderungen zu Finanzierungszwecken, sei es im Wege des Verkaufs oder als Sicherheit im Wege der Globalzession. Liefert der Lieferant unter verlängertem Eigentumsvorbehalt, bleibt er zunächst Eigentümer der Ware und ermächtigt seinen Abnehmer gemäß § 185 BGB zur Weiterveräußerung der Ware an dessen Kunden. Im Gegenzug lässt sich der Lieferant die Forderungen des Abnehmers gegen die Kunden abtreten.15 Ist damit aber der Lieferant (und nicht mehr der Verkäufer) Inhaber der Forderungen aus dem Verkauf der Ware, stellt sich die Frage, wie die Forderung zu Finanzierungs- oder Sicherungszwecken an die finanzierende Bank bzw. an den Factor des Verkäufers abgetreten werden kann. Die Vereinbarung zum verlängerten Eigentumsvorbehalt wird sich hierzu im Regelfall nicht ausdrücklich verhalten. 2. Rechtsprechung zum „echten“ Factoring Im Fall der Sicherungsabtretung wird dieser Konflikt in der Praxis dadurch ausgeschlossen, dass unter verlängertem Eigentumsvorbehalt entstandene Forderungen erst mit Wirkung zu dem Zeitpunkt an die Bank bzw. den Sicherheitentreuhänder abgetreten werden, zu dem der Lieferant befriedigt und die Forderung damit nicht mehr vom verlängerten Eigentumsvorbehalt erfasst ist.16 Für den Fall der Finanzierung gegen „echte“ Forderungsabtretung (True Sale, „echtes“ Factoring) hat die Rechtsprechung den Konflikt zwischen Globalabtretung an den Factor und verlängertem Eigentumsvorbehalt dergestalt aufgelöst, dass die im verlängerten Eigentumsvorbehalt enthaltene Ermächtigung zur Veräußerung der Ware dahingehend erweiternd auszulegen sei, dass neben der Ware auch die Forderung gegen den Kunden veräußert werden darf.17 Da der Verkäufer beim echten Factoring (bei dem der Factor das Risiko der Einbringlichkeit der Forderung trägt) den für den Forderungsverkauf erhaltenen Gegenwert nicht mehr zurückerstatten muss, mache es für den Vorbehaltsverkäufer keinen Unterschied, ob die ihm abgetretene Kundenforderung durch Zahlung des Zweitkäufers der Vorbehaltsware oder eines Dritten untergehe oder der Vorbehaltsverkäufer für die Abtretung der Forderung eine Leistung in Form von „Barzahlung, Scheck oder Überweisung auf ein Konto des Vorbehaltskäufers“ erhalte. Aus Sicht eines verständigen Lieferanten entspräche daher

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15 Statt vieler: Roth in MünchKomm. BGB, 5. Aufl. 2007, § 398 BGB Rz. 135. 16 Roth (Fn. 15), § 398 BGB Rz. 151. 17 BGH, NJW 1977, 2207, 2208; 1978, 1972, 1973; Martinek (Fn. 14), § 102 Rz. 52 m. w. N.; Roth (Fn. 15), § 398 BGB Rz. 170.

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der Verkauf der Forderung an den Factor der Barzahlung des Drittschuldners, so dass es für den Lieferanten irrelevant sei, ob seinem Schuldner die Liquidität zur Begleichung der Lieferantenrechnung aus dem Forderungsverkauf oder dem Verkauf der Ware zufließt. Vorausgesetzt wird insoweit jedoch, dass dem Verkäufer der Forderungen die Liquidität aus dem Forderungsverkauf auch tatsächlich zufließt, sie ihm zur Zahlung an den Lieferanten zur Verfügung steht und die Höhe der verfügbaren Liquidität generell ausreicht, um die Lieferantenforderung zu befriedigen.18 Hiervon ist nach der Rechtsprechung zumindest dann nicht auszugehen, wenn der Forderungsverkäufer infolge Abtretung seiner Kaufpreisforderungen aus dem Factoring keine rechtlich gesicherte Möglichkeit mehr hat, die Erlöse nach freiem Entschluss unmittelbar zur Befriedigung von Warenkreditgebern zu verwenden. Dies ist nach dem BGH z. B. dann der Fall, wenn aufgrund Abtretung der Kaufpreisforderungen die Zahlungen seitens des Factor auf ein Konto eingezahlt werden müssen, das ständig debitorisch geführt wird und die Begleichung der Lieferantenforderung damit praktisch davon abhängig ist, ob die Bank dem Vorbehaltsverkäufer weiter Kredit einräumt.19 3. Situation beim Cash Pool Aber zurück zum Cash Pool: Nimmt eine Gesellschaft, die ihre (unter verlängertem Eigentumsvorbehalt stehenden) Forderungen an einen Factor abtritt, an einem konzerninternen Cash Pooling teil, stellt sich die Frage, ob die vorstehend angeführten Argumente der Rechtsprechung für die Zulässigkeit der Forderungsabtretung trotz verlängerten Eigentumsvorbehalts auch in dieser Situation greifen. Hiervon sollte im Regelfall auszugehen sein: Der Kaufpreis für die (abgetretenen) Forderungen wird zunächst an die abtretende Gesellschaft gezahlt. Die Tatsache, dass das so erlangte Guthaben am Ende eines Geschäftstages – und damit eventuell vor Begleichung der Forderung des Lieferanten – auf das Master Account überwiesen wird und sich damit in eine Forderung gegenüber dem Poolführer „umwandelt“, nimmt dem Cash Pool Teilnehmer nicht grundsätzlich die freie Verfügungsbefugnis über die ihm so zugeflossenen Mittel. Vielmehr kann er diese durch Überweisung von seinem Konto an den Lieferanten am nächsten Tag erneut „abrufen“ und so weiterhin über die Mittel verfügen. Da der BGH für die hier relevanten Fragen die Überweisung der Gelder durch den Factor auf ein Bankkonto des Vorbehaltsverkäufers genügen lässt, sollte auch die weitere Buchung auf ein konzerninternes Cash Pool Konto keine abweichende Bewertung erfordern.20 Zwar könnte man argumentieren, dass aus Sicht des Vorbehaltslieferanten in dieser Konstellation neben das Insolvenzrisiko der Bank und des Vorbehaltsverkäufers auch noch das Insolvenz-

__________ 18 Busche in Staudinger, Neubearb. 2005, Einl. zu §§ 398 ff. BGB Rz. 172; Martinek (Fn. 14), § 102 Rz. 53; Primozic, NZI 2005, 358, 361. 19 BGH, NJW 1987, 1878, 1880. 20 BGH, NJW 1978, 1972, 1973; im Ergebnis ebenso Primozic, NZI 2005, 358, 361.

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risiko des Poolführers tritt. Allerdings wird man dem entgegenhalten können, dass der Vorbehaltslieferant sich schon gegen erstere Insolvenzrisiken nicht abgesichert hat, so dass das zusätzliche Risiko keine andere Bewertung rechtfertigen sollte.21 Wenn das Cash Pool Konto des betreffenden Cash Pool Teilnehmers praktisch dauerhaft oder zumindest häufig debitorisch geführt würde und eingehende Mittel aufgrund einer Verrechnung mit dem Debit bzw. eines eventuellen Verfügungslimits dem Cash Pool Teilnehmers faktisch nicht für Zahlungen zur Verfügung stehen, erlaubt dies im Grundsatz keine andere Bewertung als die Einzahlung auf ein eigenes, im Rahmen eines Kontokorrentverhältnisses „überzogenes“ Bankkonto des Cash Pool Teilnehmers. Ob die Verfügbarkeit über die Erlöse zur Befriedigung von Warenkreditgebern nach freiem Entschluss, wie vom BGH22 gefordert, damit schon in jedem Fall ausgeschlossen ist, erscheint fraglich und hängt wohl von der Gestaltung im Einzelfall ab. Soweit der Poolführer neben seiner Funktion als „Hausbank“ auch als „Payment Factory“ agiert und der Kaufpreis vom Factor nicht an den Forderungsverkäufer, sondern (auf dessen Weisung) direkt auf ein Konto des Poolführers überwiesen und in der Folge dem Forderungsverkäufer ein (konzerninternes) Guthaben auf seinem Cash Pool Konto gutgeschrieben wird, sollte die Bewertung wohl nicht anders ausfallen. Auch hier handelt es sich letztendlich lediglich um eine Abkürzung des Zahlungsweges, nicht aber um die Abtretung der Forderung zu Sicherungs- oder anderen Zwecken.23 Allerdings ist auch insoweit erneut darauf hinzuweisen, dass die Vereinbarung von Zahlungsstopps in Gläubigervereinbarungen dazu führen kann, dass die Verfügungsbefugnis des jeweiligen Cash Pool Teilnehmers/Vorbehaltsverkäufers über sein Cash Pool Guthaben bei Vorliegen oder Ausübung eines Kündigungsrechtes enden kann oder der Anspruch gegenüber dem Poolführer als nicht mehr werthaltig anzusehen ist.24 Dies wiederum würde ihm die Erfüllung der Verbindlichkeiten gegenüber dem Lieferanten unmöglich machen, wenn das Geld aus dem Forderungsverkauf in den Cash Pool eingespeist wurde. Diese Möglichkeit sollte jedoch nicht ausreichen, um den von der Rechtsprechung anerkannten Vorrang der „echten“ Forderungsabtretung vor dem verlängerten Eigentumsvorbehalt aufzuheben, solange der Cash Pool Vertrag bzw. die Gläubigervereinbarung eine ausreichende Möglichkeit zur Reaktion auf eine solche Situation vorsieht.

VII. Zusammenfassung Die Teilnahme am Cash Pool und die daraus resultierenden Haftungsrisiken, die bereits seit geraumer Zeit ausführlich diskutiert werden, werden im Fall

__________ 21 22 23 24

Vgl. insofern auch Martinek (Fn. 14), § 102 Rz. 54. BGH, NJW 1987, 1878, 1880. Differenzierend hierzu Hangebrauck (Fn. 3), S. 63. Auf letzteren Punkt weist auch Primozic, NZI 2005, 358, 361 hin und empfiehlt entsprechende Risikovorsorge.

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der Einbindung der teilnehmenden Kapitalgesellschaften in eine externe Konzern- bzw. Gruppenfinanzierung erschwert bzw. erweitert. Insoweit ist nicht nur darauf zu achten, dass die entsprechenden Finanzierungsdokumente den notwendigen Spielraum für die Teilnahme am Cash Pool lassen und, soweit aus Sicht der den Cash Pool führenden Bank erforderlich, die Stellung von Sicherheiten zur Besicherung der Cash Pool Verbindlichkeiten gegenüber der Bank erlauben. Der von der Literatur und vom BGH im MPS-Urteil angeregte Schutz der Cash Pool Teilnehmer durch ein Recht auf (gegebenenfalls nachträgliche) Besicherung der Verbindlichkeiten des Poolführers oder des Teilnehmers wird in fremdfinanzierten Unternehmensgruppen vielfach schon daran scheitern, dass keine werthaltigen Sicherheiten mehr verfügbar sind bzw. die gruppeninterne Stellung von Sicherheiten sowohl unter den Finanzierungsverträgen als auch unter der Gläubigervereinbarung unzulässig ist. Soweit dies (z. B. mit Blick auf bestimmte Vermögensgegenstände) dennoch zulässig sein sollte, dürfte die Gläubigervereinbarung regelmäßig die Vollstreckung solcher Sicherheiten bis zur vollständigen Befriedigung der Banken oder anderer externer Fremdkapitalgeber verhindern und eine Umverteilung der Erlöse zur vorrangigen Befriedigung der vorrangigen Gläubiger vorsehen. Schließlich kann die Teilnahme am Cash Pool die aus der in der Praxis vorherrschenden Gestaltung der Limitation Language herrührenden Haftungsrisiken für das Management des Cash Pool Teilnehmers erhöhen. Die Besonderheiten, die sich aus dem Zusammenspiel von Cash Pooling, forderungsbasierten Finanzierungen und verlängertem Eigentumsvorbehalt ergeben können, sind relativ komplex. Sie erfordern eine individuelle Abstimmung zwischen den organisatorischen Strukturen und den jeweils genutzten (internen und externen) Finanzierungsinstrumenten.

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Kapitalschutz bei Erwerb eigener Anteile nach BilMoG Inhaltsübersicht I. Einführung II. Erwerb eigener Anteile über oder zum Nennbetrag 1. AG a) Hypothetische Rücklage nach § 71 Abs. 2 Satz 2 AktG b) Umgehung der Vorschriften über die Kapitalherabsetzung (§§ 222 ff. AktG)? c) Zwingende Vorgaben durch die Kapitalrichtlinie der EG? 2. GmbH a) Dreh- und Angelpunkt: Was ist das „Stammkapital“ i.S. von § 30 Abs. 1 GmbHG? b) Hypothetische Rücklage nach § 33 Abs. 2 Satz 1 GmbHG

c) Umgehung der Vorschriften über die Kapitalherabsetzung (§§ 58 ff. GmbHG)? III. Erwerb eigener Anteile unter dem Nennbetrag (unter pari) 1. Problematik beim Erwerb unter pari 2. Folgerungen für AG und GmbH 3. Umfang des Kapitalschutzes IV. Wichtige Erkenntnisse für die Praxis 1. Ausschüttungssperre in Höhe des Nennbetrages der erworbenen eigenen Anteile 2. Gebundene Rücklage oder Ausweis im Bilanzanhang? V. Fazit

I. Einführung Das am 29.5.2009 in Kraft getretene Gesetz zur Modernisierung des Bilanzrechts (BilMoG)1 veränderte das deutsche Bilanzrecht in erheblichem Maße. Ein wichtiger Teil dieser Änderung ist die Neugestaltung der bilanziellen Behandlung erworbener eigener Anteile durch § 272 Abs. 1a und 1b HGB n. F. Das BilMoG vollzog in dieser Hinsicht einen wahren Systemwechsel – weg von der grundsätzlichen Aktivierung bzw. dem sog. Bruttoausweis hin zur generellen Passivierung bzw. zum sog. Nettoausweis der eigenen Anteile. Nach alter Rechtslage waren eigene Anteile entweder im Umlaufvermögen zu aktivieren oder – im Falle sogenannter eingefrorener Anteile2 – offen vom gezeichneten Kapital abzusetzen bzw. mit den Gewinnrücklagen zu verrechnen.3 Kam eine Aktivierung in Betracht, waren die eigenen Anteile infolge ihres besonderen Charakters – einerseits im Hinblick auf die Möglichkeit ihrer Veräußerung echter Vermögenswert, andererseits infolge Wertlosigkeit im Rahmen der Liquidation bloße Korrekturfunktion zum Eigenkapital – zwingend in einem eige-

__________ 1 BGBl. I 2009, 1102. 2 Vgl. nur Hüffer, 9. Aufl. 2010, § 71 AktG Rz. 19o. 3 Vgl. Kessler/Suchan, BB 2000, 2529, 2534 ff.; WP-Handbuch 2006, Bd. I, F Rz. 222.

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nen Posten im Umlaufvermögen zu zeigen (vgl. § 265 Abs. 3 Satz 2 HGB a. F.).4 In gleicher Höhe war auf der Passivseite aus den freien Rücklagen heraus eine gebundene Rücklage für eigene Anteile zu bilden, welche die aktivierten eigenen Anteile vollständig neutralisierte und den Betrag der Anschaffungskosten gegen eine Ausschüttung sperrte. Im Zuge des BilMoG wurde die bisherige differenzierte Behandlung eigener Anteile aufgeben. Nunmehr sind die eigenen Anteile nicht mehr zu aktivieren; stattdessen spielt sich ihr Erwerb ausschließlich auf der Passivseite der Bilanz ab: Zunächst sind die erworbenen eigenen Anteile mit ihrem Nennbetrag in der Vorspalte offen von dem Posten „Gezeichnetes Kapital“ abzusetzen. Sodann ist die Differenz zwischen den Anschaffungskosten und dem Nennbetrag mit den freien Rücklagen zu verrechnen. Eine gebundene Rücklage für eigene Anteile ist aufgrund der fehlenden Aktivierung der eigenen Anteile nicht mehr zu bilden.5 Vielmehr ist nunmehr nur noch vorausgesetzt, dass die Gesellschaft im Zeitpunkt des Erwerbs der Anteile eine Rücklage in Höhe der Anschaffungskosten bilden könnte (vgl. § 33 Abs. 2 Satz 1 GmbHG bzw. § 71 Abs. 2 Satz 2 AktG). Diese Voraussetzung soll sicherstellen, dass der Erwerb der eigenen Anteile aus ausschüttungsfähigem Vermögen erfolgt.6 Waren nach alter Rechtslage die vollständigen Anschaffungskosten der eigenen Anteile in die gebundene Rücklage einzustellen, so wird nach neuer Rechtslage nur die Differenz zwischen Nennbetrag und Anschaffungskosten mit den freien Rücklagen verrechnet. Die frei verfügbaren Rücklagen auf der Passivseite sind nach der Anwendung des § 272 Abs. 1a HGB n. F. also höher als nach alter Rechtslage, und zwar stets in Höhe des Nennbetrages der erworbenen eigenen Anteile. Schon kurze Zeit nach Inkrafttreten des BilMoG entbrannte aufgrund dessen eine Diskussion um die Frage: Steht dieser erhöhte Betrag, den die freien Rücklagen nach neuer Rechtslage aufweisen, für eine Ausschüttung zur Verfügung?7 Im Kern geht es dabei um das Kapitalschutzniveau und die Frage, ob sich dieses durch das BilMoG verschoben hat. Vor allem für die Praxis ist diese Streitfrage, die bislang noch keine abschließende Klärung erfahren hat, von erheblicher Bedeutung. Die momentane Lage, in der die Ausschüttungsfähigkeit dieser Rücklagenteile heftig umstritten ist, ist für die Rechtsanwen-

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4 Adler/Düring/Schmaltz, Rechnungslegung und Prüfung der Unternehmen, 6. Aufl. 1997, § 266 HGB Rz. 139; Reiner/Haußer in MünchKomm. HGB, 3. Aufl. 2008, § 266 HGB Rz. 73. 5 Für eine anschauliche Gegenüberstellung der bilanziellen Behandlung eigener Anteile nach alter und neuer Rechtslage vgl. Verse in Gesellschaftsrechtliche Vereinigung (Hrsg.), Gesellschaftsrecht in der Diskussion, 2009, S. 67, 81 ff. 6 Begründung zum Regierungsentwurf des BilMoG (Begr. RegE BilMoG), BT-Drucks. 16/10067, S. 101; dazu auch Verse (Fn. 5), S. 67, 82. 7 Vgl. zur Diskussion Verse (Fn. 5), S. 67, 80 ff.; Kropff, ZIP 2009, 1137; ders. in FS Hüffer, 2010, S. 539, 545 ff.; Hüttemann in FS Herzig, 2010, S. 595, 600 f.; Förschle/Hoffmann in Beck’scher Bilanz-Kommentar, 7. Aufl. 2010, § 272 HGB Rz. 134, 136; Lutter in Lutter/Hommelhoff, 17. Aufl. 2009, § 33 GmbHG Rz. 28; Hueck/Fastrich in Baumbach/Hueck, 19. Aufl. 2010, § 33 GmbHG Rz. 10; Hoffmann/Weyer in Heidel/Schall, 2011, § 272 HGB Rz. 29; zum Entwurf des BilMoG bereits Arbeitskreis Bilanzrecht der Hochschullehrer Rechtswissenschaft, BB 2008, 209, 215; Rodewald/Pohl, GmbHR 2009, 32.

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der höchst unbefriedigend. Der vorliegende Beitrag ist ein Versuch, einen gangbaren Lösungsweg für die Praxis zu entwickeln, bei dem möglichst keine Unsicherheiten in der bilanziellen Behandlung der eigenen Anteile auftreten. Dargestellt wird zunächst die Situation bei der AG, Schwerpunkt der Betrachtung bildet jedoch die GmbH, nicht zuletzt aufgrund des diesbezüglichen wissenschaftlichen Schwerpunktes des hochverehrten Jubilars, dem dieser Beitrag gewidmet ist.

II. Erwerb eigener Anteile über oder zum Nennbetrag 1. AG a) Hypothetische Rücklage nach § 71 Abs. 2 Satz 2 AktG Der Erwerb eigener Aktien erforderte nach § 71 Abs. 2 Satz 2 AktG a. F., dass die Aktiengesellschaft eine Rücklage für eigene Anteile aus freien Rücklagen bilden konnte.8 Nunmehr setzt § 71 Abs. 2 Satz 2 AktG nur noch voraus, dass im Zeitpunkt des Erwerbes der eigenen Aktien eine Rücklage in Höhe der Anschaffungskosten gebildet werden könnte. Ziel dieser sog. „hypothetischen Rücklage“9 ist die Gewährleistung, dass der Erwerb der eigenen Aktien aus ausschüttungsfähigem Vermögen der Gesellschaft erfolgt.10 Da diese Rücklage im Gegensatz zur alten Rechtslage nicht mehr real zu bilden ist, ist allgemein anerkannt, dass die Voraussetzung des § 71 Abs. 2 Satz 2 AktG im Zeitpunkt des Erwerbs erfüllt sein muss.11 Jedoch ist damit noch nicht die Frage geklärt, ob und ggf. in welcher Höhe diese Mittel nach dem Erwerbszeitpunkt ausschüttungsfähig sind. Allein mit § 71 Abs. 2 Satz 2 AktG dürfte diese Frage kaum beantwortet werden können. Denn die Abschaffung der früher real zu bildenden ausschüttungsgesperrten Rücklage für eigene Anteile ist ausweislich der Gesetzesbegründung12 alleine der Umstellung vom Brutto- auf den Nettoausweis und dem damit verbundenen Wegfall der Aktivierung der eigenen Anteile geschuldet. U. E. lässt sich alleine aus § 71 Abs. 2 Satz 2 AktG keine Absenkung des Kapitalschutzniveaus begründen – im Gegenteil: Die Gesetzesbegründung13 stellt ausdrücklich klar, dass sich zwar eine Rücklagenbildung aufgrund des Wegfalls der Aktivierung erübrige, jedoch an dem bisherigen bewährten Denkmodell festgehalten werden solle; deshalb orientiere sich der Wortlaut der Neuregelung auch so weit wie möglich am bisherigen Wortlaut. Förschle/Hoffmann14 gehen sogar noch einen Schritt weiter und argumentieren, dass § 71 Abs. 2 Satz 2 AktG an sich schon gegen ein erhöhtes Ausschüt-

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8 Maßgebend war – auch hier – der Zeitpunkt des Erwerbes; vgl. Oechsler in MünchKomm. AktG, 3. Aufl. 2011, § 71 AktG Rz. 320. 9 Verse (Fn. 5), S. 67, 82; Kropff, ZIP 2009, 1137, 1140. 10 Begr. RegE BilMoG, BT-Drucks. 16/10067, S. 101. 11 Vgl. z. B. Verse (Fn. 5), S. 67, 82; Kropff, ZIP 2009, 1137, 1140; Arbeitskreis Bilanzrecht der Hochschullehrer Rechtswissenschaft, BB 2008, 209, 215; Cahn in Spindler/ Stilz, 2. Aufl. 2010, § 71 AktG Rz. 223. 12 Begr. RegE BilMoG, BT-Drucks. 16/10067, S. 101. 13 Begr. RegE BilMoG, BT-Drucks. 16/10067, S. 101. 14 Förschle/Hoffmann (Fn. 7), § 272 HGB Rz. 134.

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tungsvolumen spreche: Die im Erwerbszeitpunkt geforderte hypothetische Rücklage ergäbe kaum einen Sinn, wenn sofort nach dem Erwerb der eigenen Anteile ein Teil dieser hypothetischen Rücklage (derjenige Teil, der nach der Verrechnung mit der Differenz zwischen Kaufpreis und Nennbetrag übrig bleibt) wieder ausgeschüttet werden könnte. b) Umgehung der Vorschriften über die Kapitalherabsetzung (§§ 222 ff. AktG)? Ergibt sich aus den geänderten Vorschriften zum Erwerb eigener Anteile keine klare Vorgabe, müssen Parallelüberlegungen helfen. Es erscheint sachgerecht, einen Blick auf die allgemeinen Vorschriften über die Kapitalherabsetzung (§§ 222 ff. AktG) zu werfen, die in durch das BilMoG nicht geänderter Form eine in ihrer wirtschaftlichen Wirkung vergleichbare Maßnahme regeln. Eine Kapitalherabsetzung erlaubt das Aktienrecht im Grundsatz15 nur, wenn dem Schutz der Gläubiger der Gesellschaft genüge getan wird. § 225 AktG erlaubt eine Rückzahlung von Mitteln an die Aktionäre erst, wenn den Gesellschaftsgläubigern hinreichend Gelegenheit gegeben wurde, für ihre Forderungen Befriedigung oder Sicherheit zu erlangen. Dies gilt nach § 237 Abs. 2 AktG auch im Falle der Kapitalherabsetzung durch Einziehung von Anteilen. Nach § 272 Abs. 1a HGB n. F. mindern sich die freien Rücklagen – im Gegensatz zur alten Rechtslage – lediglich in Höhe der den Nennbetrag der rückerworbenen Aktien übersteigenden Anschaffungskosten. Ließe man neben dem bereits als Kaufpreis für die eigenen Aktien „ausgeschütteten“ Betrag auch noch die dem Nennbetrag der erworbenen eigenen Aktien entsprechenden freien Rücklagen für eine Ausschüttung zu, so ergäbe sich in Summe ein Mittelabfluss an die Aktionäre, der die freien Rücklagen vor dem Erwerb übersteigen könnte.16 Bedenkt man, dass bereits der Rückkauf eigener Anteile wirtschaftlich gesehen eine Auskehr von Gesellschaftsvermögen darstellt,17 so stellt die Ausschüttung der zusätzlichen, nach neuem Recht nicht „verbrauchten“ freien Rücklage faktisch eine Kapitalherabsetzung dar,18 ohne dass die Gläubiger der Gesellschaft irgendwie geartete Sicherheiten, v. a. nach § 225 AktG, bekämen,

__________ 15 Die Regelungen der vereinfachten Kapitalherabsetzung nach den §§ 229 ff. AktG bedürfen hier nicht der näheren Betrachtung, da sie nach § 230 AktG gerade keinen Mittelabfluss an die Aktionäre erlauben. 16 Vgl. hierzu das Beispiel bei Verse (Fn. 5), S. 67, 85, dort aber bezogen auf die GmbH: Die Gesellschaft erwirbt eigene Aktien mit Nennbetrag 10 zu einem Kaufpreis von 25. Die frei verfügbaren Rücklagen betragen vor dem Erwerb 30. Nach Absetzung des Nennbetrages vom gezeichneten Kapital ist der Differenzbetrag zwischen Nennbetrag und Anschaffungskosten (15) mit den frei verfügbaren Rücklagen zu verrechnen, wodurch frei verfügbare Rücklagen in Höhe von 15 verbleiben. Ließe man eine Ausschüttung dieser Rücklagen in voller Höhe zu, so wären durch den gesamten Erwerbsvorgang insgesamt 40 (25 Kaufpreis und 15 ausgeschüttete Rücklagen) an die Aktionäre ausgekehrt worden, also mehr als die freien Rücklagen vor dem Erwerb betrugen. 17 Hiervon geht auch die Gesetzesbegründung aus, vgl. Begr. RegE BilMoG, BT-Drucks. 16/10067, S. 66. 18 So auch Verse (Fn. 5), S. 67, 85.

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wie dies für sonstige Fälle von Kapitalherabsetzungen zwingend vorgeschrieben ist. Anhaltspunkte dafür, dass der Gesetzgeber durch das BilMoG an den gläubigerschützenden Vorschriften zur Kapitalherabsetzung etwas hätte ändern wollen, sind nicht ersichtlich. Gegen eine Ausschüttungsfähigkeit des nicht „verbrauchten“ Betrages der Rücklagen spricht zudem das durch den Gesetzgeber mit der Einfügung des § 272 Abs. 1a HGB verfolgte Ziel: Aus der Bilanz sollte schnell und einfach ersichtlich werden, wie hoch das tatsächlich „ausgegebene Kapital“ (also das Stammkapital abzüglich des Nennbetrages der selbst gehaltenen eigenen Anteile) ist bzw. in welchem Umfang die Gesellschaft eigene Anteile zurückgekauft hat.19 Es erscheint verfehlt hieraus zu folgern, dass mit der erhöhten Transparenz gleichzeitig eine Absenkung der die Ausschüttung sperrenden Kapitalziffer verbunden sein sollte, auch wenn bilanziell ein Abzug vom Posten „gezeichnetes Kapital“ vorzunehmen ist. Im Gegenteil: Nach der Intention des Gesetzgebers sollen durch die Bilanzierung eigener Anteile nach dem Nettoprinzip die Abschlussadressaten (also vor allem auch die Gläubiger der Gesellschaft) besser über die Verhältnisse der Gesellschaft informiert20 und hierdurch in ihren berechtigten Interessen geschützt werden. Dieser beabsichtigte Schutz der Abschlussadressaten/Gläubiger würde konterkariert, würde man zusätzliches Ausschüttungsvolumen generieren. Aufgrund dieser Erwägungen erscheint es nicht überzeugend, als generelle Ausschüttungssperre lediglich den bilanziellen Posten „ausgegebenes Kapital“ heranzuziehen,21 da bei einer solchen Vorgehensweise die durch den Ankauf der eigenen Aktien erfolgte wirtschaftliche Kapitalauszahlung quasi zu einer rechtlichen Kapitalherabsetzung würde, ohne dass die Voraussetzungen der §§ 222 ff. AktG eingehalten wären. c) Zwingende Vorgaben durch die Kapitalrichtlinie der EG? Verse22 bringt als zusätzliches Argument gegen die Ausschüttungsfähigkeit der erhöhten Rücklagen die Kapitalrichtlinie23 ins Spiel. Eine Aushöhlung der Vorschriften über die Kapitalherabsetzung sei mit der Kapitalrichtlinie nicht vereinbar. Die Richtlinie enthalte in den Art. 30–38 detaillierte Vorgaben für Kapitalherabsetzungen, welche Beeinträchtigungen des Gläubigerschutzes zu verhindern suchten. Insbesondere Art. 37 Abs. 2 der Richtlinie schreibe für den Fall der Kapitalherabsetzung durch Einziehung von Aktien, welche die Gesellschaft aus frei verfügbaren Mitteln erworben habe, verbindlich die Bildung einer gebundenen Kapitalrücklage in Höhe des Herabsetzungsbetrages vor. Dieser Vorgabe entspreche im deutschen Recht § 237 Abs. 5 AktG. Nun sei es aber inkonsequent, wenn diese Ausschüttungssperre erst im Zeitpunkt der

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Begr. RegE BilMoG, BT-Drucks. 16/10067, S. 66. Begr. RegE BilMoG, BT-Drucks. 16/10067, S. 66. So aber Kropff, ZIP 2009, 1137, 1141. Verse (Fn. 5), S. 67, 85. Kapitalrichtlinie (77/91/EWG) in der Fassung der Änderungsrichtlinie von 2006 (2006/68/EG).

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Einziehung eingreife, im Zeitraum zwischen Rückerwerb und Einziehung aber eine uneingeschränkte Ausschüttung möglich sei.24 Fraglich erscheint, ob sich die zwingenden Vorgaben der Richtlinie auch auf die Fälle übertragen lassen, in denen gerade keine Kapitalherabsetzung beabsichtigt ist. Gerade in diesen Fällen wird nämlich das Problem des Kapitalschutzes besonders relevant, da hier nach dem Gesetzeswortlaut zunächst keine irgendwie gearteten Sicherheiten für die Gläubiger oder Rücklagen vorgesehen sind. Selbstverständlich wäre es in den Fällen, in denen tatsächlich eine Kapitalherabsetzung durch Einziehung erfolgen soll, inkonsequent, wenn Kapitalmittel in Höhe des Herabsetzungsbetrages in der Phase zwischen Erwerb und Einziehung ausgeschüttet werden könnten, die später nach Einziehung ausschüttungsgesperrt wären.25 Dennoch erscheint es nicht zwingend, die Vorgabe der Kapitalrichtlinie, die zunächst nur auf die Fälle einer bevorstehenden Kapitalherabsetzung zugeschnitten ist, auch auf solche Fälle anzuwenden, in denen eine Kapitalherabsetzung gerade nicht erfolgen soll. Zumindest aber lässt sich der Vorschrift des § 237 Abs. 5 AktG entnehmen, dass in sämtlichen Fällen einer Kapitalherabsetzung dem Gläubigerschutz Rechnung getragen werden muss – sei es durch die Rechte des § 225 AktG oder aber durch die zwingende Einstellung des Herabsetzungsbetrages in eine gebundene Rücklage.26 Dass dieser Grundsatz im Falle des wirtschaftlich vergleichbaren Erwerbs eigener Aktien aufgegeben werden soll, vermag nicht zu überzeugen. 2. GmbH a) Dreh- und Angelpunkt: Was ist das „Stammkapital“ i. S. von § 30 Abs. 1 GmbHG? Im Gegensatz zur Situation bei der AG lässt sich die Diskussion bei der GmbH dogmatisch exakt verorten: Gemäß § 30 Abs. 1 Satz 1 GmbHG darf das zur Erhaltung des Stammkapitals erforderliche Vermögen der Gesellschaft nicht an die Gesellschafter ausgezahlt werden. Dreh- und Angelpunkt der Diskussion ist die Auslegung des Begriffs „Stammkapital“ in § 30 Abs. 1 Satz 1 GmbHG. Hierzu werden zwei grundlegende Auffassungen vertreten: aa) „Stammkapital“ als das ausgegebene Kapital Eine Ansicht versteht unter dem „Stammkapital“ im Sinne der genannten Vorschrift das nach Absetzung des Nennbetrages der eigenen Anteile bilanziell verbleibende Kapital (häufig auch als das „ausgegebene Kapital“27 bezeich-

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24 Verse (Fn. 5), S. 67, 85 (dort Fn. 64). 25 Kropff in FS Hüffer, 2010, S. 539, 549 f., meint diesen Widerspruch dadurch auflösen zu können, dass er sich gegen die Notwendigkeit der Bildung einer Rücklage nach § 237 Abs. 5 AktG zum Zeitpunkt der Einziehung ausspricht. 26 In diesem Sinne auch Förschle/Hoffmann (Fn. 7), § 272 HGB Rz. 134; zu § 272 Abs. 1 Satz 4 bis 6 HGB a. F. bereits T. Bezzenberger, Erwerb eigener Aktien durch die AG, 2002, Rz. 109 ff. 27 Vgl. Kropff, ZIP 2009, 1137, 1143.

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Kapitalschutz bei Erwerb eigener Anteile nach BilMoG

net).28 Als Begründung dieser Sichtweise werden vor allem bilanzielle Gesichtspunkte angeführt: Sähe man weiterhin das gezeichnete Kapital bzw. das im Handelsregister eingetragene Kapital als „Stammkapital“ i. S. von § 30 Abs. 1 Satz 1 GmbHG an, so entstünde bilanziell die seltsame Konsequenz, dass Gewinn bereits dann ausgewiesen würde, wenn das Aktivvermögen das „ausgegebene Kapital“ (und sonstige Passiva) übersteige, dieser Gewinn aber nur ausgeschüttet werden könne, wenn das Aktivvermögen das lediglich in der Vorspalte ausgewiesene gezeichnete Kapital (und sonstige Passiva) übersteige.29 Aus diesem Grunde sei es zweifelhaft, ob trotz des Nettoausweises ein Ausschüttungsverbot gewollt und durchsetzbar sei, welches sich auf das Stammkapital des Handelsregisters beziehe.30 Konsequenz dieser Ansicht wäre die Zulässigkeit der Ausschüttung der Rücklagen in voller Höhe, da nur das reduzierte „ausgegebene Kapital“ als bilanzielle Ausschüttungssperre wirkt. bb) „Stammkapital“ als das gezeichnete Kapital/Stammkapital des Handelsregisters Die überwiegend vertretene Gegenansicht sieht hingegen weiterhin das sich aus dem Handelsregister und aus der Satzung ergebende Nennkapital als das „Stammkapital“ i. S. von § 30 Abs. 1 Satz 1 GmbHG an.31 Argumentiert wird zunächst mit dem Wortlaut des § 30 Abs. 1 Satz 1 GmbHG, der unverändert vom „Stammkapital“ und nicht etwa vom „ausgegebenen Kapital“ spricht.32 Auch gebe es keine Anhaltspunkte im Gesetzgebungsverfahren bzw. in der Gesetzesbegründung dafür, dass der Gesetzgeber durch den Übergang vom Brutto- zum Nettoausweis die Ausschüttungsgrenzen verschieben wollte.33 Zudem genieße der Gläubigerschutz im Recht der GmbH einen sehr hohen Stellenwert,34 auch angesichts der unverändert gebliebenen Vorschriften über die Kapitalherabsetzung, die besondere Sicherheiten für die Gläubiger fordern (auf die unten unter II. 2. c) noch näher eingegangen wird). In diesem Zusammenhang wird ebenfalls der Charakter des § 30 Abs. 1 Satz 1 GmbHG als „Schutzvorschrift“ hervorgehoben.35 Vereinzelt wird auch ein Vergleich mit der bilanziellen Erfassung von Anteilen an einem Mutterunternehmen nach § 272 Abs. 4 HGB und mit dem dortigen Kapitalschutz gezogen:36 Dort sei wie bisher eine Rücklage für solche Anteile zu bilden und damit ein sehr hohes Kapitalschutzniveau realisiert. Es sei widersprüchlich, wenn der Kapitalschutz bei einem Erwerb eigener Anteile schwächer ausfiele. Als Konsequenz aus der

__________ 28 29 30 31 32 33 34 35 36

Kropff, ZIP 2009, 1137. Kropff, ZIP 2009, 1137, 1143. Kropff, ZIP 2009, 1137, 1143. Verse (Fn. 5), S. 67, 80 ff.; Hüttemann (Fn. 7), S. 600 f.; Förschle/Hoffmann (Fn. 7), § 272 HGB Rz. 136; Lutter (Fn. 7), § 33 GmbHG Rz. 28; Hueck/Fastrich (Fn. 7), § 33 GmbHG Rz. 10. Verse (Fn. 5), S. 67, 84. Verse (Fn. 5), S. 67, 84; Rodewald/Pohl, GmbHR 2009, 32, 35. Rodewald/Pohl, GmbHR 2009, 32, 35. Förschle/Hoffmann (Fn. 7), § 272 HGB Rz. 136. Verse (Fn. 5), S. 67, 85, Fn. 61.

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Abweichung des bilanziell ausgewiesenen „ausgegebenen Kapitals“ von dem „Stammkapital“ i. S. des § 30 Abs. 1 Satz 1 GmbHG wird vorgeschlagen, einen sich ergebenden ausschüttungsgesperrten Differenzbetrag in eine gebundene Rücklage einzustellen.37 Folge dieser Sichtweise ist die Unzulässigkeit der Ausschüttung von Gewinn- oder Kapitalrücklage insoweit, als sie zur Erhaltung des „Stammkapitals“ erforderlich ist, also im Regelfall in Höhe des Nennbetrags der erworbenen eigenen Anteile. cc) Schlussfolgerung Die gewichtigeren Argumente sprechen für die zweitgenannte Ansicht. Bereits der unveränderte Wortlaut des § 30 Abs. 1 Satz 1 GmbHG spricht sehr eindeutig vom „Stammkapital“, welches sich aus dem Handelsregister und aus der Satzung der Gesellschaft ergibt, und nicht etwa vom „ausgegebenen Kapital“ oder ähnlichem. Es sind auch keine Anhaltspunkte erkennbar, dass der Gesetzgeber die maßgeblichen Ausschüttungsgrenzen hätte verschieben wollen, zumal er § 30 Abs. 1 Satz 1 GmbHG, eine Vorschrift, die den Schutz der Gläubiger bezweckt,38 unverändert belassen hat. Stattdessen verfolgte er andere Ziele, die mit einer Absenkung der Ausschüttungsgrenzen nicht im Einklang stehen: Beabsichtigt war der Schutz der Abschlussadressaten, also auch der Gläubiger der Gesellschaft, vor allem durch bessere Information.39 Mit diesem Schutzziel wäre es kaum vereinbar, nunmehr zwar eine Verbesserung der Information der Abschlussadressaten zu ermöglichen, aber damit zugleich ein Absinken des Kapitalschutzniveaus hinzunehmen. Das gesetzgeberische Ziel spricht vielmehr gerade gegen ein solches Absenken des Schutzniveaus. Ein weiterer Punkt in der Gesetzesbegründung spricht für die weiterhin bestehende Maßgeblichkeit des gezeichneten Kapitals für die Bestimmung des ausschüttungsfähigen Volumens: Die Begründung zur Änderung des § 272 Abs. 1b HGB,40 der Parallelvorschrift zu § 272 Abs. 1a HGB, die sich mit der Kehrseite befasst, also mit dem Wiederverkauf der zuvor erworbenen eigenen Anteile. Dort wird der Gedanke, den der Gesetzgeber mit der bilanziellen Technik verfolgte, sichtbar. Bei einer Veräußerung der eigenen Anteile sind die beim Erwerb vorgenommenen bilanziellen Änderungen spiegelbildlich wieder rückgängig zu machen, d. h. zum Einen, dass das „ausgegebene Kapital“ wieder um den Nennbetrag der veräußerten Anteile zu erhöhen ist und zum Anderen, dass die Differenz zwischen Nennbetrag und Verkaufserlös mit den freien Rücklagen zu verrechnen, also im Falle einer regelmäßig gegebenen positiven Differenz in die freien Rücklagen einzustellen ist. Erst wenn der Veräußerungserlös die ursprünglichen Anschaffungskosten übersteigt, ist dieser übersteigende Betrag in eine – im Falle der Aktiengesellschaft – gebundene Rück-

__________ 37 Hueck/Fastrich (Fn. 7), § 33 GmbHG Rz. 10; Hoffmann/Weyer (Fn. 7), § 272 HGB Rz. 29; tendenziell auch Hüttemann (Fn. 7), S. 601 f.; zum Gesetzentwurf bereits Rodewald/Pohl, GmbHR 2009, 32, 35. 38 Hommelhoff in Lutter/Hommelhoff, 17. Aufl. 2009, § 30 GmbHG Rz. 12. 39 Begr. RegE BilMoG, BT-Drucks. 16/10067, S. 66; vgl. auch oben II.1.b). 40 Begr. RegE BilMoG, BT-Drucks. 16/10067, S. 66.

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lage einzustellen. Durch diese Technik wird bewirkt, dass im (anschaulich darstellbaren) Falle der vollständigen Veräußerung der erworbenen eigenen Anteile, bei der die Anschaffungskosten den Veräußerungserlösen entsprechen, der Erwerb der eigenen Anteile durch die Veräußerung wieder komplett rückgängig gemacht wird. Die bilanziell ersichtliche Kapitalziffer weist wieder ihre ursprüngliche Höhe auf, und auch die freien Rücklagen sind in diesem Falle gleich hoch wie zuvor und ausdrücklich ausschüttungsfähig. Ausweislich der Gesetzesbegründung soll diese Form der Verrechnung gewährleisten, dass „etwaige Veräußerungserlöse in Höhe der ursprünglichen Anschaffungskosten den Anteilseignern wieder zur Verfügung gestellt werden“,41 da der Erwerb der eigenen Anteile zu Lasten der frei verfügbaren Rücklagen vorgenommen worden war. Mithin soll nach der Vorstellung des Gesetzgebers ein Betrag in Höhe der ursprünglichen Anschaffungskosten der Anteile, und nicht nur in Höhe des den Nennbetrag der Anteile übersteigenden Betrages, den Anteilseigner wieder für Ausschüttungen zu Verfügung stehen. Im Umkehrschluss lässt sich hieraus ableiten, dass zuvor – d. h. nach Erwerb der eigenen Anteile – der volle Betrag der Anschaffungskosten ausschüttungsgesperrt sein soll. Der Gesetzgeber bestätigt dieses Verständnis, indem er davon spricht, dass „Kapitalerhaltungsgesichtspunkten damit Rechnung getragen (wird), dass die Anschaffungskosten der eigenen Anteile mit den frei verfügbaren Rücklagen zu verrechnen sind.42 Auf die Möglichkeit der Bildung einer gebundenen Kapitalrücklage in Höhe des ausschüttungsgesperrten Betrages soll an späterer Stelle43 noch eingegangen werden. b) Hypothetische Rücklage nach § 33 Abs. 2 Satz 1 GmbHG Analog zu der Neufassung der oben erwähnten Vorschrift des § 71 Abs. 2 Satz 2 AktG wurde § 33 Abs. 2 Satz 1 GmbHG dahingehend geändert, dass nunmehr keine reale Rücklage für eigene Anteile in Höhe der Anschaffungskosten mehr zu bilden ist, sondern eine solche im Zeitpunkt des Erwerbs der eigenen Anteile gebildet werden könnte. Diese Änderung war ausweislich der Gesetzesbegründung dem Übergang vom Brutto- zum Nettoausweis und der damit entfallenden Aktivierung der eigenen Anteile geschuldet.44 Aus diesem Grunde lässt sich u. E. – wie schon aus § 71 Abs. 2 Satz 2 AktG – auch aus § 33 Abs. 2 Satz 1 GmbHG keine Absenkung des Kapitalschutzniveaus begründen und mithin auch keine argumentative Klärung der Frage erreichen, ob und ggf. in welcher Höhe die nunmehr höheren Rücklagen ausschüttungsfähig sind. Stattdessen spricht viel dafür, die Ausführungen der Gesetzesbegründung zur

__________ 41 Begr. RegE BilMoG, BT-Drucks. 16/10067, S. 66, rechte Spalte – Hervorhebungen durch die Verfasser. 42 So auch ausdrücklich Begr. RegE BilMoG, BT-Drucks. 16/10067, S. 66, linke Spalte – Hervorhebungen durch die Verfasser. 43 S. unten unter IV.2. 44 Begr. RegE BilMoG, BT-Drucks. 16/10067, S. 106.

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Neufassung des § 71 Abs. 2 Satz 2 AktG45 auch auf die Neuregelung des § 33 Abs. 2 Satz 1 GmbHG zu übertragen. Denn die Vorschriften in ihren durch das BilMoG geänderten Fassungen sind insoweit formulierungsgleich und die Ausführungen der Gesetzesbegründung zur Neuregelung des § 33 Abs. 2 Satz 1 GmbHG erschöpfen sich in einem Verweis auf die Änderung des § 272 Abs. 1a und 4 HGB, welcher die Neuregelung in § 33 GmbHG geschuldet sei. Somit dürfte auch für § 33 Abs. 2 Satz 1 GmbHG gelten, dass der Gesetzgeber durch die größtmögliche Angleichung der Formulierung an die bisherige Regelung am bewährten Denkmodell festhalten wollte.46 Angesichts dessen lässt sich aus § 33 Abs. 1 Satz 2 GmbHG keine Absenkung des Kapitalschutzniveaus herleiten. c) Umgehung der Vorschriften über die Kapitalherabsetzung (§§ 58 ff. GmbHG)? Das GmbHG enthält – wie das Aktienrecht – in den §§ 58 ff. Vorschriften, die sich mit der Herabsetzung des eingetragenen Kapitals befassen und eine solche nur unter engen Voraussetzungen zulassen. Kerngedanke der Vorschriften ist der Schutz der Gläubiger, deren Interessen bei einer Kapitalherabsetzung besonders gefährdet sein können.47 Der Übergang zum Nettoausweis bewirkt auch bei der GmbH – wie bereits oben48 für die AG erwähnt – im Vergleich zur alten Rechtslage eine Erhöhung der nach dem Erwerb verbleibenden freien Rücklagen. Ließe man eine Ausschüttung dieser Rücklagen in voller Höhe zu, so könnte infolge des Erwerbsvorgangs in Summe ein höherer Betrag (nämlich gezahlter Kaufpreis und ausgeschüttete freie Rücklagen) an die Gesellschafter ausgekehrt werden, als die frei verfügbaren Rücklagen vor dem Erwerb insgesamt auswiesen.49 Aus denselben Erwägungen wie bei der Aktiengesellschaft ist auch bei der GmbH eine Ausschüttung in diesem erhöhten Umfang faktisch als Kapitalherabsetzung zu werten, die nach § 58 GmbHG50 nur zulässig wäre, wenn den dies verlangenden Gläubigern der Gesellschaft im Gegenzug Befriedigung oder Sicherheit gewährt wurde. Auch die §§ 58 ff. GmbHG sind durch das BilMoG unverändert geblieben. Dieser Umstand spricht in der Zusammenschau mit der durch den Gesetzgeber mit dem Übergang vom Brutto-

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Begr. RegE BilMoG, BT-Drucks. 16/10067, S. 101. Vgl. Begr. RegE BilMoG, BT-Drucks. 16/10067, S. 101. Zöllner in Baumbach/Hueck, 19. Aufl. 2010, § 58 GmbHG Rz. 3. Unter II.1.b). Vgl. hierzu nochmals das Beispiel bei Verse (Fn. 5), S. 67, 85: Die Gesellschaft erwirbt eigene Anteile mit Nennbetrag 10 zu einem Kaufpreis von 25. Die frei verfügbaren Rücklagen betragen vor dem Erwerb 30. Nach Absetzung des Nennbetrages vom gezeichneten Kapital ist der Differenzbetrag zwischen Nennbetrag und Anschaffungskosten (15) mit den frei verfügbaren Rücklagen zu verrechnen, wodurch frei verfügbare Rücklagen in Höhe von 15 verbleiben. Ließe man eine Ausschüttung dieser Rücklagen in voller Höhe zu, so wären durch den gesamten Erwerbsvorgang insgesamt 40 (25 Kaufpreis und 15 ausgeschüttete Rücklagen) an die Gesellschafter ausgekehrt worden, also mehr als die freien Rücklagen vor dem Erwerb betrugen. 50 Die §§ 58a ff. GmbHG befassen sich wie die §§ 229 ff. AktG mit der hier nicht relevanten Kapitalherabsetzung ohne Mittelauskehrung an die Anteilseigner.

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Kapitalschutz bei Erwerb eigener Anteile nach BilMoG

zum Nettoausweis verfolgten Zielsetzung eines erhöhten Schutzes der Abschlussadressaten51 gegen eine Ausschüttungsfähigkeit des im Vergleich zur alten Rechtslage erhöhten Rücklagenbetrages. Denn der durch den Nettoausweis bezweckte Schutz der Abschlussadressaten, also auch der Gläubiger, würde wie bei der Aktiengesellschaft zunichte gemacht, wenn man nunmehr ein erhöhtes Ausschüttungsvolumen annähme und damit eine faktische Kapitalherabsetzung ohne jegliche Sicherheiten für die Gläubiger zuließe. Somit bleibt bei der GmbH, wie schon bei der AG, festzuhalten, dass die unverändert weitergeltenden Vorschriften über die Kapitalherabsetzung gegen eine Ausschüttungsfähigkeit der im bilanziellen Ausweis nunmehr erhöhten Rücklagen sprechen.

III. Erwerb eigener Anteile unter dem Nennbetrag (unter pari) 1. Problematik beim Erwerb unter pari Erwirbt die Gesellschaft eigene Aktien bzw. eigene GmbH-Anteile zu einem Preis, der unter dem Nennbetrag der Anteile liegt („unter pari“), so entsteht ein bilanztechnisch zwar konsequentes, jedoch ansonsten sehr bemerkenswertes Ergebnis: Durch die von § 272 Abs. 1a HGB vorgeschriebene Abbildung des Unterschiedsbetrages zwischen den Anschaffungskosten und dem Nennbetrag der erworbenen eigenen Anteile – nämlich zwingender Abzug von den freien Rücklagen – ist bei einem Kauf unter pari ein negativer Betrag von den freien Rücklagen abzuziehen. Durch diese „Verrechnung“ des negativen Betrages mit den freien Rücklagen erhöhen sich diese um den Unterschiedsbetrag.52 Hier führt allein der schlichte Erwerbsvorgang aufgrund der Bilanzierungsmethode zu einer Erhöhung der Rücklagen.53 2. Folgerungen für AG und GmbH Wie ist nun bei AG und GmbH mit diesen erhöhten Rücklagen umzugehen? Stehen diese für eine Gewinnausschüttung zur Verfügung? Im Gegensatz zu der Konstellation des Erwerbs über dem Nennbetrag besteht für die Konstellation des Erwerbs unter pari Einigkeit über die Beantwortung dieser Fragen: Eine Ausschüttungsfähigkeit der Rücklagen insoweit, als sie sich in Höhe des verrechneten Unterschiedsbetrages zwischen Nennbetrag und – niedrigeren – tatsächlichen Anschaffungskosten der eigenen Anteile erhöht haben, wird einhellig verneint.54 Für diejenigen, die bereits beim Rückkauf eigener Anteile über dem Nennbetrag eine Ausschüttungsfähigkeit der im Vergleich zur alten Rechtslage erhöhten Rücklagen verneinen, ergibt sich konsequenterweise, dass beim Kauf

__________ 51 52 53 54

Vgl. hierzu bereits oben II.1.b). Förschle/Hoffmann (Fn. 7), § 272 HGB Rz. 131. Hierauf weist auch Kropff, ZIP 2009, 1137, 1142 hin. Verse (Fn. 5), S. 67, 87 f.; Kropff, ZIP 2009, 1137, 1142; auch Förschle/Hoffmann (Fn. 7), § 272 HGB Rz. 135, im Beispiel.

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unter pari erst recht kein zusätzliches Ausschüttungsvolumen generiert werden kann, sondern aus denselben Erwägungen hier ebenfalls eine Ausschüttungssperre zu statuieren ist.55 Kropff56, in Bezug auf den Erwerb über pari Vertreter der Gegenposition, verneint für den Erwerb unter pari aber ebenfalls eine Ausschüttungsfähigkeit der erhöhten Rücklagen und fordert, den Betrag, um den sich die Rücklagen infolge der Verrechnung des negativen Differenzbetrages erhöht haben, in eine gebundene Rücklage einzustellen. Gegen eine Ausschüttungsfähigkeit beim Erwerb unter pari führt er an, dass der Gesetzgeber die sich hier ergebende Deckungslücke wohl nicht gesehen habe – deshalb sei auf allgemeine Grundsätze des Kapitalschutzes zurückzugreifen.57 Da der Nettoausweis im Erwerb eigener Anteile eine Kapitalrückzahlung sehe, liege ein Vergleich mit dem Kapitalschutz bei einer Kapitalherabsetzung nahe. Die hierdurch frei werdenden Mittel dürften nach § 225 AktG nur ausgeschüttet werden, wenn den Gläubigern im Gegenzug Sicherheiten angeboten würden. Bei der Einziehung eigener Aktien zu Lasten freier Mittel sei der Nennbetrag der eingezogenen Akten sogar in eine gebundene Rücklage einzustellen, der Kapitalschutz mithin noch ausgeprägter. Als Grundgedanke der gesetzlichen Regelungen sei daher der Grundsatz erkennbar, dass eine Ausschüttung der durch die Kapitalherabsetzung frei gewordenen Mittel ohne Sicherheitsleistung für die Gläubiger durch die Einstellung in eine gebundene Rücklage verhindert werde. Mit dieser Wertung des Gesetzes sei eine Ausschüttungsfähigkeit der erhöhten Rücklagen beim Erwerb unter pari unvereinbar, weshalb hier der Unterschiedsbetrag zwischen Nennbetrag und tatsächlichen Anschaffungskosten in eine gebundene Rücklage eingestellt werden müsse.58 Diese Rücklage sei, so Kropff59, fortzuschreiben: Steige der Wert der eigenen Anteile bis zum Nennbetrag oder übersteige diesen sogar, so sei die Rücklage aufzulösen. Im umgekehrten Fall, also wenn Anteile zunächst zu einem Preis über dem Nennbetrag erworben worden seien, ihr Wert in der Folgezeit jedoch unter den Nennbetrag sinke, so sei eine solche gebundene Rücklage neu zu bilden. Die Annahme einer Ausschüttungssperre für die allein durch den Erwerbsvorgang erhöhten Rücklagen ist die einzig konsequente Möglichkeit, rechtlich äußerst fragwürdige Ergebnisse zu verhindern, die auch mit einem Mindestmaß an Kapitalschutz nicht mehr zu vereinbaren wären. Man muss wirklich annehmen, dass der Gesetzgeber diese Problematik und die mit ihr verbundene Deckungslücke im Kapitalschutz schlichtweg nicht gesehen hat. Ansonsten hätte er Vorkehrungen getroffen, die diese Deckungslücke hätten schließen können. Denn ließe man eine Ausschüttung der Rücklagen auch insoweit zu, als diese sich durch den Erwerb unter pari aufgrund der Verrechnung der negativen Differenz erhöht haben, so liefe dies der bereits erwähnten Zielsetzung des Gläubigerschutzes60 zuwider. Denn hinter der Informationsverbesserung

__________ 55 56 57 58 59 60

Verse (Fn. 5), S. 67, 87 f. Kropff, ZIP 2009, 1137, 1141. Kropff, ZIP 2009, 1137, 1141. Kropff, ZIP 2009, 1137, 1141. Kropff, ZIP 2009, 1137, 1142. Vgl. oben unter II.1.b).

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für die Abschlussadressaten (also auch und vor allem für die Gläubiger) steht das allgemeine Ziel des Schutzes der Abschlussadressaten, dem auch der Kapitalschutz verpflichtet ist. Auch und insbesondere beim Erwerb unter pari entstünde durch den schlichten Erwerbsvorgang ausschüttungsfähiges Vermögen, das in keiner Weise durch werthaltige Kapitalmittel gedeckt wäre. Eine Ausschüttung dieses Vermögens widerspräche dem Schutzzweck der gesetzlichen Regelungen und kann vom Gesetzgeber daher nicht beabsichtigt gewesen sein. Insbesondere kann durch den schlichten Erwerbsvorgang eigener Anteile unter dem Nennbetrag kein ausschüttungsfähiger Gewinn entstehen. Der Gedanke, dass die Gesellschaft durch den Erwerb unter pari ein besonders günstiges Geschäft gemacht habe, da sie schließlich weniger als den Nennbetrag zahlen musste, trägt nicht. Denn den eigenen Anteilen ist in Händen der Gesellschaft kein wirtschaftlicher Wert beizumessen, insbesondere vermitteln sie keinerlei Vermögensrechte. Dies kommt gerade in der gesetzlichen Neuregelung zum Ausdruck: Die Anteile werden nicht wie erworbene Vermögensgegenstände zu ihren Anschaffungskosten aktiviert, sondern entsprechend dem wirtschaftlichen Gehalt des Erwerbs vom gezeichneten Kapital abgesetzt.61 Auch nach altem Recht zeigte sich die wirtschaftliche Wertlosigkeit der eigenen Anteile durch die Bildung einer gebundenen Rücklage in gleicher Höhe.62 Hinzu kommt beim Erwerb unter pari, dass den eigenen Anteilen kaum das – zu Zeiten der Geltung des Bruttoausweises die Aktivierung der eigenen Anteile rechtfertigende – Potential beigemessen werden kann, durch Veräußerung zu einem signifikanten Eigenkapitalzufluss zu führen; werden die Anteile unter pari gehandelt, ist mit einem solchen Zufluss nur in geringer Höhe zu rechnen.63 Anführen lässt sich nicht zuletzt die bereits erwähnte Vorschrift des § 272 Abs. 1b HGB, die ausweislich der Gesetzesbegründung64 parallel zu § 272 Abs. 1a HGB ausgestaltet ist. Dort steht ein durch die Veräußerung der eigenen Anteile erzielter Gewinn (also die Differenz zwischen Anschaffungskosten und Verkaufserlös) den Aktionären bzw. Gesellschaftern gerade nicht zur Verfügung, sondern ist in eine gebundene Rücklage einzustellen. Nimmt man einen vom Gesetzgeber beabsichtigten Gleichlauf von § 272 Abs. 1a und Abs. 1b HGB an, so kann auch ein im Rahmen des Erwerbs unter pari sich ergebendes „freies“ Eigenkapital nicht für eine Ausschüttung an die Gesellschafter zur Verfügung stehen. Sieht man mit der hier vertretenen Ansicht eine Ausschüttung der im Vergleich zur alten Rechtslage erhöhten Rücklagen schon beim Erwerb über pari als Umgehung der Vorschriften zur Kapitalherabsetzung an,65 so muss dies gleichermaßen für den Erwerb unter pari gelten. Auch dort, bzw. erst recht dort, ergäbe sich im Falle einer Ausschüttung des nach dem Wortlaut der neuen Vorschriften für eine Auskehrung an die Anteilseigner zur Verfügung stehen-

__________ 61 62 63 64 65

Begr. RegE BilMoG, BT-Drucks. 16/10067, S. 65 f. Vgl. hierzu Verse (Fn. 5), S. 67, 83, der von einer „wertlose[n] Rechtshülse“ spricht. Siehe das Beispiel bei Förschle/Hoffmann (Fn. 7), § 272 HGB Rz. 144. Begr. RegE BilMoG, BT-Drucks. 16/10067, S. 66. S. oben II.1.b) und II.2.c).

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den Eigenkapitals ein Ausschüttungsvolumen, das die Summe der vor dem Erwerbsvorgang existierenden Rücklagen übersteigt. 3. Umfang des Kapitalschutzes Demnach lässt sich zweierlei festhalten: Es besteht Einigkeit, dass zumindest im Falle des Erwerbs eigener Anteile unter pari dem Kapitalschutz der Vorrang gebührt. Und diesem Vorrang soll durch eine transparente Darstellung im Jahresabschluss Rechnung zu tragen sein.66 Bei der Frage, in welcher Höhe der Kapitalschutz greift, stehen sich jedoch wieder zwei Auffassungen gegenüber. Denn abweichend von Kropff, der lediglich den Unterschiedsbetrag zwischen Nennbetrag und Anschaffungskosten in eine gebundene Rücklage einstellen will, sprechen sich Verse und auch Förschle/Hoffmann generell – d. h. auch für den Fall des Erwerbs der Anteile unter pari – für einen Kapitalschutz in Höhe des Nennbetrags der rückerworbenen eigenen Anteile aus.67 Die zu sperrenden Mittel werden dabei aus bestehenden freien Rücklagen und der sich aus dem Unterschiedsbetrag zwischen Nennbetrag und Anschaffungskosten ergebenden erhöhten Gewinnrücklage „finanziert“.68 Nach dieser Auffassung sind demnach zusätzlich Mittel in Höhe der tatsächlichen Anschaffungskosten der unter pari erworbenen eigenen Anteile in der Gesellschaft zu binden. Für die letztgenannte Sichtweise sprechen die oben dargelegten Überlegungen zum Kapitalschutz. Im Falle einer Kapitalherabsetzung können die sich aus der Herabsetzung des Nennbetrags ergebenden Mittel nur unter strengen Voraussetzungen, die dem Schutz der Gläubiger der Gesellschaft dienen, an die Anteilseigner ausgekehrt werden. Geschützt ist hierbei der gesamte Nennbetrag des herabgesetzten Kapitals. Spricht man sich – wie oben geschehen – für den Beibehalt des Kapitalschutzes in einem Umfange aus, der zu Zeiten des Bruttoausweises bestand, bedarf es auch im Falle des Erwerbs der eigenen Anteile unter pari eines Kapitalschutzes in Höhe des Nennbetrages der rückerworbenen Anteile. Die von Kropff69 vorgeschlagene Fortschreibung des Werts der eigenen Anteile mit korrespondierender Anpassung der gebundenen Rücklage erscheint demgegenüber – unabhängig von der Frage der Praktikabilität einer solchen Lösung – unzureichend. Wenn auch unter dem früheren Bruttoausweis eine Anpassung der Rücklage für eigene Anteile notwendig war, spiegelte diese lediglich eine Wertminderung der aktivierten eigenen Anteile wider; der bereits mit Erwerb der eigenen Anteile eingreifende umfängliche Kapitalschutz durch zwingende Bildung einer Rücklage für eigene Anteile in Höhe der aktivierten Beträge wurde hierdurch jedoch nicht berührt.

__________ 66 Zur Frage, wie den Belangen des Kapitalschutzes im Jahresabschluss Rechnung zu tragen ist, sogleich, unter IV.2. 67 Verse (Fn. 5), S. 67, 87 f.; Förschle/Hoffmann (Fn. 7), § 272 HGB Rz. 135, im Beispiel. 68 Vgl. Verse (Fn. 5), S. 67, 87 f.; Förschle/Hoffmann (Fn. 7), § 272 HGB Rz. 135, im Beispiel. 69 Kropff, ZIP 2009, 1137, 1142.

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Kapitalschutz bei Erwerb eigener Anteile nach BilMoG

IV. Wichtige Erkenntnisse für die Praxis 1. Ausschüttungssperre in Höhe des Nennbetrages der erworbenen eigenen Anteile Für die Praxis lässt sich zunächst festhalten, dass nach der hier – und auch von dem wohl überwiegenden Teil der Literatur – vertretenen Ansicht die nach dem Erwerb eigener Anteile ausgewiesenen Gewinnrücklagen in Höhe des Nennbetrages dieser Anteile gegen eine Ausschüttung gesperrt sein müssen. Dies gilt sowohl für den Erwerb über bzw. zum Nennbetrag als auch für den Erwerb unter pari, bei der AG wie bei der GmbH. 2. Gebundene Rücklage oder Ausweis im Bilanzanhang? Spricht man sich für das Eingreifen von Regelungen zum Kapitalschutz aus, erscheint es geboten, zugleich eine hinreichende Information der Abschlussadressaten zu verlangen. Wie sind aber nun die aufgrund des Erwerbs eigener Anteile gegen Ausschüttungen gesperrten Beträge im Jahresabschluss abzubilden? Grundsätzlich bestehen hierfür zwei Möglichkeiten: Entweder kann der ausschüttungsgesperrte Teil der Gewinnrücklage in eine gebundene Rücklage eingestellt werden.70 Oder in den Anhang zum Jahresabschluss wird – vergleichbar der Regelung des §§ 285 Nr. 28, 268 Abs. 8 HGB – eine Darstellung aufgenommen, die klarstellt, dass die fraglichen Eigenkapitalanteile gegen Ausschüttungen an die Anteilseigner gesperrt sind.71 Im Hinblick auf die Transparenz und Übersichtlichkeit bietet die Einstellung in eine gebundene Rücklage sicherlich Vorteile: So ist aus der Bilanz sofort ersichtlich, wie hoch die tatsächlich ausschüttungsfähigen Rücklagen sind; der Leser des Jahresabschlusses kann sich darauf verlassen, dass das in der Bilanz ausgewiesene Ausschüttungspotential auch tatsächlich in voller Höhe mobilisiert werden kann, während er gleichzeitig einen Überblick darüber erhält, welche Beträge gegen eine Ausschüttung gesperrt sind. Andererseits verbleibt bei dieser Methode – zumindest bei der AG72 – das Risiko der Nichtigkeit des Jahresabschlusses gemäß § 256 Abs. 1 Nr. 4 AktG: Nach dieser Vorschrift ist ein festgestellter Jahresabschluss nichtig, wenn bei seiner Feststellung die Bestimmungen des Gesetzes oder der Satzung über die Einstellung von Beträgen in Kapital- oder Gewinnrücklagen oder über die Entnahme von Beträgen aus

__________ 70 So bspw. Förschle/Hoffmann (Fn. 7), § 272 HGB Rz. 134; Hueck/Fastrich (Fn. 7), § 33 GmbHG Rz. 10; Bezzenberger in K. Schmidt/Lutter, 2. Aufl. 2010, § 71 AktG Rz. 60; ähnlich Oechsler, AG 2010, 105, 109 f.; tendenziell auch Hüttemann (Fn. 7), S. 601 f.; zum Gesetzentwurf bereits Arbeitskreis Bilanzrecht der Hochschullehrer Rechtswissenschaft, BB 2008, 209, 215; für den Erwerb unter pari auch Kropff, ZIP 2009, 1137, 1141, 1144. 71 Dies schlägt u. a. Verse (Fn. 5), S. 67, 86 vor; s. auch Hoffmann/Weyer (Fn. 7), § 272 HGB Rz. 29. 72 Die h. M. wendet die Vorschrift jedoch auf die GmbH entsprechend an: vgl. nur WPHandbuch 2006 (Fn. 3), U Rz. 172; Haas in Baumbach/Hueck, 19. Aufl. 2010, § 42a GmbHG Rz. 24, 28.

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Kapital- oder Gewinnrücklagen verletzt worden sind. Ob diese Vorschrift vorliegend einschlägig wäre, erscheint zweifelhaft. Denn unter die Nichtigkeitsvorschrift fallen nur Verstöße gegen Vorschriften, die eine Einstellung in oder eine Entnahme aus Rücklagen materiell regeln; nicht erfasst sind hingegen Verstöße gegen Normen, die nur den formalen Ausweis in der Bilanz erfassen.73 § 272 Abs. 1a HGB, so könnte man argumentieren, befasst sich aber nur mit dem bilanziellen Ausweis. U. E. griffe dies jedoch zu kurz, da es letztlich um die Beachtung bzw. Nichtbeachtung einer § 237 Abs. 5 AktG vergleichbaren Regelung geht.74 Vorgebracht wird ferner, dass auch ansonsten keine Nichtigkeit gemäß § 256 Abs. 1 Nr. 4 AktG drohen könne, da die Bildung der Rücklage ja gerade dem Schutze der Gläubiger diene.75 Diese Argumentation mit dem Zweck des § 256 Abs. 1 Nr. 4 AktG vermag eher zu überzeugen. Dennoch ist diese Frage nicht abschließend geklärt, sodass ein gewisses Risiko bleibt. Aufgrund des Fehlens einer ausdrücklichen Regelung zur Bildung einer gebundenen Rücklage risikoärmer erscheint die Abbildung der Ausschüttungssperre im Anhang zum Jahresabschluss. Zwar kann auch eine unvollständige oder fehlerhafte Darstellung im Anhang eine Nichtigkeit des Jahresabschlusses (nach § 256 Abs. 1 Nr. 1 AktG) begründen; jedoch gilt dies nur für Verstöße, welche die Darstellung der Vermögens- oder Ertragslage wesentlich beeinträchtigen.76 Auch gilt es zu berücksichtigen, dass der Gesetzgeber des BilMoG für den Gläubigerschutz verstärkt auf das Instrument der außerbilanziellen Ausschüttungssperre setzt.77 Der neue § 268 Abs. 8 HGB verdeutlicht dies. Einerseits soll die Informationskraft des Jahresabschlusses durch eine Angleichung der Darstellung erworbener eigener Anteile an die international übliche Form verbessert werden, gleichzeitig aber der bislang erreichte Gläubigerschutz erhalten bleiben.78 U. E. erscheint es daher empfehlenswert, den über den Wortlaut des § 272 Abs. 1a HGB hinaus weiterhin gegen Ausschüttung gesperrten Nennbetrag der rückerworbenen eigenen Anteile in den Anhang des Jahresabschlusses aufzunehmen, um wenigstens das Mindestmaß der gebotenen und erforderlichen Transparenz herzustellen.79 Diese Methode dürfte der sicherste und praktikabelste Weg für die Praxis sein, die oben geschilderten Grundsätze des Kapitalschutzes umzusetzen und im Jahresabschluss darzustellen.

__________ 73 Hüffer in MünchKomm. AktG, 3. Aufl. 2011, § 256 AktG Rz. 32; WP-Handbuch 2006 (Fn. 3), U Rz. 201. 74 Zu dieser als für § 256 Abs. 1 Nr. 1 AktG relevanten Vorschrift: Hüffer (Fn. 2), § 256 AktG Rz. 33; WP-Handbuch 2006 (Fn. 3), U Rz. 199. 75 Kropff, ZIP 2009, 1137, 1142. 76 Vgl. Hüffer (Fn. 2), § 256 AktG Rz. 8, 16 f.; WP-Handbuch 2006 (Fn. 3), U Rz. 185. 77 Hennrichs, NZG 2009, 921, 923. 78 Vgl. Hennrichs, NZG 2009, 921, 923. 79 So auch Verse (Fn. 5), S. 67, 86.

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Kapitalschutz bei Erwerb eigener Anteile nach BilMoG

V. Fazit Festzuhalten bleibt, dass der Gesetzgeber mit den Neuerungen des BilMoG in Bezug auf den Erwerb eigener Anteile ersichtlich keine Absenkung des Kapitalschutzniveaus beabsichtigt hatte. Hierfür spricht vor allem die Gesetzesbegründung. Aber auch der Blick auf die Vorschriften zur Kapitalherabsetzung in den §§ 222 ff. AktG bzw. §§ 58 ff. GmbHG verdeutlicht, dass die im Vergleich zur alten Rechtslage um den Nennbetrag der erworbenen eigenen Anteile erhöhten Gewinnrücklagen in eben dieser Höhe gegen Ausschüttungen geschützt werden müssen. Für den Fall des Erwerbs unter pari muss dies erst recht gelten, anderenfalls würde die Bilanzierung nach dem Nettoausweis, verbunden mit der Verrechnung der Differenz zwischen Anschaffungskosten und Nennbetrag, zu völlig unverständlichen Ergebnissen führen. Durch den schlichten Erwerbsvorgang eigener Anteile würde ansonsten ein ausschüttungsfähiger Gewinn generiert. Festzuhalten bleibt auch, dass es sich für die Praxis empfiehlt, die Ausschüttungssperre im Anhang zum Jahresabschluss darzustellen. Die Bildung einer gebundenen Rücklage in Höhe der ausschüttungsgesperrten Beträge erscheint möglich, jedoch mit dem Risiko der Nichtigkeit des Jahresabschlusses gemäß § 256 Abs. 1 Nr. 4 AktG behaftet. Das Weglassen jeglichen Hinweises auf eine Ausschüttungssperre ist vor dem Hintergrund der Gewährleistung eines Mindestmaßes an Transparenz im Jahresabschluss nicht zu empfehlen. Festzuhalten bleibt zudem, dass der Gesetzgeber mit dem BilMoG in Bezug auf den Erwerb eigener Anteile sein ursprünglich verfolgtes Ziel, die Informationsfunktion der Bilanz für die Abschlussadressaten zu erhöhen,80 nur zum Teil erreicht hat. In Bezug auf das „ausgegebene Kapital“ ist durch die vorgeschriebene Absetzung des Nennbetrages der erworbenen eigenen Anteile vom gezeichneten Kapital tatsächlich eine verbesserte Information der Abschlussadressaten über das tatsächlich ausgegebene Kapital erreicht worden. Kehrseite dessen ist jedoch, dass sich das rechtlich weiterhin maßgebliche „gezeichnete Kapital“ bzw. „Stammkapital“ nun nicht mehr aus der Bilanz selbst ergibt. Transparenz und Information können dementsprechend in Bezug auf die Ausschüttungsfähigkeit der Gewinnrücklagen nicht erreicht werden, im Gegenteil: Die Grundsätze des Kapitalschutzes erfordern eine teilweise Sperre der Rücklagen gegen eine Ausschüttung, ohne dass diese Sperre aus der Bilanz ersichtlich wird. Nur eine gebundene Rücklage (mit dem beschriebenen Risiko) könnte hier Abhilfe durch wirkliche Transparenz schaffen. Insofern wäre wünschenswert, dass der Gesetzgeber die Regelung nachbessert und die Bildung einer gebundenen Rücklage vorschreibt. Bis dahin bleibt zu empfehlen, wenigstens im Bilanzanhang über die Ausschüttungssperre zu informieren.

__________ 80 Begr. RegE BilMoG, BT-Drucks. 16/10067, S. 66.

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Paul Kirchhof

Zeitgerechtes und rechtzeitiges Bilanzieren Ein Plädoyer für die gegenläufige Gesamtbilanz

Inhaltsübersicht I. Vorsichtsprinzip und Sachinformation II. Aufgabe einer Bilanz 1. Darstellung der wirtschaftlichen Lage eines Unternehmens 2. Adressat einer Bilanz 3. Die gegenläufige, deshalb objektivere Gesamtbilanz III. Ersichtlichkeit am Markt oder Erwartung in der Prognose 1. Realisation, Ersichtlichkeit, fair view

2. Gegenläufigkeit drängt zur Sachlichkeit IV. Tatsachenbilanz zur Zukunftseinschätzung 1. Sachlichkeit durch Interessentenwissen 2. Erklärung nach bestem Wissen und Gewissen V. Zeitgerechter und rechtzeitiger Tatsachenbefund

I. Vorsichtsprinzip und Sachinformation Als das europäische Bilanzrecht im Aufbruch zu einer grundlegende Reform war, entwickelte Peter Hommelhoff in der Ernst-Rabel-Vorlesung 19771 Grundlinien eines neuen Bilanzrechts, das die Bilanz als verlässliche Informationsquelle über die wirtschaftliche Lage eines Unternehmens oder Konzerns erneuern, als Maßstab für die Gewinnermittlung durch Zusatzregeln (Ausschüttungssperre) tauglich machen soll. Das deutsche Bilanzrecht sei vor allem aus internationaler Sicht mangelhaft und wenig vertrauenserweckend.2 Die beiden Hauptwurzeln für dieses rechtliche Defizit seien das ungeordnete Nebeneinander von Informations- und Ausschüttungsbemessungsfunktion der Rechnungslegung, insbesondere der Widerstreit zwischen dem Postulat nach getreulichem Einblick in die Unternehmenslage und dem Vorsichtsprinzip; zum anderen die zahlreichen Unternehmenswahlrechte, die es den Geschäftsleitungen „in weitem Umfang ermöglichen, das Jahresergebnis so weitgehend zu gestalten, dass die Grenzen hinüber zur Manipulation verschwimmen“.3 Die deshalb von der EU-Kommission entwickelte neue Strategie, beim International Accounting Standards Committee (IASC) mitzuwirken und auf der Grundlage des dort selbstgeschaffenen Rechts der internationalen Wirtschaft

__________ 1 Hommelhoff, Europäisches Bilanzrecht im Aufbruch, RabelsZ 62 (1998), 381 f. 2 Hommelhoff, RabelsZ 62 (1998), 381, 382 f.; ders., Modernisiertes HGB – Bilanzrecht im Wettbewerb der Regelungssysteme, ZGR 2008, 250, 252. 3 Hommelhoff, ZGR 2008, 250, 253.

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neue Rechnungslegungsmaßstäbe zu entwickeln,4 stelle insbesondere das Vorsichtsprinzip in Frage. Seine Anwendung führe dazu, dass die bilanzierenden Kaufleute und Unternehmen sich tendenziell ärmer rechnen müssten, als sie in Wirklichkeit seien – ohne dass der Adressat der Rechnungslegung sicher sein könne, dass das auch tatsächlich so sei. Das Vorsichtsprinzip und seine Unterprinzipien seien darauf angelegt, keinen Ertrag oder sonstigen Wertzuwachs in der Bilanz auszuweisen oder dies zumindest nicht zu früh zu tun.5 Über das Vorsichtsprinzip würden stille Reserven gelegt und Erträge und Ertragschancen davor bewahrt, zu früh zur Disposition und Ausschüttung an die Gesellschafter bereitgestellt zu werden. Diese stillen Reserven sollten die Gläubiger schützen: Was im Jahresabschluss nicht oder noch nicht als Ertrag ausgewiesen werde, bleibe im Unternehmen gebunden, könne nicht an die Gesellschafter als Dividende ausgekehrt werden und stehe den Gläubigern als Haftungsmasse zur Verfügung. Aus internationaler Sicht eröffne das deutsche Bilanzrecht wesentliche Möglichkeiten „zu mehr oder minder stark versteckbaren Ertragsmanipulationen in den Jahresabschlüssen“. Allerdings könne sich dieses Vorsichtsprinzip auch so auswirken, dass die Lage der Gesellschaft verzerrt im Jahresabschluss wiedergegeben, diese „vorsichtsprinzipiellen Vorinformationen im Zahlenwerk“ durch ergänzende und erläuternde Angaben im Anhang wieder korrigiert und geradegerückt würden. Zudem ließen sich stille Reserven ebenso still wie gebildet auch wieder auflösen.6 Im internationalen Bilanzrecht treffen zwei gegenläufige Bilanzierungskonzepte aufeinander. Das in Deutschland geläufige Vorsichtsprinzip, das die Unternehmensgläubiger und den Kapitalbestand des Unternehmens schützen soll, und das britisch-amerikanische Bilanzierungskonzept der Vermögens- und Ertragswahrheit (true and fair view), das den Kapitalanlegern und Investoren einen realitätsgerechten Jahresertrag sichern will.7 Doch diese Entgegensetzung von Investor und Gläubiger überzeugt im Tatbestand des Gläubigers schon nicht mehr, wenn im Steuerrecht der Staat nicht als Geldgeber, sondern als Geldnehmer auftritt. Die Besteuerung des Einkommens soll den Staat an dem tatsächlich erzielten Jahresgewinn des Unternehmens teilhaben lassen. Dient ein auf stille Reserven angelegtes Bilanzrecht dieser Besteuerung als Bemessungsgrundlage, so leidet es an einem Wirklichkeitsverlust. Wenn ein Grundstück oder die Beteiligung an einem anderen Unternehmen in der Bilanz mit den Kosten der Anschaffung und nicht mit dem erheblich höheren Gegenwartswert ausgewiesen wird, ein im Betrieb produziertes Wirtschaftsgut in seinem Gegenwartswert die Herstellungskosten deutlich übersteigt, ein geringwertiges Wirtschaftsgut sofort voll abgeschrieben werden darf, bestimmte Wirtschaftsgüter – Sozialwohnungen, Häuser in Sanierungsgebieten, Krankenhäuser oder

__________ 4 Hommelhoff, RabelsZ 62 (1998), 381, 384, 391; ebenso ders., Deutscher Konzernabschluss: International Accounting Standards und das Grundgesetz, in FS Odersky, 1996, S. 779, 780. 5 Hommelhoff, RabelsZ 62 (1998), 381, 386 f. 6 Hommelhoff, RabelsZ 62 (1998), 381, 386 f., 389, 399, 404. 7 Hommelhoff, RabelsZ 62 (1998), 381, 388; ders. ZGR 2008, 250, 252 f.

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Zeitgerechtes und rechtzeitiges Bilanzieren

Handelsschiffe – aufgrund einer Subventionsgesetzgebung mit einem irreal niedrigen Wert erfasst werden dürfen, so tritt an die Stelle dieser realen Güter ein Buchwert, der deutlich geringer ist als der tatsächliche, im Marktverkehr erzielbare Wert. Der Steuerpflichtige hält mit diesen Reserven still, vermeidet, sie wirklichkeitsgerecht zu erfassen und zu bewerten, um Steuern zu sparen. Er versteht die stillen Reserven als Teil einer „Steueroptimierungsstrategie“. Der Staat erfährt sie im Ertragsausfall als Malus. Die stillen Reserven gefährden die Gleichheit des Steuerpflichtigen vor dem Steuergesetzgeber.8 Die Freiheit von Unternehmer und Unternehmen9 ist berührt, wenn der Unternehmer die in einem Wirtschaftsgut steckenden stillen Reserven bei dessen Veräußerung auf ein neues Grundstück übertragen, beim Untergang eines Gutes die stillen Reserven für das Ersatzwirtschaftsgut bewahren, bei der späteren Ersatzbeschaffung eine steuerfreie Rücklage bilden will. Ähnliche Fragen stellen sich, wenn der Betriebsinhaber seinen Betrieb ganz oder teilweise veräußert, einen Betrieb oder einen Mitunternehmeranteil in einen anderen Betrieb einbringt, er ein Wirtschaftsgut in ein anderes Land bringt und damit dem Einflussbereich des deutschen Fiskus entzieht. Hier drohen die stillen Reserven und deren steuerliche Sondertatbestände zu einem Hemmnis für unternehmerische Freiheit zu werden. Das Steuerrecht behindert den Unternehmer bei der Erneuerung und Fortführung seines Betriebes. Erfasst die Steuer den Gewinn nicht im Zeitpunkt des tatsächlich entstandenen Vermögensgewinns, so wirkt die latente Steuer wie ein Schatten des zukünftigen Steuerzugriffs auf spätere unternehmerische Disposition. Das Steuerrecht sucht dem mit einer Fülle von Sonder- und Ausnahmeregelungen entgegenzuwirken, verliert dadurch aber die klare Linie eines einsichtigen, plan- und erklärbaren Belastungsgrundes, verheddert sich in einer Fülle von Details. Dieses aber ist nicht Sache des Gesetzgebers. Peter Hommelhoff10 beobachtet im handelsrechtlichen Abschnitt über die Sondervorschriften für die Kredit- und Versicherungsunternehmen (§§ 340 f. HGB) Auswüchse, die ausgeräumt werden müssen. „Mit solchen Detailfragen darf ein vielfältig beschäftigter Gesetzgeber nicht belastet, ja: nicht belästigt werden.“ Diese Mahnung bereitet nicht den Weg, um das Recht der Konzernrechnungslegung an das IASC oder anderer Organe internationaler Wirtschaftsselbstgesetzgebung auszuliefern,11 sondern fordert eine Gesetzgebung, die das Wesentliche regelt

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8 Zur Gleichheit im Steuerrecht vgl. BVerfGE 93, 121, 136 f. – Vermögensteuer; BVerfGE 93, 165, 173 f. – Erbschaftsteuer; BVerfGE 105, 73, 125 f. – Rentenbesteuerung; BVerfGE 107, 27, 46 ff. – Doppelte Haushaltsführung; BVerfGE 112, 268, 280 – Kinderbetreuungskosten; BVerfGE 117, 1, 30 f. – Erbschaftsteuer II. 9 BVerfGE 50, 290, 363 – Mitbestimmung; BVerfGE 53, 96, 97 f. – Apothekenwerbung; BVerfGE 59, 302, 314 f. – Buchführungsprivileg; BVerfGE 60, 215, 229 f. – Sozietätsverbot; BVerfGE 76, 196, 205 f. – Anwaltliches Werbeverbot; BVerfGE 111, 366, 378 f. – Steuerberaterwerbung; Breuer, Freiheit des Berufs, in HStR, Bd. VIII, 3. Aufl. 2010, § 170 Rz. 87 f. 10 Hommelhoff, RabelsZ 62 (1998), 381, 384. 11 Hommelhoff, RabelsZ 62 (1998), 381, 384; und insbesondere ders. in FS Odersky (Fn. 4), S. 778, 791 f.: Verfassungswidrigkeit normkonkretisierend-dynamischer Verweisungen.

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und damit die Struktur der Rechnungslegung demokratisch und rechtsstaatlich verbindlich vorzeichnet.12 In diesem Anspruch und auf der Grundlage der kritischen Analyse Peter Hommelhoffs sei die nachfolgende Vergewisserung im Elementaren diesem kundigen Kritiker des Bilanzrechts gewidmet.

II. Aufgabe einer Bilanz 1. Darstellung der wirtschaftlichen Lage eines Unternehmens Aufgabe einer Bilanz ist es, die wirtschaftliche Lage eines Unternehmens korrekt und für alle Publizitätsadressaten brauchbar wiederzugeben.13 Eine vollständige Bilanz bietet zunächst eine Übersicht über das Vermögen eines Betriebes, über sämtliche Vermögensgegenstände, Schulden und Rechnungsabgrenzungsposten, benennt damit die jährliche Veränderung des Betriebsvermögens in Gewinn und Verlust, enthält daneben eine Gegenüberstellung der Erträge und Aufwendungen (Gewinn- und Verlustrechnung), spiegelt auch Organisation, Rechtsstruktur und Personal des Unternehmens, seine besonderen Risiken und Chancen, seine ideellen Werte und seine Erneuerungskraft. Dabei ist stets bewusst, dass die Bilanz als Zahlenwerk insbesondere bei der Bewertung an ihre Grenzen stößt, deshalb zunehmend durch eine Unternehmensanalyse in sprachlicher Form ergänzt, das Unternehmen in der Rationalität und Vermittelbarkeit von Begriffen begriffen werden muss. Der Betriebsvermögensvergleich zielt auf das Jahresergebnis eines Unternehmens, die Bilanz als unternehmensbegleitendes Informationssystem aber ebenso auf die nachhaltige Unternehmensentwicklung: Die Bilanz benennt die Entscheidungsgrundlagen, aufgrund derer ein Entscheider heute ihre Auswirkungen auf die zukünftige Entwicklung des Unternehmens einschätzen kann. Idealtypisch sichert die Bilanz, dass ein Unternehmen nachhaltig geführt wird. Der aus der Forstwirtschaft stammende Begriff der „Nachhaltigkeit“ orientiert sich an dem Großvater, der in jungen Jahren einen Baum pflanzt, damit ihn der Enkel ernten kann.14 Die Bilanz vermittelt einen Gesamteindruck von dem Unternehmen als Erwerbsgrundlage, seinen Entwicklungschancen und seinen Risiken, seinem Gegenwartserfolg, seinem vermuteten Zukunftsbestand und seinen langfristigen Erträgen. 2. Adressat einer Bilanz Die Bilanz dient zunächst dem Unternehmer, um sich über seine Vermögenslage, das Jahresergebnis und die Entwicklung seines Unternehmens zu unterrichten. Die Bilanz wird von vielen Personen erstellt, in der Regel von unabhängigen Prüfern geprüft und bestätigt, wird mit Haftungsverantwortlichkeit

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12 Hommelhoff in FS Odersky (Fn. 4), S. 779, 795 f. 13 Hommelhoff, RabelsZ 62 (1998), 381, 382. 14 Zur beginnenden Ausrichtung der Unternehmen auf das Prinzip der Nachhaltigkeit, dort insbesondere zur Ausrichtung der Vorstandsvergütungen Marsch-Barner, Zum Mittel der Nachhaltigkeit in § 87 Abs. 1 AktG, ZHR 175 (2011), 737.

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zur verlässlichen Information vieler Unternehmenspartner und Unternehmensbetroffenen formuliert. Die Bilanz bietet so die Grundlage unternehmerischer Selbstvergewisserung. Daneben dient die Bilanz der Information der Anleger und Investoren, die sich über das tatsächliche Vermögen der Gesellschaft und ihren tatsächlichen Ertrag informieren wollen, der möglichst vollständig und gegenwartsnah zur Ausschüttung bereitgestellt werden kann. Unternehmenskäufer und Unternehmensverkäufer erwarten von der Bilanz Aufschluss über den tatsächlichen, gegenwärtigen Tauschwert des Unternehmens. Nach diesem anlegerbezogenen Bilanzkonzept muss die wirtschaftliche Lage des Unternehmens „realitätsgerecht“ abgebildet werden.15 Wenn die Bilanz vordringlich zur Sicherung der Gläubigeransprüche gegen das Unternehmen dient, sucht das Vorsichtsprinzip möglichst weitgehend Risiken beim Bilanzansatz und bei den Wertbemessungen zu vermeiden. Das Vorsichtsprinzip verwirklicht sich insbesondere im Realisationsprinzip, im Imparitätsprinzip und im Niederstwertprinzip.16 Die wirtschaftliche Lage wird nicht realitätsgerecht ermittelt, sondern vorsichtig eingeschätzt. Die verschiedenen Ermittlungs- und Bewertungsfaktoren werden so gewichtet, dass sie geeignet sind, den Wertansatz von Aktiva zu ermäßigen und von Schuldposten zu erhöhen.17 So wird eine Ausschüttung vermindert, das zur Befriedigung der Gläubigeransprüche verfügbare Betriebsvermögen vermehrt. Eine Gesamtbilanz kann auch ein Informationsbedürfnis der Lieferanten, Arbeitnehmer und Kunden befriedigen, die sich über die Sicherheit ihrer Forderungen, ihres Arbeitsplatzes, ihrer Leistungsansprüche vergewissern wollen. Der Lieferant blickt dabei auf das Unternehmen eher wie ein Gläubiger, der Arbeitnehmer fragt als Unternehmensbeteiligter nach der Nachhaltigkeit des Unternehmensbestandes, seiner Entwicklung und seiner Angewiesenheit auf Arbeitskräfte, der Kunde prüft vor allem bei langfristigen Geschäftsbeziehungen die Lieferungs- und Leistungsverlässlichkeit, die technische Erneuerungsfähigkeit und die langfristige Garantie von Betreuungs-, Reparatur- und Ersatzleistungen. Dieses berechtigte Informationsbedürfnis wird gegenwärtig von der Bilanz nicht vollständig erfüllt. Der Steuerstaat stützt sich bei der Einkommenbesteuerung auf die Bilanz und den dort ausgewiesenen Gewinn als Bemessungsgrundlage für die Einkommenund Körperschaftsteuer (§§ 4 Abs. 1, 5 Abs. 1 EStG; §§ 7, 8 KStG). Diese steuerliche Bemessungsgrundlage muss den Gewinn realitätsgerecht ausweisen.18 Ein Vorsichtsprinzip wird hier den Gläubiger nicht stärken, sondern schwächen. Das Existenzminimum ist entsprechend den tatsächlichen Bedürfnissen

__________ 15 So der Maßstab des BVerfG für die steuerliche Bemessungsgrundlage, BVerfGE 93, 121, 136 – Vermögensteuer; BVerfGE 99, 280, 290 – Zulage Ost; BVerfGE 105, 73, 126 – Rentenbesteuerung; BVerfGE 105, 17, 46 – Sozialpfandbriefe. 16 Crezelius in Kirchhof, 11. Aufl. 2012, § 5 EStG Rz. 44; Fischer in Kirchhof, § 6 EStG Rz. 13. 17 Crezelius (Fn. 16), § 5 EStG Rz. 44. 18 Vgl. soeben Fn. 15.

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zu bemessen,19 die Wirtschaftsgüter sind nach den tatsächlichen Vermögenswerten zu bewerten.20 Die Steuer ist in einer der Wirklichkeit gerecht werdenden Art, insbesondere durch Quellensteuer und Kontrollmitteilungen, zu erheben.21 Hat sich die Wirklichkeit nach Erlass des Steuergesetzes verändert, hat der Gesetzgeber diese Entwicklung aufzunehmen und seine Regelungen den tatsächlichen Verhältnissen anzupassen.22 Der Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) wäre verletzt, würde der Steuerzugriff nicht auf die Wirklichkeit ausgerichtet, das Steuergesetz vielmehr vom Kaufmann verlangen, dass er „sich im Zweifelsfall ärmer macht, als er tatsächlich ist“.23 Staat, Bund, Länder und Gemeinden brauchen bei ihrer Aufsicht, ihren Gewährleistungsfunktionen, ihren Planungen, auch bei ihren Förder- und Subventionsentscheidungen die Bilanz als hilfreiche Informationsquelle. Gesetzgeber und Regierung wollen wissen, ob das Unternehmen seine Tätigkeit nach Gesetz und Recht ausübt, den allgemeinen Wohlstand mehrt, die vorhandene und geplante Infrastruktur stärkt, Umweltressourcen wirksam und schonend nutzt, seine unternehmerischen Planungen verantwortlich und gediegen auf den Standort ausrichtet. Insbesondere Leistungsgesetze knüpfen an die Grundtatbestände des Einkommensteuergesetzes an, bedürfen dort allerdings einer ausdrücklichen Korrektur (§ 2 Abs. 5a, 5b EStG),24 weil das EStG gegenwärtig wegen seiner Lenkungs-, Förderungs- und Ausnahmetatbestände keine geeignete Bemessungsgrundlage für Förderungswürdigkeit und Förderungsbedarf bietet. Schließlich nutzen die Öffentlichkeit und die Medien die Bilanz als Grundlage ihres Wissens, sind dabei aber vielfach auf die Information in Sprache, die begriffliche Analyse des Bestandes des Unternehmens und seiner Entwicklung angewiesen.25 Doch oft werden die Publizitätspflichten gegenwärtig so erfüllt, dass auch veröffentlichte Daten ein Mediengeheimnis bleiben. 3. Die gegenläufige, deshalb objektivere Gesamtbilanz Eine Gesamtbilanz gibt einheitlich Auskunft über die wirtschaftliche Lage des Unternehmens, dient mit ihren realitätsgerechten und zeitnahen Feststellungen gegenläufigen Zwecken, die in ihrer Gegenläufigkeit auf Sachlichkeit drängen. Die Unternehmerbilanz unterrichtet den Unternehmensführer über den Bestand und die Entwicklung seines Unternehmens, über Erfolg und Miss-

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19 BVerfGE 87, 153, 172 – Grundfreibetrag; BVerfGE 99, 216, 293 – Kinderbetreuungskosten. 20 BVerfGE 93, 121, 172 f. – Vermögensteuer; BVerfGE 93, 165, 173 – Erbschaftsteuer; BVerfGE 117, 1 – Erbschaftsteuer II. 21 BVerfGE 84, 239, 281 f. – Zinsbesteuerung. 22 BVerfGE 93, 121, 136, 142 f. – Vermögensteuer; BVerfGE 93, 165, 173, 176 – Erbschaftsteuer. 23 So BFH, BStBl. II 1993, 437. 24 Kirchhof in Kirchhof, 10. Aufl. 2011, § 2 EStG Rz. 105 f. 25 Zu Publizität, Geheimnisschutz und Wettbewerb vgl. Ebke, Publizität – (K)ein Thema?, in Ebke/Möhlenkamp (Hrsg.), Rechnungslegung, Publizität und Wettbewerb, 2010, S. 29 f., 33 f.; zum Wirken einer Gesellschaft im sozialen Gesamtleben BVerfGE 50, 290, 359 – Mitbestimmung.

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erfolg seines Handelns, bietet die Grundlage seiner Planungen. Als Gläubigerbilanz gibt dieselbe Bilanz den Forderungen gegen das Unternehmen Sicherheit. Als Übertragungsbilanz drückt sie den Veräußerungswert eines Unternehmens in Zahlen, damit letztlich im Kaufpreis aus. Sie taugt als Anlegerbilanz, um die ausschüttungsfähigen Gewinne zu benennen. Sie dient als Steuerbilanz, um die Bemessungsgrundlage des tatsächlich erzielten Gewinns zu ermitteln, auch für andere Steuern – insbesondere die Erbschaftsteuer – Ausgangswerte zur Ermittlung des Verkehrswertes zu entwickeln. Sie soll als Sozialbilanz die Bedeutung des Unternehmens für die Arbeitnehmer, seine Aufgabe in Umwelt und Infrastruktur, seine Versorgungsfunktion darstellen. Sie ist Öffentlichkeitsbilanz, die über den Beitrag des Unternehmens zur Wirtschaftsentwicklung, seine Entwicklung in Standort und Infrastruktur, seine Verantwortlichkeit für Produkte, Produktentwicklungen, Leistungsstrukturen, Arbeitsplätze, Umwelt und Wirtschaftsvertrauen bewusst macht. Diese jährliche, bilanzielle Vergewisserung über ein Unternehmen gibt zu einem Stichtag ein zutreffendes und nachvollziehbares Bild des Unternehmens. Die Prinzipien der Bilanzwahrheit und Bilanzklarheit fordern die vollständige, richtige, verständliche und übersichtliche Bilanz. Die Bilanz sagt zunächst, welche Wirtschaftsgüter einem Betrieb zuzuordnen sind. Hier ist die Frage zu entscheiden, ob immaterielle Wirtschaftsgüter – Schutzrechte, Konzessionen, Firmenwert –, die nichtentgeltlich erworben worden sind, in die Bilanz aufgenommen werden; oder wie eine Gebäude, das unterschiedlich – eigenbetrieblich, fremdbetrieblich, vermietet, selbstbewohnt – genutzt wird, aufzuteilen ist. Auf dieser Grundlage ist näher zu bestimmen, ob ein Vermögensgegenstand nach Funktion oder Eigentum dem Betrieb zuzurechnen ist. Nimmt der Leasingnehmer, obwohl zivilrechtlich nicht Eigentümer, die wesentlichen Rechte des Eigentums für seinen Betrieb wahr, wird das Leasinggut ihm zugerechnet. Baut ein Unternehmer auf einem fremden Grundstück, so kann der Bau – abweichend vom Zivilrecht – eigenständiger Vermögensgegenstand des Sachanlagevermögens sein. Sodann sind die Güter zu bewerten. Sand in der Wüste ist Gemeingut, Sand im Betonmischer ein Wirtschaftsgut, Sand im Getriebe ein Schaden. Dabei ist das Gut in seiner jeweiligen Wertentwicklung mitschreitend zu erfassen. Ein Modeartikel veraltet, eine Maschine nutzt sich ab, ein Kunstwerk steigt im Wert, ein Grundstück wird dank einer veränderten Infrastruktur wertvoller. Ähnliche Fragen stellen sich bei den Wirtschaftslasten, den Verbindlichkeiten und den Rückstellungen. Stets ist die Vermögensentwicklung in der Zeit darzustellen. Diese einheitliche Bilanz beurteilt das Unternehmen als Wertspeicher, als Produktions- und Handelsstätte, als Ertragsquelle, als Grundlage für Kapitalbildung und Kapitalsicherung, als Kaufgegenstand, als Arbeitsplatz, als Nachfrager, als Datum der Regional- und Verkehrsplanung, als Gefahr für Umwelt und Sicherheit, als Ursprung für Wohlstand, Infrastruktur, öffentliche Aufmerksamkeit. Wenn so die Lichtkegel verschiedener Interessen sich von allen Seiten auf denselben Gegenstand richten, bleibt kaum ein Schatten, in dem Vermögen und Erträge sich verstecken können.

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Wegen dieser vielfältigen Aufgaben und Wirkungen darf die Bilanz nun aber nicht in vielfältige Einzelbilanzen zerlegt werden, die das Unternehmen in jeweils nur einer Perspektive darstellt. Vielmehr ist grundsätzlich eine Einheitsbilanz zu erstellen, die das Unternehmen in seinen vielfältigen Tätigkeiten, Beständen, Ansprüchen und Pflichten abbildet und die daraus sich ergebenden Wirkungen folgerichtig und widerspruchsfrei26 benennt. Wenn der Anteilseigner eine möglichst große Rendite erzielen, der Unternehmensgläubiger hingegen die Gewinne möglichst thesaurieren will, wenn der Steuergläubige ein Unternehmen im tatsächlichen Jahresergebnis zu besteuern, der Unternehmer hingegen einen Teil seines Vermögenszuwachses vor dem Steuerzugriff zu schützen sucht, darf dieses nicht in einem Prinzip des Verbergens und Unsichtbarmachens geschehen, sondern kann – soweit der Gesetzgeber diesen Anliegen in verfassungskonformer Weise entspricht – in rechtsstaatlicher Transparenz sichtbar gemacht werden. Das Bundesverfassungsgericht hat für die Bewertung im Erbschaftsteuerrecht27 die unterschiedliche Bewertung von Betriebsvermögen, Grundvermögen, Gesellschaftsanteilen, Land- und Forstwirtschaft beanstandet und gefordert, der im Erbfall anfallende Vermögenszuwachs müsse zunächst einheitlich im gemeinen Wert als dem maßgeblichen Bewertungsziel erfasst werden. Die Bewertungsmethoden müssten gewährleisten, dass alle Vermögensgegenstände in einem Annäherungswert an den gemeinen Wert ermittelt sind. Wenn so das Vermögen realitäts- und gleichheitsgerecht festgestellt ist, dürfe der Gesetzgeber auf den so ermittelten Wert der Bereicherung aufbauen und Rechtsfolgen auch nach anderen Zielen bemessen.28 Eine solche auf den realitäts- und gegenwartsgerechten Vermögenswert aufbauende Abweichung mag einen 10 %igen Abschlag im Erbschaftsteuerrecht vorsehen, eine grobe Typisierung von Aufwandstatbeständen im Einkommensteuerrecht – dann aber für alle Einkunftsarten – einführen, für das Unternehmensbilanzrecht eine Ausschüttungssperre einführen,29 für die Übertragungsbilanz die Zukunftswerte besonders würdigen, für die Sozialbilanz den Personalbedarf, die technischen Modernisierungsmöglichkeiten und die Lohnstückkosten hervorheben, in der Umweltbilanz den Energiebedarf, die Emissionsrisiken, die Umweltverträglichkeit von Produktionsverfahren und Produkten sowie die Veränderbarkeit dieser Faktoren beobachten. Doch es wäre verfehlt, die jeweilige Teilperspektive eines Rechtsbereichs schon bei den bilanziellen Beurteilungen des Unternehmens wirksam werden zu lassen. Das einheitliche Unternehmen ist eine einheitliche Erwerbseinheit in ihrer Gegenwart und an ihrem Standort. In diesem Wirkungszusammenhang von Kapital und Arbeit, Produk-

__________ 26 Zu diesem aus dem Gleichheitssatz entwickelten Kriterium der Steuergesetzgebung vgl. BVerfGE 82, 60, 86 – Familienexistenzminimum; BVerfGE 84, 153, 179 – Zinsurteil; BVerfGE 87, 153, 170 – Grundfreibetrag; BVerfGE 93, 121, 137 – Vermögensteuer; BVerfGE 98, 83, 100 – Landesrechtliche Abfallabgabe; 98, 106, 125 – kommunale Verpackungsteuer; BVerfGE 99, 216, 231 – Kinderbetreuungskosten; BVerfGE 99, 280, 295 – Zulage Ost; BVerfGE 105, 73, 112 – Rentenbesteuerung; BVerfGE 117, 1, 30 f. – Erbschaftsteuer II. 27 BVerfGE 93, 165, 173 – Erbschaftsteuer; BVerfGE 117, 1, 30 f. – Erbschaftsteuer II. 28 BVerfGE 117, 1, 30 f. – Erbschaftsteuer II. 29 Hommelhoff, ZGR 37 (2008), 250, 257.

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tion und Handel, Umsatz und Gewinn, Gegenwartserwerb und Zukunftsplanung bildet es seinen Wert.

III. Ersichtlichkeit am Markt oder Erwartung in der Prognose 1. Realisation, Ersichtlichkeit, fair view Die Aufgabe, ein Unternehmen in einer einheitlichen Bilanz darzustellen, um auf dieser Grundlage die daraus sich ergebenden Rechtsfolgen widerspruchsfrei und folgerichtig abzuleiten, stellt sich gegenwärtig insbesondere für die Handels- und Steuerbilanz. Gegenwärtig knüpft das Steuerrecht grundsätzlich an handelsrechtliche Grundsätze bilanzieller Gewinnermittlung an. Diese Anknüpfung beruht auf Gründen der Praktikabilität; es soll eine zweifache Rechnungslegung vermieden werden. Die Handelsbilanz ist nicht Ausdruck der Leistungsfähigkeit eines Unternehmens, nach der sich die Einkommensteuer bemisst.30 Handels- und Steuerbilanz stimmen in ihren Zielen nur beschränkt überein. Deswegen wird die Maßgeblichkeit der Handelsbilanz für die Steuerbilanz durch steuereigene Vorbehalte und Einschränkungen modifiziert.31 Zudem hat das Steuerrecht stets die Einkünfteermittlung aufgrund bilanzieller Gewinnermittlung, der Gewinnermittlung durch Überschussrechnung und der Überschusseinkünfte in einem gleichheitsgerechten Zusammenhang zu halten.32 Da die Handelbbilanz dem Gläubigerschutz und der Kapitalerhaltung dient, ist sie vom Vorsichtsprinzip geprägt. Der Kaufmann bemüht sich, reicher zu werden und ärmer zu scheinen: Gewinne werden nicht schon dann erfasst, wenn sie nach Meinung der Geschäftsführung entstanden sind, sondern erst, wenn sie am Markt ersichtlich, in einem Umsatzakt greifbar geworden sind. Die Ware ist geliefert, die Gefahr übergegangen, die Rechnung gestellt. Kursgewinne aus Wertpapieren werden erst ausgewiesen, wenn sie verkauft sind. Vermögensgegenstände sind mit den vom Markt abgeleiteten Anschaffungs- oder Herstellungskosten anzusetzen, auch wenn sie inzwischen einen erheblich höheren Marktwert haben. Das Realisationsprinzip ist zugleich ein Ersichtlichkeitsprinzip. Verluste hingegen werden schon berücksichtigt, wenn sie noch nicht realisiert und noch nicht marktoffenbar sind. Sie werden schon erfasst, wenn sie vorhersehbar sind und bestimmte Risiken erkennbar werden. Dieses Imparitätsprinzip findet seinen Niederschlag im Niederstwertprinzip, das für alle rechnungslegungspflichtigen Unternehmen gilt (§ 253 Abs. 3 Satz 3, Abs. 4 HGB).

__________ 30 BVerfGE 123, 111, 123 f. – Jubiläumsrückstellung. 31 Zum Maßgeblichkeitsprinzip und seiner Entwicklung vgl. L. Schmidt, Maßgeblichkeitsprinzip und Einheitsbilanz: Geschichte, Gegenwart und Perspektiven des Verhältnisses von Handels- und Steuerbilanz, 1994, S. 41 f.; Vogt, Die Maßgeblichkeit des Handelsbilanzrechts für die Steuerbilanz, 1991; Broer, Maßgeblichkeitsprinzip und Harmonisierung der Rechnungslegung, 2001, S. 71 f.; Crezelius (Fn. 16), § 5 EStG Rz. 3 f. 32 Lang in Tipke/Lang, Steuerrecht, 20. Aufl. 2010, § 9 Rz. 181 f.

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Ihm entspricht auch das Gebot der Rückstellungsbildung für drohende Verluste aus schwebenden Geschäften (§ 249 Abs. 1 Satz 1 HGB).33 Die Steuerbilanz benennt das Einkommen oder den Ertrag, die Bemessungsgrundlage, nach der die Einkommensteuer erhoben wird. Sie soll eine gleichmäßige Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit, dem am Markt erzielten Einkommen, sicherstellen. Dieses Ziel entspricht dem Realisationsprinzip, nicht dem verallgemeinerten Vorsichtsprinzip. Es beansprucht eine zeitgerechte Gewinnteilhabe, nicht eine vorsichtige Feststellung des ausschüttungsfähigen Gewinns. Das Vorsichtsprinzip steht dem Ziel einer gleichmäßigen Besteuerung aller Einkünfte nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit entgegen. Im geltenden Recht ist die steuerliche Gewinnermittlung dennoch grundsätzlich an den Gewinn geknüpft, den die Handelsbilanz ausweist. Diesen Zusammenhang regelt das Maßgeblichkeitsprinzip in § 5 Abs. 1 Satz 1 EStG. Die umgekehrte Maßgeblichkeit, wonach steuerliche Wahlrechte so, wie sie in der Steuerbilanz ausgeübt wurden, auch in die Handelsbilanz übernommen werden müssen, wurde durch das Bilanzrechtsmodernisierungsgesetz (BilMoG) zugunsten eines Wahlrechtsvorbehalts aufgegeben.34 Die nun erneut bedeutsame Frage, ob der Maßgeblichkeitsgrundsatz den Ansatz oder auch die Bewertung umfasst, ist noch nicht abschließend geklärt.35 Die Rechnungslegung nach IAS/IFRS und US-GAAP kann Investoren, Kreditgeber, Lieferanten und andere Gläubiger, Arbeitnehmer und die Öffentlichkeit über das Unternehmen unterrichten. Dabei bilden alle zum Konzern gehörenden Unternehmen wirtschaftlich und rechtlich eine Einheit. Das Bild, das diese Bilanz über die Vermögens-, Finanz- und Ertragslage des Unternehmens gibt, soll die tatsächlichen Verhältnisse des Unternehmens spiegeln. Das Vermögen des Unternehmens soll mit dem wahren Wert („fair value“) bewertet, die Unternehmenslage wirklichkeitsgerecht dargestellt werden („true and fair view“ oder „fair presentation“). Stille Reserven entstehen so kaum. Vermögen muss abgeschrieben werden, wenn es im Wert fällt. Wertpapiere werden nach diesen Regelungen mit den aktuellen Marktpreisen bewertet.36 Diese Bilanz verfolgt das Konzept eines realitäts- und gegenwartsgerechten Vermögens- und Ertragsausweises. Ihm fehlt aber die Ersichtlichkeit von Ansatz und Wert. Im „fair view“ steckt viel Erwartung, Absicht, Hoffnung.

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33 Das Gebot ist steuerrechtlich nicht mehr anerkannt, § 5 Abs. 4a EStG. 34 Crezelius (Fn. 16), § 5 EStG Rz. 54; zu den daraus folgenden gesonderten steuerlichen Aufzeichnungspflichten Zwirner, Gesonderte steuerliche Aufzeichnungspflichten wegen BilMoG, DStR 2011, 802. 35 Crezelius (Fn. 16), m. N. 36 Es gibt Stimmen, die eine Bilanzierung zum Zeitwert mitverantwortlich machen für die jüngste Finanzmarktkrise, vgl. hierzu Küting/Lauer, Der Fair Value in der Krise, in BFuP 2009, 547–567; Weilbach, BilMoG vor In-Kraft-Treten schon Schrott?, in ZSteu 2009, 355; Kussmaul/Weiler, Finanzkrise und BilMoG: Gegen Fair Value im HGB – Lehren aus der Finanzkrise ziehen, in PdR Gruppe 16, 849–858 (1/2009); Ballwieser/Küting/Schildbach, Fair Value in der Krise, DB 2009, Heft 49, I.

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2. Gegenläufigkeit drängt zur Sachlichkeit Die Nutzer einer Bilanz erhoffen sich aus der Finanzberichterstattung einen je eigenen Informationsgewinn. Anliegen der Einheitsbilanz ist, diese Gegenläufigkeiten sichtbar zu machen und in dieser Ersichtlichkeit für alle Beteiligten die Informationen realitäts- und zeitgerecht zu begründen. Wenn die Aktionäre des Unternehmens fragen, ob und wie viel Geld das Unternehmen erwirtschaften und an seine Anteilseigner ausschütten kann, treffen sie auf Darlehensgeber, insbesondere Banken und Käufer von Anleihen, die erfahren wollen, ob das Unternehmen Zinsen und Tilgungen pünktlich zahlen wird, inwieweit es Sicherheiten durch Ausschüttungen und Honorarzahlungen mindert. Unternehmenskäufer suchen Tatsachen, die der Wert und Preis des Unternehmens bilden, Mitarbeiter des Unternehmens fragen nach der Sicherheit ihrer Löhne, nach Kontinuität, Ertragskraft und Wachstum ihres Arbeitgebers, der Ersetzbarkeit und dem Wegfall von Arbeitsplätzen. Lieferanten des Unternehmens erhoffen sich Informationen darüber, ob das Unternehmen in der Lage sein wird, die Rechnungen pünktlich zu begleichen und Folgeaufträge anzubieten. Kunden wollen informiert werden, ob das Unternehmen stetig die gewohnten Güter und Dienstleistungen bereitstellt und betreut. Regierungen und Regulierer beurteilen die Tätigkeiten des Unternehmens in seiner Versorgungsfunktion, aber auch in seiner Wirkung für Standort, Arbeitsplätze, Lieferanten, Steuerkraft, Umwelt. Sie wollen wissen, ob die wirtschaftlichen Ressourcen des Landes wirksam genutzt werden. Sie benötigen Grundlagen für ihre Entscheidungen für Straßenbau und Erschließung, Verkehrsunternehmen, Telekommunikationsfirmen, Strom- und Wasserversorger. Für den Steuergläubiger ist die Bilanz des Unternehmens Grundlage für die Bemessung der Einkommen- und auch der Umsatzsteuer. Öffentlichkeit und Presse beobachten das Unternehmen in allen diesen Funktionen. Stets wird festgestellt und kritisiert, wenn ein Wirtschaftsgut falsch zugeordnet oder verschwiegen, zu hoch oder zu niedrig bewertet, in seiner Entwicklung fehleingeschätzt wird. Und dann stellt sich die Frage von Verantwortlichkeit und Haftung. Dieses gegenläufige Informationsbedürfnis kann nur erfüllt werden, wenn die Bilanz die tatsächlichen Verhältnisse spiegelt. Dies ist derzeit nicht der Fall. Die gegenwärtigen Bilanzierungsregeln verfehlen in ihren Minderungs-, aber auch in ihren Einschätzungsmaßstäben teilweise die Wirklichkeit. Deshalb soll eine moderne Bilanz das Interesse der verschiedenen Gruppen erfüllen, sich über das Unternehmen wahrheitsgetreu zu informieren, Vermögen und Ertrag wirklichkeitsgerecht und gegenwartsnah wiederzufinden. Das Unternehmen legt nur noch eine Bilanz vor, die für alle Beteiligten gilt. Auf dieser Grundlage ist es dann möglich, einzelne Bilanzposten oder das Gesamtergebnis nachträglich für Einzelzwecke abweichend zu nutzen und zu würdigen. So kann den verschiedenen Zielrichtungen einer Bilanz transparent Rechnung getragen werden.

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IV. Tatsachenbilanz zur Zukunftseinschätzung Die Bilanz ist eine Momentaufnahme. Sie erklärt und umgrenzt die Zukunft eines Unternehmens aus seiner Herkunft. Zu einem Stichtag sucht sie möglichst prägnant, verlässlich, anschaulich Tatsachen festzustellen, die Voraussagen über die zukünftige Entwicklung erlauben. Allerdings können die Fragen von morgen anders sein, als heute erwartet. Deswegen soll die Bilanz nicht zukünftige Fragen vorwegnehmen, sondern die gegenwärtige Wirklichkeit beschreiben, um späteres Fragen und Antworten zu ermöglichen. 1. Sachlichkeit durch Interessentenwissen Dieser von der aktuellen Problemsicht und Fragebereitschaft gelösten Sachlichkeit ist am ehesten gedient, wenn die Bilanz schon heute gegenläufigen Fragen und Interessen ausgesetzt ist. Sie gewinnt zusätzliche Sachlichkeit und Unparteilichkeit, weil die bilanzielle Selbstdarstellung des Unternehmens formalisierten Rechtsregeln folgt und sie sachverständig geprüft, von einem beruflich qualifizierten Prüfer in selbstständiger Verantwortlichkeit kontrolliert und mit eigener Unterschrift bestätigt wird.37 Dabei eröffnet die Prüfung, insbesondere bei der Zurechnung von Wirtschaftsgütern, bei der Bewertung, bei der Einschätzung von Entwicklungen und Risiken stets Verstehens- und Darstellungsräume, bei denen Erkenntnis, Erwartung und Interesse ineinander übergehen, Kosten-Nutzen-Erwägungen, persönliche Lebenserfahrung und Lebenssicht, Zeiteinschätzungen, auch persönliche Präsenz und Darstellungskunst in das Prüfergebnis einfließen.38 Wenn dabei ein Wirtschaftsprüfer, der von dem zu prüfenden Unternehmen ausgewählt und beauftragt ist, mit diesem Unternehmen eine Dauerrechtsbeziehung sucht und pflegt, in seinem Selbstverständnis eher der Konzeption des Shareholders und weniger des Stakeholders dient, so wendet dieser Prüfer durchaus Interessentenwissen an, das aus eigener praktischer Erfahrung, der langfristigen prüfenden Begleitung des Unternehmens, den aus der Prüfung folgenden Empfehlungen, bisher auch aus der mit der Prüfung verbundenen steuer- und unternehmensrechtlichen Beratung gewonnen wird. Doch diese interessentennahe Prüfungstätigkeit, die teilweise einer im Prüfungsauftrag angelegten Einseitigkeit – insbesondere des Gläubigerschutzes oder der Besteuerung – verpflichtet ist, macht die Prüfung damit nicht fragwürdig. Interessenvertreter gelten häufig als die besten Fachleute;39 unternehmensnahe Prüfung ist zumindest sachkundige Kontrolle. Der Prüfer wahrt nicht die Dis-

__________ 37 Zum Grundproblem von Sachverstand und Sachkunde Vosskuhle, Sachverständige Beratung des Staates, in HStR, Bd. III, 3. Aufl. 2005, § 43 Rz. 17 f.; Nussberger, Sachverständigenwissen als Determinante verwaltungsrechtlicher Entscheidungen, AöR 129 (2004), 282, 291 f.; Di Fabio, Verwaltungsentscheidung durch externen Sachverstand, VerwArchiv 81 (1990), 193 f. 38 Vgl. Di Fabio, VerwArchiv 81 (1990), 193, 211; Vosskuhle (Fn. 37), § 43 Rz. 19. 39 Vosskuhle (Fn. 37), § 43 Rz. 20; Korinek, Beiräte in der Verwaltung, in FS Antoniolli, 1979, S. 463, 469.

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tanz zu seinem Prüfungsgegenstand, sondern denkt sich in ihn hinein, denkt seine Entwicklung nach, seine Zukunft voraus. Allerdings sollte die Prüfung – und darauf wirkt die gegenwärtige Gesetzgebung nachdrücklich hin – möglichst von der Mitentscheidung gesondert werden. Die Beratung soll danach strikt vom Prüfungsmandat getrennt, dem Prüfer – über das Selbstprüfungsverbot hinaus – eine Steuerberatung generell verboten werden. Zudem sollen bestimmte große Prüfungsgesellschaften ihre Prüfungstätigkeit von der Beratung trennen, mögen sie den Mandanten prüfen oder nicht. So soll der Prüfer von seinen Klienten wirtschaftlich unabhängiger, die gebotene Sorgfalt gesteigert werden. Doch auch der Prüfer, der nicht berät, wird sich mit dem geprüften Unternehmen beraten, gemeinsame Vorstellungen über die Darstellung des Unternehmens und seiner Zukunft entwickeln.40 2. Erklärung nach bestem Wissen und Gewissen Die Bilanz des Unternehmens und seine Prüfungen sind somit Erklärungen qualifizierten Wissens, persönlicher Ehrlichkeit, rechtlicher Verantwortlichkeit. Dieses notwendige Zusammenwirken von Wissen und Vergewissern ist dem deutschen Recht geläufig: Der Bundespräsident (Art. 56 Satz 2 GG) und die Mitglieder der Bundesregierung (Art. 64 Abs. 2 in Verbindung mit Art. 56 Satz 2 GG) leisten den Eid, ihre „Pflichten gewissenhaft“ zu erfüllen, eine Formulierung, in der Wissen, Vergewissern und Gewissheit über das Ergebnis zusammenklingen. Die Angaben in einer Steuererklärung sind „wahrheitsgemäß nach bestem Wissen und Gewissen zu machen“ (§ 150 Abs. 2 Satz 1 AO). Der Steuerpflichtige soll sich der Vollständigkeit und Richtigkeit seiner Angaben vergewissern, auf dieser Grundlage eine vor dem eigenen Gewissen verbindliche Erklärung abgeben.41 Nach § 38 DRiG leistet der Richter den Eid, „nach bestem Wissen und Gewissen … zu urteilen“.42 Diese traditionelle43 Verpflichtung der Gerichtsbeisitzer 1774,44 der Eid der Wahlmänner in der helvetischen Republik, 1801,45 die bis heute sprichwörtliche Versicherung46 meint im Wissen die sorgfältige Ermitt-

__________ 40 Brohm, Sachverständige Beratung des Staates, in HStR, Bd. II, 2. Aufl. 1987, § 36 Rz. 1 sagt: „Beratung ist inhaltlich gesehen Mitentscheidung“ (für die Beratung des Staates). 41 BFH, BStBl. II 1999, 203. 42 § 4 I LRiG BW, Art. 5 I BayRiG, § 2 I RiGBln, § 2 I BbgRiG, § 2 I RichterG BRE, § 2 I HmbRiG, § 5 I HRiG, § 4 I LRiG MV, § 2 I NRiG, § 2 LRiG NRW, § 3 I LRiG Rh.-Pf., § 2 Saarländisches RiG, § 4 I SächsRiG, § 5 I LRiG LSA, § 2 I LRiG SH, § 5 I ThürRiG. 43 So bereits die Ordnung der Glaser zu Göttingen von 1753 für Zunftvorsteher, abgedruckt in Christoph Wilhelm Gatterer, Technologisches Magazin, 1790, Bd. I, S. 680. 44 Johann Jacob Moser, Von der teutschen Justiz-Verfassung: Nach denen Reich-Gesezen und dem Reichs-Herkommen, 1772. 45 Amtliche Sammlung der Acten aus der Zeit der helvetischen Republik, VII 186, 1798–1803. 46 Röhrich, Das große Lexikon der sprichwörtlichen Redensarten, Bd. 1, 1991, S. 547; Duden, Redewendungen, Wörterbuch der deutschen Idiomatik, 3. Aufl. 2008, S. 877.

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lung und unbefangene Würdigung des Erklärten, im Gewissen die moralische Vergewisserung vor sich selbst, die selbstkritische und selbstverantwortliche Geschichtsschreibung über sich selbst. Wissen fordert die sachliche, vollständige, aufrichtige Darlegung der rechtlich vorgeschriebenen Daten. Gewissen ist die bewusste Entscheidung, zwischen richtig und falsch, wahr und unwahr, gut und böse, das Richtige, Wahre, Gute gewählt zu haben. In der Bilanz erklärt der ehrbare Kaufmann, dass er alle rechtserheblichen47 Tatsachen vollständig, realitätsgerecht, in Zahlen ausgedrückt benennt (bestes Wissen) und dieses vor seinem Gewissen verantwortet.48 Die Rechtsordnung ist in gesteigerter Weise auf die Richtigkeit und Verlässlichkeit dieser bilanzierenden Erklärung angewiesen, bemüht sich deshalb, in den objektiven Maßstäben wie der subjektiven Verpflichtung des Erklärenden auf größtmögliche Realitätsgerechtigkeit und Zeitgerechtigkeit hinzuwirken. Das Vertrauen in das Unternehmen, die Bereitschaft, mit ihm auch in Zukunft Geschäftsbeziehungen zu pflegen, die Anerkennung des Unternehmens als verlässlichen Partner von Staat und Wirtschaft hängen insbesondere von der Gediegenheit und Verlässlichkeit der Bilanz ab. Diese erlaubt Rückschlüsse auf die in dem Unternehmen Tätigen, auf Personal- und Organisationsstruktur des Unternehmens. Mit diesen Maßstäben folgt das Bilanzrecht den allgemeinen Prinzipien von Ehrbarkeit und Anstand, die das gesamte Wirtschaftsleben beherrschen. Jeder Vertrag steht unter dem Vorbehalt von „Treu und Glauben“ und von „Verkehrssitte“. Sittenwidrige Rechtsgeschäfte sind verboten. Das Geschäftsleben ist nicht – so das Ideal – auf die Übervorteilung des Geschäftspartners in Grenzen des Gesetzes angelegt, fordert vielmehr Anstand und Rücksichtnahme gegenüber dem Vertragspartner („Treue“), setzt das Vertrauen in diese Treue voraus (Glauben).49 Der Wirtschaftsverkehr wird von der gewohnten, vertrauten

__________ 47 Zum Erfordernis der rechtlichen Einordnung und Zuordnung vgl. FG Köln, EFG 1996, 1073; Seer in Tipke/Kruse, Loseblatt (Stand: Oktober 2009), § 150 AO Rz. 14; Stöcker in Beermann/Gosch, Loseblatt (Stand: September 2009), § 150 AO Rz. 27. 48 Der Bundesfinanzhof, BStBl. II 1971, 726; BStBl. II 1987, 77 f.; BStBl. II 1999, 203, 204 deutet den Gewissensvorbehalt lediglich als Auftrag, sich der im Vordruck vorgesehenen Angaben – auch nach steuerlicher Beratung – zu „vergewissern“. Zum Problem vgl. auch Wendt in FS Ritter, 1997, S. 637 f.; Stöcker (Fn. 47), § 150 AO Rz. 58 f.; Heuermann in Hübschmann/Hepp/Spitaler, Loseblatt (Stand: Oktober 2009), § 150 AO Rz. 17 f.; zu § 38 Deutsches Richtergesetz vgl. Schmidt/Räntsch, 6. Aufl. 2009, § 38 DRiG Rz. 4 (Der Richter ist sich bewusst, „wann die Rechtsanwendung die ethischen Grundlagen erreicht und hinterfragt werden muss“); vgl. auch § 410 ZPO, § 79 Abs. 2 StPO, § 150 Abs. 2 AO. Das ist aber – auch vor dem Hintergrund des Art. 4 Abs. 1 GG – kein Grund, um die Steuer wegen einer bestimmten Verwendung der Steuererträge (für militärische Zwecke) zu verweigern, BVerfGE, NJW 1993, 455 (Kein Einfluss des Steuerzahlers auf die Haushaltsentscheidung des Parlaments); maßgeblich ist das Gewissens des Abgeordneten (Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG) entgegen Tiedemann, Steuerverweigerung aus Gewissengründen, StuW 1988, 69. 49 Wieacker, Zur rechtstheoretischen Präzisierung des § 242 BGB, 1956; Canaris, Die Vertrauenshaftung im deutschen Privatrecht, 1971; Larenz, Lehrbuch des Schuldrechts, Bd. I, Allgemeiner Teil, 1, 4. Aufl. 1987, § 10 I; Stoffels, AGB-Recht, 2. Aufl., 2009, S. 7 ff., 30 ff.

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Zeitgerechtes und rechtzeitiges Bilanzieren

tatsächlichen Übung bestimmt („Verkehrssitte“), die alle Grundwerte der geltenden Rechtsordnung achtet, die ungeschriebene Bindung an Anstand und Redlichkeit als unerlässlich anerkennt. Recht gibt Halt, gute Sitten geben Haltung.50 Freiheit ist stets rechtliche Freiheit, definiert, tatbestandlich begrenzt, in der die Willkür des einen mit der Willkür des anderen nach einem allgemeinen Gesetz der Freiheit zusammen vereinigt werden kann.51

V. Zeitgerechter und rechtzeitiger Tatsachenbefund Eine Bilanz muss die Unschärfe des Unternehmensbegriffs, der Zurechnung von Wirtschaftsgütern, des Wertes und insbesondere jeder Aussage in der Zeit aushalten,52 eine Gesamtbilanz stets auch dem Ideal der Gerechtigkeit dienen. Vielfach allerdings wird das Bilanzrecht als technisches Regelwerk verstanden, das in seiner Formalität richtig und wertfrei sei.53 Doch die Bilanz bleibt stets datengestütztes, zeitgerechtes Beurteilen von Unternehmen und ökonomischer Entwicklung. Das Zahlenwerk vereinfacht in der Quantifizierung, täuscht in der Sicherheit der Rechnung, enttäuscht die Hoffnung auf das Zählbare. Der Leser der Bilanz wägt zwischen der Reputation des Unternehmens, der im Unternehmensvermögen angelegten Produktivität und Sicherheit einerseits, der Kontinuität, Entwicklungsfähigkeit und Zukunftsvorkehrungen andererseits. Er erwartet nicht eine verlässliche Zukunftsprognose, sondern eine zeitgerechte Gegenwartsanalyse. Die Bilanz soll die derzeit greifbaren Tatsachen nennen, auf die sich redliche, vertretbare Prognosen, Zukunftseinschätzungen bauen lassen. Die Bilanz behauptet nicht, dass die gegenwärtigen Erwartungen an das Unternehmen, die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen, der technisch-wissenschaftliche Fortschritt, Recht und Politik unverändert blieben. Sie bietet vielmehr gegenwartsgerechte Daten, an die der zukunftsverantwortliche Entscheider anknüpfen kann. Er erfährt, nach welchem Gegenwartsbefund er die Zukunft denken und planen kann. Diese Bilanz ist jährlich vorzulegen, teilweise durch zwischenzeitliche Berichte zu ergänzen, kontinuitätsbewusst fortzuschreiben. Dadurch soll der Entschei-

__________ 50 Die Offenheit des Kriteriums wird durch die Offensichtlichkeit seiner Verletzung ausgeglichen; nur eine ersichtliche Unredlichkeit führt zu rechtlichen Sanktionen. Armbrüster in MünchKomm. BGB, 5. Aufl. 2006, § 138 BGB Rz. 2, 27 ff.; zu den Rechtsfolgen Rz. 155 ff.; Fastrich, Richterliche Inhaltskontrolle im Privatrecht, 1992, S. 17 ff. „Sittenwidrigkeit als Evidenzmaßstab“; vgl. allgemein Canaris, Grundrechte und Privatrecht, AcP 184 (1984), 201 ff., 234; Steindorff, Die guten Sitten als Freiheitsbeschränkung, in Summum ius, summa iniuria, Individualgerechtigkeit und der Schutz allgemeiner Werte im Rechtsleben, Ringvorlesung, gehalten von Mitgliedern der Tübinger Juristenfakultät im Rahmen des Dies Academicus, Wintersemester 1962/63, Tübingen, 1963, S. 58 ff. 51 Immanuel Kant, Metaphysik der Sitten, Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre, 1797, § B. 52 Zur Unschärfe von Raum und Zeit als Bedingung der Geschichtsschreibung vgl. Schneidmüller, Grenzerfahrung und monarchische Ordnung, Europa 1200 bis 1500, 2010, S. 24 f. 53 Herrmann, Gerechtigkeit!, 2011, S. 133.

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der in der Aktualität seiner Gegenwart Wissensgrundlagen gewinnen, die ihn rechtzeitig unterrichten, anregen, ermutigen, warnen. Mit dem Erfordernis der Zeitgerechtheit und Rechtzeitigkeit der Gesamtbilanz ist der wesentliche Maßstab benannt: Die Bilanz bietet Gegenwartsdaten, sagt, was ist, nicht was sein soll. Auch die Entwicklungsmöglichkeiten werden in Daten, erst auf dieser Grundlage in Erwartungen und Absichten dargestellt. Die Bilanz ist Spiegel des derzeitigen Unternehmens insgesamt, damit die Steuerverwaltung, das Sozialwesen, die Politik sowie Gläubiger und Schuldner jeder Art daraus für sich ihre Folgerungen ziehen können. Vor allem aber gibt die Bilanz dem Unternehmer eine Grundlage, um seine Kräfte und Chancen, seine Stärken und Schwächen einschätzen und verändern zu können. Die zeitgerechte und rechtzeitige Gesamtbilanz ist das Wissensfundament modernen Wirtschaftens.

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Debt-Equity-Swap im Insolvenzplanverfahren Inhaltsübersicht I. Einleitung II. Debt-Equity-Swap vor und nach ESUG 1. Konstruktiver Rahmen 2. Hemmnisse im alten Recht 3. Korrekturen durch das ESUG a) Einbeziehung der Anteilsinhaber in den Insolvenzplan b) Ausschluss der Differenzhaftung 4. Erste Wertungen III. Forderungsanrechnung zum Nennwert? 1. Bisheriger Meinungsstand 2. Aktuelle Debatte a) These von der Nennwertanrechnung

b) Kritik 3. Standpunkt des ESUG IV. Ermittlung des Forderungswerts 1. Maßgeblichkeit der Deckungsquote 2. Standpunkt des ESUG a) Ausschluss der Differenzhaftung b) Rechtstellung der Altgesellschafter V. Folgerungen für den Kapitalschutz im Insolvenzplanverfahren 1. Forderungswert 2. Prüfung durch Insolvenz- und Registergericht 3. Ausschluss der Differenzhaftung VI. Resümee

I. Einleitung Mit dem Gesetz zur weiteren Erleichterung der Sanierung von Unternehmen (ESUG) vom 7.12.2011,1 in Kraft getreten zum 1.3.2012, ist die strikte Trennung zwischen Insolvenzrecht und Gesellschaftsrecht im Insolvenzplanverfahren überwunden worden. Bedurfte es für Veränderungen in der Rechtsstellung der Anteilseigner des Schuldnerunternehmens bislang ihrer Zustimmung nach den einschlägigen Vorschriften des Gesellschaftsrechts, können die Anteilsrechte nunmehr in den gestaltenden Teil des Insolvenzplans einbezogen werden. Der Plan kann jede gesellschaftsrechtlich zulässige Maßnahme vorsehen, auch die Umwandlung von Forderungen gegen die Gesellschaft in Eigenkapital gegen Ausgabe neuer Gesellschaftsanteile an den bisherigen Forderungsinhaber. In einem solchen Debt-Equity-Swap wollen manche die für die Sanierungspraxis bedeutsamste gesellschaftsrechtliche Maßnahme erkennen.2 In seiner erstmaligen ausdrücklichen Zulassung als Gestaltungsvariante des Insolvenzplans sei das Kernstück der Neuregelungen im ESUG zu sehen, dem nahezu Symbolkraft für die gesamte Reform zugeschrieben werde.3

__________ 1 BGBl. I 2011, 2582. 2 Hirte/Knof/Mock, DB 2011, 632, 637. 3 Hölzle, NZI 2011, 124, 127.

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Solche Feststellungen stehen in bemerkenswertem Kontrast zu einer Vielzahl ungeklärter Fragen, die mit dem Debt-Equity-Swap im Insolvenzplanverfahren verbunden sind. Sie betreffen auch – und nicht zuletzt – die Bewertung der eingebrachten Forderungen sowie, damit eng zusammenhängend, den Stellenwert der Kapitalaufbringungsgrundsätze im Insolvenzplanverfahren. Diesem Aspekt der Neuregelung (für das Planverfahren einer GmbH oder AG) näher nachzugehen, wird das Interesse des Jubilars finden. Peter Hommelhoff hat sich immer wieder Grundsatzfragen der Krisenfinanzierung gewidmet, darunter auch der Umwandlung von Forderungen in Kapital.4

II. Debt-Equity-Swap vor und nach ESUG 1. Konstruktiver Rahmen Mit dem Dept-Equity-Swap werden bestehende Forderungen gegen die Gesellschaft – zuvor nicht selten von Investoren wie Hedgefonds oder Investmentbanken gegen erhebliche Abschläge auf den Nennwert erworben5 – im Wege der Sachkapitalerhöhung (regelmäßig unter Ausschluss des Bezugsrechts der Altgesellschafter6) in die schuldende Gesellschaft ein- und zum Erlöschen gebracht. Das geschieht rechtstechnisch7 entweder im Wege des Forderungsverzichts oder durch Abtretung an die Gesellschaft mit der Folge eines Erlöschens durch Konfusion. In Sanierungssituationen geht der Kapitalerhöhung typischerweise eine vereinfachte Kapitalherabsetzung (§§ 229 ff. AktG; §§ 58a ff. GmbHG) voraus (sog. Kapitalschnitt), um das Grund- bzw. Stammkapital mit eingetretenen Verlusten zu verrechnen und eine entstandene Unterbilanz auszugleichen. Dabei ist selbst eine Kapitalherabsetzung unter den gesetzlichen Mindestnennbetrag – zum Ausgleich einer bereits eingetretenen Überschuldung also auch auf Null – möglich, wenn das gesetzliche Mindestkapital durch eine zugleich beschlossene Kapitalerhöhung wieder erreicht wird, die zwingend gegen Bareinlagen vorgenommen werden muss (§§ 229 Abs. 3, 228 AktG; § 85a Abs. 4 GmbHG). Aber auch unabhängig von der Wiederauffüllung eines auf Null herabgesetzten Kapitals wird der Dept-Equity-Swap regelmäßig durch

__________ 4 Für ein frühes Beispiel s. Lutter/Hommelhoff/Timm, BB 1980, 737, 740. 5 Zu den einschlägigen „Loan-to-own“-Strategien s. etwa Aleth/Böhle, DStR 2010, 1186; Carli/Rieder/Mückl, ZIP 2010, 1737, 1738; Kestler/Striegel/Jesch, NZI 2005, 417 ff.; Kunz/Ehnert, FB 2007, 395 ff.; Wittig in K. Schmidt/Uhlenbruck, Die GmbH in Krise, Sanierung und Insolvenz, 4. Aufl. 2009, Rz. 2.279 ff. 6 Zur Gestaltungsoption einer vorgeschalteten Barkapitalerhöhung mit Bezugsrecht der Altgesellschafter vgl. Löbbe, Liber amicorum Martin Winter, 2011, S. 423, 430 ff.; speziell zur (umstrittenen) Zulässigkeit des Bezugsrechtsausschlusses beim DebtEquity-Swap im Insolvenzplanverfahren nach dem ESUG s. einerseits Horstkotte/ Martini, ZInsO 2012, 557, 563, Fn. 45; Scheunemann/Hoffmann, DB 2009, 279, 281; Vaupel/Reers, AG 2010, 93, 95; andererseits Simon/Merkelbach, NZG 2012, 121, 125 f. 7 Zur rechtstechnischen Ausgestaltung des Debt-Equity-Swap s. stellvertretend Brinkmann, WM 2011, 97; Budde, ZInsO 2010, 2251, 2267 f.; Ekkenga, ZGR 2009, 581, 589; M. Schmidt/Schlitt, Der Konzern 2009, 279, 280 ff., je m. w. N.

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flankierende Maßnahmen begleitet, insbesondere mit dem Ziel einer Zuführung frischer Liquidität.8 2. Hemmnisse im alten Recht In der Praxis spielte der Debt-Equity-Swap bislang vor allem in Sanierungsverfahren außerhalb der Insolvenz eine Rolle, wurde im Zuge von Insolvenzplanverfahren hingegen nur vereinzelt realisiert.9 Dies erklärt sich vor allem aus der Tatsache, dass die gesellschaftsrechtlichen Beschlusserfordernisse für eine Kapitalherabsetzung und anschließende Kapitalerhöhung (gegen Bar- und/oder Sacheinlagen) auch im Insolvenzplanverfahren Geltung beanspruchten. Entsprechende Maßnahmen ließen sich also nur unter Mitwirkung einer qualifizierten Mehrheit der Gesellschafter des Schuldnerunternehmens realisieren, woraus ein erhebliches – vielfach beklagtes – Blockadepotential resultierte.10 Und selbst wo eine solche Gesellschaftermehrheit erreichbar war, blieben immer noch Risiken aus möglichen Anfechtungsklagen der überstimmten Minderheit. Ob neben diesem Blockadepotential auf Gesellschafterebene die Differenzhaftung des Einlegers für den Fall einer Überbewertung der eingebrachten Forderungen – wie verbreitet geltend gemacht wird11 – ein ebenso entscheidendes Hindernis für die Durchführung von Dept-Equity-Swaps bildete, erscheint zumindest zweifelhaft: Zwar war die einzubringende Forderung – worauf sogleich zurückzukommen ist – schon nach bislang ganz herrschender Meinung nur mit ihrem realen (den Nennwert ggf. deutlich unterschreitenden) Wert auf den übernommenen Geschäftsanteil anzurechnen. Bei einer Überbewertung drohte damit die Differenzhaftung nach §§ 9, 56 Abs. 2 GmbHG, die im Aktienrecht – u. a. in Analogie zu § 9 GmbHG – gleichfalls anerkannt ist.12 Ein im Kapitalerhöhungsverfahren eingeholtes Wertgutachten kann das Risiko einer solchen Haftung nicht ausschließen, weil diese verschuldensunabhängig ausgestaltet ist. Auf der Basis eines sorgfältig dokumentierten Wertgutachtens lässt sich das Haftungsrisiko aber doch jedenfalls faktisch minimieren,13 selbst wenn man – was allerdings zunehmend bestritten wird14 – in der späteren Insolvenz der Gesellschaft dem Sacheinleger die Beweislast hinsichtlich der Werthaltigkeit seiner seinerzeitigen Sacheinlage auferlegen will.15 – Doch mag das

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8 Aleth/Böhle, DStR 2010, 1186, 1188; Carli/Rieder/Mückl, ZIP 2010, 1737, 1740; Redeker, BB 2007, 673, 674 m. w. N. 9 Labbé/Rudolph, FB 2008, 97. 10 Dazu etwa Bitter, ZGR 2010, 147, 150, 161 ff.; Brinkmann, WM 2011, 97; Carli/ Rieder/Mückl, ZIP 2010, 1739 u. 1741; Eidenmüller/Engert, ZIP 2009, 541, 542 f.; Kresser, ZInsO 2010, 1409, 1410 f.; Verse, ZGR 2010, 299, 301 f. 11 S. etwa Brinkmann, WM 2011, 97, 101; Kestler/Striegel/Jesch, NZI 2005, 417, 422; Redeker, BB 2007, 673, 676. 12 S. aus jüngster Zeit nur BGH, AG 2012, 87, Tz. 16 ff. (Babcock Borsig) m. w. N. 13 Labbé/Rudolph, FB 2008, 97, 100; M. Schmidt/Schlitt, Der Konzern 2009, 279, 285. 14 Weiterführend Bayer/Illhardt, GmbHR 2011, 505, 512 f.; Märtens in MünchKomm. GmbHG, 2010, § 9 GmbHG Rz. 20; H. Winter/Veil in Scholz, 10. Aufl. 2006, § 9 GmbHG Rz. 15. 15 So etwa noch Roth in Roth/Altmeppen, 7. Aufl. 2012, § 9 GmbHG Rz. 4a.

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dahinstehen. Denn für den Debt-Equity-Swap im Zuge eines Insolvenzplanverfahrens hat der ESUG-Gesetzgeber beide Schaltstellen neu justiert. 3. Korrekturen durch das ESUG a) Einbeziehung der Anteilsinhaber in den Insolvenzplan Dem Blockadepotential nach altem Recht wird durch die neu geschaffene Option begegnet, auch die Anteils- und Mitgliedschaftsrechte der am Träger des Schuldnerunternehmens beteiligten Personen in den gestaltenden Teil des Insolvenzplans einzubeziehen (§§ 217 Satz 2, 225a Abs. 1 InsO). Nach § 225a Abs. 3 InsO kann im Plan jede Regelung getroffen werden, die „gesellschaftsrechtlich zulässig“ ist. Der Plan kann gem. § 225a Abs. 2 Satz 3 InsO „insbesondere … eine Kapitalherabsetzung oder -erhöhung, die Leistung von Sacheinlagen, den Ausschluss von Bezugsrechten oder die Zahlungen von Abfindungen an ausscheidende Anteilsinhaber vorsehen“. Erfasst sind also auch all jene Regelungen, derer es zur Durchführung eines Dept-Equity-Swap bedarf. § 225a Abs. 2 Satz 1 InsO stellt denn auch ausdrücklich fest: „Im gestaltenden Teil des Plans kann vorgesehen werden, dass Forderungen von Gläubigern in Anteils- oder Mitgliedschaftsrechte am Schuldner umgewandelt werden.“ Allein eine Umwandlung gegen den Willen der betroffenen Gläubiger ist nach § 225a Abs. 2 Satz 2 InsO ausgeschlossen. Das neue Insolvenzrecht verdrängt zwar nicht die im materiellen Gesellschaftsrecht bereitgestellten Instrumente zur Umwandlung von Forderungen in Eigenkapital, sehr wohl aber die Beschlusskautelen nach Maßgabe des Gesellschaftsrechts. Denn nach § 254a Abs. 2 Sätze 1 und 2 InsO gelten die in den Plan aufgenommenen Beschlüsse der Anteilsinhaber oder sonstigen Willenserklärungen der Beteiligten als in der (gesellschaftsrechtlich) vorgeschriebenen Form abgegeben; gesellschaftsrechtlich erforderliche Ladungen, Bekanntmachungen und sonstige Vorbereitungsmaßnahmen der Beschlussfassung sind als in der vorgeschriebenen Form bewirkt anzusehen. Die im Zuge einer außerinsolvenzlichen Sanierung nach wie vor erforderlichen Gesellschafterentscheide über die Kapitalherabsetzung und -erhöhung werden im Insolvenzplanverfahren also durch entsprechende Planfestsetzungen ersetzt.16 Soweit die in den Plan aufgenommenen Beschlüsse nach den Vorgaben des Gesellschaftsrechts zu ihrer Wirksamkeit der Eintragung im Handelsregister bedürfen, hat daran freilich auch das ESUG nichts geändert. Die Gesellschafter sind damit auf ihre Teilhaberechte im Planverfahren angewiesen. Verfahrensrechtlich werden die Anteilseigner deshalb den Gläubigern gleichgestellt; sie bilden eine eigenständige Gruppe unter den am Verfahren Beteiligten (§ 222 Abs. 1 Nr. 4 InsO), wobei – ebenso wie bei den Gläubigern – unter den Voraussetzungen von § 222 Abs. 2 und 3 Satz 2 InsO auch mehrere Anteilseignergruppen gebildet werden können. Der Insolvenzplan ist angenom-

__________ 16 Die Begründung RegE ESUG, BT-Drucks. 17/5712, S. 32, formuliert, die Beschlüsse würden „im Insolvenzplan gefasst“.

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men, wenn in jeder der Gruppen von Beteiligten die erforderliche Mehrheit nach Maßgabe von § 244 InsO erzielt wird. Zur Vermeidung neuerlichen Blockadepotentials der Altgesellschafter wird das Obstruktionsverbot des § 245 InsO auf die Gruppe(n) der Anteilseigner erstreckt (§ 245 Abs. 1 und 3 InsO): Selbst wenn die erforderliche Mehrheit seitens dieser Gruppe(n) nicht erreicht wird, gilt – sofern die Mehrheit aller abstimmenden Beteiligtengruppen dem Plan mit den erforderlichen Mehrheiten zugestimmt hat (§ 245 Abs. 1 Nr. 3 InsO) – die Zustimmung auch der Anteilseignergruppe(n) unter bestimmten Voraussetzungen als erteilt. Die Zustimmung wird nämlich fingiert, wenn – die Anteilsinhaber durch den Insolvenzplan voraussichtlich nicht schlechter gestellt werden als sie ohne den Plan stünden (§ 245 Abs. 1 Nr. 1 InsO) – und wenn sie angemessen an dem wirtschaftlichen Wert beteiligt werden, der auf der Grundlage des Plans den Beteiligten zufließen soll (§ 245 Abs. 1 Nr. 2 InsO). Eine angemessene Beteiligung der Anteilsinhaber i. S. von § 245 Abs. 1 Nr. 2 InsO ist nach ausdrücklicher Klarstellung in § 245 Abs. 3 InsO gegeben, wenn nach dem Plan kein Gläubiger wirtschaftliche Werte erhält, die den vollen Betrag seines Anspruchs übersteigen, und kein Anteilsinhaber, der ohne einen Plan den Anteilsinhabern der Gruppe gleichgestellt wäre, nach dem Plan bessergestellt wird als diese.17 b) Ausschluss der Differenzhaftung Dem Risiko einer späteren Differenzhaftung der bisherigen Gläubiger aus einer Überbewertung der umgewandelten Forderungen begegnet der Gesetzgeber mit dem neuen § 254 Abs. 4 InsO: „Werden Forderungen von Gläubigern in Anteils- oder Mitgliedschaftsrechte am Schuldner umgewandelt, kann der Schuldner nach der gerichtlichen Bestätigung keine Ansprüche wegen einer Überbewertung der Forderungen im Plan gegen die bisherigen Gläubiger geltend machen.“

Der Ausschluss einer Nachschusspflicht nach den Grundsätzen der Differenzhaftung sei – so die Begründung zum RegE ESUG18 – notwendig, um Planungsund Kalkulationssicherheit für die umwandlungsbereiten Gläubiger zu erzielen. Durch den Haftungsausschluss sei sichergestellt, dass der Schuldner oder (in einer weiteren Insolvenz) dessen Insolvenzverwalter nicht geltend machen könne, die eingebrachte Forderung sei im Plan überbewertet gewesen. Zur Sanierung im Insolvenzplanverfahren bräuchten die Gläubiger Kalkulationssicherheit. Die bisherigen Anteilsinhaber hätten ebenso wie die übrigen Gläubiger als Beteiligte im Planverfahren die Möglichkeit, auf eine fehlerhafte Bewertung der Sacheinlage hinzuweisen und Rechtsmittel gegen den Plan einzulegen. Ein weiter gehender Schutz sei nicht erforderlich.

__________ 17 Dazu Begründung RegE ESUG, BT-Drucks. 17/5712, S. 34. 18 BT-Drucks. 17/5712, S. 52.

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4. Erste Wertungen Nach bisherigem Verständnis dient das System der präventiven Kapitalaufbringung freilich nicht allein dem Schutz der Gesellschafter und der aktuellen Gläubiger, sondern auch und nicht zuletzt dem der künftigen Gläubiger.19 Und nach bisheriger Überzeugung gelten die Grundsätze über die Kapitalaufbringung auch in der Liquidation.20 Aus der Perspektive des Gesellschaftsrechts ist der Ausschluss der Differenzhaftung denn auch zu Recht als „erstaunlich“ und „gewöhnungsbedürftig“ bewertet worden.21 Von anderer Seite wurde kritisch angemerkt, mit § 254 Abs. 4 InsO verzichte der Gesetzgeber auf die werthaltige Aufbringung des Stammkapitals, wenn sich die am Insolvenzplan Beteiligten nur einig seien; das ESUG arbeite mit einem fingierten Stammkapital und akzeptiere wirtschaftlich gesehen stammkapitallose Gesellschaften.22 Der Ausschluss der Differenzhaftung führe das System der effektiven Kapitalaufbringung ad absurdum.23 In welchem Maße der Gesetzgeber mit dem Ausschluss der Differenzhaftung in § 254 Abs. 4 InsO die bislang gültigen Kapitalaufbringungsregeln durchbricht, ist freilich noch nicht ausgemacht. Die Antwort hängt nicht zuletzt davon ab, mit welchem Wert die umgewandelte Forderung auf die Einlageschuld des Inferenten angerechnet werden darf. Erst soweit eine Anrechnung unterhalb des Nennbetrages geboten ist und eine erforderliche Abwertung ausbleibt, droht die Differenzhaftung. Dann allerdings stellen sich weitere Fragen. Insbesondere: Ist die Differenzhaftung ganz unabhängig davon ausgeschlossen, nach welcher Methode der tatsächlich zur Anrechnung gebrachte Forderungswert bestimmt worden ist? Ist die Werthaltigkeit der Forderung wenigstens einer präventiven Kontrolle im Insolvenzplanverfahren unterworfen, so dass auf diesem Wege „stammkapitallosen Gesellschaften im Rechtsverkehr“ begegnet werden kann?

III. Forderungsanrechnung zum Nennwert? Dass die Einbringung einer gegen die Gesellschaft gerichteten Forderung bei der Kapitalerhöhung Gegenstand einer Sacheinlage sein kann, steht längst außer Frage.24 Über den Wert, mit dem eine in Kapital umgewandelte Forderung auf die Einlageschuld anzurechnen ist, wurde indes schon vorzeiten engagiert gestritten. Diese Kontroverse ist aktuell neu entfacht.

__________ 19 20 21 22

S. nur BGHZ 110, 47, 57 unter Hinweis auf Lutter/Hommelhoff/Timm, BB 1980, 737. So ausdrücklich BGHZ 53, 71, 74. K. Schmidt, BB 2011, 1603, 1608. Römermann, GmbHR-Report 2011, 370 f.; ders., NJW 2012, 645, 651; s. auch die Vorbehalte des Bundesrates in seiner Stellungnahme zum RegE ESUG, BT-Drucks. 17/5712, S. 58, und dazu wiederum die Gegenäußerung der Bundesregierung, BTDrucks. 17/5712, S. 70. 23 Simon/Merkelbach, NZG 2012, 121, 124. 24 BGHZ 15, 52, 60; BGHZ 90, 370, 374; BGHZ 110, 47, 60 und 71; BGHZ 113, 335, 341.

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1. Bisheriger Meinungsstand Nach bislang ganz herrschender Meinung ist die eingebrachte Forderung nur mit dem Wert anrechenbar, zu dem sie durch das Gesellschaftsvermögen gedeckt ist (Vollwertigkeitsprinzip);25 nichts anderes ist auch gemeint, wenn auf den objektiven Wert der Forderung unter Berücksichtigung der Bonität der Gesellschaft verwiesen wird.26 Auch der BGH stellt für die Werthaltigkeit einer Forderung gegen die Gesellschaft auf die Gesamtheit der Gläubiger ab: Reiche das Vermögen der Gesellschaft nicht mehr aus, alle fälligen Ansprüche gegen sie zu erfüllen, so seien die einzelnen Forderungen in ihrem Wert gemindert. Sei die Gesellschaft überschuldet, fehle einer Forderung gegen sie offensichtlich die Vollwertigkeit.27 Demgegenüber hatten Teile des Schrifttums28 schon früher dafür plädiert, bei der Umwandlung von Forderungen in Kapital stets den Nennwert der Forderung anzurechnen. Die Debatte war nicht zuletzt im Blick auf die Umwandlung von Kreditforderungen im Kontext einer verdeckten Sacheinlage geführt worden. Weil sich die Umwandlung nur auf der Passivseite vollziehe und die korrespondierende Verbindlichkeit der Gesellschaft dort zum Nennwert anzusetzen sei, müsse – so wurde argumentiert – die Forderung auch zum Nennwert auf das neu geschaffene Eigenkapital angerechnet werden. Selbst die Anwendung der Sacheinlagevorschriften sei entbehrlich, weil gegenwärtige und künftige Gesellschafter durch die Forderungsumwandlung nicht beeinträchtigt würden. Denn die bisherigen Forderungsinhaber würden gerade aus dem Gläubigerkreis ausscheiden und damit ihren Vorrang gegenüber den Gesellschaftern verlieren. Der BGH ist dem in seiner IBH-Entscheidung bekanntlich nicht gefolgt:29 Der Gesellschafter könne eine Umwandlung seiner Darlehensforderung nur in einer Höhe verlangen, in der die Gesellschaft sie entsprechend ihrem Leistungsvermögen erfüllen könne; danach bemesse sich ihre Werthaltigkeit. Würden an den bisherigen Gläubiger trotz mangelnder Vollwertigkeit der Kreditforderung

__________ 25 S. schon Scholz, GmbHR 1957, 65, 66 f. und aus dem aktuellen Schrifttum etwa A. Arnold in KölnKomm. AktG, 3. Aufl. 2011, § 27 AktG Rz. 54 ff., 69; Hüffer, 10. Aufl. 2012, § 27 AktG Rz. 18; Lieder in MünchKomm. GmbHG, 2011, § 56 GmbHG Rz. 19; Peifer in MünchKomm. AktG, 3. Aufl. 2011, § 183 AktG Rz. 13; Pentz in MünchKomm. AktG, 3. Aufl. 2008, § 27 AktG Rz. 29; Redeker, BB 2007, 673, 675; Röhricht in Großkomm. AktG, 4. Aufl. 1996, § 27 AktG Rz. 81; K. Schmidt, ZGR 1982, 519, 521 f.; M. Schmidt/Schlitt, Der Konzern 2009, 279, 282; Ulmer in Großkomm. GmbHG, 2005, § 5 GmbHG Rz. 57; Vaupel/Reers, AG 2010, 93, 99; Wiedemann in Großkomm. AktG, 4. Aufl. 1995, § 183 AktG Rz. 40; Wittig, FS Uhlenbruck, 2000, S. 685, 702; vgl. auch schon Lutter/Hommelhoff/Timm, BB 1980, 737, 740. 26 So Lutter in Lutter/Hommelhoff, 17. Aufl. 2009, § 56 GmbHG Rz. 9; ähnlich etwa M. Arnold/F. Born in Bork/Schäfer, 2010, § 56 GmbHG Rz. 15; Lieder (Fn. 25), § 56 GmbHG Rz. 19; Roth (Fn. 15), § 56 GmbHG Rz. 3a. 27 BGHZ 90, 370, 373; BGHZ 125, 141, 145 f. 28 S. etwa Geßler, FS Möhring, 1975, S. 189 ff.; Hoffmann, BB 1992, 575 ff.; Meilicke, Die „verschleierte“ Sacheinlage, 1989, S. 23 ff.; ders., DB 1989, 1067 ff. und 1119 ff. 29 BGHZ 110, 47, 60 ff.

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neue Gesellschaftsanteile zum Forderungsnennwert ausgegeben, würden die Altgesellschafter um den über die Werthaltigkeit hinausgehenden Betrag benachteiligt. Auch die Anwendung der Sacheinlagevorschriften sei keineswegs entbehrlich. Zwar würden gegenwärtige Gläubiger keinen Nachteil erleiden, potentielle Gläubiger durch die unzutreffende Verlautbarung einer Bareinlage jedoch in ihrer Erwartung enttäuscht, der Gesellschaft würde neues Kapital zugeführt.30 2. Aktuelle Debatte Es kann nicht überraschen, dass die überkommene Kontroverse um die „Nennwertanrechung“ – heute allerdings beschränkt auf die Forderungsumwandlung im Zuge einer offenen Sachkapitalerhöhung31 – aktuell neu entflammt ist. Denn wäre die Nennwertanrechnung bei einem Debt-Equity-Swap im Insolvenzplanverfahren zulässig, vom Insolvenzgericht wie vom Registergericht mithin nicht zu beanstanden, würde das die Attraktivität entsprechender Sanierungsstrategien erheblich erhöhen – zumindest aus der Sicht nicht oder nicht ausreichend gesicherter Gläubiger respektive solcher Investoren, die deren notleidende Forderungen (mit erheblichen Abschlägen vom Nennwert) aufzukaufen pflegen. a) These von der Nennwertanrechnung Freilich formulieren die aktuellen Verfechter der Nennwertanrechnung ihre Thesen für den außerinsolvenzlichen Debt-Equity-Swap ebenso wie für den im Insolvenzplanverfahren. Insbesondere Cahn/Simon/Theiselmann haben sich in diesem Sinne dafür ausgesprochen, bei der Einbringung von Forderungen gegen die Gesellschaft die Anwendung der Sacheinlagebestimmungen im Wege teleologischer Reduktion auf die Publizitätsregeln zu beschränken.32 Das Erfordernis einer Bewertung und ggf. Abwertung der Forderung sei – so wird argumentiert – weder im Gläubiger- noch im Gesellschafterinteresse geboten. Für den Bewertungsmaßstab müssten die bilanziellen Auswirkungen der Einlageleistung bei der Gesellschaft maßgeblich sein, auf deren Perspektive es allein ankomme.33 Diese habe ihre Verbindlichkeiten zwingend zum Nenn-

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30 BGHZ 110, 47, 62. 31 In den Fällen der verdeckten Sacheinlage räumen auch die „Nennwertanrechner“ die Notwendigkeit einer Vollwertigkeitskontrolle ein; s. Cahn/Simon/Theiselmann, CFL 2010, 238, 248 im Anschluss an Karollus, ZIP 1994, 589, 597; Maier-Reimer in Gesellschaftsrechtliche Vereinigung (Hrsg.), Gesellschaftsrecht in der Diskussion 2011, 2012, S. 107, 133. 32 Cahn/Simon/Theiselmann, CFL 2010, 238, 242 ff.; ihnen folgend Eidenmüller in Stärkung des Anlegerschutzes. Neuer Rechtsrahmen für Sanierungen: Bankrechtstag 2011, Schriftenreihe der Bankrechtlichen Vereinigung, Bd. 33, 2012, S. 129, 149; Inhester/Diers in Handkomm. GmbHG, 2011, § 56 GmbHG Rz. 9; im Ergebnis auch Spliedt, GmbHR 2012, 462, 464; kritisch hingegen Ekkenga, DB 2012, 331 ff.; Priester, DB 2010, 1445 ff.; ferner Schleusener, Der Debt-Equity-Swap, 2012, S. 51 ff. 33 Cahn/Simon/Theiselmann, CFL 2010, 238, 243; übereinstimmend Maier-Reimer (Fn. 31), S. 107, 124.

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betrag zu passivieren und werde infolge der Einbringung der korrespondierenden Forderungen in Höhe dieses Betrages entlastet. Da der bisherige Forderungsinhaber aus dem Wettbewerb der Gläubiger um das Vermögen der Gesellschaft ausscheide, sei der Debt-Equity-Swap für die verbleibenden Gläubiger nur vorteilhaft: Ihre Befriedigungsaussichten würden steigen.34 Und weil sich die Einbringung der Forderung bilanziell als bloßer Passivtausch darstelle, drohe bei einer Bewertung zum Nennwert auch keine Aufblähung der Bilanz unter Vortäuschung tatsächlich nicht vorhandenen Eigenkapitals.35 Hingegen würde ein Festhalten am Vollwertigkeitserfordernis in seinen Folgen dem Anliegen des Gläubigerschutzes geradezu widersprechen, weil der nicht werthaltige Teil der Forderung als Ertrag zu erfassen sei und das Ausschüttungsvolumen erhöhe.36 Auch das Interesse der Gesellschafter an einem Schutz vor Verwässerung ihrer Beteiligungen würde durch die Nennwertanrechnung nicht beeinträchtigt: Wo der tatsächliche Wert der Forderungen unter den Nennwert gesunken sei, hätten die Anteile der Altgesellschafter ihren Wert verloren; das Eigenkapital sei in diesem Fall vollständig aufgezehrt.37 Aktuelle und künftige Gläubiger (einschließlich potentieller Gesellschafter) müssten allein vor dem möglichen Trugschluss geschützt werden, der vormalige Forderungsinhaber und neue Gesellschafter habe im Zuge der Kapitalerhöhung zusätzliche Mittel in die Gesellschaft investiert, die Gesellschaft zusätzliche Vermögenswerte erhalten. Deshalb sei zwar der Gegenstand der Sacheinlage offen zu legen; einer Werthaltigkeitskontrolle bedürfe es indes nicht.38 b) Kritik Die Verfechter der Nennwertthese räumen zutreffend ein, dass aktuelle und künftige Gläubiger (einschließlich potentieller Gesellschafter) jedenfalls vor dem möglichen Trugschluss geschützt werden müssten, der vormalige Forderungsinhaber und Neugesellschafter habe im Zuge der Kapitalerhöhung zusätzliche Mittel in die Gesellschaft investiert, die Gesellschaft habe von ihm zusätzliche Vermögenswerte erhalten.39 Nicht zu überzeugen vermag indes die damit verbundene Schlussfolgerung, schon die Offenlegung des Einlagegegenstandes trage den Gläubiger- und Gesellschafterinteressen ausreichend Rechnung, so dass es einer Werthaltigkeitskontrolle der eingelegten Forderung nicht bedürfe.40 Bei einem Debt-Equity-Swap ist Gegenstand der Sacheinlage die Forderung des Sacheinlagers gegen die Gesellschaft.41 Zu deren Gunsten begibt sich der bis-

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Cahn/Simon/Theiselmann, CFL 2010, 238, 244. Ebenso schon Geßler (Fn. 28), S. 173, 181 f. Cahn/Simon/Theiselmann, CFL 2010, 238, 245. Cahn/Simon/Theiselmann, CFL 2010, 238, 246; dies., DB 2010, 1629, 1632. Cahn/Simon/Theiselmann, CFL 2010, 238, 247; Maier-Reimer (Fn. 31), S. 107, 131 ff. Cahn/Simon/Theiselmann, CFL 2010, 238, 247; Maier-Reimer (Fn. 31), S. 107, 131 f. Berechtigte Kritik schon bei Priester, DB 2010, 1445, 1449. BGHZ 110, 47, 60; BGHZ 125, 141, 150.

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herige Forderungsinhaber seines Anspruchs, wodurch jener erlischt;42 die Forderungseinbringung führt also zur Befreiung der Gesellschaft von der korrespondierenden Verbindlichkeit. Nur aus dieser Schuldbefreiung erklärt sich im Übrigen die Sacheinlagefähigkeit einer Forderung gegen die Gesellschaft. Denn mit der Forderungsabtretung an diese (oder in der Folge des vom Gläubiger erklärten Forderungsverzichts) wird der Gesellschaft – anders als im typischen Fall der Kapitalerhöhung – kein neuer Vermögensgegenstand zugeführt, der aktiviert werden könnte. Aber die Schuldbefreiung der Gesellschaft wird – sub specie Kapitalaufbringung – der Zufuhr von Vermögensgegenständen gleichgestellt: Weil Vermögensgegenstände (Aktiva) zur Deckung anderer Verbindlichkeiten frei werden, die bislang durch die nämliche Schuld (Passivum) „neutralisiert“ wurden.43 Allein dies rechtfertigt, dass der Einlageschuldner (und vormalige Forderungsinhaber) als Gegenleistung für die Forderungsübertragung (bzw. den Forderungsverzicht) Gesellschaftsanteile erhält. Denn der Erwerb neuer, durch effektive Kapitalerhöhung geschaffener Gesellschaftsanteile ist nach dem Konstruktionsplan unseres Kapitalaufbringungsrechts an eine Gegenleistung des Inferenten geknüpft. Dieser muss dem Gesellschaftsvermögen (dem Haftungs- und Betriebsmittelfonds) entweder zusätzliche Vermögensgegenstände zuführen oder – als eine dem gleichgestellte Leistung – das Schuldendeckungspotential des unveränderten Aktivvermögens erhöhen, indem er die Gesellschaft von Verbindlichkeiten befreit und dadurch Aktiva freisetzt. So wie im typischen Fall der Sachkapitalerhöhung der Wert eines als Sacheinlage zugeführten Vermögensgegenstandes den dafür gewährten Gesellschaftsanteilen entsprechen muss, so muss bei der Umwandlung von Forderungen in Gesellschaftsanteile der Wert der freigesetzten Aktiva den im Gegenzug gewährten Anteilen entsprechen. Auch hier bedarf es deshalb – zusätzlich zur Offenlegung des Sacheinlagegegenstandes – einer präventiven Werthaltigkeitskontrolle, weil ein Debt-Equity-Swap eben nicht per se zur Freigabe von Aktiva in Höhe des Nennbetrags der Forderung führt. Wo das Vermögen die bestehenden Verbindlichkeiten nicht mehr deckt, das Schuldnerunternehmen also rechnerisch überschuldet ist, wird mit dem Wegfall der nämlichen Verbindlichkeit gerade kein Aktivvermögen in Höhe des Nennbetrages der weggefallenen Schuld freigesetzt. Zur Deckung anderer – bestehender oder künftiger – Verbindlichkeiten wird vielmehr nur der Anteil am noch vorhandenen Gesamtvermögen frei, der der ehemaligen Verbindlichkeit wirtschaftlich zugeordnet war und zu deren Ausgleich hätte herangezogen werden können. Nur in diesem Umfang ist die korrespondierende Forderung werthaltig, nur zu diesem Betrag kann sie in Gesellschaftsanteile umgetauscht werden. Würde die Gesellschaft trotz mangelnder Vollwertigkeit der Forderung Gesellschaftsanteile in Höhe des Forderungsnennbetrags an den vormaligen Forde-

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42 S. zur rechtstechnischen Ausgestaltung schon oben im Text bei Fn. 7. 43 Grundlegend Lutter, Kapital, Sicherung der Kapitalaufbringung und Kapitalerhaltung in den Aktien- und GmbH-Rechten der EWG, 1964, S. 234; ebenso etwa Ekkenga, ZGR 2009, 581, 593 ff.; ders., DB 2012, 331, 334; Henze, ZHR 154 (1990), 105, 121; Lieder (Fn. 25), § 56 GmbHG Rz. 19; Priester in Scholz, 10. Aufl. 2010, § 56 GmbHG Rz. 13; ders., DB 2010, 1445, 1447; Redeker, BB 2007, 673, 674.

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rungsinhaber ausreichen, ohne dass jener – im Wege der Differenzhaftung – den Fehlbetrag in Geld auszugleichen hätte, würde er mehr erhalten als ihm nach den Regeln des Kapitalaufbringungsrechts zusteht. Neue Gesellschaftsanteile hat er sich nur in dem Umfang verdient, in dem durch die Aufgabe seiner Forderung das Schuldendeckungspotential des Aktivvermögens vergrößert wird. Ließe man ihn gleichwohl in Höhe des Nennbetrages der Forderung an der Kapitalerhöhung teilhaben, würden künftige Gläubiger über den tatsächlichen (geringeren) Erfolg der Kapitalmaßnahme getäuscht. Zudem wäre das Eigenkapital zwischen Alt- und Neugesellschaftern disproportional verteilt.44 Denn erstere hätten die Entwertung ihrer Anteile, im Falle einer Kapitalherabsetzung auf Null gar deren völligen Verlust hinzunehmen und könnten ihrerseits neue Anteile (wenn überhaupt) nur gegen werthaltige Eigenbeiträge im Rahmen einer Kapitalerhöhung erwerben. Letztere indes könnten durch Aufgabe ihrer Gläubigerposition Anteile zum Nennbetrag ihrer bisherigen Forderungen erwerben, obwohl diese aufgrund der eingetretenen Verluste gleichfalls eine partielle Entwertung erlitten hatten. Auch dies ist mit den Regeln des geltenden Kapitalaufbringungsrechts nicht in Einklang zu bringen.45 – Die These von der Nennwertanrechnung kann deshalb nicht überzeugen. 3. Standpunkt des ESUG Auch nach dem Inkrafttreten des ESUG ist eine Kurskorrektur zugunsten der Nennwertanrechnung nicht gerechtfertigt. Wenn demgegenüber geltend gemacht wird, die allgemeinen Grundsätze der Kapitalaufbringung würden für die Forderungsumwandlung in der Insolvenz nicht gelten,46 so kann der Gesetzgeber des ESUG für eine solche These ebenso wenig in Anspruch genommen werden wie für die Zulässigkeit der Nennwertanrechnung. Die mit dem ESUG novellierten Vorschriften der InsO treffen zwar keine ausdrückliche Bestimmung zum anrechenbaren Wert einer in Gesellschaftsanteile umgewandelten Forderung. Es lässt sich gleichwohl nicht ernsthaft bezweifeln, dass der Gesetzgeber auch für den insolvenzrechtlichen Debt-Equity-Swap an der Geltung des Vollwertigkeitsprinzips hat festhalten und nicht etwa die Nennwertanrechnung hat zulassen wollen.47 Andernfalls wäre schon die Regelung zum Ausschluss der Differenzhaftung in § 254 Abs. 4 InsO nicht zu erklären. Denn sie knüpft ersichtlich an ein entsprechendes Haftungsrisiko aus der Überbewertung der eingebrachten Forderung gegen die Gesellschaft an. Hätte der Gesetzgeber demgegenüber das Vollwertigkeitsgebot aufgeben wollen, hätte es ungleich näher gelegen, sogleich und explizit die Nennwertanrechnung zuzulassen.

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Ähnlich Priester, DB 2010, 1445, 1450. Zutreffend Priester, DB 2010, 1445, 1449 f. In diesem Sinne Maier-Reimer (Fn. 31), S. 107, 115. Zutreffend schon Hirte/Knof/Mock, DB 2011, 632, 642; Simon, CFL 2010, 448, 452; Simon/Merkelbach, NZG 2012, 121, 123 f.

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Auch die Begründung zum RegE ESUG hat für das Konzept der Nennwertanrechnung keine Sympathie. So heißt es in den Erläuterungen der neuen Vorschrift zum Debt-Equity-Swap (§ 225a Abs. 2 InsO): „Es ist im Plan insbesondere anzugeben, welche Kapitalmaßnahmen durchgeführt werden sollen, mit welchem Wert ein Anspruch anzusetzen ist und wem das Bezugsrecht zustehen soll. Zur Frage der Werthaltigkeit des Anspruchs sind ggf. Gutachten einzuholen. Die Werthaltigkeit der Forderung wird aufgrund der Insolvenz des Schuldners regelmäßig reduziert sein und der Wert wird nicht dem buchmäßigen Nennwert entsprechen, sondern deutlich darunter liegen. Hierbei kann auch die Quotenerwartung berücksichtigt werden. Der Insolvenzplan hat eine entsprechende Wertberichtigung vorzunehmen.“48

Der in § 254 Abs. 4 InsO gleichwohl angeordnete Ausschluss der Differenzhaftung wird damit begründet, dass die Gläubiger Kalkulationssicherheit bräuchten. Es solle sichergestellt werden, dass der Schuldner oder – in einer weiteren Insolvenz – dessen Insolvenzverwalter später nicht geltend machen könnten, die eingebrachte Forderung sei im Plan überbewertet gewesen. Und weiter heißt es: „Der Insolvenzverwalter wird einer möglichen Haftung nach § 60 InsO wegen einer Falschbewertung von Ansprüchen dadurch begegnen können, dass er nach Maßgabe des einschlägigen Gesellschaftsrechts Sachverständigengutachten über den Wert der Ansprüche einholt. Liegt ein solches Gutachten über die Forderung vor, wird in der Regel ein schuldhaftes Verhalten des Verwalters ausscheiden.“49

Mit anderen Worten: Von der Notwendigkeit, die eingebrachte Forderung nur mit ihrem wirklichen, den Nennwert typischerweise deutlich unterschreitenden Wert im Insolvenzplan anzusetzen, geht auch das neue Recht ersichtlich aus. Allein das Risiko einer Differenzhaftung aus der Überbewertung seiner Sacheinlage hat der Gesetzgeber dem Inferenten und bisherigen Gläubiger (sowie den ggf. subsidiär haftenden Mitgesellschaftern50) nehmen wollen. Für die Bewertung der umzuwandelnden Forderung im Rahmen eines insolvenzrechtlichen Debt-Equity-Swap hält aber auch das ESUG am Vollwertigkeitsprinzip fest.

IV. Ermittlung des Forderungswerts Gleichwohl wird selbst unter dieser Prämisse darüber gestritten, welche Maßstäbe bei der Bewertung (Abwertung) der eingebrachten Forderung anzulegen sind: Ist die Forderungsbewertung mit der voraussichtlichen Insolvenzquote bei angenommener Zerschlagung vorzunehmen? Oder ist ein hypothetischer Zukunftswert anzusetzen, den die Forderung nach erfolgreicher Sanierung und Fortführung des Schuldnerunternehmens (wieder) hätte? Anregungen im Gesetzgebungsverfahren, insoweit im Gesetzestext oder zumindest in den Gesetzesmaterialien für Klarheit zu sorgen, um einen sonst drohenden Zustand der

__________ 48 Begründung RegE ESUG, BT-Drucks. 17/5712, S. 31 f. 49 Begründung RegE ESUG, BT-Drucks. 17/5712, S. 36. 50 S. für die GmbH BGHZ 132, 141, 152.

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Rechtsunsicherheit zu vermeiden,51 hat der Gesetzgeber jedenfalls nicht aufgegriffen. 1. Maßgeblichkeit der Deckungsquote Wie eine zukunftsbezogene Bewertung überhaupt regelgerecht zu bewerkstelligen wäre, ist freilich ebenso unklar:52 Müsste lediglich die Schuldendeckungsquote des noch vorhandenen Aktivvermögens nach Fortführungswerten statt nach Zerschlagungswerten ermittelt werden? Oder wären Zahlungsströme zu unterstellen, die es unter der Annahme verwirklichter Sanierungsmaßnahmen zu prognostizieren gälte,53 so dass man für die Forderungsbewertung ganz generell eine erfolgreiche Sanierung unter dauerhafter Beseitigung von Überschuldung und Zahlungsunfähigkeit zu unterstellen hätte? Zumindest Letzteres liefe im Ergebnis auf eine Bewertung zum Nennwert hinaus,54 was der ESUGGesetzgeber – wie soeben gezeigt – gerade nicht befürwortet hat. Hält man indes – wie auch hier verfochten – am Vollwertigkeitsprinzip fest, dann ist es nur folgerichtig, den Forderungswert nach der für Forderungen desselben Rangs zu erwartenden Deckungsquote im Liquidationsszenario des (laufenden) Insolvenzverfahrens zu bemessen.55 Entscheidend ist die Quote, die sich im Verfahren voraussichtlich erzielen ließe,56 mit der die Forderung also als Insolvenzforderung zu bedienen wäre, wenn sie nicht in Eigenkapital überführt würde.57 Denn maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der Werthaltigkeit einer als Sacheinlage eingebrachten Forderung ist der Zeitpunkt der Anmeldung der Sachkapitalerhöhung zur Eintragung im Handelsregister.58 Für die Forderungsbewertung stattdessen auf eine zukunftsbezogene Betrachtung nach erfolgreicher Sanierung abstellen zu wollen, überzeugt nicht. Denn die erfolgreiche Sanierung soll gerade erst durch den Wegfall der korrespondierenden Verbindlichkeiten – sowie typischerweise durch begleitende Sanierungsmaßnahmen – realisiert werden. Deshalb kann auch nicht geltend gemacht

__________ 51 IDW-Stellungnahme zum RegE ESUG v. 1.6.2011, Ziff. 5.2. 52 Wenig hilfreich Schleusener (Fn. 32), S. 48: Bei der Ermittlung des Forderungswerts im Rahmen eines Debt-Equity-Swap im Insolvenzplanverfahren sei „die Unternehmenszukunft zu berücksichtigen“. 53 In diesem Sinne Weber/Schneider, ZInsO 2012, 374, 379. 54 So in der Tat Maier-Reimer (Fn. 31), S. 107, 125 ff.; tendenziell ebenso Horstkotte/ Martini, ZInsO 2012, 557, 563 Fn. 47, die im Übrigen in ihrer Fallstudie auf eine eingebrachte Forderung mit Nennwert 10 Mio. Euro einen – nicht weiter abgeleiteten – Bewertungsabschlag von lediglich 30 % vornehmen wollen, obwohl für die übrigen Gläubiger nur eine Quote von 5 % angenommen wird. 55 Ebenso etwa Ekkenga, ZGR 2009, 581, 599; ders., DB 2012, 331, 336; Budde, ZInsO 2010, 2251, 2269. 56 Fuhst, DStR 2012, 418, 423; Pleister/Kindler, ZIP 2010, 503, 507; Simon, CFL 2010, 448, 451 f. 57 IDW-Stellungnahme zum DiskE ESUG v. 29.10.2010, Ziff. 4.4. 58 BGHZ 132, 141, 155; Bayer in Lutter/Hommelhoff, 17. Aufl. 2009, § 9 GmbHG Rz. 5; Bayer in K. Schmidt/Lutter, 2. Aufl. 2010, § 27 AktG Rz. 21; Veil in K. Schmidt/ Lutter, 2. Aufl. 2010, § 183 AktG Rz. 8; anders Peifer (Fn. 25), § 183 AktG Rz. 42, der auf den früheren Zeitpunkt des Kapitalerhöhungsbeschlusses abstellen will.

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werden, die erfolgreiche Sanierung führe zur Vollwertigkeit der verbleibenden Gläubigerforderungen gegen die Gesellschaft und im Verhältnis zu jenen verbleibenden Gläubigern würden die bisherigen Gläubiger diskriminiert, wenn deren Forderungen bei der Umwandlung nur mit einem Teil des Nennbetrages bewertet würden.59 Wenn verbleibende Forderungen nach Verwirklichung der Sanierungsmaßnahmen vollwertig werden, kann daraus nicht abgeleitet werden, dass (umzuwandelnde) Forderungen vor der Verwirklichung jener Maßnahmen zum Nennwert zu bewerten sind. Weil Letztere zum Zeitpunkt ihrer Einbringung nicht vollwertig waren, geht mit ihrer (folgerichtigen) Abwertung keine sachwidrige Ungleichbehandlung gegenüber später vollwertig werdenden Drittforderungen einher. In der Umwandlung der Forderungen in Gesellschaftsanteile liegt erst die (oder jedenfalls eine der) Sanierungsmaßnahme(n) zur Verwirklichung des Sanierungserfolgs, der für die Bewertung der eingebrachten Forderungen nicht bereits als eingetreten angenommen werden darf.60 Die nämlichen Forderungen können vielmehr nur zu dem Wert Anrechnung finden, zu dem sie sich aktuell – im Moment der Anmeldung zur Handelsregistereintragung – realisieren ließen. Dies bedeutet im Übrigen keineswegs, dass zur Bewertung von Sacheinlagen eine Prognose per se unzulässig wäre und deshalb Sachgesamtheiten – wie Unternehmen – einer Bewertung gar nicht zugänglich sein würden.61 Selbstverständlich sind etwa Handelsgeschäfte, wenn sie als Sacheinlage eingebracht werden, mit ihrem Ertragswert in Ansatz zu bringen. Eine Forderung gegen die Gesellschaft, die im Zuge der Einbringung (sei es durch Abtretung oder durch Verzicht) erlischt, ist damit aber nicht zu vergleichen. Sie darf allein mit dem Wert angerechnet werden, den sie im Moment der Einbringung hat. Und das entspricht der Quote, zu der sie im Insolvenzverfahren noch hätte bedient werden können, wenn es nicht zur Umwandlung in Eigenkapital gekommen wäre. Entscheidend ist also die aktuelle Leistungsfähigkeit der insolventen Gesellschaft, nicht etwa ihre erhoffte Leistungsfähigkeit nach möglicherweise erfolgreicher Sanierung in der Zukunft.62 2. Standpunkt des ESUG Der Gesetzgeber des ESUG hat sich jedenfalls nicht explizit zu der Frage positioniert, ob der Forderungsbewertung das Szenario der Zerschlagungsinsolvenz oder das der Fortführung zugrunde zu legen ist. Der Hinweis in der Begründung des Regierungsentwurfs ESUG, bei der Forderungsbewertung könne

__________ 59 So aber die Argumentation von Maier-Reimer (Fn. 31), S. 107, 127. 60 Gleichsinnig Simon, CFL 2010, 448, 452: „Die Annahme von Fortführungswerten setzt die Umsetzung eines Sanierungskonzepts gerade voraus, dessen Teilakt der Debt Equity Swap selbst ist.“ 61 Mit diesem Einwand wenden sich aber Weber/Schneider, ZInsO 2012, 374, 378, dagegen, die in Gesellschaftsanteile umzuwandelnden Forderungen gegen eine insolvente Gesellschaft nach der Deckungsquote zum Zeitpunkt der Antragstellung auf Handelsregistereintragung zu bewerten. 62 Auch insoweit a. A. Weber/Schneider, ZInsO 2012, 374, 379.

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„auch die Quotenerwartung berücksichtigt werden“,63 bringt weder eine eindeutige Festlegung in die eine noch in die andere Richtung zum Ausdruck.64 Möglicherweise lassen die Neuregelungen des ESUG aber mittelbar Rückschlüsse auf den Standpunkt des Gesetzgebers zur Bewertung der umzuwandelnden Forderungen zu. a) Ausschluss der Differenzhaftung So ist geltend gemacht worden, aus dem Ausschluss der Differenzhaftung in § 254 Abs. 4 InsO sei die Schlussfolgerung auf ein zukunftsbezogenes Bewertungskonzept des Gesetzes zu ziehen:65 Der Gesetzgeber gehe ersichtlich davon aus, dass die eingebrachte Forderung – mit Hilfe eines entsprechenden Gutachtens – auf der Basis angenommener Zahlungsmittelzuflüsse unter Berücksichtigung künftiger Sanierungsmaßnahmen zu bewerten sei. Andernfalls hätte es eines Ausschlusses der Differenzhaftung für den Fall, dass es später doch zum Scheitern der Sanierung komme, nicht bedurft. Solchen Überlegungen ist allein zuzugestehen, dass unter der Prämisse zukunftsbezogener Forderungsbewertung der Ausschluss des Risikos späterer Differenzhaftung in besonderem Maße Not täte, wenn man den (bisherigen) Gläubigern – wie es in der Begründung des RegE zu § 254 Abs. 4 InsO heißt66 – „Kalkulationssicherheit“ geben will: Weil die zukunftsbezogene Forderungsbewertung – wollte man nicht sogleich auf den Nennwert abstellen – ausgesprochen spekulativ wäre, könnte selbst ein Wertgutachten eine valide Wertfindung allenfalls vortäuschen, nicht aber gewährleisten.67 Dass der ESUGGesetzgeber ein solches Bewertungskonzept für den insolvenzrechtlichen DebtEquity-Swap hat einführen wollen, lässt sich aus § 254 Abs. 4 InsO nicht ableiten. Das Risiko von Fehlbewertungen mit daraus resultierender Differenzhaftung, dem § 254 Abs. 4 InsO begegnen soll, besteht allemal auch dann, wenn die umzuwandelnde Forderung nach der voraussichtlichen Insolvenzquote bei angenommener Zerschlagung zu bewerten ist. Eine gutachtliche Wertfeststellung erübrigt sich dann nicht. Denn zu prognostizieren ist die voraussichtliche Deckungsquote, also der anteilige Liquidationserlös in einer angenommenen Zerschlagungsinsolvenz, die mit dem Debt-Equity-Swap und weiteren im Insolvenzplan vereinbarten Sanierungsmaßnahmen aber gerade abgewendet werden soll. Weil es für die Forderungsbewertung darauf ankommt, ob und in welchem Maße die Schulden der Gesellschaft durch ihr Vermögen gedeckt sind, folgt die

__________ 63 Begründung RegE ESUG, BT-Drucks. 17/5712, S. 32 oben (Hervorhebung hinzugefügt). 64 Andere Einschätzung bei Hirte/Knof/Mock, DB 2011, 632, 642: Hinweis auf die Quotenerwartung deute auf Bewertung nach Zerschlagungswerten hin; ebenso Simon/Merkelbach, NZG 2012, 121, 124. 65 Weber/Schneider, ZInsO 2012, 374, 379. 66 Begründung RegE ESUG, BT-Drucks. 17/5712, S. 36. 67 Vgl. auch Römermann, NJW 2012, 645, 651; Simon, CFL 2010, 448, 452, 456.

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Bewertung im Übrigen nicht ausschließlich handelsbilanziellen Maßstäben.68 Vielmehr sind stille Reserven zu berücksichtigen, da sie – im Falle der Verwertung der entsprechenden Vermögensgegenstände – zur Schuldendeckung realisiert werden können.69 Was in der Insolvenz verwertbar ist, fließt in die Ermittlung der Deckungsquote ein. Ein (noch vorhandener) Geschäfts- oder Firmenwert der Gesellschaft deshalb auch nur dann, wenn konkrete Anhaltspunkte dafür bestehen, dass in der Liquidation (d. h. ohne die beabsichtigte Sanierung) wenigstens ein Teil des Geschäftsbetriebs zusammen mit der Firma veräußert und ein Entgelt dafür bezahlt würde. Dass auch das Konzept des ESUG-Gesetzgebers auf eine Forderungsbewertung nach der zu erwartenden Quote am Liquidationserlös abstellt, erschließt sich, wenn man den Blick nicht nur auf die (ehemaligen) Gläubiger (und künftigen Anteilsinhaber) richtet, sondern auch die Rechtstellung der bisherigen Anteilsinhaber in die Betrachtung einbezieht. b) Rechtstellung der Altgesellschafter Schon während des Gesetzgebungsverfahrens war zu Recht darauf hingewiesen worden, eine etwaige Bewertung auf der Basis des prognostischen Sanierungserfolgs müsse jedenfalls nicht allein für die Festsetzung der neu geschaffenen Gesellschaftsanteile der vormaligen Forderungsinhaber, sondern ebenso für den Wertansatz der Anteile der Altgesellschafter gelten.70 In der Tat käme es andernfalls zu einer disproportionalen Kapitalverteilung zu Lasten der bisherigen Gesellschafter, die (auf den aktuellen Vermögenswert ihrer Beteiligung verwiesen) eine erhebliche Verwässerung und – im Falle einer Kapitalherabsetzung auf Null – den völligen Verlust ihrer Anteilsrechte hinnehmen müssten, während die ehemaligen Gläubiger und jetzigen Neugesellschafter nach Maßgabe von Zukunftswerten in den Genuss der neuen Mitgliedschaftsrechte kämen. Die Ausgestaltung der Verfahrens- und Entschädigungsrechte der Altgesellschafter nach dem ESUG zeigt aber gerade, dass der Gesetzgeber für die Bewertung der Altanteile auf Liquidationswerte hat abstellen wollen.71 So ist nach § 251 Abs. 1 InsO die Bestätigung des Insolvenzplans auf Antrag eines Anteilsinhabers zu versagen, wenn – der Antragsteller dem Plan spätestens im Abstimmungstermin widersprochen hat – und er durch den Plan voraussichtlich schlechter gestellt wird, als er ohne einen Plan stünde. Nach § 251 Abs. 3 InsO ist der Antrag abzuweisen, wenn im gestaltenden Teil des Plans Mittel für den Fall bereit gestellt werden, dass ein Beteiligter eine

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68 So aber Ekkenga, ZGR 2009, 581, 600 f.; ders., DB 2012, 331, 336. 69 BGHZ 125, 141, 146; Priester (Fn. 43), § 56 GmbHG Rz. 13; ders., DB 2010, 1445, 1447 f.; ebenso etwa Lieder (Fn. 25), § 56 GmbHG Rz. 19 m. w. N. 70 Meyer/Degener, BB 2011, 846, 849. 71 Übereinstimmend schon Hirte/Knof/Mock, DB 2011, 632, 641; Simon, CFL 2010, 448, 456; Simon/Merkelbach, NZG 2012, 121, 124 m. w. N.

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Schlechterstellung nachweist. Der Anspruch auf Ausgleich aus diesen Mitteln ist dann außerhalb des Insolvenzverfahrens – durch entsprechende Leistungsklage72 – zu klären. Die Ausgestaltung des gesetzlichen Minderheitenschutzes in § 251 InsO gründet auf der Prämisse, dass die Werthaltigkeit der Altanteile nach dem Liquidationsszenario zu beurteilen ist und nicht etwa Zukunftswerte im Falle einer erfolgreichen Sanierung zugrunde zu legen sind. Dementsprechend führt die Begründung zum RegE ESUG mit Blick auf die nach § 251 Abs. 3 InsO ggf. bereit zu stellenden Kompensationsmittel aus: „Allerdings ist im Insolvenzverfahren regelmäßig von einer Wertlosigkeit der Anteile auszugehen. In diesem Fall ist auch eine Entschädigung nicht erforderlich.“73

Und an späterer Stelle heißt es zur näheren Erläuterung von § 251 Abs. 1 und 2 InsO: „Die Neufassung … dient der Anpassung an die neue Rechtslage, die es ermöglicht, die Rechte der Anteilsinhaber in den Insolvenzplan einzubeziehen. Der Minderheitenschutz, der bisher nur für die Gläubiger gilt, wird auf die Anteilseigner erstreckt. Hierdurch wird sichergestellt, dass die Anteilsinhaber den Liquidationswert ihrer Rechtsstellung nicht verlieren und durch den Plan nicht schlechter gestellt werden, als bei einer Abwicklung des Rechtsträgers …“74

Dass für die Bewertung der Altanteile allein Liquidationswerte maßgeblich sein sollen, kommt auch in der Ausgestaltung der Rechtsmittel gegen die gerichtliche Bestätigung des Plans zum Ausdruck: Die Zulässigkeit der dagegen in § 253 Abs. 1 InsO gewährten sofortigen Beschwerde (des Schuldners selbst, der Gläubiger oder der Anteilsinhaber) setzt nach § 253 Abs. 2 Nr. 3 InsO voraus, dass der Beschwerdeführer glaubhaft macht, – durch den Plan wesentlich schlechter gestellt zu werden, als er ohne einen Plan stünde, – und dass dieser Nachteil nicht durch eine Ausgleichszahlung aus den Mitteln des § 251 Abs. 3 InsO ausgeglichen werden kann. Bei der so eingeführten Erheblichkeitsschwelle (wesentliche Schlechterstellung) für die Zulässigkeit der sofortigen Beschwerde ist der Gesetzgeber wiederum vom Zerschlagungsszenario ausgegangen: „Eine wesentliche Schlechterstellung in diesem Sinne wird jedenfalls dann nicht angenommen werden können, wenn die Abweichung von dem Wert, den der Gläubiger voraussichtlich bei einer Verwertung ohne Insolvenzplan erhalten hätte, unter zehn Prozent liegt.“75

Und auf Initiative des BT-Rechtsausschusses hat die Maßgeblichkeit jener Liquidationsbewertung schließlich auch im Gesetzestext Niederschlag gefunden: In § 225a Abs. 5 InsO wird dem Umstand Rechnung getragen, dass die

__________

72 S. dazu Begründung RegE ESUG, BT-Drucks. 17/5712, S. 35; Braun/Heinrich, NZI 2011, 505, 509. 73 Begründung RegE ESUG, BT-Drucks. 17/5712, S. 32. 74 Begründung RegE ESUG, BT-Drucks. 17/5712, S. 34 f. (Hervorhebung hinzugefügt). 75 Begründung RegE ESUG, BT-Drucks. 17/5712, S. 35.

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Einbeziehung der Anteilsinhaber in den Insolvenzplan – etwa die Änderungen im Gesellschafterkreis in der Folge eines Debt-Equity-Swap – ein Austrittsrecht aus wichtigem Grund auslösen kann. Damit es dann nicht durch Abfindungsansprüche zu einer die Sanierungsaussichten gefährdenden Belastung des Schuldners kommt, stellt die Vorschrift – u. a. – klar, dass „für die Bestimmung der Höhe eines etwaigen Abfindungsanspruchs die Vermögenslage maßgeblich [ist], die sich bei einer Abwicklung des Schuldners eingestellt hätte.“

Wenn aber für den Wertansatz der Anteile der Altgesellschafter nicht auf den prognostischen Sanierungserfolg, sondern auf die Zerschlagungsinsolvenz abzustellen ist, so sollte für die Festsetzung der neu geschaffenen Gesellschaftsanteile der vormaligen Forderungsinhaber kein abweichender Bewertungsmaßstab gelten.

V. Folgerungen für den Kapitalschutz im Insolvenzplanverfahren Aus alledem lassen sich für den Kapitalschutz bei Realisierung eines DebtEquity-Swap im Insolvenzplanverfahren diese Folgerungen ziehen: 1. Forderungswert Für die Bewertung der umzuwandelnden Forderungen hält das ESUG am Vollwertigkeitsprinzip fest. Die Forderungen sind nur mit dem Wert anrechenbar, zu dem sie durch das Gesellschaftsvermögen gedeckt sind. Maßstab für die Forderungsbewertung ist die voraussichtliche Insolvenzquote bei angenommener Liquidation, also jene Quote, mit der die Forderung als Insolvenzforderung zu bedienen wäre, wenn sie nicht in Eigenkapital überführt würde. 2. Prüfung durch Insolvenz- und Registergericht Ob die als Sacheinlage eingebrachten Forderungen zutreffend nach eben diesem Maßstab bewertet worden sind, obliegt vor der Bestätigung des Insolvenzplans der Prüfung durch das (nach § 248 Abs. 1 InsO) zur Entscheidung über die Bestätigung berufene Insolvenzgericht.76 Denn nach § 231 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 InsO weist das Insolvenzgericht den Insolvenzplan von Amts wegen zurück, wenn die „Vorschriften über den Inhalt des Plans“ nicht beachtet sind. Und nach § 250 Nr. 1 InsO ist die Bestätigung von Amts wegen zu versagen, wenn die „Vorschriften über den Inhalt des Insolvenzplans … in einem wesentlichen Punkt nicht beachtet worden sind“. Nach § 225a Abs. 3 InsO kann im Plan nur eine Regelung getroffen werden, „die gesellschaftsrechtlich zulässig

__________ 76 Betont a. A. Maier-Reimer (Fn. 31), S. 107, 113 ff., der die Vollwertigkeit der Forderung nicht zum Prüfprogramm des Insolvenzgerichts zählen will. Eine solche Prüfungskompetenz verneinend auch Horstkotte/Martini, ZInsO 2012, 557, 567, Fn. 67. Im Grundsatz wie hier indes Spliedt, GmbHR 2012, 462, 467: Das Insolvenzgericht habe zu prüfen, ob ein wesentlicher, weil auf einem falschen Bewertungsmaßstab beruhender Bewertungsfehler vorliege.

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Debt-Equity-Swap im Insolvenzplanverfahren

ist“. Die Überbewertung von Sacheinlagen ist gerade gesellschaftsrechtlich unzulässig und die Wertfestsetzung der umzuwandelnden Forderungen unter Missachtung der maßgeblichen Bewertungsmaßstäbe betrifft auch nicht etwa einen nur „unwesentlichen Punkt“ der Planregelung zum Debt-Equity-Swap. Wird der Insolvenzplan ungeachtet eines solchen Bewertungsfehlers vom Insolvenzgericht bestätigt, so bedeutet dies nicht, dass das Registergericht insoweit gebunden und dementsprechend darin gehindert wäre, die Eintragung unter Hinweis auf die fehlende Werthaltigkeit der eingebrachten Forderungen abzulehnen.77 Zwar will die Begründung zum RegE ESUG dem Registergericht nur eine „eingeschränkte Prüfungskompetenz“ und in der Folge „vor allem eine beurkundende Funktion“ zubilligen, weil „das wirksame Zustandekommen des Plans“ bereits „durch das Insolvenzgericht überprüft“ werde.78 Das trägt aber keine Einschränkungen in der Prüfungskompetenz des Registergerichts, wenn das Insolvenzgericht fehlerhafte (weil mit den Grundsätzen des Kapitalaufbringungsrechts unvereinbare) Festsetzungen im Insolvenzplan nicht erkannt oder den Plan trotz Wahrnehmung solcher Mängel bestätigt hat.79 Die Festsetzungen im Plan ersetzen „nachfolgende konstituierende Publizitätsakte wie die Eintragung ins Register“80 gerade nicht. Die nach den allgemeinen Regeln geltenden Eintragungsvoraussetzungen hat das ESUG für das Insolvenzplanverfahren zwar insoweit modifiziert, als die Planfestsetzungen an die Stelle der sonst notwendigen Gesellschafterbeschlüsse treten. Die materiellen Voraussetzungen für die „gesellschaftsrechtliche Zulässigkeit“ der im Plan getroffenen Regelungen (§ 225a Abs. 3 InsO) und deren Eintragung im Handelsregister bleiben indes unberührt. Dies gilt auch für die Werthaltigkeit festgesetzter Sacheinlagen und deren registergerichtliche Überprüfung. Dass die hierzu nach den allgemeinen Regeln bestehenden Prüfungskompetenzen des Registergerichts81 im Rahmen des Eintragungsverfahrens nach bestätigtem Insolvenzplan reduziert werden sollten, ist aus den novellierten Vorschriften der InsO nicht ableitbar. 3. Ausschluss der Differenzhaftung Wo der Insolvenzplan trotz Überbewertung der Forderungen durch das Insolvenzgericht bestätigt worden ist, schließt § 254 Abs. 4 InsO freilich die Gel-

__________ 77 Auch insoweit a. A. Maier-Reimer (Fn. 31), S. 107, 115: Das Registergericht sei an den Insolvenzplan gebunden und könne die Eintragung nicht wegen Unterwertigkeit der Forderungen ablehnen. 78 Begründung RegE ESUG, BT-Drucks. 17/5712, S. 37. – Auf diese Feststellungen in der amtlichen Begründung stützt sich auch Maier-Reimer (Fn. 77), obwohl er selbst (a. a. O., S. 107, 113 f.) dem Insolvenzgericht die Befugnis abspricht, den Wert der eingebrachten Forderungen zu überprüfen. 79 Die Prüfungskompetenz des Registergerichts bei wesentlicher Überbewertung der eingebrachten Forderung bejahend auch Horstkotte/Martini, ZInsO 2012, 557, 567 Fn. 67. 80 Begründung RegE ESUG, BT-Drucks. 17/5712, S. 36. 81 S. für das GmbH-Recht Priester (Fn. 43), § 57a GmbHG Rz. 5 ff.; für das Aktienrecht Veil (Fn. 58), § 188 AktG Rz. 34 ff.

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tendmachung von Ansprüchen gegen die bisherigen Gläubiger „wegen einer Überbewertung der Forderungen im Plan“ aus. Jener Ausschluss gilt – jedenfalls dem Wortlaut der Vorschrift nach – ohne jede Rücksicht auf das Ausmaß der Überbewertung. Dementsprechend wird die Vorschrift als vollständige Befreiung vom Risiko der Differenzhaftung verstanden: Ob die Sacheinlage tatsächlich den angegebenen Wert erreiche, sei „ohne Relevanz“.82 Zur Kompensation werden alternative Ausgleichsgrundlagen erwogen: Nämlich eine Anfechtung nach § 135 Abs. 1 Nr. 2 InsO, wenn Forderungen aus Gesellschafterdarlehen in Eigenkapital umgewandelt und dabei überbewertet werden.83 Oder gar die Durchgriffshaftung der Gesellschafter (aller?) nach § 826 BGB, wenn die durch einen Debt-Equity-Swap umstrukturierte Gesellschaft von Anfang an vermögenslos und den Gesellschaftern bewusst gewesen sei, dass die Bewertung ihrer Forderungen nicht annähernd den tatsächlichen Gegebenheiten entsprochen habe.84 Angesichts des gesellschaftsrechtlichen Kapitalaufbringungsgebots – das nach bisheriger Überzeugung auch im Liquidationsstadium Geltung beanspruchen kann85 – ist der Ausschluss der Differenzhaftung in § 254 Abs. 4 InsO in der Tat problematisch. Den Gesellschaftern gäbe man freilich Steine statt Brot, wollte man sie zwar vom Risiko der Differenzhaftung befreien, im selben Atemzug aber dem Risiko unbeschränkter Durchgriffshaftung aussetzen. Stattdessen sei hier eine teleologische Reduktion des § 254 Abs. 4 InsO zur Diskussion gestellt: Mit der Vorschrift verfolgt der Gesetzgeber das Ziel, den Gläubigern bei Umwandlung ihrer Forderungen in Eigenkapital „Planungs- und Kalkulationssicherheit“ zu geben. Ohne den gebotenen Schutz vor einer späteren Inanspruchnahme wegen Überbewertung der eingebrachten Forderungen sei eine Sanierung im Planverfahren nicht zu realisieren.86 Wenn für die Bewertung der umgewandelten Forderungen aber zugleich am Vollwertigkeitsprinzip festgehalten wird und wenn für den Forderungswert auf den zu erwartenden quotalen Liquidationserlös abzustellen ist, dann ist das Vertrauen der (ehemaligen) Gläubiger in den bestätigten Insolvenzplan keineswegs bei jedweder Überbewertung ihrer Forderungen schützenswert. Gewiss hat ihnen der Gesetzgeber Schutz vor einer späteren Differenzhaftung gewähren wollen, wenn ihre Forderungen – methodengerecht – nach Maßgabe der voraussichtlichen Deckungsquote bewertet worden sind, später aber – möglicherweise zu Recht – geltend gemacht wird, die dabei zugrunde gelegten Annahmen seien immer noch zu optimistisch kalkuliert gewesen. Ebenso gewiss ist ihre Schutzbedürftigkeit indes zu verneinen, wenn die (auch aus Gläubigersicht) evident nicht mehr vollwertigen Forderungen zum Nennwert umgewandelt werden. Auf einer solchen Grundlage dürfen die sanierungswilligen Gläubiger nicht „kalkulieren und planen“. Tun sie es doch, kommt ihnen der Ausschluss der Differenzhaftung nicht zugute. Dass der (grob fehlerhafte) Plan die Bestätigung des In-

__________ 82 83 84 85 86

In diesem Sinne etwa Römermann, NJW 2012, 645, 651. Gehrlein, NZI 2012, 257, 261, unter Bezugnahme auf Wirsch, NZG 2010, 1131, 1133. In diesem Sinne Gehrlein, NZI 2012, 257, 261. S. noch einmal BGHZ 53, 71, 74. Begründung RegE ESUG, BT-Drucks. 17/5712, S. 52; s. schon oben im Text bei Fn. 18.

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solvenzgerichts gefunden hat, ändert daran nichts. Entsprechendes sollte gelten, wenn die Forderungen zwar mit einem Abschlag gegenüber dem Nennwert in Ansatz gebracht werden, diese Wertberichtigung sich aber nicht an der voraussichtlichen Deckungsquote in der Zerschlagungsinsolvenz, sondern an einem hypothetischen Zukunftswert orientiert, den die Forderung nach erfolgreicher Sanierung und Fortführung des Schuldnerunternehmens (wieder) hätte. Dass der Gesetzgeber des § 254 Abs. 4 InsO auch den gezielten Fehlgriff in der Bewertungsmethode durch den Ausschluss der Differenzhaftung hat belohnen und das Festhalten am Vollwertigkeitsprinzip damit ad absurdum hat führen wollen,87 ist jedenfalls nicht anzunehmen.

VI. Resümee Resümierend bleibt festzuhalten, dass die Eingriffe des ESUG-Gesetzgebers in die bislang geltenden Grundsätze effektiver Kapitalaufbringung bei Licht besehen geringer sind als manche Stimmen annehmen möchten. Dass die allgemeinen Grundsätze der Kapitalaufbringung für den Debt-Equity-Swap im Insolvenzplanverfahren nicht gelten würden,88 bestätigt sich nicht. Ebenso wenig ist die Feststellung berechtigt, der Novelle liege eine „neue Kapitalteleologie“ zugrunde.89 Das ESUG hält für die Bewertung der umzuwandelnden Forderungen am Vollwertigkeitsprinzip fest; Bewertungsmaßstab ist die voraussichtliche Insolvenzquote bei angenommener Liquidation. Fehleinschätzungen bei der Forderungsbewertung sind durch den Ausschluss der Differenzhaftung nach § 254 Abs. 4 InsO privilegiert, wenn sich die Bewertung im Ausgangspunkt am quotalen Liquidationserlös orientiert hat. Fehlgriffe in der Bewertungsmethode werden indes nicht durch die Befreiung von der Differenzhaftung belohnt. Man wird dem entgegenhalten, eine solche Sicht der Dinge konterkariere den Willen des ESUG-Gesetzgebers, der Forderungsumwandlung als Sanierungsinstrument zum Durchbruch zu verhelfen.90 Indes wird der Stellenwert des Debt-Equity-Swap im Konzept der ESUG-Reform verbreitet überschätzt.91 Einen „Paradigmenwechsel“ hinsichtlich der Forderungsbewertung hat der Gesetzgeber gerade nicht vollziehen wollen. Aber er hat – weil im Insolvenzplan nunmehr jede gesellschaftsrechtlich zulässige Regelung getroffen werden kann (§ 225a Abs. 3 InsO) – erstmals die Möglichkeiten eröffnet, die Eigentümerstruktur des Schuldners durch Festsetzungen im Plan auch gegen den Willen der Altgesellschafter umzugestalten. Hier dürfte das novellierte Insolvenzrecht in der Praxis seine eigentliche Bedeutung entwickeln.92

__________ 87 88 89 90

So jedoch Simon/Merkelbach, NZG 2012, 121, 124. So Maier-Reimer (Fn. 31), S. 107, 115. In diesem Sinne aber Hirte/Knof/Mock, DB 2011, 632, 642. Vgl. etwa die Einwände gegenüber der Forderungsumwandlung zum Liquidationswert bei Horstkotte/Martini, ZInsO 2012, 557, 563, Fn. 47. 91 Zutreffende Relativierung aber schon bei Simon, CFL 2010, 448, 451. 92 Ähnliche Bewertung bei Spliedt, GmbHR 2012, 462, 471.

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Der besondere Vertreter in Kapital- und Personengesellschaften Inhaltsübersicht I. Erstreckung der Sondervertretung auf Personengesellschaften II. Sondervertretung in Kapitalgesellschaften 1. Rechtsgrundlagen a) Aktiengesellschaft b) GmbH 2. Zweck und Umfang der Sondervertretung 3. Kompetenzen des Sondervertreters in der Gesellschaft a) Informationsrechte

b) Gerichtliche Durchsetzung der Informationsrechte III. Sondervertretung in Personengesellschaften 1. Zulässigkeit der Sondervertretung a) Zweck der Sondervertretung b) Sondervertretung und actio pro socio 2. Sondervertretung und Selbstorganschaft 3. Bestellung des Sondervertreters durch Mehrheitsbeschluss

I. Erstreckung der Sondervertretung auf Personengesellschaften Die Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen der Gesellschaft gegen Mitglieder der Geschäftsführung durch einen von der Gesellschafterversammlung bestellten „besonderen Vertreter“, die der II. Zivilsenat des BGH durch Beschluss vom 7.6.2010 auf eine Publikums-KG erstreckt hat,1 ist bislang neben ähnlich formulierten Vorschriften im Vereins- und Genossenschaftsrecht2 nur im Kapitalgesellschaftsrecht3 kodifiziert. Grundlegend sind vor allem § 147 Abs. 2 Satz 1 AktG und § 46 Nr. 8 GmbHG, speziell dessen Halbs. 2, die der II. Zivilsenat auf die Bestellung des Beirats der KG als Sondervertreter analog anwendet,4 nachdem die Gesellschafterversammlung der KG diesen durch Mehrheitsbeschluss bestellt hat. Der BGH lenkt mit dieser Analogie wie zuvor schon das LG Karlsruhe5 mit der Anwendung des § 46 Nr. 8 Halbs. 2 GmbHG – anders als die Vorinstanz, die bei Existenz eines Beirats die Vertretungsregelung des Aufsichtsrats einer AG nach § 112 AktG in der KG

__________ 1 BGH, NZG 2010, 1381; dazu Hopt in Baumbach/Hopt, 34. Aufl. 2010, § 124 HGB Rz. 42; Bergmann in jurisPK-BGB, 5. Aufl. 2010, § 709 BGB Rz. 9.1; Goette, DStR 2010, 2590; Grunewald in Liber amicorum Martin Winter, 2011, S. 167; Reiff/Röck, LMK 2011, 312786; K. Schmidt, ZGR 2011, 108, 125; Vosberg/Klawa, EWiR 2011, 113; vgl. auch Karrer, NZA 2008, 26. 2 §§ 30 BGB, 39 Abs. 3 GenG. 3 §§ 147 Abs. 2, 287 Abs. 2 AktG, 46 Nr. 8 GmbHG. 4 BGH, NZG 2010, 1381, Rz. 8. 5 LG Karlsruhe, NZG 2001, 169.

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entsprechend heranziehen wollte6 – den Blick umfassender auf die Zulässigkeit einer Sondervertretung bei Personengesellschaften. Der Senat lotet die angeführten Rechtsgrundlagen allerdings nicht konsequent aus. Er lässt bereits die Zulässigkeit der Analogie zu § 112 AktG offen. Zwar folgert er aus einem eigenen Präjudiz,7 dass im Rahmen des § 46 Nr. 8 GmbHG die Sondervertretung zulässig ist, wenn der einzige Geschäftsführer als Beklagter die Gesellschaft im Prozess nicht gegen sich selbst vertreten kann. Er entnimmt dem Präjudiz auch, dass die Zulässigkeit auch darauf gestützt werden kann, dass die gesetzlichen Vertretungsorgane aus kollegialer oder geschäftlicher Verbundenheit oder aus Sorge vor Entdeckung eigener Versäumnisse Ersatzansprüche nicht stets verlässlich verfolgen werden.8 Der BGH schließt damit an den Zweck des § 147 Abs. 2 Satz 1 AktG an, übergeht allerdings, dass bei der GmbH die Gesellschafterversammlung als oberstes Organ Angelegenheiten ohnehin stets an sich ziehen kann,9 und verzichtet auf eine präzise Ableitung des Normzwecks des § 46 Nr. 8 GmbHG. Er unterlässt bei Personengesellschaften andererseits den exakten Nachweis einer Gesetzeslücke, indem er die bei diesen seit langem geläufige actio pro socio, die wenigstens den Gesellschaftern die Durchsetzung des Ersatzanspruchs ermöglichen könnte, mit keinem Wort erwähnt. Dass die Klage einzelner Kommanditisten auf diese Weise verhindert werden kann,10 begründet die Rechtsfortbildung jedenfalls nicht. Der II. Zivilsenat modifiziert weiterhin die Prämissen des Kapitalgesellschaftsrechts bei der Bestellung der Sondervertretung und begründet deren Umfang anders. Während der besondere Vertreter im Kapitalgesellschaftsrecht kein Gesellschafter sein muss, sondern auch ein Dritter sein kann,11 scheint bei Personengesellschaften die Selbstorganschaft durch die Geschäftsführung und durch die Vertretung der persönlich haftenden Gesellschafter (§§ 114, 125, 164, 170 HGB) eine Hürde zu errichten. Der BGH billigt im Ergebnis gleichwohl die Bestellung des Beirats, also eines Dritten, führt das aber auf eine liquidationsähnliche Situation zurück, die er dadurch geprägt sieht, dass unter den Gesellschaftern gleichgerichtete Interessen nicht mehr bestünden.12 Die Geltendmachung eines Schadensersatzanspruchs gegen Mitglieder der Geschäftsführung rechtfertigt die Gleichstellung mit der Liquidation zwar nicht, hat aber Kritiker veranlasst, die Sondervertretung bei Personengesellschaften ganz auf § 146 HGB zu stützen13 und die Verbindung zum Kapitalgesellschaftsrecht zu kappen. Anderseits weicht der BGH von den bei Kapitalgesellschaften üblichen Mehrheitsbeschlüssen der Gesellschafterversammlung ab und fordert

__________ 6 7 8 9 10 11 12 13

OLG Bremen, NZG 2010, 181. BGH, NJW-RR 1992, 993. BGH, NZG 2010, 1381, Rz. 11–13. Bayer in Lutter/Hommelhoff, 17. Aufl. 2009, § 46 GmbHG Rz. 1; Zöllner in Baumbach/Hueck, 19. Aufl. 2010, § 46 GmbHG Rz. 89; Hüffer in Ulmer, Bd. II, 2006, § 46 GmbHG Rz. 2. Goette, DStR 2010, 2590. Vgl. unter II. 1. a) und b). BGH, NZG 2010, 1381, Rz. 19. Reiff/Röck, LMK 2011, 312786.

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im Rahmen des § 116 Abs. 2 HGB auch für die Bestellung des Sondervertreters grundsätzlich Einstimmigkeit, hatte aber „Glück“, dass dieses Erfordernis im konkreten Fall abbedungen war.14 In beiden Punkten ist freilich näher zu prüfen, ob die Bestellung eines Dritten und ein Gebot eines Mehrheitsbeschlusses – in der Personengesellschaft unter Beachtung der Zahl der Gesellschafter (§ 119 Abs. 2 HGB) und bei der KG unter Einschluss der Kommanditisten – nicht bereits aus dem vom BGH angeführten Zweck der Sondervertretung abzuleiten ist. Wenn Loyalitätskonflikte drohen und deshalb das fehlende Vertrauen der Gesellschafter die Sondervertretung legitimiert, deuten Begrenzungen bei der Bestellung, die die Sondervertretung gefährden könnten, auf einen Wertungswiderspruch hin. Auch aus diesen Gründen liegt es nahe, die Sondervertretung bei Kapital- und Personengesellschaften vergleichend zu erörtern. Schließlich ist die Tragweite der vom BGH vorgenommenen Rechtsfortbildung erst deutlich erkennbar, wenn man die schon im Kapitalgesellschaftsrecht wenig geklärte Rechtsstellung des besonderen Vertreters in der Gesellschaft einbezieht.15 Insgesamt enthält die Dogmatik der Sondervertretung Defizite, die eine rechtsformübergreifende Aufarbeitung sinnvoll machen. Dafür sind zunächst die gesicherten und die noch offenen Punkte im Aktien- und GmbH-Recht aufzugreifen (II.). Erst vor diesem Hintergrund lässt sich die Erstreckung auf Personengesellschaften näher darlegen (III.). Die Aufgabenstellung gebietet eine grundsätzliche Untersuchung, die Peter Hommelhoff in langjähriger freundschaftlicher Verbundenheit und in dankbarer Erinnerung an die engagierte Partnerschaft im Rahmen der viele Jahre zusammen mit Kazimierz Lankosz gemeinsam geleiteten polnisch-deutschen Projekte an der Jagiellonen Universität Krakau zugeeignet ist.

II. Sondervertretung in Kapitalgesellschaften 1. Rechtsgrundlagen a) Aktiengesellschaft Bei der AG bildet § 147 Abs. 1 AktG, den Abs. 2 aufgreift, die Prämisse für die Bestellung des Sondervertreters. Nach § 147 Abs. 1 AktG entscheidet die Hauptversammlung mit einfacher Stimmenmehrheit, bei der vom Schadensersatz betroffene Aktionäre nicht stimmberechtigt sind (§ 136 Abs. 1 AktG), dass Ersatzansprüche der Gesellschaft gegen Mitglieder des Vorstands oder Aufsichtsrats geltend gemacht werden müssen. Dieser Beschluss ändert als solcher an der gesetzlichen Vertretung der AG durch den Vorstand oder Aufsichtsrat (§§ 78, 112 AktG) nichts, hebt aber den Beurteilungsspielraum zur Wahrung des Gesellschaftswohls (§§ 93 Abs. 1 Satz 2, 116 AktG) auf.16 Daran

__________

14 BGH, NZG 2010, 1381, Rz. 17. 15 Näher unter II. 3. a) und b). 16 Hüffer, 9. Aufl. 2010, § 147 AktG Rz. 5; Kling, ZGR 2009, 190, 194; Spindler in K. Schmidt/Lutter, 2. Aufl. 2010, § 147 AktG Rz. 6; H. P. Westermann, AG 2009, 237, 238.

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knüpft die Bestellung des Sondervertreters nach § 147 Abs. 2 Satz 1 AktG an, der als Vertreter im Namen der AG tätig wird. Die Hauptversammlung ist dabei nicht an eine spezifische Personengruppe gebunden. Der besondere Vertreter kann auch ein Nichtgesellschafter sein. Er tritt im Rahmen seiner Funktion, der Geltendmachung des Ersatzanspruchs, an die Stelle des prinzipiell vertretungsberechtigten Vorstands oder Aufsichtsrats.17 § 147 Abs. 2 Satz 2 AktG sieht zudem gleichfalls auf der Basis eines Mehrheitsbeschlusses nach § 147 Abs. 1 AktG auf Antrag einer qualifizierten Aktionärsminderheit die gerichtliche Bestellung eines Sondervertreters vor, soweit dies dem zuständigen Gericht an Stelle des gesetzlichen Vertreters oder des mehrheitlich bestellten Sondervertreters für eine gehörige Geltendmachung zweckmäßig erscheint. In diesem Fall verdrängt der gerichtlich bestellte Sondervertreter die bezeichneten sonstigen Vertreter.18 Die Sondervertretung der AG wird durch die mit dem UMAG19 in § 148 AktG eingeführte gerichtliche Geltendmachung der Ersatzansprüche durch eine Aktionärsminderheit flankiert, deren gesetzlich fixierte notwendige Kapitalbeteiligung deutlich unterhalb der von § 147 Abs. 2 Satz 2 AktG geforderten liegt. Die Prämisse für eine zulässige Klage ist allerdings die Klagezulassung durch das zuständige Gericht. Die Klage der Aktionärsminderheit ist keine Sondervertretung. Die Minderheit klagt im eigenen Namen auf Grund einer Prozessstandschaft im Wege einer actio pro socio.20 § 148 AktG versperrt jedenfalls bei Ersatzansprüchen im Sinn des § 147 Abs. 1 AktG eine actio pro socio des einzelnen Aktionärs. Die Aktionärsklage nach § 148 AktG ist gegenüber Klagen, die ein gesetzlicher Vertreter, auch der besondere Vertreter, im Namen der AG erhebt, subsidiär. Sowohl die Klagezulassung als auch die Erhebung der Klage selbst hängen davon ab, dass die Aktionäre die Gesellschaft vergeblich aufgefordert haben, selbst zu klagen (§ 148 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2, Abs. 4 Satz 1 AktG). Auch nach der Rechtshängigkeit der Aktionärsklage ist die AG jederzeit berechtigt, eine eigene Klage auf Schadensersatz zu erheben oder das anhängige Verfahren – durch gesetzlichen Parteiwechsel – zu übernehmen (§ 148 Abs. 3 AktG). Bei einer nachträglichen Klageerhebung der AG wird die Aktionärsklage kraft Gesetzes unzulässig und ist abzuweisen.21 b) GmbH Auch bei der GmbH ist der in § 46 Nr. 8 Halbs. 2 GmbHG bezeichnete Vertreter, der wiederum Gesellschafter, ein anderer Geschäftsführer oder ein Dritter

__________ 17 Hüffer (Fn. 16), § 147 AktG Rz. 7. 18 Hüffer (Fn. 16), § 147 AktG Rz. 8. 19 Gesetz zur Unternehmensintegrität und Modernisierung des Anfechtungsrechts v. 22.9.2005, BGBl. I 2005, 2802. 20 Gesetzentwurf der Bundesregierung, BT-Drucks. 15/5092, S. 23; zur Terminologie Flume, Allg. Teil des Bürgerlichen Rechts, II, 2, Die juristische Person, 1983, § 8 V 1 (S. 301 f.). 21 Hüffer (Fn. 16), § 148 AktG Rz. 13.

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sein kann,22 in die Kompetenz der Gesellschafterversammlung zur Geltendmachung von Ersatzansprüchen gegen Geschäftsführer oder Gesellschafter nach §§ 46 Nr. 8 Halbs. 1, 48 Abs. 1 GmbHG einbezogen. Die Gesellschafterversammlung entscheidet durch Mehrheitsbeschluss (§ 47 Abs. 1 GmbHG), bei dem ein mit Klage bedrohter Gesellschafter nicht stimmberechtigt ist (§ 47 Abs. 4 Satz 2 GmbHG), über die Geltendmachung einschließlich etwaiger Verzichte oder Vergleiche. Die Geschäftsführung hat einen solchen Beschluss nur auszuführen. § 46 Nr. 8 Halbs. 1 GmbHG schränkt insoweit die Kompetenz der Geschäftsführung ein.23 Diese ist jedenfalls im Innenverhältnis zur Versammlung nicht zur eigenständigen Geltendmachung befugt.24 Nach überwiegender Ansicht ist die Kompetenz der Geschäftsführung auch im Außenverhältnis beschränkt,25 eine Klage ohne Deckung durch die Versammlung ist abzuweisen. Das gilt unstreitig bei Bestellung eines besonderen Vertreters.26 Dieser verdrängt im Rahmen seiner Funktion die Geschäftsführer, nach bestrittener Ansicht, die sich ergänzend auf § 147 Abs. 2 Satz 1 AktG beruft, auch den obligatorischen Aufsichtsrat der mitbestimmten GmbH.27 Ob die Bestellung des Sondervertreters zur Geltendmachung von Ersatzansprüchen im Rahmen des insoweit spezielleren § 46 Nr. 8 Halbs. 1 GmbHG erfolgt28 oder auf dessen Halbs. 2 beruht, der nicht nur für solche Ersatzansprüche gilt, mag hier auf sich beruhen. Fest steht jedenfalls, dass der bestellte Sondervertreter für die Geltendmachung von Ersatzansprüchen nach § 46 Nr. 8 GmbHG allein zuständig ist. Anders als in der AG, bei der die Aktionärsklage nur schwach ausgebildet ist,29 tritt bei der GmbH neben die Sondervertretung die actio pro socio, mit der der einzelne Gesellschafter eine Leistung an die GmbH im eigenen Namen geltend machen kann. Sie ist für die Personengesellschaft schon früher entwickelt und auf die GmbH übertragen worden.30 Ob es sich um eine Klage aus eigenem Recht des GmbH-Gesellschafters handelt31 oder ob dieser aufgrund Prozessstandschaft ein Recht der GmbH geltend macht, ist streitig. Davon hängt der Anwendungsbereich der actio pro socio ab. Überwiegend geht man bei der GmbH von einer Prozessstandschaft32 und einer subsidiären Hilfszuständigkeit

__________ 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32

Bayer (Fn. 9), § 46 GmbHG Rz. 45; Zöllner (Fn. 9), § 46 GmbHG Rz. 60. K. Schmidt in Scholz, Bd. II, 10. Aufl. 2007, § 46 GmbHG Rz. 139. Zöllner (Fn. 9), § 46 GmbHG Rz. 65. Bayer (Fn. 9), § 46 GmbHG Rz. 40; Koppensteiner in Rowedder/Schmidt-Leithoff, 4. Aufl. 2002, § 46 GmbHG Rz. 40; K. Schmidt (Fn. 23), § 46 GmbHG Rz. 140. Zöllner (Fn. 9), § 46 GmbHG Rz. 68; Hüffer (Fn. 9), § 46 GmbHG Rz. 101. Bayer (Fn. 9), § 46 GmbHG Rz. 43; Zöllner (Fn. 9), § 46 GmbHG Rz. 66, 69; a. A. Mollenkopf in Henssler/Strohn, Gesellschaftsrecht, 2011, § 46 GmbHG Rz. 44. Mollenkopf (Fn. 27), § 46 GmbHG Rz. 45; Zöllner (Fn. 9), § 46 GmbHG Rz. 65, 67. Überblick über Initiativen bei K. Schmidt, NZG 2005, 796, 798. Neueste Analyse bei Verse in FS Uwe H. Schneider, 2011, S. 1325. Gehrlein, ZIP 1993, 1525, 1530; Lutter in Lutter/Hommelhoff (Fn. 9), § 13 GmbHG Rz. 52; Pentz in Rowedder/Schmidt-Leithoff (Fn. 25), § 13 GmbHG Rz. 117. OLG Düsseldorf, GmbHR 1994, 172, 174; OLG Braunschweig, GmbHR 2009, 1276, 1277; OLG Koblenz, NZG 2010, 1023, 1024; vgl. auch BGH, NJW 1991, 1884 und NZG 1998, 428, 429: Anspruch der Gesellschaft; Hueck/Fastrich in Baumbach/ Hueck(Fn. 9), § 13 GmbHG Rz. 33; Verse in Henssler/Strohn (Fn. 27), § 14 GmbHG

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aus. Nur wenn das zuständige Gesellschaftsorgan die Verfolgung des Anspruchs pflichtwidrig ablehnt,33 ist der Weg der Gesellschafterklage eröffnet. Für die Sondervertretung bei der GmbH kommt es freilich auf diesen Streit nicht an. Die Sondervertretung bleibt in jedem Fall unangetastet. Anders ist es im Personengesellschaftsrecht, bei dem die Sondervertretung erst durch eine Analogie entwickelt werden soll und diese Entwicklung auf eine bereits etablierte actio pro socio stößt. 2. Zweck und Umfang der Sondervertretung Sowohl bei der AG als auch bei der GmbH verdrängt der besondere Vertreter das prinzipiell für die Durchsetzung von Ersatzansprüchen zuständige Vertretungsorgan. Dessen Verdrängung lässt Folgerungen für den Zweck der Sondervertretung zu. Die AG wird, solange nicht sämtliche Mitglieder des Vorstands bzw. des Aufsichtsrats von einem Ersatzanspruch bedroht sind und dann die Gesellschaft nicht in Aktivprozessen gegen sich selbst vertreten können, nicht handlungsunfähig. Bei Ersatzansprüchen gegen Vorstandsmitglieder ist ohnehin der Aufsichtsrat zuständig, an dessen Stelle aufgrund der Bestellung durch die Hauptversammlung der besondere Vertreter tritt. Den Sachgrund für diese Regelung nennt authentisch die Begründung der Bundesregierung zum UMAG:34 Die praktische Durchsetzung der Ersatzansprüche der Gesellschaft werde vielfach gefährdet, weil Vorstand oder Aufsichtsrat in Gefahr stünden, das Gesellschaftsinteresse hinter das eigene Interesse zurücktreten zu lassen. Es könne typischerweise nicht erwartet werden, dass derjenige Ansprüche verfolge, der dem Ersatzpflichtigen kollegial oder geschäftlich verbunden sei oder Gefahr laufe, dass im Verfahren seine eigenen Versäumnisse aufgedeckt würden. Das wird bei der Überwachungsaufgabe des Aufsichtsrats gegenüber dem Vorstand nach § 111 Abs. 1 AktG deutlich, die sich auch auf die künftige Geschäftspolitik erstreckt. Die „laufende Beratung“ des Vorstands durch den Aufsichtsrat im Weg der präventiven Kontrolle gestaltet die unternehmerischen Entscheidungen mit,35 und diese Mitgestaltung ist ein naheliegender Grund, eigene Versäumnisse nicht aufzudecken.36 Es kommt dabei nicht auf einen konkreten Verdacht an, für die Bestellung des Sondervertreters genügt bereits eine mögliche Vernachlässigung des Gesellschaftsinteresses. Der BGH37 schließt daher im Personengesellschaftsrecht mit seinem Beschluss vom 7.6.2010 unmittelbar an das im Aktienrecht weithin geteilte Verständnis38 des Zwecks des Sondervertreters an.

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33 34 35 36 37 38

Rz. 120; Merkt in MünchKomm. GmbHG, 2010, § 13 GmbHG Rz. 315; K. Schmidt (Fn. 23), § 46 GmbHG Rz. 161; Winter, Mitgliedschaftliche Treubindungen im GmbHRecht, 1988, S. 311. Martin Schwab, Das Prozeßrecht gesellschaftsinterner Streitigkeiten, 2005, S. 80. BT-Drucks. 15/5092, S. 19 f. BGHZ 114, 127, 129 f.; 135, 244, 255: ARAG/Garmenbeck. Kling, ZGR 2009, 190, 191 f. BGH, NZG 2010, 1381; zust. Grunewald (Fn. 1), S. 167, 173. Liebscher in Henssler/Strohn (Fn. 27), § 147 AktG Rz. 40; Hüffer (Fn. 16), § 147 AktG Rz. 1; Kling, ZGR 2009, 190, 191 ff.; Spindler (Fn. 16), § 147 AktG Rz. 6.

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Nicht ganz so eindeutig ist die Zweckbestimmung bei der GmbH, bei der die Gesellschafterversammlung als oberstes Organ die Angelegenheit nicht nur bei der Geltendmachung von Ersatzansprüchen an sich ziehen kann. Die Allzuständigkeit schlägt auf § 46 Nr. 8 GmbHG durch. Die Gesellschafterversammlung bestimmt dort im Unterschied zu § 147 Abs. 1 AktG nicht nur darüber, ob die Ersatzansprüche geltend gemacht werden müssen. Sie hat die Kompetenz, auf Ersatzansprüche ganz zu verzichten. Als Zweck des § 46 Nr. 8 GmbHG gilt daher auch der Schutz vor der Erörterung von Gesellschaftsinterna.39 Das hat aber mit der Bestellung eines Sondervertreters, dessen Zweck davon getrennt zu beurteilen ist, nichts zu tun. Der besondere Vertreter gleicht den Verlust der organschaftlichen Handlungsfähigkeit für einen Schadensersatzprozess aus,40 wenn sich der Ersatzanspruch gegen den einzigen oder gegen alle Geschäftsführer richtet. Dann hat die Bestellung des Sondervertreters auch den Vorrang vor einem Notgeschäftsführer.41 Auch bei der GmbH markiert freilich der Verlust der organschaftlichen Handlungsfähigkeit nicht die Grenze der Sondervertretung. Auch hier genügt die abstrakte Gefahr einer fehlenden unvoreingenommenen Prozessführung.42 Das GmbH-Recht bestätigt daher gleichfalls den mit § 147 Abs. 2 Satz 1 AktG verfolgten Zweck des besonderen Vertreters. Inhaltlich ist die Aufgabe des besonderen Vertreters auf die Geltendmachung der bezeichneten Ansprüche begrenzt, schließt aber natürlich die vom selben Ziel geprägte Verteidigung der Gesellschaft gegen eine negative Feststellungsklage der betroffenen Organmitglieder43 oder gegen deren Klage auf die – wegen angeblicher Regressansprüche verweigerte – Entlastung44 ein.45 Nicht zur Aufgabe des Sondervertreters gehören dagegen Verzichte und Vergleiche über Ersatzansprüche und ähnliche Rechtshandlungen,46 die im Aktienrecht bereits § 93 Abs. 4 Satz 3 AktG ohne Zustimmung der Hauptversammlung verwehrt und die im GmbH-Recht daran scheitern, dass der Vertreter keine Verfügungsbefugnis hat.47

__________ 39 40 41 42 43 44 45

Schwab (Fn. 33), S. 78 f.; Zöllner (Fn. 9), § 46 GmbHG Rz. 61. Hüffer (Fn. 9), § 46 GmbHG Rz. 103. Hüffer (Fn. 9), § 46 GmbHG Rz. 108 f. Hüffer (Fn. 9), § 46 GmbHG Rz. 103; K. Schmidt (Fn. 23), § 46 GmbHG Rz. 163. Kling, ZGR 2009, 190, 200. RGZ 114, 396, 399. Ausgeklammert bleibt an dieser Stelle die Konzerndimension der Sondervertretung, speziell die Geltendmachung der Ersatzansprüche der abhängigen gegen die herrschende Gesellschaft nach §§ 309 Abs. 1, 2 und 317 Abs. 1 AktG. Jedenfalls ist nicht zu erwarten, dass der Vorstand des abhängigen Unternehmens, dessen Stellung von der Aufsichtsratsmehrheit abhängt, diese Ansprüche durchsetzt. Dass der Ersatzanspruch „auch von jedem Aktionär“ geltend gemacht werden kann (§§ 309 Abs. 4, 317 Abs. 4 AktG), beseitigt die Schutzlücke nicht. 46 Näher Kling, ZGR 2009, 190, 206 f. 47 K. Schmidt (Fn. 23), § 46 GmbHG Rz. 143.

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3. Kompetenzen des Sondervertreters in der Gesellschaft a) Informationsrechte aa) Informationsrechte als Hilfsrechte § 147 Abs. 2 Satz 1 AktG und § 46 Nr. 8 GmbHG beschreiben zwar die Funktion des Sondervertreters, sagen aber nichts über die dafür erforderlichen Maßnahmen im Detail, namentlich nichts über die Erlangung der Informationen, die die Durchsetzung von Ersatzansprüchen erst ermöglichen. Der Streit über diese Informationen lässt sich deutlich an den spektakulären Rechtsstreiten48 mit der Hypo Vereinsbank (HVB) erkennen, die Aktien nach einer Vereinbarung mit der Uni Credito Italiano angeblich ohne sorgfältige Ermittlung des angemessenen Kaufpreises zusammen mit der Uni Credito an die Bank Austria übertragen hatte. Der von der Hauptversammlung der HVB bestellte besondere Vertreter verlangte hauptsächlich vom Vorstand der HVB Einsicht in Unterlagen und Auskünfte, die dieser verweigerte, verzögerte oder unvollständig erteilte. Bereits das RG hatte dem Sondervertreter recht pauschal alle zur Geltendmachung von Ersatzansprüchen erforderlichen Informations- und Hilfsrechte zugebilligt.49 Dabei sind die Informationsrechte nicht nur auf Auskunftsansprüche gegen den Schädiger begrenzt. Die Informationsrechte ergeben sich aus der Stellung des Sondervertreters in der Gesellschaft. Er tritt im Rahmen seiner Aufgabe an die Stelle des vertretungsberechtigten Organs, dessen Verdrängung nur Sinn macht, wenn seine Kompetenzen bei der Erfüllung seiner Funktion nicht entscheidend geringer sind. Der besondere Vertreter wird nicht selten als Organ oder organähnlich bezeichnet.50 Wichtiger ist vorerst, dass seine Untersuchungskompetenzen sich an denen des verdrängten Organs orientieren,51 ohne mit diesen identisch sein zu müssen. Der Sondervertreter benötigt nicht die Personalkompetenz des Aufsichtsrats der AG. Er darf auch jenseits der Geltendmachung der Ersatzansprüche das geschäftsführende Organ nicht einschränken, das weiterhin im Amt ist. Entscheidend sind der Umfang seiner Informationsrechte und deren uneingeschränkte Durchsetzbarkeit. Beide Punkte sind nicht abschließend geklärt und näher zu untersuchen. Fest steht nur, dass die Informationsrechte regelmäßig innerhalb der Gesellschaft zu realisieren sind. Sie sind zwar Hilfsrechte für die Geltendmachung der Ersatzansprüche gegen Organmitglieder, die Informationsrechte richten sich aber auch an nicht von der Ersatzpflicht bedrohte Entscheidungsträger in der Gesellschaft. Die Hilfsrechte sind daher bei der materiellen Rechtsgrundlage und bei der verfahrensmäßigen Durchsetzung von den Er-

__________ 48 LG München I, NZG 2007, 216; OLG München, NZG 2008, 230; die Zurückweisung der Nichtzulassungsbeschwerden durch den BGH (NZG 2011, 950; DB 2011, 2537) betrifft Folgeentscheidungen des OLG. 49 RGZ 83, 248, 252. 50 BGH, ZIP 1981, 178, 179; neuerdings auch BGH, DB 2011, 2537, 2538; Hüffer (Fn. 16), § 147 AktG Rz. 7; Kling, ZGR 2009, 190, 212; Semler, AG 2005, 321, 330; Spindler (Fn. 16), § 147 AktG Rz. 23; skeptisch nunmehr Nietsch, ZGR 2011, 589, 614. 51 H. P. Westermann, AG 2009, 237, 240.

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satzansprüchen zu trennen. Der besondere Vertreter handelt insoweit nicht notwendigerweise im Namen der Gesellschaft. bb) Umfang der Informationsrechte Rechtsprechung und Schrifttum nennen im Kapitalgesellschaftsrecht als Informationsrechte in erster Linie Ansprüche, die an das geschäftsführende Organ zu richten sind.52 Meist wird dabei freilich nicht gesagt, ob das Organ selbst als informationspflichtig angesehen wird oder für die Gesellschaft handeln soll.53 Hervorgehoben werden Einsichtsrechte in Urkunden, Bücher und Schriftverkehr sowie Auskünfte. Daneben werden vorwiegend im Aktienrecht54 die Befragung von Mitarbeitern durch den Sondervertreter, sein Zutrittsrecht gegen den Willen der Geschäftsführung in deren Geschäftsräume und die Einsichtnahme in Geschäftspapiere nach eigenem Ermessen erwähnt.55 Das entscheidende Kriterium für den zulässigen Umfang der Informationsrechte liegt darin, dass der besondere Vertreter Informationsrechte nur zur Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen benötigt. Die Geschäftsführung und Vertretung der Gesellschaft obliegt dagegen prinzipiell allein dem geschäftsführenden Organ. Umfassende Auskunfts-, Einsichts- und Prüfungsrechte in Angelegenheiten der Gesellschaft liegen außerhalb der Kompetenzen des besonderen Vertreters. Er ist weder ein Sonderprüfer nach § 145 AktG noch ein Hausdetektiv, ihm steht auch kein arbeitsrechtliches Direktionsrecht gegenüber leitenden Angestellten und anderen Arbeitnehmern zu.56 Eingriffe in die Geschäftsführung der Gesellschaft sind ihm prinzipiell verwehrt. Der BGH hat einmal trotz einer behaupteten Pflichtwidrigkeit die vorbeugende Unterlassungsklage eines Kommanditisten im Weg der actio pro socio gegen die Geschäftsführung abgewiesen.57 Umso weniger sind allgemeine, nicht durch die Geltendmachung von Ersatzansprüchen veranlasste Einsichts-, Ermittlungs- und Prüfungsrechte zuzulassen. Ein unmittelbares Zutrittsrecht zu den Räumen der Geschäftsführung ist ohne deren Zustimmung ebenso wenig zulässig wie die Einsichtnahme in Geschäftspapiere. Informationsrechte sind grundsätzlich an die Geschäftsführung zu adressieren. Das gilt auch für die Information durch Mitarbeiter, die beim Aufsichtsrat in Anlehnung an § 109 Abs. 1 Satz 2 AktG neuerdings etwas großzügiger beurteilt wird.58 Auch gegenüber dem Aufsichtsrat trifft indessen die Informationspflicht nach § 90 AktG den Vorstand. Direkte Kontakte mit Mitarbeitern sind nach überwiegender Ansicht nur bei konkre-

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52 OLG München, NZG 2008, 230, 234; für die GmbH Bayer (Fn. 9), § 46 GmbHG Rz. 44; Koppensteiner (Fn. 25), § 46 GmbHG Rz. 47. 53 Vgl. OLG München, NZG 2008, 230, 234 f.: Auskunfts- und Einsichtsrechte gegenüber der Gesellschaft. 54 Für die GmbH neuerdings Klose/Schade, GmbHR 2011, 244, 246 f. 55 LG München I, NZG 2007, 916, 917; Bezzenberger in Großkomm. AktG, 1999, § 147 AktG Rz. 52; Schroer in MünchKomm. AktG, 3. Aufl. 2011, § 147 AktG Rz. 52; enger OLG München, NZG 2008, 230, 234, Kling, ZGR 2009, 190, 216 f.; Spindler (Fn. 16), § 147 AktG Rz. 26. 56 Kling, ZGR 2009, 190, 216, 218. 57 BGH, NJW 1980, 1463, 1465. 58 Dreher in FS Wulf Goette, 2011, S. 43 ff.

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ten Verdachtsmomenten zulässig.59 Beim Sondervertreter, der kein weites Kontrollrecht hat, ist zusätzlich zunächst der Versuch zu verlangen, seinen Informationsanspruch gerichtlich durchzusetzen. b) Gerichtliche Durchsetzung der Informationsrechte Der besondere Vertreter kann Einsichts- und Auskunftsrechte in der Gesellschaft nur an das geschäftsführende Organ adressieren. Damit steht aber weder fest, ob dem Vertreter selbst oder der Gesellschaft, in deren Namen er dann bei der Geltendmachung der Ersatzansprüche handelt, die Informationsrechte zustehen, noch ob das geschäftsführende Organ oder die Gesellschaft, für die dann das Organ tätig wird, informationspflichtig ist. Das OLG München billigt im HVB-Fall dem besonderen Vertreter ebenso wie die Vorinstanz die Informationsansprüche gegen die Gesellschaft zu.60 Es stellt nicht auf eine Organeigenschaft des Vertreters ab. In der Tat stellen sich bei ihm anders als bei ständigen Organen – jedenfalls jenseits der Bestellung eines Beirats – das Problem der personellen Neubesetzung61 und die Folgefrage der Unterscheidung von Organen und Organwaltern praktisch nicht. Der besondere Vertreter führt den Rechtsstreit im eigenen Namen gegen die Gesellschaft, diese vertreten durch deren geschäftsführendes Organ. Auf diese Weise wird klar zwischen der Geltendmachung des Ersatzanspruchs und der Informationsrechte unterschieden, und es wird ein Insichprozess vermieden, der bei einer Klage des Sondervertreters im Namen der Gesellschaft,62 aber auch als Prozessstandschafter gegen die beklagte Gesellschaft einträte.63 Das OLG begründet die Passivlegitimation der Gesellschaft nicht. Sie ergibt sich aber aus dem Bestellungsverhältnis. Der besondere Vertreter ist der Gesellschaft gegenüber möglicherweise aus einer Bestellung zum Organ,64 zumindest aber aus einem Geschäftsbesorgungsvertrag,65 dem die Informationspflicht als Nebenpflicht entnommen werden kann, berechtigt und verpflichtet, und er haftet ihr bei schuldhaften Pflichtverstößen.66 Die Durchsetzung des Informationsanspruchs erfolgt regelmäßig im Weg einer einstweiligen Verfügung, deren Verfügungsgrund das OLG der Sollvorschrift des § 147 Abs. 1 Satz 2 AktG entnimmt. Die Erzwingung der Information dient der Erfüllung der geschuldeten Leistung. Sie ist durch Leistungsverfügung im einstweiligen Rechtsschutz nach dem Maßstab des § 940 ZPO nur bei unerlässlichen Informationen erreichbar, rechtfer-

__________ 59 Streitstand bei Habersack in MünchKomm. AktG, 3. Aufl. 2008, § 109 AktG Rz. 19. 60 OLG München, NZG 2008, 230, 234. 61 Vgl. dazu näher Schürnbrand, Organschaft im Recht der privaten Verbände, 2008, S. 971; Schwab (Fn. 33), S. 592 f.; 596 ff. 62 Vgl. dazu Bobel, Die Rechtsstellung der besonderen Vertreter gem. § 147 AktG, 1999, S. 110. 63 Kling, ZGR 2009, 190, 221. 64 Kling, ZGR 2009, 190, 226. 65 Bezzenberger (Fn. 55), § 147 AktG Rz. 154; Kling, ZGR 2009, 190, 228; Schroer (Fn. 55), § 147 AktG Rz. 44; Spindler (Fn. 16), § 147 AktG Rz. 21. 66 Kling, ZGR 2009, 190, 226, 228.

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tigt daher u. U. nur eine gestufte Durchsetzung der Informationen.67 Das Verständnis des OLG lässt sich auch nahtlos in die Prozessrechtssystematik integrieren. Der besondere Vertreter ist ebenso rechts- und parteifähig wie die AG, die GmbH und die Personenhandelsgesellschaft (§§ 124 Abs. 1, 161 Abs. 2 HGB) und als Außengesellschaft nach herrschender Meinung auch die Gesellschaft des bürgerlichen Rechts. Die Vollstreckung basiert auf § 888 Abs. 1 ZPO68 und kann sich auch gegen die Mitglieder der handelnden Organe richten.69 Allerdings ist der Standpunkt des OLG nicht unangefochten. Eine Variante ergibt sich, wenn die Informationspflicht anstelle der Gesellschaft unmittelbar das Organ trifft und man diesem im Anschluss an Ansätze zum Interorganstreit die Rolle der Gegenpartei zuweist. In der Tat plädiert ein Teil des Schrifttums beim Informationsanspruch des besonderen Vertreters für einen Interorganstreit70 und greift damit auf einige Fallgruppen des Aktienrechts zurück. Indessen hat der BGH im Opel-Fall, in dem die Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat entgegen der Abstimmung der Mehrheit der Aufsichtsratsmitglieder erfolglos gegen die Ausgliederung von Unternehmensteilen geklagt hatten,71 die Zulässigkeit des Interorganstreits offen gelassen.72 Im Schrifttum hat vor allem Peter Hommelhoff schon früh bei der Berichtspflicht des § 90 AktG die Klage des Aufsichtsrats gegen den Vorstand zugelassen und diesem die Parteifähigkeit (§ 50 ZPO) zuerkannt,73 und Bork hat später eine Ergänzung vorgenommen und unter anderem bei der Vollstreckung nach § 888 ZPO die Festsetzung der Zwangsmittel gegen die Organmitglieder befürwortet.74 Inzwischen hält das Schrifttum den Interorganstreit als solchen grundsätzlich für zulässig,75 wenn auch in eng begrenztem Umfang. Anerkannt ist er lediglich bei Eingriffen eines Organs in die Kompetenz eines anderen Organs, beispielsweise bei Verstoß gegen die §§ 119 Abs. 2 oder 111 Abs. 4 Satz 2 AktG,76 sowie bei der Zubilligung von Hilfsansprüchen,77 die – wie der Bericht des Vorstands zur

__________ 67 OLG München, NZG 2008, 230, 234. 68 BayObLG, NJW-RR 1997, 489; Decher in Großkomm. AktG, 2001, § 132 AktG Rz. 63; Weipert in MünchHdb. GesR Bd. I, 3. Aufl. 2009, § 8 Rz. 24; Gruber in MünchKomm. ZPO, 3. Aufl. 2007, § 888 ZPO Rz. 25; Brehm in Stein/Jonas, Bd. VIII, 23. Aufl. 2004, § 888 ZPO Rz. 43. 69 Im Einzelnen str.; dem gesetzlichen Vertreter muss die unvertretbare Handlung jedenfalls möglich sein. Vgl. dazu Gruber (Fn. 68), § 888 ZPO Rz. 25; Brehm (Fn. 68), § 888 ZPO Rz. 44; Stöber in Zöller, 28. Aufl. 2010, § 888 ZPO Rz. 8. 70 Kling, ZGR 2009, 190, 223 f.; Schürnbrand (Fn. 61), S. 396 f.; Spindler (Fn. 16), § 147 AktG Rz. 26; vgl. auch Teichmann in FS Otto Mühl, 1981, S. 663, 679; neuerdings auch Nietsch, ZGR 2011, 589, 624 f. 71 BGHZ 106, 54, 62. 72 BGHZ 106, 54, 62 ff., 66. 73 Hommelhoff, ZHR 143 (1979), 288, 291 f. 74 Bork, ZGR 1989, 1, 22 ff., 29 f. 75 Bork, ZGR 1989, 1, 15 ff.; Hommelhoff, ZHR 143 (1979), 288, 291 ff.; K. Schmidt, ZZP 92 (1979), 212, 214 ff.; Teichmann (Fn. 70), S. 663, 670 ff.; a. A. vor allem Hüffer (Fn. 16), § 90 AktG Rz. 18. 76 Überblick in BGHZ 106, 54, 60 m. w. N.; Bork, ZGR 1989, 1, 17 ff. 77 Bork, ZGR 1989, 1, 15.

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Kontrollfunktion des Aufsichtsrats – eine Hilfskompetenz zur Hauptkompetenz eines Organs gegenüber einem anderen Organ begründen.78 In solchen Fällen ist die Zulassung von Pflichten zwischen Organen eindeutig und daher das Bestellungsverhältnis79 für die Zuordnung von Rechten und Pflichten nicht maßgeblich. Das ist beim Informationsanspruch des besonderen Vertreters nicht so. Dieser Anspruch dient zwar der Geltendmachung von Ersatzansprüchen gegen einzelne Organmitglieder. Es besteht aber kein Anhaltspunkt dafür, dass beim Informationsanspruch des Sondervertreters, bei dem es keine Hauptkompetenz gegen ein anderes Organ gibt, der Anspruchsgegner das Organ als solches ist. Daran könnte auch eine Organstellung des Sondervertreters nichts ändern. Mit dem OLG München ist daher von der Klage des besonderen Vertreters gegen die Gesellschaft auszugehen, die unmittelbar aus oder analog §§ 124 Abs. 1, 161 Abs. 2 HGB auch bei einer Personengesellschaft möglich ist. Auch bei dieser richtet sich im Fall einer Sondervertretung der Informationsanspruch gegen die Gesellschaft, vertreten durch deren geschäftsführendes Organ. Ob die Sondervertretung bei der Personengesellschaft freilich zulässig ist und welche Regelung das Personengesellschaftsrecht für die Bestellung des besonderen Vertreters vorschreibt, ist anschließend näher zu prüfen.

III. Sondervertretung in Personengesellschaften 1. Zulässigkeit der Sondervertretung a) Zweck der Sondervertretung Der Beschluss des II. Zivilsenats vom 7.6.201080, mit dem der BGH den besonderen Vertreter im Personengesellschaftsrecht anerkennt, betrifft allein die Vertretung einer Publikums-KG durch einen Beirat. Die Begründung des BGH erfasst aber die KG schlechthin und überhaupt Personengesellschaften. Er stellt mit der Analogie zu den §§ 147 Abs. 2 Satz 1 AktG und 46 Nr. 8 GmbHG auf den Zweck der Sondervertretung ab, der nach seinem Verständnis auch bei Personengesellschaften passt. Der Senat orientiert sich zu Recht nicht am OLG Bremen, das die Vertretungsbefugnis des Beirats einer Analogie zu § 112 AktG entnommen hatte.81 Der Beirat unterscheidet sich deutlich vom Aufsichtsrat. Er ist regelmäßig ohne Kontrollfunktion zur Beratung der Geschäftsführung oder Gesellschafterversammlung eingerichtet und beruht nicht selten nur auf schuldrechtlicher Grundlage.82 Der BGH schließt andererseits auch nicht an Überlegungen an, die bei der GmbH & Co KG auf die Bestellung des besonderen Vertreters durch eine Gesellschafterversammlung der Komplementär-GmbH verweisen und bei Ersatzansprüchen der KG von deren Vertretung durch die Komplementärin ausgehen, die ihrerseits durch den besonderen Ver-

__________ 78 79 80 81 82

Bork, ZGR 1989, 1, 16 f. Vgl. dazu Schürnbrand (Fn. 61), S. 368. BGH, NZG 2010, 1381. OLG Bremen, NZG 2010, 181. Schürnbrand (Fn. 61), S. 55.

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treter tätig wird.83 Es geht um die Bestellung durch die Gesellschafterversammlung der KG. Der BGH entnimmt den Zweck der Sondervertretung den §§ 147 Abs. 2 Satz 1 AktG, 46 Nr. 8 GmbHG. Das Recht der Personengesellschaft regelt weder die Sondervertretung noch speziell die Geltendmachung von Ersatzansprüchen gegen geschäftsführende Gesellschafter. Einschlägig ist insoweit § 116 HGB, der die gewöhnlichen Geschäfte der Geschäftsführung zuweist und außergewöhnliche Geschäfte nach dem Wortlaut des § 116 Abs. 2 HGB von der Zustimmung sämtlicher Gesellschafter abhängig macht, bei der KG einschließlich der Kommanditisten.84 Ersatzansprüche gegen geschäftsführende Gesellschafter gehören jedenfalls nicht zu den gewöhnlichen Geschäften. Ob sie zu den außergewöhnlichen Geschäften gehören oder Grundlagengeschäfte der Gesellschafter sind, ist für die Kompetenzverteilung zwischen Geschäftsführer und Gesellschafterversammlung irrelevant. Der Zweck des besonderen Vertreters ist in § 116 Abs. 2 HGB, der dem Schutz der nicht geschäftsführungsbefugten Gesellschafter dient,85 nicht berücksichtigt. Der BGH entwickelt die Sondervertretung bei Personengesellschaften durch richterliche Rechtsfortbildung, deren Zulässigkeit davon abhängt, ob der Zweck der §§ 147 Abs. 2 Satz 1 AktG, 46 Nr. 8 GmbHG übertragbar und die Sondervertretung in die Regeln des Personengesellschaftsrechts einpassbar ist. Der BGH hat im Beschluss vom 7.6.2010 zu Recht hervorgehoben, dass die Sondervertretung nicht nur sinnvoll ist, wenn die von einem Ersatzanspruch bedrohten Geschäftsführer wegen des Verbots des Insichprozesses die Gesellschaft nicht vertreten können. Sie dient auch der Vermeidung der abstrakten Gefahr, dass die sonstigen Mitglieder des Vertretungsorgans aus kollegialer oder geschäftlicher Verbundenheit oder wegen möglicher eigener Fehler den Ersatzanspruch nicht verlässlich durchsetzen. Beide Gründe führen auch in Personengesellschaften zu einem Schutzdefizit. Allerdings ist die Zulässigkeit der Sondervertretung davon abhängig, ob der Schutz nicht auf andere Weise, beispielsweise durch eine actio pro socio bewirkt werden kann. b) Sondervertretung und actio pro socio aa) Grundlagen der actio pro socio Die actio pro socio ist im Personengesellschaftsrecht seit langem anerkannt. Mit ihr kann traditionell ein Gesellschafter gegen einen anderen Gesellschafter einen Sozialanspruch, auch einen Schadensersatzanspruch, auf Leistung an die Gesellschaft geltend machen; im Rechtsstreit auf eigenes Kostenrisiko. Streitig ist ebenso wie bei der GmbH, ob der Gesellschafter mit der actio pro socio einen eigenen Anspruch oder im eigenen Namen als Prozessstandschafter einen solchen der Gesellschaft verfolgt. Die Kontroverse bestimmt generell

__________ 83 K. Schmidt (Fn. 23), § 46 GmbHG Rz. 177. 84 Vgl. dazu unter III., 3. 85 Jickeli in MünchKomm. HGB, 3. Aufl. 2011, § 116 HGB Rz. 2.

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das Verhältnis einer Klage, die ein Vertreter im Namen der Gesellschaft führt, und einer actio pro socio entscheidend mit. Sie beeinflusst, da ein Sondervertreter an die Stelle eines „normalen“ Vertretungsorgans tritt, folgerichtig auch die Erstreckung des besonderen Vertreters auf die Personengesellschaft. Der BGH hält ebenso wie die ältere Judikatur86 die actio pro socio weithin für die Geltendmachung eines eigenen Anspruchs,87 hat aber die Streitfrage neuerdings offen gelassen,88 ohne die frühere Position eindeutig aufzugeben. Das ältere und vereinzelt auch noch das aktuelle Schrifttum stimmt der überkommenen Judikatur zu, man hält aber heute die actio pro socio überwiegend für einen Fall der Prozessstandschaft.89 Dieser Sinnwandel beruht vor allem auf einer vertieften Einsicht in die Zuordnung der Sozialansprüche zum Gesellschaftsvermögen (§ 718 BGB), die parallele Ansprüche der Gesellschafter und der Gesellschaft zweifelhaft macht, sowie auf der Akzentverlagerung auf die Verbandsstruktur und die Kompetenzordnung der Gesellschaft. Die vom RG früher befürwortete Heranziehung des § 432 BGB90 ist heute überlebt.91 Die Vorschrift bezieht sich auf eine unteilbare Leistung eines Schuldners, ist aber auf eine rechtliche Unteilbarkeit von Gesellschaftsforderungen nicht zugeschnitten. Sie wird aus heutiger Sicht überdies durch die Rechtsträgerschaft der Personengesellschaft und durch deren Organisationverfassung verdrängt.92 Das gilt auch für das ursprüngliche Verständnis des Rückgriffs auf § 705 BGB, aufgrund dessen sich die Gesellschafter gegenseitig zur Förderung des gemeinsamen Zwecks und insbesondere zur Entrichtung der Beiträge verpflichten. Bereits der BGH hat bei der GbR diese Gegenseitigkeit relativiert, indem er einem beklagten Mitgesellschafter nach einer actio pro socio „mangels Gegenseitigkeit“ die Berufung auf ein Zurückbehaltungsrecht versagt hat, wenn der Kläger seine Pflichten gegenüber der Gesellschaft nicht vollständig erfüllt hat.93 Die Pflichten des Gesellschafters aus § 705 BGB bestehen jedenfalls primär gegenüber der Gesellschaft. Folgerichtig steht dieser ein korrespondierender Anspruch zu. Das unterstreicht bei der Verletzung eines Wettbewerbsverbots § 113 HGB.94

__________ 86 Überblick bei K. Schmidt, Gesellschaftsrecht, 4. Aufl. 2002, § 21 IV 1b (S. 631, Fn. 169). 87 BGHZ 10, 91, 101; 25, 47, 49; BGH, WM 1960, 399, 400; BGH, NJW 1973, 2198. 88 BGH, NZG 2010, 783. 89 Hadding, Actio pro socio, 1966, S. 40, 57 ff.; Hopt (Fn. 1), § 109 HGB Rz. 32; Bork/ Oepen, ZGR 2001, 515, 520 ff.; K. Schmidt (Fn. 86), § 21 IV 4 b (S. 637); K. Schmidt in MünchKomm. HGB, 3. Aufl. 2011, § 105 HGB Rz. 202; Ulmer in MünchKomm. BGB, 5. Aufl. 2009, § 705 BGB Rz. 208 f.; Schwab (Fn. 33), S. 109; Hadding in Soergel, Bd. 5/1, 13. Aufl. 2012, § 705 BGB Rz. 50; Schäfer in Staub, 5. Aufl. 2009, § 105 HGB Rz. 256; Verse (Fn. 30), S. 1325, 1333. 90 RGZ 70, 32, 33; 76, 276, 280. 91 Hadding (Fn. 89), S. 34 ff. 92 K. Schmidt (Fn. 86), § 21 IV 4 a (S. 636). 93 BGH, NJW 2000, 505, 506. 94 Schwab (Fn. 33), S. 62 f.

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Der Anspruch der Gesellschaft schließt einen zusätzlichen Anspruch des einzelnen Gesellschafters aus eigenem Recht auf Leistung an diese nicht von vornherein aus. Das Verhältnis des Anspruchs der Gesellschaft zur actio pro socio wird erst durch die Kompetenzordnung innerhalb der Gesellschaft bei der Geltendmachung von Sozial-, speziell Schadensersatzansprüchen bestimmt. Zuständig ist nach § 116 Abs. 1 HGB bei gewöhnlichen Geschäften allein die Geschäftsführung, bei außergewöhnlichen muss nach § 116 Abs. 2 HGB allerdings die Gesellschafterversammlung durch einstimmigen oder aufgrund des Gesellschaftsvertrags mehrheitlichen (§ 119 Abs. 2 HGB) Beschluss zustimmen. Auch bei Grundlagengeschäften sind die Gesellschafter zuständig. Über Ansprüche der Gesellschaft entscheiden also nach Maßgabe der Regeln über die Organisationsverfassung primär die Organe. Die Gesellschafter können auch auf den mit der Regelung bezweckten Schutz verzichten und von Ersatzansprüchen absehen. Diese Zuständigkeitsordnung würde durchbrochen, wenn der einzelne Gesellschafter im Weg der actio pro socio gleichwohl einen Anspruch auf Leistung an die Gesellschaft durchsetzen könnte. Daher ist die gesellschaftliche Organisation vorrangig.95 Die Gesamtwillensbildung innerhalb der Gesellschaft darf durch eine actio pro socio nicht unterlaufen werden.96 Der einzelne Gesellschafter hat insoweit keinen Anspruch aus eigenem Recht. Er ist nicht verfügungsbefugt, sondern allenfalls zur Geltendmachung des Anspruchs und zur Prozessführung berechtigt. Der Akzentverlagerung der actio pro socio auf die Prozessstandschaft ist daher zuzustimmen. Diese besteht nur in den Grenzen, die die gesetzliche Zuständigkeit der Organe und deren Gesamtwillensbildung ziehen. Ihre Grundlage wird ersichtlich in Folge der langjährigen Anerkennung der actio pro socio nicht mehr sonderlich betont. Nicht selten finden sich Hinweise auf die richterrechtliche97 Entwicklung oder die einhellige Anerkennung. Nach wie vor liegt indessen die Grundlage in der Wahrung des gemeinsamen Zwecks durch das Mitgliedschaftsrecht. Aus diesem ergibt sich wegen des Vorrangs der gesellschaftlichen Zuständigkeitsordnung freilich nur ein Mitverwaltungsrecht des einzelnen Gesellschafters. Es ermöglicht ausnahmsweise die Geltendmachung der Gesellschaftsforderung, wenn die Gesamtwillensbildung sachwidrig scheitert. Die actio pro socio mittels Prozessstandschaft ist aus diesem Grund anzuerkennen, aber sie ist inhaltlich eingeschränkt. bb) Subsidiarität der actio pro socio Rechtsprechung98 und Literatur99 begnügen sich teilweise damit, die Einschränkungen der actio pro socio mit Hilfe der Treuepflicht zu bestimmen, und erblicken die Grenze im Missbrauch der Klagebefugnis. Praktisch wird damit

__________ 95 K. Schmidt (Fn. 89), § 105 HGB Rz. 201. 96 Ulmer (Fn. 89), § 705 BGB Rz. 210; Schwab (Fn. 33), S. 108 ff.; Hadding (Fn. 89), § 705 BGB Rz. 50; Schäfer (Fn. 89), § 105 HGB Rz. 262. 97 Hopt (Fn. 1), § 109 HGB Rz. 32. 98 BGHZ 25, 47, 49. 99 Hopt (Fn. 1), § 109 HGB Rz. 32.

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dem Klagegegner die Beweislast für den Missbrauch zugeschoben. Dieses Verständnis bildet allerdings den Vorrang der Gesamtwillensbildung, der die actio pro socio zur Ausnahme degradiert, nur unzureichend ab. Vorzugswürdig ist daher, dem Einzelgesellschafter nur eine Hilfszuständigkeit zu belassen.100 Die actio pro socio greift, wie bereits Hadding herausgearbeitet hat, nur ein, wenn die Gesamtwillensbildung nicht legitim, vor allem wenn sie rechtsmissbräuchlich ist.101 Sie ist subsidiär. Für die Zulässigkeit der actio pro socio genügt aber – wie stets bei Übereinstimmung von Zulässigkeits- und Begründetheitsvoraussetzungen einer Klage – der schlüssige Vortrag, dass der Gesellschaft ein von ihr nicht verfolgter, durchsetzbarer Sozialanspruch zusteht.102 Die Gesamtwillensbildung geht nicht nur inhaltlich, sondern auch zeitlich vor. Daher ist als Voraussetzung eine vergebliche Aufforderung an das zuständige Gesellschaftsorgan zu verlangen, selbst Klage zu erheben.103 Das bestätigt die Kodifikation bei der Aktionärsklage in § 148 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 und Abs. 4 Satz 1 AktG. Dagegen ist § 148 Abs. 3 mit der Kostenfolge des Abs. 6 Satz 4 AktG eine Sonderregelung, die bereits im Aktienrecht kritisch beurteilt wird104 und nicht generell auf die actio pro socio übertragen werden sollte.105 Dies wäre mehr, als die Subsidiarität gebietet, und würde die Initiative des Gesellschafters lähmen. cc) Subsidiarität und Sondervertretung Die Subsidiarität der actio pro socio beruht auf dem Vorrang der Organe der Gesellschaft. Das ist für den besonderen Vertreter bedeutsam, der an die Stelle der „normalen“ Organe tritt. Soweit diese im Kapitalgesellschaftsrecht für die Geltendmachung von Schadensersatz nicht als „funktionsfähig“ gelten und deshalb durch den besonderen Vertreter ersetzt werden können, entsteht im Personengesellschaftsrecht infolge vergleichbarer Funktionsunfähigkeit eine Gesetzeslücke, der die subsidiäre actio pro socio nicht entgegensteht. Der BGH hat diese Lücke überzeugend durch die Erstreckung des besonderen Vertreters auf die Personengesellschaft geschlossen.106 Dem besonderen Vertreter stehen gegen die Gesellschaft zwecks Geltendmachung des Ersatzanspruchs die notwendigen, durchsetzbaren Informationsansprüche zu.107 Sie reichen praktisch über die eigenen Informationsrechte der Gesellschafter in §§ 118 Abs. 1 HGB, 716 BGB und vor allem in § 166 HGB hinaus. Diese sind auch nicht erweiterbar, wenn der einzelne Gesellschafter im Wege der actio pro socio vorgeht.108

__________ 100 K. Schmidt (Fn. 89), § 21 IV 1 b (S. 631); Hadding (Fn. 89), § 705 BGB Rz. 50; Schäfer (Fn. 89), § 105 HGB Rz. 262. 101 Hadding (Fn. 89), S. 78. 102 Schäfer (Fn. 89), § 105 HGB Rz. 262. 103 Schäfer (Fn. 89), § 105 HGB Rz. 262. 104 Lutter in FS Uwe H. Schneider, 2011, S. 763, 765. 105 Dafür Verse (Fn. 30), S. 1325, 1332. 106 Grunewald (Fn. 1), S. 167, 173 f.; K. Schmidt, ZGR 2011, 108, 125. 107 Vgl. oben II. 3. a) aa), b). 108 Vgl. dazu BGH, NJW 1992, 1890, 1892.

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Auch aus diesem Grund ist die Anerkennung der Sondervertretung in der Personengesellschaft bedeutsam. 2. Sondervertretung und Selbstorganschaft Der II. Zivilsenat ermöglicht mit der Bestellung des Beirats einer PublikumsKG ebenso wie im Kapitalgesellschaftsrecht auch für die Personengesellschaften die Betrauung von Nichtgesellschaftern als besondere Vertreter.109 Das scheint dem Grundsatz der Selbstorganschaft im Personengesellschaftsrecht zu widerstreiten, das jedenfalls grundsätzlich die Geschäftsführung und Vertretung der Gesellschaft allein den persönlich haftenden Gesellschaftern überlässt. Der BGH möchte deshalb mit dem Gedanken an die Liquidation der Gesellschaft helfen, die in § 146 Abs. 1 HGB „andere Personen“ als Liquidatoren kennt. Er versteht die Geltendmachung eines Ersatzanspruches durch einen besonderen Vertreter als „liquidationsähnlich“, da gleichgerichtete Interessen der Gesellschafter nicht mehr bestünden. Das ist nicht einleuchtend, da regelmäßig die Geschäftsführer noch im Amt sind und die Gesellschaft weiterhin als werbende funktionsfähig ist. Dennoch überzeugt das Ergebnis. Die Entscheidung über die Geltendmachung von Ersatzansprüchen, an der auch nicht geschäftsführende Gesellschafter beteiligt sind, ist gerade kein typischer Vorgang der Geschäftsführung. Vor allem aber hat die Sondervertretung gerade den Sinn, die Geschäftsführung, da ihr keine verlässliche Verfolgung der Ersatzansprüche zuzutrauen ist, auszuschalten. Damit ist aber nicht vereinbar, die Bestellung zum Sondervertreter auf geschäftsführende Gesellschafter zu beschränken oder auf solche, die von der Geschäftsführung ausgeschlossen oder wie Kommanditisten regelmäßig nur an einer Kapitalbeteiligung interessiert sind. 3. Bestellung des Sondervertreters durch Mehrheitsbeschluss Vergleichbare Einwände bestehen gegen das Einstimmigkeitserfordernis bei der Bestellung eines besonderen Vertreters. Der BGH hält grundsätzlich an diesem Erfordernis fest und gelangt bei der Publikums-KG zur Mehrheitsentscheidung allein durch die Abänderung des dispositiven § 116 Abs. 2 HGB im Gesellschaftsvertrag. Er übergeht dabei, dass der Mehrheitsbeschluss ersichtlich durch die Kommanditisten herbeigeführt worden ist und § 164 HGB diesen bei außergewöhnlichen Geschäften nach seinem Wortlaut lediglich ein Widerspruchsrecht einräumt und nur § 116 Abs. 3 HGB unberührt lässt. Indessen ist weithin unbestritten, dass § 116 Abs. 2 HGB generell auch für Kommanditisten anwendbar ist.110 Umso gravierender ist, dass die Einstimmigkeit die Sondervertretung auszuhebeln scheint. Die Einstimmigkeit ermöglicht bereits einem einzigen der – nicht unmittelbar vom Schadensersatz bedrohten und weiterhin abstimmungsberechtigten – geschäftsführenden Gesellschafter, die der beson-

__________ 109 Vgl. oben I. 110 Hopt (Fn. 1), § 164 HGB Rz. 2.

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dere Vertreter gerade verdrängen soll, dessen Bestellung zu verhindern. Bei der KG bliebe eine Kommanditistenmehrheit gänzlich irrelevant. Die Zulässigkeit der Sondervertretung in Personengesellschaften ist mit dem Einstimmigkeitspostulat bei der Bestellung nicht vereinbar. Für diese genügt in Anlehnung an das Kapitalgesellschaftsrecht ein Mehrheitsbeschluss, für den allerdings § 119 Abs. 2 HGB zu beachten ist. Auf die Dispositivität des § 116 Abs. 2 HGB kommt es insoweit nicht an.

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Peter Hommelhoff: Träger des Leo-Baeck-Preises 2005 Ein altes Sprichwort besagt, dass in den Wissenschaften Halbwissen vom Glauben weg, ganzes Wissen zum Glauben zurückführt. Halbwissen, woher es auch kam und wo immer es hinführte, war Leo Baeck ein Gräuel. Der lange Jahre an der Berliner Hochschule für die Wissenschaft des Judentums lehrende Rabbiner trat unnachgiebig für das Prinzip Qualität vor Quantität ein. Entsprechend empfahl er seinen Studentinnen und Studenten wie der Forschergemeinde insgesamt, lieber einen „Quadratmillimeter“ des zugänglichen Wissens vollständig zu durchdringen, anstatt auf vielen Gebieten wenig zu wissen. Das genüge, so Baeck, um gültige Erkenntnisse auch auf wenig vertrauten Gebieten zu gewinnen. Inwieweit sich aus dieser Überzeugung Leo Baecks die These ableiten lässt, eine gute Allgemeinbildung sei eine Art Abfallprodukt fundierten Fachwissens, lasse ich dahingestellt. Keinen Zweifel hingegen gibt es daran, dass der Leo Baeck-Preisträger des Jahres 2005, Prof. Peter Hommelhoff, die hohen wissenschaftlichen Gütekriterien Leo Baecks erfüllt. Seine universitäre Laufbahn, die umfangreiche Liste seiner Ämter und Veröffentlichungen und die vielfachen Ehrungen, die ihm zuteil wurden, belegen hinlänglich Prof. Hommelhoffs Durchdringung vieler „Quadratmillimeter“ im Sinne Leo Baecks. Bei den Beratungen im Vorfeld der Preisverleihung standen für das Präsidium des Zentralrats der Juden in Deutschland jedoch weniger die international anerkannten Forschungsleistungen von Prof. Hommelhoff in den Bereichen des Bürgerlichen Rechts, des Handels- und Wirtschaftsrechts oder der Rechtsvergleichung im Vordergrund. Das Gremium würdigte vielmehr, dass unser Preisträger des Jahres 2005 seit jeher weit über die fachlichen Grenzen seiner anspruchsvollen Forschungsgebiete hinausgeschaut hat und, wie Baeck es ausdrückte, „gültige Erkenntnisse auch auf wenig vertrauten Gebieten“ gewann. Der Leo-Baeck-Preis richtet sich deshalb auch an den vielfach geehrten Juristen. Vor allem aber an den Privatmann und Rektor der Heidelberger Universität, der sich aufgrund seines Geschichtsbewusstseins und seiner Anteilnahme innerhalb und außerhalb seines Amtes für die Weiterentwicklung und Etablierung der Wissenschaft vom Judentum in Deutschland einsetzt. Die Verbindung der Hochschule für Jüdische Studien Heidelberg (HfJS) mit der Ruprecht Karls – Universität war von Anbeginn eine glückliche, für beide Seiten fruchtbare Fügung. Das Anliegen von Prof. Hommelhoff, die Hochschule für Jüdische Studien Heidelberg als feste, über die Grenzen Deutschlands hinaus angesehene Einrichtung der deutschen Hochschullandschaft zu verankern, verdient Dank

__________ * Erweiterte Fassung der Laudatio anlässlich der Verleihung des Leo-Baeck-Preises des Zentralrats der Juden in Deutschland an Prof. Dr. Dr. h.c. Peter Hommelhoff, Rektor der Ruprecht Karls Universität Heidelberg, am 6.12.2005.

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und Anerkennung. Beides möchte der Zentralrat der Juden in Deutschland mit der Verleihung des Leo-Baeck-Preises an Prof. Peter Hommelhoff aussprechen. Leo Baeck war nicht nur ein großer Gelehrter, sondern auch ein bewunderter Lehrer. Dankbar erinnerte sich ein Seminarteilnehmer an die modernen Unterrichtsmethoden des verehrten Professors: „Mit wahrer Begeisterung gingen wir auf diese Neuerung ein. Dass wir Schüler, die man zu jener Zeit und noch lange nachher von oben herab zu behandeln pflegte, hier ungezwungen und frei selbst bestimmen durften, worüber gesprochen werden sollte, bedeutete für uns eine Erlösung.“ Sein Gegenüber, mag er Professor oder Student sein, als gleichberechtigten Gesprächspartner zu achten und einen nüchternen, menschlichen Umgang zu pflegen, zählte zu den immer wieder erinnerten Stärken Baecks. Überschäumende Emotionalität hingegen, verfälscht, ja belastet aus Baecks Sicht nicht nur den wissenschaftlichen Diskurs, sondern kann sich zu einer Bedrohung menschlichen Zusammenlebens entwickeln. Die sachliche Auseinandersetzung, im fachlichen wie zwischenmenschlichen Miteinander, war deshalb eine zentrale Größe im wissenschaftlichen und religiösen Denken und Handeln Baecks. „Man kann fragen“, so Baeck, „was das Frühere war: das Schwinden der Sachlichkeit oder das Schwinden der Menschlichkeit? Aber beide hängen zusammen, das eine bewirkt immer das andere – man vergisst zu oft, welche menschliche Gefahr der Mangel an Sachlichkeit bedeutet.“ Sachlichkeit und Menschlichkeit waren für ihn untrennbar miteinander verbunden. Was es im Extremfall bedeuten kann, wenn Staat und Gesellschaft jenseits aller Sachlichkeit und damit jenseits aller Menschlichkeit handeln, mussten die in Deutschland lebenden Juden im Zuge der Etablierung nationalsozialistischer Macht ab 1933 erfahren. Die Verleihung des Leo-Baeck-Preises an eine so anerkannte Persönlichkeit des deutschen Hochschulwesens wie Prof. Hommelhoff bietet die Gelegenheit, den Blick auf ein Kapitel der Geschichte des nationalsozialistischen Menschheitsverbrechens zu werfen, das im Zusammenhang mit der Verfolgung der Juden bislang nur unzureichend ausgeleuchtet wurde: Die Verfolgung und Vertreibung jüdischer Professoren und Studenten von den deutschen Hochschulen. Peter Hommelhoff hat sein herausgehobenes universitäres Amt immer als Auftrag empfunden, die Erinnerung an dieses dunkle Kapitel der deutschen Wissenschaftsgeschichte wach zu halten. Beides, Rückbesinnung und Profilierung, trieb er entschlossen voran. So verfolgte er das Ziel, die Hochschule für Jüdische Studien Heidelberg als kleine, aber hoch spezialisierte Universität in der deutschen Hochschullandschaft zu etablieren und ihr zu internationalem Ansehen zu verhelfen. Ebenso engagiert trieb er die Vernetzung von Universität und HfJS voran. Wie seine Vorgänger im Amte erkannte er den Gewinn für Lehre und Forschung, den ein enger Austausch zwischen beiden Einrichtungen mit sich bringt. Für eine fruchtbare, tragfähige Zusammenarbeit war aus Hommelhoffs Sicht jedoch zuvor einer grundlegende Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit der Heidelberger Universität unabdingbar: „Für Kooperationen auf gleicher Augenhöhe bedarf es einer soliden Basis“, so Peter Hommelhoff in einem Interview. „Es war mir daher während meiner Amtszeit ein besonderes Anliegen, die Verstrickungen der Universität 584

Peter Hommelhoff: Träger des Leo-Baeck-Preises 2005

in der NS-Zeit schonungslos offen zu legen und ein Stück Vergangenheitsbewältigung zu betreiben.“ Wie viele andere seiner Kollegen trieb auch Peter Hommelhoff die Frage um, wie sich die Gemeinschaft der an der Heidelberger Universität Lehrenden und Lernenden in den Jahren des Nationalsozialismus verhalten hatte. Warum hatten so viele ihrer Vertreter versagt? Für die Studierenden von heute sollte nach Antworten gesucht werden, warum die große Mehrheit der damaligen Professoren ihre Wertmaßstäbe verrieten, welchen Weg die Forschung in dieser Zeit nahm und wie es der Forschergemeinschaft insgesamt möglich war, scheinbar ohne Rücksicht auf die verzweifelte Lebenssituation ihrer jüdischen Kollegen weiterzuarbeiten und sich den rassistisch-nationalistischen Wissenschaftspostulaten der Nationalsozialisten zu unterwerfen. Als ebenso beschämend empfand er es, dass auch unter den Studierenden in Heidelberg zu keinem Zeitpunkt eine nennenswerte Oppositionsbewegung offen in Aktion getreten war. Das schlechte Vorbild der Professoren blieb also nicht ohne Wirkung auf die Studentenschaft. Die Tatsache, dass inzwischen eine umfassende, von namhaften Historikern herausgegebene Untersuchung zu diesem Thema vorliegt, ist sicher nicht zuletzt dem vorbildlichen, in verschiedene Fachrichtung ausstrahlenden Engagement Peter Hommelhoffs zu verdanken. So wird in einer vielbeachteten, vom Rektorat in Auftrag gegebenen Studie der Umgang der Hochschule mit wertvollen Handschriften und Inkunabeln aus dem Besitz der „Josefine und Eduard von Portheim-Stiftung für Wissenschaft und Kunst“ aufgearbeitet. Lob verdient auch die Mitwirkung Prof. Hommelhoffs am Zustandekommen einer Ausstellung zur Geschichte Jüdischen Lebens in Heidelberg, bei der Angehörige der Ruprecht-Karls-Universität, der Hochschule für Jüdische Studien Heidelberg und der Hebräischen Universität in Jerusalem zusammengearbeitet haben. „Die Periode der nationalsozialistischen Herrschaft mit ihren schrecklichen Folgen wirft nach wie vor tiefe Schatten auf unser historisches Denken und Fühlen.“, schreibt Prof. Hommelhoff im einleitenden Text der Ausstellung. Als Rektor war es ihm nicht bloß Pflicht, sondern vor allem persönliches Bedürfnis, die Verstrickung seiner Hochschule während der Zeit des Nationalsozialismus aufarbeiten zu lassen. Entsprechend deutlich benannte er in seiner Rede anlässlich des 25jährigen Bestehens der Hochschule für Jüdische Studien Heidelberg den Umgang der Heidelberger Universität mit den einst in der Stadt lebenden oder später hier studierenden Juden. Schon die Gründung der Universität im Jahre 1386 sei, so Peter Hommelhoff in seinem kritischen Rückblick, für die jüdischen Bürger Heidelbergs eine schwere Belastung gewesen. Er erinnerte an den Pfalzgrafen Ruprecht den Ersten, den Namensgeber der Ruperto Carola, der die Juden Heidelbergs enteignet und vertrieben hatte, um die räumlichen Voraussetzungen für die neue Universität zu schaffen. Dennoch bleibt festzuhalten, dass die Heidelberger Universität Jahrhunderte hindurch zu Recht als liberale akademische Lehranstalt galt. „Semper Apertus“ – dieses Motto schmückt die Universität Heidelberg seit ihrer Gründung vor über 625 Jahren. Der berühmte Leitspruch war eine Selbstverpflich585

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tung der Hochschule, stets eine weltoffene, Menschen und Ideen gegenüber vorurteilsfreie Wissenschaft zu fördern. Die lange Reihe großer Wissenschaftler und Nobelpreisträger, die die Heidelberger Universität hervorbrachte, sind Beleg für die hohe, weltweit anerkannte Qualität von Lehre und Forschung an der Ruperto Carola. Die über Jahrhunderte gepriesene intellektuelle Aufgeschlossenheit und Toleranz endete jedoch jäh mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten. Durch das Wirken überzeugter Regimeanhänger erhielt Heidelberg nach 1933 schon bald den Ruf einer „braunen“ Universität. An die Stelle des einst „lebendigen Geistes“, wie ihn der Germanist Friedrich Gundolf als Leitspruch für das 1931 eröffnete Gebäude „Neue Universität“ beschwor, trat mit Unterstützung der Universitätsleitung in den darauffolgenden Jahren der „deutsche Geist“: Über Zweidrittel des Lehrkörpers waren Mitglieder der NSDAP. Als linientreue Erfüllungsgehilfen des Unrechtsregimes erwiesen sich ab 1933 insbesondere die Rektoren der Ruperto Carola, die in ihrer Amtszeit eine Neuausrichtung der Universität hin zu einer nationalsozialistischen Hochschule betrieben. Ob Nürnberger Gesetze oder das Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums – sämtliche rassistisch-antisemitisch motivierten staatlichen Erlasse wurden von der Hochschulverwaltung angewandt, um jüdische oder regimekritische Kollegen aus ihren Ämtern zu drängen, zu diffamieren und der Verfolgung preiszugeben. Juristisch untermauert wurde dieses Vorgehen durch den Erlass einer neuen Universitätsverfassung im Sommer 1933, die die Hochschule dem Führerprinzip unterwarf; Rektor und Dekane konnten den Lehrkörper und die Studentenschaft von nun an ungehindert ideologisch auf Kurs bringen. Umgehend ließen die Verantwortlichen auf die unheilvollen Worte in den nationalsozialistischen Reden und Pamphleten Taten folgen: Schon im April 1933 begann die Entfernung jüdischer und politisch missliebiger Professoren und Mitarbeiter aus dem Lehrkörper. Es gab keinen akademischen Fachbereich, der sich von den neuen Machthabern nicht in irgendeiner Form vereinnahmen ließ und dazu beitrug, das nationalsozialistische Unrecht pseudo-wissenschaftlich zu rechtfertigen oder vielfachen Nutzen aus der Vertreibung und Ermordung der Juden zu ziehen. Alle Unterstützer des NS-Regimes an der Heidelberger Universität wie an anderen deutschen Hochschulen waren in der Mehrheit hervorragend ausgebildete Akademiker. Im Gegensatz zu den viel beschworenen akademischen Tugenden wirkten sie als Stichwortgeber der nationalsozialistischen Politik und missbrauchten ihr Wissen und ihre Ausbildung, indem sie an der systematischen Entrechtung, Vertreibung und Ermordung eines ganzen Volkes mitwirkten. Die Mehrheit dieser Schreibtischtäter handelte dabei nicht unter Zwang, sondern aus Überzeugung. Es sei kein wirklicher Trost, so der schonungslose Kommentar von Peter Hommelhoff im Rahmen der Eröffnung der Ausstellung „Juden an der Universität Heidelberg“ zu dem Verhalten seiner einstigen Kollegen, „dass die Professoren damals nicht als Akteure auftraten, entscheidend ist, dass sie zumeist indolent schwiegen und nichts taten. Das darf sich nicht wiederholen (…).“

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So grausam die fachlich-institutionelle Seite der Judenverfolgung an den deutschen Universitäten war, so erschütternd und beschämend war der zwischenmenschliche Umgang. Der Philosoph Karl Jaspers, der ab 1906 in Heidelberg lebte und seit 1921 als Ordinarius der Philosophischen Fakultät angehörte, unterschätzte lange die Gefahr, die durch die neuen Machthaber drohte. Die düsteren Vorhersagen seines Schwagers Ernst Mayer im Sommer 1933, man werde die Juden „eines Tages in Baracken bringen und die Baracken anzünden“, tat er als Hirngespinste ab. Erst als er aufgefordert wurde, sich von seiner jüdischen Frau scheiden zu lassen, erkannte er das Ausmaß der Bedrohung. 1933 von der Heidelberger Universitätsverwaltung ausgeschlossen, erhielt Jaspers 1937 seinen Entlassungsbescheid und bekam 1938 ein Publikationsverbot auferlegt. Diese Zwangsmaßnahmen markierten zugleich die endgültige Zerschlagung des Philosophischen Seminars. Die faktische Auflösung des Fachbereichs war unausweichlich geworden, erschienen doch nationalsozialistisches Denken und Philosophie als Widerspruch in sich. Die Nationalsozialisten entschieden nach ideologischen Gesichtspunkten, also nach Maßstäben, die keiner philosophischen Begründung bedurften und erst recht nicht philosophisch hinterfragt werden sollten. In seinen Erinnerungen berichtet Karl Jaspers von dem Schweigen, das ihn und seine jüdische Frau nach dem demütigenden Entzug seiner Lehrerlaubnis seitens des nichtjüdischen Bekanntenkreises umgab: „Wir müssen das stille Fallengelassenwerden erdulden, das in der Situation liegt. (Meine) Amtsentlassung war eine Sensation. Ich wurde bedauert, die Universität wurde bedauert, ich sollte zu privaten Vorlesungen veranlasst werden. Nun es aber ernst wird, an Leib und Leben zu gehen droht, zieht man sich still zurück, spricht nicht, streckt keine helfende Hand aus. Das ist dem Einzelnen nicht vorzuwerfen. Es ist Grundtatbestand unseres menschlichen Daseins, der nur von Ausnahmen durchbrochen werden kann.“ Das „stille Fallengelassenwerden“, von dem Karl Jaspers spricht, umreißt treffend die Situation, mit der jüdische Kommilitonen und Kollegen des Lehrkörpers plötzlich nicht nur in Heidelberg, sondern an allen deutschen Hochschulen konfrontiert wurden. Karl Jaspers und seine jüdische Frau lebten bis zum Ende des Krieges in ständiger Angst vor dem Abtransport in ein Konzentrationslager und trugen deshalb Zyankali bei sich. Millionen Menschen, die wie das Ehepaar Jaspers fallengelassen worden waren, endeten qualvoll in Gaskammern und Massengräbern. Das Ausmaß der Verstrickung der Professorenschaft in das nationalsozialistische Herrschaftssystem veranlasste die amerikanischen Befreier noch vor Kriegsende, 37 der 56 ordentlichen Professoren wegen ihrer Verbindung zum Regime zu entlassen. Nach dem Krieg spielte sich an der Heidelberger Universität das Gleiche ab wie an vielen Institutionen in Deutschland: Die Gejagten von einst verwandelten sich plötzlich zu umhegten Garanten eines unbelasteten Neuanfangs. Zehn der von ihren Ämtern enthobenen Professoren konnten nach erfolgter „Entnazifizierung“ wieder an ihre Institute zurückkehren. Neun 587

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weitere Heidelberger Hochschullehrer mit nationalsozialistischer Vergangenheit erhielten einen Lehrstuhl an anderen deutschen Universitäten. Die rasche Wiedereröffnung der traditionsreichen, doch in ihrem Geist durch die Jahre der Diktatur zerstörten Universität Heidelberg war der moralischen Autorität von Männern wie Karl Jaspers, Karl Heinrich Bauer oder Martin Dibelius zu verdanken. Unter Federführung von Jaspers wurde eine neue Satzung ausgearbeitet, in der sich die Universität verpflichtete, „dem lebendigen Geist der Wahrheit, Gerechtigkeit und Humanität zu dienen.“ Vor dem Hintergrund der bis heute unfassbaren Ereignisse während des Zweiten Weltkriegs erscheint es fast wie ein Wunder, dass wir an der ehemaligen Wirkungsstätte von Karl Jaspers inzwischen auf das 33jährige Bestehen einer Hochschule für Jüdische Studien zurückblicken können: 33 Jahre, in denen sich Heidelberg zu einem Zentrum der Wissenschaft vom Judentum und Gelehrsamkeit in Deutschland, ja in Europa entwickelt hat. Der nach Kriegsende allmählich wieder erworbene gute Ruf der Universität und der liberale Geist der Stadt Heidelberg veranlassten die Gründungsväter, hier eine akademisch etablierte Einrichtung für Jüdische Studien ins Leben zu rufen. Was in Heidelberg entstand, war nichts weniger als die Verwirklichung eines alten Traums: „Was die Hochschule wollte, wich von den bestehenden jüdischen Bildungsanstalten ab. Sie wollte frei sein, in Unabhängigkeit von Staats- und Gemeindebehörden ihre Tätigkeit ausüben. Sie wollte über allen jüdischen Behörden stehen (…). Die Lehrfächer sollten nicht auf die Gegenstände der jüdischen Theologie beschränkt bleiben, sonders alles umfassen, was das Leben des Judentums und Juden in der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft berührt.“ Ein Zitat, das nicht etwa aus einem Rückblick auf die Zielsetzungen der Gründer der Hochschule für Jüdische Studien Heidelberg Ende der 1970er Jahre stammt, sondern aus einem Bericht des Berliner Curatoriums der Hochschule für die Wissenschaft des Judentums in Berlin vom Mai 1932. Als „gnädige Fügung“ bezeichnete Prof. Hommelhoff deshalb einst die Gründung der Hochschule für Jüdische Studien Heidelberg und verwies zu Recht auf den Respekt, den die Ruperto Carola ihrer „Schwester“ und deren Selbständigkeit stets entgegenbrachte. Ausdruck dessen war die Unterstützung seitens der Heidelberger Universität für das Anliegen der HfJS, den schon damals existierenden und seit der politischen Wende in Deutschland und Osteuropa gestiegenen Bedarf der jüdischen Gemeinden an Kantoren, Religionslehrern und Rabbinern zu decken. Die Heranbildung von Lehrern und Rabbinern war seit jeher eine der Hauptforderungen an Jüdische Lehranstalten und Seminare. Nicht die religiöse Ausbildung allein sollte an einer Lehranstalt für Jüdische Studien gewährleistet werden, sondern, die Forderung berühmter Vertreter der Jüdischen Wissenschaften wie Abraham Geiger oder Leopold Zunz aufgreifend, die Weitergabe und Erforschung aller geschichtlichen und kulturellen Facetten des Judentums. So wird an der Heidelberger Hochschule für Jüdische Studien seit über 30 Jahren praktiziert, was Leo Baeck schon zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts als Hochschullehrer und Rabbiner seinen Zuhörern vermittelte: Geistige Un588

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abhängigkeit und konsequente Toleranz gegenüber anderen religiösen Überzeugungen. Ganz selbstverständlich und ohne Rücksicht auf seine zahlreichen Kritiker trat Baeck für das Recht künftiger Rabbiner ein, sich im Rahmen ihrer Ausbildung mit den verschiedenen religiösen Richtungen des Judentums auseinanderzusetzen. In einem Brief aus dem Jahr 1949 an einen Kollegen in den USA schrieb er dazu: „Mit jeder Form des Gottesdienstes will ich einverstanden sein, wenn nur das Hebräische in ihm einen Platz behält. Jede Richtung bin ich bereit anzuerkennen, wenn nur das Wort „Judentum“ das Substantiv bleibt, und die Worte „liberal“, „konservativ“, „orthodox“ etc. nicht mehr als Adjektive sein wollen.“ Eine Haltung, für die er heftige Anfeindungen, teilweise sogar Spott seitens seiner Amtskollegen erntete. Tatsächlich jedoch war es diese Offenheit, die das Wiedererwachen jüdischen Lebens in Deutschland nach Kriegsende überhaupt erst ermöglichte. Gründet doch die jüdische Einheitsgemeinde auf der Einsicht in die Notwendigkeit religiöser Toleranz. Mit der Entstehung der Hochschule für Jüdische Studien Heidelberg wurde dieses Denken institutionalisiert. Peter Hommelhoff hat diesen Leitgedanken Leo Baecks – das unbedingte Eintreten für ein vorurteilsfreies Miteinander religiöser Glaubensrichtungen und Strömungen – mit seinem Wirken gestärkt und gefördert. Wer mit Peter Hommelhoff zusammenarbeitete, der spürte, dass ihm die Weiterentwicklung der HfJS als wichtige Institution innerhalb der jüdischen und nichtjüdischen Welt ein Herzensanliegen war. Die Erkenntnis, dass die Zukunft des Judentums in Deutschland vor allem auch von einer ausreichenden Zahl verfügbarer Rabbiner abhängig war, veranlasste ihn deshalb, die Rabbinerausbildung an der HfJS noch weiter zu verbessern. Der Bau eines Wohnheims, in dem eine koschere Lebenshaltung möglich war, stellte in dieser Hinsicht einen wichtigen Schritt dar, ebenso wie seine erfolgreichen Anstrengungen, gemeinsam mit Vertretern der HfJS Bildungsstandards für die Schulausbildung jüdischer Schüler bis Klasse 13 zu erarbeiten. Beides, der Einsatz für eine Aufwertung der Rabbinerausbildung wie für ein verbessertes Curriculum an jüdischen Schulen, zeugt von seinem steten Bemühen, jüdisches Leben in Deutschland unterstützen und stärken zu wollen. Die Ausbildung akademisch hoch qualifizierten Gemeindepersonals ist jedoch nur ein Arbeitsschwerpunkt der HfJS. Zwischen dem Zentralrat der Juden in Deutschland als Träger der Hochschule, deren Ersten Prorektor Herrn Prof. Bodenheimer und Prof. Peter Hommelhoff herrschte Einverständnis darüber, Bedeutung und Kompetenz der HfJS noch stärker als bisher herauszustellen. Das Potenzial dieser in ihrer wissenschaftlichen Vielfalt einzigartigen Einrichtung ist längst nicht ausgeschöpft, geschweige denn der interessierten Öffentlichkeit hinreichend bekannt. Dabei gäbe es so viel Erfreuliches zu berichten. Die Bemühungen, das Potential beider Hochschulen in gemeinsame Projekte einfließen zu lassen, haben inzwischen reiche Früchte getragen. Die Studenten beider Einrichtungen kommen in den Genuss einer Vielzahl wissenschaftlicher Angebote und Fortbildungsmöglichkeiten. Bestes Beispiel ist die im deutschsprachigen Raum einzigartige Brückenprofessur „Israel- und Nahoststudien“, die eine akademische Verbindung zwischen dem Historischen Semi589

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nar sowie dem Zentrum für Europäische Geschichts- und Kulturwissenschaften der Universität Heidelberg und der Hochschule für Jüdische Studien Heidelberg herstellt. Der „Ben Gurion Guest Chair“ ermöglicht es, international renommierte Wissenschaftler nach Heidelberg zu holen. Das wirklich Besondere an diesem Lehrstuhl jedoch ist, dass sowohl Studenten der HfJS als auch Studierende verschiedener Fachrichtungen der Ruperto Carola hier Lehrveranstaltungen besuchen können. Unter der Aegide von Peter Hommelhoff wurde das Studienangebot noch um weitere gemeinsame Studiengänge erweitert. Darüber hinaus umfasst die Liste universitärer Kooperationspartner inzwischen viele klangvolle Namen des internationalen Wissenschaftsbetriebes. Dankbar sind wir Herrn Prof. Hommelhoff zudem für seinen unermüdlichen Einsatz im Rahmen seiner Mitgliedschaft im Kuratorium der Hochschule für Jüdische Studien Heidelberg wie auch als Vizepräsident der Hochschulrektorenkonferenz. Seine Überzeugung, dass zur weiteren Profilierung der HfJS ein eigenes Habilitationsrecht ebenso notwendig ist wie die Mitgliedschaft in der Deutschen Forschungsgemeinschaft, unterstrich seinen Willen, tatkräftig dabei mitzuhelfen, das jahrzehntelange Nischendasein der Hochschule für Jüdische Studien Heidelberg zu beenden. Dass ihm die Verwirklichung dieses Vorhabens ein zentrales Anliegen ist – diesen Eindruck hinterließ der erfahrene Hochschulpolitiker und ausgewiesene Kenner der deutschen Hochschullandschaft Peter Hommelhoff schon bei unserer ersten Begegnung im Jahr 2002. Die Hochschule für Jüdische Studien noch während seiner Vizepräsidentschaft in der Hochschulrektorenkonferenz begrüßen zu dürfen, dies wäre, so Peter Hommelhoff damals, „der krönende Abschluss ihrer auch vom Wissenschaftsministerium Baden-Württemberg bis in diese Tage hinein dankenswerterweise hilfreich beförderten ‚Normalisierung‘“. Am 27.11.2007 erfolgte dann tatsächlich der universitäre Ritterschlag. Nach eingehender Prüfung des Anwärters wurde die Hochschule für Jüdische Studien Heidelberg 259stes Mitglied der Hochschulrektorenkonferenz, dem zentralen Vertretungsorgans und Forum der deutschen Hochschulen. Ebenfalls hervorhebenswert ist die institutionelle Akkreditierung der HfJS durch den Wissenschaftsrat im Jahr 2009. Die Beschäftigung mit der HfJS war Teil einer grundsätzlichen Auseinandersetzung der Mitglieder des Wissenschaftsrates mit den Religionswissenschaften und insbesondere mit der Judaistik im Gefüge der deutschen Hochschulen. Die Empfehlung an die Universitäten, das Fach Jüdische Studien/Judaistik aufzuwerten und nicht mehr länger als Hilfswissenschaft der Evangelischen Theologie zu behandeln, unterstreicht die inzwischen vorherrschende Anerkennung für die Wissenschaft des Judentums als eigenständige Fakultät. Die noch verbreitete Einengung der Jüdischen Studien/Judaistik auf Religionskunde wird durch diese Stellungnahme des Wissenschaftsrates hoffentlich bald überwunden werden können. Ein tatkräftiger Unterstützer dieser Entwicklung wird ganz sicher Peter Hommelhoff sein. Denn auch für ihn war es in den Jahren der vertrauensvollen Zusammenarbeit mit der HfJS immer die Vielgestaltigkeit des Judentums und der Reichtum an überliefertem Wissen, die ihn faszinierten und motivierten. 590

Peter Hommelhoff: Träger des Leo-Baeck-Preises 2005

In den Jahren der Zusammenarbeit habe ich von Prof. Hommelhoff zunehmend das Bild eines verlässlichen, hilfsbereiten Mannes gewonnen, der zuhören kann und zupackend handelt, wenn eine Entscheidung erst einmal gefallen ist. Seine Hilfsbereitschaft, seine Zuverlässigkeit, sein Gestaltungswille und nicht zuletzt sein Humor haben für mich die stets von gegenseitigem Vertrauen getragene Zusammenarbeit zu etwas Besonderem gemacht. Weit über diese persönliche Sicht hinausgehend, hat sich Prof. Peter Hommelhoff als beredter, entschlossener Streiter für die Belange der Heidelberger Hochschule und damit für die Weiterentwicklung jüdischen Lebens in Deutschland erwiesen. Es ehrt Peter Hommelhoff, dass er den Leo-Baeck-Preis auch, aber nicht nur als persönliche Auszeichnung empfindet. Nie vergisst er, das Engagement seiner vielen Mitstreiter innerhalb der Universität Heidelberg und der Landesverwaltung hervorzuheben, die an der engmaschigen Kooperation zwischen Universität und Hochschule mitgewirkt haben. Um aus einzelnen gemeinsamen Projekten und Vorhaben eine erfolgreiche Zusammenarbeit zu entwickeln, bedarf es jedoch der richtigen Impulse und einer klaren Vision. Peter Hommelhoff war in Sachen HfJS ein solcher Impulsgeber und Visionär. Er selbst mag diesen Einsatz als selbstverständlichen Teil seiner Tätigkeit als Rektor der Universität Heidelberg empfinden. Diese Bescheidenheit rechtfertigt einmal mehr die Entscheidung des Zentralrats der Juden in Deutschland, ihn für seine Verdienste um die Hochschule für Jüdische Studien mit dem Leo-Baeck-Preis zu ehren. In der Tradition der Hochschule für die Wissenschaft des Judentums in Berlin stehend, entwickelte sich Heidelberg zu einem Zentrum der Forschung, der Lehre und des Studiums der jüdischen Geisteswissenschaften und verwandter Disziplinen. Das ist die eine, in der Satzung festgeschriebene Zielsetzung. Mindestens ebenso wichtig ist der besondere Geist dieser einzigartigen Institution. Die Hochschule für Jüdische Studien Heidelberg ist ein Ort der Toleranz und Weltoffenheit. Ein jüdisch geprägter Ort des gelebten Miteinanders verschiedener Religionen, Sprachen und Kulturen. Peter Hommelhoff hat das in seinen Kräften Stehende getan, um das Profil der Hochschule für Jüdische Studien und damit des Faches Jüdische Studien insgesamt zu schärfen und zu bereichern. Durch sein Tun hat er die jüdische und vor allem jüdisch-akademische Stimme über die Grenzen Deutschlands hinaus gestärkt. In seiner Funktion als Rektor der Heidelberger Universität nutzte Peter Hommelhoff seine Einfluss- und Gestaltungsmöglichkeiten, um das Potential der HfJS noch stärker herauszustellen. Diese Form der Werbung für die Hochschule innerhalb und außerhalb der akademischen Welt ist ein wichtiger Grund für die große Anziehungskraft der Heidelberger Hochschule für Studenten aus aller Welt. Sie sind es, inspiriert durch die hervorragenden Wissenschaftler der HfJS, die zur Weiterentwicklung der Jüdischen Studien beitragen und mit dem hier gewonnenen Wissen die Integration jüdischen Lebens und Denkens in die Mehrheitsgesellschaft befördern. An der HfJS zu studieren hat eine nachhaltige Wirkung auf die Studierenden. Die Mehrheit von ihnen spürt die Verantwortung, als Absolventin oder Absol591

Salomon Korn

vent zur Weiterentwicklung und Bereicherung jüdischen Lebens in Deutschland beitragen zu können. Auch mit Blick auf den Umgang mit historischen Gedenktagen, wie dem Kriegsende und der Befreiung der Konzentrations- und Vernichtungslager, sind mit der heutigen Studentengeneration große Hoffnungen verbunden. Die Bewahrung der Erinnerung an die Shoah zählt ebenso dazu wie der Wunsch, die junge Generation möge sich in das jüdische Leben in Deutschland einmischen, daran teilhaben, es beleben und bereichern. Diese Hoffnung erlaube ich mir nicht nur unserem verehrten Preisträger, Prof. Peter Hommelhoff, mit auf den Weg zu geben, sondern auch den Heidelberger Studentinnen und Studenten. Das dafür notwendige Engagement, der gute Wille und das nötige Maß innerer Anteilnahme sind heute in Heidelberg reichlich vorhanden. Mit den Glückwünschen zur verdienten Ehrung mit dem Leo-Baeck-Preis ist die Hoffnung verbunden, Prof. Hommelhoff möge der Hochschule für Jüdische Studien Heidelberg, deren erster Ehrendoktor er seit 2009 ist, und dem jüdischen Leben in Deutschland auch künftig als tatkräftiger Förderer erhalten bleiben!

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Mehrheitsbeschlüsse im Aktionärspool Inhaltsübersicht I. Einführung 1. Erscheinungsformen 2. Schutz der AG und der Mitaktionäre 3. Schutz der Poolmitglieder 4. Schutzgemeinschaft II II. Treupflichtwidrige Poolentscheidungen 1. Grundlagen 2. HV-Beschlüsse mit Einzelzustimmungserfordernis 3. HV-Beschlüsse mit zwingend qualifizierter Mehrheit a) Notwendigkeit sachlicher Rechtfertigung? b) Schutz durch besondere Informationspflichten

c) Schutz durch Kompensationsrechte 4. HV-Beschlüsse und Maßnahmen mit Sonderbeschlusserfordernis III. Rechtswidrige HV-Beschlüsse 1. Ausschluss der Anfechtbarkeit zugunsten eines Spruchverfahrens 2. Anfechtbare HV-Beschlüsse a) Vorrang der Anfechtungsklage? b) Formelle Mängel des HVBeschlusses c) Inhaltliche Mängel des HVBeschlusses IV. Rechtslage bei Unwirksamkeit des Poolbeschlusses

I. Einführung 1. Erscheinungsformen Die Praxis kennt vielfältige Formen von Vereinbarungen zwischen Aktionären einer AG, mit denen diese untereinander Regelungen über die Verwaltung ihres Aktienbesitzes treffen. Zu den wichtigsten Erscheinungsformen solcher Vereinbarungen gehören Stimmrechtspools, deren Zweck es ist, die einheitliche Abstimmung aus den Aktien der Poolmitglieder sicherzustellen. Ihr Motiv kann sich in der Erlangung der Steuerbegünstigung nach § 13b Abs. 1 ErbStG erschöpfen. Zumeist geht es aber (auch) um den mit der gebündelten Stimmenmacht verbundenen Einfluss. Insbesondere bei Familienaktiengesellschaften besteht häufig das Interesse, durch Poolvereinbarungen den Einfluss der Familie gegenüber dem Streubesitz oder den Einfluss einzelner Familienstämme gegenüber anderen Familienstämmen aufrecht zu erhalten. Die Ausgestaltung solcher Stimmrechtspools unterscheidet sich im Detail sehr stark, die Grundstrukturen sind aber ähnlich. Stimmrechtspools sind in aller Regel in der Rechtsform der Gesellschaft bürgerlichen Rechts organisiert. Der gemeinsame Zweck ist die einheitliche Ausübung des Stimmrechts aus den der Poolbildung unterliegenden Aktien. Zumeist handelt es sich um Innengesellschaften ohne Gesamthandsvermögen. Die Poolmitglieder selbst sind Inhaber ihrer Aktien und verpflichtet, entsprechend der Vorabstimmung im Pool das Stimmrecht in der Hauptversammlung auszuüben. Zum Kreis der Teil593

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nehmer des Pools gehört in der Regel nur ein Teil der Aktionäre; gelegentlich finden sich Stimmrechtspools, an denen sämtliche Aktionäre beteiligt sind. Auch im Kreis der im Pool beteiligten Aktionäre sind nicht notwendig alle Aktien gebunden, sondern bei komplexen Organisationsformen finden sich Gestaltungen, bei denen der Aktionär nur mit einem Teil seines Aktienbesitzes am Pool teilnimmt, während er einen anderen Teil außerhalb der Poolbindung hält. Die Willensbildung innerhalb des Pools folgt zumeist dem Mehrheitsprinzip, d. h. die Poolmitglieder bestimmen durch Mehrheitsbeschluss (nach dem Verhältnis ihres Aktienbesitzes, hier und da nach Köpfen), wie die Stimmen des Pools in der Hauptversammlung abgegeben werden. In selteneren Fällen sind die Poolmitglieder verpflichtet, ihre Stimme nach Weisung eines der Poolmitglieder auszuüben; solche Regelungen findet man etwa, wenn Aktien in der Familie auf Kinder übertragen werden, die Eltern das Stimmrecht aber noch in der Hand behalten wollen. Soweit über das Abstimmungsverhalten der Poolmitglieder durch Mehrheitsbeschluss entschieden wird, lassen die Poolverträge im allgemeinen die einfache Mehrheit genügen, vereinzelt finden sich Regelungen, die höhere Mehrheiten festlegen oder vorsehen, dass innerhalb des Pools mit der gleichen Mehrheit abgestimmt wird, die für die Beschlussfassung in der Hauptversammlung der AG erforderlich ist. Die Abstimmung im Pool erfolgt zumeist im Wege der „Urabstimmung“ aller Poolmitglieder. Gelegentlich sind Teile der Poolmitglieder in Unterpools organisiert, in denen die Mitglieder darüber befinden, wie die Stimmen des Unterpools bei der Meinungsbildung im Hauptpool abgegeben werden. Komplexe Poolverträge enthalten auch Kombinationslösungen, wonach bei laufenden Angelegenheiten die Vorabstimmung im Unterpool stattfindet, für wichtige Beschlussgegenstände hingegen eine Vorabstimmung im Unterpool entfällt und dessen Mitglieder ohne Unterpoolbindung an der Abstimmung im Hauptpool teilnehmen. Ergänzt werden solche Vereinbarungen hin und wieder durch Bestimmungen über die Auflösung einer Pattsituation im Pool durch Stichentscheid eines Poolmitglieds; aus der Praxis sind auch (rechtlich problematische) Regelungen bekannt, wonach der Stichentscheid in einer Pattsituation im Pool dem jeweiligen Vorstands- oder Aufsichtsratsvorsitzenden zustehen soll. Da der Poolvertrag nur eine vertragliche Verpflichtung der Mitglieder schafft, entsprechend der Willensbildung im Pool in der Hauptversammlung abzustimmen, finden sich zusätzlich Regelungen, die die einheitliche Stimmrechtsausübung sicherstellen sollen. Dabei kann es sich um Vertragsstrafenregelungen handeln, wobei zumeist als Vertragsstrafe Geldzahlungen bestimmt werden; in manchen Fällen besteht die Vertragsstrafe darin, dass die anderen Pool-Mitglieder das Recht haben, die Aktien des vertragsuntreuen Mitglieds gegen Zahlung einer Abfindung zu übernehmen. Häufig finden sich auch Vertreterklauseln, die darauf abzielen, dass das Stimmrecht nicht vom einzelnen Poolmitglied selbst, sondern von einem Repräsentanten des Pools in Vollmacht der Mitglieder wahrgenommen wird.

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Mehrheitsbeschlüsse im Aktionärspool

2. Schutz der AG und der Mitaktionäre Auf der Ebene der AG führt die Poolbildung zu einer Erhöhung des relativen Stimmgewichts der Aktionäre, die im Pool die Mehrheit hatten, denn sie verfügen in der Hauptversammlung nun auch über die Stimmen der im Pool überstimmten Aktionäre.1 Überdies findet die Meinungsbildung der poolverbundenen Aktionäre schon im Vorfeld der Hauptversammlung statt, Informationen und Argumenten aus der Hauptversammlung sind die Poolmitglieder nicht mehr zugänglich.2 Daraus wurde vereinzelt der Schluss gezogen, in der Poolbildung liege ein Rechtsmissbrauch gegenüber den außenstehenden Aktionären,3 aber diese Meinung ist zu Recht vereinzelt geblieben, und die grundsätzliche Zulässigkeit von Stimmpoolvereinbarungen zwischen Aktionären ist heute wohl unbestritten.4 Das Aktienrecht zwingt niemanden, über sein Abstimmungsverhalten ohne Vorabstimmung mit anderen Aktionären oder erst in der Hauptversammlung zu entscheiden, sondern überlässt es jedem Aktionär selbst, wann und wie er seine Meinung bildet. Die übrigen Aktionäre sind durch die allgemeinen Regeln des Aktien-, Konzern- und Kapitalmarktrechts hinreichend geschützt. 3. Schutz der Poolmitglieder Deutlich komplexere Rechtsfragen ergeben sich im Blick auf die poolgebundenen Aktionäre, die sich für ihr Abstimmungsverhalten in der Hauptversammlung der Entscheidung der Poolmehrheit unterwerfen. Das Aktienrecht enthält ein höchst ausdifferenziertes System des Minderheitenschutzes. Zwar geht es ebenfalls vom Grundsatz der einfachen Stimmenmehrheit aus (§ 133 Abs. 1 AktG), alle wichtigen Strukturentscheidungen bedürfen aber gesetzlich zwingend einer qualifizierten Mehrheit (näher unten II. 3.) In manchen Fällen bedarf es zusätzlich eines Sonderbeschlusses bestimmter Aktionäre (näher unten II. 4.), und in Ausnahmefällen ist auch im Aktienrecht die individuelle Zustimmung betroffener Aktionäre nötig (näher unten II. 2.). Das Aktiengesetz sorgt durch Informationsrechte dafür, dass eine informierte Meinungsbildung stattfinden kann (§ 131 AktG) und macht wichtige Strukturmaßnahmen vielfach davon abhängig, dass Aktionäre rechtzeitig vor der Hauptversammlung durch einen ausführlichen Bericht des Vorstands und weitere zugänglich zu machende Unterlagen eingehend informiert werden. Bei bestimmten Beschlussgegenständen bedarf der Hauptversammlungsbeschluss einer besonderen sachlichen Rechtfertigung, bei anderen schützen Kompensationsrechte die Interessen der Minderheitsaktionäre. Verstößt ein Beschluss der Hauptversammlung gegen Gesetz oder Satzung, hat schließlich jeder Aktionär die Möglichkeit hiergegen Anfechtungsklage zu erheben (§§ 243 ff. AktG).

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1 Habersack, ZHR 164 (2000), 1, 12 f. 2 Hoffmann-Becking, ZGR 1994, 442, 443 spricht von einem „Vorhof“ der Willensbildung. 3 Glattfelder, ZSR 78 (1959), 141, 291 ff. zum schweizerischen Recht. 4 BGHZ 179, 13, Tz. 12 – Schutzgemeinschaft II; BGHZ 48, 163, 166; Hüffer, 10. Aufl. 2012, § 133 AktG Rz. 27 m. w. N.

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Im Stimmpool entscheidet hingegen zumeist die einfache Mehrheit, und das Poolmitglied muss seine Stimme in der Hauptversammlung so abgeben, wie der Pool es beschlossen hat, auch wenn es selbst anderer Meinung ist. Das kann dazu führen, dass in der Hauptversammlung eine Entscheidung zustande kommt, die dem „eigentlichen“ Willen des Poolmitglieds widerspricht und die nicht zustande gekommen wäre, wenn das Poolmitglied in der Hauptversammlung nach eigenem Ermessen hätte abstimmen können. Das Recht, sich in der Hauptversammlung zu informieren, läuft leer, weil der Verlauf der Hauptversammlung für die Stimmabgabe keine Bedeutung mehr hat. Und wie weit die übrigen aktienrechtlichen Schutzmechanismen noch wirken, ist unklar. 4. Schutzgemeinschaft II Der Bundesgerichtshof hatte sich mit der Frage des Schutzes der Poolmitglieder in seiner Entscheidung Schutzgemeinschaft II zu befassen. Es ging um einen Stimmpool, der insgesamt ca. 90 % der Stimmen in der Hauptversammlung der AG auf sich vereinte. Der Pool bestand aus den Mitgliedern dreier Familienstämme, von denen ein Stamm rd. 38 %, einer rd. 22 % und der dritte rd. 32 % der Stimmrechte in der Hauptversammlung der AG innehatte, die restlichen Aktien lagen im Streubesitz. Im Pool wurde beschlossen, in der AG verschiedenen Strukturmaßnahmen zuzustimmen, die dort jeweils eine 3/4Mehrheit benötigten. Der im Pool überstimmte 32 %-Gesellschafterstamm stimmte in der Hauptversammlung gegen die Maßnahmen und wurde anschließend wegen Verletzung des Poolvertrages auf Vertragsstrafe in Anspruch genommen. In der Literatur war zum Teil angenommen worden, in Fällen, in denen der Beschluss auf der Ebene der AG einer qualifizierten Mehrheit bedürfe, sei ein Poolbeschluss mit einfacher Mehrheit nicht zulässig. Das qualifizierte Mehrheitserfordernis des Aktienrechts wolle die Minderheitsgesellschafter schützen. Dieser Schutzzweck des Aktienrechts könne nicht durch eine Mehrheitsklausel im Pool unterlaufen werden, sondern das Mehrheitserfordernis des Aktienrechts wirke auf die konsortiale Ebene hinüber mit der Folge, dass über Maßnahmen, die auf der Ebene der AG der qualifizierten Mehrheit bedürften, auch auf der Ebene des Konsortiums nur mit qualifizierter Mehrheit abgestimmt werden könne.5 Demgegenüber hatte sich die Gegenmeinung für eine Trennung der Ebenen ausgesprochen. Das Aktienrecht schlage nicht auf die konsortiale Ebene durch, sondern der Schutz der Minderheit im Pool richte sich ausschließlich nach personengesellschaftsrechtlichen Grundsätzen.6 Der Bundesgerichtshof ist dem Trennungsprinzip gefolgt. Die Mehrheitsklausel im Poolvertrag sei nach personengesellschaftsrechtlichen Grundsätzen wirksam. Die qualifizierten Mehrheitserfordernisse des Aktienrechts setzten sich nicht auf der Ebene des Konsortialvertrages fort. Denn die Mehrheitsklausel

__________ 5 Habersack, ZHR 164 (2000), 1, 12 ff. 6 Noack, Gesellschaftervereinbarungen bei Kapitalgesellschaften, 1994, S. 207 ff.; Zöllner in FS Ulmer, 2003, S. 725, 740 ff.

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im Pool setze nicht die Mehrheitserfordernisse des Aktienrechts außer Kraft, sondern ziele gerade darauf ab, diese zu erfüllen. Die vorgelagerte Willensbildung im Konsortium richte sich nach den dafür getroffenen Vereinbarungen, die mit aktienrechtlichen Vorschriften nicht konform gehen müssten. Eine Übertragung der aktienrechtlichen Mehrheitserfordernisse würde im übrigen zu praktischen Ungereimtheiten führen, weil dann einem Poolmitglied, das in der AG über keine Sperrminorität verfüge, über den Pool eine solche zuwachsen könne. Der Schutz der Minderheit im Pool soll sich damit nach dem in der OTTOEntscheidung7 entwickelten Zwei-Stufen-Modell vollziehen. Danach ist auf der ersten Stufe zu prüfen, ob der Mehrheitsbeschluss durch eine entsprechende Mehrheitsklausel formell legitimiert ist; das ist bei Poolvereinbarungen in aller Regel unproblematisch. Auf der zweiten Stufe findet sodann eine inhaltliche Wirksamkeitsprüfung statt. Danach könne die Bindung an einen Konsortialbeschluss entfallen, wenn dieser einen gesetzeswidrigen Inhalt habe.8 Daneben sei der Mehrheitsbeschluss auf dieser zweiten Stufe vor allem unter dem Aspekt einer etwaigen Verletzung der gesellschafterlichen Treuepflicht der Mehrheit gegenüber der Minderheit im Konsortium zu prüfen.9 Schutzgemeinschaft II hat im Grundsatz nahezu allgemeine Zustimmung gefunden.10 Der Versuch, die Minderheit im Pool durch Übertragung qualifizierter Mehrheitserfordernisse des Aktienrechts auf die Poolentscheidung zu schützen, konnte in der Tat nicht überzeugen. Dieser Ansatz war ungeeignet, sein Schutzziel zu erreichen, denn eine Übertragung des aktienrechtlichen Mehrheitserfordernisses würde keineswegs dazu führen, dass das Poolmitglied im Pool den gleichen Einfluss hätte wie in der AG.11 Vor allem aber scheint es auch dogmatisch konsequent, einen Aktionär, der sich einer GbR anschließt, um das gemeinsame Abstimmungsverhalten zu koordinieren, dort nach dem Recht der GbR zu schützen. Der Pool ist nun einmal eine GbR, keine AG. Während beim Stimmpool, der nur einen Teil der Aktionäre umfasst, das Trennungsprinzip heute akzeptiert wird, soll allerdings nach verbreiteter Auffassung das Gegenteil gelten, wenn sämtliche Aktionäre im Stimmpool zusammengeschlossen sind,12 weil dadurch die zwingenden gesetzlichen Mehrheitserfordernisse des Aktiengesetzes umgangen würden. Das klingt auf den ersten Blick konsequent, kann aber doch nicht überzeugen. Die zwingenden gesetzlichen Mehrheitserfordernisse des Aktienrechts schützen auf der Ebene

__________ 7 BGHZ 170, 283 – OTTO; zuvor schon Goette in FS Sigle, 2000, S. 145. 8 BGHZ 179, 13, Tz. 25 – Schutzgemeinschaft II; Habersack, ZHR 164 (2000), 1, 10; Zöllner (Fn. 6), S. 725, 732 f. 9 BGHZ 179, 13, Tz. 17 – Schutzgemeinschaft II. 10 C. Schäfer, ZGR 2009, 768; K. Schmidt, ZIP 2009, 737; Priester in FS Reuter, 2010, S. 1139; Pudewils, BB 2009, 733; Wertenbruch, NZG 2009, 645; Gottschalk, GmbHR 2009, 310; kritisch Söntgerath, Vermittelte Mehrheit, 2010, S. 524 f., der danach abstufen will, wie groß das Einflusspotential des Pools in der Hauptgesellschaft ist. 11 Vgl. dazu nur BGHZ 179, 13, Tz. 21. 12 Söntgerath (Fn. 10), S. 520 ff.; K. Schmidt, ZIP 2009, 737, 743; Priester (Fn. 10), S. 1139, 1152.

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der Aktiengesellschaft; dort werden sie nicht berührt. Auf der Ebene des Pools vollzieht sich der Schutz der Minderheit nach personengesellschaftsrechtlichen Grundsätzen. Dafür macht es keinen Unterschied, ob im Pool die Gesamtheit der Aktionäre oder nur ein Teil davon zusammengeschlossen ist. So oder so stellt die Poolabsprache keine Umgehung der aktienrechtlichen Vorschriften dar, sondern zielt gerade darauf ab, die aktienrechtlichen Mehrheitserfordernisse zu erfüllen.13 Auch aus praktischer Sicht wäre ein solcher Ansatz problematisch, weil er dazu zwänge, abzugrenzen, bis zu welcher Beteiligungsquote im Pool dort die einfache Mehrheit gelten und ab welcher Beteiligungsquote sich die Mehrheitserfordernisse des Aktienrechts durchsetzen sollen; für eine solche Abgrenzung aber stehen Maßstäbe nicht zur Verfügung, sondern sie könnte nur in willkürlicher Weise erfolgen.14 Der Minderheitenschutz im Pool vollzieht sich damit nicht durch Übertragung aktienrechtlicher Schutzmechanismen in den Pool, sondern der Poolbeschluss ist einer inhaltlichen Wirksamkeitsprüfung zu unterziehen. Aber was heißt das konkret? Kann z. B. im Pool beschlossen werden, dass die Poolmitglieder für eine Änderung des Unternehmensgegenstandes, eine Kapitalerhöhung, gar eine solche mit Bezugsrechtsausschluss, den Abschluss eines Beherrschungsvertrages, eine Verschmelzung, einen Formwechsel, eine Übertragung des gesamten Gesellschaftsvermögens oder gar eine Liquidation der AG zu stimmen haben? Können sie durch Poolbeschluss verpflichtet werden, einer Satzungsänderung zuzustimmen, die ihnen in dem nach § 55 AktG zulässigen Rahmen Nebenleistungspflichten auferlegt, ihre Aktien vinkuliert oder in stimmrechtslose Vorzüge umwandelt, Sonderrechte abschafft oder die Zwangseinziehung ihrer Aktien erlaubt (§ 237 AktG)?

II. Treupflichtwidrige Poolentscheidungen 1. Grundlagen a) Bei der inhaltlichen Wirksamkeitsprüfung der Poolentscheidung geht es zunächst darum zu prüfen, ob trotz Zulassung der Mehrheitsentscheidung im Gesellschaftsvertrag ein unzulässiger Eingriff in schlechthin unverzichtbare Gesellschafterrechte vorliegt;15 das ist für die Praxis des Stimmrechtspools irrelevant. Der Bundesgerichtshof rückt sodann Maßnahmen in den Vordergrund, die in „relativ unentziehbare“ Rechte des Gesellschafters eingreifen. Darunter sind solche Rechte zu verstehen, in die nur mit (ggf. antizipierter) Zustimmung des einzelnen Gesellschafters oder aus wichtigem Grund eingegriffen werden kann.16 Welche Rechte das sind, ist den jeweils maßgeblichen gesetzlichen

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13 BGHZ 179, 13, Tz. 20 – Schutzgemeinschaft II. 14 Vgl. Söntgerath (Fn. 10), S. 524 f., der die Grenze einer Beteiligung von mehr als 75 % der Aktien im Konsortium ziehen will. 15 BGHZ 170, 283, Tz. 10 – OTTO; BGHZ 179, 13, Tz. 17 – Schutzgemeinschaft II; Goette (Fn. 7), S. 145, 160. 16 BGHZ 170, 283, Tz. 10 – OTTO.

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Regelungen und Wertungen zu entnehmen. Hierzu gehört zum einen das sog. Belastungsverbot des Personengesellschaftsrechts (§ 707 BGB), wonach dem Gesellschafter zusätzliche Leistungspflichten nur auferlegt werden können, wenn der Gesellschaftsvertrag Art und Umfang so klar regelt, dass der Betroffene konkret abschätzen kann, was auf ihn zukommen mag.17 Daneben wird man hierzu das Recht auf Gleichbehandlung, gesellschaftsvertragliche Sonderrechte und einen Teil solcher Rechte zu zählen haben, die früher unter dem Schlagwort des „Kernbereichs“ erörtert wurden,18 ein Begriff, den der Bundesgerichtshof heute allenfalls noch in Anführungsstrichen verwendet.19 Die auch heute noch in der Literatur vielfach zu lesende Gleichsetzung der absolut und relativ unentziehbaren Gesellschafterrechte mit dem früheren „Kernbereich“20 dürfte dem Konzept des Bundesgerichtshofs nicht entsprechen, braucht an dieser Stelle aber nicht vertieft zu werden. Bei Eingriffen in „relativ unentziehbare“ Rechte geht es in erster Linie darum, ob die Voraussetzungen für einen Eingriff erfüllt sind, d. h. die Zustimmung des betroffenen Gesellschafters oder ein wichtiger Grund vorliegt. Dabei ist dieses Zustimmungserfordernis nicht mit der „ersten Stufe“ der Prüfung zu verwechseln: dort geht es nur um das Vorhandensein einer umfassenden Mehrheitsklausel, hier geht es um das nötige Einverständnis gerade auch mit diesem Eingriff, d. h. um eine „qualifizierte Bestimmtheit“21. Zusätzlich bedarf es nach der OTTO-Entscheidung der Prüfung, ob die Gesellschaftermehrheit „sich nicht etwa treupflichtwidrig über beachtenswerte Belange der Minderheit hinweggesetzt“ hat. Das soll aber – wie der BGH ausdrücklich klarstellt – nicht bedeuten, dass der Mehrheit im Rechtsstreit der Nachweis einer sachlichen Rechtfertigung des Beschluss obliege, vielmehr habe umgekehrt die Minderheit den Nachweis einer treupflichtwidrigen Mehrheitsentscheidung zu führen.22 In Schutzgemeinschaft II hingegen spricht der BGH davon, bei einem Eingriff in relativ unentziehbare Rechte der Minderheit liege „regelmäßig eine treupflichtwidrige Ausübung der Mehrheitsmacht vor“, und nur „in sonstigen Fällen“ habe die Minderheit den Nachweis einer treupflichtwidrigen Mehrheitsentscheidung zu führen.23 Diese Formulierungen sind wenig hilfreich, sondern bringen Unklarheit in das an sich klare Konzept. Bei dem Eingriff in relativ unentziehbare Rechte des Gesellschafters geht es nicht um die treupflichtwidrige Ausübung von Mehrheitsmacht und schon gar nicht um eine „vermutete Treuwidrigkeit“. Vielmehr geht es hier (jedenfalls zu-

__________ 17 Vgl. etwa BGH, NJW-RR 2005, 1347; BGHZ 66, 82; BGH, NJW RR 2006, 827 u. 829; Sprau in Palandt, 71. Aufl. 2012, § 707 BGB Rz. 3. 18 Hierzu wurden im Wesentlichen Teilnahme-, Stimm-, Informations- und Vermögensrechte des Gesellschafters gezählt; vgl. nur K. Schmidt, ZIP 2009, 737, 740 m. w. N. 19 BGHZ 179, 13, Tz. 17 – Schutzgemeinschaft II. 20 So z. B. Gottschalk, GmbHR 2009, 310; Wertenbruch, NZG 2009, 645, 648; K. Schmidt, ZIP 2009, 737, 740; Priester (Fn. 10), S. 1139, 1148 f.; C. Schäfer, ZGR 2009, 768, 775 ff. 21 So die griffige Formulierung von K. Schmidt, ZIP 2009, 737, 739, 740. 22 BGHZ 170, 283, Tz. 10 – OTTO. 23 BGHZ 179, 13, Tz. 17 – Schutzgemeinschaft II.

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nächst) einfach nur darum, ob die Eingriffsvoraussetzungen vorliegen, d. h. der einzelne Gesellschafter dem Eingriff gerade auch in diese Rechte zugestimmt hat oder ein wichtiger Grund dafür vorliegt. Dass dies der Fall sei, hat die Mehrheit darzulegen und zu beweisen, aber nicht wegen „vermuteter Treuwidrigkeit“, sondern nach der allgemeinen Regel, dass derjenige die Voraussetzungen einer ihm günstigen Norm darzulegen hat, der sich darauf berufen will. Die Frage der Treuwidrigkeit mag sich im Einzelfall zusätzlich stellen, wenn die (antizipierte) Zustimmung des Gesellschafters zum Eingriff in ein relativ unentziehbares Recht vorliegt. Der eigentliche Anwendungsbereich der Treuwidrigkeitsprüfung aber sind „normale“ Mehrheitsbeschlüsse, die keine „relativ unentziehbaren“ Rechte betreffen, die Minderheit jedoch gleichwohl belasten. In diesen Fällen beschränkt sich die inhaltliche Wirksamkeitsprüfung auf die Frage, ob sich die Mehrheit im Einzelfall in treuwidriger Weise über beachtenswerte Belange der Minderheit hinwegsetzt.24 Will die Minderheit eine solche individuelle Treupflichtverletzung gelten machen, obliegt es ihr, die entsprechenden Umstände darzulegen und gegebenenfalls zu beweisen. b) Will man anhand dieser Grundsätze Poolbeschlüsse einer inhaltlichen Wirksamkeitsprüfung unterziehen, ist es wichtig zu beachten, dass es bei der Frage, ob ein Eingriff in ein schlechthin unverzichtbares oder ein relativ unentziehbares Gesellschafterrecht vorliegt oder ob sich die Mehrheit im Einzelfall treuwidrig verhält, nicht darum geht, ob und wie der Poolbeschluss zu einem Eingriff in Mitgliedschaftsrechte im Pool führt. Entscheidend ist vielmehr die Frage, wie der angestrebte Hauptversammlungsbeschuss die aktienrechtlichen Mitgliedschaftsrechte des Poolmitglieds auf der Ebene der AG tangiert.25 Zwar können auch auf der Ebene des Konsortiums Beschlüsse gefasst werden, die dort relativ unentziehbare Mitgliedschaftsrechte betreffen.26 Aber Poolbeschlüsse über die Stimmrechtsausübung in der AG können per se nicht zu einem Eingriff in Mitgliedschaftsrechte im Konsortium führen, da bei einer Beschlussfassung über die Stimmrechtsausübung in der AG nur die Mitgliedschaftsrechte in der AG berührt sind. Bei der Frage, wo die Grenzen liegen, in denen der Pool das Abstimmungsverhalten seiner Mitglieder in der Hauptversammlung der AG durch Mehrheitsbeschluss bestimmen kann, muss daher nach Art und Inhalt des Hauptversammlungsbeschlusses und der Schwere des mit ihm verbundenen Eingriffs in die mitgliedschaftliche Stellung des Aktionärs differenziert werden.

__________ 24 So auch die laufende Entscheidungspraxis des BGH, vgl. etwa BGH, ZIP 2012, 515, Tz. 23 und 520 Tz. 25, wo jeweils nur noch geprüft wird, ob die Entscheidung von einer Mehrheitsklausel im Gesellschaftsvertrag gedeckt ist (1. Stufe) und ob sie sich als treuwidrige Ausübung der Mehrheitsmacht gegenüber der Minderheit darstellt (2. Stufe). 25 Ebenso K. Schmidt, ZIP 2009, 737, 740; C. Schäfer, ZGR 2009, 768, 778; Priester (Fn. 10), S. 1139, 1150. 26 C. Schäfer, ZGR 2009, 768, 778 nennt als Beispiel die Veränderung der Regelungen über Mehrheitserfordernisse im Konsortium.

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2. HV-Beschlüsse mit Einzelzustimmungserfordernis Auch das Aktienrecht kennt „relativ unentziehbare“ Aktionärsrechte, d. h. Maßnahmen, für deren Umsetzung neben einem entsprechenden Mehrheitsbeschluss der Hauptversammlung die individuelle Zustimmung der betroffenen Aktionäre erforderlich ist. Das gilt z. B. für die Umwandlung stimmberechtigter in stimmrechtslose Aktien27 und die nachträgliche Einführung einer Vinkulierung (§ 180 Abs. 2 AktG). Andere Beispiele bilden Hauptversammlungsbeschlüsse, durch die das Sonderrecht auf Entsendung eines Aufsichtsratsmitglieds (§ 101 Abs. 2 AktG) abgeschafft28 oder im Nachhinein eine Zwangseinziehung bereits ausgegebener Aktien zugelassen werden soll.29 Gleiches gilt schließlich für Hauptversammlungsbeschlüsse, die darauf abzielen, dem Aktionär auf der Ebene der AG zusätzliche Leistungspflichten aufzuerlegen: das ist aktienrechtlich nur in engen Grenzen in Form statutarischer Nebenverpflichtungen (§ 55 AktG) und Vertragsstrafen für den Fall nicht rechtzeitiger Einlageleistung (§ 63 Abs. 3 AktG) möglich und kann durch Satzungsänderung nur eingeführt werden, wenn die betroffenen Aktionäre individuell zustimmen.30 Aufgrund der Poolvereinbarung können die Poolmitglieder in aller Regel nicht durch Mehrheitsbeschluss des Pools verpflichtet werden, einem solchen Eingriff in ihre Aktionärsstellung zuzustimmen. Vielmehr ergibt im allgemeinen schon die Auslegung des Poolvertrages, dass dieser nur zur Stimmabgabe bei der Beschlussfassung in der Aktiengesellschaft verpflichten will, nicht aber zur Abgabe individueller Zustimmungserklärungen, die für den Eingriff in Individualrechte des Aktionärs nötig sind. Ist etwas anderes gewollt, reicht die allgemeine Mehrheitsklausel im Poolvertrag nicht, sondern es bedarf zusätzlich der Zustimmung des Betroffenen. Diese kann zwar antizipiert im Poolvertrag enthalten sein, aber dazu muss aus dem Poolvertrag hinreichend klar werden, dass die Poolmitglieder sich gerade auch für den Eingriff in dieses relativ unentziehbare Aktionärsrecht dem Poolwillen unterstellen wollten. 3. HV-Beschlüsse mit zwingend qualifizierter Mehrheit Das Aktiengesetz kennt vielfältige Hauptversammlungsbeschlüsse, mit denen sich ein mehr oder minder starker Eingriff in die mitgliedschaftliche Stellung der Aktionäre verbindet, ohne dass dafür die individuelle Zustimmung der betroffenen Aktionäre erforderlich ist. Hierzu zählen letztlich alle Hauptversammlungsbeschlüsse, über die zwingend mit qualifizierter Mehrheit zu entscheiden

__________ 27 Vgl. etwa Hüffer (Fn. 4), § 139 AktG Rz. 11. 28 Vgl. etwa Hüffer (Fn. 4), § 101 AktG Rz. 8. 29 Hüffer (Fn. 4), § 237 AktG Rz. 8; Krieger in Münch.Hdb. AG, 3. Aufl. 2007, § 62 Rz. 8; Lutter in KölnKomm. AktG, 2. Aufl. 1995, § 237 AktG Rz. 8; Marsch-Barner in Spindler/Stilz, 2. Aufl. 2010, § 237 AktG Rz. 10; einschränkend im Hinblick auf mögliche Rechte Dritter Oechsler in MünchKomm. AktG, 3. Aufl. 2011, § 237 AktG Rz. 24. 30 § 180 Abs. 1 AktG (Nebenpflichten) sowie Bayer in MünchKomm. AktG, 3. Aufl. 2008, § 63 AktG Rz. 54 m. w. N. (Vertragsstrafe).

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ist, z. B. eine Änderung des Unternehmensgegenstandes, die Zustimmung zu einer Übertragung des Gesamtvermögens und zu Holzmüller-Beschlüssen, die meisten Maßnahmen der Kapitalerhöhung und Kapitalherabsetzung, die Zustimmung zu Unternehmensverträgen und Maßnahmen nach dem UmwG.31 Bei all diesen Maßnahmen handelt es sich zwar um Strukturveränderungen auf der Ebene der AG, aber es werden nicht relativ unentziehbare Mitgliedschaftsrechte des Aktionärs berührt, sondern es handelt sich um Eingriffe, die das Aktienrecht der Mehrheit überlässt, wenn auch einer qualifizierten Mehrheit. Nach dem Konzept von „Schutzgemeinschaft II“ findet nur eine Kontrolle auf individuelle Treupflichtverletzungen der Mehrheit hin statt. Einer „qualifizierten Bestimmtheit“, wie sie für den Eingriff in relativ unentziehbare Gesellschafterrechte verlangt wird, bedarf es für diese Fallgruppe nicht.32 a) Notwendigkeit sachlicher Rechtfertigung? In der Literatur ist dafür plädiert worden, dass Konzept von „Schutzgemeinschaft II“ für diese Maßnahmen weiterzuentwickeln und im Hinblick auf Hauptversammlungsbeschlüsse der AG, die dort eine wesentliche Strukturveränderung nach sich ziehen, eine besondere sachliche Rechtfertigung des Poolbeschlusses zu verlangen, die von der Mehrheit dargelegt und ggf. bewiesen werden müsse.33 Diese Auffassung kann indes nicht überzeugen, sondern steht in Widerspruch zu den Wertungen des Aktienrechts. Lässt man die Ausnahmefälle außer Betracht, in denen der Hauptversammlungsbeschluss der Aktiengesellschaft einer materiellen Inhaltskontrolle unterliegt,34 geht es bei den hier in Rede stehenden Beschlüssen um Maßnahmen, die jedem Aktionär auf der Ebene der AG zuzumuten sind, ohne dass dort eine Inhaltskontrolle stattfände.35 Die Notwendigkeit einer Inhaltskontrolle auf Konsortialebene ließe sich dann nur begründen, wenn die Poolbildung zu einer so erheblichen Verschlechterung der Position der einzelnen Konsorten führen würde, dass ihnen das, was jedem Aktionär auf der Ebene der AG ohne Weiteres zugemutet wird, als Poolmitglied auf der Ebene des Pools nicht zugemutet werden könnte. Das lässt sich allein damit, dass auf der Ebene des Pools ein geringeres Mehrheitserfordernis gilt als auf der Ebene der AG nicht begründen. Eine gewisse Schlechterstellung der Poolmitglieder muss man zwar auch darin sehen, dass

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31 Vgl. §§ 179 Abs. 2 Satz 2, 179a Abs. 1 Satz 2, 182 Abs. 1 Satz 2, 186 Abs. 3 Satz 2 u. 3, 193 Abs. 1, 202 Abs. 2, 221 Abs. 4, 222 Abs. 1, 229 Abs. 3, 293 Abs. 1 u. 2 AktG, §§ 65 Abs. 1, 125, 240 Abs. 1 UmwG; BGHZ 159, 30, 45 f. – Gelatine für HolzmüllerBeschlüsse. 32 Zweifelnd K. Schmidt, ZIP 2009, 737, 742; Wertenbruch, NZG 2009, 645, 648, jeweils für den Fall des Auflösungsbeschlusses. 33 C. Schäfer, ZGR 2009, 768, 791; tendenziell anscheinend auch Priester (Fn. 10), S. 1139, 1151. 34 Insbesondere bei der Kapitalerhöhung mit Bezugsrechtsausschluss, vgl. BGHZ 71, 40, 50 – Kali & Salz; BGHZ 136, 133, 135 ff. – Siemens/Nold. 35 Vgl. z. B. BGHZ 138, 71, 75 ff. – Sachsenmilch (keine Inhaltskontrolle für Kapitalherabsetzung); BGHZ 103, 184, 190 (keine Inhaltskontrolle für Auflösungsbeschluss); BGHZ 70, 117, 121 ff. (keine Inhaltskontrolle nachträgliche Einführung eines Höchststimmrechts).

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sie ihre Entscheidung treffen müssen, ohne in der Hauptversammlung zum Beschlussgegenstand Fragen stellen zu können. Auch das rechtfertigt eine allgemeine Inhaltskontrolle des Poolbeschlusses aber nicht, zumal bei vielen wichtigen Strukturmaßnahmen auf der Ebene der AG ohnehin mit der Einladung zur Hauptversammlung ein ausführlicher schriftlicher Bericht des Vorstands zur Begründung der Maßnahme zu erstatten ist (vgl. dazu noch sogleich lit. b). Vorzugswürdig ist demgegenüber das Konzept des Bundesgerichtshofs, den notwendigen Minderheitenschutz im Pool über die individuelle Treupflichtkontrolle im Einzelfall sicherzustellen. In Fällen, in denen es nicht um den Schutz des relativ unentziehbaren Bereichs der Aktionärsstellung geht, ist es sachgerecht, die Mehrheitsentscheidung im Pool als solche zu akzeptieren, sofern nicht im Einzelfall die Minderheit den Nachweis führen kann, dass die Mehrheit sich treupflichtwidrig über berechtigte Belange der Minderheit hinweggesetzt hat. b) Schutz durch besondere Informationspflichten Bei einer Reihe von Strukturmaßnahmen lässt das Aktienrecht zwar Beschlussfassungen mit qualifizierter Mehrheit zu, versucht aber, durch besondere Informationspflichten eine sachgerechte Meinungsbildung in der Hauptversammlung zu gewährleisten. Dazu gehört in aller Regel die Erstattung eines Vorstandsberichts mit einer ausführlichen Erläuterung und Begründung des Vorhabens.36 Daneben ist in bestimmten Fällen eine sachverständige Prüfung durch einen gerichtlich bestellten Prüfer vorgesehen.37 Diese und weitere Unterlagen sind ab der Einberufung der Hauptversammlung jedem Aktionär zugänglich zu machen.38 Außerdem hat die Verwaltung den Aktionären mit der Einladung zur Hauptversammlung Beschlussvorschläge zu den Gegenständen der Tagesordnung zu unterbreiten (§ 124 Abs. 3 AktG). Der durch diese Regelungen verfolgte Informationszweck würde vereitelt, wenn im Pool über das Abstimmungsverhalten in der Hauptversammlung zu einem Zeitpunkt beschlossen würde, zu dem die einzelnen Poolmitglieder noch nicht die Möglichkeit hatten, den Beschlussvorschlag der Verwaltung und die auszulegenden Unterlagen zur Kenntnis zu nehmen und auszuwerten. Die berechtigten Belange der Poolmitglieder verlangen es, dass ihnen Gelegenheit gegeben wird, vor der Beschlussfassung im Pool die Beschlussvorschläge und -vorlagen der Verwaltung der AG zur Kenntnis zu nehmen. Es ist deshalb als ein Gebot der individuellen Treuepflicht der Poolmitglieder anzusehen, die Beschlussfassung im

__________ 36 Z. B. bei Kapitalmaßnahmen mit Bezugsrechtsausschluss (§§ 186 Abs. 4 Satz 2, 203 Abs. 2 Satz 2, 221 Abs. 4 Satz 2 AktG), beim Abschluss eines Unternehmensvertrags (§ 293a AktG) und bei Umwandlungsmaßnahmen (§§ 8, 122e, 127, 192 UmwG). 37 Z. B. bei einer Kapitalerhöhung gegen Sacheinlage (§ 183 Abs. 3 AktG), dem Abschluss eines Unternehmensvertrags (§§ 293b ff. AktG), der Verschmelzung (§§ 9 ff., 30 Abs. 2 UmwG), der Auf- und Abspaltung (§ 125 Satz 1 u. 2 UmwG) und dem Formwechsel (§ 208 UmwG). 38 Z. B. § 293f AktG, §§ 63, 125, 230 Abs. 2 UmwG.

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Pool erst zu einem Zeitpunkt durchzuführen, zu dem für alle Mitglieder ausreichende Gelegenheit zur Kenntnisnahme und Auswertung dieser Informationen der Gesellschaft bestand. Das Aktienrecht verlangt die Publikation dieser Information und Unterlagen mit der Einberufung und will damit den Aktionären eine mindestens vierwöchige Vorbereitungszeit einräumen. Das ist auf der Ebene des Pools naturgemäß nicht möglich, denn der Pool muss vor der Hauptversammlung entschieden haben. Seinen Mitgliedern muss aber die Zeit zugestanden werden, sich die Beschlussvorlagen der Hauptversammlung zu beschaffen und diese in zumutbarer Zeit auszuwerten. Einer zu frühen Beschlussfassung im Pool kann jedes Mitglied widersprechen. c) Schutz durch Kompensationsrechte In bestimmten Situationen schützt das Aktienrecht die Interessen der Minderheit zusätzlich dadurch, dass es das Recht gewährt, gegen eine angemessene Abfindung auszuscheiden. Das gilt insbesondere nach § 305 AktG bei Abschluss eines Beherrschungs- oder Gewinnabführungsvertrags, §§ 29, 207 UmwG geben bei Verschmelzung auf einen Rechtsträger anderer Rechtsform und bei Formwechsel dem Aktionär, der gegen den Umwandlungsbeschuss Widerspruch zur Niederschrift erklärt, das Recht auf eine angemessene Barabfindung. Einen zusätzlichen Schutz des Vermögensinteresses der Minderheitsaktionäre stellt darüber hinaus der Anspruch auf Ausgleichszahlungen im Falle eines Beherrschungs- oder Gewinnabführungsvertrags dar (§ 304 AktG). Diese besonderen Schutzmechanismen tragen der Tatsache Rechnung, dass bei diesen Maßnahmen die Vermögensinteressen der Aktionäre im besonderen Maße berührt sind. Auch in diesen Fällen führt das jedoch nicht zu der Notwendigkeit, den Poolbeschluss einer besonderen Inhaltskontrolle zu unterziehen. Vielmehr gilt auch hier, dass es auf die Wertungen des Aktien- und Umwandlungsrechts ankommt, nach denen die Zustimmung zu einem Unternehmensvertrag oder einem Formwechsel gerade keinen Eingriff in ein relativ unentziehbares Aktionärsrecht darstellt. Der einzelne Aktionär muss sich auch bei diesen Maßnahme eine Mehrheitsentscheidung gefallen lassen, und er ist dabei durch die Kompensationsrechte des Aktien- und des Umwandlungsrechts zusätzlich geschützt. Er bedarf keines über die individuelle Treupflichtkontrolle hinausgehenden Schutzes im Pool. Das setzt allerdings voraus, dass das Poolmitglied durch die Zustimmung auf der Ebene der AG sein Kompensationsrecht nicht verliert. Bei Abschluss eines Unternehmensvertrags ist das nicht der Fall, sondern den Ausgleichsanspruch und das Abfindungsrecht hat auch derjenige Aktionär, der dem Unternehmensvertrag zugestimmt hat. Umstritten ist die Frage jedoch für die Fälle des Formwechsels. Das Abfindungsrecht nach §§ 29, 207 UmwG setzt voraus, dass der Aktionär gegen den Umwandlungsbeschluss Widerspruch zur Niederschrift erklärt, und in der Literatur wird verbreitet angenommen, dass dieses

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Abfindungsrecht verloren gehe, wenn der Aktionär bei der Beschlussfassung für den Verschmelzungsvertrag oder für den Formwechsel gestimmt habe.39 Diese Auffassung überzeugt nicht, sondern es ist sachgerechter, Aktionären, die dem Formwechsel nicht im Wege stehen, aber auch nicht in der umstrukturierten Gesellschaft verbleiben wollen, die Möglichkeit zur Zustimmung und zum Ausscheiden zu geben.40 Würde man ihr aber folgen, hätte das notwendig Auswirkungen auf die Anforderungen an den Poolbeschluss.41 Verlöre der Aktionär durch die Zustimmung zum Hauptversammlungsbeschluss den Vermögensschutz, den das Gesetz auf der Ebene der Aktiengesellschaft bereithält, müsste er auf der Ebene des Pools geschützt werden. Die Abfindungsrechte sind zwingende Schutzrechte, die dem Aktionär zustehen, wenn er nicht aus eigener Entscheidung auf die Rechtsausübung verzichtet. Sie gleichen insoweit den relativ unentziehbaren Aktionärsrechten und müssen wie diese geschützt werden. Gingen sie mit Zustimmung zum Umwandlungsbeschluss verloren, könnte sich die Poolbindung auf den Umwandlungsbeschluss nicht erstrecken, es sei denn, das Mitglied hätte sich gerade auch für diesen Beschluss der Poolentscheidung unterwerfen wollen.42 4. HV-Beschlüsse und Maßnahmen mit Sonderbeschlusserfordernis Das Aktienrecht verlangt in bestimmten Fällen neben einem Mehrheitsbeschluss der Hauptversammlung einen Sonderbeschluss der betroffenen Aktionäre. In einigen Fällen bedarf es eines Sonderbeschlusses der Betroffenen nicht als Wirksamkeitserfordernis für einen Hauptversammlungsbeschluss, sondern als Wirksamkeitserfordernis für eine Maßnahme der Geschäftsführung, nämlich bei Aufhebung und ordentlicher Kündigung eines Unternehmensvertrags (§§ 296 Abs. 2, 297 Abs. 2 AktG). In all diesen Fällen geht es um Maßnahmen, die in Rechtspositionen einzelner Aktionäre eingreifen und deshalb an sich der individuellen Zustimmung dieser Aktionäre bedürften, die das AktG aber erleichtern will, indem es von der Einzelzustimmung absieht und eine Zustimmung durch Sonderbeschluss der Betroffenen genügen lässt. Sonderbeschlüsse der betroffenen Aktionäre genügen zum Beispiel für die Aufhebung eines Vor-

__________ 39 Grunewald in Lutter, 4. Aufl. 2009, § 29 UmwG Rz. 10; Kalls in Semler/Stengel, 2. Aufl. 2007, § 29 UmwG Rz. 21; Bermel in Goutier/Knopf/Tulloch, Umwandlungsrecht, 1996, § 29 UmwG Rz. 18; Stratz in Schmitt/Hörtnagl/Stratz, UmwG/UmwStG, 2. Aufl. 2006, § 29 UmwG Rz. 15, § 207 UmwG Rz. 4; Wälzholz in Widmann/Mayer, Umwandlungsrecht, Loseblatt, § 29 UmwG Rz. 30; Schaub, NZG 1998, 626, 628; Hommelhoff, ZGR 1993, 452, 470 f. 40 OLG Stuttgart, AG 2007, 596, 597; Marsch-Barner in Kallmeyer, 4. Aufl. 2010, § 29 UmwG Rz. 14; Meister/Klöcker in Kallmeyer, 4. Aufl. 2010, § 207 UmwG Rz. 16; Decher in Lutter, 4. Aufl. 2009, § 207 UmwG Rz. 8; Sagasser/Sickinger in Sagasser/ Bula/Brünger, Umwandlungen, 3. Aufl. 2002, Rz. R40; Limmer, Handbuch der Unternehmensumwandlung, 3. Aufl. 2007, Rz. 2325; Veil, Umwandlung einer AG in eine GmbH, 1996, S. 214 ff. 41 Anders anscheinend Gottschalk, GmbHR 2009, 310, 312; unklar König, ZGR 2005, 417, 429 ff. 42 Anders Zöllner (Fn. 6), S. 725, 750 ff., der dem überstimmten Poolmitglied einen Anspruch auf Übernahme seiner Aktien durch die übrigen Poolmitglieder geben will.

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zugsrechts (§ 141 Abs. 1 AktG), für die Ausgabe neuer Vorzugsaktien, die bestehenden Vorzugsaktien im Rang vorgehen (§ 141 Abs. 2 AktG), und für Kapitalmaßnahmen, sofern mehrere Gattungen stimmberechtigter Aktien vorhanden sind (§§ 182 Abs. 2, 222 Abs. 2 AktG). Der Sonderbeschluss ist in diesen Fällen nicht Teil des Hauptversammlungsbeschlusses, sondern ein zusätzliches Zustimmungserfordernis i. S. von § 182 BGB, das dem zunächst schwebend unwirksamen Hauptversammlungsbeschluss hinzutreten muss, damit dieser wirksam wird. Bis zur Erteilung der Zustimmung durch Sonderbeschluss ist der Hauptversammlungsbeschluss schwebend unwirksam.43 Sofern im Pool darüber abgestimmt wird, wie die Poolmitglieder zu solchen Beschlussgegenständen in der Hauptversammlung der AG abzustimmen haben, ist zunächst klar, dass die Poolmitglieder bei dem Hauptversammlungsbeschluss selbst ihr Stimmrecht entsprechend der Willensbildung im Pool auszuüben haben. Ob gleiches auch für die Beschlussfassung über den Sonderbeschluss gilt, ist hingegen fraglich. Denn bei Lichte besehen geht es hier um eine besondere Form des relativ unentziehbaren Rechts. Der Sonderbeschluss ist letztlich nichts anderes als eine individuelle Zustimmungserklärung i. S. von § 182 BGB, nur mit der Besonderheit, dass es nicht der Zustimmung jedes einzelnen betroffenen Aktionärs bedarf, sondern die Zustimmung der Mehrheit der betroffenen Aktionäre genügt. Das spricht dafür, die Fälle des Sonderbeschlusserfordernisses dem Eingriff in relativ unentziehbare Rechte gleichzustellen mit der Folge, dass ein Mehrheitsbeschluss des Pools insoweit nur dann Bindungswirkung hat, wenn die Poolmitglieder diesem Eingriff, wenn auch in antizipierter Form, zugestimmt haben. Die einfache Mehrheitsklausel des Poolvertrages reicht dafür nicht. Beurteilt man diese Frage anders oder ergibt sich aus dem Poolvertrag eindeutig, dass sich die Poolbindung auch auf Sonderbeschlüsse erstrecken soll, stellt sich die Anschlussfrage, ob im Pool auch Aktionäre mitstimmen dürfen, die auf der Ebene der AG bei der Beschlussfassung über den Sonderbeschluss nicht stimmberechtigt sind. Nach den Bestimmungen des Aktienrechts sollen am Sonderbeschluss nur diejenigen Aktionäre mitwirken, die von der Maßnahme nachteilig betroffen sind. Gleichwohl wird dies einer Teilnahme der übrigen Poolmitglieder bei einer Beschlussfassung im Pool nicht entgegen stehen. Konsequente Folge des Trennungsprinzips ist es vielmehr anzunehmen, dass sich die besonderen Beschlusserfordernisse des Aktienrechts auf der Ebene des Pools nicht fortsetzen. Die Annahme, dass die beim Sonderbeschluss nicht stimmberechtigten Aktionäre auf der Ebene des Pools überhaupt kein Stimmrecht hätten, also auch im Hinblick auf die Stimmabgabe bei dem eigentlich Hauptversammlungsbeschluss nicht mitstimmen könnten, verbietet sich von vornherein, denn sie würde zu einer ungereimten Benachteiligung der anderen Poolmitglieder und zu einem ungerechtfertigten Stimmenübergewicht des sonderbeschlussberechtigten Poolmitglieds führen. Für die Annahme aber, dass auch im Pool zwei Beschlüsse gefasst werden müssten, nämlich zum einen ein

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43 Vgl. etwa Hüffer (Fn. 4), § 138 AktG Rz. 7; Spindler in K. Schmidt/Lutter, 2. Aufl. 2010, § 138 AktG Rz. 20.

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Poolbeschluss über die Stimmrechtsausübung bei dem Hauptversammlungsbeschluss und zum anderen ein Poolbeschluss über die Abstimmung bei dem aktienrechtlichen Sonderbeschluss, und dass bei letzterem nur die auf der Ebene der AG sonderbeschlussberechtigten Poolmitglieder im Pool abstimmungsberechtigt wären, fehlt eine tragfähige Rechtsgrundlage. Ein solches Sonderbeschlusserfordernis im Pool lässt sich ohne eine klare Vereinbarung im Poolvertrag nicht begründen. Vor einem Missbrauch der Mehrheitsmacht der übrigen Poolmitglieder ist das betroffene Poolmitglied durch die individuelle Treupflichtkontrolle des Poolbeschlusses ausreichend geschützt.

III. Rechtswidrige HV-Beschlüsse Nach Schutzgemeinschaft II sind Poolbeschlüsse unwirksam, wenn sie einen gesetzwidrigen Inhalt haben,44 was wiederum der Fall ist, wenn sie darauf gerichtet sind, einen rechtswidrigen Hauptversammlungsbeschluss herbeizuführen. Das erscheint auf den ersten Blick einleuchtend, denn, so sollte man meinen, niemand kann verpflichtet werden, sich rechtswidrig zu verhalten.45 Tatsächlich ist die Fragestellung aber komplexer, weil das Aktienrecht auf die Rechtswidrigkeit eines Hauptversammlungsbeschlusses differenzierter reagiert als mit dem bloßen Postulat der Unwirksamkeit: 1. Ausschluss der Anfechtbarkeit zugunsten eines Spruchverfahrens Das Gesetz kennt eine Reihe von Fällen, in denen der Aktionär Anspruch auf eine angemessene Kompensation für Rechtsbeeinträchtigungen hat. Dazu zählen namentlich die schon erwähnten Ansprüche auf Ausgleich und Abfindung bei Abschluss eines Beherrschungs- oder Gewinnabführungsvertrages (§§ 304, 305 AktG), auf ein angemessenes Umtauschverhältnis im Falle der Verschmelzung sowie auf ein angemessenes Abfindungsangebot bei der Verschmelzung auf einen Rechtsträger anderer Rechtsform (§ 29 UmwG) und beim Formwechsel der Gesellschaft (§ 207 UmwG). Sieht die Maßnahme keine angemessene Kompensation vor, ist sie rechtswidrig, und ein Pool-Beschluss, der die Pool-Mitglieder verpflichtet, der Maßnahme auf der Ebene der Aktiengesellschaft zuzustimmen, hat einen rechtswidrigen Inhalt. Aktien- und Umwandlungsrecht gewähren Rechtsschutz in diesen Fällen jedoch nur durch die Möglichkeit, die Angemessenheit der Kompensation im gerichtlichen Spruchverfahren überprüfen und ggf. anpassen zu lassen; das Anfechtungsrecht ist ausdrücklich ausgeschlossen (§§ 304 Abs. 3, 305 Abs. 5 AktG, §§ 14 Abs. 2, 15, 32, 43, 210, 212 UmwG). Hierzu geriete es in Widerspruch, wollte man auf der Ebene des Pools Unwirksamkeit des Beschlusses annehmen, weil die Kompensation unangemessen und der Poolbeschluss daher auf Herbeiführung eines rechtswidrigen Hauptversammlungsbeschlusses gerichtet sei. Nicht nur sind die Interessen des Poolmitglieds durch die Möglichkeit, die

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44 BGHZ 179, 13, Tz. 25 – Schutzgemeinschaft II. 45 C. Schäfer, ZGR 2009, 768, 779.

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Angemessenheit der Kompensation im Spruchverfahren überprüfen zu lassen, ausreichend gewahrt. Das Spruchverfahren bietet auch wegen der Verfahrensbeteiligung der Gesellschaft und der dafür spezialisierten Spruchkörper der Gerichte einen weitaus effektiveren Rechtsschutz, als eine Auseinandersetzung auf der Ebene der Poolmitglieder es täte. 2. Anfechtbare HV-Beschlüsse Schwieriger zu beurteilen ist die Situation bei anfechtbaren Hauptversammlungsbeschlüssen. Hauptversammlungsbeschlüsse können insbesondere wegen Verletzung des Gesetzes oder der Satzung durch Klage angefochten werden (§ 243 Abs. 1 AktG), wobei die Rechtsverletzung in einem formellen oder einem inhaltlichen Mangel des Beschlusses bestehen kann. Bedeutet das ohne Weiteres, dass das Poolmitglied an den Poolbeschluss nicht gebunden ist, weil der entsprechende Hauptversammlungsbeschluss anfechtbar wäre? a) Vorrang der Anfechtungsklage? Man kann auch für diese Fälle die Frage aufwerfen, ob es eines Rechtsschutzes auf der Ebene des Pools überhaupt bedarf oder das Poolmitglied nicht darauf verwiesen werden kann, Rechtsschutz auf der Ebene der AG zu suchen und dort Anfechtungsklage zu erheben. Das wäre aus praktischer Sicht wünschenswert. Auf der Ebene des Pools wird rechtzeitig vor der Hauptversammlung eine rechtliche Klärung vielfach nicht zu erreichen sein, so dass das Poolmitglied gleichsam „auf eigenes Risiko“ entscheiden muss, sich über den Poolbeschluss hinwegzusetzen. Es läuft dann Gefahr, dass es anschließend möglicherweise von den übrigen Poolmitgliedern auf Zahlung einer Vertragsstrafe in Anspruch genommen wird. Einfacher wäre es, in der Hauptversammlung dem Poolbeschluss folgen und anschließend gegen den Hauptversammlungsbeschluss Anfechtungsklage erheben zu können. Überdies hätte dieser Weg den Vorteil, dass die Aktiengesellschaft, um deren Beschluss es eigentlich geht, Partei der Anfechtungsklage wäre. Nach der überzeugenden Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs schließt die Zustimmung zu einem Hauptversammlungsbeschluss dessen Anfechtung jedoch aus.46 Das mag aus der Sicht des Poolmitglieds unzweckmäßig sein, aber der Rechtsschutz der AG kann nicht deshalb eingeschränkt werden, weil eine andere Rechtslage für einzelne Aktionäre wegen einer getroffenen Poolabsprache zweckmäßiger wäre. Der Rechtsschutz des Poolmitglieds gegen einen Poolbeschluss, der zur Fassung eines anfechtbaren Hauptversammlungsbeschlusses verpflichten soll, kann nur auf der Ebene des Pools angesiedelt sein. b) Formelle Mängel des HV-Beschlusses Damit ist noch nicht gesagt, dass jeder Mangel, der zur Anfechtbarkeit des Hauptversammlungsbeschlusses führt, automatisch auch die Unwirksamkeit

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46 BGH, ZIP 2010, 1437, Tz. 36 ff.

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des Poolbeschlusses nach sich zöge. Fasst man zunächst formelle Beschlussmängel ins Auge, können diese bereits im Vorfeld der Hauptversammlung liegen, etwa in einem fehlerhaften Beschlussvorschlag der Verwaltung (§ 124 Abs. 3 AktG) oder einer fehlerhaften Auslegung von Unterlagen (z. B. § 293f Abs. 1 AktG); sie können aber auch den Ablauf der Hauptversammlung betreffen, wie insbesondere eine Verletzung des Auskunftsrechts der Aktionäre (§ 131 AktG) oder Fehler bei der Versammlungsleitung. Beseitigen solche Formfehler die Bindung an den Poolbeschluss? Bei Rechtsverletzungen, die erst in der Hauptversammlung geschehen, wird man das nicht annehmen können. Solche Rechtsverletzungen haben die vorangegangene Willensbildung im Pool nicht beeinflusst und können dementsprechend nicht zu einem Mangel des Poolbeschlusses führen. Man kann allenfalls die Frage aufwerfen, ob das Poolmitglied an den vorangegangenen Poolbeschluss noch gebunden ist, wenn der Ablauf der Hauptversammlung fehlerhaft war. Das ist zu bejahen. Für einen Aktionär, dessen Abstimmungsverhalten feststeht, ist der Ablauf der Hauptversammlung bedeutungslos. Gegen Verfahrensfehler in der Versammlung braucht das Poolmitglied keinen Schutz, weil sein Abstimmungsverhalten schon vorher festgelegt war. Anders kann es sich bei Formfehlern im Vorfeld der Hauptversammlung verhalten, weil diese auch die Entscheidungsfindung im Pool beeinträchtigen können. Insoweit bedarf es zwar des Rechtsschutzes auf der Ebene des Pools, auch dabei wäre es aber nicht gerechtfertigt, kurzerhand jeden aktienrechtlichen Mangel auf die Wirksamkeit des Poolbeschlusses durchschlagen zu lassen. Vielmehr wird man im Einzelfall darauf abstellen müssen, ob der Mangel für die Entscheidung des Pools relevant war. Als Beispiel mag der Fall dienen, dass die Hauptversammlung die Zustimmung zu einem Beherrschungsvertrag erteilen soll, der Vertragsbericht des Vorstands (§ 293a AktG) aber nicht bereits von der Einberufung der Hauptversammlung an, sondern erst mit kurzer Verspätung ausgelegt (§ 293f AktG) wurde. Das stellt zwar auf der Ebene der AG einen Anfechtungsgrund dar, zur Nichtigkeit des Poolbeschlusses kann ein solcher Mangel aber nur führen, wenn er eine ordnungsgemäße Vorbereitung der Poolmitglieder auf die Meinungsbildung im Pool behindert hat. c) Inhaltliche Mängel des HV-Beschlusses Anders verhält es sich bei Hauptversammlungsbeschlüssen, die an einem inhaltlichen Mangel leiden. Konflikte gibt es in diesem Zusammenhang in der Praxis gelegentlich bei dem Gewinnverwendungsbeschluss, sei es, dass Poolmitglieder sich gegen eine vermeintlich zu großzügige Ausschüttung einer „Super-Dividende“ wehren und geltend machen, diese verstoße gegen die aktienrechtliche Treuepflicht, sei es, dass umgekehrt Poolmitglieder sich gegen Thesaurierungsentscheidungen wenden und diese aktienrechtlich für unzulässig halten, weil sie die Grenzen des § 254 Abs. 1 AktG überschreiten. Ein weiteres Beispiel sind Hauptversammlungsbeschlüsse, die auf der Ebene der Aktiengesellschaft einer materiellen Inhaltskontrolle auf ihre Angemessenheit und Erforderlichkeit hin unterliegen, wie dies namentlich für den Bezugs609

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rechtsausschluss bei der Kapitalerhöhung der Fall ist.47 Gegen solche Rechtsverstöße muss auch das Poolmitglied geschützt sein. Sie schlagen auf den Poolbeschluss durch und führen wegen Gesetzwidrigkeit des Poolbeschlusses zu dessen Unwirksamkeit.

IV. Rechtslage bei Unwirksamkeit des Poolbeschlusses Ergibt sich nach den dargelegten Grundsätzen, dass der Poolbeschluss an einem rechtlichen Mangel leidet, ist er unwirksam.48 Aber was heißt das? Bedeutet die Unwirksamkeit des Mehrheitsbeschlusses im Pool, dass die Mitglieder des Pools in der Hauptversammlung der AG nach eigenem Ermessen handeln dürfen, oder sind nunmehr alle Mitglieder des Pools verpflichtet, in der Hauptversammlung der AG gegen den Beschlussvorschlag zu stimmen? Der Bundesgerichtshof hat sich in Schutzgemeinschaft II auf die Aussage beschränkt, auf der Ebene der Schutzgemeinschaft könne eine unter die Mehrheitsklausel fallende Mehrheitsentscheidung wegen Verstoßes gegen die gesellschafterliche Treuepflicht „unwirksam“ sein49 und es könne eine Bindung an einen Konsortialbeschluss „wegen dessen Unwirksamkeit“ entfallen.50 Ähnlich hat der BGH auch schon in der OTTO-Entscheidung davon gesprochen, es sei zu prüfen „ob der konkrete Mehrheitsbeschluss wirksam getroffen worden“ sei, der Beschluss unterliege also auf der zweiten Stufe einer inhaltlichen „Wirksamkeitsprüfung“51. Würde sich die Rechtsfolge der unterstellten Unzulässigkeit des Schutzgemeinschaftsbeschlusses auf dessen Unwirksamkeit beschränken, bestünde die Situation, dass es keine verbindliche Beschlussfassung der Schutzgemeinschaft über das Abstimmungsverhalten in der Hauptversammlung gäbe. Ein bindender Konsortialbeschluss wäre nicht zustande gekommen. Sofern der Poolvertrag nichts anderes regelt, hätte dies zur Folge, dass die Poolmitglieder in der Hauptversammlung der AG nach eigenem Ermessen abstimmen könnten. Demgegenüber ist es jedoch auch denkbar, nicht nur den Beschluss als solchen als unwirksam anzusehen, sondern bereits bei der Stimmabgabe im Konsortium anzusetzen. Die Unklarheit erwächst daraus, dass der Bundesgerichtshof die Wirksamkeitsprüfung auf der zweiten Stufe als einen Anwendungsfall der Treuepflicht der Gesellschafter ansieht. In Fällen einer treupflichtwidrigen Ausübung der Mehrheitsmacht ist aber nicht erst der gefasste Beschluss treuwidrig, sondern treuwidrig ist bereits die Stimmrechtsausübung als solche.52 Das kann dazu führen, dass die treupflichtwidrig abgegebenen Stimmen unbe-

__________ 47 BGHZ 71, 40 – Kali und Salz. 48 BGHZ 170, 283, Tz. 10 – OTTO; BGHZ 179, 13, Leitsatz b und Tz. 17 – Schutzgemeinschaft II. 49 BGHZ 179, 13 Leitsatz b und Tz. 17 – Schutzgemeinschaft II. 50 BGHZ 179, 13, Tz. 25 – Schutzgemeinschaft II. 51 BGHZ 170, 283 Leitsatz 1 und Tz. 10 – OTTO. 52 Vgl. nur BGHZ 65, 93, 98 und gerade für die Fälle der Schutzgemeinschaft Wertenbruch, NZG 2009, 645, 649; Podewils, BB 2009, 733, 736.

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achtlich,53 die übrigen Stimmen aber wirksam sind mit der Folge, dass dann ein Beschluss mit den wirksamen Stimmen zustande gekommen sein kann. Bei einer solchen Betrachtung wäre mit den verbleibenden Stimmen der Minderheit ein Konsortialbeschluss gefasst, der alle Mitglieder der Schutzgemeinschaft verpflichten würde, in der Hauptversammlung entsprechend dem Votum der Minderheit zu stimmen. Würde ein Mitglied der Schutzgemeinschaft diese Abstimmungsverpflichtung verletzen, läge darin ein Verstoß gegen den Poolvertrag, der die dafür im Poolvertrag vorgesehenen Rechtsfolgen (vielfach Vertragsstrafe) und Schadensersatzansprüche wegen Vertragspflichtverletzung (§ 280 BGB) auslösen könnte. Welche dieser unterschiedlichen rechtlichen Betrachtungen letztlich die richtige ist, lässt sich nur nach dem Schutzzweck der geschilderten Rechtsgrundsätze beurteilen. Geht es um einen Eingriff in relativ unentziehbare Rechte und fehlt es an der dafür nötigen (antizipierten) Zustimmung des Poolmitglieds, ist der Poolbeschluss als solcher wirksam, er entfaltet lediglich gegenüber dem betroffenen Poolmitglied keine Wirkung; das nicht zustimmende Poolmitglied ist frei, die anderen sind gebunden. Anders bei Treupflichtverstößen. Hier kommt es ganz auf die individuellen Umstände des Einzelfalls, die Schutzrichtung des Treupflichtgebots und den Inhalt des Poolvertrages an. Es mag sein, dass die Treupflicht es gebietet, die Minderheit so zu stellen, wie sie stünde, wenn es keine Poolvereinbarung gäbe oder die Poolvereinbarung das Einstimmigkeitsprinzip aufrechterhalten hätte; dann wäre ein Poolbeschluss nicht zustande gekommen und jedes Poolmitglied frei, in der Hauptversammlung nach eigenem Ermessen abzustimmen. Es mag aber auch Fälle geben, in denen die Treupflicht es gebietet, dass sich die Mehrheit der Minderheitsposition anschließt; das kommt insbesondere in Betracht, wenn der Zweck des Poolvertrages ein bestimmtes Abstimmungsverhalten in der Hauptversammlung fordert.54

__________ 53 Vgl. nur BGHZ 65, 93, 98; OLG Hamm, GmbHR 2000, 674; OLG Saarbrücken, GmbHR 2005, 546, 547. 54 Dazu Goette, DStR 2009, 2602, 2603.

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Georg Lanfermann und Marc Richard

Nachhaltiger Kapitalschutz im Lichte der Finanzkrise Verankerung von ökonomisch nachhaltigen Ausschüttungsrestriktionen im Gesellschaftsrecht

Inhaltsübersicht I. Einleitung II. Ausschüttungsbemessung im bestehenden Kapitalschutzsystem 1. Grundkonzeption der Ausschüttungsbemessung a) Kompetenzverteilung zwischen den Unternehmensorganen b) Alleinige Anknüpfung an den Gewinn als „historische Entscheidung“ c) Gewinn als „neutraler“ Maßstab der Ausschüttungsbemessung 2. Schwachpunkte des Gewinns als alleiniger Maßstab der Ausschüttungsbemessung a) Gewinnanknüpfung als konzeptionelles Auslaufmodell b) Manipulation der Gewinnermittlung durch Bilanzpolitik und Sachverhaltsgestaltungen c) Fokussierung auf den Einzelabschluss – Konzern als Unternehmensrealität

d) Willkür im Verteilungsmechanismus e) Fehlende konzeptionelle Berücksichtigung von Zukunfts- und Zahlungsmittelorientierung III. Verankerung von ökonomisch nachhaltigen Ausschüttungsrestriktionen im Gesellschaftsrecht 1. Zielsetzung 2. Grundkonzeption eines ökonomisch nachhaltigen Ausschüttungssystems im Überblick 3. Kompetenzverteilung und Verantwortlichkeit 4. Ausgestaltungsmöglichkeiten der ökonomisch nachhaltigen Ausschüttungsrestriktionen 5. Ergänzung des bestehenden Kapitalschutzsystems oder Ersatz? IV. Zusammenfassung

I. Einleitung In den letzten Jahren unterliegen die Finanz- und Kapitalmärkte starken zyklischen Schwankungen. Gleichzeitig ist in der Geschäftstätigkeit der börsennotierten Unternehmen – schon seit längerem – eine verstärkte Orientierung an einer auf die kurzfristige Unternehmenswertmaximierung ausgerichteten Strategie zu beobachten, die u. a. auf die zunehmende Marktmacht der institutionellen Anleger und ihr Streben nach kurzfristiger Performance zurückzuführen ist. Die Fokussierung auf eine eher kurzfristige Sichtweise führt bei einer Reihe von Unternehmen zu einem erhöhten Druck, vermeintlich überschüssige liquide Mittel z. B. in Form von Dividenden oder Aktienrückkäufen

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umgehend auszuschütten und bei Bedarf mehr Fremdkapital aufzunehmen.1 Durch die Wirtschafts- und Finanzmarktkrise im Jahre 2008 ist die Eigenkapitalausstattung deutscher Unternehmen noch stärker in den Vordergrund gerückt. Auslöser der Diskussion war eine teilweise reale, teilweise gefürchtete Kreditklemme in der Realwirtschaft. Sie war durch Verwerfungen in der Verschuldungsfähigkeit und in der Kreditvergabepraxis der Banken und Finanzinstitute begründet, die u. a. auch auf die enge Verknüpfung von Rechnungslegung und Eigenkapitalanforderungen vor dem Hintergrund einer zunehmenden Fair-Value-Bilanzierung zurückgeführt wurde. Insbesondere für die Realwirtschaft stellt sich die Frage, ob und welche Lehren aus der – in Deutschland bereits Mitte 2010 weitgehend überwundenen2 – Finanzkrise 2008 für die Bildung einer für die jeweilige Unternehmenssituation ökonomisch nachhaltigen Eigenkapitalbasis zu ziehen sind. Sinnvoll erscheinen Maßnahmen, welche die Unternehmen weniger abhängig machen von den Schwankungen an den Finanz- und Kapitalmärkten und der teilweise vorherrschenden kurzfristig orientierten Ausrichtung bestimmter Akteure. Eine ökonomisch nachhaltig ausgerichtete Ausschüttungspolitik kann den mittelbis langfristigen Aufbau von Eigenkapital der Unternehmen als Risikopuffer stützen und somit einen Baustein darstellen, ein langfristig stabileres Umfeld für die Unternehmen zu schaffen. Vor diesem Hintergrund wird im Folgenden das deutsche Kapitalschutzsystem der Aktiengesellschaft kritisch beleuchtet, das seit vielen Jahrzehnten durch eine enge Verknüpfung von aktienrechtlich kodifizierten Kapitalerhaltungsund Ausschüttungsregeln mit handelsrechtlichen Rechnungslegungsvorschriften geprägt ist. Das Ziel dieses Beitrags besteht darin, eine gesellschaftsrechtliche Konzeption herauszuarbeiten, durch welche die Bestimmung des ausschüttungsfähigen Betrags unabhängiger vom Rechnungslegungsrahmen im Allgemeinen und von den möglichen Bewertungsschwankungen informationsorientierter Rechnungslegungssysteme im Speziellen ist. Dazu wird untersucht, ob und inwieweit die Kombination von gesellschaftsrechtlichen Ausschüttungsregeln und „vorsichtiger“ Bilanzierung aufgegeben werden könnte, indem stabilitätsfördernde, ökonomisch nachhaltige Ausschüttungsrestriktionen ins Gesellschaftsrecht verlagert werden.3 Das Leitbild des hier vorgeschlagenen Ansatzes besteht darin, das Vorsichtsprinzip und die Verlustpufferfunktion des Eigenkapitals neu zu interpretieren und gesetzliche Ausschüttungsrestriktionen konsequent an den ökonomischen Rahmenbedingungen und den langfristigen Bedürfnissen der Unternehmen auszurichten. Der Gedanke der ökonomischen Nachhaltigkeit spielt in jüngerer Zeit als integraler Bestandteil der

__________ 1 Vgl. zu diesen Befunden auch den Report of the Reflection Group on the Future of EU Company Law, Brüssel, 5.4.2011, http://ec.europa.eu/internal_market/company/docs/ modern/reflectiongroup_report_en. pdf, S. 36. 2 Vgl. zum unerwartet starken Wirtschaftswachstum in Deutschland bereits im zweiten Quartal 2010 z. B. FAZ, Nr. 187 v. 14.8.2010, S. 1, 9. 3 Probleme des Maßgeblichkeitprinzips sowie die grundsätzliche Fragestellung, ob ein regulierender Eingriff durch den Gesetzgeber überhaupt notwendig ist, werden nicht behandelt.

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Nachhaltiger Kapitalschutz im Lichte der Finanzkrise

operativen Geschäftstätigkeit4 und im Bereich der Berichterstattung5 vieler Unternehmen eine immer gewichtigere Rolle. Indem eine nachhaltige, ökonomisch sinnvolle und transparent nachvollziehbare Ausschüttungspolitik ermöglicht wird, soll indirekt auch ein Beitrag zu einer langfristig erhöhten Finanzmarktstabilität geleistet werden. Im folgenden Kapitel II wird zunächst die Grundkonzeption der Ausschüttungsbemessung im bestehenden Kapitalschutzsystem beleuchtet. Dazu werden eingangs die erheblichen Wandlungen in den Leitlinien der deutschen Ausschüttungskonzeption in den letzten Jahrzehnten im Hinblick auf die Gewinnverwendungskompetenz der Organe der Aktiengesellschaft und die Gewinnermittlung aufgezeigt. Sodann werden die Schwachpunkte dieses Zusammenspiels erörtert, welche die Reformbedürftigkeit des einem strengen Formalismus folgenden Systems offenbaren. Auf der Basis dieser Mängel wird in Kapitel III ein neues, ökonomisch nachhaltiges Kapitalschutzsystem vorgestellt, dass zu einer langfristig orientierten Ausschüttungspolitik unter Berücksichtigung unternehmensindividueller Rahmenbedingungen beiträgt und die Unternehmensleitung in die Lage versetzt, unter Beachtung der Transparenzerfordernisse in der Finanzberichterstattung finanzielle Vorsorge für die Zukunft zu betreiben. Das Kapitel IV schließt die Ausführungen mit einer Zusammenfassung der wesentlichen Erkenntnisse ab.

II. Ausschüttungsbemessung im bestehenden Kapitalschutzsystem 1. Grundkonzeption der Ausschüttungsbemessung a) Kompetenzverteilung zwischen den Unternehmensorganen Für das deutsche Kapitalschutzsystem ist es charakteristisch, dass im Aktienrecht en détail geregelt ist, wie und von wem der ermittelte Gewinn verteilt werden darf.6 Ausgehend von einem vom Vorstand ermittelten Jahresüberschuss, der in der Regel von Vorstand und Aufsichtsrat festgestellt wird, werden zunächst gesetzliche und satzungsmäßige Rücklagen gebildet. Nach der möglichen Einstellung von bis zu weiteren 50 % des verbleibenden Gewinnbetrages durch Vorstand und Aufsichtsrat in die Gewinnrücklagen, entscheidet die Hauptversammlung im Normalfall über die Verwendung des schließlich verbleibenden Bilanzgewinnes.

__________

4 Vgl. dazu aktuell die Umfrage „Sustainability Survey 2011“ der Amerikanischen Handelskammer in Deutschland (AmCham Germany) und McKinsey & Company, nach der über 90 % der befragten 235 Mitgliedsunternehmen Nachhaltigkeitsziele als Teil ihrer operativen Geschäftsstrategie verfolgen. Abrufbar unter http://www. amcham.de/fileadmin/user_upload/Presse/2011/110609_Sustainability_Survey_Final.pdf (Stand: 30.4.2012). Zur Aktualität unterschiedlicher Aspekte der Nachhaltigkeit in der Unternehmenspraxis vgl. auch die rund 20-teilige Artikelserie in der FAZ im Sommer 2011. Vgl. dazu im Überblick Giersberg, FAZ Nr. 147 v. 28.6.2011, S. 12. 5 Vgl. dazu Lackmann, Die Auswirkungen der Nachhaltigkeitsberichterstattung auf den Kapitalmarkt, 2010, S. 1, 123. 6 Vgl. dazu Baums in FS Karsten Schmidt, 2009, S. 57 ff. Zu den Gewinnverwendungsregeln vgl. auch II.2.d).

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Diese Rollenverteilung zwischen den Unternehmensorganen unterlag in den letzten rund 150 Jahren starken Wandlungen.7 Während vor 1870 die Gewinnverwendungskompetenz in der Satzung geregelt werden konnte, wurde die Hauptversammlung durch die Aktienrechtsnovelle von 1870 zur höchsten Entscheidungsinstanz, in der die Aktionäre gemäß Art. 224 ADHGB u. a. die Jahresabschlussfeststellung und die Gewinnverwendung ausübten.8 Vor dem Hintergrund spektakulärer Unternehmenszusammenbrüche während der Weltwirtschaftskrise von 1929 und aufbauend auf den Vorstellungen vom „Unternehmen an sich“9 wurden diese Kompetenzen durch die umfassende Aktienrechtsreform von 1937 im Wesentlichen auf den Vorstand verlagert. Mit der Begründung, der Vorstand kenne die finanzielle Lage des Unternehmens besser, sollte der Hauptversammlung das Recht entzogen werden, über den Jahresüberschuss zu verfügen. Zwar blieb der Hauptversammlung nach § 126 AktG der Gewinnverwendungsbeschluss vorbehalten; sie war dabei aber an den vom Vorstand aufgestellten Jahresabschluss gebunden. Da der Vorstand im Rahmen der Aufstellung weitgehend nach Belieben offene Rücklagen zur Stärkung der wirtschaftlichen Grundlagen der Gesellschaft bilden konnte, lag die Entscheidungskompetenz faktisch ausschließlich bei der Unternehmensleitung. Zu einem grundlegenden und dauerhaften Richtungswechsel auf dem Gebiet der Gewinnverwendungsregulierung kam es erst durch die Aktienrechtsreform von 1965. Die Gewinnverwendungsregeln und die dabei zu beachtende Kompetenzverteilung zwischen den Organen der Aktiengesellschaft zielen seitdem auf einen Interessenausgleich ab. Einerseits soll die Unternehmensleitung die Möglichkeit erhalten, durch die Einbehaltung von Teilen des Gewinns die zukünftigen Investitionen zu bestreiten. Andererseits steht den Aktionären neben weiteren Vermögensrechten ein Dividendenrecht zu, das sie im Rahmen der Hauptversammlung durch Beschluss über die Verwendung des Bilanzgewinns ausüben können. Dabei sind Vorschriften zu beachten, welche die Gläubiger vor zu hohen Ausschüttungen schützen sollen. b) Alleinige Anknüpfung an den Gewinn als „historische Entscheidung“ Die Entscheidung, den Gewinn der Aktiengesellschaft gesetzlich als alleinigen Anknüpfungspunkt für die Ausschüttungsbemessung anzusehen, rührt aus dem Gesetzgebungsprozess zur Aktienrechtsnovelle 1870, durch welche die Konzessionspflicht zugunsten zwingender Normativbestimmungen abgeschafft wurde. In den Motiven zur Aktienrechtsnovelle von 1870 wird ausgeführt, dass „im Interesse der Gläubiger Festsetzungen zu treffen und dadurch der

__________ 7 Vgl. dazu insbesondere Kohl, Die Kompetenz zur Bildung von Gewinnrücklagen im Aktienkonzern, 1991, S. 90 ff.; und speziell zum Konzern auch Pellens, Aktionärsschutz im Konzern, 1994, S. 18 ff. 8 Vgl. Schön/Osterloh-Konrad in Bayer/Habersack, Aktienrecht im Wandel, Bd. 2, 2007, S. 906. Nach Inkrafttreten des HGB von 1897 ergaben sich diese Kompetenzen aus § 260 HGB. 9 Vgl. Rathenau, Von kommenden Dingen, 1917, S. 141 ff.

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Tendenz, die Bilanz so einzurichten, dass hohe Dividenden verteilt werden können, einigermaßen entgegenzuwirken. Zu den gesetzlichen Bestimmungen tritt dann die persönliche Verantwortlichkeit der Gesellschaftsorgane. Von einer eingehenden Spezialisierung muss aber abgesehen werden, weil die einschlagenden Fragen sich je nach dem Geschäftsbetriebe verschieden gestalten und es sich um ein alle Aktiengesellschaften umfassendes Gesetz handelt; allein gewisse allgemeine Grundsätze lassen sich dennoch, ohne gerechte Beschwerden hervorzurufen, aufstellen“10. Dies unterstreicht, dass der damalige Gesetzgeber mittels der Anknüpfung an den Gewinn eine Mindestregelung wünschte, um die Gläubiger ungeachtet der Art und des Umfangs der tatsächlichen Geschäftstätigkeit der Aktiengesellschaft vor übermäßigen Ausschüttungen zu schützen. Eine auf Dauer angelegte Unternehmensfortführung wurde nicht ausdrücklich verlangt und kann nur implizit mit eingeschlossen worden sein. Ein wirkungsvoller Gläubigerschutz wurde nur durch eine aktive und verantwortungsvolle Rolle der Unternehmensorgane für möglich gehalten. Letztendlich hat sich der Gesetzgeber bewusst dazu entschlossen, eine für alle Aktiengesellschaften allgemeingültige Regelung zu treffen, die der jeweils unterschiedlichen Unternehmenstätigkeit nicht gerecht wird. c) Gewinn als „neutraler“ Maßstab der Ausschüttungsbemessung Die gesetzliche Fixierung der Gewinnermittlung bietet idealerweise mittels Standardisierung eine „neutrale“ Basis zur Vermittlung von Informationen über die finanzielle Lage des Unternehmens für Gläubiger und Anteilseigner.11 Wenn das Bilanzrecht die Regeln für die Ermittlung maximal zu leistender Ausschüttungen zwingend festlegt, lassen sich die aus den individuellen Zahlungswünschen der Anteilseigner resultierenden Konflikte hinsichtlich der Gewinnverteilung vermindern. Für die Anteilseigner entfällt dann die Notwendigkeit, sich selbst auf Gewinnermittlungsregeln zu einigen. Zudem stellt das Vorhandensein eines zwingenden Bilanzrechts und die originäre Verantwortlichkeit des Vorstandes für die Aufstellung des Jahresabschlusses sicher, dass die Ermittlung des ausschüttbaren Gewinns nicht unmittelbar zur Disposition derjenigen Anteilseigner gestellt werden kann, die ihre Interessen in der Unternehmung aufgrund der Mehrheit der Anteile durchsetzen können. Für die Gläubiger hat der handelsrechtlich ermittelte Gewinn zunächst keine direkte Ausschüttungsbemessungsfunktion, weil Zins- und Tilgungszahlungen vom bilanziellen Ergebnis unabhängig sind und die Ansprüche der Gläubiger denen der Anteilseigner vorgehen. Dennoch soll durch den Gläubigerschutzgedanken sichergestellt werden, dass die Unternehmenssubstanz erhalten bleibt und eine gewisse Ausschüttungsbegrenzung zu Gunsten der Gläubiger eintritt.

__________ 10 Zitiert nach Penndorf, Geschichte der Buchhaltung in Deutschland, 1913, S. 242 f. 11 Vgl. Lange, Bilanzrecht und ökonomische Theorie des Rechts, 1999, S. 13 ff.

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2. Schwachpunkte des Gewinns als alleiniger Maßstab der Ausschüttungsbemessung a) Gewinnanknüpfung als konzeptionelles Auslaufmodell Die Weichen der in Kapitel II.1 dargestellten deutschen Ausschüttungskonzeption wurden bereits Anfang des 19. Jahrhunderts gestellt und sind seither in regelmäßigen Abständen von verschiedenen „Leitideen“ beeinflusst worden.12 Es fällt auf, dass die Vorschriften zur Gewinnverwendungskompetenz in Deutschland seit rund 50 Jahren als fixiert zu betrachten sind.13 Gleiches gilt für die deutschen Kapitalaufbringungs- und Kapitalerhaltungsregeln, die 1976 durch die 2. EU-Richtlinie (Kapitalrichtlinie)14 sogar europaweit eingeführt wurden. Dessen ungeachtet unterliegt die den Gewinnverwendungs- und Ausschüttungsregeln zugrunde liegende Gewinngröße weiterhin einem kontinuierlichen Wandel. Die in den letzten Jahren größte Herausforderung für die nationalen Rechnungslegungssysteme in Deutschland und in den übrigen EU-Mitgliedstaaten besteht in dem zunehmenden Einfluss der ausschließlich auf die Informationsfunktion ausgerichteten IFRS-Rechnungslegung. Spätestens seit Inkrafttreten der IAS-Verordnung15 ist die Harmonisierung der nationalen Rechnungslegung innerhalb Europas über die 4. und 7. EU-Richtlinie weitestgehend zum Stillstand gekommen – auch wenn neuerdings eine neue einheitliche EU-Rechnungslegungsrichtlinie beide Vorgängerrichtlinien konsolidieren soll.16 Vor diesem Hintergrund wurde diskutiert, ob das Nebeneinander verschiedener Rechnungslegungssysteme dadurch reduziert werden könnte, dass die IFRS auch zur Ermittlung des ausschüttungsfähigen Gewinns herangezogen werden.17 Während mittlerweile rund zwei Drittel der EU-Mitgliedstaaten ihren Unternehmen gestatten bzw. vorschreiben, alternativ zur Bilanzierung nach der 4. EU-Richtlinie18 die IFRS-Bilanzierung19 im Einzelabschluss als Ausschüt-

__________ 12 Vgl. hier und im Folgenden ausführlich Schön/Osterloh-Konrad (Fn. 8), S. 894 ff. m. w. N. 13 Überlegungen auf europäischer Ebene zur Ausstattung der Hauptversammlung mit weitergehenden Kompetenzen zur Feststellung des Jahresabschlusses und zur Gewinnverwendung, wie sie im Vorschlag einer 5. EU-Richtlinie (Strukturrichtlinie) zum Ausdruck kommen, haben sich nicht durchsetzen können. Zum ursprünglichen Vorschlag einer 5. Richtlinie vgl. ABl. EG Nr. C 131 v. 13.12.1972. Vgl. hierzu z. B. Lutter, Europäisches Unternehmensrecht, ZGR-Sonderheft, 4. Aufl. 1996, S. 171 ff. 14 Vgl. Zweite Richtlinie des Rates v. 13.12.1976 – 77/91/EWG, ABl. EG Nr. L 26/1 v. 31.1.1977. 15 Vgl. Verordnung (EG) Nr. 1606/2002 des europäischen Parlaments und des Rates v. 19.7.2002, ABl. EG L 243/1 v. 11.9.2002. 16 Vgl. Lanfermann, BB 2011, 3051, 3053. 17 Vgl. KPMG, Feasibility study on an alternative to the capital maintenance regime, Main Report, 2008, abrufbar unter http://ec.europa.eu/internal_market/company/ capital/index_en.htm (Stand: 30.4.2012); zu den Ergebnissen der Machbarkeitsstudie Schruff/Lanfermann, WPg 2008, 1099 ff. 18 Vgl. Vierte Richtlinie des Rates v. 25.7.1978 – 78/660/EWG, ABl. EG Nr. L 222/11 v. 14.8.1978. 19 Diese Möglichkeit besteht aufgrund Art. 5 der IAS-Verordnung.

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tungsgrundlage anzuwenden,20 bleibt es in Deutschland bei der seit dem Bilanzrechtsreformgesetz (BilReG)21 gefundenen Lösung aus dem Jahre 2004: Nach § 325 Abs. 2a HGB können deutsche Kapitalgesellschaften anstelle eines HGBEinzelabschlusses einen Einzelabschluss nach IFRS veröffentlichen. Zur Ausschüttungsbemessung und als Grundlage für die Besteuerung müssen sie aber unverändert einen Einzelabschluss nach HGB aufstellen. Neben der zunehmenden Internationalisierung der Rechnungslegung zeigt der geschichtliche Abriss auch, dass die in den vergangenen Jahrzehnten durchgeführten Reformmaßnahmen im Bilanzrecht von einem Spannungsverhältnis von stiller Reservenbildung auf der einen und zunehmenden Publizitäts- und Offenlegungspflichten auf der anderen Seite geprägt sind. Im 19. Jahrhundert verfolgte der Gesetzgeber insbesondere das Ziel, Bilanzierungsregeln zu erarbeiten, die überhöhten Dividendenzahlungen entgegenwirkten.22 Zu diesem Zweck wurden 1884 das Realisations- und Niederstwertprinzip sowie das Anschaffungskostenprinzip ausgeweitet. Die vorsichtige Gewinnermittlung zum Zwecke des Gläubigerschutzes stand nunmehr im Vordergrund. Daher wurde die Bildung stiller Reserven zur Stärkung der wirtschaftlichen Substanz und zur Deckung des Kapitalbedarfs der Unternehmen durch Innenfinanzierungsmaßnahmen überwiegend positiv gesehen. Allerdings wurden die Publizitätspflichten erweitert und die Informationsmöglichkeiten der Aktionäre verbessert,23 um die mangelhafte Transparenz der Unternehmensangelegenheiten als weiteren identifizierten Missstand zu verringern. Die Reformen in den 1930er Jahren stellten im Sinne nationalsozialistischen Gedankenguts die Interessen der „Unternehmen an sich“ in den Mittelpunkt und förderten abermals die Bildung stiller Reserven zur Zukunftsvorsorge und zum Schutz vor zu hohen Ausschüttungswünschen der Aktionäre, denen ein verantwortungsbewusster Umgang mit der Kapitalausstattung nicht zugetraut wurde. Seit dem AktG 1965 zielen die handelsrechtlichen Rechnungslegungsregeln – analog zu den Vorschriften zur Gewinnverwendungskompetenz – auf einen Interessenausgleich ab: Zum einen werden die Belange der Aktionäre berücksichtigt, indem Bilanzansatzpflichten für bestimmte Aktiva und Bilanzansatzverbote für bestimmte Passiva sowie Bewertungsuntergrenzen für Aktiva und Bewertungsobergrenzen für Passiva zu beachten sind. Damit wird der Gewinn zum Zwecke des Anlegerschutzes nach unten hin begrenzt (Mindestausschüttung). Zum anderen werden die Interessen der Gläubiger durch Bilanzansatzverbote für bestimmte Aktiva und Bilanzansatzpflichten für bestimmte Pas-

__________ 20 Vgl. KPMG (Fn. 17), S. 318 ff., abrufbar unter http://ec.europa.eu/internal_market/ company/capital/index_en.htm (Stand: 30.4.2012); Lanfermann/Richard, DB 2008, 1925, 1926. 21 Vgl. BilReG v. 4.12.2004, BGBl. I 2004, Nr. 65, S. 3166 ff. 22 Vgl. zu den Motiven auch Penndorf, Geschichte der Buchhaltung in Deutschland, 1913, S. 242 f. In diesem Sinne ist auch das Zitat von Carl Fürstenberg zu verstehen: „Der Reingewinn ist der Teil der Bilanz, den der Vorstand beim besten Willen nicht mehr vor den Aktionären verstecken kann.“ Zitiert nach Fink (Hrsg.), 888 Weisheiten und Zitate für Finanzprofis, 2007, S. 67. 23 Vgl. dazu im Einzelnen auch Wöhe in FS Weber, 1999, S. 65, 68 ff.

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siva sowie Bewertungsobergrenzen für Vermögensgegenstände und Bewertungsuntergrenzen für Schulden geschützt, wodurch der Gewinn nach oben hin begrenzt wird (Höchstausschüttung). Da die Verschleierung der wirtschaftlichen Lage durch die Bildung stiller Reserven der Informationsfunktion diametral entgegensteht,24 wurden die gewillkürten stillen Reserven eingeschränkt und Mindestwerte eingeführt. Mit der grundlegenden Reform der HGB-Rechnungslegung durch das BilMoG im Jahr 200925 hat der deutsche Gesetzgeber die deutsche Rechnungslegung in internationales Fahrwasser gebracht. Dazu wurde die Informationsfunktion des handelsrechtlichen Einzelabschlusses gestärkt und das HGB an die IFRS angenähert. Zu diesem Zweck wurden eine Reihe von vormals bestehenden Ermessensspielräumen und die umgekehrte Maßgeblichkeit abgeschafft.26 Neben der Informationsfunktion wird dem HGB-Abschluss – nach der herrschenden Meinung in der Literatur27 und ausweislich der Gesetzesbegründung zum BilMoG28 – unverändert und in erster Linie die Ausschüttungsbemessungsfunktion zugeschrieben.29 Soweit Verbesserungen der Informationsfunktion durch das BilMoG möglicherweise nur „realisierbare“ Gewinne nach sich ziehen und insoweit handelsrechtliche Vorsichts-, Realisations- und Anschaffungskostenprinzipien verdrängen, hat der Gesetzgeber in § 268 Abs. 8 HGB mit außerbilanziellen Ausschüttungssperren zur Sicherstellung des Gläubigerschutzes reagiert.30 Sie betreffen aktivierte selbst geschaffene immaterielle Vermögensgegenstände des Anlagevermögens (§ 248 Abs. 2 Satz 1 HGB), aktive latente Steuern (§ 274 Abs. 1 Satz 2 HGB) und zum beizulegenden Zeitwert bewertetes sog. Planvermögen (§ 246 Abs. 2 Satz 2 HGB). Das Instrument der außerbilanziellen Ausschüttungssperren führt drastisch vor Augen, dass das gegenwärtige System an seine Grenzen gestoßen ist. Es wird

__________ 24 Vgl. zur Kritik stiller Reserven ausführlich bereits Passow, Die Aktiengesellschaft, 1922, S. 276 ff.; Stützel, ZfB 1967, 329 f. Vgl. auch Leffson, Die Grundsätze ordnungsmäßiger Buchführung, 7. Aufl. 1987, S. 84 ff., 466 m. w. N.; Kübler, ZHR 159 (1995), 550, 563. 25 Vgl. Gesetz zur Modernisierung des Bilanzrechts (Bilanzrechtsmodernisierungsgesetz – BilMoG), BGBl. I 2009, Nr. 27, S. 1102 ff. 26 Vgl. zu diesen und weiteren Änderungen in Bezug auf Ansatz- und Bewertungs- sowie Ausweis- und Angabevorschriften im Überblick z. B. Melcher/Schaier, DB Beilage 5/2009 zu Heft 23, S. 4 ff.; Lüdenbach/Hoffmann, StuB 2009, 287 ff. 27 Vgl. Melcher/Schaier, DB Beilage 5/2009 zu Heft 23, 4, 8; Stibi/Fuchs, DB Beilage 5/2009 zu Heft 23, S. 12, 15; Winkeljohann/Schellhorn in Beck’scher Bilanz-Kommentar, 8. Aufl. 2012, § 264 HGB Rz. 35. Nach Auffassung von Baetge/Kirsch/ Thiele, Bilanzen, 11. Aufl. 2011, S. 101, stehen die beiden Jahresabschlusszwecke der Rechenschaft und der Kapitalerhaltung gleichrangig nebeneinander. 28 Vgl. BT-Rechtsausschuss, Beschlussempfehlung und Bericht zum BilMoG, BTDrucks. 16/12407, S. 83; RegE BilMoG, BT-Drucks. 16/10067, S. 1, 32. 29 Vgl. zu diesem Befund vor BilMoG z. B. Busse von Colbe in Küpper/Wagenhofer, Handwörterbuch Unternehmensrechnung und Controlling, 4. Aufl. 2002, Sp. 892. 30 Vgl. dazu detailliert Gelhausen/Althoff, WPg 2009, 584 ff. (Teil 1), 629 ff. (Teil 2); Lanfermann/Röhricht, DStR 2009, 1216 ff.; Simon, NZG 2009, 1081 ff.; Zülch/ Hoffmann, DB 2010, 909 ff.

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offensichtlich, dass das HGB immer weniger in der Lage ist, den Spagat von Ausschüttungsbemessung und Informationsvermittlung zu leisten. b) Manipulation der Gewinnermittlung durch Bilanzpolitik und Sachverhaltsgestaltungen Insgesamt kann festgehalten werden, dass die konsequente Vermittlung von entscheidungsnützlichen Informationen und die Sicherstellung einer auf Kontinuität angelegten Ausschüttungspolitik mittels stiller Reserven durch ein und dasselbe Rechenwerk auf Dauer nicht zu bewerkstelligen ist. Indem durch die Bildung stiller Reserven ein zusätzlicher Verlustpuffer angelegt wird, können Gläubiger und andere Außenstehende zwar grundsätzlich geschützt werden. Dies setzt aber eine verantwortungsvolle Geschäftsleitung voraus, die dieses Instrument so einsetzt, dass das Unternehmen nachhaltig wirtschaftet, und zudem ein Geschäftsmodell und eine Risikostruktur des Unternehmens existiert, die so angelegt sind, dass die Unternehmensfortführung über einen längeren Zeitraum gewährleistet ist. Es handelt sich aber insbesondere um ein intransparentes und willkürliches Instrument ohne gesetzlich genau fixierte Leitlinie. Die stillen Reserven können zudem ebenso still wieder aufgelöst werden, indem z. B. unterbewertete Vermögensgegenstände verkauft werden. Es fällt externen Unternehmensbeteiligten sehr schwer, die tatsächliche wirtschaftliche Lage des Unternehmens zu erkennen. Es kann somit viel Zeit verstreichen, bis ungünstige Unternehmensentwicklungen, Verluste im operativen Kerngeschäft und mangelhafte Kreditwürdigkeit offensichtlich werden. Während das gezielte Verschleiern der wirtschaftlichen Lage der Gesellschaft durch das stille Legen und in Folgeperioden stille Auflösen von Reserven durch das BilMoG eingeschränkt worden ist, verbleibt der Unternehmensleitung im Rahmen der Bilanzierung noch immer ein erheblicher Spielraum „zur Täuschung über Geschehenes“31 zu Lasten der Kapitalgeber. Die Aktionäre sind trotz des Bemühens des Gesetzgebers um einen „fairen“ Interessensausgleich der in- und externen Unternehmensbeteiligten auch nach aktuellem Recht an dem vom Vorstand aufgestellten, von Abschlussprüfer und Aufsichtsrat geprüften und im Regelfall von Vorstand und Aufsichtsrat festgestellten Jahresabschluss gebunden. Wie die weiteren Ausführungen zeigen werden, bietet das bestehende System dem Vorstand weiterhin die Möglichkeit, im rechtlich zulässigen Rahmen die Ausschüttungspolitik der Gesellschaft gezielt zu steuern. Dieses System weist zwei Komponenten auf: Die Wahlrechte und Ermessensspielräume in der Rechnungslegung können unter Beachtung des Stetigkeitsprinzips32 und der Willkürfreiheit33 zur zweckorientierten Beeinflussung des Ausschüttungsbetrags im rechtlich maßgeblichen Einzelabschluss genutzt werden. Dabei ist darauf hinzuweisen, dass „sich mit dem BilMoG die

__________

31 Schneider in Schneider, Kapitalmarkt und Finanzierung, 1987, S. 107. 32 Das Stetigkeitsprinzip bezieht sich auf den Ansatz (§ 246 Abs. 3 HGB), die Bewertung (§ 252 Abs. 1 Nr. 6 HGB) und den Ausweis (§ 265 Abs. 1 HGB) von Vermögensgegenständen und Schulden. 33 §§ 243 Abs. 1, 252 Abs. 1 Nr. 4 HGB.

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asymmetrische Informationsverteilung zwischen Unternehmen und externen Adressaten“ sogar vergrößert hat, weil die Bilanzpolitik „vom bilanzierenden Unternehmen besser versteckt werden kann als zuvor.“34 Neben den Möglichkeiten des gewachsenen Bilanzrechts treten im Konzernverbund willkürliche Sachverhaltsgestaltungen als zweite Komponente hinzu, die bereits im Vorfeld der Aufstellung des Abschlusses durchgeführt werden können.35 c) Fokussierung auf den Einzelabschluss – Konzern als Unternehmensrealität Die gesetzlichen Bestimmungen zum Kapitalschutz basieren auf dem Leitbild des Einzelunternehmens und isolieren somit die Sichtweise der Ausschüttungsrestriktionen eben auf dieses einzelne Unternehmen. Aus rechtlicher Sicht ist dies insoweit einleuchtend, als die zugrunde liegende juristische Person zunächst primär von Ausschüttungsentscheidungen an deren unmittelbare Anteilseigner betroffen ist. Dennoch verkennt diese einzelgesellschaftliche Ausrichtung von Ausschüttungsrestriktionen, dass sich in der modernen Unternehmenswelt bereits seit Jahrzehnten der Konzern, d. h. eine verbundene Gruppe von rechtlich selbständigen Einzelunternehmen, aus verschiedenen Gründen als bevorzugte Organisationsform für die Geschäftstätigkeit etabliert und in der Praxis eindeutig durchgesetzt hat. Über 95 % der börsennotierten Unternehmen und die Mehrzahl der übrigen Aktiengesellschaften sind als Mutteroder Tochterunternehmen konzernverbunden.36 In den rechtlichen Regelungen zur Konzernrechnungslegung hat sich diese Erkenntnis bereits seit dem Bilanzrichtliniengesetz (BiRiLiG)37 von 1985 in der Weise umgesetzt, dass für eine als Konzern angesehene Unternehmensgruppe nach § 297 Abs. 3 Satz 1 HGB die Fiktion der rechtlichen Einheit des Konzerns gilt. Für Zwecke der Konzernrechnungslegung werden konzerninterne Transaktionen eliminiert und die Lage der Unternehmensgruppe so dargestellt, als ob es sich um ein rechtlich einheitliches Unternehmen handele. Die deutschen Kapitalschutzvorschriften hinken in dieser Hinsicht noch den Konzernrechnungslegungsvorschriften hinterher, da sie die Konzerndimension von Ausschüttungen des Einzelunternehmens nicht berücksichtigen. Für Ausschüttungszwecke verfügt die Unternehmensleitung eines Konzern-Mutterunternehmens im Vergleich zu dem eines Einzelunternehmens – zusätzlich zu den üblichen einzelgesellschaftlichen Ansatz- und Bewertungswahlrechten – über erhebliche Spielräume zur konzerninternen Sachverhaltsgestaltung, um die Höhe des ausschüttungsfähigen Gewinns des ausschüttenden Einzelunternehmens nahezu beliebig nach oben oder unten zu beeinflussen. Hierzu gehören Gewinnverlagerungen über konzerninterne Lieferungen und Leistungen oder besonders gesteuerte Gewinnausschüttungen der Tochterunternehmen an

__________ 34 Wulf, StuB 2010, 536, 569 (beide Zitate). 35 Vgl. dazu II.2.c). 36 Vgl. Busse von Colbe/Jödicke/Pellens in Busse von Colbe/Coenenberg/Kajüter/ Linnhoff/Pellens, Betriebswirtschaft für Führungskräfte, 4. Aufl. 2011, S. 521. 37 Vgl. BiRiLiG v. 19.12.1985, BGBl. I 1985, 2355 ff.

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das Mutterunternehmens. Letztere Steuerung der Ausschüttungen kann zweierlei bewirken: Erstens kann das Konzernmanagement seine Tochterunternehmen „zu ‚Spardosen‘ des Konzerns“38 machen, indem gewinnbringende Aktivitäten dorthin verlagert und die dort erzielten Jahresüberschüsse – durch Ausübung des Stimmrechts auf den Hauptversammlungen – thesauriert werden. Hierdurch kann die Gewinnverwendungskompetenz der Hauptversammlung des Mutterunternehmens (vollständig) beschnitten werden.39 Zweitens könnte dies zu der paradoxen Situation führen, dass das Mutterunternehmen noch Gewinne ausweist, selbst wenn im Konzernabschluss aus Gruppensicht bereits Verluste zu verzeichnen sind.40 Darüber hinaus veranlassen Finanzinvestoren deutsche Unternehmen häufig zu konzerninternen Transaktionen, durch die stille Reserven im großen Stil realisiert und die dadurch entstehenden außerordentlichen Erträge „im Wege einer ‚Super-‘ oder ‚Jumbodividende‘“41 ausgeschüttet werden, wobei die Unternehmen vielfach gezwungen sind, die dafür notwendige Liquidität durch Fremdkapitalaufnahme sicherzustellen. Das Aktienrecht kann in Form der gegenwärtigen Anforderungen derartige Sachverhaltsgestaltungen nur begrenzt berücksichtigen. Es verfügt seit Jahrzehnten bereits über das tradierte Konzept des Abhängigkeitsberichtes nach §§ 312 ff. AktG, bei dem der Vorstand einer formal abhängigen Aktiengesellschaft einen solchen Bericht über Rechtsgeschäfte und Maßnahmen mit verbundenen Unternehmen und deren Vor- und Nachteile vorlegen und durch den Abschlussprüfer und den Aufsichtsrat überprüfen lassen muss.42 Im Bereich der Rechnungslegung gibt es in den zurückliegenden Jahren verstärkt Bemühungen, Beziehungen zu nahestehenden Personen und Unternehmen zumindest transparent zu machen. Im Rahmen des BilMoG wurde ausgehend von europäischen Vorgaben43 und in Anknüpfung an den internationalen Rechnungslegungsstandard IAS 24 mit § 285 Nr. 21 bzw. § 314 Abs. 1 Nr. 13 HGB eine neue Vorschrift eingefügt, durch die Geschäfte mit diesen Personen in den (Konzern-)Anhang aufzunehmen sind. Dies gilt zumindest für solche, die einem Drittvergleich nicht standhalten. Ein effektives Mittel als Anreiz für ökonomisch nachhaltiges Ausschüttungsverhalten im Konzern kann hierin jedoch nicht gesehen werden; vielmehr soll in besonderer Weise missbräuchlichen, die Unternehmensgruppe schädigenden Sachverhaltsgestaltungen entgegengewirkt werden.

__________ 38 Ordelheide, BFuP 1986, 293, 308. Zu den erleichterten Innenfinanzierungsmöglichkeiten im Konzern vgl. ausführlich Pellens/Bonse in Lutter/Scheffler/U. H. Schneider, Handbuch der Konzernfinanzierung, 1998, S. 378 ff. 39 Auf diese Problematik ist bereits früh hingewiesen worden. Vgl. Netter, Die aktienrechtliche Auskunftspflicht, 1928, S. 31. 40 Vgl. Busse von Colbe, ZfbF-Sonderheft 32/1993, S. 25. Allerdings bestehen für die Verwaltungsorgane der abhängigen Gesellschaft Überwachungspflichten, deren Unterlassung Schadensersatzansprüche auslösen kann. Vgl. in diesem Zusammenhang BGH v. 1.12.2008 – II ZR 102/07 („MPS-Entscheidung“). 41 Habersack in FS Karsten Schmidt, 2009, S. 523, 524. 42 Vgl. dazu bereits Richardt, Der aktienrechtliche Abhängigkeitsbericht unter ökonomischen Aspekten, 1974. 43 Vgl. Lanfermann/Maul, BB 2006, 2011, 2012.

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Im Schrifttum werden die Besonderheiten der Gewinnverwendung im Konzern seit mehr als drei Jahrzehnten kontrovers diskutiert. Dabei entwickelte Lösungsvorschläge zielen bspw. darauf ab, als Basis der Gewinnermittlung eines Konzern-Mutterunternehmens das um die Equity-Bewertung aller Tochterunternehmen veränderte Einzelabschlussergebnis des Mutterunternehmens oder direkt das Ergebnis des Konzernabschlusses zu verwenden.44 Es stellt sich die Frage, ob diese Situation für die betroffenen Konzerne letztlich vorteilhaft ist. Empirische Untersuchungen für Deutschland zeigen, dass das Konzernmanagement von den genannten Spielräumen regen Gebrauch macht.45 Die auf der Einzelgesellschaft basierenden Kapitalschutzregeln können im Konzernverbund hierbei auf legale Weise „manipuliert“ werden. Auch im internationalen Vergleich ist die gewählte Vorgehensweise zur konkreten Festlegung von Ausschüttungen im Konzern durchaus vergleichbar. Befragungen von europäischen und nicht-europäischen börsennotierten Konzern-Mutterunternehmen im Rahmen einer EU-Machbarkeitsstudie ergaben, dass diese ihre Ausschüttungspolitik in aller Regel von der wirtschaftlichen Situation im Konzern abhängig machen.46 Auch Cashflow-Analysen zur Sicherstellung der notwendigen Liquidität werden von den untersuchten Unternehmen vornehmlich auf Konzernebene durchgeführt. Die Ergebnisse deuten darauf hin, dass Konzernunternehmen weltweit – losgelöst von ganz unterschiedlichen Regulierungen der Ausschüttungsbemessung und Gewinnverwendung – in ihrer Ausschüttungspolitik nahezu identisch vorgehen. Unterschiede ergeben sich lediglich dadurch, dass Unternehmen in den Jurisdiktionen, die gesetzliche Kapitalschutzregeln an den Einzelabschluss knüpfen, zusätzlich die Einhaltung dieser Vorschriften als Nebenbedingung sicherstellen müssen.47 Das Generieren von Ausschüttungspotential in Konzernen mit Holding-Struktur erfordert vielfach einen detaillierten, mehrjährigen Planungsprozess, der als komplex, zeit- und kostenintensiv beschrieben wird.48 Insgesamt zeigt sich deutlich, dass die gegenwärtige Gesetzeslösung, bei der Einzelabschlüsse konzernverbundener Unternehmen zur Ermittlung eines ausschüttbaren Gewinns genutzt werden, aus Sicht der Konzerne bei längerfristiger Planung zwar praktikabel ist und gewisse, scheinbar nicht unattraktive Gestaltungsspielräume zur Erreichung von bestimmten Konzernmanagementzielen eröffnet. Dennoch besteht allgemein die Gefahr, dass bewusst miss-

__________ 44 Vgl. dazu grundlegend Busse von Colbe in FS Goerdeler, 1987, S. 61 ff.; Lutter in Zöllner, KölnKomm. Aktiengesetz, 1988, § 58 AktG; Pellens, Aktionärsschutz im Konzern, 1994; und jüngst Pellens/Amshoff/Schmidt, ZGR 2009, 231 ff. Zu den verschiedenen Vorschlägen in der Literatur im Überblick vgl. Richard, Kapitalschutz der Aktiengesellschaft, 2007, S. 75 ff. mit zahlreichen weiteren Nachweisen. 45 Vgl. Linnhoff/Pellens, ZfbF 1987, 987 ff.; Pellens, Aktionärsschutz im Konzern, 1994, S. 119 ff.; Pellens in Elschen, Unternehmenssicherung und Unternehmensentwicklung, 1996, S. 167 ff.; Kühnberger/Schmidt, ZfB 1999, 1263 ff. 46 Vgl. KPMG (Fn. 17), S. 150, 264. 47 Zu diesem Ergebnis kommt auch eine Befragungsstudie von Vorständen börsennotierter Unternehmen in Deutschland. Vgl. Pellens/Gassen/Richard, DBW 2003, 309, 326. 48 Vgl. KPMG (Fn. 17), S. 150.

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bräuchliche Gestaltungen den durch die gesetzlichen Kapitalschutzregeln verfolgten Zweck ad absurdum führen können. Hinsichtlich des Gläubigerschutzes können daher solche schwer überschaubaren Sachverhaltsgestaltungen im Konzern das Risiko der Gläubiger erhöhen, Kreditausfälle zu erleiden. Im Hinblick auf eine der Situation der Gesamtunternehmensgruppe gerecht werdende nachhaltige, an den ökonomischen Realitäten ausgerichteten Ausschüttungspolitik erfolgt somit keine explizite Festlegung des Konzernmanagements auf ein solches Ziel per Gesetz und ist im gegebenen gesetzlichen Rahmen nur freiwillig durch eigene interne strategische Überlegungen des Konzernmanagements zu erreichen. d) Willkür im Verteilungsmechanismus Im Aktienrecht existieren detaillierte Vorgaben, die bei der Verteilung des Gewinns zu beachten sind.49 Nach § 150 Abs. 1, 2 AktG ist so lange 5 % des (ggf. um einen Verlustvortrag geminderten) Jahresüberschusses in die gesetzliche Rücklage einzustellen, bis diese zusammen mit der Kapitalrücklage mindestens 10 % des gezeichneten Kapitals erreicht. Im Regelfall der Feststellung des Jahresabschlusses durch Vorstand und Aufsichtsrat (§ 172 AktG)50 darf die Verwaltung anschließend höchstens die Hälfte des verbleibenden Jahresüberschusses den Gewinnrücklagen zuweisen (§ 58 Abs. 2 Satz 1 AktG).51 Die aus früheren Jahresüberschüssen gebildeten Gewinnrücklagen können – mit Ausnahme der Beträge zur Bildung der gesetzlichen und satzungsmäßigen Rücklage, die den Bindungen gemäß § 150 Abs. 3 AktG unterliegen – aufgelöst und zur Gewinnausschüttung verwandt werden. Die Hauptversammlung entscheidet demnach über die Verwendung des um Einstellungen und Auflösungen von Gewinnrücklagen modifizierten Jahresüberschusses, den Bilanzgewinn (§ 58 Abs. 4 AktG).52 Aus ökonomischer Sicht sind die „Verteilungsschlüssel“ zur Rücklagenbildung als zu pauschal zu kritisieren, da sie kaum einen Bezug zu den unternehmensindividuellen Gegebenheiten aufweisen. Ihre Höhe ist theoretisch nicht zu be-

__________ 49 Vgl. dazu im Überblick bereits II.1.a). 50 Im Ausnahmefall der Feststellung durch die Hauptversammlung gilt § 173 AktG. 51 Die Satzung kann die Verwaltung allerdings dazu ermächtigen, einen größeren oder kleineren Teil zu thesaurieren, solange die anderen Rücklagen die Hälfte des Grundkapitals nicht übersteigen (§ 58 Abs. 2 Satz 2 und 3 AktG). 52 Die Hauptversammlung hat bei ihrem Beschluss über die Verwendung des Bilanzgewinns zu beachten, dass die Aktionäre in Jahren, in denen eine Thesaurierung oder ein Gewinnvortrag bei vernünftiger kaufmännischer Beurteilung nicht erforderlich erscheinen, um „die Lebens- und Widerstandsfähigkeit der Gesellschaft“ zu sichern, eine Dividende von mindestens 4 % des durch Einlagen belegten Grundkapitals erhalten müssen. Anderenfalls kann der Beschluss über die Verwendung des Bilanzgewinns entsprechend §§ 243 ff. AktG angefochten werden (§ 254 Abs. 1 AktG). Aufgrund der geringen Mindestdividende wird der bezweckte Schutz der Aktionärsminderheit vor einer „Aushungerungspolitik“ durch die Mehrheit als wenig effektiv kritisiert. Vgl. Windbichler, Gesellschaftsrecht, 22. Aufl. 2009, S. 437; Raiser/Veil, Recht der Kapitalgesellschaften, 5. Aufl. 2010, S. 236.

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gründen, so dass auch nicht gesagt werden kann, ob sie im Einzelfall einen wirksamen zusätzlichen Schutz bieten, um unvorhergesehene zukünftige Verluste in ausreichender Weise abfedern zu können. Entspricht das gezeichnete Kapital der Gesellschaft dem gesetzlichen Mindestkapital in Höhe von 50.000 Euro, sind angesichts des auch nach der Rücklagenbildung sehr geringen Betrags erhebliche Zweifel angebracht. Auch die aktienrechtlichen Vorschriften zur Verteilung der Gewinnverwendungskompetenz zwischen den Organen der Aktiengesellschaft sind aus ökonomischer Sicht willkürlich. So stellt die 50 %-Regel des § 58 AktG im Wesentlichen einen politischen Kompromiss dar.53 e) Fehlende konzeptionelle Berücksichtigung von Zukunfts- und Zahlungsmittelorientierung Da die aktienrechtlichen Kapitalschutzregeln auf Bilanz- und GuV-Daten einer abgelaufenen Periode zugreifen, leidet das System in seiner Gesamtausrichtung an einem Mangel an Zukunftsbezug. Zwar fließen auch in einen HGBJahresabschluss zukunftsorientierte Elemente ein – so z. B. bei der Abschätzung der Werthaltigkeit von Forderungen und der Bilanzierung von Rückstellungen sowie bei der Bestimmung von Nutzungsdauern und der Festlegung der geeigneten Abschreibungsmethode –, im Vordergrund steht aber die Abbildung der Vermögens-, Finanz- und Ertragslage für ein bereits abgelaufenes Geschäftsjahr.54 Die Vermögensgegenstände und Schulden müssen zudem gemäß § 252 Abs. 1 Nr. 2 HGB unter Berücksichtigung der Prämisse der Unternehmensfortführung („going concern“) bewertet werden.55 Dieser fundamentale Grundsatz der Unternehmensfortführung bedeutet jedoch lediglich, dass im Normalfall nicht die Zerschlagungswerte anzusetzen sind. Er ist somit nicht darauf angelegt, das Unternehmensmanagement zu einer über einen längeren Zeitraum nachhaltig angelegten Ausschüttungspolitik zu bewegen.

__________ 53 Vgl. Kropff, Aktiengesetz, 1965, S. 217. Vgl. dazu auch Schön/Osterloh-Konrad (Fn. 8), S. 931. 54 In der Bilanztheorie gibt es Ansätze, nach denen auf der Aktivseite realisierte und antizipierte Einzahlungsüberschüsse und auf der Passivseite antizipierte Auszahlungen sowie der Fortführungsertragswert des Unternehmens ausgewiesen wird. Vgl. Ordelheide in Budäus/Gerum/Zimmermann, Betriebswirtschaftslehre und Theorie der Verfügungsrechte, 1988, S. 269 ff.; Ordelheide in FS Busse von Colbe, 1988, S. 275 ff. Zu einem Konzept der Bilanzierung zahlungsmittelgenerierender Einheiten zum beizulegenden Zeitwert und einer Marktbewertung des Fremdkapitals mit dem Resultat einer Bilanzsumme, die den Gesamtunternehmenswert aus Sicht des Managements widerspiegelt, vgl. Pellens/Fülbier/Gassen/Sellhorn, Internationale Rechnungslegung, 8. Aufl. 2011, S. 1009 ff. Diese Ansätze zielen aber primär auf die Informationsbedürfnisse der (potentiellen) Investoren und sind nicht als ein Instrument zur Unterstützung einer nachhaltigen Ausschüttungspolitik konzipiert. 55 Bei Zweifeln an der Annahme der Unternehmensfortführung aufgrund tatsächlicher oder rechtlicher Gegebenheiten ist sie anhand von internen Planungsdaten (insb. Finanzplan) eingehend zu beurteilen. Der Abschlussprüfer hat die von den gesetzlichen Vertretern der Gesellschaft getroffene Annahme auf Plausibilität hin zu prüfen. Vgl. dazu IDW PS 270 Rz. 9 ff.

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Für eine nachhaltige Ausschüttungspolitik unter Berücksichtigung des zukünftigen Investitions- und Finanzierungsbedarfs und der Abschätzung der Fähigkeit des Unternehmens, auch in der Zukunft Zinsen und Tilgungen leisten zu können, stellt der in der abgelaufenen Periode erwirtschaftete Gewinn sowie die liquiden Mittel und sonstigen Vermögensgegenstände zum Bilanzstichtag lediglich einen groben Indikator dar. Im Gegensatz dazu sind die (potentiellen) Kapitalgeber vornehmlich an zukunfts- und zahlungsstromorientierten Informationen interessiert, um die Chance-Risiko-Struktur ihres Unternehmensengagements sachgerecht beurteilen zu können. Die Abhängigkeit des Ausmaßes des Kapitalschutzes vom bilanziellen Gewinn hat dazu geführt, dass der gesetzliche Gläubigerschutz einem permanenten Reparaturbetrieb unterliegt. Neue gesetzliche Anforderungen und Rechtsprechungsentscheidungen ergänzen in regelmäßigen Abständen das vom historischen Gesetzgeber eingeführte Konstrukt. Beispiele für solche Eingriffe in der jüngeren Vergangenheit sind die bereits dargestellten durch das BilMoG eingeführten außerbilanziellen Ausschüttungssperren56 und die durch das Gesetz zur Modernisierung des GmbH-Rechts und zur Bekämpfung von Missbräuchen (MoMiG)57 geschaffene Pflicht des Vorstands zur Liquiditätsprognose.58 Durch das MoMiG sind im Jahr 2008 das GmbH- und das Aktiengesetz ergänzt worden. Danach darf der Vorstand einer Aktiengesellschaft keine Zahlungen an die Aktionäre leisten, soweit diese zur Zahlungsunfähigkeit der Gesellschaft führen. Nach § 92 Abs. 2 AktG sind nicht nur Zahlungen nach Eintritt der Zahlungsunfähigkeit oder der Überschuldung verboten, sondern z. B. auch eine Dividendenzahlung an Aktionäre bei daraus resultierender absehbarer späterer Zahlungsunfähigkeit (§ 92 Abs. 2 Satz 3 AktG), es sei denn, sie erfolgen mit der Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters.59 Aus der Norm resultiert die Pflicht des Vorstands zur Liquiditätsanalyse.60 Diese Pflicht ist auch aus Sicht der Gläubiger zu begrüßen, da die für diesen Zweck zu prognostizierenden Zahlungsgrößen den periodisierten Größen im Hinblick auf die Schuldendeckungskontrolle überlegen sind.61 Die

__________ 56 Vgl. II.2.e). 57 Vgl. MoMiG v. 23.10.2008, BGBl. I 2008, Nr. 48, S. 2026 ff. Zu Zweifeln, dass das MoMiG die Rechtssicherheit auf dem Gebiet der Kapitalaufbringung und -erhaltung erhöht hat, vgl. Benecke, ZIP 2010, 105 ff. 58 Es werden hier nur solche Instrumente betrachtet, die präventiven Charakter besitzen. Bestimmungen der Insolvenzordnung und die Rechtsprechung zum existenzvernichtenden Eingriff im GmbH-Recht, also Instrumente, die im Wesentlichen erst in der Krise greifen, werden ausgeklammert. Vgl. dazu m. w. N. Röhricht, Gläubigerschutz im Spannungsverhältnis zwischen Gesellschafts-, Bilanz- und Insolvenzrecht, 2011, S. 220 ff. 59 Vgl. Hüffer, 9. Aufl. 2010, § 92 AktG Rz. 14 bis 14c. Im Falle von verbotswidrigen Dividendenzahlungen ist der Vorstand bei Verschulden gemäß § 93 Abs. 2 Satz 1 i. V. m. Abs. 3 Nr. 1 und Nr. 2 AktG zum Ersatz des Schadens verpflichtet, welcher der Gesellschaft durch die verbotene Ausschüttung entstanden ist. 60 Vgl. Hüffer (Fn. 59), § 92 AktG Rz. 14c. 61 Vgl. Leffson, Die Grundsätze ordnungsmäßiger Buchführung, 7. Aufl. 1987, S. 88; Ballwieser in FS Clemm, 1996, S. 1, 16 f.; Moxter, Grundsätze ordnungsgemäßer Rechnungslegung, 2003, S. 251 ff.

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neue Regelung zeigt aber auch, dass die traditionelle „Gewinngläubigkeit“ auch vom Gesetzgeber zunehmend kritisch hinterfragt wird.62

III. Verankerung von ökonomisch nachhaltigen Ausschüttungsrestriktionen im Gesellschaftsrecht 1. Zielsetzung Die Analyse des bestehenden Kapitalschutzsystems hat eine Reihe von gravierenden Mängeln aufgezeigt, die im Wesentlichen aus der Tatsache resultieren, dass die jährlich ermittelte handelsrechtliche Ergebnisgröße63 den zentralen Ausschüttungs- und Verteilungsmaßstab für das jeweilige Geschäftsjahr darstellt. Das historisch gewachsene Spannungsverhältnis von vorsichtiger Gewinnermittlung und Gläubigerschutz auf der einen und entscheidungsnützlicher Informationsvermittlung und Transparenz auf der anderen Seite führt zu Friktionen im System. Die Schutzfunktion kann in bestimmten Konstellationen auf legale Weise ausgehöhlt werden, die Ausschüttungsschranken und der gesetzlich erzwungene Zwang zur Rücklagenbildung sind willkürbehaftet und manipulationsanfällig und die mit der periodengerechten Erfolgsermittlung einhergehenden Schwankungen können im Einzelfall einer ökonomisch sachgerechten und auf den langfristigen Erhalt des Unternehmens ausgerichteten Ausschüttungspolitik entgegenstehen. Die über die Jahrzehnte entwickelte Konzeption, den verteilungsfähigen Gewinn „vorsichtig“ zu ermitteln, d. h. tendenziell zu niedrig auszuweisen, durch den Rücklagenzwang einen zusätzlichen Verlustpuffer als Vorsorge für wirtschaftlich schlechte Zeiten anzulegen und der Unternehmensleitung durch die aktienrechtliche Kompetenzverteilung gleichzeitig einen ausreichenden Spielraum zur Innenfinanzierung zu bieten, wird – wie gezeigt wurde – in vielen Fällen nicht optimal erreicht. Das bestehende System wirkt insgesamt stark überholungsbedürftig. In der Unternehmenswirklichkeit hat in den letzten Jahren und Jahrzehnten ein flächendeckender Verhaltens- und Mentalitätswandel stattgefunden. Es erscheint nicht mehr zeitgemäß, dass ein ordentlicher und gewissenhafter Kaufmann sich tendenziell ärmer rechnet als er ist, nicht zuletzt, um diversen Begehrlichkeiten – z. B. in Form der Erwartung höherer Löhne und Gehälter seitens der Arbeitnehmer, steigender Steuereinnahmen seitens des Fiskus und höherer Ausschüttungen seitens der Anteilseigner – entgegenzuwirken und in möglichst intransparenter und verborgener Weise Vorsorge für „schlechte Zeiten“ zu treffen. Vielmehr berichten (kapitalmarktorientierte) Unternehmen

__________ 62 Vgl. auch Röhricht, Gläubigerschutz im Spannungsverhältnis zwischen Gesellschafts-, Bilanz- und Insolvenzrecht, 2011, S. 112, die darauf hinweist, dass der bestehende bilanzorientierte Kapitalschutz im Extremfall nicht verhindern kann, dass der Aktiengesellschaft im Anschluss an die Ausschüttung nicht genügend Liquidität verbleibt, um ihre Verbindlichkeiten zu begleichen. 63 Zum Zusammenhang von handelsrechtlichen Jahresüberschuss und Bilanzgewinn vgl. II.1.a), zur handelsrechtlichen Gewinnermittlung vgl. II.2.a.

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heutzutage wesentlich transparenter über ihre Vermögens-, Finanz- und Ertragslage nach den informationsorientierten IFRS und nutzen die vielfältigen Offenlegungs- und Transparenzvorschriften des Aktien- und Kapitalmarktrechts bereitwillig dazu, die Einhaltung der von den „Shareholders“ und „Stakeholders“ geforderten Nachhaltigkeitsorientierung zu belegen. Die Zielsetzung der im weiteren Verlauf näher zu erläuternden „modernen“ Konzeption der Neuzeit besteht darin, dem zu konstatierenden Mentalitätswandel Rechnung zu tragen und die gesetzlichen Ausschüttungsrestriktionen konsequent an den ökonomischen Rahmenbedingungen, Notwendigkeiten und Bedürfnissen der heutigen Unternehmenspraxis auszurichten. Anstelle des eher pauschalisierenden Charakters des bestehenden Kapitalschutzsystems sollen die Ausschüttungsregeln die unternehmensindividuell unterschiedlichen Gegebenheiten berücksichtigen und einen Beitrag zur Stabilität des einzelnen Unternehmens, aber auch der Gesamtwirtschaft leisten, indem auf eine „nachhaltige“ Unternehmensentwicklung abgestellt wird. Die Neuausrichtung des Kapitalschutzsystems würde sich an den Leitlinien der Nachhaltigkeit mit dem Ziel orientieren, eine „nachhaltige“ Ausschüttungspolitik zu gewährleisten. Dafür ist zunächst zu klären, was in diesem Kontext unter dem Begriff der Nachhaltigkeit zu verstehen ist. Die Ursprünge der Nachhaltigkeit liegen in Deutschland über 300 Jahre zurück.64 In Politik und Wirtschaft weit verbreitet sind heutzutage die Definitionen der „nachhaltigen Entwicklung“ des im Jahre 1987 veröffentlichten „Brundtland-Berichts“ der Weltkommission für Umwelt und Entwicklung,65 die eine Schwerpunktsetzung auf Generationengerechtigkeit und ganzheitlicher Verhaltensänderung erkennen lassen: „Dauerhafte Entwicklung ist Entwicklung, die die Bedürfnisse der Gegenwart befriedigt, ohne zu riskieren, dass künftige Generationen ihre eigenen Bedürfnisse nicht befriedigen können.“66 „Im Wesentlichen ist dauerhafte Entwicklung ein Wandlungsprozess, in dem

__________ 64 Vor dem Hintergrund der Tatsache, dass für den Bergbau im mittelalterlichen Sachsen ein überaus hoher Holzbedarf bestand und zudem jahrelange widrige Witterungsbedingungen und Borkenkäferplagen um 1700 die Wälder stark in Mitleidenschaft gezogen hatten, erarbeitete der u. a. für Forstwirtschaft zuständige Oberberghauptmann am kursächsischen Hof in Freiburg, Hannß Carl von Carlowitz, ein grundlegendes naturwissenschaftliches Werk über die Forstwirtschaft und formulierte dabei erstmals das Prinzip der Nachhaltigkeit: „Wird derhalben die größte Kunst, Wissenschaft, Fleiß, und Einrichtung hiesiger Lande darinnen beruhen, wie eine sothane Conservation und Anbau des Holtzes anzustellen, daß es eine continuierliche beständige und nachhaltende Nutzung gebe, weiln es eine unentbehrliche Sache ist, ohnewelche das Land in seinem Esse (= im Sinne von Bestand, Dasein) nicht bleiben mag.“ So v. Carlowitz, Sylvicultura Oeconomica, oder haußwirthliche Nachricht und Naturmäßige Anweisung zur Wilden Baum-Zucht, Leipzig 1713 (Nachdruck durch die TU Bergakademie Freiberg, 2000), S. 105 f. Die Botschaft war in ihrem Kern einfach: Es dürfe nicht mehr Holz gerodet werden als nachwachse, um den Wald im Bestand nicht zu gefährden. 65 Vgl. Hauff (Hrsg.), Unsere gemeinsame Zukunft. Der Brundtland-Bericht der Weltkommission für Umwelt und Entwicklung, Greven 1987. 66 Brundtland-Bericht, S. 51.

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die Nutzung von Ressourcen, das Ziel von Investitionen, die Richtung technologischer Entwicklung und institutioneller Wandel miteinander harmonieren und das derzeitige und künftige Potential vergrößern, menschliche Bedürfnisse und Wünsche zu erfüllen.“67 Eine Analyse der in der Literatur diskutierten Nachhaltigkeitskonzepte fördert drei eng miteinander verzahnte Ausprägungen der Nachhaltigkeit68 zu Tage: Die ökologische Ausprägung der Nachhaltigkeit betrifft u. a. den Umwelt- und Tierschutz, den Gesundheitsschutz und die Schonung von natürlichen Ressourcen. In der sozialen Ausprägung der Nachhaltigkeit werden soziale Aspekte, wie z. B. die Achtung der Menschenrechte, Einhaltung sozialer Standards am Arbeitsplatz, Verbesserung der Lebensqualität und die Förderung gesellschaftlicher Entwicklung, erörtert. Sie weist schließlich eine ökonomische Ausrichtung im Sinne einer langfristigen Maximierungs- bzw. Optimierungsstrategie der Unternehmenstätigkeit auf. Nachhaltigkeitskonzeptionen sind in vielfältigen Ausprägungen auch in der Unternehmenspraxis weit verbreitet. Zahllose „Umwelt-Siegel“ informieren die Verbraucher über nachhaltig hergestellte Produkte, DAX-Unternehmen und weitere große Konzerne veröffentlichen Nachhaltigkeitsberichte und bilden „Nachhaltigkeits-Boards“, erste Unternehmen planen, dem Beispiel der Puma AG zu folgen und eine ökologische Gewinn- und Verlustrechnung aufzustellen, an Börsen werden Nachhaltigkeitsindizes aufgelegt (z. B. „FTSE 4 Good“) und auf Nachhaltigkeit spezialisierte Fonds investieren gezielt in Unternehmen, die sich erfolgreich einem Nachhaltigkeitsrating unterzogen haben.69 Viele Unternehmen berücksichtigen mittlerweile nachhaltige Aspekte nicht primär aus altruistischen Beweggründen oder als Marketinginstrument zur Imagepflege, sondern integrieren die Prinzipien der Nachhaltigkeit konsequent in ihr Geschäftsmodell.70 Beispielsweise werden umweltschonendere Produktionsverfahren entwickelt und die Zusammenarbeit innerhalb der Lieferantenkette verbessert, um die Ressourceneffizienz zu erhöhen und damit steigende Energie-, Rohstoff- und Transportkosten (über) zu kompensieren. Durch die Einhaltung ökologischer und sozialer Standards reagieren Unternehmen auf den Druck und den Verhaltenswandel vieler Verbraucher, die zunehmend solche Kriterien bei ihrer Kaufentscheidung berücksichtigen. Das Ziel diesbezüglicher Maßnahmen ist es daher, einerseits diese größer werdende Gruppe

__________ 67 Brundtland-Bericht, S. 49. 68 Vgl. zu dieser Unterteilung z. B. von der Crone/Hoch, Aktuelle juristische Praxis (AJP) 2002, 40, 42; Haller/Ernstberger, BB 2006, 2517. 69 Einer aktuellen Befragung der Fondsgesellschaft Union Investment zur Folge berücksichtigen rund zwei Drittel der deutschen Großanleger ökonomische Nachhaltigkeitskriterien bei der Kapitalanlage. Vgl. http://www.umweltdialog.de/umweltdialog/ finanzen/2011-08-11_Grossinvestoren_stehen_auf_Nachhaltig-keit.php (Stand: 30.4.2012). 70 So ist beispielsweise der Vorstandsvorsitzende der Henkel AG & Co. KGaA, Kasper Rorsted, „überzeugt, dass sich Nachhaltigkeit und wirtschaftlicher Erfolg gegenseitig bedingen.“ Vgl. zu dem Zitat Scharrenbroch, FAZ Nr. 164 v. 18.7.2011, S. 13.

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der Nachfrager nicht zu verlieren und andererseits die teilweise höhere Zahlungsbereitschaft für „nachhaltig“ hergestellte Produkte der Verbraucher zu nutzen und dadurch den Unternehmenswert zu steigern. Die Integration von Nachhaltigkeitsgrundsätzen in die Unternehmensstrategie wird schließlich auch von langfristig orientierten Kapitalgebern honoriert, die eine „nachhaltig“ agierende Unternehmensleitung mit der Fähigkeit assoziieren, Unternehmensrisiken frühzeitig zu erkennen, die Effizienz der Unternehmensprozesse schneller zu steigern und Marktchancen konsequenter und erfolgreicher zu ergreifen.71 Vergleichbar mit dem „Shareholder Value“-Ansatz, der langfristig nicht erfolgreich sein kann, wenn die Interessen anderer „Stakeholder“ missachtet werden,72 sind auch ökonomische, ökologische und soziale Gesichtspunkte für eine nachhaltig erfolgreiche Unternehmensstrategie eng miteinander verknüpft. Wie zu zeigen ist, gewährleistet ein auf Nachhaltigkeitsprinzipien basierendes Ausschüttungsmodell im Vergleich zum tradierten System eine sachgerechtere Ausprägung des Vorsichtsprinzips. Während die Unternehmensleitung von gesunden Unternehmen derzeit auch mittels gezielter Sachverhaltsgestaltungen und der Ausnutzung der bestehenden Intransparenz Vorsorge für mögliche negative Ereignisse trifft, wird sie zukünftig die Ausschüttungshöhe in transparent nachvollziehbarer Weise an der unternehmensindividuellen Variante der nachhaltigen Geschäftsstrategie ausrichten. Der Reformvorschlag käme daher keiner „Palastrevolution“ gleich; vielmehr würde der Kapitalschutz zu einem zeitgemäßen und im Vergleich zum Status quo wirkungsvolleren und effizienteren Instrument ausgebaut. Die Zielsetzung besteht darin, einen Mechanismus bereitzustellen, der zum einen einer ökonomisch sinnvollen, den Prinzipien der Nachhaltigkeit folgenden Unternehmensstrategie nicht im Wege steht und zum anderen keine Ausschüttungen zulässt, welche die langfristige Unternehmenstätigkeit gefährden. 2. Grundkonzeption eines ökonomisch nachhaltigen Ausschüttungssystems im Überblick In den folgenden Abschnitten wird ein gesellschaftsrechtliches Ausschüttungsmodell entworfen, das die aufgezeigten Prinzipien der ökonomisch ausgerichteten Nachhaltigkeit berücksichtigt. Die Grundkonzeption dieser „nachhaltigen“ Ausschüttungsrestriktionen lässt sich als eine Neuinterpretation des handelsrechtlichen Vorsichtsprinzips und der aktienrechtlichen Verlustpufferfunktion auffassen und sieht wie folgt aus: Transaktionen, die zu einem Abfluss von Vermögensgegenständen der Gesellschaft an die Aktionäre führen, sind nur dann zulässig, wenn sie mit der nachhaltigen Unternehmensstrategie

__________ 71 Vgl. dazu Lackmann (Fn. 5), S. 11, 19 ff., 133 ff. Zu zahlreichen empirischen Studien zum Zusammenhang von Nachhaltigkeitsqualität finanziellem Erfolg von Publikumsgesellschaften im Überblick vgl. von der Crone/Hoch, Aktuelle juristische Praxis (AJP) 2002, 40, 41 f. 72 Vgl. Busse von Colbe, ZGR 1997, 271, 289 f.

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im Einklang stehen und den langfristig absehbaren Fortbestand der Gesellschaft nicht gefährden. Dazu muss einerseits gewährleistet sein, dass die Gesellschaft im Anschluss an die Transaktion über eine Vermögensausstattung verfügt, die nach Art und Umfang der Geschäftstätigkeit und des involvierten Risikos notwendig ist. Die Gesellschaft muss andererseits weiterhin genügend liquide Mittel zur jederzeitigen Erfüllung ihrer Verbindlichkeiten aufweisen. Nach dem Reformvorschlag fällt die Festlegung des ausschüttbaren Betrags in die Kompetenz des Vorstands; sie ist von der Hauptversammlung zu billigen. Die zur Bestätigung der gesetzlichen Ausschüttungsrestriktionen von der Unternehmensleitung durchgeführten Analysen und Berechnungen sind vom Aufsichtsrat und vom Abschlussprüfer zu prüfen. Um unternehmensindividuelle Lösungen und Herangehensweisen zu ermöglichen, wird auf eine detaillierte gesetzliche Vorgabe der Testverfahren zur Vereinbarkeit des vorgesehenen Ausschüttungsbetrags mit der nachhaltigen Unternehmensstrategie bewusst verzichtet. Zur Stärkung der Zukunfts- und Zahlungsstromorientierung soll zudem von der zwingenden Verknüpfung von Ausschüttungsrestriktionen und periodisierten Rechnungslegungsdaten Abstand genommen werden. Bestimmte Leitlinien, Nebenbedingungen und Vorgaben könnten aber bei Bedarf in der Satzung oder der Geschäftsordnung festgelegt werden. Die in Tab. 1 im Überblick skizzierten Eckpunkte dieser neuen Konzeption werden in den folgenden Abschnitten näher herausgearbeitet.

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– Orientierung an dem handelsrechtlich ermittel- – Alle Transaktionen, die zu einem Abfluss von liquiden ten Jahresüberschuss Mitteln oder sonstigen Vermögensgegenständen der Gesellschaft an die Anteilseigner führen, also z. B. – Ausschüttungsbegriff sehr eng definiert Dividenden, Aktienrückkäufe, Kapitalherabsetzungen, – I. d. R. Dividenden- und Sachausschüttungen zu marktunüblichen Konditionen gewährte Darlehen.

Ausschüttungsbegriff

– Vorhandensein eines Gewinns auf Basis des HGB-Einzelabschlusses oder frei verfügbare Gewinnrücklagen – Einhaltung der gesetzlichen Rücklagenbildung und des Mindestkapitals

– Im Rahmen der Aufstellung des Jahresabschlus- – Langfristig absehbarer Fortbestand der Gesellschaft ses Beachtung des Grundsatzes der Unternehmuss sichergestellt sein mensfortführung (§ 252 Abs. 1 Nr. 2 HGB) – Keine Vorgabe der Länge des Prognosezeitraums

Grundlage der Ausschüttungsrestriktionen und Bezug zum Rechnungslegungssystem

Zu beachtender Zeithorizont/Zukunftsorientierung

– Zentraler Anknüpfungspunkt: prognostizierte frei verfügbare Cashflows auf Basis einer integrierten Planungsrechnung (Plan-Bilanz, Plan-GuV, Plan-CashflowRechnung) – Aktuelles (Konzern-)Ergebnis, Eigenkapitalausstattung und Höhe der liquiden Mittel bilden lediglich den Ausgangspunkt für Planungsrechnungen

– Dividenden sind nur dann zulässig, wenn sie mit der nachhaltigen Unternehmensstrategie im Einklang stehen und den langfristig absehbaren Fortbestand der Gesellschaft nicht gefährden. – Berücksichtigung unternehmensindividueller Rahmenbedingungen (z. B. Geschäftsmodell, Risikostruktur, Branche, Unternehmensgröße)

– Starre Ausrichtung der Ausschüttungsregeln an der Rechtsform der Aktiengesellschaft – Pauschalisierung ohne Betrachtung der Unternehmenssituation

Genereller Ansatz

Ausprägung im nachhaltigen Kapitalschutzsystem

Ausprägung im bestehenden System

Merkmale/Bestandteile des Kapitalschutzsystems

Nachhaltiger Kapitalschutz im Lichte der Finanzkrise

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Ausprägung im bestehenden System

– Grundsätzlich keine Vorgabe – Pflicht des Vorstands zur Liquiditätsanalyse gemäß § 92 Abs. 2 AktG

– Nein

– Rücklagenbildung nach § 150 AktG: Vom Jahresüberschuss sind – vorbehaltlich abweichender Bestimmungen in der Satzung – solange mindestens 5 % des Jahresüberschusses in die gesetzliche Rücklage einzustellen, bis diese zusammen mit der Kapitalrichtlinie 10 % des gezeichneten Kapitals erreicht

– Aufstellung des Jahresabschlusses durch den Vorstand (§§ 242 Abs. 1, 264 Abs. 1 HGB), Vorlagepflicht (§ 170 Abs. 1 AktG) – Prüfungspflicht des Jahresabschlusses durch den Aufsichtsrat und Berichterstattung gegenüber der Hauptversammlung (§ 171 AktG) – Prüfungspflicht des Jahresabschlusses durch den Abschlussprüfer (§§ 316 ff. HGB)

Merkmale/Bestandteile des Kapitalschutzsystems

Cashflow-Orientierung

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Zwingende Berücksichtigung von Konzernsachverhalten

Rücklagenbildung

Kompetenzverteilung im Ausschüttungsprozess

– Einhaltung der Ausschüttungsrestriktionen und Bestimmung des ausschüttungsfähigen Betrags beim Vorstand; schriftliche Erklärung – Prüfungspflicht der Erklärung durch den Aufsichtsrat – Prüfungspflicht durch den Abschlussprüfer – Billigung des zur Ausschüttung vorgesehenen Betrags durch die Hauptversammlung analog § 120 Abs. 4 AktG

– Erwirtschaftete Gewinne werden so lange im Unternehmen angespart, bis aus unternehmensindividueller Sicht ein ökonomisch nachhaltiges Eigenkapital (gezeichnetes Kapital und Gewinnrücklagen) vorhanden ist

– Ja

– Ja

Ausprägung im nachhaltigen Kapitalschutzsystem

Georg Lanfermann und Marc Richard

Ausprägung im nachhaltigen Kapitalschutzsystem

– Ausnutzung der immanenten Ermessensspielräume bei – Zielorientierte Ausnutzung der bestehenden der Durchführung der integrierten PlanungsrechnunAnsatz- und Bewertungswahlrechte sowie der gen (Umgang mit der Unsicherheitsproblematik von immanenten Ermessensspielräume im Rahmen Prognosen) der Aufstellung des Jahresabschlusses (Bilanzpolitik) – Sachverhaltsgestaltungen im Konzern: Konzerninterne Gewinnverlagerungen, erweiterte Innenfinanzierungsmöglichkeiten

Ausnahmefall: – Bei Feststellung des Jahresabschlusses durch die Hauptversammlung nach § 173 AktG: Der Hauptversammlung obliegt – vorbehaltlich Bestimmungen in der Satzung – die vollständige Gewinnverwendung (§ 58 Abs. 1 AktG)

Regelfall: – Vorstand und Aufsichtsrat dürfen – vorbehaltlich abweichender Bestimmungen in der Satzung – höchstens 50 % des Jahresüberschusses in die Gewinnrücklagen einstellen (§ 58 Abs. 2 AktG) – Hauptversammlung entscheidet über den Bilanzgewinn (§ 58 Abs. 4 AktG)

Ausprägung im bestehenden System

Tab. 1: Vergleich des bestehenden mit dem ökonomisch nachhaltigen Kapitalschutzsystem

Ermessensspielräume bei der Bestimmung des ausschüttungsfähigen Betrags durch den Vorstand

Merkmale/Bestandteile des Kapitalschutzsystems

Nachhaltiger Kapitalschutz im Lichte der Finanzkrise

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Georg Lanfermann und Marc Richard

3. Kompetenzverteilung und Verantwortlichkeit Das vorgeschlagene Konzept lässt sich in das bestehende Corporate-Governance-System in Deutschland leicht integrieren. Die Beachtung der gesellschaftsrechtlichen Ausschüttungsrestriktionen fällt danach in den Verantwortungsbereich des Vorstands. Dessen Kompetenzen und Verantwortlichkeiten werden zwar ausgeweitet, die Spielräume sind aber – wie bisher auch – durch verschiedene Kontrollmechanismen und -instanzen begrenzt. Die Pflicht zur Einhaltung der gesellschaftsrechtlichen Vorsichtsprinzipien bei der Ermittlung des ausschüttungsfähigen Betrags lässt sich in § 92 bzw. § 93 Abs. 1 AktG integrieren. Die im Vergleich zum Status quo höhere Eigenverantwortlichkeit der Entscheidungsträger ist indirekt dadurch begrenzt, dass sie ihre leicht nachvollziehbaren und transparenten Entscheidungen im Zweifelsfall verstärkt rechtfertigen müssen. Die Prüfung der Einhaltung der gesellschaftsrechtlichen Vorsichtsprinzipien sollte zu diesem Zweck in einer schriftlichen Erklärung des Vorstands zusammengefasst werden. Diese Erklärung sollte zudem analog § 170 Abs. 1 AktG der Vorlagepflicht des Vorstands und analog § 171 AktG der Prüfungspflicht durch den Aufsichtsrat73 und der Berichterstattung gegenüber der Hauptversammlung unterliegen. Sie sollte ferner von der Prüfungspflicht durch den Abschlussprüfer nach §§ 316 ff. HGB erfasst werden. Die Gewinnverwendungskompetenz der Aktionäre ist in einem solchen Modell im Vergleich zum bestehenden System insoweit beschnitten, als sie nicht mehr über den Bilanzgewinn zu entscheiden haben. Da die Ermittlung des Ausschüttungsbetrags nicht primär von den Daten in Bilanz und Gewinn- und Verlustrechnung abhängig ist, kann der Vorstand – wenn dies aus wirtschaftlichen Gründen angezeigt erscheint – auch den kompletten Gewinn thesaurieren.74 Wie die Ausführungen in Kapitel II gezeigt haben, sind die Einflussmöglichkeiten der (Klein-)Aktionäre in materieller Sicht auch im bestehenden System de facto sehr begrenzt. Sie entscheiden über eine Größe, die vom Management im Vorfeld durch rechtlich zulässige Gestaltungsmöglichkeiten stark beeinflusst wird, die Mindestausschüttung im Sinne von § 254 Abs. 1 AktG ist vernachlässigbar gering, und im Konzernverbund findet die 50 %Regelung des § 58 Abs. 2 AktG in der Rechtstatsächlichkeit kaum jemals Anwendung.

__________ 73 Wie oben bereits angedeutet, haben die Verwaltungsorgane der abhängigen Konzerngesellschaft die Verpflichtung, laufend Änderungen des Kreditrisikos der Muttergesellschaft zu prüfen und bei sich andeutenden Bonitätsverschlechterungen mit der Forderung nach Sicherheiten oder mit der Kündigung des Kredits zu reagieren. Nach der aktuellen BGH-Rechtsprechung („MPS-Entscheidung“) hat der Aufsichtsrat die Einrichtung eines diesbezüglichen Informationssystems zu überwachen und bei Insolvenzreife darauf hinzuwirken, dass keine Zahlungen geleistet werden, die mit der Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters nicht zu vereinbaren sind. Vgl. dazu Falkenhausen/Kocher, BB 2009, 121; Veil/Wildhirth, BB 2010, 1035, 1038. 74 Wie in II.2.d) bereits angedeutet, kann unter Beachtung von § 58 Abs. 2 Satz 3 und 4 AktG auch im bestehenden System die Ausschüttung bis auf null reduziert werden.

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Nachhaltiger Kapitalschutz im Lichte der Finanzkrise

Eine Stärkung des Vermögensrechts der Aktionäre kann aber dadurch erreicht werden, dass sie auf der Hauptversammlung über die Billigung des zur Ausschüttung vorgesehenen Betrags zu beschließen haben. Eine solche Regelung könnte sich am Inhalt des § 120 Abs. 4 AktG orientieren, nach dem die Hauptversammlung einer börsennotierten Aktiengesellschaft das Vergütungssystem inklusive einer näheren Beschreibung der anreizorientierten Vergütungsbestandteile, ihrer Bemessungsgrundlage und der erwarteten Auswirkungen auf die nachhaltige Unternehmensentwicklung zu billigen hat.75 Selbst wenn der Beschluss über den Ausschüttungsbetrag – ebenfalls analog § 120 Abs. 4 AktG – keine Rechte oder Pflichten der anderen Organe begründet, so hat er einen disziplinierenden Einfluss. Einerseits ist der Aufsichtsrat dadurch angehalten, seine sich aus § 87 Abs. 1 AktG ergebenden Aufgaben in diesem wichtigen Punkt mit besonderer Gewissenhaftigkeit wahrzunehmen.76 Andererseits hätte das Aussprechen bzw. die Versagung der Billigung durch die Hauptversammlung einer börsennotierten Aktiengesellschaft eine besondere Signalwirkung. Bei börsennotierten Gesellschaften kann zudem tendenziell darauf vertraut werden, dass eine aktionärsschädigende Dividendenpolitik im Sinne zu hoher Thesaurierungen durch Marktkräfte (z. B. Aktienverkäufe der Anteilseigner, sinkende Aktienkurse, steigende Übernahmegefahr, möglicher Reputationsund Arbeitsplatzverlust der Manager) bestraft und letztlich verhindert wird. 4. Ausgestaltungsmöglichkeiten der ökonomisch nachhaltigen Ausschüttungsrestriktionen Die im Gesellschaftsrecht zu verankernden ökonomisch nachhaltigen Ausschüttungsrestriktionen folgen dem Leitbild, dass bestimmte Grundsätze des tradierten Bilanzrechts ins Gesellschaftsrecht verlagert werden. Damit verbunden ist eine Neuinterpretation des Vorsichtsprinzips und der Verlustpufferfunktion. Die in Kapitel III.2. bereits skizzierte Grundkonzeption macht im Vergleich zum bestehenden Recht eine Erweiterung des Ausschüttungsbegriffs notwendig. Dieser umfasst nicht nur Dividendenzahlungen, sondern alle Transaktionen, die zu einem Abfluss von liquiden Mitteln oder sonstigen Vermögensgegenständen der Gesellschaft an die Anteilseigner führen, also namentlich auch Aktienrückkäufe, Kapitalherabsetzungen oder zu marktunüblichen Konditionen gewährte Darlehen. Fraglich ist der Detaillierungsgrad einer diesbezüglichen gesetzlichen Norm. So könnte einerseits versucht werden, dem Vorstand im Gesetz eine Berechnungsmethode zur Analyse der Auswirkungen einer Ausschüttung auf die (zukünftige) wirtschaftliche Lage der Gesellschaft bzw. des Konzerns im Detail vorzugeben. Andererseits wäre es denkbar, anstelle eines formalisierten Tests ein abstrakt gehaltenes Prinzip zu formulieren. Wenngleich letztere Alternative den Spielraum für die Unternehmensleitung tendenziell erhöht, sprechen ge-

__________

75 Vgl. dazu im Einzelnen Hüffer (Fn. 59), § 120 AktG Rz. 20 f. m. w. N. 76 Bei einem Verstoß gegen § 87 Abs. 1 AktG besteht eine Schadensersatzpflicht der Aufsichtsratsmitglieder gemäß § 116 Satz 3 AktG. Vgl. dazu Hüffer (Fn. 59), § 116 AktG Rz. 10 m. w. N.

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Georg Lanfermann und Marc Richard

wichtige Gründe für eine solche Lösung. Die Regulierung fiele mithin weniger starr aus und böte die Flexibilität zur Berücksichtigung unternehmensindividueller Faktoren und Besonderheiten, bspw. der Branche, Risikostruktur des Geschäftsmodells und der Unternehmensgröße. Die aufgezeigten gravierenden Nachteile des pauschalisierenden Kapitalschutzes im bestehenden System wären geheilt.77 Um auch die in der Praxis dominierende Organisationsform der Aktiengesellschaft – den Konzern – konsequent zu berücksichtigen, müssen die Auswirkungen der vorgesehenen Ausschüttung im Hinblick auf die Vermögenslage und die Liquidität sowohl aus Sicht der Einzelgesellschaft als auch aus der Perspektive des Konzernverbunds analysiert werden. Dies hätte zur Folge, dass die seit Jahrzehnten diskutierte Konzernproblematik des § 58 AktG78 elegant gelöst würde. Während sich das aktuell bestehende System primär auf periodisierte Daten im Einzelabschluss bezieht, stellt die neue Ausschüttungskonzeption die zukünftige Unternehmenslage auf Basis von Cashflows in den Mittelpunkt der Betrachtungen, denn der „Pfad betriebswirtschaftlicher Tugend folgt allein den Zahlungsströmen.“79 Das neue Modell zwingt den Vorstand dazu, bei der Bestimmung des Ausschüttungsbetrags eine zukunftsorientierte Sichtweise einzunehmen und sich dabei von Aufsichtsrat und Abschlussprüfer überprüfen zu lassen. Damit werden die primären Interessen von (potentiellen) Gläubigern und Aktionären, die insbesondere abschätzen wollen, inwiefern die Unternehmung in der Zukunft in der Lage sein wird, Zinsen und Tilgungen zu leisten sowie Aktienkurssteigerungen und eine nachhaltige Dividendenpolitik zu realisieren, eher befriedigt. Da zukunftsorientierte Zahlenwerke in der Unternehmenspraxis weit verbreitet sind,80 kann die Einschätzung der zukünftigen wirtschaftlichen Lage der Gesellschaft unter Einbezug der vorgeschlagenen Ausschüttung für den Vorstand einerseits und ihre Überprüfung durch den Aufsichtsrat und den Abschlussprüfer andererseits keine unüberwindbaren Hürden darstellen.81 Darüber hinaus besteht der Charme der hier vorgeschlagenen Regulierung darin, dass der Vorstand seine ganze Energie für die unternehmensindividuelle Abschätzung der ökonomischen Auswirkungen seiner Ausschüttungspolitik

__________ 77 78 79 80

Vgl. dazu auch II.2. Vgl. dazu bereits Kapitel II.2.c). Schneider, Investition, Finanzierung und Besteuerung, 7. Aufl. 1992, S. 169. Beispiele sind die Beurteilung der Fähigkeit zur Unternehmungsfortführung („going concern“), die Prüfung der (drohenden) Zahlungsunfähigkeit, Kreditwürdigkeitsanalysen, Bonitätsbeurteilungen, die Überprüfung der Angemessenheit von Abfindungszahlungen für ausscheidende Anteilseigner, Unternehmensbewertungen. Hinzu kommt die Abbildung bestimmter komplexer Geschäftsvorfälle in Bilanz und GuV. Vgl. dazu die Beispiele in der folgenden Fußnote. 81 Besondere Herausforderungen bei der Überprüfung zukunftsorientierter Daten bestehen bereits aktuell in vergleichbarer Weise bei der Abbildung komplexer Geschäftsvorfälle nach HGB/IFRS, z. B. bei Unternehmenszusammenschlüssen, Wertminderungstests, Aktienoptionsprogrammen, Bildung von Pensionsrückstellungen und bei Anwendung des Neubewertungsmodells bspw. nach IAS 38.

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Nachhaltiger Kapitalschutz im Lichte der Finanzkrise

einsetzen kann. Zeit- und kostenintensive Sachverhaltsgestaltungen zur Sicherstellung der Einhaltung von Ausschüttungsregeln auf Einzelabschlussebene sind nicht mehr notwendig. Anstelle dessen ist der Vorstand gezwungen, ausschließlich die wirtschaftlichen Gegebenheiten und Perspektiven des Unternehmens und ggf. der Unternehmensgruppe explizit zu berücksichtigen. Zur Operationalisierung dieser erhöhten Verantwortlichkeit bietet es sich für den Vorstand an, z. B. auf Finanzpläne bzw. Planbilanzen, Plan-GuV und PlanCashflow-Rechnungen aufzubauen, d. h. auf Planungsrechnungen, die integraler Bestandteil eines modernen Controllings sind.82 Die wesentlichen Stellschrauben sind dabei die Bestimmung des Planungshorizontes und die Ermittlung der in diesem Zeitraum anfallenden Cashflows. Im Vergleich zu Unternehmensbewertungen und Werthaltigkeitstests nach IAS 36 weisen die Kalkulationen aber eine geringere Komplexität auf. Dies liegt daran, dass ein Barwert und folglich ein Diskontierungszinssatz nicht zu bestimmen ist. Der Vorstand muss lediglich abschätzen, dass die Ausschüttung den geplanten Investitionen, den notwendigen Fremdkapitalrückzahlungen und somit insgesamt der auf Nachhaltigkeit angelegten Unternehmensstrategie nicht im Wege steht. Um die aus der Zukunftsorientierung resultierende Unsicherheitsproblematik – auch für Prüfungszwecke durch den Aufsichtsrat und den Abschlussprüfer – transparenter und besser nachvollziehbar zu machen, erscheint eine detaillierte Erläuterung der bei den Berechnungen unterstellten Prämissen und insbesondere derjenigen Einflussgrößen sinnvoll, die eine besondere Hebelwirkung auf die Cashflows haben. Die Herausforderung besteht im Wesentlichen darin, dass die zu prognostizierenden Zahlungsströme realistischerweise nicht als Punktwerte, sondern nur in Bandbreiten – ggf. unter Angabe der geschätzten Eintrittswahrscheinlichkeiten – angegeben werden können.83 Dabei könnten die Entscheidungsträger auf die in der Literatur diskutierten Verfahren der Unsicherheitsberücksichtigung, wie z. B. Sensitivitätsanalysen und Risikosimulationen, zurückgreifen.84 Weitere und ggf. konkretisierte Anforderungen an die Bestimmung des ausschüttungsfähigen Betrags könnten in der Satzung oder der Geschäftsordnung verankert werden.

__________ 82 Vgl. dazu z. B. Horváth, Controlling, 11. Aufl. 2009, S. 291 ff. 83 Vgl. zu diesem Problem im Rahmen von Unternehmensbewertungen grundlegend Moxter, Grundsätze ordnungsmäßiger Unternehmensbewertung, 2. Aufl. 1983, S. 116 ff. Zu einer Übertragung dieses Grundsatzes der Zukunftsbezogenheit auf die Rechnungslegung und einem entsprechenden Vorschlag für eine Reform der FairValue-Bilanzierung nach IFRS am Beispiel des IAS 40 Olbrich, BFuP 2003, 346, 351, 353 f. 84 Mit einer Sensitivitätsanalyse wird untersucht, welche Eingangsgrößen die Höhe der Cashflows besonders stark beeinflussen. Die in mehreren Schritten ablaufende Risikosimulation berücksichtigt eine Vielzahl von Einflussgrößen (z. B. Ein- und Auszahlungen, Verkaufspreise der Produkte, Nutzungsdauern) und generiert als Ergebnis eine Häufigkeitsverteilung der Zielgröße „Cashflow“, die sich auch als kumulative Wahrscheinlichkeitsverteilung in Form eines Risiko-Chancen-Profils graphisch darstellen und leicht auswerten lässt. Vgl. zu diesen Techniken ausführlich Busse von Colbe/Laßmann, Betriebswirtschaftstheorie, Bd. 3: Investitionstheorie, 3. Aufl. 1990, S. 161 ff., 174 ff.

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Die hier propagierte Ausgestaltung der gesellschaftsrechtlichen Ausschüttungsrestriktionen zeigt, dass kein zwingender Bezug zu Rechnungslegungsdaten im handelsrechtlichen Einzelabschluss oder IFRS-Konzernabschluss besteht. Eine vollständige Abkopplung von der Bilanzierung wird aber in der praktischen Umsetzung nicht wahrscheinlich sein. Weltweit durchgeführte Befragungen von Entscheidungsträgern börsennotierter Unternehmen deuten darauf hin, dass bei der Festlegung der Ausschüttungspolitik die Gewinnsituation sowie die Ausstattung mit Eigenkapital und liquiden Mitteln, wie sie sich aus dem aktuellsten testierten (Konzern-)Abschluss ergeben, berücksichtigt werden.85 Dies liegt u. a. daran, dass die Kapitalmarktteilnehmer ihre Erwartungen auch auf Basis der gesetzlichen Unternehmenspublizität bilden und insbesondere den Konzernabschluss als Informationsinstrument heranziehen. Zudem nutzen Unternehmensvertreter die tendenziell vergangenheitsorientierten externen Rechnungslegungsdaten als einen wichtigen Indikator für die Ausschüttungsfähigkeit und zur Validierung ihrer Prognosen. Wenngleich dies vor diesem Hintergrund nicht zwingend erforderlich erscheint, können Nebenbedingungen mit Bezug zu Rechnungslegungsdaten in das Modell eingebaut werden. Als Nebenbedingung könnte z. B. ins Gesetz aufgenommen werden, dass nur solche realisierten Gewinne ausgeschüttet werden dürfen, die mit außerhalb des Konzerns stehenden Dritten erwirtschaftet wurden, oder sichergestellt ist, dass im Anschluss an die Transaktion das Grundkapital und die gebundenen Rücklagen gedeckt sind. Im Vergleich zum bestehenden System hat eine weitgehende Abkopplung von der Bilanzierung den Vorteil, dass die Bestimmung des ausschüttbaren Betrags weitestgehend unbeeinflusst ist von den Schwankungen im Ergebnis- und Eigenkapitalausweis (ausgelöst z. B. durch die Rückstellungsbewertung und die Zeitwertbilanzierung), den bilanzpolitischen Maßnahmen und den konzerninternen Sachverhaltsgestaltungen. Prozyklische und möglicherweise krisenverstärkende Effekte durch Gewinnverwendungsentscheidungen auf Basis schwankender Rechnungslegungsergebnisse86 wären damit nahezu ausgeschlossen. 5. Ergänzung des bestehenden Kapitalschutzsystems oder Ersatz? Schließlich ist zu überlegen, ob die vorgeschlagene Ausschüttungskonzeption das bestehende System nur ergänzen oder ob ein Systemwechsel hin zu einem gesellschaftsrechtlich verankerten Vorsichtsprinzip zum Schutz vor überhöhten, einer nachhaltigen Überlebensfähigkeit des Unternehmens entgegenste-

__________

85 Vgl. KPMG (Fn. 17), S. 150, 172, 191. 86 Vgl. dazu im Zusammenhang mit der Finanzmarktkrise 2008 z. B. Baetge, WPg 2009, 13 ff.; Ballwieser/Küting/Schildbach, DB 2009, Heft 49, S. I; Küting, StuB 2009, 829 ff.; Schildbach, DStR 2010, 69 ff. Anderer Ansicht sind Lüdenbach/Hoffmann, StuB 2009, 287, 299, die darauf hinweisen, dass nicht die Fair-Value-Bewertung von Wertpapieren der Auslöser bzw. der Beschleuniger der Finanzmarktkrise war, sondern insbesondere die zu lange hinausgezögerte, unerwartet hohe außerplanmäßige Abschreibung von zu Anschaffungskosten bilanzierten Hypothekenkrediten. Vgl. ähnlich auch Böcking/Flick, DB 2009, 185, 187; und ausführlich Laux/Leuz, Chicago Booth Research Paper 09-38, 2009, abrufbar unter http://ssrn.com.

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Nachhaltiger Kapitalschutz im Lichte der Finanzkrise

henden Ausschüttungen und somit ein Ersatz der bestehenden aktienrechtlichen Regelungen vorgenommen werden sollte. Der deutsche Gesetzgeber ist dabei in seinen Entfaltungsmöglichkeiten beschränkt, da Änderungen der Kapitalschutzvorschriften nur in den engen Grenzen der EU-Kapitalrichtlinie vollzogen werden können. Ein mit dem bestehenden EU-Recht kompatibles Modell zusätzlicher Sorgfaltspflichten mit einer auch im Konzern zu beachtenden „prudence rule“ existiert in Schweden.87 Erfahrungsberichte der dortigen Unternehmen deuten darauf hin, dass die Beachtung der schwedischen Vorsichtsregelung wenig kostenintensiv, flexibel und einfach ist. Dennoch sind zusätzliche Regulierungen grundsätzlich kritisch zu sehen. Bei einer Bewährung der neuen Prinzipien könnte aber über den sukzessiven Abbau der alten Schranken (z. B. prozentuale Rücklagenbildung) nachgedacht werden. Ein vollständiger Ersatz ist indessen nur auf europäischer Ebene durch eine grundlegende Reform der EU-Kapitalrichtlinie möglich. Am 20.2.2012 hat die Europäische Kommission eine Konsultation zum europäischen Gesellschaftsrecht begonnen, bei der auch die Reformbedürftigkeit der EU-Kapitalrichtlinie zur Diskussion steht.88

IV. Zusammenfassung Die Kapitalschutzvorschriften in Deutschland blicken auf eine mehr als 150jährige bewegte Entwicklung zurück. Den Ausgangspunkt bildete eine Situation, in der das Management losgelöst von der in der Bilanz abgebildeten wirtschaftlichen Lage des Unternehmens überhöhte, die nachhaltige Unternehmensentwicklung aufs Spiel setzende Dividendenausschüttungen veranlassen konnte. Um dies zu unterbinden, entschloss sich der historische Gesetzgeber, Ausschüttungsregeln an einen „vorsichtig“ ermittelten Gewinn zu knüpfen. Während Fragen der Gewinnverwendungskompetenz zwischen den Organen der Aktiengesellschaft und der Berücksichtigung der (Informations-)Interessen der Jahresabschlussadressaten durch Rechnungslegung und sonstige Instrumente der Unternehmenspublizität in den folgenden Jahrzehnten unterschiedlichen Leitideen unterlagen, kristallisierte sich das enge Zusammenspiel von aktienrechtlichen Gewinnverwendungsregeln und handelsrechtlicher Rechnungslegung zur Ermittlung des ausschüttungsfähigen Betrags als Kernmerkmal des deutschen Kapitalschutzes heraus. Aufgrund der in den letzten Jahren zunehmenden Stärkung der Informationsfunktion ist das HGB immer weniger in der Lage, den Spagat von Ausschüttungsbemessung und Informationsvermittlung zu leisten. Das durch das BilMoG eingeführte Instrument der außerbilanziellen Ausschüttungssperren hat eindrucksvoll unterstrichen, dass die gegenwärtige Ausschüttungskonzep-

__________ 87 Vgl. KPMG (Fn. 17), S. 105 ff.; Annexes – Part I, S. 143 ff. Zu einer kurzen Darstellung und kritischen Würdigung der schwedischen Regulierung vgl. auch Maul/ Lanfermann/Richard, AG 2010, 279, 285 f. 88 Vgl. http://ec.europa.eu/internal_market/consultations/docs/2012/companylaw/ques tionnaire_de.pdf (Stand: 30.4.2012).

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Georg Lanfermann und Marc Richard

tion an ihre Grenzen gestoßen ist. Auch die ziselierten aktienrechtlichen Kapitalschutznormen entfalten keinen nennenswerten Gläubigerschutz und vielfältige Wahlrechte und Ermessensspielräume im Rahmen der Bilanzierung geben dem Vorstand ein rechtlich zulässiges Instrumentarium an die Hand, mit dem er die Gewinngröße gezielt beeinflussen kann. Im Konzernverbund kommen umfangreiche Möglichkeiten der Sachverhaltsgestaltung hinzu, die das Kapitalschutzmodell gänzlich ad absurdum führen. Durch die fehlende konzeptionelle Berücksichtigung von Zukunfts- und Cashflow-Orientierung kann es einer ökonomisch nachhaltigen Ausschüttungspolitik entgegenstehen und stellt daher ein Auslaufmodell dar. Vor diesem Hintergrund ist in diesem Beitrag ein ökonomisch nachhaltiges Kapitalschutzsystem vorgestellt worden, nach dem Ausschüttungen einer Aktiengesellschaft nur dann zulässig sind, wenn sie mit der nachhaltigen Unternehmensstrategie im Einklang stehen und den langfristig absehbaren Fortbestand der Gesellschaft nicht gefährden. Den zentralen Anknüpfungspunkt der im Aktiengesetz zu verankernden Ausschüttungsrestriktionen bilden die prognostizierten frei verfügbaren Cashflows auf Basis einer integrierten Planungsrechnung. Der Vorstand ist in diesem Modell gezwungen, die individuellen Rahmenbedingungen des Unternehmens, wie z. B. das Geschäftsmodell, die Wettbewerbssituation und die Risikoposition, im Rahmen der CashflowPrognoserechnung explizit zu berücksichtigen, die im Konzernverbund auch die zukünftige wirtschaftliche Lage des Konzerns umfasst. Die vom Vorstand durchgeführten Kalkulationen und Überlegungen sind – ähnlich wie im bestehenden Corporate-Governance-System – vom Aufsichtsrat und vom Abschlussprüfer zu prüfen. Die Aktionärsrechte können im Vergleich zum Status quo insofern gestärkt werden, als die Aktionäre die vorgeschlagene Ausschüttung auf der Hauptversammlung analog § 120 Abs. 4 AktG zu billigen haben. Durch die Fokussierung auf ökonomische Faktoren wird der Ausschüttungsprozess transparenter und die Ausschüttungspolitik nachhaltiger. Die weitgehende Abkopplung der gesetzlichen Ausschüttungsrestriktionen von Jahresabschlussdaten bietet darüber hinaus für den Gesetzgeber die Möglichkeit, auf dem Gebiet der Rechnungslegung anstelle der kaum noch zu leistenden Mehrdimensionalität z. B. die Rechenschafts- oder Informationsfunktion weiter zu stärken.89

__________ 89 Zur Forderung eines nachhaltigen Wirtschaftens, ohne die Rechnungslegung „verbiegen“ zu müssen vgl. auch Naumann, WPg 2010, 780, 781 f.; Gassen/Fülbier in FAZ, Nr. 114 v. 18.5.2009, S. 12.

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„Obgleich Juriste, von Hause aus eine weiche musikalische Natur“ Anton Friedrich Justus Thibaut als Musiker Statistisch betrachtet sind (und waren) an der Spitze deutscher Universitäten besonders häufig Juristen anzutreffen, während musikalischer Sachverstand in den Rektoraten deutlich weniger verbreitet zu sein scheint. Hierin aber dürfte die Ruperto Carola einzigartig sein: Mit Agostino Steffani, den Kurfürst Johann Wilhelm von der Pfalz zu Beginn des 18. Jahrhunderts zum Kurator der Heidelberger Universität ernannte, zählt sie einen der bedeutendsten Komponisten seiner Zeit zu ihren Rektoren. Und sie kann sich darüber hinaus eines Rektors rühmen, der juristischen Sachverstand mit einer musikalischen Begeisterung verband, die für die Musikgeschichte des 19. Jahrhunderts in vielerlei Hinsicht konstitutiv werden sollte. Anton Friedrich Justus Thibaut, der Juraprofessor, der seine Freizeit der Musik widmete, wird von zwei universitären Disziplinen als einer der Ihren beansprucht – von der Jurisprudenz ebenso wie von der Musikwissenschaft. Letztere sieht in ihm vor allem den einflussreichsten Wortführer jener Reformbewegung zur Neuorientierung der Kirchenmusik im 19. Jahrhundert, die 1868 in der Gründung des „Allgemeinen Cäcilienvereins für die Länder deutscher Sprache“ kulminierte. Sein Buch Über die Reinheit der Tonkunst, 1824 und dann in erweiterter Form noch einmal 1826 veröffentlicht, erlebte im 19. Jahrhundert sieben Auflagen – ein Hinweis darauf, wie ausdauernd diese kleine Schrift wahrgenommen, freilich auch für Zwecke vereinnahmt wurde, an die Thibaut selbst wohl nicht einmal im Traum gedacht hätte. Wie erstaunt er wohl gewesen wäre, sich selbst als Wegbereiter erst einer katholischen, vom Papst schriftlich anerkannten kirchenmusikalischen Reformbewegung wieder zu finden, sodann als Urahn einer neuen evangelischen Kirchenmusik, macht das Vorwort der ersten Auflage deutlich, in dem er ausdrücklich jede konfessionelle Zugehörigkeit von Musik ablehnte.1 Darüber hinaus hatte er die beiden Fassungen anonym veröffentlicht; möglicherweise wollte er seinen Ruf als Jurist nicht durch Schriften über Musik aufs Spiel setzen. Thibauts Buch entstand, wie alle Bücher, nicht im gleichsam luftleeren Raum. Das Interesse an der Musik der Vergangenheit hatte stetig zugenommen, seit Charles Burney und John Hawkins (auch er von Hause aus Jurist) im selben Jahr 1776 je eine eigene Musikgeschichte veröffentlicht hatten. 1802 hatte Nikolaus Forkel in Göttingen die erste Biographie Johann Sebastian Bachs ver-

__________

1 Die verschiedenen Versionen des Buches sind zusammengefasst bei Raimund Heuler (Hrsg.), Anton Friedrich Justus Thibaut, Über die Reinheit der Tonkunst. Neueste, den Text der ersten und zweiten Ausgabe enthaltende Auflage, Paderborn 1907. Das Vorwort der ersten Auflage findet sich auf S. LXXVII f.

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Silke Leopold

öffentlicht, ein schmales Bändchen, das dennoch große Wirkung entfalten sollte. Bis die erste umfassende Musikgeschichte in deutscher Sprache erschien, sollte es freilich bis 1834 dauern: Raphael Georg Kiesewetters Geschichte der europäisch-abendländischen oder unsrer heutigen Musik. Alle diese Bemühungen um die ältere Musik hatten jedoch eines gemein: Niemand wäre auf die Idee gekommen, die dort beschriebene Musik auch aufzuführen. Sie war, so die gängige Überzeugung, ein für allemal verklungen. Dennoch begann sich parallel zu den großen Musikgeschichtswerken von Burney und Hawkins zaghaft auch das Interesse an alter Musik als klingendem Gegenstand zu regen, und auch in diesem Kontext war ausgerechnet jenes England der Vorreiter, das im 18. Jahrhundert vergleichsweise wenig eigene Musik hervorbrachte und sich lieber die bedeutenden Musiker vom Kontinent holte – Georg Friedrich Händel, Johann Christian Bach, Joseph Haydn. Händels Oratorien, allen voran The Messiah, waren in ununterbrochener Aufführungstradition auch über den Tod des Komponisten hinaus in London regelmäßig aufgeführt worden – ein Novum in der Musikgeschichte. Die Repertoirebildung begann mit der Händel-Renaissance zum vermeintlich 100. Geburtstag des Komponisten 1784 auch auf dem Kontinent Fahrt aufzunehmen. Einer der ersten, der sich für die Aufführung von Musik der Vergangenheit interessierte, war Gottfried van Swieten gewesen – der Sohn des Leibarztes von Kaiserin Maria Theresia, dessen Wirken für die Musikgeschichte immer noch nicht hoch genug eingeschätzt wird. Van Swieten, als habsburgischer Diplomat unter anderem in London und Berlin tätig, hatte in England Aufführungen Händelscher Oratorien miterlebt, und er hatte in Berlin im Familienarchiv Carl Philipp Emanuel Bachs die Werke von dessen Vater Johann Sebastian studieren und kopieren können. Er war es, der Mozart in Wien mit den Oratorien Händels und mit Bachs Wohltemperiertem Clavier bekannt machte, der bei Mozart Bearbeitungen Händelscher und Philipp Emanuel Bachscher Oratorien in Auftrag gab, der 1793 die erste Aufführung von Mozarts Requiem organisierte, dessen Abschrift von Bachs H-Moll-Messe Beethoven zu seiner Beschäftigung mit Bach anregte. In van Swietens Haus lernte Mozart die alte Musik schätzen. Am 12.4.1783 hatte er an seinen Vater Leopold geschrieben: „Wenn es wärmer wird, so bitte ich Sie unter dem Dache zu suchen, und uns etwas von Ihrer kirchenMusik zu schicken; Sie haben gar nicht nötig, sich zu schämen. Baron van Suiten und Starzer wissen so wohl als ich, daß sich der Gusto immer ändert – und aber daß sich die veränderung des gusto leider sogar bis auf die Kirchenmusik erstreckt hat – welches aber nicht sein sollte – woher es dann auch kömmt, daß man die wahre Kirchenmusik unter dem Dache und fast von Würmern gefressen – findet.“2 Das Argument von der alten Kirchenmusik als „wahrer“ Kirchenmusik, das Mozart sicherlich von van Swieten übernommen hatte, hinderte ihn freilich nicht, Händels Oratorien für eine Aufführung zu modernisieren und mit neuem Instrumentalsatz zu umgeben. Seine Wiederbelebung der

__________ 2 Mozart. Briefe und Aufzeichnungen, Brief Nr. 739, Bd. 3, 1963, S. 264, Gesamtausgabe hrsg. von der Internationalen Stiftung Mozarteum Salzburg, gesammelt und erläutert von Wilhelm A. Bauer und Otto Erich Deutsch.

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alten Musik geschah durch Modernisierung, und es ist in diesem Zusammenhang bezeichnend, dass Der Messias das gesamte 19. Jahrhundert hindurch zumeist in der Mozartschen Version aufgeführt wurde. Thibaut allerdings dünkten diese Eingriffe in Händels Partitur unzulässig: „Selbst Mozart, ungeachtet seines, sonst bewunderungswürdigen Geschmacks, hat sich in dieser Hinsicht Sünden zu Schulden kommen lassen, welche nur seinen beschränkten Lobrednern entgehen konnten […] Man kann sagen, daß Mozart’s Genie auch bei diesen Bearbeitungen erkennbar ist, aber Händel hat er hier zu Grabe getragen.“3 In der musikwissenschaftlichen Literatur ist Thibaut nahezu ausschließlich durch Über die Reinheit der Tonkunst präsent. Mit seinen praktischen musikalischen Aktivitäten hat sich die Musikwissenschaft bisher kaum beschäftigt.4 Zwar ist Thibauts Heidelberger Singkreis legendär, aber hinsichtlich der Frage, welche Musik dort gemacht und wie sie aufgeführt wurde, nur oberflächlich untersucht. Dass Thibauts Bemühungen vor allem einer praktischen Wiederbelebung der alten Musik nicht allein als historischen Studienobjekts, sondern als ästhetischer Gegenwart galten, ist bisher weniger gewürdigt worden als seine Ideen über die „Reinheit“, die sich in juristischen wie in musikhistorischen Schriften niedergeschlagen haben.5 Hagiographische Erinnerungen wie Eduard Baumstarks ein Jahr nach Thibauts Tod gedruckte Biographie6 haben ihr Teil dazu beigetragen, das Bild Thibauts als das eines Weisen zu verfestigen, der da mit schlohweißem Haar Musik von Händel und Palestrina zelebrierte, als wäre dies wahrer Gottesdienst. Zumeist wird der Heidelberger Singkreis als die praktische Einlösung jener Restauration der alten Vokalpolyphonie und des gregorianischen Chorals verstanden, die Thibaut in Über die Reinheit der Tonkunst so vehement gefordert hatte. Dabei wird eher andersherum ein Schuh daraus: Das Buch entstand aus der Erfahrung mit der praktischen Arbeit heraus, ein Jahrzehnt nachdem Thibaut begonnen hatte, Gleichgesinnte um sich herum zu versammeln und Musik der Vergangenheit wieder zum Klingen zu bringen, und der Blick auf das Repertoire wie auch auf die Interpretation zeichnet ein deutlich modifiziertes Bild von Thibauts ästhetischen Präferenzen. Und die musikalischen Erfahrungen mit seinem Singkreis dürften auch Thibauts theoretische Reflexionen in nicht unbeträchtlichem Maße beeinflusst haben, denn sie sind voll von aufführungspraktischen Argumentationen. Es lohnt sich also, einmal hinter die Kulissen zu schauen und zu fragen, auf welchem musi-

__________ 3 Heuler (Fn. 1), S. 75 f. 4 Die bisher ausführlichste Darstellung findet sich bei Ursula Reichert, Kurpfälzische Museum der Stadt Heidelberg (Hrsg.), Musik in Heidelberg 1777–1885, Musik in Heidelberg: Die Zeit der Romantik, 1985, S. 43–12. 5 S. hierzu das Kapitel „Politik, Musik und Religion im Lichte von Thibauts Begriff der ‚Reinheit‘“ in Rainer Polley, Anton Friedrich Justus Thibaut (AD 1772–1840) in seinen Selbstzeugnissen und Briefen, Bd. 1 1982, S. 91–124, sowie Hattenhauer in Heidelberger Jahrbücher 34, Anton Friedrich Justus Thibaut und die Reinheit der Jurisprudenz, 1990, S. 20–36. 6 Eduard Baumstark, Anton Friedrich Justus Thibaut: Blätter der Erinnerung für seine Freunde und für die Verehrer der reinen Tonkunst, 1841.

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kalisch-praktischen Nährboden die Ideen Über die Reinheit der Tonkunst sprießen und gedeihen konnten. Denn der Einfluss jenes enthusiastischen Dilettanten, der ein Gutteil seines exorbitanten Gehalts für sein kostspieliges Hobby ausgab, Noten von Musik der Vergangenheit zu sammeln, diese in Stimmen ausschreiben zu lassen und mit einer Gruppe von anderen Enthusiasten aufzuführen, auf die musikalische Entwicklung des 19. Jahrhunderts kann wohl kaum hoch genug eingeschätzt werden. Häufig waren es die Dilettanten, die Unangepassten, die neue Ideen auf den Weg brachten. Und so breit gefächert Thibauts musikalische Interessen, wie sie sich in seiner über Jahrzehnte zusammen getragenen musikalischen Bibliothek widerspiegeln, auch waren, so lassen sich doch von Anbeginn an zwei Schwerpunkte ausmachen – die Neugier darauf, welche Klangwirkung diese alte Musik, die niemand mehr im Ohr hatte, zu entfalten in der Lage war, und ein außergewöhnliches Interesse an der Musik fremder Völker. ***** Dabei hatte Thibaut erst spät begonnen, sich aktiv mit Musik zu beschäftigen. Ob er in seiner Studienzeit in Göttingen Kontakte zum dortigen UniversitätsMusikdirektor Johann Nikolaus Forkel pflegte, lässt sich nicht belegen, obwohl es wahrscheinlich ist, denn Forkel, der einst als Jurastudent nach Göttingen gekommen war und dann erst als Organist, später als Musikdirektor Karriere gemacht hatte, gehörte zu denen, die Thibaut bei seiner Suche nach Musikalien der Vergangenheit als mögliche Informanten nannte.7 Dass er Forkel, den Verfasser der ersten, 1802 publizierten Biographie über Johann Sebastian Bach und einer viel gelesenen Schrift Über die Theorie der Musik (Göttingen 1777) wegen seiner vermeintlichen Pedanterie wenig schätzte, geht freilich auch aus einem späten Brief an den belgischen Musiklexikographen François-Joseph Fétis hervor.8 1805 von Jena nach Heidelberg und im selben Jahr in die Universitätsleitung berufen, übte das Amt des Rektors (Prorektors) bis 1807 und noch einmal von Ostern 1821 bis Ostern 1822 aus. Nach eigenem Bekunden9 hatte er die Musik um 1808 für sich entdeckt, bald nach dem Ende seiner ersten Phase als Rektor. Zum ersten Mal erwähnte er die Musik in seinen Briefen freilich überhaupt erst im Oktober 1815: „Als curarum dulce levamen treibe ich die Musik mit großem Eifer, um so mehr, als alle meine Kinder für Musik ausgezeichnete Anlagen haben. Jeden Abend werden beim Fortepiano Lieder gesungen – großentheils einfache Volkslieder, von denen die ältesten Kinder schon an 150 recht inne haben. Daneben habe ich alle 8–14 Tage mit 3–4 Herren und 5 Damen (ohne alle fremde Zuhörer) Abends von 5–9 eine große Singübung, möglichst für Oratorien. Wir haben im letzten Jahr eingeübt: Das Stabat Mater von Pergolesi, den Tod Jesu

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7 In einem Brief an Georg Arnold Heise v. 10.5.1817, Polley (Fn. 5), Nr. 213, Bd. 2, S. 312. 8 Polley (Fn. 5), Nr. 441, Bd. 2, S. 560. 9 In einem Brief an Barthold Georg Niebuhr v. 21.5.1823, schreibt Thibaut, er widme sich „seit fünfzehn Jahren“ in seinen Mußestunden der Musik., Polley (Fn. 5), Bd. 2, S. 436 f.

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von Graun, die Sieben Worte von Haydn. Jetzt sind wir an Mozarts Requiem, und dann soll Händels Messias folgen. Ich kann Ihnen nicht beschreiben, wie diese Musik mich ergreift und erquickt.“10 Dieser an Karl Ludwig von Knebel in Jena gerichtete Brief ist in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert. Zum einen deutet nichts darauf hin, dass Thibaut wenige Jahre später zu einem der glühendsten Verfechter der Wiederbelebung alter Musik werden sollte. Die genannten Werke gehörten zum allgemein üblichen Kanon jener Singvereine, die sich, in der Folge der 1791 gegründeten Berliner Singakademie, allenthalben im deutschsprachigen Raum, gebildet hatten. Giovanni Battista Pergolesi, Carl Heinrich Graun, Joseph Haydn und Wolfgang Amadeus Mozart galten als Klassiker, nicht aber als Alte Musik im Sinne einer unterbrochenen Aufführungstradition, denn selbst das 1736 entstandene Stabat Mater von Pergolesi war im 18. Jahrhundert unzählige Male aufgeführt und im Satz modernisiert worden. Zum anderen aber fällt der Hinweis auf die Volkslieder auf, und dies nicht nur, weil Thibaut sich mit dieser Vorliebe zu einem sehr frühen Zeitpunkt in eine dezidiert Heidelberger Tradition stellte, sondern auch, weil er sich schon bald auch für die Lieder anderer Völker zu interessieren begann und als einer der ersten in Deutschland diese von ihm so genannten „National-Gesänge“ zu sammeln begann. Für beide Interessen dürfte es einen Anstoß von außen gegeben haben. Zwischen 1805 und 1808 hatten Achim von Arnim und Clemens Brentano in Heidelberg Des Knaben Wunderhorn veröffentlicht – jene Sammlung mit dem Untertitel Alte deutsche Lieder, die als vermeintliche „Volkslieder“ epochale Wirkung entfalten sollten.11 Schon 1810 erschien im selben Verlag eine erste musikalische Version von 24 Liedern der Wunderhorn-Sammlung, deren Texte der Herausgeber Johann Nikolaus Böhl von Faber älteren, bereits bekannten Melodien unterlegt hatte.12 Es dürfte diese Sammlung gewesen sein, die Thibaut dem abendlichen Musizieren mit seinen Kindern zugrunde legte. Die Anregung, sich mit alter, nicht mehr aufgeführter Musik zu beschäftigen, geht dagegen vermutlich auf musikalische Entwicklungen zurück, die von Berlin aus ihren Anfang nahmen. Die dort seit dem späten 18. Jahrhundert zunehmend geführten Diskussionen um die wahre Kirchenmusik13 hatten E.T.A. Hoffmann zu seinem 1814 in der Allgemeinen Musikalischen Zeitung in Leipzig veröffentlichten Beitrag „Alte und neue Kirchenmusik“ bewogen, auf den sich Thibaut später in Über die Reinheit der Tonkunst eng beziehen sollte, ohne freilich seine Quelle zu nennen. Galt der Palestrina-Satz seit dem 17. Jahrhundert als Modell polyphonen Komponierens, so fügte E.T.A. Hoffmann dem PalestrinaBild nun eine neue Facette hinzu, indem er den Komponisten zu einem „Alt-

__________ 10 Polley (Fn. 5), Bd. 2, S. 297 f. 11 Die jünste kritische Gesamtausgabe wurde besorgt von Heinz Rölleke, Des Knaben Wunderhorn. Alte deutsche Lieder, gesammelt von Achim von Arnim und Clemens Brentano, Kommentierte Gesamtausgabe, 3 Bde, 2006. 12 Johann Nikolaus Böhl von Faber, Vier und zwanzig Alte deutsche Lieder aus dem Wunderhorn mit bekannten meist älteren Weisen beym Klavier zu singen, 1810. 13 S. hierzu Heidrich, Protestantische Kirchenmusikanschauung in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Studien zur Ideengeschichte ‚wahrer‘ Kirchenmusik, 2001.

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vater der Musik“14 und diese zu „wahrhafter Musik aus einer andern Welt“15 erklärte. Ob Thibaut Hoffmanns Aufsatz selbst entdeckt hat, oder ob sein Interesse an der Vokalpolyphonie des 16. Jahrhunderts auf einem anderen Wege vermittelt wurde, lässt sich nur anhand von Indizien deduzieren. Es scheint, als habe Thibaut um 1810 begonnen, Notenmaterial zu sammeln. Seit Ende 1816 mehren sich die brieflichen Bitten an seine Freunde überall in Europa, ihn mit Abschriften bestimmter Musikalien zu versorgen. Der Name Palestrina fällt zum ersten Mal am 28.11.1816 in einem Brief, der einen Hinweis darauf liefert, auf welche Weise Thibaut auf Palestrina aufmerksam geworden sein könnte. Er ist an Friedrich Carl von Savigny in Berlin gerichtet, und enthält die Bitte, sich mit Carl Friedrich Zelter in Verbindung zu setzen und ihn um die versprochenen Kopien einiger Musikalien, darunter acht Miserere von Palestrina, zu bitten.16 Zelter, seit 1800 Leiter der Sing-Akademie zu Berlin, scheint der Schlüssel zu einer Beziehung zwischen Thibaut und der Berliner Musikszene zu sein, die sich im Laufe der Zeit in vielen Facetten materialisieren sollte. Er hatte Thibaut auf einer Bäderreise nach Wiesbaden in Heidelberg besucht und war mit ihm über alte Musik ins Gespräch gekommen. Am Freitag, dem 20.9.1816 schrieb er in sein Tagebuch: „Hofrath Thibaut schenke mir das Tenebrae von Michael Haydn“. Und zwei Tage später, am 22. September: „Vormittags bei Hofrath Thibaut; das gestern verfertigte ‚Tenebrae‘ abgegeben.“17 Offenbar hatte Zelter sich durch das Geschenk anregen lassen, eine eigene musikalische Version des Textes zu verfassen. Tatsächlich findet sich in dem Teil des Thibautschen Nachlasses, der in der Bayrischen Staatsbibliothek in München aufbewahrt wird, das Autograph jener Motette im alten Stil mit dem Titel Tenebrae factae sunt, die 1818 gedruckt wurde, und die Zelter selbst so sehr schätzte, dass man sie noch auf seiner Beerdigung 1832 sang. Das Autograph ist datiert auf den 21.9.1816 und auf Papier mit badischem Wasserzeichen geschrieben.18 Von diesen Kontakten wusste Johann Wolfgang von Goethe nichts, als sein Duzfreund Zelter ihm im Juni 1818 ein neu komponiertes „Motettlein“ nach Jena sandte. Goethe kannte Thibaut aus dessen Jenaer Zeiten und hatte diese Bekanntschaft bei seinen Heidelberger Aufenthalten 1814 und 1815 erneuert. Betrübt, in Jena niemanden auftreiben zu können, der Zelters „Motettlein“ aufführen würde, schlug Goethe ihm vor: „Wäre es dir nicht unangenehm, so sendete ich eine Abschrift von dieser Partitur an Thibaut nach Heidelberg. Er ist, obgleich Juriste, von Hause aus eine weiche musikalische Natur, und hat,

__________ 14 E.T.A. Hoffmann, „Alte und neue Kirchenmusik“, in E.T.A. Hoffmann, Schriften zur Musik. Nachlese, hrsg. von Friedrich Schnapp, 1963, S. 214. 15 E.T.A. Hoffmann (Fn. 14), S. 215. 16 Polley (Fn. 5), Brief Nr. 206, Bd. 2, S. 305. 17 Zelter Schriften. 18 S. die Quellenbeschreibung in RISM (Répertoire International des Sources Musicales) Online Catalogue of Musical Sources: http://opac.rism.info/index.php?id=6&no_ cache=1&L=0&tx_bsbsearch_pi1%5Bquery%5D%5B0%5D=zelter%20thibaut&tx_bs bsearch_pi1%5Bid%5D=456011208 (Zugriff v. 11.11.2011).

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wie ich höre, auf solide Weise einen Kreis um sich her versammelt, wo sie ältere Komponisten mit Liebe, Leben und Sorgfalt aufführen.“19 ***** Woher rührte Thibauts Interesse an einer praktischen Umsetzung alter Musik in ihrer originalen – oder zumindest vermeintlich originalen – Gestalt? Da er, wie wir aus seinen eigenen Übersetzungen englischer, schottischer und irischer Liedtexte wissen, des Englischen mächtig war und außerdem zahlreiche in England erschienene Musikdrucke besaß, dürfte er mit Sicherheit Burney und Hawkins gelesen haben. Tatsächlich zitiert er Burney in seinem Buch Über die Reinheit der Tonkunst, und es ist auffällig, dass die Auswahl der musikalischen Werke, die er sich besorgte, offensichtlich von diesen Büchern angeregt wurde. Und er scheint seine Sammeltätigkeit begonnen zu haben, lange bevor er seinen Singkreis gründete. Was also mag ihn dazu angeregt haben, die Musik, deren Papierform er studierte, auch zum Klingen zu bringen? Über das genaue Datum der Gründung dieses Singkreises wissen wir nichts; dass er 1815 schon bestand, verrät der zitierte Brief an Karl Ludwig von Knebel. Die Zahl der Mitwirkenden dürfte stark geschwankt haben – Thibaut selbst berichtet von neun Sängern („3–4 Herren“, „5 Damen“). Robert Schumann, der während seines Jurastudiums ebenfalls bei Thibaut mittun durfte, erwähnte, sicherlich in propagandistischer Übertreibung, in einem Brief an seine Mutter im Jahre 1830 deutlich höhere Teilnehmerzahlen: „Thibaut ist ein herrlicher, göttlicher Mann; bei dem ich meine genußreichsten Stunden verlebe. Wenn er so ein Händel’sches Oratorium bei sich singen läßt (jeden Donnerstag sind über 70 Sänger da) und so begeistert am Klavier accompagnirt und dann am Ende zwei große Thränen aus den schönen großen Augen rollen, über denen ein schönes, silberweißes Haar steht, und dann so entzückt und heiter zu mir kommt und die Hand drückt und kein Wort spricht vor lauter Herz und Empfindung, so weiß ich oft nicht, wie ich Lump zu der Ehre komme, in einem solchen heiligen Hause zu sein und zu hören. Du hast kaum einen Begriff von seinem Witz, Scharfsinn, seiner Empfindung, dem reinen Kunstsinn, der Liebenswürdigkeit, ungeheuren Beredtsamkeit, Umsicht in Allem.“20 Über den Ort der Zusammenkünfte sind wir durch Eduard Baumstark unterrichtet: „Der Raum, in welchem der Verein sang, war eben seiner Lage, Gestalt und Bauart nach keineswegs geeignet, das Hören zu erleichtern. Denn er lag hoch oben, nahe unter dem Dache, war niedrig, hatte keine festen Steinwände, und war winkelig und eckig.“21 Thibaut erwartete von seinen Sängern absolute Konzentration auf die Musik und gestattete keinerlei gesellschaftlichen Umgang während der Zusammenkünfte. Öffentliche Aufführungen waren nicht vorgesehen. Ein Singverein, so Thibaut in Über die Reinheit der Tonkunst,

__________ 19 Hecker (Hrsg.), Briefwechsel zwischen Goethe und Zelter, Brief Nr. 312 v. 28.6.1818, 1987, Bd. 1, S. 647. 20 Schumann, Clara (Hrsg.), Jugendbriefe von Robert Schumann, Leipzig 1910, S. 105. 21 Baumstark (Fn. 6), S. 3.

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solle sich dem Studium der Werke, nicht aber ihrer Zurschaustellung widmen.22 Entscheidend für die Arbeit im Singkreis und insbesondere die Hinwendung zu alter Musik jenseits des gängigen Oratorien-Repertoires dürfte auch die Bekanntschaft, die problematische Freundschaft mit Bernhard Klein gewesen sein, einem mehr als zwanzig Jahre jüngeren Kölner Musiker.23 Der 1793 geborene Klein hatte schon in jungen Jahren in der Konservatoriumsbibliothek in Paris Bekanntschaft mit älterer Musik gemacht. Eine geplante Reise zu Beethoven in Wien endete 1816 in Heidelberg, wo Klein mehrere Monate blieb, Thibauts musikalische Bibliothek durchstöberte und seinem Mentor im Gegenzug Tipps für die Chorleitung und das Partiturspiel am Klavier gab. Als Mitarbeiter Zelters zog Klein später nach Berlin, wo ihm der Beiname „der Berliner Palestrina“ zuteilwurde; er beschaffte Thibaut immer wieder Abschriften von Werken der älteren Musikgeschichte, aus Berlin selbst sowie auch aus Italien, wohin ihn im Jahre 1824 seine Hochzeitsreise führte. Sein eigenes musikalisches Schaffen ist in hohem Maße von dem Studium der alten Musik geprägt – der Musik Palestrinas für die kleineren Werke ebenso wie der Musik Händels für seine Oratorien. Die Briefe Thibauts an Klein beginnen im März 1817 – kurz nachdem dieser Heidelberg verlassen hatte, und sie sind voll mit Bitten um neue Abschriften und Bestätigungen, dass dergleichen eingetroffen sei. So sehr Thibaut Klein als Musiker und Gesprächspartner schätzte – von seinen Bemühungen, die alte Musik schöpferisch umzusetzen und neue Kompositionen im alten Stil zu schreiben, hielt er nichts. Die Schroffheit, mit der er in einem Brief Ende Juli 1821 auf die Nachricht reagiert, Klein wolle ihm etwas Selbstkomponiertes schicken, mag mit einer momentanen Irritation im Verhältnis der Freunde zusammenhängen. Die Argumente, mit denen er dieses Selbstkomponierte ablehnt, ähneln jedoch denen, mit denen Thibaut später Mozarts Händel-Bearbeitungen kritisierte: „Ich bitte Sie aufs angelegentlichste, dies nicht zu thun. Es muß Ihnen erinnerlich seyn, daß mein eigentlicher Zweck immer war, das große Alterthum in großen Mustern historisch kennen zu lernen, und daß ich insofern nur wünschte, Sie möchten sich die Mühe geben, ohne Arbeit auf meine Kosten durch geübte Schreiber das, was Sie von solchen Mustern so reichlich gefunden haben, für mich copieren zu lassen.“24 Modernen Adaptionen des alten Stils waren Thibaut ein Greuel. Ihm ging es um die Restauration der Schönheit der alten Musik selbst, nicht um den musikalischen Fortschritt in Gestalt von Stilkopien. Bernhard Klein scheint sich Thibauts Wunsch, ihn mit derartigen Stücken zu verschonen, nicht ganz gebeugt zu haben. In Thibauts musikalischem Nachlass finden sich dreizehn Kompositionen Bernhard Kleins, von denen manche irgendwann sogar in seinem Singkreis aufgeführt wurden.

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22 S. hierzu die Ausführungen im Kapitel „Über Singvereine“ in Heuler (Fn. 1), S. 109 f. 23 Zu Bernhard Klein s. Zywietz in Finscher (Hrsg.), Die Musik in Geschichte und Gegenwart, Artikel Klein, Bernhard, Bd. 10, 2. Aufl. 2003, Sp. 235–238. 24 Polley (Fn. 5), Bd. 2, Nr. 303, S. 433.

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Wie gestalteten sich die Donnerstage im Hause Thibaut? Neben den grundsätzlichen Bemerkungen über die Organisation von Singvereinen in Über die Reinheit der Tonkunst geben hierüber zwei Quellen Auskunft, die, obwohl in gedruckter Form vorliegend, bisher von der Forschung kaum beachtet wurden. Da ist erstens das Verzeichnis der nachgelassenen Musikaliensammlung Thibauts, die sein Sohn 1842 zum Verkauf anbot, und die sich heute in der Bayerischen Staatsbibliothek befindet. Dieses Verzeichnis25 birgt eine Reihe von Überraschungen in sich. Es ist dreiteilig – der erste Teil alphabetisch nach Komponistennamen geordnet, der zweite enthält Sammeldrucke und Sammelhandschriften, zumeist Kirchengesänge, der dritte Volksliedsammlungen. Die historische Bandbreite reicht von der Zeit der Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert, namentlich Josquin Desprez, Antoine Brumel und Heinrich Isaac, bis hin zu zeitgenössischen Komponisten wie Ludwig van Beethoven, Louis Spohr, Friedrich Silcher oder Bernhard Klein. Überraschen muss dabei zunächst, dass nicht etwa Palestrina und seine Zeitgenossen wie Filippo de Monte oder Tomas Luis de Victoria den Hauptteil der Sammlung ausmachen, sondern Komponisten des 18. Jahrhunderts – also jenes Jahrhunderts, in dem Thibaut bereits den Verfall des musikalischen Ernstes beklagen zu müssen meinte. In Über die Reinheit der Tonkunst hatte er geschrieben: „Sehen wir nun auf die Geschichte der Kirchenmusik, so ergiebt sich schon bei einer flüchtigen Betrachtung des Vorhandenen, daß über die neuesten Zeiten am wenigsten Gutes gesagt werden kann und daß vorzüglich den alten großen Meistern wie im Fach der Malerei und der Baukunst, so auch im Fach eigentlicher Kirchenmusik der Lorbeerkranz gebührt. Schon in den Werken der herrlichen Kirchencomponisten der alten deutschen und flamländischen Schule im 15. und 16. Jahrhundert offenbart sich eine Kraft und Größe des Gemüthes, verbunden mit der Kunst, die Stimmen geistvoll zu verflechten, daß die jetzige völlige Vernachlässigung dieser Werke nicht genug beklagt werden kann. Wenn man z. B. das fünfstimmige Stabat mater von Josquin (gest. 1521) mit dem unruhigen Stabat mater von Pergolese, oder die sieben Worte Christi von Senfl, Luthers Zeitgenossen, mit Joseph Haydns von dem einen in den anderen Stil schweifenden sieben Worten vergleicht: so kann keine Frage davon sein, auf welcher Seite sich die geistliche Kraft am meisten offenbart.“26 Angesichts solcher Einschätzungen stellt sich die Frage, warum die Komponisten dieses 18. Jahrhundert, den weitaus größten Teil seiner Musiksammlung ausmachen. Das Georg Friedrich Händel mit 53 Katalognummern, worunter sich teilweise ganze Oratorien, teilweise aber auch nur einzelne Arien verbergen, einsam an der Spitze steht, darf angesichts der allgemeinen Händelverehrung der Zeit nicht verwundern. Seltsamer ist da schon die Auswahl der Werke jenes Mozart, den auch Thibaut als Genie verehrte: das Requiem in zwei verschiedenen Ausgaben, einmal mit deutschem, einmal mit lateinischem Text;

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25 Verzeichnis der von dem verstorbenen Grossh. Badischen Prof. der Rechte und Geheimrathe Dr. Friedrich Justus Thibau zu Heidelberg hinterlassenen Musikaliensammlung, welche als ein Ganzes ungetrennt veräussert werden soll, Heidelberg 1842, Polley (Fn. 5), Bd. 3, S. 606–635. 26 Heuler (Fn. 1), S. 24 f.

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das unvermeidliche Ave verum corpus KV 618; sodann das Offertorium Misericordias Domini KV 222, komponiert in München 1775; das Graduale Sancta Maria, mater dei KV 273, komponiert in Salzburg 1777, schließlich die Kantate Heiliger, sieh gnädig hernieder, die auf dem Kyrie der Litaniae de venerabili altaris sacramento 125 basiert, in Salzburg 1772 komponiert und mit dem deutschen Text als Klavierauszug Anfang des 19. Jahrhunderts herausgegeben worden war, sowie der Chor Preis dir Gottheit, eine Umtextierung des Eingangschores aus der Schauspielmusik zu König Thamos KV 345 (336a) von 1779. Von Mozart findet sich unter Thibauts Musikalien keine einzige Messe, keine der Vespern, kein Oratorium. Joseph Haydn ist dagegen mit drei Oratorien – Die Schöpfung, Die Jahreszeiten und Die Worte unseres Erlösers am Kreuze – im Klavierauszug vertreten, Michael Haydn mit vierzehn Offertorien, acht weiteren geistlichen Texten und dem Requiem. Des Weiteren fällt auf, dass Thibaut ungeachtet seiner mehrfach geäußerten Forderung, die deutschen Musiker stärker als die italienischen in Betracht zu ziehen, doch seinerseits den Italienern weit mehr Beachtung geschenkt hat. Neben Händel, der für ihn ein Deutscher ist, findet sich noch Bach, aber keinerlei Telemann, Heinichen oder Graupner. Französische Komponisten sind, mit Ausnahme solcher aus dem 15. Jahrhundert, gar nicht vorhanden, dafür aber Italiener wie Benedetto Marcello, dessen Estro poetico-armonico mit 50 italienischsprachigen Psalmparaphrasen komplett in Übertragungen vorliegt, wie Francesco Durante, Antonio Caldara und Antonio Lotti. Überraschend ist auch die Auswahl der Werke. Denn nach allem, was aus Über die Reinheit der Tonkunst herausgelesen wurde, würde man primär kirchenmusikalische Werke in Thibauts Sammlung erwarten. Dies ist aber keineswegs der Fall. Wir finden Oratorien aller Arten – Wiener Sepolcri vom Anfang des 18. Jahrhunderts, nahezu alles, was Händel für London komponiert hat, Heiligengeschichten wie Johann Adolf Hasses S. Elena al Calvario auf einen Text des Librettisten Pietro Metastasio (1746), Louis Spohrs Die letzten Dinge (1826). Und wir finden zahlreiche weltliche Kompositionen – Madrigale, Duette, Kantaten, ja sogar Opern. Allein vier vollständige Opern Händels weist das Verzeichnis aus, dazu zahlreiche einzelne Arien, Duette und Chöre. Auch der zweite Teil des Verzeichnisses, die Sammelhandschriften, enthält nicht nur kirchliche oder geistliche Gesänge. Zwar werden sie angeführt von einer Handschrift mit dem Titel „Vier gregorianische Choräle à 4 v.“, dem Karl Thibaut den Kommentar beigab: „Diese alten Gesänge, welche hier nicht näher bezeichnet werden können, wurden von dem Besitzer über Alles hoch geschätzt“. Doch finden sich unter den zahlreichen Kirchengesängen unterschiedlichster Konfessionen und Sprachen auch Hefte mit italienischen Opernarien und Männerchören für die Liedertafel. Am überraschendsten ist schließlich der dritte Teil der Sammlung – eine umfangreiche Sammlung von Volkslied-Anthologien aus allen Teilen der Welt; neben Liedern aus allen Teilen Europas sammelte Thibaut auch außereuropäische Lieder, von einer Sammlung Hebräischer Original-Melodien mit untergelegten Gesängen von Lord Byron, über sechs Tyroler Jodler sowie einem 652

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Schweizerisches Echo mit Kuhreigen, mit Begleitung des Pianoforte und Klarinette, bis hin zu zahlreichen Sammlungen schottischer Lieder, teilweise in den Arrangements von Joseph Haydn und Ludwig van Beethoven. Russische und litauische, brasilianische und indische, spanische und neugriechische, irische und walisische, dänische und schwedische, italienische und sogar französische Volksweisen gehören zum Repertoire. Das Verzeichnis schließt mit einer ausführlichen Bemerkung zu dem wohl erstaunlichsten Stück aus der Thibautschen Musikaliensammlung, jenen „National-Gesängen“, die Thibaut so am Herzen lagen, dass er selbst eine Auswahl von 121 Liedern in einer dreibändigen Partitur zusammenstellte und die fremdländischen Texte ins Deutsche übersetzte. Das Interesse an Volksliedern mag von Des Knaben Wunderhorn und jenen häuslichen Musizierstunden ausgegangen sein, die Thibaut im Brief an Karl Ludwig von Knebel erwähnt hatte. Mit der systematischen Sammlung von „National-Gesängen“ gehörte Thibaut zu den ersten, die dem Volkslied auch musikalische Aufmerksamkeit schenkten. Nichts aber ist in dem Verzeichnis der Thibautschen Musiksammlung so überraschend wie das, was Karl Thibaut in den Vorbemerkungen so beschreibt: „Bei der großen Mehrzahl der Werke befinden sich (zum Zweck der Aufführung) ausgeschriebene Stimmen; wo dies der Fall ist, findet es sich jedes Mal [mit Angabe der Zahl derselben] am Ende der Nummer mit: /a. St./ angegeben.“27 Diese Angaben der ausgeschriebenen Stimmen erlauben Rückschlüsse darüber, welche der Stücke, die in Partitur vorhanden waren, tatsächlich auch aufgeführt wurden. Und vergleicht man diese Angaben mit jener „Chronologischen Zusammenstellung der im Thibaut’schen Singvereine vom Herbst 1825 bis Frühjahr 1833 gesungenen Musikstücke“, die Eduard Baumstark seiner Thibaut-Biographie im Anhang beigab, so ergibt sich hier ein durchaus kongruentes Bild, und auch eine Vorstellung davon, wie die Singabende abgelaufen sein mögen. Vier Stunden, von 5 bis 9 Uhr, dauerten die Zusammenkünfte, die man aus zwei Gründen nicht Proben nennen darf – zum einen, weil sie nicht zu einer Aufführung, sei sie öffentlich oder nicht, führen sollten, und zum anderen, weil es offensichtlich weniger darum ging, ein bestimmtes Stück so gut wie möglich einzustudieren, sondern eher darum, so viel wie möglich kennenzulernen. Die jeweilige Auswahl richtete sich wahrscheinlich auch nach der Anzahl der jeweils Anwesenden. Immer wieder gab es Abende, an denen lediglich „Nationallieder“ gesungen werden; dies waren möglicherweise Termine mit nur wenigen oder den weniger versierten Mitwirkenden. Daneben lassen aber auch höchst ambitionierte Programme darauf schließen, dass bei diesen Abenden nicht nur viele, sondern auch sichere Sänger anwesend waren, wie etwa am 7. Februar 1828: Dem Tenebrae factae sunt von Michael Haydn folgte ein Crucifixus von Gottfried Stölzel, einem Zeitgenossen Johann Sebastian Bachs, der 17. Psalm aus Benedetto Marcellos Estro poetico-armonico, Auszüge aus Johann Adolph Hasses Oratorien Elena al calvario und Die Pilgrime von Golgatha, eine Deutschen Arie Georg Friedrich Händels, der Chor „Non confundar“ aus Händels Utrechter

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27 Polley (Fn. 5), Bd. 3, S. 606.

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Te Deum, sowie ein „Kyrie“ von Alessandro Scarlatti. Hierbei handelte es sich um ein ausschließlich der Musik des 18. Jahrhunderts gewidmetes Programm. Zahlreiche Abende waren der weltlichen Musik gewidmet, wie etwa das Händel-Programm am 12.2.1829: „Mehreres aus Semele, Alexandersfest, Zeit u. Wahrheit, und Porus.“28 Und immer wieder finden sich Abende, an denen Thibaut Altes und Neues gegenüberstellt – eine Palestrina-Motette und Opernduette von Paisiello wie am 9.2.1831, oder, am 7.6.1827, der Chor „Würdig ist das Lamm“ aus Händels Messias und der entsprechende aus Die letzten Dinge von Louis Spohr zum Vergleich. Spohrs Oratorium war nur ein Jahr zuvor uraufgeführt worden, und bei Thibauts dezidierter Abneigung gegen moderne Musik im alten Stil lässt sich der Ausgang dieses Vergleichens ohne weiteres mutmaßen. ***** Die Frage nach der Interpretation der gesungenen Werke mag auf den ersten Blick müßig sein, weil vor der Erfindung der Tonaufzeichnung jegliche Überlieferungsmöglichkeit von klingender Musik zu fehlen scheint; einige Indizien lassen jedoch zumindest vage Rückschlüsse auf die praktische Umsetzung der Partituren zu. Dass Thibaut im Kapitel „Über das Instrumentieren“ in Über die Reinheit der Tonkunst heftig gegen Instrumentalmusik polemisierte, ist bekannt. Auch Händels Oratorien wurden nach seinem Verständnis erst dadurch geadelt, dass der Orchestersatz zum Klavierauszug reduziert wurde. Das Schriftbild der Abschriften und Einrichtungen verrät aber ebenso etwas über die Interpretation hinsichtlich des Tempos und der Artikulation wie seine Bemerkung in Über die Reinheit der Tonkunst, dass man „das Zeitmaß gehörig beobachtet, also nicht zu sehr eilt, aber auch nicht von dem herrschenden deutschen Vorurtheil ausgeht, daß man sich außer Athem zu singen habe, wenn ein Italiener ganze und halbe Noten setzt.“29 Um zu verstehen, was Thibaut mit der Bemerkung über die ganzen und halben Noten der Italiener meinte, ist ein neuerlicher Blick auf E.T.A. Hoffmanns Aufsatz über „Alte und neue Kirchenmusik“ hilfreich. Denn aus Hoffmanns Bemerkungen wird deutlich, dass er – und mit ihm wohl die meisten, die sich Gedanken über die Aufführung älterer Musik machten – Palestrinas Musik grundsätzlich anders las als sie gemeint war. In seinen Augen war Palestrina nicht der Meister einer kunstvoll ausgewogenen Kontrapunktik, als der er Generationen von Kompositionsschülern zum Vorbild gedient hatte, sondern der Schöpfer eines akkordischen Satzes von großer Eindrücklichkeit: „Ohne allen Schmuck, ohne melodischen Schwung, folgen meistens vollkommene, konsonierende Akkorde aufeinander, von deren Stärke und Kühnheit das Gemüt mit unnennbarer Gewalt ergriffen und zum Höchsten erhoben wird, Die Liebe, der Einklang alles Geistigen in der Natur, wie er dem Christen verheißen, spricht sich aus im Akkord, der daher auch erst im Christentum zum

__________ 28 Baumstark (Fn. 6), S. 170. 29 Heuler (Fn. 1), S. 26.

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Leben erwachte; und so wird der Akkord, die Harmonie, Bild und Ausdruck der Geistergemeinschaft, der Vereinigung mit dem Ewigen, dem Idealen, das über und thront und doch uns einschließt […] In Palestrinas Musik trifft jeder Akkord den Zuhörer mit der ganzen Gewalt, und die künstlichsten Modulationen werden nie so, wie eben jene kühnen, gewaltigen, wie blendende Strahlen hereinbrechenden Akkorde, auf das Gemüt zu wirken vermögen. Palestrina ist einfach, wahrhaft, kindlich fromm, stark und mächtig, echt christlich in seinen Werken wie in der Malerei Pietro von Cortona und unser Albrecht Dürer. Sein Komponieren war Religionsübung.“30 Wie konnte es zu einem solchen kompositionsgeschichtlich hanebüchenen Missverständnis kommen? Nach dem Verständnis der Zeit, in der auch Palestrina komponierte, waren Akkorde nicht Selbstzweck oder Ziel des Komponierens, sondern nichts anderes als das sekundäre Merkmal polyphoner, d. h. linearer Verflechtungen, sie waren flüchtige Zusammenklänge auf den verschlungenen melodischen Wegen der Einzelstimmen. Wie konnte Hoffmann Palestrinas Musik als eine Musik „ohne melodischen Schwung“ empfinden, die doch von den weitschwingenden melodischen Bögen der polyphonen Soggetti lebte? Zum einen lagen Hoffmann Kompositionen Palestrinas vor, die tatsächlich eher homorhythmisch konzipiert waren – Ausschnitte wie der Beginn einer Doxologie „Gloria patri et filio et spiritui sancto“, die dann polyphon fortgeführt worden wäre, oder schlichte, als Gebrauchsmusik konzipierte Responsorien der Karwoche, in denen jeder musikalische Schmuck ohnedies zu schweigen hatte, die überdies, wie sich Ende des 19. Jahrhunderts herausstellen sollte, nicht einmal von Palestrina, sondern von seinem Zeitgenossen Marc’ Antonio Ingegneri stammten.31 Zum anderen aber dürfte es sich um einen schlichten Lese- bzw. Übertragungsfehler gehandelt haben. Palestrinas Werke lagen in Mensuralnotation vor, deren häufigster Notenwert die Semibrevis war. Diese besaß eine vorgeschriebene Länge, den sogenannten „integer valor notarum“ (den „unveränderlichen Wert der Note“), der in der Musiktheorie des 16. Jahrhunderts mit dem Pulsschlag oder dem normalen Schritt gleichgesetzt wurde, also einem Metronomwert von ca. 60 entsprach. Der „integer valor notarum“ war eine deutlichere Tempovorgabe als jede Tempobezeichnung wie etwa die später entstandenen Begriffe „Allegro“ oder „Adagio“. Für jemanden, der mit den Regeln der Mensuralnotation nicht vertraut war, sah die Semibrevis – weiß und ohne Hals – freilich wie eine ganze Note aus. Derartige Noten aber sind in moderner Notation als „lange“ Noten codiert und suggerieren damit ein langsames Tempo. So entstand das Missverständnis, Palestrinas Werke müssten extrem langsam voranschreiten – „ohne melodischen Schwung“. Dass Thibaut derselben Überzeugung anhing, machen seine theoretischen Bemerkungen ebenso wie seine Notentexte deutlich. Die Akkorde, die E.T.A. Hoffmann als einfach, einfältig, kindlich, aber auch als stark und kühn apostro-

__________ 30 Hoffmann (Fn. 14), S. 216. 31 Vgl. hierzu Heidrich (Fn. 13), S. 12.

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phiert hatte, verstand Thibaut als „rein“. Anhand derselben Responsorien beschrieb er Palestrinas Kompositionsweise als „Satz im reinen Dreiklange“ und machte durch die Bemerkung „daß Ruhe und Seligkeit bei ihm vielleicht mehr als bei irgend einem andern Meister zu finden sind“,32 auch deutlich, dass ihm ein langsames Tempo vorschwebte. Seine Bemerkungen zielten allerdings mehr auf die Aufführung als auf die Stücke selbst. Während Hoffmann in diesen Responsorien den „wahrhaften, würdigen Ausdruck des von der inbrünstigsten Andacht entzündeten Gemüts“33 zu vernehmen meinte, nahm Thibaut sie gegen den möglichen Vorwurf der Langeweile in Schutz und schrieb der richtigen Interpretation die Aufgabe zu, die Musik zur Wirkung zu bringen: „Allein man vergegenwärtige sich nur zuvor, was Klagegesänge über Christi Leiden, in der Karnacht gesungen, sagen wollen; und dann mache man mit einer geschickten Aufführung den Versuch, so wird sich das Übrige schon ergeben.“34 Und in dem Kapitel „Über den Effect“ kommt er noch mehrfach auf die „reinen Dreiklänge“ zu sprechen, die, wie es sich für Kirchenmusik gehöre, der Leidenschaft gänzlich abhold seien: „Ich besitze aus der Bibliothek des Konservatoriums in Paris ‚20 Cantus populi in processione palmarum‘ von Lasso, ganz in jenem Styl gearbeitet, welche, mit Reinheit von einem durch Frömmigkeit begeisterten Chor gesungen, den tiefsten Eindruck machen müssen, eben weil sie in reinen Dreiklängen geschrieben sind, überall die feinste Beweglichkeit enthalten und doch ewig bei demselben Hauptgefühl verweilen.“35 Es ist auffällig, wie oft sich Thibaut bei der Beschreibung von konkreter Musik nicht auf die komplexen polyphonen Sätze des 16. Jahrhunderts, sondern auf eine homorhythmische, psalmodierende Mehrstimmigkeit bezieht, während in seinen allgemeinen Betrachtungen die Vokalpolyphonie das Maß aller Dinge ist. Wie E.T.A. Hoffmann missverstand auch Thibaut die Semibrevis der Palestrina-Zeit als ganze Note. Er missverstand darüber hinaus aber auch die Schreibweise des frühen 18. Jahrhunderts als Semibrevis der Palestrinazeit, wie sich anhand seiner Transkriptionen der Psalmen aus Benedetto Marcellos Estro poetico-armonico (1724) zeigt und hier an einem Beispiel erläutert werden soll. Der berühmte, auf einer alten hebräischen Weise fußende 9. Psalm Marcellos beginnt mit einer Schichtung von gehenden Viertelnoten im Bass, über denen die Melodie in ganzen und halben Noten voranschreitet.

__________ 32 33 34 35

Heuler (Fn. 1), S. 25. Hoffmann (Fn. 14), S. 216. Heuler (Fn. 1), S. 26. Heuler (Fn. 1), S. 67.

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Die Komposition ist im Alla-Breve-Takt notiert, d. h. rechnerisch doppelt so schnell wie der normale Takt gemeint, denn der „integer valor notarum“ bezieht sich hier auf die zwei Semibreven umfassende Brevis („Alla breve“). In der Transkription, die Thibaut anfertigen ließ, fehlt die Alla-breve-Anweisung, sie ist notengetreu übertragen, aber im normalen 4/4-Takt geschrieben. Das hieße, dass die Aufführungsgeschwindigkeit der Musik als halb so schnell verstanden wurde. Und wie zur Bestätigung dieser Vermutung ist die Partitur in 657

Silke Leopold

einer Breite geschrieben, die schon durch das Schriftbild extrem lange Noten suggeriert. Die vier Anfangstakte, die bei Marcello in eine Zeile passen, sind in der Transkription auf eine ganze Seite verteilt, und die Viertel des Basses sind so geschrieben, als würden sie und nicht die Brevis den Takt vorgeben.

Dieses Schriftbild beleuchtet ein aufführungspraktisches Problem: So schnell könnte niemand blättern, um das von Marcello intendierte Tempo, selbst unter seiner Tempovorzeichnung „Largo“, aus diesen Noten zu singen. Die Abschrift rechnet mit einem deutlich langsameren Tempo als das Original, was durch zahlreiche Bemerkungen Thibauts in Über die Reinheit der Tonkunst 658

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bestätigt wird. Eine davon lautet: „Das Ärgste ist aber, daß unter dem belobten Namen des Effektes das verderblichste Gift empfohlen wird, nämlich dieses krampfhafte, verzerrte, übertriebene, betäubende, rasende Unwesen, welches in dem Menschen alles Schlechte hervorwühlt, und am Ende den wahren musikalischen Sinn ganz zu töten droht.“36 Wir müssen uns die Interpretationen Thibauts als extrem langsame Realisationen des Notentextes und damit als eine Musik vorstellen, bei der „Ruhe und Erhabenheit“, wie Thibaut an anderer Stelle sagte,37 vor allem dadurch entstanden, dass jeder Zusammenklang gleichsam bis zum Stillstand ausgehalten wurde. Wie E.T.A. Hoffmann sich die praktische Umsetzung seiner Palestrina-Schwärmerei vorstellte, lässt sich an seinen eigenen Kompositionen im alten Stil studieren. Thibaut lehnte solche schöpferischen Auseinandersetzungen vehement ab und zog damit sogar den Zorn derer auf sich, die ihn eigentlich verehrten, darunter kein Geringerer als Robert Schumann, der sich 1829 in einem Brief an Friedrich Wieck beklagte: „Gegen Thibaut bildet sich eine Opposition, in der ich auch mit figurire; Sie glauben kaum, was ich bei ihm für herrliche, reine, edle Stunden verlebt habe und wie sehr seine Einseitigkeit und wahrhaft pedantische Ansicht über Musik bei dieser unendlichen Vielseitigkeit in der Jurisprudenz und bei diesem belebenden, entzündenden und zermalmenden Geiste schmerzt.“38 Dass Thibaut eine Generation nach seinem Tod zum Vater des Cäcilianismus erkoren wurde, der seine Aufgabe vornehmlich darin sah, eben solche moderne Kirchenmusik im alten Stil hervorzubringen, ist eine bittere Ironie der Geschichte. Thibaut selbst sah die Zukunft der Musik in der Restauration des Alten, und mit seinen mutigen Versuchen, diese Musik aufzuführen, wurde er viel eher zu einem Vater jener Alte-Musik-Bewegung, die die Musik der Vergangenheit, solche mit lange unterbrochener Aufführungstradition, nicht nur als Studienobjekt, sondern auch als klingenden Gegenstand gleichberechtigt neben die jeweils zeitgenössische Musik stellte, und die inzwischen zur Selbstverständlichkeit geworden ist. Dass dieser Blick nach hinten auch einen Blick nach vorn darstellte, dass der praktischen Beschäftigung mit scheinbar verklungener Musik nicht nur Museales, sondern auch Vitales innewohnte, hat niemand besser verstanden als Thibaut selbst: „Ich könnte im Geist nicht alt werden, wenn ein freundliches Schicksal mir den reinen Genuß einer veredelten Tonkunst lebenslänglich erhalten wollte.“39

__________ 36 37 38 39

Heuler (Fn. 1), S. 63. Heuler (Fn. 1), S. 46. Schumann (Fn. 20), S. 80 f. Heuler (Fn. 1), S. 115 und 120.

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De la « SARL européenne » à la « Societa Privata Europaea » : Étapes d’un long cheminement Histoire et souvenirs d’un making of

Prologue « Im Anfang war la SARL européenne » Nous sommes à la fin des années 60. Et, depuis prés de dix ans, le statut de société européenne a fait l’objet d’études approfondies, sans pour autant entraîner l’adhésion des dirigeants d’entreprise, bénéficiaires désignés du projet. C’est pourquoi la Chambre de commerce et d’industrie de Paris, soucieuse que le futur droit européen réponde aux vœux légitimes du monde économique, a demandé à son Centre de recherche sur le droit des affaires, le CREDA, créé et dirigé par Jeanne Boucourechliev, d’étudier les choix fondamentaux qu’impose un tel projet. L’étude débouchera sur la publication d’un ouvrage visionnaire « Pour une SARL européenne », paru en 1973 aux Presses Universitaires de France. Deux questions principales se posaient : la société européenne répond-elle à un besoin, et lequel ? Quelle forme de société et quel statut dictent la réponse à cette première question ? Une enquête auprès des entreprises révèle l’inadaptation du projet de la Commission européenne. Le juriste ne pouvait répondre à ces questions sans s’inspirer de l’enseignement des faits. Aussi l’étude a-t-elle mis en œuvre des techniques variées, dont, à cette époque, l’emploi dans les travaux juridiques n’était guère fréquent : enquête approfondie auprès d’un échantillon de 160 entreprises françaises représentatives, statistique des modalités juridiques des implantations communautaires dans les pays membres du « Marché commun », analyse des formes économiques et juridiques de la concentration en Europe et de son financement par l’appel public à l’épargne. Il est clairement ressorti de l’enquête réalisée par le CREDA que, si les entreprises maniaient, déjà à l’époque, avec aisance les formes sociales étrangères à l’occasion d’implantations dans le « Marché commun », beaucoup souhaitaient disposer d’une forme neutre comme cadre d’opérations communes avec des entreprises d’autres États membres. Mais les avantages attachés à la neutralité de la forme n’éclipsaient pas les préoccupations relatives au statut lui-même. Celles-ci apparaissaient même dominantes : les dirigeants d’entre-

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prise étaient avant tout soucieux de disposer d’une forme adaptée à de telles opérations. Or, si la Commission des Communautés européennes, abandonnant les objectifs très divers poursuivis par le projet Sanders, entendait bien faire de la société européenne l’instrument de l’intégration des entreprises du Marché commun, pour autant elle n’avait pas remis en question les choix effectués antérieurement dans une optique beaucoup plus vaste. On pouvait dés lors se demander si le projet de statut élaboré par la Commission répondait vraiment au but qu’elle s’était fixé. Des études économiques et financières indiquent l’intérêt d’une forme plus souple : SARL ? GmbH ? L’analyse des modalités économiques, juridiques et financières du rapprochement des entreprises en Europe, menée par une équipe dirigée par P.-A. Weber, a permis de confirmer et de compléter les conclusions de l’enquête. Qu’il s’agisse d’opérations nationales ou communautaires, leur forme juridique s’est révélée déterminée par le caractère progressif et souvent partiel du rapprochement, par l’organisation quasi générale des entreprises de quelque importance en groupe de sociétés et par la tendance au maintien des formes sociales existantes. Il en résultait que, très souvent, la fusion juridique et même la création de sociétés nouvelles étaient éludées. Sinon, indépendamment de toute contrainte juridique, surtout au stade de concentration où se plaçaient alors les rapprochements communautaires, l’intégration des entreprises s’effectuait de préférence sous des formes fragmentaires ou dissociées : création de holdings de direction ou de holdings intermédiaires, fusion de filiales préexistantes ou création de filiales communes. Dans tous ces cas, la société commune ne fait jamais appel public à l’épargne. Les analyses menées par le CREDA faisaient ainsi apparaître que le cadre du rapprochement et de la concentration des entreprises du Marché commun était donc la société fermée à risque limité. Les associés sont des sociétés, averties de leurs intérêts et de leurs droits, qui participent directement à la gestion ou du moins au contrôle de la société commune. Dés lors, un statut de société anonyme faisant appel public à l’épargne et comportant de ce fait la réglementation contraignante qu’impose la présence d’actionnaires dispersés, incompétents et passifs, non seulement n’apparaissait pas nécessaire, mais était absolument dissuasif. Les partenaires, révélait l’étude, veulent disposer d’un cadre sûr (le GIE paraissait à cet égard insuffisant) mais souple, permettant d’établir entre les intérêts en présence un équilibre qui tienne compte des caractéristiques de chaque opération. Une société européenne destinée à faciliter le rapprochement des entreprises doit donc, estimait le CREDA, être dotée d’un statut beaucoup plus léger, beaucoup moins institutionnel que celui qu’avait élaboré la Commission ; un statut exempt de contraintes sans objet et qui fasse une large place à la liberté des conventions. Les associés doivent être maîtres de déterminer 662

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leurs obligations et leurs droits respectifs, éventuellement sur des bases différentes, libres de définir les organes de la société et leurs pouvoirs. SARL ? GmbH ? Les droits nationaux des sociétés ne proposent alors que des modèles imparfaits. L’ouvrage du CREDA tente de préciser en conclusion les traits principaux d’un statut de société européenne spécifiquement conçu pour répondre aux besoins des entreprises. S’il n’était pas, aux yeux de ses concepteurs, exclusif d’une société anonyme européenne, un tel statut apparaissait clairement comme l’instrument nécessaire et adapté de la concentration des entreprises dont celle-ci serait plutôt le point d’aboutissement possible. Telles étaient les réflexions auxquelles aboutissaient, il y a presque quarante ans, cette toute première étude réalisée par le CREDA qui doit tant à la clairvoyance de Jeanne Boucourechliev. Quel accueil sera réservé à cette étude ? Dès le 23 mars 1973, la Chambre de commerce et d’industrie de Paris organise une conférence-débat destinée à présenter aux milieux économiques et au monde universitaire les conclusions de l’ouvrage du CREDA. Les débats sont présidés par Robert Lecourt, qui préside alors la Cour de justice des Communautés européennes. En ouverture de cette réunion le Président Lecourt soulignera l’importance du problème de la société européenne (SE) dans l’ensemble du droit communautaire dont l’édification est en cours. « Cette intégration qui provient du droit, se passe dans la profondeur des choses, sans éclat… Mais, ce qui fait la Communauté, indépendamment de son application sur le plan économique, c’est essentiellement le fait que 250 millions de ressortissants sont tributaires d’une règle commune qui transcende les frontières communes des États »,1 déclarera le Président Lecourt, avant de marquer la supériorité d’un droit communautaire sur une simple coopération, une simple harmonisation des législations nationales. Deux éminents juristes de renom international, de longue date étroitement associés à l’élaboration du droit européen, apporteront leur concours à cette conférence. Le Professeur Pieter Sanders, auteur d’un projet de société européenne élaboré en 1966 qui porte son nom, souligne que l’étude du CREDA propose de créer, à côté de la forme de société définie par le projet de la Commission, une nouvelle forme de SE : une « SARL européenne ». L’idée lui semble logique et saine. Pourtant, précise-t-il, on n’ajoute pas une forme de société aux formes déjà existantes pour le plaisir des juristes : seules des raisons économiques pertinentes peuvent justifier une telle opération. Et c’est donc à juste titre, estime-t-il, que le CREDA a procédé à une importante analyse économique qui l’a amené à ces conclusions. Le Professeur Sanders marque son adhésion à

__________ 1 « Un débat sur la société européenne – Présentation de l’ouvrage du CREDA : Pour une société fermée européenne », Bulletin de la CCIP, avril 1973, p. 1.

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la manière dont l’étude pose la problématique de la distinction entre la SE (qui est une société anonyme) et la SARL européenne, particulièrement par un plafond imposé au montant du capital social de celle-ci et par une plus grande liberté contractuelle à son bénéfice, lui donnant un caractère plus personnel. Parallèlement, estime le Professeur Sanders, il serait utile de poursuivre les recherches en vue de la création d’une véritable SARL européenne, sur les bases d’études comparatives (on sait que ce vœu sera exaucé une vingtaine d’années plus tard…). Une telle société serait un instrument important de coopération et de concentration internationale des entreprises, à côté de la société anonyme européenne, du GIE européen et du projet de convention sur les fusions internationales. Et, dans cette perspective, conclut le Professeur Sanders, « ce livre dont on parlera encore longtemps apporte une contribution remarquable au droit des sociétés… La Chambre de commerce et d’industrie de Paris et le CREDA ont ainsi acquis un grand « crédit » auprès de tous les juristes d’Europe ».2 De son côté, le Professeur Michel Vasseur observe que chacun a considéré comme allant de soi que la SE serait une grande société anonyme faisant appel public à l’épargne. Or, l’enquête approfondie à laquelle a procédé le CREDA et l’étude systématique des modalités et du financement de la concentration en Europe ont apporté des réponses auxquelles on ne s’attendait pas. Certes, elles ont confirmé le besoin d’une société européenne. En revanche, ces études ont apporté la démonstration que la SE, dont le besoin est ressenti, ne doit pas avoir un statut de plusieurs centaines d’articles accumulant les règles les plus strictes des différents droits nationaux, qu’elle ne doit même pas être une grande société faisant appel public à l’épargne. On aura beau dire, poursuit le Professeur Vasseur, qu’une société anonyme européenne serait à tous usages, il est évident que le statut d’une société n’ayant pas la possibilité de faire appel public à l’épargne peut être infiniment moins rigide, moins lourd. Il convient de ménager à une telle société la possibilité de se constituer et de vivre dans sa liberté, une liberté d’autant plus grande que les associés seront de véritables partenaires, peu nombreux, susceptibles de participer eux-mêmes à la gestion de la société commune. « Le livre du CREDA, déclare en conclusion le Professeur Vasseur, convie les juristes à un retour au réel. Comme tel il constitue peut-être la nouvelle chance de la société européenne, il lui donne une nouvelle jeunesse. L’idée du GIE européen, quel que soit son intérêt, ne peut en effet servir de substitut à un statut de SE… Il faut souhaiter que ce livre soit médité en haut lieu. Il faut espérer que les idées qu’il émet auront le retentissement qu’elles méritent ».3 À la suite de ces deux interventions, un débat d’une grande richesse, dont il n’est pas possible de rendre compte ici, s’engage entre les représentants des différents milieux réunis à l’occasion de cette manifestation. Membres du

__________ 2 Op. cit., p. 2. 3 Op. cit., p. 3.

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Barreau, juristes d’entreprise, parlementaires, magistrats ou universitaires, tous soulignent l’importance des propositions novatrices du CREDA en faveur d’une forme légère et souple de société européenne et encouragent à la poursuite et à l’approfondissement de ces réflexions. Cette étude donnera lieu à un grand nombre d’articles dans la presse générale et économique, comme dans les revues juridiques françaises et étrangères. S’en fera notamment l’écho le « Zeitschrift für das gesamte Handelsrecht und Wirtschaftsrecht ».4 Une enquête menée en Europe prolonge l’étude du CREDA L’intérêt suscité par l’étude « Pour une SARL européenne » conduit le CREDA à lancer, en 1975, sous l’égide de la Conférence permanente des Chambres de commerce et d’industrie de la Communauté européenne (qui deviendra plus tard « Eurochambres ») une enquête approfondie en prolongement de celle précédemment réalisée en France. Effectuée auprès d’un grand nombre d’entreprises de cinq autres États membres de la CEE (Allemagne, Grande-Bretagne, Italie, Luxembourg, Pays-Bas), l’enquête fait apparaître nettement que, si l’ensemble des entreprises reconnaît l’intérêt du projet de SE de la Commission, celui-ci ne leur semble pas susceptible de répondre à l’ensemble de leurs besoins. Pour répondre à ceux de ces besoins qu’elles considèrent comme essentiels, les entreprises désirent disposer d’une forme de société maniable et flexible, susceptible de s’adapter à la diversité des modalités de rapprochement, susceptible aussi d’être utilisé par les petites et moyennes entreprises.5

Acte I « Vingt ans après » : vers la société fermée européenne (SFE) Une heureuse rencontre… Les années passent… Les décennies passent… La « SARL européenne » a remporté un grand succès d’estime auprès des milieux intéressés. La doctrine universitaire lui a consacré de nombreux commentaires élogieux. Mais sur le terrain de la doctrine communautaire rien ne bouge vraiment. Un colloque organisé en 1988, à l’occasion du 20ème anniversaire du CREDA, offrira l’occasion de nourrir le débat « SARL européenne versus SE ? » et permettra à Karl Gleichmann, Chef de division à la Commission européenne, en charge du droit des sociétés, de réaffirmer le « credo » de la Commission (« J’estime que le choix fait par la Commission en faveur de la société par actions était le bon. En effet, cette structure, contrairement à celle de la SARL, est connue dans

__________ 4 Décembre 1973, p. 440. 5 « L’opinion des entreprises sur le projet de société européenne », Études et Documents de la CCIP, 1975-3, 105 pages.

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tous les États membres et repose sur un droit d’une grande homogénéité… ».6 La Commission européenne continue, telle Pénélope, de tisser et parfois de détisser sa toile, en d’autres termes de peaufiner son projet de SE, non sans l’alléger au fil des années (la proposition de règlement passera de 284 articles dans le projet de 1970, à 139 en 1991 et à 68 en 1993, ces suppressions correspondant à autant de renvois aux droits nationaux…). La SE fait de plus en plus figure de « serpent de mer » dont même les spécialistes commencent à se lasser. « Tout n’a-t-il pas été dit, déjà, sur ce sujet, ressassé depuis trente ans ? ».7 Mais un événement, au départ modeste et dont nul ne peut mesurer toute la portée qu’il aura par la suite, survient quelque vingt ans après la publication de « Pour une SARL européenne ». Un éminent spécialiste allemand du droit des sociétés, enseignant à la Faculté de droit de la prestigieuse Université de Heidelberg se met en rapport avec les responsables du CREDA de l’époque : le Professeur Alain Sayag, Directeur scientifique et Aristide Lévi, Secrétaire général (Madame Jeanne Boucourechliev avait quitté le CREDA en 1977 pour une brillante carrière dans le monde de l’entreprise). Le Professeur Peter Hommelhoff (on aura peut-être deviné qu’il s’agissait de lui…) nous fait l’honneur d’une visite à la Chambre du commerce et d’industrie de Paris. Au cours d’un échange de vues très cordial il indique qu’il s’est intéressé depuis des années à une forme juridique adaptée aux besoins des petites et moyennes entreprises et à l’émergence d’une telle problématique au niveau européen. Ayant eu connaissance de l’étude du CREDA, il a été frappé par la convergence des réflexions menées de part et d’autre, alors que, depuis plus de vingt-cinq ans, les travaux de la Commission européenne comme ceux de la doctrine portent essentiellement sur la société anonyme. Tout cela incite le Professeur Hommelhoff à nous proposer son concours pour la diffusion en Allemagne des réflexions du CREDA en nous offrant de se charger d’une traduction dans la langue de Goethe de l’ouvrage publié en 1973. Nous exprimons toute notre reconnaissance au Professeur Hommelhoff pour sa très flatteuse proposition qui honore le CREDA, mais en lui suggérant très spontanément que, compte tenu des profonds changements qu’ont connu en Europe, en l’espace de vingt ans, aussi bien l’environnement économique que le « paysage juridique » (au niveau national comme au plan communautaire, avec tout le chapelet de directives en droit des sociétés…), nous pourrions plutôt réaliser ensemble une nouvelle étude qui en quelque sorte « revisiterait » ce thème de la société fermée européenne. Et cette étude, nous semblait-il, devrait ne pas se limiter à une réflexion franco-allemande mais être élargie aux regards croisés de spécialistes issus d’États membres de l’Union européenne représentatifs

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6 « CREDA 1968/1988, Vingt ans de recherches pluridisciplinaires… À propos des structures juridiques de l’entreprise », Colloque sous le haut patronage de Pierre Arpaillange, Garde des Sceaux, Ministre de la Justice, Cahiers de droit de l’entreprise, 1/1990, p. 8. Ces actes sont consultables sur le site internet du CREDA : http:// www.creda.ccip.fr/colloques/1988-vingt-ans-recherche-actes.html. 7 J. Boucourechliev, Une société de droit européen ?, Presses de Sciences Po/CREDA, Coll. La bibliothèque du décideur, 1999, 4e page de couverture.

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d’autres grandes traditions du droit des sociétés : le Royaume-Uni, pour sa longue et prestigieuse tradition libérale et les Pays-Bas, pour leur souci de synthèse et de pragmatisme. Le « marché » est conclu avec le Professeur Hommelhoff avec enthousiasme et dans la conviction que nous allons ainsi faire œuvre utile. Une petite équipe est constituée… Peter Hommelhoff suggère de faire appel au Professeur Levinus Timmerman, Doyen de la Faculté de droit de l’Université de Groningue, pour son expertise en droit des sociétés. Une visite, rue de Vaugirard, chez mon maître le Professeur André Tunc, comparatiste internationalement reconnu et grand spécialiste du droit anglais, apporte l’heureuse idée de solliciter le concours de deux brillants Senior Lecturers de l’Université d’Exeter, très avertis de la construction du droit communautaire des sociétés : Andrew Hicks et Robert Drury. Pour la partition française de ce quatuor européen, un nom s’impose d’évidence : celui de Jeanne Boucourechliev. Bien qu’elle ait quitté la Chambre de commerce et d’industrie de Paris et son Centre de recherche sur le droit des affaires depuis de nombreuses années, des relations suivies de fidèle amitié la lient toujours à l’équipe du CREDA, dont elle suit les travaux avec grande attention. Elle est alors à la retraite, et l’auteur de ces lignes lui propose de revenir « reprendre le combat pro SARL européenne ». Ce qu’elle accepte sans hésitation. Très vite, l’équipe en charge de la nouvelle étude se constitue. Pour compléter le quatuor précédemment cité (le Professeur Hommelhoff bénéficiant pour sa part du concours de son excellent assistant à l’époque, Dietmar Helms), l’intérêt apparait de solliciter la collaboration de Madame le Professeur Sabine Urban et de son équipe du Centre d’étude des sciences appliquées à la gestion (CESAG) de l’Université Robert Schuman de Strasbourg, composée de Ulrike Mayrhofer et de Philippe Nanopoulos. À ces spécialistes des sciences de gestion il reviendra de réaliser une analyse très fine de plusieurs milliers de rapprochements d’entreprises en Europe sur la période 1989–1995. En outre, le Professeur Yves Guyon acceptera de se charger d’approfondir la problématique générale de la société fermée en tentant d’en définir les différentes caractéristiques. Enfin, Nathalie Huet, chargée d’études et de recherche au CREDA, se verra confier l’indispensable état des lieux comparatiste consistant à réaliser un tableau synoptique très précis du régime juridique des sociétés fermées dans les 15 États alors membres de l’Union européenne. Une petite équipe au travail L’équipe ainsi composée, les réunions de travail se succèdent à un rythme soutenu, après que la démarche et la méthode retenues pour l’analyse aient été mises en place. Des convergences de vues apparaissent assez vite. Un fort 667

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« affectio societatis » se manifeste entre les membres de cette petite équipe (une société fermée ?) qui partagent tous, outre leur incontestable compétence dans leurs disciplines respectives, la même foi en la construction de l’Europe par le droit. Comme on le dit en France, « la mayonnaise prend » ! D’autant plus que de véritables amitiés se nouent à la faveur de ce travail collectif. En dépit de nettes divergences de vues avec la Commission européenne sur l’objet et la nature du statut de société européenne à offrir aux entreprises en Europe, le CREDA, soutenant pour sa part que le projet qu’il défend n’a pas vocation à se substituer à la SE mais à cohabiter avec elle en répondant à d’autres besoins, entretient des relations suivies et très cordiales avec les responsables de la Commission en charge du projet de SE et tout particulièrement avec Madame Françoise Blanquet, chef d’unité à la DG Marché intérieur. C’est elle qui, durant de longues années, portera ce projet avec toute la constance et l’attachement d’une mère. Françoise Blanquet est ainsi régulièrement informée de l’avancement et des orientations des travaux menés sous l’égide du CREDA. Bien qu’on puisse dire qu’elle ne jure que par la SE, et qu’elle affiche, à l’égard de la société fermée européenne, une grande réserve pour ne pas dire une position critique, restant fidèle en cela au dogmatisme traditionnel de la Commission (la SE et rien que la SE ! Car la SE doit être un « outil universel »), Madame Blanquet manifeste, en privé, une certaine curiosité pour ne pas dire un certain intérêt pour ce projet à ses yeux concurrent de celui qu’elle défend. Illustration de ce « certain intérêt », sollicitée par l’auteur de ces lignes d’aider par une subvention le financement de la publication à venir, Françoise Blanquet proposera à la place de cette subvention, semble-t-il difficile à obtenir, que la Commission prenne directement en charge la publication en accueillant l’ouvrage dans la collection de l’Office des publications officielles des Communautés européennes. Ce qui sera fait pour la plus grande gloire des « Propositions pour une société fermée européenne », qui bénéficieront d’un privilège rarement – ou peut-être jamais – accordé à des études ou rapports qui n’émanent pas des services de la Commission ou qui ne sont pas commandés par ces services. De plus, ce privilège assurera à l’ouvrage une ample diffusion dans l’ensemble de l’Union européenne, et même au-delà, qu’aucun éditeur juridique privé n’aurait pu offrir. Il faut donc rendre grâce à Madame Blanquet. La Commission européenne publie des « Propositions pour une société fermée européenne » ! C’est ainsi qu’à l’automne 1997, alors qu’elles ont été amorcées seulement trois ans auparavant, les réflexions très fécondes menées sous la houlette de Jeanne Boucourechliev, sont publiées, revêtues du sceau de la Commission européenne, sous le titre de « Propositions pour une société fermée européenne ». Ce deuxième ouvrage fondateur – que chacun peut acquérir partout en Europe pour la modique somme de 8 ECU…–, il n’est pas inutile d’en rappeler l’objet et le contenu, tels qu’ils furent présentés de façon synthétique lors de sa parution :

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« Alors que le règlement n’a toujours pas abouti et que le régime de droit commun des sociétés dans l’Union présente des lacunes importantes (impossibilité de transfert du siège social d’un État membre à un autre, de fusions transfrontalières), le CREDA participe à nouveau, avec cette nouvelle étude, au débat sur l’opportunité d’instaurer une société européenne, sur les objectifs d’une telle structure au regard de la construction du Marché unique, et surtout soulève le problème, peu débattu jusqu’alors, de la forme de société à promouvoir. Une société de type fermé ? Dans une première partie présentant les diverses données de la réflexion, l’ouvrage rend d’abord compte d’une investigation économique, menée par le Centre d’étude des sciences appliquées à la gestion, qui cerne, sur un ensemble de plusieurs milliers d’accords interentreprises, l’ampleur et les caractéristiques des rapprochements entre sociétés d’États membres différents, en l’absence de tout instrument juridique d’intégration. L’étude s’attache, en second lieu, à dégager, par delà les particularismes nationaux, les traits généraux de la société fermée : société ne faisant pas publiquement appel à l’épargne, dont l’acquisition des parts de capital est soumise à des mécanismes d’agrément, et dont l’organisation est largement déterminée par les statuts. Ensuite, l’ouvrage dresse le cadre de droit européen dans lequel le débat s’inscrit, ses acquis, ses lacunes, la place plus que modeste qui y a été faite jusqu’alors à la société fermée. Cette présentation est l’occasion d’un examen du rôle respectif des différentes techniques législatives prévues par le traité de Rome – convention, directive, règlement – et de leur adéquation au sujet en débat. Une seconde partie constituée de quatre monographies successives, dues à des spécialistes allemands, britanniques, français et néerlandais, ouvre le champ des propositions : à partir d’une présentation de leur droit national, qui permet de saisir les options, les particularismes et les leçons de chaque système, les auteurs ont développé indépendamment les uns des autres leurs réflexions et suggestions sur ce que pourrait être, à la lumière de leur expérience nationale, un projet de statut européen de société fermée. Dégageant les nombreux points de convergence, une synthèse en guise de conclusion tour à tour esquisse le statut possible d’une société fermée européenne, instrument souple et de large diffusion à la disposition tant des PME que des filiales communes ou holdings des grandes entreprises, recherche quelles règles doivent s’imposer à elle, et s’interroge sur le règlement qui lui donnerait naissance et sur son articulation avec les droits nationaux. L’ouvrage est complété par un tableau synoptique présentant le régime juridique de la société fermée dans les quinze États membres de l’Union. »

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Peu après, une traduction en allemand de cet ouvrage sera publiée grâce à une très opportune initiative du Professeur Hommelhoff et au précieux concours de Dietmar Helms.8 Un colloque international présente à Paris « De nouvelles perspectives pour la société européenne : vers une société fermée européenne ? » Dés le 4 décembre 1997, le CREDA organise, à la Chambre du commerce et d’industrie de Paris, un colloque réunissant les partenariats de l’Association européenne des juristes d’entreprises, de l’Association française des juristes d’entreprises et de l’Ordre des avocats à la Cour de Paris. Destiné à présenter et à soumettre au débat les « Propositions pour une société fermée européenne » à un large auditoire de spécialistes de divers horizons, ce colloque sera couronné de succès. Venus de 12 pays de l’Union européenne, qui compte alors 15 États membres, environ 300 spécialistes (dont plusieurs représentants des administrations nationales concernées) participeront à cette rencontre, au cours de laquelle M. Mario Monti, Commissaire européen en charge du Marché intérieur, exposera les axes prioritaires de la politique de la Commission sur le droit communautaire des sociétés. Conformément à la position traditionnelle de la Commission, Mario Monti indiquera que « Pour pouvoir se prononcer sur l’utilité d’un statut de société fermée européenne, par rapport au statut de société européenne qui pourrait être prochainement une réalité, il faudrait établir sur quels points le statut de société européenne ne conviendrait pas aux sociétés fermées, voire sur quels points il pourrait être simplifié pour les sociétés fermées. Dans l’attente d’une telle démonstration, il me semble qu’il vaudrait mieux utiliser le statut de société européenne tel quel, dès qu’il sera adopté, et voir à l’usage si les sociétés fermées ont réellement besoin d’un statut „ad hoc“ ».9 Sans aucune surprise, cette déclaration reflétait donc très fidèlement la ligne officielle exposée invariablement par la Commission, que l’on a rappelée précédemment. En revanche, les propositions novatrices émanant de l’équipe du CREDA seront accueillies très favorablement par les nombreux intervenants européens représentant les divers horizons du monde de la pratique et de l’Université qui se succèderont à la tribune au cours de cette journée particulièrement dense. Juristes d’entreprise, responsables d’organisations patronales, avocats internationaux, magistrats, hauts fonctionnaires et universitaires (parmi lesquels, pour l’Allemagne, Jürgen Hahn s’exprimant au nom du DIHT et le Professeur Klaus Hopt, Directeur du Max Planck Institut de Hambourg) salueront cette

__________ 8 Boucourechliev/Hommelhoff (Hrsg.), Vorschläge für eine Europäische Privatgesellschaft, 1999. 9 Cf. « De nouvelles perspectives pour la société européenne : vers une société fermée européenne ? », Gazette européenne, sous la direction de Marco Darmon, nos 266/267, 23/24 septembre 1998, p. 20 ; ces actes sont consultables sur le site internet du CREDA, http://www.creda.ccip.fr/colloques/1997-societe-europeenne-actes.html.

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initiative à divers égards prometteuse, tout en évoquant les questions importantes qu’il faudra régler lorsque viendra le moment de construire le régime juridique de la SFE. On relèvera plus particulièrement les propos prononcés à la tribune de ce colloque par un praticien éminent dont on va voir le rôle essentiel qu’il tiendra par la suite dans cette saga de la société fermée européenne : « Je voudrais commencer par dire toute la satisfaction que j’ai eue à la lecture des travaux du CREDA, et en particulier de ceux de Madame Boucourechliev, sur la société fermée européenne. Une très grande satisfaction parce que j’y ai lu ce que les entreprises attendaient depuis longtemps, c’est-à-dire la confirmation de la percée conceptuelle de la primauté de la liberté statutaire en matière de droit des sociétés. Il faut continuer sur ce chemin là ! Et mon message à cet égard s’adresse non seulement aux responsables du CREDA mais encore, et peut-être surtout pour ce qui concerne le droit français, à Monsieur Douvreleur [Sous-directeur du droit commercial au Ministère français de la Justice] puisque la liberté statutaire n’a été que partiellement consacrée en France au travers de la SAS et que beaucoup reste à faire. Nous comptons tous sur lui pour parachever ce travail. » Ces propos émanent de Monsieur Bernard Field, Secrétaire général de SaintGobain, et à l’époque tout récent Président de la Commission juridique du Conseil national du patronat français (CNPF, qui deviendra peu après le MEDEF : Mouvement des entreprises de France). Précision importante, Monsieur Field est le père de la SAS (Société par actions simplifiée). Cette manifestation s’achèvera par une conclusion brillante et prémonitoire du Professeur Yves Chaput, devenu un an auparavant le nouveau directeur scientifique du CREDA, après la disparition prématurée du regretté Alain Sayag : « Dès lors, abandonnant technicité et jargon, me permettra-t-on de conclure par une référence à une autre coutume, à la sagesse des nations, pour dire ma confiance en la création de la société européenne, en présence de deux remarquables juristes à qui ces journées et ces réflexions doivent tant : Madame Françoise Blanquet et Madame Jeanne Boucourechliev. Ce que femme veut… ! » De nombreux articles se font l’écho de ce colloque, contribuant ainsi à diffuser largement les « Propositions pour une société fermée ». Des lettres d’encouragement et d’offre de soutien parviennent au CREDA. Citons particulièrement celle de Henri Malosse, qui, par la suite, dans le cadre de ses fonctions au Comité économique et social européen, apportera sans relâche et avec une grande efficacité un concours décisif à l’aboutissement de ces Propositions. C’est alors que, peu après le colloque, le père de la SAS (dont il n’avait pas échappé à l’organisateur de cette manifestation qu’il serait à ce titre sans doute intéressé par la SFE et pourrait se révéler d’un précieux soutien pour la suite des opérations…) initie une démarche officielle du CNPF auprès du Président de la Chambre de commerce et d’industrie de Paris. En substance, il rappelle tout l’intérêt que peut présenter ce concept de SFE pour les entreprises et propose qu’un groupe de travail réunissant des experts de la CCIP et du CNPF 671

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élabore sur les bases de l’étude du CREDA un projet de règlement relatif à un statut de société fermée européenne.

Acte II Vers la SPE Un projet de règlement réalisé en un temps record… La proposition de Bernard Field est acceptée sans aucune réserve par la CCIP. Le groupe de travail se constitue tout naturellement sous la double présidence de Jeanne Boucourechliev et de Bernard Field. Les corapporteurs seront Anne Outin-Adam, Directeur adjoint à la CCIP, chargé des départements juridiques, Joëlle Simon, Directeur des affaires juridiques du CNPF, qui, l’une et l’autre, joueront par la suite un rôle de premier plan dans la promotion de ce projet, et Aristide Lévi, Directeur adjoint à la CCIP, chargé du Secrétariat général du CREDA. Composeront le groupe de travail : Robert Drury ; Guillaume de Géry, Juriste à la Direction des Études de la CCIP ; Dietmar Helms ; le Professeur Peter Hommelhoff ; Nathalie Huet et Charles Latham, Directeur de la représentation à Bruxelles de la Confederation of British Industries (CBI). Les réunions se suivent à un rythme très soutenu, alternant entre le siège de la Chambre de commerce, celui du CNPF et parfois le domicile de Jeanne Boucourechliev. Formé d’une équipe d’experts peu nombreux et, on le sait, particulièrement avertis du thème qui les réunit, le groupe de travail fonctionnera avec grande efficacité. Et, en un temps record, sera réalisé et publié en trois versions (française, anglaise et allemande) un « Projet de règlement relatif au statut de la société privée européenne : une société de partenaires» (« Draft for a regulation relating to the rules governing the European Private Company: a Close Company » ; « Verordnungsvorentwurf zum Statut der Europäischen Privatgesellschaft : eine Geschlossene Gesellschaft »). La société fermée européenne sera donc devenue une société privée européenne, « fermée » et « privée » étant rigoureusement synonymes dans l’esprit des membres du groupe de travail. Ce choix, inspiré par la terminologie du droit anglais des sociétés (Private Company), a paru opportun en ce qu’il gommait la connotation négative que pourrait revêtir l’adjectif « fermé » aux yeux des non-initiés. Simple question de marketing… Ouvert par une « présentation générale » et un « exposé des motifs », le projet de règlement comporte, on peut le rappeler, seulement 38 articles, chacun accompagné d’un bref commentaire. On n’en présentera pas ici le contenu, tant ce projet a été reproduit et abondamment commenté.10

__________ 10 On peut le consulter sur internet http://www.etudes.ccip.fr/page/17-spe-le-projet-desociete-privee-europeenne-reglement-et-commentaires.

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Le jour même de la publication du projet, le 17 septembre 1998, se tiendra une conférence de presse, conjointement organisée par la CCIP et le CNPF, lors de laquelle Michel Franck, Président de la CCIP, et Denis Kessler, Vice-Président du CNPF présenteront à grands traits cette nouvelle structure dont le but est d’« offrir aux entreprises qui veulent se développer sur le Marché de l’Union (et notamment aux PME) une forme juridique pan-européenne simple, efficace et répondant à leurs besoins propres ».11 Cette présentation est suivie de dépêches d’agences de presse et de nombreux articles dans la presse quotidienne (notamment, Le Figaro, Les Échos, La Tribune, etc.) ou dans les hebdomadaires et les revues spécialisées. Par sa simplicité et son pragmatisme, le projet suscite l’intérêt. « Le CNPF et la CCIP viennent de donner un coup de jeune à un projet vieux de trente ans : la constitution d’une société européenne de droit privé. Serpent de mer de la construction européenne, ce projet n’a en effet jamais abouti, alors même que de nombreux groupes l’appellent de leurs vœux », écrira Option Finance (21 septembre 1998). « Il faut souligner l’importance considérable de ce projet : préparé par des experts de la plus haute qualité, inspiré d’un désir de souplesse joint au souci d’éviter tout abus, il semble offrir au monde des affaires un instrument de travail susceptible de rendre de grands services et, au surplus, de renforcer la cohésion européenne »,12 observera de son côté le Professeur André Tunc. À ce stade, il ne restait donc plus qu’à convaincre les autres États membres … et la Commission européenne.

Acte III Une croisade européenne « Pro SPE » Les organisations patronales et les chambres de commerce européennes se mobilisent Un important travail de lobbying était à faire. Et dans cette action de longue haleine, le double soutien apporté très vite par l’UNICE (l’organisme réunissant les organisations patronales européennes, et qui prendra plus tard le nom de « Business Europe ») et Eurochambres (l’institution fédérant les chambres de commerce et d’industrie en Europe) se révèlera extrêmement précieux pour lancer cette « croisade ». Le CREDA et les auteurs du projet SPE ne ménageront pas leurs efforts pour prêcher la bonne parole aux quatre coins de l’Europe. Sans relâche, ils multiplieront pendant une dizaine d’années les colloques en s’appuyant sur le partenariat des organisations patronales, des chambres de commerce, des barreaux, des administrations nationales, voire des ministères, ainsi que des universités ; les séminaires réunissant des experts ; les entretiens directs avec des décideurs

__________ 11 Document non publié, diffusé lors de la conférence de presse. 12 Revue internationale de droit comparé, 1999, n° 3, p. 680.

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nationaux de haut niveau et des responsables de la Commission européenne ; sans parler des abondants articles publiés dans diverses langues. Faute de pouvoir aborder toutes les manifestations ou rencontres ainsi organisées, ce qui serait sans doute fastidieux, on se limitera ici à en évoquer quelques unes, dont certaines ont pu constituer des étapes décisives dans notre « campagne de promotion ». Première étape, dès avril 1998, UNICE et Eurochambres marqueront tout leur soutien au projet SPE en organisant à Bruxelles, au siège du Comité économique et social européen, avec le concours de la CCIP et du Mouvement des entreprises de France (MEDEF, nouvelle appellation du CNPF), un séminaire d’une après-midi. Destiné à attester, par la présence de personnalités et d’intervenants issus de milieux professionnels et d’États membres variés, de l’adhésion – d’ores et déjà étendue – à ce projet, ce séminaire réunissant des délégués permanents d’entreprises ou de fédérations professionnelles à Bruxelles, des avocats, des fonctionnaires européens et des universitaires, donnera lieu à une intervention remarquée du Commissaire Mario Monti : « Je considère que la société privée européenne peut représenter une solution à mettre au point, non pas (…) à la place de la SE jugée trop peu adaptée aux besoins des entreprises, mais à côté de la SE, afin de donner à toutes les entreprises de l’Union et pas seulement aux sociétés anonymes, les outils dont elles ont besoin pour évoluer dans l’Union économique et monétaire ».13 Le séminaire sera également marqué par les propos de Madame Nicole Fontaine, Viceprésidente du Parlement européen, qui apportera, à cette occasion, son plein soutien au projet. Quelques mois plus tard, le 14 novembre 1998, la Conférence internationale de Paris du Droit et de l’Économie, importante manifestation réunissant des centaines de personnalités venues des différents continents, dont le Barreau de Paris et son bâtonnier Madame Dominique de la Garanderie sont les organisateurs, se révèlera une excellente « caisse de résonnance » pour la promotion de la Société privée européenne. Le Président de la CCIP, Michel Franck, en sera l’avocat très écouté. Promouvoir le projet en Allemagne La manifestation suivante sera allemande. Et c’est bien sûr au Professeur Hommelhoff que l’on doit l’initiative et l’organisation de cette manifestation dans sa bonne ville de Heidelberg, sous l’égide de l’Institut für Deutsches und Europäisches Gegesellschafts- und Wirtschaftsrecht de Ruprecht-Karls-Universität de Heidelberg. À deux pas du «Philosophenweg », le Professeur Hommelhoff conduira « Auf dem Weg zur Europäischen Privatgesellschaft » un groupe d’une soixantaine des plus éminents experts allemands (universitaires et praticiens) du droit des sociétés, réunis, le 19 juin 1999, dans un lieu tout à fait désigné pour la circonstance, l’Hotel Europäischer Hof.14

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13 Document non publié, diffusé lors de la conférence de presse. 14 Hommelhoff/Helms (Hrsg.), Neue Wege in die Europäische Privatgesellschaft, 2001.

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L’objectif était clair : porter le projet « EPG », dans l’ensemble de ses aspects techniques, à la connaissance de cette communauté de spécialistes, les convaincre de son intérêt (compte tenu du scepticisme voire des réticences assez répandus parmi les juristes les plus traditionnalistes), et plus particulièrement faire adhérer le monde des entreprises à ce projet. Le combat académique opposant les Anciens et les Modernes était donc engagé. L’Histoire a montré, et pas seulement dans la vie littéraire française du XIXe siècle, que les Modernes finissent toujours par l’emporter. Mais pour que cet « Expertenrunde » soit de bon augure pour l’avenir de la « EPG », une bonne bouteille de bordeaux fut offerte au Professeur Hommelhoff par l’auteur de ces lignes, invité à Heidelberg avec Madame Boucourechliev. Précision importante, ce cadeau avait fait l’objet d’un contrat assorti d’une condition suspensive : bouteille à ouvrir seulement pour fêter la « victoire finale »… Cette indispensable étape pédagogique de juin 1999 sera précédée de la publication d’articles dans des revues juridiques allemandes de premier plan.15 À la conquête de l’euroscepticisme britannique La prochaine étape européenne sera particulièrement importante. Il s’agira de partir à la « conquête » du Royaume-Uni, dont on savait qu’il était et demeure encore, pour l’essentiel, un bastion de l’euroscepticisme. Et en l’occurrence, pourrait-on dire, de l’« euroSEpticisme »… C’est à cette fin que, le 6 décembre 1999, le CREDA organisera à Londres, un colloque en anglais sur le thème « Company law as a tool for Companies in the 21st Century : from the English and French perspectives to the European perspective », auquel le Président de la CCIP, Michel Franck, apportera son concours.16 Réalisée en partenariat avec la Franco-British Lawyers’ Society, le Barreau de Paris (représenté par Madame le Bâtonnier Dominique de La Garanderie) et celui du RoyaumeUni, la Chambre de commerce française de Grande-Bretagne, la Confederation of British Industry et le MEDEF, cette manifestation permettra de mesurer l’intérêt que suscitait déjà le projet de SPE auprès des milieux juridiques d’Outre Manche et de certains représentants du patronat britannique (cf. notamment l’intervention de Lord Alexander of Weedon, ancien Président de Natwest Bank). Convaincre les Pays-Bas L’année suivante, le 22 septembre 2000, à l’initiative du contributeur néerlandais des « Propositions pour une société fermée », le Doyen Levinus Timmerman, se tiendra à l’Université Erasmus de Rotterdam un colloque consacré à

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15 Hommelhoff/Helms, Weiter auf dem Weg zur Europäischen Privatgesellschaft, GmbHR 1999, 53; J. Boucourechliev, Die Harmonisierung des Gesellschaftsrechts in der Europäischen Union: Erreichtes und Perspektiven, Recht der Internationalen Wirtschaft, 1999, 1. 16 Cf. les actes de ce colloque en ligne sur le site internet du CREDA : http://www. creda.ccip.fr/colloques/1999-droit-Europe-actes.html.

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l’« Europese BV », réunissant les meilleurs experts en droit des sociétés des universités des Pays-Bas et quelques juristes d’entreprise, parmi lesquels un représentant de la firme Philips, qui manifestera un intérêt certain pour cette « Europese BV ». Le colloque, organisé sous l’égide du premier cabinet de lawyers de Hollande et auquel interviendra Jeanne Boucourechliev, aura rempli son rôle de promotion de ce projet et donnera lieu à une publication dans la revue « Ondernemingsrecht »17 ouverte par une chronique du Doyen Timmerman : « Naar een Europese besloten vennootschap ? » et clôturée par la reproduction de la version anglaise des 38 articles du projet de statut, assortis de leurs commentaires. Faire connaître le projet aux experts des administrations nationales La poursuite de cette « croisade » européenne n’empêche pas le CREDA et les coauteurs du projet de maintenir avec Madame Blanquet des contacts réguliers et toujours très cordiaux, en dépit des divergences de vues que l’on sait. Signe de la cordialité et de la loyauté de nos échanges mais aussi – on peut le penser – signe de l’intérêt porté, en privé, à notre projet, Madame Blanquet suggère à l’auteur de ces lignes qu’à ce stade et pour davantage d’efficacité, notre « campagne de séduction » devrait être maintenant ciblée plus directement sur les experts « droit des sociétés » des administrations nationales compétentes des différents États membres. Après que Madame Blanquet ait très obligeamment fourni les coordonnées de l’ensemble de ces experts, une formule s’imposera tout naturellement : réunir ces derniers dans le cadre d’un séminaire fermé (hors la présence de journalistes, pour une parole plus libre et spontanée) dans un lieu officiel neutre. C’est ainsi que, le 22 novembre 2000, se tiendra à Bruxelles, au Comité économique et social européen, à l’invitation du Groupe des employeurs du CESE, et sous l’égide conjointe d’UNICE et Eurochambres d’une part et du MEDEF et de la CCIP d’autre part, ce séminaire auquel participeront les représentants de 11 États membres, ainsi que Madame Blanquet elle-même et un représentant du CESE. L’objectif était à la fois de mieux faire connaître notre projet (ce que feront Jeanne Boucourechliev et Bernard Field) et de susciter les réactions des experts nationaux au cours d’un débat technique (animé par le Doyen Guy Horsmans, Robert Drury et le Professeur Hommelhoff) et d’obtenir qu’ils soutiennent le projet auprès de la Commission européenne. Il était clair, en effet, que ce dossier ne pourrait progresser que si la Commission accepte d’y travailler et de soumettre à la consultation un projet de règlement sur la société privée européenne. Jusqu’à présent, la position de la Commission avait toujours consisté à dire : essayons d’abord de débloquer notre projet de société anonyme européenne. Ce n’est qu’en cas d’échec de ce dernier, que l’on pourra s’intéresser au projet de société privée européenne. En cas de succès, il faudrait faire la démonstration

__________ 17 Ondernemingsrecht, 2001-11, 10 augustus 2001.

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que la société anonyme européenne ne répond pas à tous les besoins et particulièrement à ceux des PME. Toutefois, il est intéressant de noter qu’à cette époque, dans un document de travail confidentiel de la Commission en vue d’une future communication sur le droit des sociétés, la Commission fera figurer le projet de société privée européenne parmi les sujets pouvant être examinés par le groupe d’experts que la Commission devait mettre en place prochainement. Le séminaire du 22 novembre donnera lieu à des échanges et des débats très fructueux et directs, les réactions des États membres iront du soutien très clair : Allemagne (représenté par le Dr. Hans-Werner Neye, Ministerialrat au Ministére fédéral de la Justice), à l’intérêt : Finlande, Danemark, Irlande, jusqu’à l’opposition sans ambiguïté : Royaume-Uni. On relèvera également qu’au cours de ce séminaire, le représentant du Comité économique et social européen proposera que le CESE prenne un avis d’initiative sur le projet SPE. Enfin la SE… Les étapes suivantes de la croisade « Pro SPE » auront pour cadre l’Europe du Sud. Mais auparavant un événement, que l’on n’attendait plus, viendra modifier substantiellement le paysage : « Lancé il y a quelque trente ans, le projet de société européenne vient finalement d’aboutir lors du Sommet européen de Nice (7 et 8 décembre 2000). De cette victoire de l’opiniâtreté, obtenue « à l’arraché », au prix de nombreux et peu glorieux marchandages politiques, l’Histoire retiendra qu’à la toute fin du XXe siècle, ce vieux rêve d’une société commerciale européenne – il remonte au début des années cinquante – est enfin devenu réalité. »18. Cet accord de principe sera suivi, on le sait, par l’adoption du Règlement (CE) 2157/2001 relatif au statut de la SE et de la Directive 86/2001 portant sur la question de l’implication des travailleurs dans la SE. La barrière, autant psychologique que juridique, était donc ouverte. Et dans cette brèche, pouvait-on penser, s’engouffrerait, le moment venu, celle que Christian Roth, Président de l’Union des avocats européens, appellera la « piccola sorella » (la petite sœur) de la SE lors du colloque tenu à Rome en septembre 2001, dont un vieil ami du CREDA et… de la « SARL européenne », le Professeur Diego Corapi, sera l’organisateur. Séduire l’Europe du Sud Intitulé « Le nuove prospettive per la società europea », ce colloque sera organisé avec la participation active du Président de la Chambre de commerce et d’industrie de Paris, Michel Franck, toujours ardent porte-drapeau de la SPE.

__________ 18 Lévi/Outin-Adam/Simon, « La SE est arrivée… », Petites Affiches 19 décembre 2000, p. 4.

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Cette manifestation réunira les partenariats de la CCI de Rome, de la Chambre française de commerce et d’industrie en Italie, des grandes universités de Rome (La Sapienza, Luiss Guido Carli), de la Confindustria (l’organisation patronale italienne), du MEDEF, du Conseil national des barreaux italiens et de l’Union des Avocats Européens. Les représentants de ces organismes souligneront tous l’intérêt de la SPE comme structure juridique complémentaire de la SE. Dès le lendemain du colloque, « Italia Oggi », le grand quotidien économique italien, publiait une interview du Président Franck mettant en lumière les avantages de la SPE. Poursuivons le voyage dans un autre grand pays méditerranéen. À la suite d’un échange épistolaire entre le Professeur Aristides Jorge Viera Gonzalez de l’Université Rey Juan Carlos de Madrid et Aristide Lévi, le premier souhaitant manifester au second l’intérêt que suscite auprès de lui et de plusieurs de ses collègues espagnols la Société privée européenne, il est convenu d’organiser à Madrid un colloque sur le thème « Las pequeñas y medianas empresas y la reforma del derecho de sociedades en la Union europea » (« Les petites et moyennes entreprises et la réforme du droit des sociétés dans l’Union européenne »). Les 4 et 5 février 2004, sous la responsabilité scientifique conjointe de l’Université Juan Carlos et du CREDA, et sous le patronage du Ministère espagnol de l’Économie et des entreprises, se tiendra au siège de ce Ministère et en présence du Secrétaire d’État aux PME ainsi que de l’infatigable Président Franck, un colloque international consacré aux diverses structures juridiques – existantes ou en projet – adaptées aux besoins de la PME en Europe, dans le cadre aussi bien des droits nationaux que du droit communautaire. Ce colloque réunissant, en dehors des meilleurs spécialistes d’Espagne, une équipe d’intervenants constituée d’experts italiens, britanniques, allemands et français pour la plupart associés à l’élaboration du projet SPE (Christoph Teichmann, Robert Drury, Arnaud Reygrobellet, Diego Corapi, Christian Steinberger, Christian Roth, Henri Malosse, Yves Chaput et Jeanne Boucourechliev, dont ce sera la dernière apparition à une tribune), fournira l’occasion de présenter aux milieux de la pratique, au monde académique et particulièrement aux pouvoirs publics espagnols ce projet (qui recevra un appui très remarqué du Secrétaire général de la confédération espagnole des PME, Elias Aparicio Bravo). Entre-temps et ultérieurement, des progrès décisifs seront accomplis dans le processus de reconnaissance de la SPE par les instances communautaires. On se bornera à mentionner brièvement les jalons de ce processus puisqu’ils sont bien connus, en renvoyant pour les détails aux documents officiels publics ou accessibles sur Internet.

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Le Comité économique et social européen et le Parlement européen se mobilisent, les milieux économiques s’impatientent, alors que la Commission européenne observe… Sous l’impulsion d’Henri Malosse, Président du Groupe des Employeurs du Comité économique et social européen, le CESE adoptera, en mars 2002, sous le titre « Un statut de société européenne pour les PME », un avis d’initiative favorable à la SPE. Organisées par la Commission européenne, diverses consultations mettent en avant le soutien des milieux d’affaires européens à la SPE : en novembre 2002, dans le cadre du Groupe « Winter », auquel participera activement Joëlle Simon19 ; en mai 2003, à l’occasion du Premier plan d’action en droit des sociétés et en matière de gouvernement d’entreprise ; en décembre 2005, au travers de l’étude de faisabilité pour un statut européen de la PME ; en 2006, lors de la consultation sur le Deuxième plan d’action (prés de 64 % des entreprises interrogées se sont déclarées favorables à un projet de SPE) ; en novembre 2007, dans le cadre de l’ « European Business Test Panel » (EBTP) : European survey on European Private Company ; en décembre 2007, à l’occasion de l’annonce des résultats de la consultation publique organisée par la Commission sur le statut d’une société privée européenne (75 % des réponses voient dans ce statut un avantage potentiel en ce qu’il réduira les coûts de fonctionnement et l’insécurité juridique liés à la diversité des types de sociétés et de régimes juridiques au sein du Marché unique). On le voit la pression du monde économique sur la Commission européenne se faisait de plus en plus forte et celle-ci ne pouvait plus l’ignorer… De son côté, le 1er février 2007, le Parlement européen apportera très clairement son soutien au projet de SPE en adoptant une résolution sur le rapport d’initiative de M. Klaus-Heiner Lehne en faveur d’une société privée européenne, cette résolution requérant la Commission de « lancer une proposition législative sur le statut d’une société européenne ». En outre, dans cette résolution le Parlement européen présentera quelques recommandations sur ce que devrait contenir un tel statut. Il apparaissait ainsi très nettement qu’un point de non-retour se trouvait maintenant atteint : la Commission européenne était sommée par le Parlement européen de s’exécuter sans résister davantage à la pression des milieux économiques soucieux de voir enfin la SPE devenir une réalité juridique. Peu après, cette impatience aura à nouveau l’occasion de s’exprimer, le 15 mai de cette même année, lors d’un symposium conjointement organisé à Bruxelles par Eurochambres et Business Europe sous l’égide du Comité économique et

__________ 19 Report of the High Level Group of Company law Experts on a Modern Regulatory Framework for Company Law in Europe (4 novembre 2002), qui note (p. 116) « the desire to have an EPC statute to serve the needs of SMEs in Europe has been clearly and repeatedly expressed ». (http://ec.europa.eu/internal_market/company/modern/ index_en.htm).

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social européen.20 Résolument intitulé « Et maintenant le projet de Société Privée Européenne… un atout pour la compétitivité des PME et la croissance du Marché intérieur », ce symposium sera ouvert par des propos très déterminés de Henri Malosse, en sa qualité de Président du Groupe des Employeurs du CESE, de Pierre Simon, en sa double qualité de Président de la CCIP et d’Eurochambres et de Philippe Lambrecht, Président du Comité Affaires juridiques de Business Europe. Ces propos seront suivis par une intervention tout aussi ferme du député européen Klaus-Heiner Lehne, relayée par une table ronde largement favorable au projet, à laquelle prendra part Hans-Werner Neye. Le Commissaire mis en demeure par le Parlement européen, Charlie Mc Creevy délivrera pourtant un message reflétant encore la position attentiste de la Commission : « Nous devons maintenant travailler en nous fondant sur une solide étude d’impact. Nous avons besoin de données concrètes en provenance du marché… » Nouveau – ou dernier ? – moyen dilatoire trouvé par la Commission ! On a vu dans les lignes qui précédent les résultats largement favorables à la SPE que révèlera cette « solide étude d’impact ». La conversion de la Commission européenne Coup de tonnerre le 3 octobre 2007 ! Devant la Commission des Affaires juridiques du Parlement européen, le Commissaire Mc Creevy dit enfin « Yes for a European Private Company ! », en annonçant qu’il donnerait suite au rapport adopté par les eurodéputés sur la question. « Les PME n’ont pas une armée d’avocats à leur disposition et elles doivent faire face à de sérieux défis pour pénétrer sur de nouveaux marchés ; ce nouveau statut devrait favoriser leur mobilité et leur compétitivité », déclarera le Commissaire avec toute la conviction des nouveaux convertis. Dés le 10 mars 2008, venant en quelque sorte consacrer cette récente conversion, se tient ce qu’on appellerait une « Grand Messe », en l’occurrence une conférence réunissant plus de 200 spécialistes venus de chacun des États membres, organisée par la Commission européenne dans le « Saint des Saints » du Charlemagne Building. Cette réunion s’intitule « Conference on the European Private Company – Societas Privata Europaea (SPE) », signe qu’avec ce nom de baptême en latin la petite sœur de la « Societas Europaea » commence à accéder à la reconnaissance officielle. Au cours de cette journée, la candidate à l’existence juridique sera soumise à un examen détaillé de chacun des aspects de son futur statut, auquel procéderont une vingtaine d’experts, parmi lesquels nos amis Robert Drury, Joëlle Simon et Christoph Teichmann. Tirant les conclusions de très riches échanges, Jörgen Holmquist, Directeur général à la Commission européenne pour le Marché intérieur et les Services, ne pourra que constater un large consensus sur l’intérêt de la SPE ainsi que sur son contenu et ses objectifs. La candidate avait donc passée avec succès cet important examen pour la suite de sa carrière.

__________ 20 Les actes de ce symposium sont consultables sur le site du CREDA : http://www. creda.ccip.fr/colloques/2007-SPE-actes.htm.

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De la « SARL européenne » à la « Societa Privata Europaea »

Et la citadelle ouvre enfin son portail ! Et voilà que, le 25 juin 2008, après un siège de la citadelle bruxelloise qui aura duré une dizaine d’années (à partir de la réalisation du projet CCIP/CNPF), le pont-levis s’abaisse, laissant passer un « bel équipage »… Un « Small Business Act for Europe » intégrant notamment une proposition de règlement portant statut d’une Société Privée Européenne ! Le verrou avait enfin sauté, mais le moment d’ouvrir « la bouteille de Heidelberg » n’était pas encore venu. À partir de ce jour, un parcours nouveau et délicat s’ouvre aux pas de notre chère SPE sur le terrain labyrinthique et incertain des négociations entre États membres dans le cadre du Conseil.

Épilogue (encore inachevé…) L’ère des compromis Hasard du calendrier, c’est à la présidence française qu’il reviendra de connaître, la première, du dossier SPE au cours du second semestre de 2008. En dépit de ses réels efforts, elle ne parviendra pas à aboutir à un accord, pas davantage que les 7 États membres qui succèderont à la France. Jusqu’en juillet 2011, pas moins de huit compromis seront proposés. Sans succès. Le processus législatif communautaire n’est-il pas une école de patience ? Alors ne nous impatientons pas trop… L’auteur de ces quelques pages de souvenirs – volontairement dépourvues de toute technicité – qui sont offertes à notre ami le Professeur Hommeloff ne peut que regretter qu’elles ne puissent s’achever par un communiqué de « victoire finale » ! Mais un bon bordeaux se bonifie en vieillissant…

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Über eine zusätzliche Berichtspflicht des Aufsichtsrats an die Hauptversammlung Peter Hommelhoff gehört zu den wenigen Kollegen des Unternehmensrechts, der sich ein wissenschaftliches Leben lang mit Fragen der Rechnungslegung und Abschlussprüfung beschäftigt hat. Ihm verdankt der Arbeitskreis „Bilanzrecht der Hochschullehrer Rechtswissenschaft“ seine Existenz. Ihm, der heute an prominenter Stelle in einer großen Prüfungsgesellschaft tätig ist, seien daher Überlegungen zu einer erweiterten Kommunikation zwischen dem Abschlussprüfer und dem Prüfungsausschuss sowie den Aktionären gewidmet.

I. Gelebte Praxis 1. Eine direkte Form der Kommunikation zwischen Abschlussprüfer und Konzern-Abschlussprüfer auf der einen Seite und den Aktionären auf der anderen Seite gibt es derzeit nur in Form des sogenannten Bestätigungsvermerks nach § 322 HGB. Dieser früher ganz kurze Abschlussvermerk ist seit 2004 deutlich umfangreicher geworden und ist in dieser Form mit dem Jahresabschluss und dem Konzernabschluss zu publizieren und in den Geschäftsräumen der Gesellschaft zur Einsicht auszulegen, wird auf diese Weise also den Aktionären und der Öffentlichkeit bekannt. Diese werden hierdurch nicht nur über die Korrektheit oder die Mängel von Jahresabschluss und Konzernabschluss informiert, sondern auch über Risiken, die den Fortbestand des Unternehmens oder eines wesentlichen Konzernunternehmens gefährden, § 322 Abs. 2 Satz 3 und 4 HGB. Das hat das Institut der Wirtschaftsprüfer (IDW) zum Anlass genommen, einen Standard PS 4001 für diesen (erweiterten) Bestätigungsvermerk zu entwickeln. Demgegenüber geht der eingehende Prüfungsbericht nach § 321 HGB an den Aufsichtsrat und wird nicht veröffentlicht:2 Das ist auch gut so; denn anders bestünde die Gefahr, dass dieser wichtige Bericht aus missverstandener Loyalität gegenüber den Organen der Gesellschaft inhaltsleer würde. 2. Eine indirekte Kommunikation zwischen Prüfer, Aktionär und Öffentlichkeit findet auf dem Weg über den Bericht des Aufsichtsrats an die Hauptversammlung nach § 171 Abs. 2 AktG statt. Denn der Aufsichtsrat hat den ihm vorliegenden Jahresabschluss, den Konzernabschluss und die Lageberichte

__________ 1 WPg 2005, 1382. 2 Ausnahme im Falle der Insolvenz der Gesellschaft, § 321a HGB. Zum Prüfungsbericht als Element der Corporate Governance vgl. Lanfermann, BB 2011, 937.

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seinerseits zu prüfen (§ 171 Abs. 2 Satz 1 AktG),3 selbstverständlich unter Berücksichtigung der Prüferberichte und hier insbesondere darauf, ob die Prüfer „wesentliche Schwächen des internen Kontroll- und des Risikomanagementsystems bezogen auf den Rechnungslegungsprozess“ nach § 171 Abs. 1 Satz 2 AktG bzw. nach § 321 Abs. 1 Satz 3 HGB „festgestellte Unrichtigkeiten oder Verstöße gegen gesetzliche Vorschriften sowie Tatsachen, die den Bestand des geprüften Unternehmens oder des Konzerns gefährden oder seine Entwicklung wesentlich beeinträchtigen können oder schwerwiegende Verstöße der gesetzlichen Vertreter oder von Arbeitnehmern gegen Gesetz, Gesellschaftsvertrag oder die Satzung“ mitgeteilt haben. Darüber hat der Aufsichtsrat nun seinerseits an die Hauptversammlung zu berichten, § 171 Abs. 2 Satz 1 AktG. Einzelheiten nennt das Gesetz in diesem Zusammenhang nicht. Doch liegt es in der Natur dieser Berichtspflicht, dass der Aufsichtsrat über die soeben genannten etwaigen Aussagen der Prüfer nach § 321 Abs. 1 Satz 3 HGB, § 171 Abs. 1 Satz 2 AktG berichten muss. Aktionäre und Öffentlichkeit erfahren also auf diesem Wege, ob die Prüfer berechtigte Sorgen um die Zukunft des Unternehmens, seinen Bestand und die Korrektheit der Unternehmensführung haben bzw. den Stand des Unternehmens, seine Zukunft und seine Führung positiv sehen. Die Aktionäre haben aber kein Fragerecht gegenüber den Prüfern, § 176 Abs. 2 Satz 3 AktG. 3. Auch eine direkte Kommunikation zwischen dem Prüfungsausschuss des Aufsichtsrats und den Aktionären und der Öffentlichkeit gibt es derzeit nicht. Zwar muss der Aufsichtsrat einer Börsengesellschaft über die Bildung eines Prüfungsausschusses und die Zahl seiner Sitzungen berichten, § 171 Abs. 2 Satz 2 AktG. Aber inhaltlich ist nach bisher herrschender Auffassung kein weitergehender Bericht an die Hauptversammlung erforderlich4. 4. Nimmt man die direkte und die mittelbare Information der Aktionäre über die Abschlussprüfungen und ihre Ergebnisse zusammen, so kann man im Grunde zufrieden sein. Die Aktionäre erfahren die für sie wichtigen Aussagen der Prüfer, ohne sich mit Details beschäftigen zu müssen. Vor allem ist wichtig, dass sich die berühmte Erwartungslücke bei den Aktionären und dem Publikum heute nicht mehr so gefährlich bilden kann, weil die Prüfer im Bestätigungsvermerk auf etwaige Risiken, die den Fortbestand des Unternehmens gefährden können, ausdrücklich eingehen müssen. Und sie müssen weiterhin ausdrücklich im Bestätigungsvermerk dazu Stellung nehmen, ob die Chancen und Risiken von Gesellschaft und Konzern im Lagebericht und im Konzern-

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3 Zum Inhalt dieser Prüfung vgl. Lutter, AG 2008, 1 ff.; Ekkenga in KölnKomm. AktG, 3. Aufl. 2011, § 171 AktG Rz. 22 ff.; Steiner in Heidel, 3. Aufl. 2011, § 171 AktG Rz. 12 ff.; Drygala in K. Schmidt/Lutter, 2. Aufl. 2010, § 171 AktG Rz. 4 ff.; Euler in Spindler/Stilz, 2. Aufl. 2010, § 171 AktG Rz. 39 ff.; Hüffer, 10. Aufl. 2012, § 171 AktG Rz. 2 ff.; Schulz in Bürgers/Körber, HeidelbergKomm. AktG, 2. Aufl. 2011, § 171 AktG Rz. 3 ff. 4 Vgl. Ekkenga in KölnKomm. AktG, 3. Aufl. 2011, § 171 AktG Rz. 67, 68 m. w. N.; Euler in Spindler/Stilz, 2. Aufl. 2010, § 171 AktG Rz. 75; Schulz in Bürgers/Körber, HeidelbergKomm. AktG, 2. Aufl. 2011, § 171 AktG Rz. 9a.

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Über eine zusätzliche Berichtspflicht des Aufsichtsrats an die Hauptversammlung

lagebericht zutreffend dargestellt sind, § 322 Abs. 6 Satz 2 HGB. Darüber hinaus müssen die Prüfer im Prüfungsbericht Aussagen zum Stand und zur Entwicklung des Unternehmens machen, § 321 HGB, worüber der Aufsichtsrat seinerseits an die Hauptversammlung zu berichten hat. Aktionäre und die Öffentlichkeit erfahren also von der sachverständigen Aussage der Prüfer zu der wirtschaftlichen, finanziellen und leitungsmäßigen Situation der Gesellschaft und des Konzerns. Demgegenüber gibt es bisher keinen Bericht des Aufsichtsrats über die Zuständigkeiten und die Arbeitsweise des Prüfungsausschusses sowie über dessen Zusammenarbeit mit dem Abschlussprüfer und dem Konzern-Abschlussprüfer. Diese Situation soll im Folgenden hinterfragt werden. Dies zumal, als der Deutsche Corporate Governance Kodex seit eh und je in seiner Ziffer 5.3.2 die Bildung eines Prüfungsausschusses empfiehlt und die meisten Börsen-Gesellschaften dieser Empfehlung folgen.5

II. Weitere Entwicklungen 1. Europa,6 der deutsche Gesetzgeber7 und der Deutsche Corporate Governance Kodex8 haben sich in den vergangenen Jahren zunehmend des Prüfungsausschusses angenommen; der Kodex empfiehlt seine Einrichtung seit seinem Bestehen, Europa9 und das AktG10 legen ihn nahe, schreiben ihn aber nicht zwingend vor,11 verlangen aber – wenn er denn gebildet wird – mindestens ein finanzsachverständiges Mitglied in ihm, § 107 Abs. 4 AktG. Diesem Ausschuss können viele Aufgaben zur endgültigen Erledigung übertragen werden, insbesondere die Überwachung der Rechnungslegung und Abschlussprüfung, der

__________ 5 Lediglich im Falle kleiner Aufsichtsräte wird hiervon teilweise noch abgesehen. v. Werder/Talaulicar, DB 2010, 853 (857 f.); dies., DB 2009, 689 (692 f.); dies., DB 2008, 825 (828 f.); dies., DB 2007, 869 (871 ff.); dies., DB 2006, 849 (851); dies., DB 2005, 841 (843 f., 846). 6 RL 2006/43/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 17.5.2006 über Abschlussprüfungen von Jahresabschlüssen und konsolidierten Abschlüssen, zur Änderung der RL 78/660/EWG und 83/349/EWG des Rates und zur Aufhebung der RL 84/253/EWG des Rates, ABl. EU Nr. L 157 v. 16.8.2006, S. 83, insbesondere Art. 41; abgedruckt auch bei Lutter/Bayer/Schmidt, Europäisches Unternehmen- und Kapitalmarktrecht, 5. Aufl. 2012, S. 859 ff. Ergänzend: EU-Kommission, Grünbuch: Weiteres Vorgehen im Bereich der Abschlussprüfung: Lehren aus der Krise (KOM 2010, 561) endgültig, abrufbar unter: http://europa.eu/documentation/official-docs/greenpapers/index_de.htm#2011. Vgl. dazu aber auch die eingehende Untersuchung von Hommelhoff, DB 2012, 389 ff. und 445 ff. 7 Gesetz zur Modernisierung des Bilanzrechts (Bilanzrechtsmodernisierungsgesetz – BilMoG) v. 25.5.2009, BGBl. I 2009, 1102, insbesondere Art. 5 Nr. 4. 8 Deutscher Corporate Governance Kodex in der geltenden Fassung v. 15.5.2012, insbesondere Ziff. 5.2, 5.3.2, 7.1.2 und 7.2.1, abrufbar unter: http://www.corporategovernance-code.de/ger/kodex/index.html. 9 Art. 41 der RL 2006/43/EG v. 17.5.2006, ABl. EU Nr. L 157 v. 9.6.2006/87 der neu gefassten Abschlussprüfer-RL, oben Fn. 6. 10 § 107 Abs. 3 Satz 2 AktG. 11 Habersack, AG 2008, 98 (101).

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internen Revision, des Risikomanagements und der Compliance;12 außerdem soll der Ausschuss dem Gesamtaufsichtsrat Vorschläge zur Person des Abschlussprüfers und Konzern-Abschlussprüfers machen13 und zu dessen Vergütung, nicht aber kann die Feststellung des Jahresabschlusses und die Zustimmung zum Konzernabschluss endgültig übertragen werden: Dies ist und bleibt Aufgabe des Gesamt-Aufsichtsrats, § 107 Abs. 3 AktG, ebenso wie die Prüfung des Jahresabschlusses, des Konzernabschlusses und der Lageberichte, des Abhängigkeitsberichts und seiner Prüfung, der Ergebnisse der Abschlussprüfung und der Konzern-Abschlussprüfung, § 107 Abs. 3 mit §§ 171 und 314 AktG. Insofern wird der Prüfungsausschuss also vorbereitend tätig. Aber auch die anderen, dem Ausschuss ggf. zur endgültigen Erledigung übertragenen Aufgaben, sind naturgemäß von sehr großer praktischer Bedeutung. Das Gesetz sagt nichts zu der Art des Zusammenwirkens von Prüfungsausschuss und Gesamt-Aufsichtsrat und nichts zu einem Bericht des Aufsichtsrats an die Hauptversammlung über die Zusammenarbeit zwischen dem Prüfungsausschuss, den Prüfern und dem Gesamt-Aufsichtsrat. Das Gesetz verlangt einen Bericht des Aufsichtsrats an die Hauptversammlung und legt darin fest, was dessen Inhalt sein muss, § 171 Abs. 2 AktG. Es tut es aber nicht im Sinne einer abschließenden Aufzählung, sondern im Sinne eines Mindestinhalts. Damit ist fraglich, ob Angaben über die Art der Arbeit dieses wichtigen Ausschusses und seiner Zusammenarbeit mit den Prüfern und dem Gesamt-Aufsichtsrat jedenfalls heute zum Inhalt eines getreuen Berichtes gehören. 2. Das ist anzunehmen a) Der Aufsichtsrat konnte seit eh und je beschließende und vorbereitende Ausschüsse einrichten, § 107 Abs. 3 AktG, mithin auch einen Prüfungs- oder Bilanzausschuss. Wenn der Gesetzgeber jetzt durch das BilMoG einen neuen Satz 2 in den Abs. 3 des § 107 AktG eingefügt hat und dort formuliert: „Er kann insbesondere einen Prüfungsausschuss bestellen, der sich mit der Überwachung des Rechnungslegungsprozesses, der Wirksamkeit des internen Kontrollsystems, des Risikomanagementsystems und des internen Revisionssystems sowie der Abschlussprüfung, hier insbesondere der Unabhängigkeit des Abschlussprüfers und der vom Abschlussprüfer zusätzlich erbrachten Leistungen befasst.“

so sagt er damit Selbstverständliches. Das aber ist eigentlich nicht die Art deutscher Gesetzgebung. Hinter dem „kann“ verbirgt sich daher ein „soll“: Wie er die Bildung eines Prüfungsausschusses nicht vorschreibt, so schreibt er auch dessen Aufgaben nicht vor, legt diese aber mit seiner Formulierung immerhin nahe: Mindestens das sollte ein Prüfungsausschuss tun müssen, lautet die Botschaft des Gesetzes.

__________ 12 Eingehend dazu Drygala in K. Schmidt/Lutter, 2. Aufl. 2010, § 107 AktG Rz. 56 ff. 13 Preußner, NZG 2008, 574; Velte, NZG 2011, 771; Ekkenga in KölnKomm. AktG, 3. Aufl. 2011, § 171 AktG Rz. 35; Kropff in MünchKomm. AktG, 2. Aufl. 2003, § 171 AktG Rz. 72.

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Über eine zusätzliche Berichtspflicht des Aufsichtsrats an die Hauptversammlung

Diese Botschaft stimmt überein mit einer Empfehlung des Deutschen Corporate Governance Kodex in seiner Ziffer 5.3.2: „Der Aufsichtsrat soll einen Prüfungsausschuss (Audit Committee) einrichten, der sich insbesondere mit Fragen der Rechnungslegung, des Risikomanagements und der Compliance, der erforderlichen Unabhängigkeit des Abschlussprüfers, der Erteilung des Prüfungsauftrags an den Abschlussprüfer, der Bestimmung von Prüfungsschwerpunkten und der Honorarvereinbarung … befasst.“

Da dieser Empfehlung bei den Börsengesellschaften nahezu stets gefolgt wird,14 ergibt sich, dass der Vorstellung des Gesetzes in § 107 Abs. 3 Satz 2 AktG jedenfalls bei börsennahen Gesellschaften weitestgehend entsprochen wird. b) Der Aufsichtsrat hat an die Hauptversammlung zu berichten, § 171 Abs. 2 AktG. Dieser Bericht hat bei Börsengesellschaften die Ausschüsse zu benennen und die Zahl ihrer Sitzungen. Der Prüfungsausschuss ist also aufzuführen und die Zahl seiner Sitzungen ist anzugeben. Das aber sind gesetzliche Mindestangaben. Im Übrigen geht es um einen ziemlich umfangreichen Bericht des Aufsichtsrats an die Hauptversammlung.15 Dabei gilt es zu berücksichtigen, dass Gesetz und Kodex genaue Vorstellungen von der Arbeit des Prüfungsausschusses haben, aber eben auch von seiner Zusammenarbeit mit den Prüfern und mit dem Gesamt-Aufsichtsrat, der wesentliche Aufgaben selbst entscheiden muss. Die Einzelheiten legt der Aufsichtsrat durch Beschluss fest, der nicht veröffentlicht wird. Wohl aber macht das Gesetz, das hier die Regelung des Kodex in seinen Text übernommen hat, deutlich, wie wichtig ihm diese Aufgabenverteilung zwischen Ausschuss, Prüfern und Plenum ist. Dann aber liegt es in der Natur getreuer Berichterstattung,16 dass der Aufsichtsrat über die Aufgaben des Prüfungsausschusses und über dessen Zusammenarbeit mit den Prüfern sowie seine Zusammenarbeit mit ihm, dem Aufsichtsrat der Hauptversammlung berichtet und mithin berichten muss. c) Das gilt umso mehr, als der Aufsichtsrat nach § 171 Abs. 2 und 3 AktG zu berichten hat, „in welcher Art und in welchem Umfang er die Geschäftsführung der Gesellschaft während des Geschäftsjahrs geprüft hat“. Hat er die oben zitierten Aufgaben an den Ausschuss zur endgültigen Erledigung übertragen, dann muss er naturgemäß über die Arbeit des Ausschusses und dessen Zusammenarbeit mit dem Abschlussprüfer berichten; denn das ist die „Art“ und der „Umfang“ seiner, des Aufsichtsrats, Prüfung der Geschäftsführung.

__________ 14 Lutter, AG 2008, 1 ff.; Ekkenga in KölnKomm. AktG, 3. Aufl. 2011, § 171 AktG Rz. 35, 47; Kropff in MünchKomm. AktG, 2. Aufl. 2003, § 171 AktG Rz. 72. Ausführlich belegt bei v. Werder/Talaulicar, DB 2010, 853 (857 f.); dies., DB 2009, 689 (692 f.); dies., DB 2008, 825 (828 f.); dies., DB 2007, 869 (871 ff.); dies., DB 2006, 849 (851); dies., DB 2005, 841 (843 f., 846). 15 Lutter, AG 2008, 1 ff.; E. Vetter, ZIP 2006, 257 ff. Siehe etwa auch: Euler in Spindler/ Stilz, 2. Aufl. 2010, § 171 AktG Rz. 72 ff.; Schulz in Bürgers/Körber, HeidelbergKomm. AktG, 2. Aufl. 2011, § 171 AktG Rz. 8 ff. 16 Ekkenga in KölnKomm. AktG, 3. Aufl. 2011, § 171 AktG Rz. 65 ff.; Kropff in MünchKomm. AktG, 2. Aufl. 2003, § 171 AktG Rz. 145 f., 166. Siehe auch BGH v. 21.6.2010 – II ZR 24/09, DB 2010, 1697, 1699 = NJW-RR 2010, 1339, 1341 = ZIP 2010, 1437, 1439; Lutter, AG 2008, 1 ff.; E. Vetter, ZIP 2006, 257 (258).

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Aber diese Überlegungen gelten auch, wenn er die fraglichen Aufgaben ganz oder teilweise dem Ausschuss nur zur Vorbereitung übertragen hat. Denn auch dann findet eine Arbeitsteilung zwischen Gesamtaufsichtsrat und Ausschuss statt: er kann sich vom Ausschuss berichten lassen und dessen Maßnahmen als eigene akzeptieren. Da es insoweit auch um die „Art“ der Überwachung geht, ist darüber an die Hauptversammlung zu berichten. Auf diese Weise erfahren die Aktionäre und die Öffentlichkeit über die „Art der Überwachung“ der Geschäftsführung in einem besonders wichtigen Teil sowie über die Zusammenarbeit von Ausschuss und Plenum und mit den Abschlussprüfern.17,18 d) Eine besondere Bedeutung bekommt diese Berichtspflicht auch gerade vor der seit einiger Zeit bestehenden Diskussion19 um die gesetzlichen Plenumsvorbehalte nach § 107 Abs. 3 Satz 3 AktG. Denn nur durch eine entsprechend umfassende Berichtspflicht des Aufsichtsrates besteht für die Hauptversammlung überhaupt die Möglichkeit, dass sich letztere einen ausreichenden Überblick über die internen Überwachungsvorgänge und jeweiligen Verantwortlichkeiten verschaffen kann. e) Schließlich ist der Bericht des Aufsichtsrats an die Hauptversammlung auch Rechenschaftsbericht darüber, wie er seiner Pflicht zur Überwachung des Vorstands nachgekommen ist.20 Wenn er diese Pflicht mehr oder minder auf einen Prüfungsausschuss übertragen hat, ist es klar, dass er darüber berichten muss. Und das gilt insbesondere dann, wenn er – wie vom Gesetz (§ 107 Abs. 3 Satz 2 AktG) und vom Kodex (Ziffer 5.3.2) empfohlen – ihm wesentliche Aufgaben übertragen hat. Hier müssen Aktionär und Öffentlichkeit wissen, ob die Verantwortung für die Überwachung des Vorstands durch Überweisung bestimmter Aufgaben an den Ausschuss zu endgültiger Erledigung geteilt ist oder in der Verantwortung des Gesamtaufsichtsrats verbleibt. Und das gleiche gilt für die Frage, ob und in welchem Maße er selbst oder der Ausschuss die Hilfe des Prüfers bei der Überwachung in Anspruch genommen hat. 3. Diese Überlegungen werden bei börsennahen Gesellschaften unterstützt durch § 289a Abs. 2 Nr. 3 HGB, wonach die Gesellschaft in ihrer öffentlichen Erklärung zur Unternehmensführung21 über die Arbeitsweise des Aufsichtsrats und seiner Ausschüsse zu berichten hat. Das betrifft die Art der Zusammenarbeit zwischen Prüfungsausschuss und Plenum, aber auch die Zusammen-

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17 Dieser wichtige Aspekt im Bericht des Aufsichtsrats ist in meiner Abhandlung über diesen Bericht in AG 2008, 1 ff. noch nicht enthalten. Aber der Verf. lernt eben trotz seines Alters immer noch dazu. 18 Verf. folgt in diesem Zusammenhang nicht der These von einer allgemein erweiterten Berichtspflicht (etwa LG München I v. 10.3.2005, AG 2005, 408; Theisen, DB 2007, 2493 (2496); näher Ekkenga (Fn. 16), § 171 AktG Rz. 67, 68), sondern dem richtigen Verständnis des Gesetzes mit seiner Berichtspflicht über die „Art der Überwachung“. 19 Vgl. Maushake, Audit Committees, 2009, 457 ff. m. w. N.; zuletzt kritisch etwa Velte, NZG 2011, 771 (772). 20 BGH v. 21.6.2010 – II ZR 24/09, DB 2010, 1697 (1699) = NJW-RR 2010, 1339 (1341) = ZIP 2010, 1437 (1439); Lutter, AG 2008, 1 (5 ff.); h. M. 21 Die Erklärung wird entweder auf der Internetseite veröffentlicht oder als Teil des Lageberichts, § 289a Abs. 1 HGB.

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Über eine zusätzliche Berichtspflicht des Aufsichtsrats an die Hauptversammlung

arbeit zwischen Plenum, Ausschuss und den Prüfern.22 Damit macht das Gesetz deutlich, wie wichtig ihm gerade die Offenlegung dieser Vorgänge ist. Und das lässt sich ganz allgemein in die Pflicht des Aufsichtsrats zur Berichterstattung übertragen. Allerdings: Hat eine solche öffentliche Erklärung stattgefunden, genügt im Bericht des Aufsichtsrats an die Hauptversammlung eine Bezugnahme.

III. Ergebnis Der Aufsichtsrat ist und bleibt frei, ob er einen Prüfungsausschuss einrichtet oder nicht. Guter Corporate Governance aber entspricht es, dass das jedenfalls dann geschieht, wenn der Aufsichtsrat aus mehr als sechs Mitgliedern besteht. Geschieht das, so hat der Beschluss bei börsennahen Gesellschaften die sehr eingehenden Vorschläge des Gesetzes nach § 107 Abs. 3 Satz 2 AktG und Vorgaben des Kodex zu beachten, es sei denn, Vorstand und Aufsichtsrat lehnen Ziffer 5.3.2 des Kodex ab und begründen das, § 161 Abs. 1 Satz 1 AktG. Das Gesetz hat dies im BilMoG mit dem neuen Satz 2 von § 107 Abs. 3 AktG als Soll-Empfehlung übernommen. Daraus ergibt sich, dass der Aufsichtsrat nicht nur über die Einrichtung des Prüfungsausschusses berichten muss, sondern auch über dessen Aufgaben und die Art seiner Zusammenarbeit mit den Prüfern und mit ihm, dem Gesamtaufsichtsrat. Compliance und Risikomanagement gehören heute zu den selbstverständlichen Überwachungsaufgaben des Aufsichtsrats. Werden sie an einen Prüfungsausschuss zur Vorbereitung oder Erledigung delegiert, so muss die Hauptversammlung um diese „Art der Überwachung“ (§ 171 Abs. 2 Satz 2 AktG) wissen, um sich ein Bild über die damit verbundene Teilung der Verantwortung machen zu können. Auf diese Weise erfahren die Aktionäre und die Öffentlichkeit auf indirektem Weg über die Arbeit des Prüfungsausschusses und seine Zusammenarbeit mit den Prüfern und dem Plenum des Aufsichtsrats.

__________ 22 Vgl. dazu Velte in KPMG, Corporate Governance-Forum 3/2011, 12 ff.

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Reinhard Marsch-Barner

Zur Anfechtung der Wahl des Abschlussprüfers wegen Verletzung von Informationsrechten Inhaltsübersicht I. Einleitung II. Wahl des Abschlussprüfers 1. Anfechtbarkeit der Bestellung durch die Hauptversammlung 2. Auswirkungen einer erfolgreichen Anfechtung der Wahl III. Einschränkung der Anfechtbarkeit der Wahl des Abschlussprüfers 1. Reichweite der Anfechtungseinschränkung

2. Verbleibende Anfechtungsmöglichkeiten im Einzelnen a) Verletzung des Auskunftsrechts b) Fehlerhafte Entsprechenserklärung c) Ausschluss der Anfechtbarkeit gemäß § 243 Abs. 3 Nr. 3 AktG? IV. Anerkennung erbrachter Prüfungshandlungen?

I. Einleitung Anfechtungsklagen gegen Hauptversammlungsbeschlüsse werden häufig damit begründet, dass Informationsrechte der Aktionäre verletzt worden seien. Dabei geht es meist um die (angebliche) Verletzung des Auskunftsrechts in der Hauptversammlung (§ 131 AktG)1 oder um die Verletzung sonstiger Unterrichtungspflichten wie bei einer fehlerhaften Information in der Einladung zur Hauptversammlung (§ 121 AktG) oder bei einem unvollständigen Bericht zum Bezugsrechtsausschluss (§ 186 Abs. 4 Satz 2 AktG). Eine Verletzung des Informationsrechts der Aktionäre wird auch dann angenommen, wenn die Erklärung von Vorstand und Aufsichtsrat zu den Empfehlungen des Deutschen Corporate Governance Kodex inhaltlich unrichtig ist, weil bestimmte tatsächliche Abweichungen von den Empfehlungen des Kodex nicht offen gelegt worden sind.2 Es handelt sich dann um einen Verstoß gegen die Pflicht zur Offenlegung solcher Abweichungen nach § 161 AktG. Ein derartiger Verstoß führt nach der Rechtsprechung des BGH jedenfalls zur Anfechtbarkeit der Hauptversammlungsbeschlüsse zur Entlastung von Vorstand und Aufsichtsrat. Ob und inwieweit eine Verletzung der verschiedenen Informationspflichten auch zur Anfechtbarkeit der Wahl des Abschlussprüfers führen kann, soll in dem folgenden Beitrag näher untersucht werden. Dabei hofft der Verfasser auf das Interesse des Jubilars aus einem doppelten Grund: Zum einen geht es um Fragen des

__________ 1 Die Verletzung des allgemeinen Auskunftsrechts gemäß § 131 AktG ist nach der empirischen Studie von Baums/Drinhausen/Keinath, ZIP 2011, 2329, 2340, nach wie vor der am häufigsten vorgebrachte Anfechtungsgrund. 2 S. zu dieser Einordnung insbesondere Goette in FS Hüffer, 2010, S. 225, 232 f.

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Reinhard Marsch-Barner

Aktienrechts und damit um sein langjähriges Betätigungsfeld als Hochschullehrer. Zum andern wird mit dem Abschlussprüfer ein Berufszweig angesprochen, dem sich der Jubilar in letzter Zeit besonders zugewandt hat.

II. Wahl des Abschlussprüfers 1. Anfechtbarkeit der Bestellung durch die Hauptversammlung Bei den meisten Aktiengesellschaften wird der Abschlussprüfer von der Hauptversammlung gewählt (§ 119 Abs. 1 Nr. 4 AktG i. V. m. § 318 Abs. 1 Satz 1 HGB). Nur bei Versicherungsunternehmen wird er vom Aufsichtsrat bestimmt (§ 341k Abs. 2 Satz 1 HGB).3 Als Alternative zu dieser internen Bestellung wird hin und wieder erörtert, ob der Abschlussprüfer nicht besser von einer Stelle außerhalb des Unternehmens, insbesondere einer staatlichen Behörde, bestellt werden sollte, um auf diese Weise seine Unabhängigkeit zu stärken. Solche Überlegungen wurden zuletzt von der EU-Kommission im Grünbuch zur Abschlussprüfung4 angestellt. Sie sind jedoch überwiegend auf Ablehnung gestoßen.5 Dafür gibt es einen einfachen und überzeugenden Grund: Die Bestellung des Prüfers setzt eine genaue Kenntnis des zu prüfenden Unternehmens voraus, die bei einem internen Organ eher zu erwarten ist als bei einem außenstehenden Dritten.6 Die derzeitige Regelung sollte deshalb beibehalten werden. Die Wahl des Abschlussprüfers durch die Hauptversammlung birgt allerdings die Gefahr, dass der Beschluss der Hauptversammlung von Aktionärsseite angefochten wird und damit über einen längeren Zeitraum, nämlich bis zur rechtskräftigen Beendigung des Rechtsstreits unklar ist, ob die Bestellung wirksam ist oder nicht. Diese Gefahr besteht nicht nur theoretisch. Die Zahl der Anfechtungsklagen gegen die Wahl des Abschlussprüfers – wie auch gegen die Wahl von Aufsichtsratsmitgliedern – hat in den letzten Jahren deutlich zugenommen.7 Dies hängt möglicherweise damit zusammen, dass Anfechtungsklagen gegen Strukturbeschlüsse für die Berufskläger weniger „attraktiv“ geworden sind, nachdem eine Freigabe der Eintragung solcher Beschlüsse trotz Anfechtungsklage möglich ist und durch das ARUG8 deutlich erleichtert wurde. Diese Änderung der Rechtslage hat offenbar dazu geführt, dass die Berufskläger inzwischen vermehrt gegen solche Beschlüsse der Hauptversammlung vorgehen, bei denen es kein Freigabeverfahren gibt, wie insbesondere die Ent-

__________ 3 Außer Betracht bleibt hier das Insolvenzverfahren, in dem der Abschlussprüfer auf Antrag des Insolvenzverwalters durch das Gericht bestellt wird, § 155 Abs. 3 Satz 1 InsO. 4 Vgl. Grünbuch der EU-Kommission v. 13.10.2010: Weiteres Vorgehen im Bereich der Abschlussprüfung: Lehren aus der Krise, S. 13 und Fragen 16 und 17. 5 Vgl. die Zusammenstellung der Antworten auf das Grünbuch zur Abschlussprüfung („Summary of responses“) v. 4.2.2011, S. 14. 6 So z. B. die Stellungnahme des IdW zum Grünbuch zur Abschlussprüfung v. 13.10.2010, S. 10. 7 Vgl. Baums/Drinhausen/Keinath, ZIP 2011, 2329, 2337, 2351. 8 Vgl. §§ 246a, 319 AktG, § 16 Abs. 3 UmwG i. d. F. des Gesetzes zur Umsetzung der Aktionärsrechterichtlinie (ARUG) v. 30.7.2009, BGBl. I 2009, 2479.

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lastungs- und Wahlbeschlüsse. Ein weiterer Grund für diese veränderte Zielrichtung der Anfechtungsklagen dürfte sein, dass die Anfechtung der Entlastungs- und Wahlbeschlüsse auch auf einen bislang nicht abschließend geklärten Anfechtungsgrund, nämlich die Fehlerhaftigkeit der Entsprechenserklärung gemäß § 161 AktG, gestützt werden kann. Für die Entlastungsbeschlüsse hat der BGH die Anfechtbarkeit wegen eines solches Verstoßes ausdrücklich anerkannt.9 Die Anfechtbarkeit von Wahlbeschlüssen aus einem solchen Grunde ist dagegen bislang nur von Instanzgerichten10 bejaht worden; der BGH hat die Frage mit Bezug auf die Aufsichtsratswahl offen gelassen.11 2. Auswirkungen einer erfolgreichen Anfechtung der Wahl Eine Anfechtung der Wahl des Abschlussprüfers ist für die Gesellschaft ungleich riskanter als die Anfechtung der Entlastungsbeschlüsse. Wird die Entlastung von Vorstand und Aufsichtsrat für ein bestimmtes Geschäftsjahr für nichtig erklärt, so hat dies meist keine weiteren Auswirkungen. In den wenigsten Fällen werden die Entlastungsbeschlüsse erneut gefasst; Vorstand und Aufsichtsrat bleiben vielmehr unentlastet. Dies ist ohne Weiteres nachvollziehbar, wenn der Entlastungszeitraum mehrere Jahre zurückliegt und die Nichtigerklärung der Entlastung lediglich auf formalen Fehlern oder auf Gründen beruht, die sich durch Zeitablauf erledigt haben. Entsprechendes gilt für die Fälle, in denen die Entlastung wegen Verstoßes gegen § 161 AktG für nichtig erklärt worden ist. Ein solcher Verstoß ist im Allgemeinen kein Grund, das Vertrauen der Aktionäre in die Verwaltung grundsätzlich in Frage zu stellen. Fraglich ist oft auch, ob es sich dabei überhaupt um eine „schwerwiegende Gesetzesverletzung“ handelt, die eigentlich Voraussetzung für eine erfolgreiche Anfechtung der Entlastung ist.12 Wird dagegen die Wahl des Abschlussprüfers erfolgreich angefochten, so kann dies weitreichende Rechtsfolgen haben. Zunächst steht damit fest, dass die Wahl des Abschlussprüfers rückwirkend nichtig ist (§ 248 Abs. 1 Satz 1 AktG).13 Mit dem rückwirkenden Wegfall der Bestellung ist zugleich die Grundlage für die vom gewählten Prüfer durchgeführte Abschlussprüfung entfallen. Der betreffende Jahresabschluss ist dann nicht wirksam geprüft worden

__________ 9 BGH, NZG 2009, 342 – Kirch/Deutsche Bank; BGH, NZG 2009, 1270 – Umschreibungsstopp. 10 Vgl. OLG München, ZIP 2009, 133 – MAN/Piech; LG Hannover, ZIP 2010, 837 – Continental/Koerfer = BB 2010, 833 m. zust. Anm. Lutter. 11 BGH, NZG 2009, 342, 347, Rz. 32. 12 Vgl. BGH, NJW 2003, 1032, 1033 – Macrotron; BGH, NJW 2005, 828 – ThyssenKrupp; in den Entscheidungen zu § 161 AktG wird dieses Erfordernis nicht ausdrücklich genannt, vgl. BGH, NZG 2009, 342 und BGH, NZG 2009, 1270. 13 Dörr in Spindler/Stilz, 2. Aufl. 2010, § 248 AktG Rz. 7; Göz in Bürgers/Körber, 2. Aufl. 2011, § 248 AktG Rz. 5; Hüffer, 9. Aufl. 2010, § 248 AktG Rz. 14; differenzierend K. Schmidt in Hopt/Wiedemann, 4. Aufl. 1996, § 248 AktG Rz. 6.

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und damit grundsätzlich ebenfalls nichtig (§ 256 Abs. 1 Nr. 3 AktG).14 Der in § 256 Abs. 1 Nr. 3 AktG vorgesehene Ausschluss der Anfechtbarkeit des Wahlbeschlusses bei Befangenheit des Prüfers greift nicht ein, wenn der Wahlbeschluss wegen Verletzung von Informationsrechten für nichtig erklärt wird. Mit dem Wegfall des Jahresabschlusses entfällt auch die Rechtsgrundlage für die Zahlung der Dividende. Diese muss bei gleichzeitiger Kassation des Gewinnverwendungsbeschlusses zurückgefordert werden (§ 62 AktG). Für einen etwaigen Ausfall der Gesellschaft haften die Mitglieder des Vorstands und des Aufsichtsrats persönlich (§§ 93 Abs. 2 Satz 1, 116 AktG). Diese Konsequenzen gelten allerdings dann nicht, wenn die Anfechtbarkeit des Wahlbeschlusses gemäß § 243 Abs. 3 Nr. 3 AktG ausgeschlossen sein sollte (s. dazu sogleich unter III.) Angesichts dieser unter Umständen weit reichenden Auswirkungen muss die Gesellschaft bei einer Anfechtungsklage gegen die Wahl des Abschlussprüfers sorgfältig prüfen, wie sie reagiert. Schätzt sie das Risiko einer erfolgreichen Klage gering ein, wird der Aufsichtsrat den gewählten Prüfer trotz Anfechtungsklage mit der Abschlussprüfung beauftragen (§ 111 Abs. 2 Satz 3 AktG) und im Übrigen darauf vertrauen, dass die Klage abgewiesen wird. Räumt die Gesellschaft der Klage dagegen Erfolgsaussichten ein, so bestehen – von einer „kaufmännischen Lösung“ abgesehen – rechtlich verschiedene Optionen: Die Wahl könnte zunächst wiederholt werden. Da der Abschlussprüfer vor Ablauf des Geschäftsjahres gewählt werden soll, auf das sich seine Prüfungstätigkeit erstreckt (§ 318 Abs. 3 Satz 3 HGB), müsste die erneute Bestellung in einer außerordentlichen Hauptversammlung beschlossen werden. Dabei müssten die Fehler, die den Grund für die Anfechtung darstellen, vermieden werden. Den mit einer solchen weiteren Hauptversammlung verbundenen Aufwand wird eine Publikumsgesellschaft nur ungern betreiben. Zumindest eine Begrenzung der sich aus der erfolgreichen Anfechtungsklage ergebenden Risiken kann dadurch erreicht werden, dass die Bestellung des Abschlussprüfers in der nächsten Hauptversammlung bestätigt wird (§ 244 AktG). Damit kann die Anfechtbarkeit jedenfalls für die weitere Zukunft ausgeschlossen werden (§ 244 Satz 2 AktG). Allerdings ist damit zu rechnen, dass auch der Bestätigungsbeschluss angefochten und damit keine rasche Klärung der Rechtslage erreicht wird. Eine Möglichkeit, den gewählten Abschlussprüfer, dessen Wahl angefochten wurde, vorsorglich noch einmal nach § 318 Abs. 4 HGB durch das Gericht zu bestellen, besteht nach dem Gesetzeswortlaut an sich nicht. Ist die Wahl aus

__________ 14 Hüffer in MünchKomm. AktG, 3. Aufl. 2011, § 256 AktG, Rz. 29; Rölicke in Spindler/Stilz, 2. Aufl. 2010, § 256 AktG Rz. 38; Schulz in Bürgers/Körber, 2. Aufl. 2011, § 256 AktG Rz. 8; Habersack, NZG 2003, 659, 663; eine Nichtigkeit des Jahresabschlusses nach § 256 Abs. 1 Nr. 2 AktG kommt dagegen nicht in Betracht, weil die rückwirkende Nichtigerklärung der Bestellung nicht dem Fehlen der Prüfung gleichgesetzt werden kann, LG München, AG 2006, 762, 768; Habersack, NZG 2003, 659, 662; Schulz in Bürgers/Körber, 2. Aufl. 2011, § 256 AktG Rz. 5.

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einem nicht in der Person des Abschlussprüfers liegenden Grund angefochten, kommt aber in analoger Anwendung des § 318 Abs. 4 HGB eine gerichtliche Bestellung des gewählten Prüfers in Betracht. 15 Möglich ist auch, vorsorglich einen zweiten Prüfer gerichtlich bestellen zu lassen, der eine zusätzliche Abschlussprüfung durchführt.16 Ein solcher Zweitprüfer könnte auch in einer weiteren Hauptversammlung bestellt werden.17 Möglich ist eine gerichtliche Ersatzbestellung ferner dann, wenn der gewählte Prüfer die Annahme des Prüfungsauftrags im Hinblick auf die Anfechtung seiner Wahl ablehnt. Vorstand und Aufsichtsrat könnten dann aber nur die Bestellung eines anderen Prüfers beantragen (§ 318 Abs. 4 Satz 2 HGB).

III. Einschränkung der Anfechtbarkeit der Wahl des Abschlussprüfers Wegen der Konsequenzen, die sich aus einer erfolgreichen Anfechtung der Bestellung des Abschlussprüfers ergeben können, ist die Anfechtbarkeit des Bestellungsbeschlusses durch das Bilanzrechtsreformgesetz von 2004 deutlich eingeschränkt worden.18 Danach kann eine Anfechtungsklage gegen die Wahl des Abschlussprüfers nicht (mehr) auf Gründe gestützt werden, die ein Ersetzungsverfahren nach § 318 Abs. 3 HGB rechtfertigen (§ 243 Abs. 3 Nr. 3 AktG). Die Klage ist insoweit ohne weitere Prüfung als unzulässig abzuweisen.19 Diese Einschränkung der Anfechtbarkeit war nötig geworden, nachdem der BGH zuvor entscheiden hatte, dass – nach dem damaligem Recht – eine Anfechtungsklage gegen die Bestellung des Abschlussprüfers neben dem Ersetzungsverfahren nach § 318 Abs. 3 HGB zulässig war.20 Das Nebeneinander dieser beiden Verfahren war nicht geeignet, die Problematik einer möglichen Befangenheit des Abschlussprüfers sachgerecht zu lösen. Deshalb hat der Gesetzgeber die Geltendmachung der Befangenheit allein dem Ersetzungsverfahren zugewiesen und eine Anfechtbarkeit des Bestellungsbeschlusses insoweit ausgeschlossen. Im Gegenzug wurden die möglichen Befangenheitsgründe in den §§ 319 ff. HGB deutlich ausgeweitet. Der durch § 243 Abs. 3 Nr. 3 AktG erfolgte Ausschluss der Anfechtbarkeit liegt im Interesse des Rechtsverkehrs, insbesondere der Gläubiger der Gesellschaft, die an einem möglichst wirksamen Jahresabschluss interessiert sind.21 Das Verfahren nach § 318 Abs. 3 HGB entspricht aber auch dem Interesse der Gesellschaft, ihrer Aktionäre und des Abschlussprüfers an einer zeitnahen und ver-

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15 v. Falkenhausen/Kocher, ZIP 2005, 602 f.; Habersack/Schürnbrand in Staub, 5. Aufl. 2010, § 318 HGB Rz. 72; Merkt in Baumbach/Hopt, 35. Aufl. 2012, § 318 HGB Rz. 11. 16 Vgl. AG Wolfsburg, AG 1992, 205. 17 S. dazu Lutter in FS Semler, 1993, S. 849, 851; AG Wolfsburg, AG 1992, 205. 18 Vgl. Art. 4 des Bilanzrechtsreformgesetzes (BilReG) v. 4.12.2004, BGBl. I 2004, 3166, 3178. 19 Hüffer, 9. Aufl. 2010, § 243 AktG Rz. 44c; Hüffer in MünchKomm. AktG, 3. Aufl. 2011, § 243 AktG Rz. 112; Würthwein in Spindler/Stilz, 2. Aufl. 2010, § 243 AktG Rz. 241; OLG München, AG 2009, 121 ff. 20 BGH, AG 2003, 319, 320 ff. – Hypovereinsbank. 21 Vgl. Begr. RegE BilReG, BT-Drucks. 15/3419, S. 35.

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lässlichen Entscheidung über die Wirksamkeit der Prüferbestellung, der Prüfungshandlungen und des Ergebnisses der Jahresabschlussprüfung. Ziel des Verfahrens nach § 318 Abs. 3 HGB ist es dabei, einen befangenen oder aus sonstigen Gründen ausgeschlossenen Abschlussprüfer zügig durch einen unbelasteten Prüfer zu ersetzen und damit eine ordnungsgemäße Durchführung der Prüfung sicherzustellen. Mit der Anfechtungsklage wird dagegen nur erreicht, dass die Bestellung des gewählten Abschlussprüfers nach unter Umständen mehrjähriger Verfahrensdauer rückwirkend für nichtig erklärt wird. Die wichtige Frage, wie mit den in der Zwischenzeit von dem inhabilen Prüfer durchgeführten Prüfungen und etwaigen Folgewirkungen umgegangen werden soll, bleibt dabei offen. Der Vorrang des Ersetzungsverfahrens nach § 318 Abs. 3 HGB gilt sowohl für die Anfechtungsklage als auch für die Nichtigkeitsklage. Dies war ursprünglich in § 249 Abs. 1 Satz 1 AktG i. d. F. des BilReG durch die Verweisung auf § 243 Abs. 3 AktG (damals Nr. 2) ausdrücklich angeordnet. Später ist § 249 AktG durch das UMAG neugefasst worden, wobei die Verweisung gestrichen wurde.22 Mit dieser Änderung sollte der Vorrang des Ersetzungsverfahrens auch bei der Nichtigkeitsklage allerdings nicht aufgehoben werden; die Streichung war vielmehr ein Redaktionsversehen.23 § 249 AktG ist deshalb mit der h. M. berichtigend dahin zu lesen, dass der Ausschluss gemäß § 243 Abs. 3 Nr. 3 AktG nach wie vor auch für die Nichtigkeitsklage gilt.24 Andernfalls wäre der Zweck des Ausschlusses nicht ausreichend sichergestellt. Unabhängig davon ist aber auch festzuhalten, dass die persönlichen Ausschlussgründe nach § 318 Abs. 3 Satz 1 HGB gar keine Nichtigkeitsgründe i. S. von § 241 AktG, insbesondere dessen Nr. 3, darstellen.25 Der Ausschluss der Anfechtbarkeit gemäß § 243 Abs. 3 Nr. 3 AktG schränkt den Rechtschutz der Aktionäre nicht übermäßig ein. Er gilt nur im Rahmen der Gründe eines Ersetzungsverfahrens nach § 318 Abs. 3 HGB; eine Anfechtung des Bestellungsbeschlusses aus anderen Gründen bleibt möglich. Das Ersetzungsverfahren bietet dem Aktionär zudem den Vorteil, dass das Gericht die entscheidungserheblichen Tatsachen von Amts wegen zu ermitteln hat (§ 26 FamFG). Allerdings steht das Verfahren – im Unterschied zur Anfechtungsklage – nicht jedem Aktionär, sondern nur solchen Aktionären zu, deren Anteile bei Antragstellung allein oder zusammen mit anderen Aktionären 5 % des

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22 Vgl. Art. 1 Nr. 25 des Gesetzes zur Unternehmensintegrität und Modernisierung des Anfechtungsrechts (UMAG) v. 22.9.2005, BGBl. I 2005, 2802. 23 Vgl. Begr. RegE UMAG in BT-Drucks. 15/5092 v. 14.3.2005, S. 67 f., wo diese Frage offenbar übersehen wurde. 24 Hüffer, 9. Aufl. 2010, § 249 AktG Rz. 1 und 12a; Hüffer in MünchKomm. AktG, 3. Aufl. 2011, § 249 AktG Rz. 1 und 18; Englisch in Hölters, 2011, § 243 AktG Rz. 80; Paal, DStR 2007, 1210, 1215 f.; Ebke in MünchKomm. HGB, 2. Aufl. 2008, § 318 HGB Rz. 52; Förschle/Heinz in BilanzKomm., 8. Aufl. 2012, § 318 HGB Rz. 17; W. Müller in KölnKomm. z. Rechnungslegungsrecht, 2011, § 318 HGB Rz. 5 und 76; Schüppen in Heidel/Schall, 2011, § 318 HGB Rz. 8: für analoge Anwendung Schwab in K. Schmidt/Lutter, 2. Aufl. 2010, § 243 AktG Rz. 15 und § 249 AktG Rz. 5; abl. Heidel in AktR, 3. Aufl. 2011, § 249 AktG Rz. 3a. 25 W. Müller in KölnKomm. z. Rechnungslegungsrecht, 2011, § 318 HGB Rz. 5 und 76.

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Grundkapitals oder einen Börsenwert von 500.000 Euro erreichen (§ 318 Abs. 1 Satz 1 HGB). Der Antrag auf die gerichtliche Ersetzung kann außerdem nur innerhalb von zwei Wochen nach dem Tag der Wahl des Abschlussprüfers gestellt werden (§ 318 Abs. 1 Satz 2 HGB). Darüber hinaus stehen dem Aktionär weitere Rechtsbehelfe zur Verfügung. Sollten etwa Fragen im Zusammenhang mit der Bestellung des Abschlussprüfers in der Hauptversammlung nicht ausreichend beantwortet worden sein, kann der Aktionär ein Auskunftserzwingungsverfahren gemäß § 132 AktG einleiten. Falls im Zusammenhang mit der Wahl des Abschlussprüfers Anhaltspunkte für ein Fehlverhalten von Vorstand und/oder Aufsichtsrat gegeben sind, kann der Aktionär auch die Bestellung eines Sonderprüfers gemäß § 142 Abs. 1 AktG beantragen und bei Ablehnung dieses Antrags durch die Hauptversammlung die gerichtliche Bestellung einen solchen Prüfers nach § 142 Abs. 2 AktG betreiben.26 1. Reichweite der Anfechtungseinschränkung Die Anfechtungs- und Nichtigkeitsklage ist gemäß § 243 Abs. 3 Nr. 3 AktG für alle Gründe ausgeschlossen, die ein Verfahren nach § 318 Abs. 3 HGB rechtfertigen. Mit dieser weiten Formulierung sind sämtliche Gründe erfasst, die eine Ersetzung des gewählten Prüfers aus einem in seiner Person liegenden Grund als geboten erscheinen lassen. Der Hauptfall, um den es dabei geht, ist die Befangenheit des Prüfers. Diese allgemeine Voraussetzung für ein Ersetzungsverfahren wird durch die Ausschlussgründe gemäß § 319 Abs. 2 bis 5 sowie §§ 319a und 319b HGB ergänzt und konkretisiert. Nach § 319 Abs. 2 HGB geht es dabei um alle objektiven Gründe für eine Besorgnis der Befangenheit des Prüfers. § 319 Abs. 3 HGB konkretisiert diese Generalklausel sodann anhand einer Aufzählung unwiderleglicher gesetzlicher Vermutungen. Alle diese Ausschließungsgründe gelten sowohl für den einzelnen Prüfer als auch für Prüfungsgesellschaften und für den Prüfer des Einzelabschlusses ebenso wie für den Prüfer des Konzernabschlusses (§ 319 Abs. 4 und 5 HGB). Für kapitalmarktorientierte Unternehmen ist die Liste der gesetzlichen Ausschlussvermutungen noch erweitert (§ 319a HGB). Diese Ausschlussgründe gelten grundsätzlich auch, wenn sie nur bei einem Mitglied des Netzwerks des Prüfers verwirklicht sind (§ 319a HGB). 2. Verbleibende Anfechtungsmöglichkeiten im Einzelnen Der Zweck des Vorrangs des Ersetzungsverfahrens nach § 318 Abs. 3 HGB, eine möglichst wirksame Prüferbestellung zu gewährleisten, wird mit der gesetzlichen Regelung nur zum Teil erreicht. Ausgeschlossen ist eine Anfechtungsund Nichtigkeitsklage nämlich nur für den Anwendungsbereich des § 318 Abs. 3 HGB, im Wesentlichen also bei Vorliegen eines Befangenheitsgrundes

__________ 26 Vgl. z. B. OLG Hamburg, BeckRS 2011, 9369, S. 7; dazu auch die kurze Anmerkung Breschendorf, GWR 2011, 234.

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des gewählten Prüfers. Außerhalb dieses Anwendungsbereichs kann der Beschluss der Hauptversammlung über die Bestellung des Abschlussprüfers sowohl mit der Anfechtungs- als auch der Nichtigkeitsklage angegriffen werden. Denkbare Gründe dafür können z. B. Fehler in der Einberufung der Hauptversammlung,27 in der Bekanntmachung des Wahlvorschlags für den Abschlussprüfer28 oder Fehler bei der Versammlungsleitung29 sein. Anfechtbar ist der Bestellungsbeschluss auch dann, wenn der Wahlvorschlag entgegen § 124 Abs. 3 Satz 1 AktG nicht vom Aufsichtsrat, sondern fälschlich vom Vorstand oder von Vorstand und Aufsichtsrat gemeinsam unterbreitet wurde.30 Unklar ist, inwieweit auch Fehler bei der Auskunftserteilung in der Hauptversammlung zur Anfechtbarkeit des Beschlusses über die Bestellung des Abschlussprüfers führen können. Diese Frage ist deshalb von besonderem Interesse, weil die Verletzung des Auskunftsrechts – wie eingangs festgestellt wurde – einer der am häufigsten geltend gemachten Anfechtungsgründe ist, auf die Anfechtungsklagen gestützt werden. Sollte die Anfechtbarkeit insoweit nicht ausgeschlossen sein, würde dies den Vorrang des Ersetzungsverfahrens und damit den Schutz der Gesellschaften vor unwirksamen Prüferbestellungen erheblich einschränken. Eine weitere, bislang nicht entschiedene Frage ist, ob auch Fehler der Entsprechenserklärung gemäß § 161 AktG zu einer Anfechtbarkeit des Beschlusses über die Prüferbestellung führen können. Beiden Fragen soll im Folgenden nachgegangen werden. a) Verletzung des Auskunftsrechts Aufgrund der zahlreichen, auf eine Verletzung des Auskunftsrechts gestützten Anfechtungsklagen hat sich eine umfangreiche Judikatur zu den Voraussetzungen und Grenzen des Auskunftsrechts gemäß § 131 AktG und der Relevanz einer Verletzung für die Anfechtung im Einzelfall entwickelt. Der Relevanzgedanke wurde zudem in § 243 Abs. 4 Satz 1 AktG gesetzlich verankert. Danach kann wegen unrichtiger, unvollständiger oder verweigerter Erteilung von Informationen nur angefochten werden, wenn ein objektiv urteilender Aktionär die Erteilung der Information als wesentliche Voraussetzung für die sachgerechte Wahrnehmung der Teilnahme- und Mitgliedschaftsrechte des Aktionärs angesehen hätte. Der Tagesordnungspunkt „Wahl des Abschlussprüfers“ gehört zwar zu den Routinepunkten jeder ordentlichen Hauptversammlung. Gleichwohl werden auch dazu häufig Fragen gestellt und deren angeblich ungenügende Beantwor-

__________ 27 Vgl. z. B. OLG Frankfurt, WM 2010, 1656; aufgehoben und zurückverwiesen durch BGH, WM 2011, 1811. 28 Dieser Fall wird in Begr. RegE BilReG, BT-Drucks. 15/3419, S. 55, ausdrücklich als verbleibender Anfechtungsgrund erwähnt. 29 Vgl. z. B. OLG Bremen, AG 2010, 256 (fehlende Abstimmung über Antrag auf Abberufung des Versammlungsleiters); LG München I, BB 2010, 1111 (fehlende Übertragung der Hauptversammlung ins Foyer); zu derartigen Fehlern generell MarschBarner in FS Brambring, 2011, S. 247 ff. 30 Vgl. BGH, AG 2003, 319.

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tung zum Gegenstand einer Anfechtungsklage gemacht. Solche Fragen beziehen sich meist auf die Prüfungstätigkeit im Zusammenhang mit dem vorgelegten Jahresabschluss, auf Leistungen des Abschlussprüfers außerhalb der Prüfung, auf die Vergütung oder etwaige Interessenkonflikte wegen der Prüfungstätigkeit bei anderen Gesellschaften.31 Nicht selten werden auch Verstöße gegen Bilanzierungsvorschriften behauptet; dem Abschlussprüfer wird dann vorgeworfen, diese Verstöße pflichtwidrig nicht beanstandet zu haben. In den veröffentlichten Entscheidungen ging es z. B. um den richtigen Ausweis von Beteiligungen,32 um Devisenspekulationen,33 die Unterlassung von angeblich notwendigen Rückstellungen34 sowie um ein berufsrechtliches Verfahren gegen den Abschlussprüfer und dessen eventuelle Auswirkungen auf das Testat.35 Gegenstand eines jüngeren Verfahrens in München waren angeblich unzulässige Buchungen im Zusammenhang mit der Einzahlung der Einlagen auf eine frühere Kapitalerhöhung, fehlende Angaben zu Zahlungen an die Anwaltskanzlei, welcher der Aufsichtsratsvorsitzende angehörte, sowie den möglichen Untergang eines Verlustvortrags.36 Insgesamt haben die Nachfragen der Aktionäre im Zusammenhang mit der Wahl des Abschlussprüfers eher nachgelassen. Dies beruht darauf, dass über viele Einzelaspekte der Prüfertätigkeit, die früher häufig Gegenstand von Fragen waren, inzwischen im Anhang zum Jahresabschluss detailliert berichtet werden muss. Dies gilt vor allem für die geschäftlichen, finanziellen und persönlichen Beziehungen des Abschlussprüfers zur Gesellschaft, die Erbringung zusätzlicher Dienstleistungen, die Aufgliederung des Honorars sowie den regelmäßigen Wechsel in der Leitung des Prüfungsteams (§§ 319 Abs. 3, 319a HGB). Damit sind alle relevanten Aspekte, die sich auf die Unabhängigkeit des Abschlussprüfers beziehen, bereits im Geschäftsbericht dargelegt. Wird die auf eine Verletzung des Auskunftsrechts gestützte Anfechtungsklage abgewiesen, so geschieht dies meist deshalb, weil die verlangten Auskünfte für die Wahl des Abschlussprüfers entweder nicht erforderlich oder die erteilten Antworten ausreichend waren. Einige neuere Klageabweisungen stützen sich allerdings auf einen Ausschluss der Anfechtbarkeit gemäß § 243 Abs. 3 Nr. 3 AktG.37 Da dieser Ausschlussgrund erst seit Anfang 200538 gilt, ist die geringe

__________ 31 Vgl. Decher in Hopt/Wiedemann, 4. Aufl. 2001, § 131 AktG Rz. 193; Kubis in MünchKomm. AktG, 2. Aufl. 2004, § 131 AktG Rz. 57; Spindler in K. Schmidt/Lutter, 2. Aufl. 2010, § 131 AktG Rz. 55. 32 OLG Frankfurt, AG 1991, 206. 33 LG Braunschweig, AG 1991, 36, 37 – Devisenskandal VW. 34 OLG Frankfurt, NZG 2008, 429, 430, wobei die gestellten Fragen letztlich als unerheblich im Zusammenhang mit der Wahl des Abschlussprüfers gewertet wurden. 35 Vgl. LG Frankfurt, AG 1992, 235, 236 – Hornblower Fischer. 36 LG München I, BeckRS 2007, 16240, S. 23 = EWiR § 243 AktG 1/08 33 Jungmann; OLG München, WM 2009, 265, 270 = WuB H. 8/2009 II. A. § 243 AktG 1.09 Soehring; zur Beurteilung ähnlicher Fragen teilweise abw. OLG Frankfurt v. 23.7.2010 – 5 W 91/09, BeckRS 2010, 21954, S. 10 ff. im Auskunftsverfahren. 37 Vgl. neben LG München I und OLG München (beide Fn. 36) noch OLG Frankfurt, NZG 2008, 429, 430 zur Unterlassung von Rückstellungen. 38 Vgl. Art. 5 BilReG v. 4.12.2004, BGBl. I 2004, 3166, 3178 f.

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Anzahl dieser Entscheidungen nicht überraschend. Zu fragen bleibt jedoch, ob die Anfechtung des Beschlusses über die Bestellung des Abschlussprüfers tatsächlich auch dann ausgeschlossen ist, wenn es nicht unmittelbar um Befangenheitsgründe in der Person des Prüfers, sondern um die unzureichende Beantwortung von Fragen zu zurückliegenden Vorgängen geht, die möglicherweise eine Befangenheit des Prüfers begründen. In dem erwähnten Münchener Fall waren dies u. a. Fragen zu angeblich unzulässigen Buchungen im Zusammenhang mit der Leistung der Einlagen auf eine vor zwei Jahren durchgeführte Kapitalerhöhung. Stellt man auf die Verletzung des Auskunftsrechts als Begründung der Anfechtungsklage ab, so könnte man meinen, dass es bei den genannten Fragen nicht um einen Grund geht, der ein Verfahren nach § 318 Abs. 3 HGB rechtfertigt.39 Ob das Auskunftsrecht verletzt wurde, kann nämlich nicht im Ersetzungsverfahren nach § 318 Abs. 3 HGB, sondern nur im Anfechtungsverfahren nach § 243 AktG oder in einem Auskunftserzwingungsverfahren nach § 132 AktG geklärt werden. Bei der Anfechtungsklage geht es aber nicht nur um die abstrakte Feststellung einer Verletzung des Auskunftsrechts. Ziel der Klage ist vielmehr, den Beschluss der Hauptversammlung über die Bestellung des Abschlussprüfers wegen des behaupteten Gesetzesverstoßes für nichtig erklären zu lassen. Nur diese Nichtigerklärung wird mit der Klage beantragt. Für die Anwendbarkeit des § 243 Abs. 3 Nr. 3 AktG muss deshalb gefragt werden, ob die vom Kläger zur Nichtigerklärung des Bestellungsbeschlusses vorgetragenen Gründe geeignet sind, ein Verfahren nach § 318 Abs. 3 HGB einzuleiten. Diese Frage lässt sich grundsätzlich bejahen, da es in dem Verfahren nach § 318 Abs. 3 HGB um die Ablösung und Ersetzung des Abschlussprüfers geht, allerdings nur, wenn ein Ausschlussgrund in der Person des Prüfers oder nach den §§ 319 ff. HGB vorliegt. Die Verletzung des Auskunftsrechts als solche ist sicherlich kein Ausschlussgrund. Ein Ausschlussgrund kann sich aber aus den Vorgängen ergeben, auf die sich die in der Hauptversammlung gestellten Fragen beziehen. Dies ist etwa der Fall, wenn danach gefragt wird, ob der vorgeschlagene Prüfer in irgendeiner Weise bei der Führung der Bücher oder der Aufstellung des zu prüfenden Jahresabschlusses mitgewirkt hat. Eine solche Frage bezieht sich unmittelbar auf einen gesetzlichen Befangenheitsgrund (vgl. § 319 Abs. 3 Nr. 3 HGB). Wird eine Anfechtungsklage auf die unzureichende Beantwortung einer solchen Frage gestützt, so geht es um einen Sachverhalt, der ein Ersetzungsverfahren rechtfertigen kann. Eine auf diesen Sachverhalt gestützte Anfechtungsklage ist durch § 243 Abs. 3 Nr. 3 AktG ausgeschlossen. Konsequenterweise muss sich dieser Ausschluss auch auf eine Anfechtungsklage wegen unbeantworteter Fragen zu diesem Sachverhalt erstrecken, da der Ausschluss andernfalls leicht umgangen werden könnte. Nur damit wird sichergestellt, dass das Ersetzungsverfahren des § 318 Abs. 3 HGB im Anwendungsbereich der §§ 319, 319a und 319b HGB strikten Vorrang vor der Anfechtungs- und Nichtigkeitsklage hat.

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39 So in der Tat die Argumentation von Heidel in Heidel, 3. Aufl. 2011, § 243 AktG Rz. 36c.

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In dem erwähnten Münchener Verfahren ging es allerdings nicht um Fragen zur bevorstehenden Abschlussprüfung, sondern um angeblich unzulässige Buchungen in einem früheren Geschäftsjahr. Die unterlassene Beanstandung dieser Buchungen durch den damaligen und nunmehr zur Wiederwahl anstehenden Abschlussprüfer kann durchaus ein in der Person des Prüfers liegender Grund sein, der ein Ersetzungsverfahren gemäß § 318 Abs. 3 HGB rechtfertigt. Sie kann insbesondere ein Indiz für die fehlende Qualifikation des vorgeschlagenen Prüfers sein und damit Zweifel an einer ordnungsgemäßen Durchführung der Prüfung begründen.40 Eine Anfechtung der Prüferwahl kann deshalb auch nicht auf die unzureichende Beantwortung solcher Fragen gestützt werden, die zu früheren Vorgängen als Vorfragen zur aktuellen Qualifikation oder Befangenheit des gewählten Prüfers gestellt werden. Von diesen Fällen zu unterscheiden ist die Beantwortung von Fragen, die keinen unmittelbaren oder mittelbaren Bezug zur Qualifikation oder Befangenheit des vorgeschlagenen Prüfers haben. Wird in der Hauptversammlung z. B. danach gefragt, ob der Aufsichtsrat vor der Unterbreitung seines Wahlvorschlags eine Unabhängigkeitserklärung des Abschlussprüfers im Sinne von Ziffer 7.2.1 Satz 1 DCGK eingeholt habe und wird diese Frage fälschlich bejaht,41 so ist eine darauf gestützte Anfechtungsklage gegen den Wahlbeschluss nicht durch § 243 Abs. 3 Nr. 3 AktG ausgeschlossen. Dass von dem vorgeschlagenen Prüfer (noch) keine vom Kodex empfohlene Unabhängigkeitserklärung eingeholt wurde, ist kein Grund für die Einleitung eines Ersetzungsverfahrens gemäß § 318 Abs. 3 HGB. Ein Ersetzungsgrund liegt weder in der Person des Prüfers noch als Ausschlussgrund nach §§ 319, 319a HGB vor. Das Fehlen der Unabhängigkeitserklärung enthält auch keine Aussage darüber, ob der vorgeschlagene Prüfer tatsächlich unabhängig ist oder nicht. Die unzutreffende Antwort ist deshalb ein von § 243 Abs. 3 Nr. 3 AktG nicht erfasster Verstoß gegen § 131 AktG. Auf diesen Verstoß kann deshalb eine Anfechtung des Beschlusses über die Wahl des Abschlussprüfers gestützt werden. Die Gesetzesverletzung ist grundsätzlich auch relevant. Die Einholung der Unabhängigkeitserklärung dient gerade dazu, die Unabhängigkeit des vorgeschlagenen Prüfers zu dokumentieren. Eine zutreffende Information darüber ist deshalb eine wesentliche Voraussetzung für die sachgerechte Abstimmung. b) Fehlerhafte Entsprechenserklärung Fraglich ist, ob eine Anfechtung der Wahl des Abschlussprüfers auch auf eine fehlerhafte Entsprechenserklärung gemäß § 161 AktG gestützt werden kann und, falls dies zu bejahen sein sollte, ob eine solche Anfechtung gemäß § 243 Abs. 3 Nr. 3 AktG ausgeschlossen sein kann. Während verschiedene Instanzgerichte die Anfechtbarkeit der Aufsichtsratswahl aus einem solchen Grund

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40 Vgl. Merkt in Baumbach/Hopt, 35. Aufl. 2012, § 318 HGB Rz. 6. 41 Ob die Antwort vom Vorstand oder – mit dessen Einvernehmen – vom Aufsichtsratsvorsitzenden gegeben wird, macht dabei keinen Unterschied. Zur Auskunftserteilung durch den Aufsichtsratsvorsitzenden s. Butzke, Die Hauptversammlung der Aktiengesellschaft, 5. Aufl. 2011, G 28.

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bejaht haben,42 sind die Meinungen in der Literatur geteilt: Die überwiegende Ansicht43 lehnt eine Anfechtbarkeit der Aufsichtsratswahl wegen fehlerhafter Entsprechenserklärung ab; andere halten in solchen Fällen dagegen auch Wahlbeschlüsse und damit auch Beschlüsse zur Bestellung des Abschlussprüfers grundsätzlich für anfechtbar.44 aa) Unwirksamer Wahlvorschlag Die Wahl des Abschlussprüfers könnte dann anfechtbar sein, wenn der Wahlvorschlag des Aufsichtsrats im Widerspruch zu seiner Entsprechenserklärung steht. Hat der Aufsichtsrat erklärt, dass er allen Empfehlungen des DCGK folgen will, vor Unterbreitung seines Wahlvorschlags an die Hauptversammlung aber entgegen der Empfehlung in Ziffer 7.2.1 Satz 1 DCGK keine Unabhängigkeitserklärung des vorgeschlagenen Prüfers eingeholt, so ist nach Ansicht des OLG München der Wahlvorschlag wegen Widerspruchs zur Entsprechenserklärung und zu dem durch diese begründeten Vertrauenstatbestand nichtig.45 Dieser Ansicht kann mit der überwiegenden Literaturmeinung jedoch nicht gefolgt werden.46 Hat der Aufsichtsrat tatsächlich keine Unabhängigkeitserklärung eingeholt und legt er dies nicht umgehend durch eine Abweichungserklärung vom Kodex offen, so liegt darin zweifellos ein Verstoß gegen die Verpflichtungen aus § 161 AktG.47 Dieser Verstoß betrifft aber nur die Beachtung des § 161 AktG und berührt nicht den Inhalt des Wahlvorschlages für die Prüferwahl. Der Verstoß mag daher eine Anfechtung des Beschlusses über die Entlastung des Aufsichtsrates rechtfertigen. Die Wirksamkeit der auf der Grundlage des Wahlvorschlags erfolgten Wahl des Abschlussprüfers wird dadurch aber nicht in Frage gestellt. Andernfalls würde die Verpflichtung zur Abgabe bzw. Korrektur einer Entsprechenserklärung über den Wortlaut des § 161 AktG hinaus zu einer Pflicht zur Befolgung der Kodexempfehlungen ausgeweitet.48 Diese haben aber keine Gesetzesqualität und sind auch als sog. soft law nicht verbindlich.

__________ 42 43 44 45

S. die Angaben in Fn. 10. S. die Angaben in Fn. 46. Habersack in FS Goette, 2011, S. 121, 124; Waclawik, ZIP 2011, 885, 891. Vgl. OLG München, ZIP 2009, 133, 136 – MAN/Piech zur Beachtung einer Altersgrenze nach Ziffer 5.4.1 Abs. 2 DCGK bei der Aufsichtsratswahl. 46 Vgl. Hüffer, 9. Aufl. 2010, § 161 AktG Rz. 31; Hüffer, ZIP 2010, 1979, 1980; Goslar/ von der Linden, DB 2009, 1691, 1696; Kiefner, NZG 2011, 201, 203; Kocher, BB 2010, 264, 266; Rieder, NZG 2010, 737, 738; Marsch-Barner in FS K. Schmidt, 2009, S. 1109, 1112 f.; Tröger, ZHR 175 (2011), 746, 772 f.; LG München, NZG 2008, 150; a. A. Deilmann/Albrecht, AG 2010, 727, 732 f.; Habersack in FS Goette, 2011, S. 121, 123 f. 47 Vgl. zur Aktualisierungspflicht bei der Entsprechenserklärung Hüffer, 9. Aufl. 2010, § 161 AktG Rz. 20; Lutter in KölnKomm. AktG, 3. Aufl. 2012, § 161 AktG Rz. 98; Marsch-Barner in Marsch-Barner/Schäfer, Hdb. börsennotierte AG, 2. Aufl. 2009, § 2 Rz. 68; BGH, NZG 2009, 342, 345, Rz. 19. 48 In diesem Sinne etwa Deilmann/Albrecht, AG 2010, 727, 732.

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In der Praxis der Publikumsgesellschaften wird die Unabhängigkeitserklärung des Abschlussprüfers zudem meist nicht vom Aufsichtsratsplenum, sondern vom Prüfungsausschuss eingeholt, der den Wahlvorschlag des Aufsichtsrates auch im Übrigen vorbereitet.49 Empfiehlt der Prüfungsausschuss gemäß § 124 Abs. 3 Satz 2 AktG einen bestimmten Wahlvorschlag, ohne zuvor die Unabhängigkeitserklärung des empfohlenen Prüfers eingeholt zu haben, so ist nach den Überlegungen des OLG München allenfalls die Empfehlung des Prüfungsausschusses mit einem Mangel behaftet. Mängel dieser Empfehlung schlagen aber nicht ohne Weiteres auf den Wahlvorschlag des Aufsichtsrates durch. Handlungen eines beschließenden Ausschusses sind dem Plenum zwar grundsätzlich zuzurechnen. Dies gilt bei der Vorbereitung des Wahlvorschlages aber nur eingeschränkt. Insbesondere ist der Aufsichtsrat an die Empfehlung des Prüfungsausschusses nicht gebunden. Er hat diese Empfehlung nur in seine eigenen Erwägungen zum Wahlvorschlag einzubeziehen.50 Dabei kann er sich mangels gegenteiliger Anhaltspunkte grundsätzlich darauf verlassen, dass der Prüfungsausschuss die Unabhängigkeitserklärung eingeholt hat. Das Fehlen dieser Erklärung führt deshalb nicht dazu, dass der eigene Wahlvorschlag unwirksam ist. Der Wahlvorschlag ist aber auch dann nicht unwirksam, wenn den Mitgliedern des Aufsichtsrats bei der Beschlussfassung gemäß § 124 Abs. 3 Satz 1 AktG bewusst war, dass (noch) keine Unabhängigkeitserklärung eingeholt wurde.51 Die Empfehlung der Ziffer 7.2.1 Satz 1 DCGK begründet dazu keine rechtliche Verpflichtung. Die unrichtige Entsprechenserklärung verstößt zwar gegen § 161 AktG, berührt aber nicht den Inhalt des Wahlvorschlages. Diese Überlegungen gelten entsprechend, wenn der Aufsichtsrat die Unterbreitung des Wahlvorschlages an die Hauptversammlung auf den Prüfungsausschuss delegiert hat (§§ 107 Abs. 3 Satz 3, 124 Abs. 3 Satz 1 AktG). In der Praxis wird von dieser Möglichkeit bislang jedoch kein Gebrauch gemacht. bb) Informationspflichtverletzung Die Wahl des Abschlussprüfers kann aber deshalb anfechtbar sein, weil die unzutreffende Entsprechenserklärung eine Informationspflichtverletzung gegenüber den Aktionären darstellt und deshalb ein Anfechtungsgrund i. S. von § 243 Abs. 1 AktG i. V. m. § 161 AktG vorliegt. Entscheidend dafür ist, ob die konkrete Unrichtigkeit der Entsprechenserklärung einen inhaltlichen Bezug zur Wahl des Abschlussprüfers hat und ob die für die Anfechtbarkeit erforderliche Relevanz dieser Unrichtigkeit gegeben ist. In seinen beiden Entscheidungen zu § 161 AktG hat der BGH für die Anfechtbarkeit der Entlastungsbeschlüsse darauf abgestellt, dass der Bericht des Aufsichtsrates nicht die in Zif-

__________ 49 Vgl. z. B. § 6 Nr. 3 der Geschäftsordnung für den Prüfungsausschuss der Siemens AG. 50 Rieckers in Spindler/Stilz, 2. Aufl. 2010, § 124 AktG Rz. 33; Ziemons in K. Schmidt/ Lutter, 2. Aufl. 2010, § 124 AktG Rz. 27. 51 So Waclawik, ZIP 2011, 885, 891 unter Berufung auf E. Vetter, NZG 2008, 121, 123 und OLG München, ZIP 2009, 133, 135.

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fer 5.5.3 Satz 1 DCGK vorgesehene Information an die Hauptversammlung enthielt und die Entsprechenserklärung, die insofern keine Abweichung enthielt, bis zur Hauptversammlung unrichtig geblieben war.52 Grund für die Anfechtbarkeit der Entlastungsbeschlüsse war damit letztlich, dass die Hauptversammlung nicht über die Interessenkollision im Aufsichtsrat und deren Behandlung unterrichtet wurde. Eine unzutreffende Information der Hauptversammlung in diesem Sinne liegt aber auch vor, wenn der Aufsichtsrat die Wahl eines Abschlussprüfers vorschlägt, von dem er entgegen Ziffer 7.2.1 Abs. 1 DCGK keine Unabhängigkeitserklärung eingeholt hat, dies in seiner Entsprechenserklärung aber nicht offen legt, so dass bei den Aktionären der unzutreffende Eindruck entsteht, dass diese Erklärung rechtzeitig eingeholt worden ist. Ob der Zweck der Entsprechenserklärung tatsächlich, wovon der BGH ausgeht, in der Information der Hauptversammlung besteht, ist nicht ganz zweifelsfrei. In der Regel wird die Entsprechenserklärung nicht in unmittelbarem zeitlichen Zusammenhang mit der (ordentlichen) Hauptversammlung und der Einladung zu dieser, sondern einige Monate vorher abgegeben.53 Nach der Änderung des § 161 Abs. 2 AktG durch das Bilanzrechtsmodernisierungsgesetz54 ist die Entsprechenserklärung auch nicht nur den Aktionären, sondern der Allgemeinheit dauerhaft zugänglich zu machen. Damit wird allerdings nur der Bedeutung der Erklärung für den Kapitalmarkt Rechnung getragen, wobei die Veröffentlichung auf der Internetseite der Gesellschaft auch früher schon üblich war.55 Die auf EU-Recht56 beruhende Erweiterung der Zugänglichkeit ändert zudem nichts daran, dass die Entsprechenserklärung zumindest auch der Information der gegenwärtigen Aktionäre dienen soll.57 Dies folgt nicht zuletzt aus § 289a HGB, wonach die Entsprechenserklärung als Teil der Erklärung zur Unternehmensführung in den Lagebericht aufzunehmen ist. Da es sich bei der Entsprechenserklärung um eine Dauererklärung handelt, ist deshalb zu verlangen, dass die Erklärung auch und gerade im Zusammenhang mit einer Hauptversammlung richtig ist.58 Ein inhaltlicher Zusammenhang mit den Beschlussfassungen der Hauptversammlung ist allerdings nur bei wenigen Empfehlungen des Kodex gegeben. Er besteht z. B. bei der Empfehlung, die Hauptversammlung über Interessenkonflikte im Aufsichtsrat und deren Behandlung im Bericht des Aufsichtsrats zu

__________ 52 Vgl. BGH, NZG 2009, 342, 346 Rz. 26 und BGH, NZG 2009, 1270, 1272 Rz. 18; Goette in FS Hüffer, 2010, S. 225, 232 f.; Habersack in FS Goette, 2011, S. 121, 124; zust. Spindler, NZG 2011, 1007, 1012. 53 Vgl. z. B. die Entsprechenserklärung der E.ON AG v. 12.12.2011. 54 Vgl. Art. 5 Nr. 9 des Bilanzrechtsmodernisierungsgesetzes (BilMoG) v. 25.5.2009, BGBl. I 2009, 1102, 1122. 55 Vgl. dazu auch die Empfehlung in Ziffer 6.8 DCGK. 56 Vgl. Art. 46a Abs. 2 der Richtlinie 78/660/EWG (Bilanzrichtlinie) i. d. F. der Änderungsrichtlinie 2206/46/EG v. 14.6.2006, ABl. EU L 224, S. 1. 57 BT-Drucks. 14/8769, S. 21; a. A. Tröger, ZHR 175 (2011), 746, 763, 765, wonach § 161 AktG nur die zutreffende Information der Kapitalmärkte sicherstellen will. 58 Vgl. Kiefner, NZG 2011, 201, 204; a. A. Arens/Petersen, Der Konzern 2011, 197, 202, wonach die Entsprechenserklärung nur im Zeitpunkt der Aufstellung des Lageberichts richtig sein muss.

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informieren (Ziffer 5.5.3 DCGK), sowie bei der Empfehlung, bei Vorschlägen zur Wahl von Aufsichtsratsmitgliedern bestimmte Vorgaben zu berücksichtigen (Ziffer 5.4.1 Abs. 3 DCGK). Eindeutigen Hauptversammlungsbezug hat auch die Empfehlung, vor der Unterbreitung des Vorschlags zur Wahl des Abschlussprüfers eine Unabhängigkeitserklärung des vorgesehenen Kandidaten einzuholen (Ziffer 7.2.1 Abs. 1 DCGK). Keinen Hauptversammlungsbezug enthalten dagegen die weiteren Empfehlungen des Kodex, die sich mit der Abschlussprüfung befassen. So soll der Aufsichtsrat nach Ziffer 7.2.1 Abs. 2 und Ziffer 7.2.3 DCGK mit dem Abschlussprüfer bestimmte Berichtspflichten vereinbaren. Diese ergänzende Berichterstattung bezieht sich auf während der Prüfung auftretende mögliche Ausschluss- oder Befangenheitsgründe, auf für die Aufgaben des Aufsichtsrats wesentliche Feststellungen und Vorkommnisse, die sich bei der Durchführung der Abschlussprüfung ergeben sowie auf die Feststellung von Tatsachen, die eine Unrichtigkeit der Entsprechenserklärung bedeuten. Wann diese Absprachen getroffen werden sollen, lässt der Kodex offen. Da es um Informationen geht, die sich möglicherweise bei der Durchführung der Prüfung ergeben, genügt es, wenn die Berichterstattung dazu erst bei der Erteilung des Prüfungsauftrages, also nach der Wahl des Prüfers durch die Hauptversammlung, vereinbart wird. Ob die Entsprechenserklärung im Hinblick auf diese Empfehlungen richtig ist oder nicht, spielt deshalb bei der Beschlussfassung über die Wahl des Prüfers keine Rolle. Etwas anderes könnte allenfalls dann gelten, wenn der Aufsichtsrat entgegen der Entsprechenserklärung gar nicht beabsichtigt, mit dem Abschlussprüfer die im Kodex empfohlenen Berichtspflichten zu vereinbaren. Dieser, wohl kaum vorkommende Fall kann hier aber vernachlässigt werden. cc) Relevanz der Pflichtverletzung Auch wenn die Empfehlung zur Einholung einer Unabhängigkeitserklärung gemäß Ziffer 7.2.1 Abs. 1 DCGK einen inhaltlichen Bezug zum Beschluss der Hauptversammlung über die Wahl des Abschlussprüfers aufweist, bleibt zu klären, ob die Unrichtigkeit der Entsprechenserklärung für die Anfechtbarkeit dieses Beschlusses ausreichend relevant ist.59 Für diese Relevanz stellt der BGH bei der Anfechtung der Entlastungsbeschlüsse darauf ab, ob die Unrichtigkeit einen „nicht unwesentlichen Punkt“ der Erklärung betrifft.60 Zieht man ergänzend § 243 Abs. 4 Satz 1 AktG heran, so muss die richtige Erklärung, also die Offenlegung der Abweichung von Ziffer 7.2.1 Abs. 1 DCGK, eine wesentliche Voraussetzung für die sachgerechte Ausübung des Stimmrechts der Aktionäre sein. Dass diese Voraussetzung erfüllt ist, erscheint zweifelhaft. Welche Bedeutung die vorherige Einholung der Unabhängigkeitserklärung aus der Sicht eines objektiv urteilenden Aktionärs für seine Stimmabgabe hat, kann nur wertend beurteilt werden.61 Aus dieser wertenden Sicht ist zunächst

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59 Ähnlich Kiefner, NZG 2011, 201, 204, 208, der insoweit von einer „doppelten“ oder „zweistufigen“ Relevanzprüfung spricht. 60 Vgl. BGH, NZG 2009, 342, 345, Rz. 19 und BGH, NZG 2009, 1270, 1272, Rz. 18. 61 Den wertenden Aspekt betont auch Tröger, ZHR 175 (2011), 746, 774.

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festzuhalten, dass die Unabhängigkeit des Abschlussprüfers nicht von der Abgabe einer Unabhängigkeitserklärung abhängt. Die insoweit bestehenden Anforderungen ergeben sich vielmehr aus den gesetzlichen und berufsrechtlichen Vorschriften, insbesondere den §§ 319, 319a HGB sowie den §§ 43, 49 WPO und §§ 20 ff. Berufssatzung der Wirtschaftsprüfer.62 Die Unabhängigkeitserklärung ist insoweit nur eine formale Bestätigung; sie erleichtert dem Aufsichtsrat die eigene Überprüfung. Fehlt die Erklärung, so ist der Wahlvorschlag deshalb nicht rechtswidrig. Das Fehlen der Erklärung ist auch kein Indiz für eine Abhängigkeit des vorgeschlagenen Prüfers. Der Aufsichtsrat kann schließlich, z. B. aufgrund der bisherigen Zusammenarbeit, von der Unabhängigkeit des Prüfers auch ohne Unabhängigkeitserklärung überzeugt sein. Wird die Abgabe der Erklärung vor der Unterbreitung des Wahlvorschlags an die Hauptversammlung nur vergessen, so kann sie ohne Nachteil bis zur Hauptversammlung oder auch noch bei der Erteilung des Prüfungsauftrags eingeholt werden. Schon diese Überlegungen zeigen, dass eine auf die fehlende Offenlegung gestützte Anfechtbarkeit des Wahlbeschlusses keine in jedem Falle angemessene Sanktion wäre.63 Eine Entsprechenserklärung, in der das fehlende Einholen der Unabhängigkeitserklärung nicht offen gelegt wird, stellt deshalb nur in Ausnahmefällen einen Anfechtungsgrund dar, so etwa, wenn es für den aktuellen Wahlbeschluss auf den formalen Nachweis der Unabhängigkeit des Prüfers besonders ankommt. Spielt die Unabhängigkeitserklärung bei der Diskussion auf der Hauptversammlung – wie in der Regel – keine Rolle, so besteht kein Anlass, den Wahlbeschluss wegen des Fehlens dieser Erklärung für nichtig zu erklären. Eine solche Rechtsfolge würde dem erklärten Willen des Gesetzgebers zuwiderlaufen, wonach die Wahl des Abschlussprüfers nur in engen Grenzen anfechtbar sein soll. Ein dementsprechend enges Verständnis der erforderlichen Relevanz ist auch im Vergleich zur Anfechtbarkeit wegen Verletzung des Auskunftsrechts gemäß § 131 AktG geboten. Ist die Unabhängigkeitserklärung versehentlich nicht eingeholt worden, ohne dass dies in der Entsprechenserklärung offen gelegt wurde, so ist dies nicht ohne Weiteres dem Fall gleichzusetzen, dass in der Hauptversammlung seitens der Verwaltung auf Nachfrage von Aktionären wahrheitswidrig erklärt wird, die Unabhängigkeitserklärung liege dem Aufsichtsrat vor. Während die Anfechtbarkeit der Wahl im zweiten Fall eine angemessene Sanktion der Verletzung des Auskunftsrechts darstellt (s. oben unter III 2. a) am Ende), ist dies im ersten Fall nur dann anzunehmen, wenn es auf die Unabhängigkeitserklärung für die Beschlussfassung besonders ankommt. c) Ausschluss der Anfechtbarkeit gemäß § 243 Abs. 3 Nr. 3 AktG? Sollte der Beschluss über die Wahl des Abschlussprüfers danach ausnahmsweise wegen einer fehlerhaften Entsprechenserklärung anfechtbar sein, so wäre diese

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62 Vgl. Berufssatzung WP i. d. F. v. 12.2.2010, BAnz S. 453. 63 Im Ergebnis ebenso zu Beschlüssen über die Aufsichtsratswahl Goslar/von der Linden, DB 2009, 1691, 1696; Hüffer, ZIP 2010, 1979, 1981; Rieder, GWR 2009, 25, 28; a. A. Lutter in KölnKomm. AktG, 3. Aufl. 2012, § 161 AktG Rz. 151.

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Anfechtbarkeit nicht durch § 243 Abs. 3 Nr. 3 AktG ausgeschlossen. Das Vorliegen einer uneingeschränkten Entsprechenserklärung trotz fehlender Unabhängigkeitserklärung des zur Wahl vorgeschlagenen Abschlussprüfers gemäß Ziffer 7.2.1 Abs. 1 DCGK ist kein Grund, der ein Ersetzungsverfahren nach § 318 Abs. 3 HGB rechtfertigt. Die Unabhängigkeitserklärung bezieht sich zwar auf das Fehlen von Ausschlussgründen nach §§ 319, 319a HGB. Eventueller Anfechtungsgrund sind aber nicht diese Gründe, sondern die fehlerhafte Information gemäß § 161 AktG. Dies entspricht dem Fall, dass die Wahl des Abschlussprüfers wegen Verletzung des Auskunftsrechts gemäß § 131 AktG angefochten wird (s. oben unter III. 2. a). Beide Fälle sind von einem Ausschluss nach § 243 Abs. 3 Nr. 3 AktG nicht erfasst.

IV. Anerkennung erbrachter Prüfungshandlungen? Wird die Wahl des Abschlussprüfers z. B. wegen Verletzung des Auskunftsrechts erfolgreich angefochten, so ist die Wahl rückwirkend nichtig (§ 248 Abs. 1 Satz 1 AktG).64 Bei der erfolgreichen Anfechtung der Wahl von Aufsichtsratsmitgliedern gilt die rückwirkende Vernichtung der Bestellung im Grundsatz ebenfalls.65 Soweit sich der Rechtsverkehr auf die Beständigkeit der Bestellung von Aufsichtsratsmitgliedern eingestellt hat, wird diese Wirkung aber vielfach eingeschränkt.66 Insbesondere werden bestimmte, nach außen vollzogene Beschlüsse wie die Bestellung oder Abberufung von Vorstandsmitgliedern als wirksam angesehen.67 Von der rückwirkenden Vernichtung des Wahlbeschlusses unberührt bleibt auch z. B. die zwischenzeitliche Mitwirkung des Aufsichtsrates an der Feststellung des Jahresabschlusses (§ 172 AktG) oder an der Ausnutzung eines genehmigten Kapitals (§ 204 Abs. 1 Satz 2 AktG).68 Bis zur Nichtigerklärung der Wahl wirksam sind auch die Handlungen des Vorsitzenden des Aufsichtsrates, der als regelmäßiger Leiter der Hauptversammlung eine besondere Schlüsselrolle mit Außenwirkung wahrnimmt.69 Die Frage liegt nahe, ob diese Grundsätze auch auf die Handlungen eines Abschlussprüfers übertragen werden können, der von der Hauptversammlung gewählt worden ist und auf der Grundlage der Wahl und des anschließenden Prüfungsauftrags die Prüfung des Jahresabschlusses und eventuell auch des

__________ 64 S. dazu die Nachweise oben in Fn. 13. 65 OLG Köln, NZG 2008, 635; Hüffer, 9. Aufl. 2010, § 243 AktG Rz. 6, § 252 AktG Rz. 8; Marsch-Barner in FS K. Schmidt, 2009, S. 1109, 1117; K. Schmidt in Hopt/ Wiedemann, 4. Aufl. 1996, § 252 AktG Rz. 121; Semler in MünchHdb. AG, 3. Aufl. 2007, § 41 Rz. 121; Stilz in Spindler/Stilz, 2. Aufl. 2010, § 252 AktG Rz. 6. 66 Vgl. BGH, NZG 2006, 712, Rz. 14; Bayer/Lieder, NZG 2012, 1, 6 f.; Happ in FS Hüffer, 2010, S. 293, 299 f., 307; Hüffer, 9. Aufl. 2010, § 101 AktG Rz. 18; Marsch-Barner in FS K. Schmidt, 2009, S. 1109, 1126 f.; für eine gesetzliche Klarstellung Baums/ Drinhausen/Keinath, ZIP 2011, 2329, 2351 unter 4. 67 Dazu Schürnbrand, NZG 2008, 609 ff. gegen OLG Köln, NZG 2008, 635; Mertens in KölnKomm. AktG, § 108 AktG Rz. 86 f. 68 Vgl. Happ in FS Hüffer, 2010, S. 293, 298 ff., 307. 69 Vgl. Marsch-Barner in FS K. Schmidt, 2009, S. 1109, 1126 f.; zust. Stilz in Spindler/ Stilz, 2. Aufl. 2010, § 252 AktG Rz. 6.

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Konzernabschlusses durchgeführt hat. Wird der Wahlbeschluss später für nichtig erklärt, so besteht wie bei den Handlungen des Aufsichtsrates ein Interesse der Gesellschaft, aber auch ihrer Gläubiger und Aktionäre, die bis dahin mit der Außenwirkung des Bestätigungsvermerks vorgenommen Prüfungen möglichst nicht in Frage zu stellen. Diesem Bedürfnis würde am besten dadurch entsprochen, dass der Abschlussprüfer bis zur rechtskräftigen Beendigung seiner Stellung wie ein wirksam gewählter Prüfer behandelt wird. Bei Handlungen des Aufsichtsrates wird der entsprechende Bestandsschutz mit der Lehre von der fehlerhaften Organstellung begründet.70 Diesen Gedanken hat der BGH inzwischen auch auf den besonderen Vertreter nach § 147 Abs. 2 AktG übertragen.71 Im Unterschied zu diesen beiden Fällen ist der Abschlussprüfer zwar weder Organ der Gesellschaft noch hat er eine organähnliche Stellung. Er ist lediglich außenstehende Kontrollinstanz mit einer öffentlichen Funktion.72 Die Grundgedanken der Lehre von der fehlerhaften Organstellung treffen aber auch für die Prüfungen des Abschlussprüfers zu. So wird mit der Durchführung der Prüfung die Grundlage für die Feststellung des Jahresabschlusses geschaffen (§ 316 Abs. 1 Satz 2 HGB). Der festgestellte Jahresabschluss wird sodann mit dem Testat im elektronischen Bundesanzeiger bekannt gemacht (§ 325 HGB). Das dadurch begründete Vertrauen der Öffentlichkeit in die Wirksamkeit des Abschlusses ist grundsätzlich schützenswert. Für die Gesellschaft kommt hinzu, dass die Nichtigerklärung der Wahl des Abschlussprüfers zu erheblichen Schwierigkeiten bei der Heilung mehrerer unter Umständen rückwirkend nichtiger Jahresabschlüsse und darauf eventuell beruhender Gewinnausschüttungen führt. Eine Vermeidung dieser Probleme liegt im Interesse der Rechtssicherheit. Gegen eine Behandlung der zwischenzeitlichen Prüfungen und Testate als wirksam kann allerdings eingewandt werden, dass der Gesetzgeber mit den §§ 243 Abs. 3 Nr. 3 und 256 Abs. 1 Nr. 3 AktG die Problematik bereits erkannt und abschließend geregelt habe. Dem lässt sich zwar entgegenhalten, dass der gesetzliche Ausschluss der Anfechtbarkeit der Abschlussprüferwahl nur eine Teilregelung darstellt. Die Fälle, in denen die Wahl des Prüfers aus allgemeinen Gründen wie z. B. einer fehlerhaften Einberufung der Hauptversammlung, Mängeln des Wahlvorschlags oder der Verletzung von Informationsrechten für nichtig erklärt wird, sind vom Ausschluss der Anfechtbarkeit nicht erfasst. Dies hat der Gesetzgeber nach der Begründung zu § 243 Abs. 3 Nr. 3 AktG allerdings gesehen und

__________ 70 Vgl. z. B. Habersack in MünchKomm. AktG, 3. Aufl. 2008, § 101 AktG Rz. 70 f. 71 BGH, NZG 2011, 1383, 1384; ebenso bereits OLG München, NZG 2010, 1392, 1393; zust. Bayer/Lieder, NZG 2012, 1, 8 m. w. N. 72 Während der BGH den Abschlussprüfer in einer früheren Entscheidung (BGHZ 16, 17, 25) noch als Organ bezeichnet hat, besteht heute Einigkeit, dass der Abschlussprüfer kein Organ der Gesellschaft ist, vgl. BayObLG, WM 1987, 1361, 1365; Lutter, Information und Vertraulichkeit, 3. Aufl. 2004, Rz. 323; Claussen/Korth in KölnKomm. AktG, 2. Aufl. 2004, § 318 HGB Rz. 30 f.; Ebke in MünchKomm. HGB, 2. Aufl. 2008, § 316 HGB Rz. 32 f.; Merkt in Baumbach/Hopt, 35. Aufl. 2012, § 318 HGB Rz. 2.

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Anfechtung der Wahl des Abschlussprüfers wegen Verletzung von Informationsrechten

bewusst in Kauf genommen.73 Das Vorgehen des Gesetzgebers war insofern nur nicht konsequent genug. So ist wenig überzeugend, dass ein Verstoß gegen die Befangenheitsregeln der §§ 319, 319a HGB die Wirksamkeit eines geprüften und festgestellten Jahresabschlusses nicht berührt, ein Verstoß gegen allgemeine Einberufungsregeln, die mit der Abschlussprüfung unter Umständen gar nichts zu tun haben, dagegen zur Nichtigkeit der geprüften Abschlüsse führen soll. Daher ist zumindest de lege ferenda zu fordern, dass der auf der Grundlage eines angefochtenen Wahlbeschlusses bestellte Abschlussprüfer bis zur Beendigung seines Mandates generell wie ein fehlerfrei bestellter Prüfer behandelt wird. Eine Ausnahme sollte nur bei gravierenden Beschlussmängeln wie beim Vorliegen von Nichtigkeitsgründen nach § 241 AktG gelten.74

__________ 73 Vgl. Begr. RegE v. 24.6.2004, BT-Drucks. 15/3419, S. 54 f. 74 Ebenso Habersack in FS Goette, 2011, S. 121, 134 zur Aufsichtsratswahl.

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Hanno Merkt

Managerhaftung im Finanzsektor: Status Quo und Reformbedarf Inhaltsübersicht I. Einleitung II. Zur aktuellen Rechtslage bei der Managerhaftung im Finanzsektor 1. Organhaftung nach allgemeinem Aktienrecht a) Das aktienrechtliche Pflichtenprogramm b) Die haftungsrechtliche Sanktionierung dieses Pflichtenprogramms c) D&O-Versicherung 2. Bankrechtliche Organhaftung

IV. Reformbedarf bei der Managerhaftung 1. Zur Zurückhaltung der Gesetzgebung und zur Aufgabenteilung mit der Rechtsprechung 2. Der Beitrag der Rechtsprechung a) Risiko- und Spekulationsgeschäfte b) Angemessene Information und Vertrauen auf Ratingagenturen 3. Informationshaftung 4. Verschuldensmaßstab 5. Durchsetzung der Managerhaftung V. Schlussbemerkung

III. Zur ökonomischen Begründung verschärfter Haftung für Finanzmanager

I. Einleitung Seit dem Beginn der Finanzkrise im Jahre 2007 gehört der Ruf nach einer Verschärfung der Managerhaftung im Finanzsektor zum festen Repertoire der regulierungspolitischen Debatte.1 Denn eine der wesentlichen Ursachen der Krise wird nach verbreiteter Einschätzung im Versagen der Bankenmanager gesehen. Diese Einschätzung findet Bestätigung in einer Reihe von spektakulären Fällen des Missmanagements in Banken, genannt seien die Fälle IKB, HRE, WestLB, HSH-Nordbank und BayernLB im Zuge des Kaufs der maroden Hypo Alpe Adria oder auch der Fall des Bankhauses Sal. Oppenheim im Zusammenhang mit dem Verkauf von Karstadt Immobilien an die Oppenheim-EschFonds. Aber es gibt nicht nur anekdotische Belege. Branchenweit ist die Zahl der Haftpflichtfälle seit 2007 auf das Dreifache angestiegen.2 Die Frage lautet: Ist dies ein Beleg dafür, dass unser System der Managerhaftung im Finanzsektor im Grunde gut funktioniert, dass also dort, wo Haftungsbedarf besteht, auch angemessen gehaftet wird, oder zeigt dieser Befund nur, dass die Präven-

__________ 1 Etwa Hellwig in Hellwig/Höfling/Zimmer, Gutachten E/F/G zum 68. Deutschen Juristentag 2010, E 51 f. 2 Handelsblatt v. 31.1.2011, S. 12 und v. 21.2.2011, S. 32.

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tionswirkung der Haftung unzulänglich ist und wir deshalb Nachholbedarf haben? Im Folgenden soll der Frage nachgegangen werden, ob eine Verschärfung der Haftung von Managern in Finanzinstituten angezeigt erscheint. Dabei soll der Begriff der Managerhaftung in zweierlei Hinsicht qualifiziert werden. Erstens soll es nur um die zivilrechtliche Haftung, also die Haftung auf Schadensersatz aus gesellschafts- oder kapitalmarktrechtlichen Haftungstatbeständen gehen. Ausgeklammert bleibt die strafrechtliche Verantwortlichkeit, etwa wegen Untreue oder Bestechung bzw. die nebenstrafrechtliche Verantwortlichkeit für unrichtige Bilanzierung.3 Zweitens soll es nicht nur um die Haftung gehen, sondern um die zivilrechtliche Verantwortlichkeit in einem weiteren Sinn. Insbesondere soll die Sorgfaltspflichtverletzung einbezogen werden, deren Verdacht die gerichtliche Bestellung eines Sonderprüfers rechtfertigt. Zu beachten ist außerdem, dass die Diskussion um die Mangerhaftung im Finanzsektor nicht isoliert geführt werden sollte. Vielmehr ist zu berücksichtigen, dass sich die Manager- und speziell die Organhaftung in ein ganzes System von direkten und indirekten Steuerungsmechanismen einfügt. Dazu gehört vor allem das Aufsichtsrecht mit zahlreichen Kontroll- und Eingriffsbefugnissen der Finanzmarktaufsicht,4 was hier aber nicht behandelt werden soll.

II. Zur aktuellen Rechtslage bei der Managerhaftung im Finanzsektor Für die typische Bank-AG, um die es im Weiteren gehen soll, ist das geltende deutsche Recht der Managerhaftung gekennzeichnet durch eine Zwei-EbenenStruktur: Auf der ersten Ebene unterliegen Vorstände und Aufsichtsräte von Finanzinstituten in der Rechtsform der AG dem allgemeinen aktienrechtlichen Pflichten- und Haftungsprogramm. Auf der zweiten Ebene wird dieses Pflichtenprogramm ergänzt und ausgebaut durch eine ganze Reihe von Spezialregelungen des Kreditwesengesetzes. Insgesamt unterliegen damit die Manager von Finanzinstituten einem gegenüber den Managern anderer Branchen erweiterten und verschärften Pflichten- und Haftungsprogramm. 1. Organhaftung nach allgemeinem Aktienrecht Das aktienrechtliche Pflichtenprogramm ist umfassend angelegt und umfasst vier verschiedene Pflichten: die Legalitätspflicht, die Sorgfalts- und Treuepflicht gegenüber der Gesellschaft, die Überwachungs- und Organisationspflicht und die Leitungspflicht. Jede dieser vier Pflichten enthält wiederum verschiedene Einzelpflichten.

__________ 3 Dazu etwa Rieder/Holzmann, AG 2011, 266 f. 4 Hopt, EuZW 2010, 561.

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Managerhaftung im Finanzsektor: Status Quo und Reformbedarf

a) Das aktienrechtliche Pflichtenprogramm So setzt sich die Legalitätspflicht aus einer internen und einer externen Pflichtenbindung zusammen. Während die interne Pflichtenbindung die Beachtung des Aktiengesetzes, der Satzung und etwa geltender Geschäftsordnungen umfasst, geht es bei der externen Pflichtenbindung um die Beachtung von unterschiedlichsten gesetzlichen Verhaltenspflichten gegenüber Außenstehenden, nicht am gesellschaftsrechtlichen Rechtsverhältnis Beteiligten, etwa des Wettbewerbsrechts, des Kartellrechts, des Steuerrechts, des Arbeitsrechts, des Sozialversicherungsrechts oder des Umweltrechts. Allerdings stellt jede Verletzung der externen Pflichtenbindung zugleich und automatisch eine Verletzung der internen Bindung dar. Auch hinter der Sorgfalts- und Treuepflicht verbergen sich zwei recht unterschiedliche Einzelpflichten, wie sich schon aus der Bezeichnung ergibt. Die Überwachungs- und Organisationspflicht verklammert die Pflicht zur Überwachung der anderen Mitglieder des Kollegialorgans sowie der nachgeordneten Führungsebenen, auch Compliance genannt, mit der Pflicht zur Risikokontrolle und zur Einrichtung effektiver unternehmensinterner Informationssysteme. Die Leitungspflicht schließlich, verschiedentlich auch als Sorgfaltspflicht im engeren Sinn bezeichnet, umfasst die Pflicht zur Geschäftsführung, die Gesamtverantwortung der Organmitglieder und den Grundsatz ihrer Eigenverantwortlichkeit. Die Rechtsprechung verleiht diesen Vorschriften Biss, wie sich an einzelnen Entscheidungen immer wieder ablesen lässt. So entschied das OLG Köln, dass der Vorstand streng an den Unternehmensgegenstand der Satzung gebunden ist. Er darf ihn weder über- noch unterschreiten.5 Ferner entschied der BGH wiederholt, dass die Geschäftsführung an die gesellschaftsinternen Zuständigkeitsregelungen zugunsten von Aufsichtsrat bzw. Gesellschafterversammlung gebunden ist. Ebenso wenig darf der Vorstand „nützliche“ Rechtsbrüche begehen, also solche, die sich für die Gesellschaft vorteilhaft erweisen.6 Die Pflicht zur sorgfältigen Unternehmensleitung umfasst insbesondere die Planung, die Koordination und die Kontrolle des Unternehmens sowie die Besetzung von Führungspositionen. Sie verlangt nach einer Entscheidung des OLG Oldenburg etwa, dass der Vorstand im Fall des Unternehmenskaufs eine „Due Diligence“-Untersuchung des Unternehmens durchführt, sofern gesicherte Informationen über das zu erwerbende Unternehmen fehlen.7 Das ist richtig, denn die Durchführung einer kaufvorbereitenden Due Diligence ist heutzutage absoluter Standard, von dem nur in begründeten Ausnahmefällen abgewichen werden darf. Die Überwachungspflicht des Managements wurde im Jahre 2007 in den Deutschen Corporate Governance Kodex aufgenommen. Nach Ziffer 4.1.3 des Kodex hat der Vorstand für die Einhaltung der gesetzlichen Bestimmungen und der unternehmensinternen Richtlinien zu sorgen und auf deren Beachtung

__________ 5 OLG Köln, CCZ 2009, 72. 6 BGH, NJW 2009, 89 – Siemens-Bestechungsskandal. 7 OLG Oldenburg, NZG 2007, 434.

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durch die Konzernunternehmen hinzuwirken. Diese Pflicht erstreckt sich wegen des Grundsatzes der Gesamtverantwortung auch auf das Verhalten anderer Organmitglieder. Sie umfasst die Einrichtung einer Compliance-Organisation, eines Frühwarnsystems für bestandsgefährdende Risiken (§ 91 Abs. 2 AktG) und die Bestellung eines Compliance Officer. Die Treuepflicht schließlich verlangt, dass das Management in Angelegenheiten der Gesellschaft nur zu deren Wohl und nicht im eigenen Interesse handelt. Der Vorstand darf sich nicht am Unternehmensvermögen bereichern, etwa indem er ihm nicht zustehende Zahlungen veranlasst.8 Teilaspekte der Treuepflicht sind etwa das Wettbewerbsverbot, die Verschwiegenheitspflicht, die Pflicht zur Wahrnehmung von Geschäftschancen für die Gesellschaft und die weitere Pflicht zur außerdienstlichen Rücksichtnahme auf die Interessen der Gesellschaft. b) Die haftungsrechtliche Sanktionierung dieses Pflichtenprogramms aa) Grundsatz: Innenhaftung Grundsätzlich löst die Verletzung einer der dargestellten aktienrechtlichen Verhaltenspflichten eine Haftung des jeweiligen Organmitglieds aus. Allerdings konzentriert sich diese Haftung auf die Gesellschaft. Man spricht insoweit vom Grundsatz der Haftungskonzentration. Nur gegenüber der Gesellschaft, also im Innenverhältnis, wird gehaftet, denn organschaftliche Pflichten hat der Manager nur gegenüber der Gesellschaft. Eine Außenhaftung unmittelbar gegenüber einem geschädigten Dritten, etwa einem Gläubiger oder Kunden, besteht grundsätzlich nicht. Sie wird von der Rechtsprechung des BGH nur ganz ausnahmsweise und unter sehr engen Voraussetzungen angenommen, insbesondere dann, wenn der Manager, was selten vorkommen wird, eine Pflicht in sittenwidriger Weise, etwa vorsätzlich verletzt hat (§ 826 BGB). Diese Linie hat der BGH in einer Entscheidung aus dem Jahre 2008 bedauerlicherweise verlassen, indem er eine Haftung von Geschäftsleitern für leicht fahrlässig erteilte unzutreffende Angaben gegenüber Dritten nach den Grundsätzen des Verschuldens bei Vertragsschluss annahm. Das ist deshalb verfehlt, weil der Gesetzgeber für die Prospekthaftung und die Haftung aus fehlerhafter Ad-Hoc-Mitteilung Vorsatz oder zumindest grobe Fahrlässigkeit verlangt (§ 45 Abs. 1 BörsG, § 13 VerkProspG, §§ 37b Abs. 2, 37c Abs. 2 WpHG).9 bb) Business Judgment Rule Für die Innenhaftung ist sodann die Lehre vom unternehmerischen Entscheidungsermessen von Bedeutung. Wird mit der Haftungsklage eine unternehmerische Ermessensentscheidung angegriffen, dann ist diese Entscheidung nur eingeschränkt überprüfbar. Seit der epochemachenden ARAG/GarmenbeckEntscheidung des BGH kommt eine Haftung von Vorständen und Aufsichts-

__________

8 BGH, NJW 2007, 917; BGH, NZG 2008, 104 und 783. 9 BGH, NZG 2008, 661.

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räten nicht in Betracht, wenn im konkreten Einzelfall die Voraussetzungen des in § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG geregelten Tatbestands der unternehmerischen Entscheidung beachtet wurden. Danach liegt keine haftungsbegründende Pflichtverletzung vor, wenn der Manager bei seiner Entscheidung vernünftigerweise annehmen durfte, auf der Grundlage angemessener Information zum Wohle der Gesellschaft zu handeln. Die Lehre von der unternehmerischen Entscheidung geht bekanntlich zurück auf die Business Judgment Rule des US-amerikanischen Gesellschaftsrechts, deren Zweck darin besteht, Manager in ihrem unternehmerischen Entscheiden vor dem normalen Risiko zu schützen, das mit solchen Entscheidungen unvermeidlich verbunden ist.10 Aus diesem Schutzzweck folgt, dass die Frage der schuldhaften Pflichtverletzung des Managers aus der Sicht des damaligen Entscheidungszeitpunktes zu beurteilen ist. Nachträgliche Entwicklungen und Ereignisse, Erkenntnisse, die erst später verfügbar waren, so insbesondere in Bezug auf Erfolg oder Misserfolg einer Maßnahme, sind für die Prüfung der unternehmerischen Entscheidung ohne Bedeutung und dürfen nicht berücksichtigt werden. Bedeutsam ist zunächst das erste Tatbestandsmerkmal, die unternehmerische Entscheidung. Dort, wo der Vorstand oder Aufsichtsrat in seiner Entscheidung durch das Gesetz gebunden ist, wo ihm also kein Ermessen zusteht, bedarf es keines Ermessensschutzes. Das betrifft insbesondere den gesamten Bereich der Legalitätspflicht. Typisches Anwendungsfeld der Lehre vom unternehmerischen Ermessen ist hingegen der Bereich der Leitungspflicht. An zweiter Stelle im Tatbestand der Business Judgment Rule steht die angemessene Information. Verlangt wird, dass der Geschäftsleiter vernünftigerweise davon ausgehen durfte, auf der Grundlage angemessener Information zu handeln. Hier wiederum neigt die Rechtsprechung leicht dazu, überzogene Anforderungen zu stellen. So verlangt der BGH in einer Entscheidung von 2008, der Geschäftsführer müsse alle verfügbaren Informationsquellen tatsächlicher und rechtlicher Art ausschöpfen.11 Diese Lesart verfehlt die Vorschrift des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG in zweierlei Hinsicht: Erstens verlangt das Gesetz keineswegs, dass alle verfügbaren Informationen berücksichtigt werden. Mit der Beschränkung auf angemessene Information trägt der Gesetzgeber der Tatsache Rechnung, dass Geschäftsleiter Kosten und Zeit der Informationsbeschaffung gegen den Wert der Information abzuwägen haben, und dies im Interesse der Gesellschaft und zur Schonung ihrer Ressourcen. Es dürfte wirtschaftlich bisweilen keinen Sinn machen, wirklich alle verfügbaren Informationen zu sammeln. Zweitens sind die Erkenntnismöglichkeiten im Zeitpunkt der Entscheidung beschränkt. Es kann daher nicht objektiv auf alle verfügbaren Informationen ankommen, sondern nur darauf, dass der Geschäftsleiter subjektiv vernünftigerweise davon ausgehen durfte, auf der Grundlage angemessener Information zu handeln.

__________ 10 Merkt/Göthel, US-amerikanisches Gesellschaftsrecht, 2. Aufl. 2006, Rz. 426 ff. mit umfassenden weiteren Nachweisen. 11 BGH, NJW 2008, 3361 und dazu kritisch Fleischer, NJW 2009, 2337, 2339.

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Im Zusammenhang mit der angemessenen Informiertheit stellt sich in der Praxis gerade auch des Bankenmanagements vielfach die Frage, inwieweit Vorstände oder Aufsichtsräte auf Informationen Dritter vertrauen dürfen, etwa auf Einschätzungen, Expertisen oder Tatsacheninformationen. Dazu hat der BGH im Jahre 2007 in einem insolvenzrechtlichen Fall festgestellt, dass der organschaftliche Vertreter einer Gesellschaft seine Insolvenzantragspflicht nicht schuldhaft verletzt, wenn er bei fehlender Sachkunde zur Klärung des Bestehens der Insolvenzreife der Gesellschaft den Rat eines unabhängigen, fachlich qualifizierten Berufsträgers einholt und nach eigener Plausibilitätskontrolle dem Rat folgt und von einem Insolvenzantrag absieht. Dieser Maßstab lässt sich ohne Weiteres verallgemeinern: Auf Expertenrat darf vertraut werden, solange durch hinreichend sorgfältige Auswahl des Experten und ebenso hinreichende Plausibilitätskontrolle ausgeschlossen bleibt, dass der Rat nicht als bloße formale Legitimation einer zuvor bereits getroffenen Entscheidung missbraucht wird. Bedeutsam ist schließlich im Zusammenhang mit der business judgment rule die Verteilung der Darlegungs- und Beweislast. Anders als im US-amerikanischen Recht, wo grundsätzlich vermutet wird, dass der Manager bei seiner Entscheidung die Anforderungen der Business Judgment Rule beachtet hat und der Kläger diese Vermutung entkräften muss, hat der Manager nach deutschem Recht darzulegen und zu beweisen, dass er die Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters beachtet hat.12 Das gilt gemäß § 34 Abs. 2 Satz 2 GenG auch für die Vorstandsmitglieder einer Genossenschaftsbank. Damit ist die Business Judgment Rule in ihrer managerschützenden Wirkung in einem wichtigen Punkt deutlich abgeschwächt und umgekehrt die Managerhaftung im Vergleich zu den USA verschärft. c) D&O-Versicherung Eine natürliche Reaktion auf die vergleichsweise strenge Haftung besteht darin, sich gegen dieses Haftungsrisiko im Wege der D&O-Versicherung abzusichern. Dabei stammt die Idee einer Manager-Haftpflichtversicherung entgegen landläufiger Meinung nicht etwa aus den USA. Der erste Versuch, eine Haftpflichtversicherung für Unternehmensleiter einzuführen, wurde in Deutschland bereits 1895 durch den Allgemeinen Deutschen Versicherungsverein unternommen. Gescheitert ist eine Einführung jedoch zunächst vor allem an moralischen Bedenken. Diese moralischen Bedenken kehrten Jahrzehnte später in modifizierter Form zurück: Mit dem Gesetz zur Angemessenheit der Vorstandsvergütung (VorstAG)13 wird für die D&O-Versicherung zwingend ein Selbstbehalt des betreffenden Vorstandsmitglieds in Höhe von mindestens 10 % des Schadens bis mindestens zur Höhe des Eineinhalbfachen seines Jahresgehalts vorgeschrieben (§ 93 Abs. 2 Satz 3 AktG). Ausweislich der Gesetzesbegründung will der Gesetzgeber mit dieser Neuregelung einer „Voll-

__________ 12 BGH, NZG 2008, 314. 13 BGBl. I 2009, 2509 ff.

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kasko-Mentalität“ der Vorstände präventiv durch eine drohende Haftung mit dem Privatvermögen entgegenwirken und zugleich die persönliche Verantwortung des Vorstands in Bezug auf Sorgfaltspflichten unterstreichen. Ob eine derartige erzieherische Wirkung bei Haftpflichtversicherungen mit Selbstbehalten erreicht werden kann, erscheint allerdings zweifelhaft. Gerade bei der D&OVersicherung mit ihren zahlreichen in den Allgemeinen Versicherungsbedingungen enthaltenen Risikoausschlüssen, ihrer begrenzten Versicherungssumme und der allgemein bestehenden Möglichkeit einer Vertragsbeendigung durch den Versicherer besteht kaum Anlass für Sorglosigkeit der Vorstände. Hinzu kommt, dass dieser Selbstbehalt nur für die Versicherung gegen Ansprüche der Gesellschaft, d. h. im Innenverhältnis gilt. Für die Versicherung gegen Ansprüche Dritter gilt der Selbstbehalt nicht. Aus diesen Gründen erscheinen auch vereinzelte Vorschläge, den Selbstbehalt zu erhöhen, nicht sinnvoll. Darüber hinausgehende Forderungen nach einem generellen Verbot der D&OSelbstbehalt-Versicherung ist der Gesetzgeber wegen verfassungsrechtlicher Bedenken (Eingriff in die Privatautonomie sowie in die Berufsfreiheit) nicht gefolgt.14 2. Bankrechtliche Organhaftung Auf der zweiten, also der branchenspezifischen Ebene der Pflichtenbindung und Haftung von Bankmanagern, hat der Gesetzgeber im Laufe der Zeit ein ganzes Bündel von bankspezifischen Pflichten geschaffen, deren Verletzung in gleicher Weise wie die Verletzung allgemeiner Pflichten über § 93 Abs. 1 AktG bzw. § 34 Abs. 2 GenG zur persönlichen Haftung gegenüber der Bankgesellschaft bzw. Genossenschaftsbank führt, die in § 17 KWG nochmals gesondert für alle Kreditinstitute vorgesehen ist, also auch für solche, die nicht von einer Aktiengesellschaft getragen werden. Im Mittelpunkt steht die Vorschrift des § 25a KWG. Sie statuiert besondere organisatorische Pflichten für die Kreditinstitute, die von den Vorständen zu erfüllen sind, was wiederum von den Aufsichtsräten zu überwachen ist. Im Einzelnen verlangt § 25a KWG die Einrichtung einer ordnungsgemäßen Geschäftsorganisation mit Aufbau- und Ablauforganisation, Risikomanagementsystem, Interner Revision und Compliance-System, ferner die Organisierung der Geldwäscheprävention. An Einzelpflichten, die den Bankvorstand treffen, sind zu nennen: die Beachtung der regulatorischen Kapitalanforderungen, die Gewährleistung ausreichender Liquidität, die Einhaltung der Groß- (§§ 13–13b KWG), Millionen- und Organkreditvorschriften (§§ 14 und 15 KWG), die Einholung der Kreditunterlagen (§ 18 KWG), die Erfüllung der aufsichtsrechtlichen Meldepflichten, etwa, wenn beabsichtigt ist, einen Geschäftsleiter zu berufen oder abzuberufen, im Fall des Verlustes von 25 % des haftenden Eigenkapitals und bei Übernahme bedeutender Beteiligungen und schließlich die

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14 So die Stellungnahme einer Sprecherin des Bundesjustizministeriums nach Krüger, Financial Times Deutschland v. 4.8.2009.

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Pflicht zur Aufstellung des Jahresabschlusses innerhalb der gesetzlichen Dreimonatsfrist. Da es sich um gesetzliche Pflichten handelt, fällt die Beachtung dieser Pflichten unter die Legalitätspflicht. Verletzungen erfüllen damit den Tatbestand des § 93 Abs. 1 AktG bzw. § 17 KWG, was wiederum eine zivilrechtliche Haftung der Vorstände für einen der Gesellschaft aus der Pflichtverletzung etwa entstehenden Schaden auslöst. Ein Schaden kann der Gesellschaft insbesondere daraus entstehen, dass die Verletzung der genannten Pflichten umfangreiche aufsichtsrechtliche Maßnahmen nach sich ziehen kann, etwa ein Auskunftsverlangen der BaFin, die Anordnung einer Sonderprüfung, deren Kosten die Gesellschaft zu tragen hat (§ 146 Satz 1 AktG), eine Missbilligung des Verhaltens der Bank, die Einleitung eines Ordnungswidrigkeitenverfahrens gegen die Bank, die Erteilung von Auflagen und Weisungen an die Bank, die Beschränkung der Bankerlaubnis und die Einsetzung eines Treuhänders. Die gesetzlichen Organisations- und Einzelpflichten nach § 25a KWG werden präzisiert und interpretiert durch die umfangreichen und detaillierten „Mindestanforderungen an das Risikomanagement (MaRisk) (BA)“. Bei diesen Mindestanforderungen handelt es sich um ein Instrument der Bankenaufsicht seitens der BaFin, mit dem eine ordnungsgemäße Organisation des Geschäftsbetriebs sichergestellt werden soll. Erstmals veröffentlicht wurden solche Mindestanforderungen im Jahre 1975 in der Folge der Insolvenz der Herstatt-Bank nach missglückten Devisenspekulationen. Die aktuell gültigen MaRisk wurden in ihrer ersten Fassung mit dem Rundschreiben 18/2005 vom 20.12.2005 veröffentlicht und seitdem mehrfach angepasst.15 Zwar haben die MaRisk keine Gesetzesqualität, doch handelt es sich um eine Beschreibung der Verwaltungsauffassung im Sinne von norminterpretierenden Verwaltungsvorschriften mit Selbstbindungscharakter. Damit sind sie jedenfalls faktisch verbindlich und von den Geschäftsleitern zu berücksichtigen.16 Die Verletzung der MaRisk stellt aus Sicht der BaFin ein wichtiges Indiz für eine Verletzung der erforderlichen Sorgfalt dar und kann daher zu einer Haftung nach § 93 Abs. 1 Satz 1 AktG bzw. nach § 17 KWG führen. Der BGH hat dementsprechend eine Pflichtwidrigkeit des Handelns von Bankvorständen schon mit Verstößen gegen Vorgänger-Fassungen der MaRisk begründet.17 Umgekehrt ist die Beachtung der MaRisk ein gewichtiges Indiz für die Beachtung der nach § 93 Abs. 1 Satz 1 AktG erforderlichen Sorgfalt.

__________ 15 Rundschreiben 11/2010 (BA) v. 15.12.2010, Mindestanforderungen an das Risikomanagement – MaRisk, BA 54-FR 2210-2010/0003. 16 Näher zu den MaRisk etwa Lehleiter/Hoppe, Die Haftung der Bankverantwortlichen bei der Kreditvergabe, BKR 2007, 178, 182 ff. 17 Nachweise bei Spindler in Fleischer (Hrsg.), Handbuch des Vorstandsrechts, 2006, § 19 Rz. 27 ff.

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Managerhaftung im Finanzsektor: Status Quo und Reformbedarf

III. Zur ökonomischen Begründung verschärfter Haftung für Finanzmanager Wie eben dargelegt, resultiert aus der erhöhten Pflichtenbindung von Managern in Finanzinstituten eine gegenüber anderen Branchen verschärfte Managerhaftung. Diese Verschärfung wird ökonomisch verbreitet mit unterschiedlichen Argumenten begründet. An erster Stelle zu nennen ist die große Komplexität vieler Finanzprodukte. Gerade die Weltfinanzkrise hat gezeigt, dass viele Anlageprodukte in Konstruktion wie Funktion selbst von Fachleuten kaum verstanden werden.18 Der Anlage in solche Produkte wohnt oftmals ein zusätzliches Element des „Gambling“ inne, welches nicht aus der mangelnden Vorhersehbarkeit der Kursentwicklung, sondern aus der mangelnden Kenntnis des Produkts resultiert. Die höhere Komplexität der vertriebenen Produkte geht einher mit einem höheren Verlustrisiko, das durch eine Haftungsverschärfung kompensiert werden soll. Mit der höheren Komplexität verbunden ist aber generell auch eine geringere Transparenz des Finanzgeschäfts. Aus dieser naturgemäß geringeren Transparenz zieht man zwei Konsequenzen: Zunächst gelten für Banken erhöhte Transparenzanforderungen. So finden sich sowohl im Bilanzrecht des HGB als auch im Kreditwesenrecht spezifische Publizitätspflichten für Kreditinstitute.19 Sodann werden Bankmanager einer gesteigerten Haftung unterworfen. Diese Haftung ist, vergleichbar der Publizität, als Korrelat der Marktteilnahme von Kreditinstituten anzusehen. Man kann bei dieser Parallelität von Publizität und Haftung noch einen Schritt weiter gehen: Ebenso wie Publizität trägt gesteigerte Haftung zur Vertrauensbildung gegenüber dem Markt bei. Vergleichbar dem persönlich haftenden Gesellschafter der Personengesellschaft genießt der Bankmanager, der einer scharfen persönlichen Haftung unterworfen ist, ein höheres Vertrauen bei den Einlegern und Aktionären seines Instituts. Ein drittes Argument zugunsten einer schärferen Haftung speziell für Manager von Kreditinstituten resultiert aus dem Umstand, dass nicht nur Aktionäre, sondern auch Einleger geschützt werden müssen. In neo-institutionenökonomischer Terminologie ausgedrückt: Verschärfte Haftung der Bankmanager soll dem verschärften Principal-Agent-Konflikt Rechnung tragen. Hier ließe sich zunächst einwenden, dass die Dualität der Schutzinteressen, Eigen- und Fremdkapitalgeber, grundsätzlich kein Spezifikum der Unternehmen im Finanzsektor darstellt. Denn nahezu jedes Unternehmen finanziert sich sowohl mit Eigen- als auch mit Fremdkapital. Indessen weicht die Struktur der Fremdkapitalgeber bei Kreditinstituten von der typischen Struktur der Fremdkapitalgeber in anderen Bereichen ab. Der Kreis der Einleger ist deutlich größer und

__________ 18 Meyer, CCZ 2011, 41, 44, der allerdings zutreffend darauf hinweist, dass diese Komplexität bewusst als Mittel zur Risikostreuung gewählt wurde, weshalb sie als „Entschuldigung“ für Managerversagen kaum tauglich erscheint. 19 Dazu näher Merkt in Hopt/Wohlmannstetter (Hrsg.), Handbuch Corporate Governance von Banken, 2011, S. 117.

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der Betrag der Einlage ist deutlich kleiner als bei den Fremdkapitalgebern anderer Branchen. Man könnte auch sagen, dass bei den Kreditinstituten die Struktur der Fremdkapitalgeberseite der Struktur der Eigenkapitalgeberseite bei börsennotierten und in Streubesitz befindlichen Unternehmen anderer Branchen vergleichbar ist. Daher sieht der Gesetzgeber bei Kreditinstituten, anders als in anderen Branchen, ein gesteigertes Bedürfnis für Fremdkapitalgeberschutz. Anleger- und Einlegerschutz zusammengenommen legitimieren also eine Verschärfung der Managerhaftung. Ob dieses auf Banken in der Trägerschaft börsennotierter Gesellschaften zugeschnittene Argument in gleicher Weise für Privatbanken gilt, ist unklar. Von politischer Seite wird reklamiert, dass Privatbanken mit persönlich haftenden Gesellschaftern vor der jüngsten Finanzkrise weniger unkalkulierbare Risiken an den Finanzmärkten eingegangen seien. Im Umkehrschluss wird daraus gefolgert, dass die persönliche Haftung für Bankvorstände bei börsennotierten Banken erweitert werden müsse.20 Indessen gab und gibt es spektakuläre Fälle, in denen Privatbanken in erhebliche Schwierigkeiten geraten sind. So kam es bei der Privatbank Sal. Oppenheim, einem Bankhaus in der Trägerschaft einer Kommanditgesellschaft auf Aktien, zu massiven Problemen im Zusammenhang mit dem Verkauf von Karstadt-Immobilien an die Oppenheim-Esch-Fonds. In Rede stehen unter anderem Verstöße gegen § 25a Abs. 1 KWG und die MaRisk, gegen § 19 KWG (Bildung von Kreditnehmereinheiten) sowie § 15 KWG (Organkredite). Die Staatsanwaltschaft hat in diesem Zusammenhang ein Ermittlungsverfahren unter anderem wegen des Verdachts der Untreue eröffnet. Sollte es zur Anklageerhebung kommen, ist gleichzeitig mit Haftungsklagen zu rechnen. Empirische Erkenntnisse zu der Frage, ob Privatbanken in vergleichbarer Weise wie börsennotierte Banken anfällig für Missmanagement sind, stehen noch aus. Betrachtet man allerdings die Gesamtheit aller Kreditinstitute, so stellt man fest, dass von den 1.953 zugelassenen Instituten 1.193 (61 %) in der Rechtsform der Genossenschaft, 456 (23 %) in der Rechtsform der Anstalt des öffentlichen Rechts, 163 (8 %) als AG, 93 (5 %) als GmbH, 40 (2,49 %) als Personenhandelsgesellschaft, 7 (0,5 %) als KGaA und 1 (0,01 %) als SE verfasst waren.21 Diese Verteilung legt die Vermutung nahe, dass unter den drei Säulen der Genossenschaftsbanken, der öffentlich-rechtlichen Institute und der Privatbanken besonders die zweite und die dritte Säule von Haftungsfällen betroffen sind. Auch dafür fehlt es aber an empirischen Erkenntnissen. Schließlich ließe sich viertens als Rechtfertigung für eine verschärfte Haftung noch die besondere Verantwortung der Kreditinstitute für die gesamte Volkswirtschaft hervorheben. Bankenkrisen infolge von Fehlern der Manager ziehen in der Regel andere Nicht-Banken-Unternehmen mit in die Krise, wie sich ebenfalls in der jüngsten Finanzkrise anschaulich gezeigt hat. Von Unterneh-

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20 So der seinerzeitige stellvertretende Vorsitzende und wirtschaftspolitische Sprecher der FDP-Bundestagsfraktion Rainer Brüderle in seinem „Neun-Punkte-Programm für einen neuen Ordnungsrahmen im Finanzsektor“ v. 9.10.2008, S. 2. 21 Angaben entnommen der Web-Seite der BaFin.

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men anderer Branchen lässt sich das in dieser Weise nicht sagen. Wegen dieser „Ansteckungsgefahr“ erscheint es ökonomisch gerechtfertigt, Manager von Banken verschärften Haftungsregeln zu unterwerfen. Auf der anderen Seite ist von Seiten der D&O-Versicherungen zu hören, dass sich Unternehmen der Finanzbranche vergleichsweise schwer damit tun, die Haftungsfolgen der Finanzkrise aufzuarbeiten. Der Grund dafür wird darin gesehen, dass die entstandenen Schäden in keinem Verhältnis zu den Versicherungssummen ständen. Angesichts von Milliardenschäden mag die Frage nach der Sinnhaftigkeit einer Klage über 20 oder 30 Millionen berechtigt erscheinen, zumal die Vollstreckung nicht selten ergebnislos bleibt. Auch insoweit sei der Selbstbehalt aus Sicht der Gesellschaft nicht unproblematisch. Hinzu komme, dass Aufsichtsräte von Banken, denen die Durchsetzung der Haftungsansprüche gegen die Vorstände obliegt, die inkriminierten Geschäfte in aller Regel mitgetragen hätten. Insofern bestehe die latente Gefahr eines systematischen Versagens des Aufsichtsrats.22

IV. Reformbedarf bei der Managerhaftung Kommen wir nun zu der Frage, ob und wo in diesem Haftungssystem Reformbedarf besteht und welche Möglichkeiten es gibt, Manager und andere Entscheidungsträger stärker als bisher in Haftung zu nehmen. 1. Zur Zurückhaltung der Gesetzgebung und zur Aufgabenteilung mit der Rechtsprechung Dabei fällt zunächst auf, dass sich der Gesetzgeber bei den vielfältigen und zum Teil doch recht hektischen, ja fast überstürzten Reformen in Reaktion auf die Finanzmarktkrise im Bereich der Managerhaftung sehr zurückgehalten hat. Drei Maßnahmen sind zu nennen: Erstens folgte der deutsche Gesetzgeber der verbreiteten Meinung, die Fehlanreize bei der Vergütung als Krisenursache auszumachen glaubte, und führte mit dem Gesetz zur Angemessenheit der Vorstandsvergütung (VorstAG) Regelungen zur Erhöhung der Nachhaltigkeit der Vergütungen ein.23 In diesem Zusammenhang wurde die Haftung des Aufsichtsrats für die Angemessenheit der Vergütung hervorgehoben (§ 116 Satz 3 AktG). Zweitens wurde mit dem Restrukturierungsgesetz die Verjährungsfrist für Organhaftungsansprüche bei börsennotierten Gesellschaften (§ 93 Abs. 6 AktG) und bei Kreditinstituten (§ 52a KWG) von bisher fünf auf zehn Jahre ausgeweitet.24 Allerdings hat es der Gesetzgeber versäumt, die Fünfjahresfrist für die Sonderprüfung in § 142 Abs. 2 Satz 1 AktG auf zehn Jahre zu verlängern. Und drittens wurde – wie zuvor bereits angesprochen – der Selbstbehalt für Vorstandsmitglieder gesetzlich vorgeschrieben, während er für Aufsichts-

__________ 22 Siehe den Bericht „Manager fürchten Klagen wegen Missmanagement“, Handelsblatt v. 4.10.2011. 23 Gesetz zur Angemessenheit der Vorstandsvergütung v. 31.7.2009, BGBl. I 2009, 2509. 24 Dazu kritisch Baums, Managerhaftung und Verjährung, ZHR 174 (2010), 593.

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ratsmitglieder in Ziffer 3.8 des Deutschen Corporate Governance Kodex empfohlen wird. Die Zurückhaltung des Gesetzgebers im Bereich der Managerhaftung hat ihren Grund vor allem darin, dass die praktische Anwendung des Pflichtenprogramms und damit die Steuerung der Haftung bei uns traditionell in den Händen der Rechtsprechung liegen. Ob also Haftung streng oder weniger streng ausfällt, hängt nicht so sehr vom gesetzlichen Pflichtenprogramm ab, sondern vor allem davon, wie das Gericht im Einzelfall die Pflicht definiert und ob es die so definierte Pflicht als verletzt ansieht. Eine ganz zentrale Stellschraube ist insoweit der Sorgfaltsmaßstab. Ihn aber kann ein Gesetzgeber nur sehr ungefähr umschreiben. Mehr als das, was sich in § 93 Abs. 1 AktG findet, kann ein Gesetzgeber kaum abstrakt vorgeben. Was im Einzelfall zu gelten hat, ist immer in erheblichem Maße abhängig von der Beurteilung durch das Gericht. Dies hat zwei Konsequenzen: Erstens wird die Unternehmenspraxis häufig ins Dunkle springen müssen. Ob ein bestimmtes Geschäftsleiterverhalten sorgfaltswidrig war, wird sich dann erst mit letzter Klarheit und Gewissheit im Nachhinein herausstellen. Das ist gewiss unbefriedigend, gehört aber in einem weiteren Sinn ebenfalls zum unternehmerischen Risiko. Immerhin sind viele Fragen inzwischen geklärt, sodass man zumindest eine gewisse Orientierung in der gefestigten Rechtsprechung finden wird. Zweitens, und dies ist eine Erkenntnis der Entscheidungspsychologie, neigt man aus der Rückschau dazu, Entscheidungen der Vergangenheit anders zu beurteilen als in der damaligen aktuellen Entscheidungssituation. Das Gericht, das die Frage der Sorgfaltswidrigkeit zu klären hat, muss nach Kräften darum bemüht sein, alle nachträglich gewonnene Erkenntnis auszublenden. Das gelingt nicht immer. 2. Der Beitrag der Rechtsprechung Gerade wegen der großen Bedeutung der Rechtsprechung im Kontext der Managerhaftung soll im Folgenden der Frage nachgegangen werden, wie es mit der Anwendung des geltenden Haftungsrechts steht. Dabei werden hier zwei praktisch besonders bedeutsame Problemkomplexe ausgewählt, die die Gerichte in der Aufarbeitung der Finanzkrise beschäftigen: erstens Risiko- und Spekulationsgeschäfte und zweitens das Erfordernis hinreichender Information. a) Risiko- und Spekulationsgeschäfte aa) Satzungsmäßiger Unternehmensgegenstand Wiederholt ist im Zuge der Finanzmarktkrise die sehr grundsätzliche Frage aufgeworfen worden, ob die Eingehung von Risiko- und Spekulationsgeschäften überhaupt mit dem satzungsmäßigen Unternehmensgegenstand von Kreditinstituten vereinbar ist.25 Diese Frage lässt sich allerdings nicht abstrakt beantworten, sondern nur in Bezug auf die konkrete Satzung eines bestimmten Kreditinstituts. Das OLG Düsseldorf hatte dies im Jahre 2009 in einem Ver-

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25 Kritisch etwa Lutter, ZIP 2009, 197.

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fahren betreffend die IKB-Bank wegen Bestellung eines Sonderprüfers zu klären.26 Minderheitsaktionäre wollten auf diesem Weg Vorgänge bei der Aufnahme und Durchführung von Geschäften im Verbriefungs- und Refinanzierungssektor sowie der Auslagerung wesentlicher Funktionen auf eine andere Gesellschaft untersuchen lassen. Zu prüfen war, ob Tatsachen vorlagen, die den Verdacht rechtfertigen, dass bei den fraglichen Geschäften Unredlichkeiten oder grobe Verletzungen des Gesetzes oder der Satzung vorgekommen sind. Das OLG Düsseldorf bejahte einen Verstoß gegen die satzungsmäßige Bestimmung des Unternehmensgegenstands. Nach der Satzung bestand der Unternehmensgegenstand in der „Förderung der gewerblichen Wirtschaft, wobei den Finanzierungsbedürfnissen des Mittelstands […] bevorzugt Rechnung getragen werden“ sollte. Zugleich war der Unternehmensgegenstand umschrieben mit „Bankgeschäfte aller Art“ und „Finanzdienstleistungen aller Art“. Die Bank war berechtigt zu „allen Geschäften und Maßnahmen, die geeignet erscheinen, den Gegenstand des Unternehmens zu erreichen.“ Das OLG Düsseldorf sah darin, dass die IKB-Bank im fraglichen Zeitraum 46 % ihres Geschäftsvolumens im Verbriefungssektor bestritt, eine grobe Verletzung der Pflicht zur Bevorzugung der Mittelstandsfinanzierung und die Verfolgung eines unternehmensfremden Gegenstands. Dies ist in der Literatur zu Recht kritisiert worden:27 Zunächst fragt sich bereits, ob das Verbriefungsgeschäft, wenn es 46 % des Gesamtvolumens ausmacht, einer Bevorzugung der Mittelstandsfinanzierung entgegensteht. Schon bei formaler Betrachtung hatte die Mittelstandsfinanzierung mit 54 % das größere Volumen. Aber auch darüber hinaus wird man dann, wenn zumindest ein ganz wesentlicher Teil des Geschäfts im Kernbereich des Unternehmensgegenstands liegt, keine Überschreitung des Unternehmensgegenstands erkennen können. Das OLG Düsseldorf meint, da es sich beim Unternehmensgegenstand um einen Rechtsbegriff handele, stehe dem Vorstand insoweit kein Entscheidungsermessen zu. Diese Sicht verkennt, dass es sich hier nicht um eine unternehmerische Entscheidung, sondern um eine Auslegungsfrage handelt. Die Satzungsregelung zum Unternehmensgegenstand muss ausgelegt werden. Aber Auslegung ist kein exklusives Recht der Gerichte, sondern auch und zunächst Aufgabe der Praxis, hier also der Vorstände. Wenn aber die Auslegung ergibt, dass ein Spielraum besteht, dass also unterschiedliche Ergebnisse vertretbar sind, dann muss das Gericht dies bei der Prüfung, ob der Verdacht einer groben Pflichtverletzung besteht, berücksichtigen. bb) Erwerb besonders riskanter Papiere Sodann stellt sich die Frage nach den Grenzen für den Erwerb besonders riskanter Papiere. Ausgangspunkt der Bewertung im Einzelfall bildet die Rechtsprechung zur Eingehung unvertretbarer Risiken. Nach der Leitentscheidung des BGH von 2002 missachtet der Geschäftsleiter seine Sorgfaltspflicht, wenn aus

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26 OLG Düsseldorf, AG 2010, 126. 27 Etwa Spindler, NZG 2009, 281, 283; Rieder/Holzmann, AG 2011, 265, 267; Habbe/ Köster, BB 2011, 265, 266.

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Sicht eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters einer Bank das hohe Risiko eines Schadens unabweisbar ist und keine vernünftigen geschäftlichen Gründe dafür sprechen, es dennoch einzugehen.28 Die Frage nach der Zulässigkeit des Erwerbs besonders riskanter Papiere wird insbesondere im Zusammenhang mit dem Erwerb von Asset Backed Securities (ABS) diskutiert. Darüber hatte das OLG Frankfurt im Fall der Übernahme der Dresdner Bank durch die Commerzbank zu entscheiden. Das Gericht sah allerdings in dem mittelbaren Erwerb von ABS-Papieren keine Sorgfaltspflichtverletzung. Das Management habe durch den Erwerb möglicherweise „toxischer“ Papiere, also solcher Papiere, die notleidende Kreditrückzahlungsansprüche verbriefen, den unternehmerischen Ermessensspielraum nicht überschritten. Anders wäre dies – entsprechend der Leitentscheidung des BGH – zu beurteilen, wenn das hohe Risiko eines Schadens unabweisbar gewesen wäre und keine vernünftigen geschäftlichen Gründe dafür gesprochen hätten, es dennoch einzugehen.29 Indessen handele es sich bei ABS-Papieren weder für Emittenten noch Investoren um etwas per se Verbotenes. Vielmehr seien ABS ein zulässiges Instrument der Risikodiversifikation, das von der Bundesbank in ihrem Monatsbericht vom Juni 2006 ausdrücklich begrüßt worden sei. Darüber hinaus habe das Portfolio der Dresdner Bank keine Position aufgewiesen, die so große Verluste erzielen konnte, dass die Solvenz der Commerzbank hätte gefährdet werden können. cc) Klumpenrisiken Ein weiteres Problem wird verbreitet speziell in der Eingehung von übergroßen bzw. Klumpenrisiken gesehen. Darunter versteht man die kumulative Häufung von Ausfallrisiken mit ähnlichen oder identischen Korrelationswerten (Kreditnehmer, Branchen, Regionen). In der Literatur wurde von manchen kritisiert, dass die bei einzelnen Landesbanken entstandene Risikokonzentration als solche eine Verletzung der Sorgfaltspflicht darstelle, die zur Haftung führe.30 Auch das OLG Düsseldorf sah im bereits erwähnten IKB-Fall in der starken Ausweitung des Verbriefungsgeschäfts und der Eingehung von Risiken in Höhe von mehreren Milliarden Euro eine nicht hinreichende Diversifikation, die die Gefahr in sich berge, dass das Unternehmen in seiner Existenz bedroht sein könnte. Darin erkannten die Richter wiederum eine grobe Pflichtverletzung seitens der Manager. Hier wird man differenzieren müssen: Nicht gefolgt werden kann der Auffassung, dass die Eingehung eines jeden hohen Risikos, das am Ende zu einer Existenzgefährdung bzw. -vernichtung führt, per se sorgfaltswidrig und haftungsauslösend ist. Vom Eintritt der Existenzgefährdung auf die Sorgfaltswidrigkeit rückzuschließen, wäre genau jener „hindsight bias“, also Rückschaufehler, den es zu vermeiden gilt. Mit anderen Worten: Aus der ex-post-Betrach-

__________ 28 BGH, NZG 2002, 195, 196. 29 OLG Frankfurt a. M., WM 2011, 116; dazu etwa Krause, BB 2011, 403; Nikoleyczik/ Gubitz, NZG 2011, 91; Rieder/Holzmann, AG 2011, 265, 268. 30 Lutter, ZIP 2009, 197, 199.

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tung wird der Klumpen, der zur Haftung führt, in aller Regel kleiner ausfallen als aus der ex-ante-Perspektive.31 Sodann bedarf die Abweichung von der finanzwirtschaftlich üblichen Risikodiversifikation natürlich der stichhaltigen Begründung.32 Ferner ist das individuelle Risikoprofil des Kreditinstituts zugrunde zu legen. Ob ein Vorstand risikoavers, risikoneutral oder risikogeneigt wirtschaften muss bzw. darf, lässt sich entgegen einer verschiedentlich vertretenen Ansicht nicht pauschal beantworten,33 sondern muss individuell aus der Sicht der Anleger unter Berücksichtigung der Satzung und weiterer Unterlagen bzw. Umstände, aus denen sich das konkrete Risikoprofil ermitteln lässt, geprüft werden. Und schließlich ist die Risikohöhe ins Verhältnis zu setzen zu einer etwaigen Risikoprämie bzw. zur Gewinnaussicht.34 Auch daher erscheinen pauschale Aussagen oder Verbote unangemessen. b) Angemessene Information und Vertrauen auf Ratingagenturen Wie bereits dargelegt, gehört die vernünftige Annahme des Vorstands, auf der Grundlage angemessener Information zu entscheiden, zu den Tatbestandsvoraussetzungen der Business Judgment Rule (§ 93 Abs. 1 Satz 2 AktG). Das wird in der rechtspolitischen Diskussion leider nicht immer erkannt. So wurde jüngst die Forderung nach einer Verschärfung der gesetzlichen Organhaftung im Finanzsektor mit dem Argument begründet, schon der Hinweis eines Bankvorstands, er habe sich nicht für die Risiken interessiert oder er habe die komplexen Instrumente nicht verstanden und habe sich deshalb auf Spezialisten verlassen, führe zu einer Befreiung von der Haftung.35 Das trifft nicht zu. Wie dargelegt, existiert hier bereits heute eine klare Regelung: Nur die informierte unternehmerische Entscheidung führt zur Haftungsfreistellung. Der Vorstand, der sich nicht für die Sachthemen interessiert und nichts von ihnen versteht, kann a priori keine informierte Entscheidung treffen.36 Und der Vorstand, der blind auf Spezialisten vertraut, versäumt die zwingend vorgeschriebene Plausibilitätskontrolle. An der Haftung führt in einem solchen Fall kein Weg vorbei. Es bedarf hier also keiner gesetzgeberischen Haftungsverschärfung, sondern nur einer zutreffenden Kenntnis und Anwendung des geltenden Rechts. Andererseits darf die Anforderung an die informierte Entscheidung nicht überspannt werden, denn Information hat ihren Preis, und der ist zum Nutzen der Information ins Verhältnis zu setzen.37 Auch hier geht das OLG Düsseldorf in der IKB-Entscheidung sehr weit: Es gelangt zu dem Schluss, dass der Vorstand

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31 In diesem Sinn bereits Meyer, CCZ 2011, 41, 45. 32 Spindler, NZG 2010, 282, 284; Habbe/Köster, BB 2011, 265, 267. 33 Anders etwa Lutter, ZIP 2009, 197; Landwehrmann in Heidel (Hrsg.), Aktien- und Kapitalmarktrecht, 2. Aufl. 2007, § 93 AktG Rz. 63. 34 So schon Müller-Michaels/Wingerter, AG 2010, 903, 908. 35 So Hellwig (Fn. 1), E 51. 36 S. dazu aber jetzt auch die Anforderung der Zuverlässigkeit und der Sachkunde für Geschäftsleiter von Kreditinstituten in § 36 Abs. 3 Satz 1 KWG i. d. F. des Gesetzes zur Stärkung der Finanzmarkt- und Versicherungsaufsicht v. 2.7.2009, BGBl. I 2009, 2305 und dazu Hingst/Himmelreich/Krawinkel, WM 2009, 2016. 37 Meyer, CCZ 2011, 41, 42; Müller-Michaels/Wingerter, AG 2010, 903, 907.

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der IKB-Bank bei der Aufnahme und Durchführung von Geschäften im Verbriefungs- und Refinanzierungssektor ohne ausreichende Informationsgrundlage entschieden habe. Dabei moniert das Gericht insbesondere, dass der Vorstand auf externe Ratings vertraut habe, die nicht wirklich objektiv, sondern in einem erkennbaren Interessenkonflikt bewertet und über unzureichende Erfahrung mit strukturierten Wertpapieren verfügt hätten.38 Auch hier zeigt sich das Problem der ex post-Beurteilung, denn im Jahr 2006 und in der ersten Hälfte des Jahres 2007, in denen die fraglichen Entscheidungen getroffen wurden, war die Reputation der Rating-Agenturen weltweit noch vergleichsweise hoch. Das verbreitete Misstrauen setzte erst mit der fortschreitenden Finanzkrise in der zweiten Hälfte des Jahres 2007 ein. Für den Zeitraum davor wird man dem Vorstand aus dem Umstand, dass er mit Ratings externer Anbieter arbeitete, keinen Vorwurf der Sorgfaltswidrigkeit machen können. Ob in concreto ein Interessenkonflikt tatsächlich bestand und für den IKB-Vorstand auch erkennbar war, wird in der Entscheidung nicht vertieft. Aus der abstrakten Gefahr, dass Rating-Agenturen wegen des Gebühreninteresses versucht sein könnten, ihre Bewertung zu schönen, wird man ohne konkrete Hinweise oder Indizien im Einzelfall nur schwerlich eine Sorgfaltswidrigkeit herleiten können. Und schließlich bleibt in der Entscheidung offen, ob der IKB-Vorstand tatsächlich ausschließlich auf externe Expertise vertraut hat, ob er auch andere Informationsquellen konsultiert hat und ob er die erforderliche Plausibilitätskontrolle vorgenommen hat.39 3. Informationshaftung Reformbedarf besteht zunächst im Bereich der Informationshaftung. Der erste Anlauf der damaligen Bundesregierung Schröder aus dem Jahre 2004 ist daran gescheitert, dass der Druck auf die Unternehmen nicht hoch genug war und der gesetzgeberische Ansatz zu ambitioniert. Ersteres hat sich mit der Finanzkrise geändert. Dem Zweiten sollte der Gesetzgeber durch einen moderateren Ansatz Rechnung tragen. Der Entwurf des KapInHaG sah eine flächendeckende, das heißt nicht nur auf Prospektveröffentlichung bzw. Ad-hoc-Mitteilungen beschränkte, Haftung für Kapitalmarktinformationen vor. Haften sollten Mitglieder eines Leitungs-, Verwaltungs- oder Aufsichtsorgans, und zwar für öffentliche Bekanntmachungen oder Mitteilungen über geschäftliche Verhältnisse, die für einen größeren Kreis von Personen bestimmt sind. In Übereinstimmung mit dem Anlegerschutzniveau in anderen Ländern sah der Entwurf einen Verzicht auf das Kausalitätserfordernis vor, d. h., der Kläger muss nicht nachweisen, dass seine Anlageentscheidung auf der Falschinformation beruht. Vielmehr genügte es, dass der Kläger nachweist, zu dem von der Falschinformation beeinflussten Preis gekauft zu haben, also in der Phase der durch die Information erzeugten güns-

__________ 38 OLG Düsseldorf, AG 2010, 126, 128. 39 Kritisch auch Habbe/Köster, BB 2011, 265, 267; Müller-Michaels/Wingerter, AG 2010, 903, 907.

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tigen Anlagestimmung, die allerdings nicht wie im KapInHaG auf sechs, sondern nur auf drei Monate beschränkt sein sollte. Anders als im Entwurf des KapInHaG sollte aber eine Haftung für Prognosen ausgeschlossen werden, wie dies im Ergebnis mit der US-amerikanischen safeharbor-rule in Sec. 21 E (c) Securities Exchange Act erreicht wird. Der Verschuldensmaßstab bei einer generellen Informationshaftung sollte an das bereits für die Börsenprospekthaftung und die Haftung für fehlerhafte Ad-Hoc-Mitteilunge geltende Niveau angepasst und auf Vorsatz und grobe Fahrlässigkeit beschränkt werden. Eine solche gesetzliche Regelung der Informationshaftung sollte nicht einseitig als zusätzliche Belastung des Leitungspersonals verstanden werden. Vielmehr wäre damit gegenüber der aktuellen Rechtslage ein Gewinn an Kalkulierbarkeit und Rechtssicherheit verbunden. Insbesondere könnte sich die D&O-Versicherung besser auf die Risiken aus einer Manager-Informationshaftung einstellen und der Finanzplatz Deutschland würde den internationalen Erwartungen stärker gerecht. 4. Verschuldensmaßstab Korrekturbedarf besteht ferner beim Haftungsmaßstab für die Manager im öffentlich-rechtlichen Banksektor. So gilt für die Sparkassenvorstände auf der Grundlage der maßgeblichen landesrechtlichen Beamtengesetze in einer Reihe von Bundesländern eine Haftungsbeschränkung auf Vorsatz und grobe Fahrlässigkeit, etwa in Baden-Württemberg, Bayern, Hessen, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, dem Saarland, Schleswig-Holstein und Thüringen.40 Hingegen haften Sparkassenvorstände in Brandenburg, Berlin, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen und Sachsen-Anhalt für Vorsatz und jede Fahrlässigkeit. Auch für die Haftung der Verwaltungsräte der Landesbanken ist die Landschaft zweigeteilt: Auf Vorsatz und grobe Fahrlässigkeit ist die Haftung beschränkt bei der Norddeutschen Landesbank, der Niedersächsischen Förderbank, der Landesbank Baden-Württemberg, der Bayerischen Landesbank und der Hessischen Landesbank. Bei den sonstigen Landesbanken haften die Verwaltungsratsmitglieder für Vorsatz und jede Fahrlässigkeit.41 Die Privilegierung wird mit der ehrenamtlichen Tätigkeit und der Nähe zu kommunalen Ämtern, bei denen kommunalrechtliche Haftungsbeschränkungen greifen, begründet. Und unter Verweis auf den Grundsatz der Gleichbehandlung befürworten manche, die Privilegierung auch auf jene Institute auszudehnen, in denen sie nicht gilt. Das überzeugt nicht. Heutzutage stehen die öffentlichrechtlichen Kreditinstitute in unmittelbarem Wettbewerb zu den Instituten des genossenschaftlichen und des privaten Sektors, die keine Haftungsbeschränkung der Überwachungsorgane kennen. Der Haftungsmaßstab des Beamtenrechts ist mit der im Gesetz angeordneten Sorgfalt eines ordentlichen Kauf-

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40 Nachweise bei Fischer in Krieger/Uwe H. Schneider (Hrsg.), Handbuch Managerhaftung, 2. Aufl. 2010, § 19 Rz. 98. 41 Nachweise bei Fischer (Fn. 40).

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manns nicht vereinbar. Die Haftungsprivilegierung könnte beim breiten Publikum den unzutreffenden Eindruck wecken, dass die Überwachung durch das Kontrollorgan bei öffentlich-rechtlichen Kreditinstituten weniger streng und verantwortungsvoll organisiert ist, weil die Disziplinierungswirkung der sonst in der Branche üblichen Haftung fehlt. Das spricht dafür, in allen Ländern einheitlich eine Haftung für Vorsatz und Fahrlässigkeit vorzusehen. 5. Durchsetzung der Managerhaftung Reformbedarf gibt es schließlich im Bereich der Haftungsdurchsetzung. Der Gesetzgeber ist hier im Jahre 2007 mit der Einführung des zunächst versuchshalber auf fünf Jahre befristeten Kapitalanlegermusterverfahrensgesetzes einen mutigen Schritt voran gegangen. Die Evaluation hat ergeben, dass das Musterfeststellungsverfahren ein taugliches Instrument zur Bewältigung von Massenklagen im Bereich des Kapitalmarktrechts ist und auf Dauer gelten soll, jedoch in einigen Punkten der Überarbeitung bedarf.42 Diese Überarbeitung ist derzeit im Gesetzgebungsverfahren auf gutem Weg. Im Zuge der Finanzkrise, aber auch schon in den Jahren zuvor ist deutlich geworden, dass eine steigende Bedeutung den Sonderprüfern (§ 142 AktG) und den besonderen Vertretern (§ 147 AktG) zukommt.43 Die Sonderprüfung ist ein wesentliches Instrument, um die Grundlage für die Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen zu schaffen. Darüber hinaus hat sie eine ganz wesentliche präventive Wirkung.44 Gleiches gilt für die Rechtsfigur des besonderen Vertreters, der zur Durchsetzung der Haftungsansprüche von der Hauptversammlung oder vom Gericht bestellt wird. Problematisch ist die Regelung zur Kostentragung. Denn die Verfahrenskosten trägt bei einer Sonderprüfung und bei der Bestellung des besonderen Vertreters aufgrund eines Hauptversammlungsbeschlusses oder im Fall der gerichtlichen Bestellung (§ 146 Satz 1, § 147 Abs. 2 Satz 3 AktG) grundsätzlich die Gesellschaft, und zwar ganz unabhängig vom Ausgang der Prüfung.45 Im Interesse einer Effektuierung der Haftungsregeln sollte die Kostentragung geändert werden und es sollte dann, wenn die Sonderprüfung den Verdacht rechtfertigt, dass Unredlichkeiten oder grobe Verletzungen des Gesetzes oder der Satzung vorgekommen sind, eine Kostentragung zulasten der betreffenden Verletzer bzw. eine Kostenteilung vorgesehen werden. Dadurch würde ein zusätzlicher Anreiz geschaffen, Managerfehlverhalten zu sanktionieren.

__________ 42 Referentenentwurf des Bundesministeriums der Justiz zum Gesetz zur Reform des Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetzes v. 21.7.2011, S. 1. 43 Rieder/Holzmann, AG 2011, 265, 266. 44 Hopt in Hopt/Wohlmannstetter (Hrsg.), Handbuch Corporate Governance von Banken, 2011, 20. 45 Semler in Hoffmann-Becking (Hrsg.), Münchener Handbuch des Gesellschaftsrechts, 3. Aufl. 2007, § 42 Rz. 24 f.

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V. Schlussbemerkung Das deutsche Recht verfügt über ein sehr ausdifferenziertes System der Managerpflichten und ein daran gekoppeltes ebenfalls ausdifferenziertes System der Managerhaftung. In Verbindung mit der Business Judgment Rule, deren privilegierende Wirkung im deutschen Recht vergleichsweise schwächer ausfällt als etwa in den USA, hat Deutschland ein im internationalen Vergleich gut entwickeltes Haftungsregime. Die einzelnen Voraussetzungen dieser Organhaftung im Finanzsektor sind in Rechtsprechung und Lehre mittlerweile weitgehend entwickelt. Die zunehmenden Haftungsprozesse vor staatlichen Gerichten und auch – nicht zu vergessen – vor Schiedsgerichten gegen Bankmanager wegen Verstößen während der Finanzmarktkrise haben bereits zu weiteren Konkretisierungen geführt und werden dies auch zukünftig tun.

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Marianne Motherby und Erik Staebe*

Keine „laufende Verhaltenskontrolle“ durch das Eisenbahnregulierungsrecht! Inhaltsübersicht I. Einleitung II. Beispielsfall Stationspreissystem 1. Untersagung des Stationspreissystems 2005 2. Billigung des Stationspreissystems 2011 3. Gegenläufige Einzelfallentscheidungen 4. Weitere Entwicklung III. Eisenbahnregulierung als „laufende Verhaltenskontrolle“ 1. Schutz des Wettbewerbs durch Struktur- und Verhaltenskontrolle

2. Einordnung der Eisenbahnregulierung IV. Grenzen der laufenden Verhaltenskontrolle 1. Wortlaut und historischer Hintergrund der Ermächtigungsgrundlagen 2. Systematische Stellung der Ermächtigungsgrundlagen 3. Teleologische Einordnung der Ermächtigungsgrundlagen 4. Verfassungsrechtliche Perspektive 5. Europarechtliche Perspektive V. Fazit

I. Einleitung Das heutige Eisenbahnregulierungsrecht geht auf die Reform der deutschen Staatsbahnen Mitte der 1990er Jahre zurück. Das damals geschaffene Allgemeine Eisenbahngesetz enthält Vorgaben für die Betreiber der Eisenbahninfrastruktur. Sie betreffen die zentralen Handlungsparameter, die im Zentrum des wirtschaftlichen und unternehmerischen Handelns stehen, nämlich die Auswahl der Kunden, die Art und den Umfang der zu erbringenden Leistungen, die Festsetzung der hierfür erhobenen Entgelte und die Unternehmensstruktur. Diesen Regelungsgegenständen folgend umfasst das Eisenbahnregulierungsrecht die Bereiche der Zugangsregulierung, der Entgeltregulierung und der Entflechtungsvorgaben.1 Die Zugangsregulierung betrifft Inhalt und Umfang der Infrastrukturnutzungsverträge, insbesondere im Hinblick auf die vom Betreiber der Infrastruktur zu erbringenden Leistungen. Die Entgeltregulierung betrifft die Gegenleistung, also die Infrastrukturnutzungsentgelte. Die Entflechtungsvorgaben flankieren die Zugangs- und Entgeltregulierung in der Weise,

__________ * Marianne Motherby ist Leiterin Recht, Dr. Erik Staebe ist Leiter Regulierungsrecht bei der Deutsche Bahn AG, Berlin. Die Autoren geben ihre persönliche Auffassung wieder. 1 Zur Dogmatik des Eisenbahnregulierungsrechts grundlegend Reinhard Ruge, Diskriminierungsfreier Netzzugang im liberalisierten Eisenbahnmarkt in Deutschland, AöR 131 (2006), 1, 16 ff.; Schmitt/Staebe, Instrumente der Marktverhaltensregulierung im Eisenbahnrecht, Verwaltungsarchiv 2009, 228 ff.

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dass Infrastrukturbetreiber, die Teil vertikal integrierter Unternehmen sind, sich zum Zwecke einer transparenten und für sämtliche Netznutzer unterschiedslosen Zugangs- und Entgeltregulierung in bestimmten Fragen so behandeln lassen müssen, als sei ihre Konzernverbundenheit nicht vorhanden. In allen Bereichen des Eisenbahnregulierungsrechts sind die Betreiber der Eisenbahninfrastruktur seit Jahren vielfältigen behördlichen Eingriffen ausgesetzt, deren zulässige Reichweite sich mit den herkömmlichen Maßstäben des Verwaltungsrechts nicht immer zufriedenstellend klären lässt. Ein prägnantes Beispiel hierfür bildet die seit dem Jahre 2009 andauernde Kontroverse zwischen der Bundesnetzagentur und der Betreiberin der Personenbahnhöfe in Deutschland, der DB Station&Service AG, um das sog. „Stationspreissystem“, nach dem die im Schienenpersonenverkehr tätigen Eisenbahnverkehrsunternehmen Entgelte für ihre Bahnhofshalte entrichten müssen. Die Frage nach den Grenzen der behördlichen Tätigkeit ist in der Theorie leicht zu beantworten: Die Behörde muss die ggf. gerichtlich näher zu klärenden gesetzlichen Vorgaben einhalten. Behördliche Eingriffe müssen zudem, ebenso wie die gesetzlichen Vorgaben, den verfassungsrechtlichen Maßstäben entsprechen. Sie finden ihre Grenze also in den einschlägigen Grundrechten und im Rechtsstaatsprinzip, also insbesondere im Bestimmtheitsgebot, im Grundsatz des Vertrauensschutzes und im Verhältnismäßigkeitsgrundsatz. In praktischer Hinsicht erweist sich die Anwendung dieser Grundsätze allerdings immer wieder als schwierig. Nach einer genaueren Betrachtung des genannten Beispielsfalles2 soll daher im Folgenden an Hand einer Einordnung regulierungsbehördlicher Maßnahmen in eine aus dem allgemeinen Kartellrecht bekannte Typologie der Handlungsformen von Wettbewerbsbehörden3 versucht werden, die „Leitplanken“ des behördlichen Handelns weiter zu konkretisieren.4 Insofern knüpfen die nachstehenden Ausführungen an Überlegungen zur Rolle der „Deutsche Bahn AG als Wirtschaftsunternehmen“ an, die Peter Hommelhoff im Zusammenhang mit der Reform der deutschen Staatsbahnen schon sehr früh angestellt hat.5 Er hat auch die weitere Entwicklung eng begleitet und gibt als Mitglied des BahnBeirates und als Sprecher des Rechtswissenschaftlichen Beirates der Deutsche Bahn AG in aktuellen verkehrs- und rechtspolitischen Diskussionen immer wieder wichtige Impulse. Wir widmen ihm den vorliegenden Beitrag mit den besten Wünschen und in der Hoffnung auf die weitere Fortsetzung der fruchtbaren Zusammenarbeit.

II. Beispielsfall Stationspreissystem Mit der Dritten AEG-Novelle (2005) hat der Gesetzgeber die Zuständigkeit für die eisenbahnrechtliche Zugangs- und Entgeltregulierung ab dem 1.1.2006 der

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Hierzu u. II. Hierzu u. III. Hierzu u. IV. Siehe insbesondere Hommelhoff/Schmidt-Aßmann, Die Deutsche Bahn AG als Wirtschaftsunternehmen – Zur Interpretation des Art. 87e Abs. 3 GG, ZHR 160 (1996), 521 ff.

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Keine „laufende Verhaltenskontrolle“ durch das Eisenbahnregulierungsrecht!

Bundesnetzagentur zugewiesen.6 Dem zuvor zuständigen Eisenbahn-Bundesamt blieb die Zuständigkeit für die Überwachung der Entflechtungsvorgaben.7 In Fortführung einer vom Eisenbahn-Bundesamt begründeten Tradition legte die Bundesnetzagentur in den ersten Jahren ihrer Tätigkeit den Schwerpunkt auf die Kontrolle der für die Infrastrukturnutzung maßgeblichen Geschäftsbedingungen.8 Die Regulierung der für den Zugang zur Eisenbahninfrastruktur erhobenen Entgelte entwickelte sich zögerlich. Das erste und nach wie vor nicht abgeschlossene Entgeltregulierungsverfahren betraf die Rechtmäßigkeit des Stationspreissystems.9 1. Untersagung des Stationspreissystems 2005 Nach länger andauernden Ermittlungen erließ die Bundesnetzagentur am 10.12.2009 einen Bescheid, mit dem der DB Station&Service AG die weitere Abrechnung der Stationsnutzung nach dem seit dem Jahre 2005 geltenden System mit Wirkung zum 1.5.2010 untersagt wurde.10 Zur Begründung machte die Behörde geltend, die Stationsnutzungsentgelte seien diskriminierend, da sich in den einzelnen Bundesländern unterschiedliche Entgelthöhen für die Nutzung vergleichbarer Personenbahnhöfe ergäben. Zudem sei die Preisbildung intransparent, da die Entgelte nicht auf der Basis der Kosten der Leistungserstellung berechnet worden seien. Der Vorwurf überhöhter Stationsnutzungsentgelte wurde ausdrücklich nicht erhoben. Auch eine Ungleichbehandlung der verschiedenen Eisenbahnverkehrsunternehmen in Bezug auf ein und denselben Personenbahnhof wurde nicht geltend gemacht. Die DB Station&Service AG erhob gegen den – kraft Gesetzes sofort vollziehbaren11 – Bescheid Widerspruch und beantragte die Anordnung der aufschiebenden Wirkung. Das zunächst angerufene Verwaltungsgericht Köln ging in seinem Beschluss vom 28.2.2010 davon aus, dass der angefochtene Bescheid nicht

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6 Vgl. § 4 Abs. 1 Satz BEEVG; hierzu Schmitt in Schmitt/Staebe, Einführung in das Eisenbahn-Regulierungsrecht, 2010, Rz. 606. 7 Vgl. § 5a Abs. 1 Satz 1 i. V. m. § 5 Abs. 1 AEG; hierzu Schmitt (Fn. 6), Rz. 610. 8 Siehe hierzu umfassend Staebe/Förster, Eisenbahnrechtliche Zugangsregulierung durch Kontrolle von Infrastrukturnutzungsbedingungen, N&R 2008, 74 ff.; darüber hinaus hat die BNetzA im Bereich der Zugangsregulierung eine Vielzahl von Fragen aufgegriffen, die einzelne Geschäftsprozesse des Infrastrukturbetriebs betreffen, etwa die Koordinierung konfligierender Trassenanmeldungen, die Disposition in der Fahrplanabwicklung oder den Umgang mit den im Schienennetz permanent notwendigen Bau- und Instandhaltungsmaßnahmen; vgl. hierzu Förster/Kardetzky in Schmitt/ Staebe, Einführung in das Eisenbahn-Regulierungsrecht, 2010, Rz. 320 ff., Rz. 281 und Rz. 332 f., jeweils m. w. N. 9 Inzwischen untersucht die BNetzA auch die Rechtmäßigkeit weiterer Entgeltsysteme bzw. einzelner Entgeltkomponenten, vgl. hierzu die Übersichtsdarstellungen von Ehricke, Die Entwicklung des Eisenbahnrechts in den Jahren 2010/2011, N&R 2011, 184, 189 f., sowie Ehricke, Die Entwicklung des Eisenbahnrechts in den Jahren 2009/2010, N&R 2010, 157, 162 ff. 10 BNetzA, Bescheid v. 10.12.2009 – 705-07 038 – Stationspreissystem der DB Station& Service AG. 11 Vgl. § 37 AEG; hierzu bereits Ruge, Kontinuität und Wandel im eisenbahnrechtlichen Netzzugang, DVBl. 2005, 1405, 1414.

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offensichtlich rechtswidrig sei.12 Der Sachverhalt deute vielmehr auf eine unangemessene Bevorzugung bzw. Benachteiligung einzelner Zugangsberechtigter hin, die nach § 14 Abs. 5 Satz 2 AEG verboten sei. Für die Ungleichbehandlung komme es nämlich nicht darauf an, ob verschiedene Eisenbahnverkehrsunternehmen an ein und demselben Bahnhof den gleichen Preis für die gleiche Leistung zu bezahlen hätten. Vielmehr seien sämtliche Personenbahnhöfe insgesamt zum Vergleich heranzuziehen. Insofern könne „ein greifbares Diskriminierungspotential auch darin liegen […], dass etwa ohne sachlichen Grund regional unterschiedliche Preise verlangt würden, oder dass bezogen auf bestimmte Marktsegmente (etwa Nahverkehr oder Fernverkehr) oder bezogen auf bestimmte Stationskategorien sachlich nicht gerechtfertigte unterschiedliche Entgelte von Zugangsberechtigten erhoben würden“.13 Die Entscheidung des Verwaltungsgerichts wurde in der Folgeinstanz nicht bestätigt. Das Oberverwaltungsgericht Münster ordnete mit Beschluss vom 23.3.2010 die aufschiebende Wirkung des gegen den Ausgangsbescheid erhobenen Widerspruchs an.14 Für die Entscheidung waren – im Rahmen der im Eilverfahren notwendigen Interessenabwägung – die drohenden wirtschaftlichen Nachteile der Bescheidadressatin maßgeblich. Die Beurteilung der materiellen Rechtslage wurde ausdrücklich offen gelassen.15 Der Betreiber von Personenbahnhöfen sei jedenfalls nicht verpflichtet, lückenlose Berechnungsmodelle für seine Entgelte vorzulegen. Gleichwohl ergebe sich aus verschiedenen rechtlichen Vorgaben aber die Pflicht zu einer hinreichenden Plausibilisierung der Entgelte, der die DB Station&Service AG bislang nicht nachgekommen sei. In diesem Zusammenhang sei „ein nachvollziehbares Zahlenwerk auf einer überprüfbaren Tatsachengrundlage“ vorzulegen.16 Formell war die DB Station&Service AG nach Anordnung der aufschiebenden Wirkung des gegen den Ausgangsbescheid erhobenen Widerspruchs berechtigt, ihr damaliges Stationspreissystem weiter anzuwenden. Das Rechtsschutzverfahren gegen den Bescheid vom 10.12.2009 befindet sich nach wie vor17 im Stadium des behördlichen Widerspruchsverfahrens. 2. Billigung des Stationspreissystems 2011 Trotz der Anordnung der aufschiebenden Wirkung des gegen den Ausgangsbescheid erhobenen Widerspruchs durch das Oberverwaltungsgericht machten Eisenbahnverkehrsunternehmen in der Folgezeit die materielle Rechtswidrigkeit des Stationspreissystems im Rahmen zivilrechtlicher Auseinandersetzungen geltend. Da die Einzelheiten des Zugangs zur Eisenbahninfrastruktur zwischen den Zugangsberechtigten und den Eisenbahninfrastrukturunternehmen

__________ 12 13 14 15 16

VG Köln, Beschl. v. 26.2.2010 – 18 L 51/10. Vgl. VG Köln, Beschl. v. 26.2.2010 – 18 L 51/10, S. 6 des amtlichen Umdrucks. OVG Münster, Beschl. v. 23.3.2010 – 13 B 247/10, N&R 2010, 188 ff. Vgl. OVG Münster, Beschl. v. 23.3.2010 – 13 B 247/10, S. 4 des amtlichen Umdrucks. Vgl. OVG Münster, Beschl. v. 23.3.2010 – 13 B 247/10, S. 11 des amtlichen Umdrucks. 17 Stand: 1.7.2012.

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vertraglich zu vereinbaren sind,18 kommt es immer wieder zu Streitigkeiten über die Vertragsbedingungen, in denen materielle Wertungen des Eisenbahnregulierungsrechts herangezogen werden.19 Mit Erlass des Bescheides vom 10.12.2009 hatte sich die Zahl der zivilrechtlichen Auseinandersetzungen über den Inhalt der Stationsnutzungsverträge deutlich erhöht. Obwohl das OVG Münster in seinem Beschluss zur Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs gegen den Bescheid vom 10.12.2009 die Frage der Rechtmäßigkeit des Stationspreissystems ausdrücklich offen gelassen hatte, war die DB Station&Service AG faktisch gezwungen,20 ihr bestehendes Stationspreissystem durch ein neues System zu ersetzen, das durch das vom Oberverwaltungsgericht geforderte „nachvollziehbare Zahlenwerk“ besser zu unterlegen war. Im Hinblick auf die ex ante-Regulierung nach § 14d Satz 1 Nr. 6 AEG erfolgte die Entwicklung im Einvernehmen mit der Bundesnetzagentur, die in ihrem – bestandskräftigen – Bescheid vom 19.11.2010 der Einführung des neuen Systems zum 1.1.2011 nicht widersprochen hat.21 Das neue Stationspreissystem zeichnet sich dadurch aus, dass die vorhandenen Personenbahnhöfe nicht mehr in sechs, sondern nun in sieben Kategorien eingeteilt werden. Das Entgelt für den Halt an einem Bahnhof der jeweiligen Kategorie orientiert sich an den Kosten und der Auslastung der jeweiligen Bahnhöfe im Bereich der verschiedenen für den Schienenpersonennahverkehr tätigen Aufgabenträger. Letztlich werden die Kosten je Kategorie und Aufgabenträger im Wege einer Divisionskalkulation auf die von den Eisenbahnverkehrsunternehmen angemeldeten Stationshalte umgelegt. Ähnlich wie nach dem früheren Stationspreissystem wird der Stationspreis für längere, typischerweise dem Schienenpersonenfernverkehr zugeordnete Züge multiplikativ erhöht. Bezugspunkt waren Zuglängen von 90 und 170 Metern. Die entsprechenden Regelungen hat die Behörde, obwohl sie die an den genannten Schwellenwerten orientierte „Zuglängenfaktoren“ nicht für rechnerisch begründbar hielt, im Rahmen des ex ante-Verfahrens letztlich nicht beanstandet.22 Sie hat ihre Entscheidung vom 19.11.2010 lediglich mit der Auflage verbunden, bis zum 30.6.2011 Vorschläge zu einer rechnerischen Herleitung und ggf. Änderung der Zuglängenfaktoren zu entwickeln und vorzustellen. Für den Fall des Einvernehmens mit der Bundesnetzagentur wurde die Verpflichtung formuliert, die Eisenbahnverkehrsunternehmen bis zum 1.9.2011 über die sich hier-

__________ 18 Vgl. § 14 Abs. 6 AEG; hierzu Förster/Kardetzky (Fn. 8), Rz. 273. 19 Vgl. hierzu Bredt, Zivilgerichtliche Prüfung von Eisenbahninfrastrukturnutzungsentgelten, N&R 2009, 235 ff. 20 Hierauf zielten nicht zuletzt Veröffentlichungen aus dem Umfeld der Bundesnetzagentur, in denen auf die rechtliche Angreifbarkeit des Stationspreissystems hingewiesen wurde, vgl. etwa Steinmann, Monopolpreise der DB AG – Welche Antworten geben die aktuellen Urteile des LG Berlin?, IR 2009, 152, sowie Steinmann/ Kirchhartz/Kaufmann, Entgeltgrundsätze und Entgeltgestaltung, N&R 2009, 182 ff. 21 BNetzA, Bescheid v. 19.11.2011 – 10.040-F-10-332 – INBP der DB Station&Service AG. 22 Vgl. BNetzA, Bescheid v. 19.11.2011 – 10.040-F-10-332, S. 1 des amtlichen Umdrucks.

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aus ergebende neuerliche Weiterentwicklung des Stationspreissystems zu informieren.23 3. Gegenläufige Einzelfallentscheidungen Ungeachtet der bestandskräftigen Billigung des neuen Stationspreissystems einschließlich der Zuglängenfaktoren erließ die Bundesnetzagentur kurze Zeit später in einigen Fällen Bescheide, die einzelne Bestandteile des Stationspreissystems wieder in Frage stellten. So wurde die DB Station&Service AG mit Bescheid vom 26.4.2011 verpflichtet, den im konkreten Fall von einem Eisenbahnverkehrsunternehmen überschrittenen Schwellenwert von 170 Metern bei der Anwendung der Zuglängenfaktoren für die Monate September bis Dezember 2011 unberücksichtigt zu lassen.24 Zur Begründung hieß es unter anderem, dass sich das betreffende Eisenbahnverkehrsunternehmen bei seinen Überlegungen zu einem möglichen Eintritt in den deutschen Markt des Schienenpersonenfernverkehrs an dem im früheren Stationspreissystem vorgesehenen Schwellenwert von 180 Metern orientiert habe. Dieser Schwellenwert sei nun herabgesetzt worden, so dass sich die Stationspreise für das betreffende Unternehmen spürbar erhöhen würden. Hierin liege eine erhebliche Beeinträchtigung der Wettbewerbsmöglichkeiten anderer Unternehmen, die nicht sachlich zu rechtfertigen sei.25 Über den gegen den Bescheid erhobenen Widerspruch ist bisher26 nicht entschieden. Mit zwei Bescheiden der Bundesnetzagentur vom 6.6.2011 wurde die DB Station&Service AG schließlich verpflichtet, das bestandskräftig gebilligte Stationspreissystem nachträglich im Einzelfall zu modifizieren.27 In beiden Fällen hatten Eisenbahnverkehrsunternehmen eine bestimmte Anzahl von Stationshalten in einem bestimmten Zuglängensegment angemeldet. Die angemeldeten Halte waren Grundlage der o. g. Divisionskalkulation. Kurz vor Abschluss der Stationsnutzungsverträge war den Eisenbahnverkehrsunternehmen aufgefallen, dass sie aufgrund eines Versehens die Halte in den falschen Längensegmenten angemeldet hatten. Eine Neuberechnung der Stationspreise je Kategorie und Aufgabenträger auf der Basis einer korrigierten Anmeldung war im Hinblick auf die in den Infrastrukturnutzungsbedingungen vorgesehene Abfolge von Anmeldung der Infrastrukturnutzung, Angebotserstellung und Annahme des Infrastrukturnutzungsvertrages praktisch nicht mehr rechtzeitig möglich. Die Eisenbahnverkehrsunternehmen wurden daher von der DB Station&Service AG aufgefordert, Verträge auf der Basis ihrer ursprünglich angemeldeten Halte abzuschließen. Daraufhin verpflichtete die Bundesnetz-

__________

23 Vgl. BNetzA, Bescheid v. 19.11.2011 – 10.040-F-10-332, S. 2 des amtlichen Umdrucks. 24 BNetzA, Bescheid v. 26.4.2011 – (705e) 10.050-F-10-801 – locomore; BNetzA, Bescheid v. 12.4.2012 – (705e) 10.050-F-11-803 HKX. 25 Vgl. BNetzA, Bescheid v. 26.4.2011 – (705e) 10.050-F-10-801, S. 7 ff. des amtlichen Umdrucks; BNetzA, Bescheid v. 12.4.2012 – (705e) 10.050-F-11-803 HKX, S. 13. 26 Stand: 1.7.2012. 27 BNetzA, Bescheide v. 6.6.2011 – 10.050-F-11-802 – Keolis Deutschland, und Az. 10.050-F-10-802 – NordWestBahn.

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agentur die DB Station&Service AG ungeachtet der damit verbundenen praktischen Probleme zum Vertragsabschluss auf der Basis der korrigierten Anmeldungen, weil es andernfalls zu einer sachlich ungerechtfertigten Ungleichbehandlung mit anderen Eisenbahnverkehrsunternehmen komme, die von Anfang an richtig angemeldet hätten.28 Auch gegen diesen Bescheid hat die DB Station&Service AG Widerspruch erhoben, über den bisher29 nicht entschieden ist. 4. Weitere Entwicklung In Erfüllung der Auflagen zum Bescheid vom 19.11.2010 legte die DB Station& Service AG fristgerecht eine rechnerische Herleitung der Zuglängenfaktoren vor, aus der sich die Notwendigkeit einer weiteren Modifizierung des Stationspreissystems ergab. Von der Pflicht zu einer entsprechenden Information der Eisenbahnverkehrsunternehmen zum 1.9.2011 wurde die DB Station&Service AG allerdings entbunden, weil das erforderliche Einvernehmen mit der Bundesnetzagentur nicht erzielt werden konnte. Die Behörde stellt inzwischen die Ersetzung der Zuglängenfaktoren durch einen „Verkehrsleistungsfaktor“ zur Diskussion. Notfalls bleibe es der DB Station&Service AG unbenommen, für die Übergangszeit von einem Jahr an den derzeitigen Zuglängenfaktoren festzuhalten, wenn in der Zwischenzeit in enger Abstimmung mit der Behörde eine weitere Fortschreibung des Stationspreissystems erfolge. Im Rahmen der auf einen späteren Zeitpunkt verschobenen Information der Eisenbahnverkehrsunternehmen müsse die DB Station&Service AG allerdings mitteilen, aufgrund welcher Erwägungsgründe sie sich für die dann gewählte Ausgestaltung des Zuglängenfaktors entschieden habe.30 In dieser unübersichtlichen Gemengelage besteht für die DB Station&Service AG lediglich in einer Hinsicht Rechtssicherheit: Jede beabsichtigte Modifizierung des geltenden Stationspreissystems zieht wiederum Verfahren der ex anteRegulierung gemäß § 14d Satz 1 Nr. 6 AEG nach sich, die der Bundesnetzagentur die Möglichkeit zum Erlass weiterer Bescheide eröffnen.

III. Eisenbahnregulierung als „laufende Verhaltenskontrolle“ Unternimmt man den Versuch, den geschilderten Beispielsfall typologisch einzuordnen, erweist sich das behördliche Handeln überwiegend als formelles Verwaltungshandeln durch belastende, z. T. mit Nebenbestimmungen versehene Verwaltungsakte. Für die aufgeworfene Frage nach möglichen Grenzen dieses Verwaltungshandelns ist mit einer derartigen Zuordnung allerdings noch nichts gewonnen. Orientierung könnte hingegen eine Unterscheidung behördlicher Maßnahmen vermitteln, die aus dem allgemeinen Kartellrecht

__________ 28 Vgl. BNetzA, Bescheide v. 6.6.2011 – 10.050-F-11-802 – Keolis Deutschland, und Az. 10.050-F-10-802 – NordWestBahn. 29 Stand: 1.7.2012. 30 Vgl. BNetzA, Schreiben v. 16.9.2011 – (705) 10.040-F-10-332.

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bekannt ist: Es geht um die in der Praxis der Zusagen zur Abwendung bestimmter kartellbehördlicher Verfügungen entwickelte Zuordnung behördlicher Maßnahmen zu den Kategorien der Struktur- bzw. der Verhaltenskontrolle.31 1. Schutz des Wettbewerbs durch Struktur- und Verhaltenskontrolle Die Unterscheidung zwischen der Struktur- und der Verhaltenskontrolle geht – zumindest im deutschen, wohl aber auch im europäischen Recht – auf eine ordnungspolitische Diskussion im Bereich der Fusionskontrolle zurück.32 Weder im deutschen noch im europäischen Fusionskontrollrecht geht es bei der Entscheidung über einen angemeldeten Zusammenschluss um „alles oder nichts“, also allein um Freigabe oder Untersagung. In der in Deutschland durch die 2. GWB-Novelle (1973) eingeführten Fusionskontrolle war dies zunächst ausdrücklich nur für die Ministererlaubnis geregelt. § 24 Abs. 3 Satz 3 GWB a. F. bestimmte, eine Erlaubnis könne mit „Beschränkungen und Auflagen“ verbunden werden.33 Mit der 6. GWB-Novelle (1999) wurde in § 40 Abs. 3 Satz 2 GWB klargestellt, dass es sich um „Bedingungen und Auflagen“ handelt, mit denen eine Freigabe durch das Bundeskartellamt verbunden werden kann.34 Das Bundeskartellamt war bis zur 6. GWB-Novelle formell am Erlass einer Freigabeverfügung mit Nebenbestimmungen gehindert gewesen.35 Es hatte sich allerdings die Praxis herausgebildet, bei angemeldeten, von Amts wegen aufgegriffenen oder ohne Anmeldung vollzogenen Zusammenschlüssen Zusagen der Zusammenschlussbeteiligten entgegen zu nehmen und auf dieser Grundlage von einer Untersagung abzusehen.36 Während die „Zusagenpraxis“ des Bundeskartellamtes vom Kammergericht ausdrücklich gebilligt worden war,37 blieb sie in der Literatur umstritten.38 Nicht zuletzt deshalb hatte sich der Gesetzgeber der 6. GWB-Novelle zu einer Neuregelung in § 40 Abs. 3 GWB veranlasst gesehen. Er ist damit dem Vorbild der Europäischen Fusionskontrollverordnung gefolgt, die in Art. 8 Abs. 2 Satz 2 und Art. 6 Abs. 2 Satz 2 bestimmt, dass die Kommission eine Freigabeentscheidung „mit Bedingungen und Auflagen“ verbinden kann.39 Die Formulierung des GWB geht jedoch über

__________

31 Zu den unterschiedlichen ordnungspolitischen Ansätzen gegenüber wettbewerbsbeeinträchtigenden Strategien grdl. Schmidt, Wettbewerbspolitik und Kartellrecht, 8. Aufl. 2005, S. 159 ff. 32 Hierzu etwa Richter in Wiedemann, Handbuch des Kartellrechts, 2. Aufl. 2008, § 21 Rz. 104 ff. m. w. N. 33 Hierzu im Einzelnen Kleinmann/Bechtold, Kommentar zur Fusionskontrolle, 2. Aufl. 1989, § 24 Rz. 327 ff. 34 Vgl. Begründung zum Gesetzentwurf der Bundesregierung, BT-Drucks. 13/9720, Ziff. II zu § 40 GWB; auch abgedruckt bei Baron, Das neue Kartellgesetz, 1999, S. 150. 35 Vgl. Richter (Fn. 32), § 21 Rz. 51 ff. 36 Zur „Zusagenpraxis“ ausf. Schulte in Schulte, Handbuch Fusionskontrolle, 2005, Rz. 604 ff. 37 KG, WuW/E OLG 1637 ff. – Weichschaum I, und WuW/E OLG 1758 ff. – Weichschaum II. 38 Vgl. nur Richter, Teiluntersagung in der Fusionskontrolle, 1987, S. 56 m. w. N. 39 Vgl. hierzu Staebe, „Unzulässige Verhaltensauflagen“ zu fusionskontrollrechtlichen Freigabeentscheidungen, WRP 2004, 66 ff.

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diejenige der FKVO hinaus, indem § 40 Abs. 3 Satz 2 GWB weiter vorsieht, dass sich die Nebenbestimmungen „[…] nicht darauf richten [dürfen], die beteiligten Unternehmen einer laufenden Verhaltenskontrolle zu unterstellen.“40 Während sich danach also die Fusionskontrolle auf Maßnahmen zur Marktstrukturkontrolle beschränken muss, sind Maßnahmen der Verhaltenskontrolle der Abstellung von Zuwiderhandlungen gegen das Kartellverbot oder das Verbot des Missbrauchs einer marktbeherrschenden Stellung vorbehalten.41 Insoweit sieht das deutsche Recht seit der 7. GWB-Novelle (2005) in § 32 Abs. 2 GWB vor, dass die Kartellbehörde „[…] den Unternehmen oder Vereinigungen von Unternehmen alle Maßnahmen aufgeben [kann], die für eine wirksame Abstellung der Zuwiderhandlung erforderlich […] sind.“ Der deutsche Gesetzgeber hat sich hier in der Sache eine Vorschrift der europäischen Kartellverfahrensverordnung (VO 1/2003) zu eigen gemacht.42 Nach deren Art. 7 Abs. 1 Satz 2 kann die Kommission den beteiligten Unternehmen oder Unternehmensvereinigungen nämlich „[…] alle erforderlichen Abhilfemaßnahmen verhaltensorientierter oder struktureller Art vorschreiben, die gegenüber der festgestellten Zuwiderhandlung verhältnismäßig und für eine wirksame Abstellung der Zuwiderhandlung erforderlich sind.“ Weiter heißt es: „Abhilfemaßnahmen struktureller Art können nur in Ermangelung einer verhaltensorientierten Abhilfemaßnahme von gleicher Wirksamkeit festgestellt werden, oder wenn letztere im Vergleich zu Abhilfemaßnahmen struktureller Art mit einer größeren Belastung für die beteiligten Unternehmen verbunden wäre.“ Anders als bei der Fusionskontrolle sind strukturelle Maßnahmen im Zusammenhang mit dem Kartellverbot und der Missbrauchsaufsicht daher die Ausnahme. Den Regelfall bilden hier die verhaltensorientierten Abhilfemaßnahmen, wobei sich die Literatur43 und – soweit ersichtlich – auch die behördliche Anwendungspraxis darüber einig sind, dass es sich hier stets um einmalige, punktuelle Maßnahmen und nicht um eine laufende Kontrolle des Marktverhaltens der betroffenen Unternehmen handeln darf. Insgesamt ist daher festzuhalten, dass sich die allgemeine Lehre der behördlichen Handlungsformen im Bereich der kartellbehördlichen Aufsicht dahingehend erweitern lässt, ob sich ein Verwaltungsakt bzw. seine Nebenbestimmung auf eine strukturelle oder verhaltensorientierte Maßnahme richtet, wobei bei Maßnahmen zur Ver-

__________ 40 Diese Formulierung bleibt auch nach dem Vorschlag der Bundesregierung für eine 8. GWB-Novelle unverändert, vgl. RegE v. 28.3.2012, abrufbar unter www.bmwi.de/ BMWi/Navigation/Wirtschaft/Wirtschaftspolitik/wettbewerbspolitik.html, Art. 1, Ziffer 23. 41 Vgl. etwa Monopolkommission, Preiskontrollen in Energiewirtschaft und Handel? Zur Novellierung des GWB, Sondergutachten 47, 2007; Rz. 41 ff. 42 Bechtold, GWB, 5. Aufl. 2008, § 32 Rz. 14. Die 8. GWB-Novelle soll insoweit zu einer Angleichung führen, vgl. RegE v. 28.3.2012 (Fn. 40), Art. 1, Ziffer 12. 43 Bornkamm in Langen/Bunte, Kommentar zum deutschen und europäischen Kartellrecht, 11. Aufl. 2011, § 32 Rz. 31 m. w. N.

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haltenskontrolle typologisch zwischen der punktuellen und der laufenden Verhaltenskontrolle unterschieden werden muss. 2. Einordnung der Eisenbahnregulierung Die Analyse der behördlichen Maßnahmen im Bereich der Eisenbahnregulierung führt in vielen Fällen zu der Feststellung, dass mit den regulierungsbehördlichen Verfügungen eine laufende Verhaltenskontrolle der betroffenen Unternehmen stattfindet. So zeichnet sich der geschilderte Beispielsfall durch ein Wechselspiel zwischen behördlichen und unternehmerischen Maßnahmen aus, die jeweils wieder eine Reaktion provozieren. Zu beachten ist, dass Reaktionen seitens des betroffenen Unternehmens, der DB Station&Service AG, nicht uneingeschränkt autonom erfolgen, sondern von den zivilrechtlichen Auseinandersetzungen mit zugangsberechtigten Eisenbahnverkehrsunternehmen beeinflusst sind. Ohne diese Konstellation wäre es sicher ratsam gewesen, bis zu einer rechtskräftigen Entscheidung über den Bescheid der Bundesnetzagentur vom 10.12.2009 am früheren Stationspreissystem festzuhalten, nachdem das Oberverwaltungsgericht Münster die aufschiebende Wirkung des erhobenen Widerspruchs angeordnet hatte.44 Die in zahlreichen Zivilprozessen erfolgte Berufung zugangsberechtigter Eisenbahnverkehrsunternehmen auf die von der Behörde behauptete materielle Rechtswidrigkeit des Systems zwang die DB Station&Service AG faktisch dazu, ein neues Stationspreissystem einzuführen. Dieses wurde trotz der Billigung durch den Bescheid vom 19.11.2011 seinerseits Gegenstand der folgenden, z. T. widersprüchlichen Bescheide vom 19.11.201045 sowie vom 26.4.und 6.6.2011.46 Parallel zur Auseinandersetzung über diese Bescheide war die Adressatin mit der Erfüllung der Auflagen befasst, die die Behörde im Zeitablauf weiter fortschrieb. Infolge dessen sind die Auflagen nach wie vor nicht vollständig erfüllt.47 Trotz der Bestandskraft des Bescheides vom 19.11.2010 ist daher bis heute48 keiner der seither erlassenen Bescheide inhaltlich „abgearbeitet“, so dass die Behörde immer wieder Anlass hat, in unterschiedlichen Zusammenhängen auf das Stationspreissystem betreffende offene Punkte zurück zu kommen. Die Entwicklung der Auseinandersetzungen deutet darauf hin, dass die laufende Kontrolle des Marktverhaltens nicht nur die zufällige Folge paralleler Verwaltungs- und Rechtsschutzverfahren ist, sondern vielmehr von der Bundesnetzagentur bewusst angestrebt wird. In der Diktion des § 40 Abs. 3 Satz 2 GWB wird man zusammenfassend sagen können, dass sich die verschiedenen Maßnahmen in diesem Beispielsfall darauf richten, die betroffenen Unternehmen einer laufenden Verhaltenskontrolle zu unterstellen.

__________ 44 45 46 47 48

Siehe hierzu o. II.1 sowie Fn. 14. Siehe hierzu o. II.2 sowie Fn. 21. Siehe hierzu o. II.3 sowie Fn. 27 und 30. Stand: 1.7.2012. Siehe hierzu o. II.4.

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IV. Grenzen der laufenden Verhaltenskontrolle 1. Wortlaut und historischer Hintergrund der Ermächtigungsgrundlagen Die den Maßnahmen der Bundesnetzagentur zugrunde liegenden Ermächtigungsnormen enthalten keine ausdrücklichen Grenzen für die beschriebene Verhaltenskontrolle. Regelungen zur Typologie regulierungsbehördlicher Entscheidungen nach dem Vorbild des Kartellrechts existieren nicht.49 Auch in den Gesetzesmaterialien finden sich keine Hinweise darauf, dass der Gesetzgeber den mit der Eisenbahnregulierung befassten Behörden eine bestimmte Typologie ihrer Entscheidungen vorgeben wollte. Dies erklärt sich nicht zuletzt daraus, dass die Befugnisse der Bundesnetzagentur erst im Vermittlungsverfahren zum Erlass der Dritten AEG-Novelle (2005) ausformuliert wurden.50 Damals wurde die Zuständigkeit der Bundesnetzagentur zur Überwachung der Einhaltung der eisenbahnrechtlichen Zugangsvorschriften begründet.51 Zur Erfüllung ihrer Aufgaben wurde die Behörde neben einer allgemeinen Befugnisnorm52 mit Eingriffsrechten gegenüber Eisenbahninfrastrukturunternehmen im Rahmen des Vorabprüfungsverfahrens53 und eines nachträglichen Prüfungsverfahrens54 ausgestattet, die durch die Duldungs- und Mitwirkungspflichten der betroffenen Unternehmen55 flankiert wurden. 2. Systematische Stellung der Ermächtigungsgrundlagen Während weder Wortlaut noch historische Auslegung eine zwingende Schlussfolgerung hinsichtlich der Grenzen einer Verhaltenskontrolle im Eisenbahnregulierungsrecht zulassen, ergeben sich aus der systematischen Stellung der Ermächtigungsgrundlagen klare Anhaltspunkte. So deutet insbesondere die Unterscheidung zwischen dem Vorabprüfungsverfahren und dem nachträglichen Prüfungsverfahren darauf hin, dass der Gesetzgeber die mit einer Vorabprüfung verbundenen Befugnisse der Bundesnetzagentur auf punktuelle Eingriffe in Form des gesetzlich vorgesehenen Widerspruchs beschränken und eine fortlaufende Überwachung der unternehmerischen Tätigkeit in Form einer laufenden Verhaltenskontrolle ausschließen wollte. Insbesondere für eine Ausdehnung der Vorabprüfung über den Zeitpunkt der Einführung von Infrastrukturnutzungsbedingungen oder Entgeltgrundsätzen hinaus besteht offensichtlich kein Bedürfnis. Die Bundesnetzagentur kann Nutzungsbedingungen für Schienenwege und Serviceeinrichtungen sowie Regelungen über Höhe und

__________

49 An diesem normativen Befund wird sich voraussichtlich nach dem Vorschlag des Bundesverkehrsministeriums für ein neues Eisenbahnregulierungsgesetz nichts ändern, vgl. RefE v. 21.11.2011 (unveröffentlicht). 50 Vgl. Deutscher Bundestag, Beschlussempfehlung des Vermittlungsausschusses zum Dritten Gesetz zur Änderung eisenbahnrechtlicher Vorschriften, BT-Drucks. 186/05, S. 11. 51 Vgl. § 14b Abs. 1 AEG. 52 Vgl. § 14c Abs. 1 AEG. 53 Vgl. § 14d i. V. m. § 14e AEG. 54 Vgl. § 14f AEG. 55 Vgl. § 14c Abs. 2 und 3 AEG.

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Struktur der Entgelte nämlich von Amts wegen im Rahmen der ex post-Kontrolle überprüfen. Hierbei ist anerkannt, dass die nachträgliche Kontrolle von Nutzungsbedingungen und Entgelten durch die Vorabprüfung nicht ausgeschlossen wird. Beide Verfahrensarten stehen nach der gesetzlichen Konzeption gleichberechtigt nebeneinander.56 Die Bundesnetzagentur ist also, wenn sie trotz einer bereits erfolgten Vorabprüfung zu einem späteren Zeitpunkt Missstände beseitigen will, nicht darauf angewiesen, durch Auflagen in Vorabprüfungsentscheidungen fortlaufende Aktivitäten des betroffenen Unternehmens anzuordnen, wie dies im Beispielsfall durch den Bescheid vom 19.11.2010 geschehen ist. Das Zusammenspiel zwischen Vorabprüfungsverfahren und nachträglicher Kontrolle lässt vielmehr den Schluss zu, dass die laufende Verhaltenskontrolle, die die Auseinandersetzung um das Stationspreissystem prägt, nicht der Konzeption des Gesetzgebers entspricht. 3. Teleologische Einordnung der Ermächtigungsgrundlagen Dieses Ergebnis wird durch eine am Ziel der Vorschriften orientierte Auslegung bestätigt. Nach der in § 1 Abs. 1 Satz 1 formulierten Zielvorgabe des AEG dient das Gesetz nicht nur „[…] der Gewährleistung eines sicheren Betriebs der Eisenbahn und eines attraktiven Verkehrsangebots auf der Schiene […]“, sondern insbesondere auch „[…] der Sicherstellung eines wirksamen und unverfälschten Wettbewerbs auf der Schiene bei dem Erbringen von Eisenbahnverkehrsleistungen und dem Betrieb von Eisenbahninfrastrukturen.“ Hieraus folgt, dass sich der Gesetzgeber auch bei der Eisenbahnregulierung grundlegende ordnungspolitische Prinzipien zu eigen machen wollte: Die ausdrückliche Erwähnung des „Wettbewerbs beim Betrieb von Eisenbahninfrastrukturen“ dokumentiert nämlich die bewusste Entscheidung des Gesetzgebers zugunsten einer wettbewerblichen Regulierung. Die Formulierung wurde mit der Dritten AEG-Novelle (2005) in das Gesetz aufgenommen. Sie war im ursprünglichen Regierungsentwurf noch nicht enthalten, sondern wurde erst vom Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen des Deutschen Bundestages eingefügt. In der Begründung des für die Beschlussempfehlung maßgeblichen Vorschlags heißt es: „Laut Aussage der Bundesregierung ist erklärtes und allgemein anerkanntes Ziel der Novellierung die Verbesserung der Wettbewerbsbedingungen. Auch in dieser Novellierung fehlt aber ein klares gesetzgeberisches Bekenntnis zum Wettbewerb […]“.57 Die auf Initiative des Ausschusses eingefügte Formulierung ist daher als bewusste Entscheidung für das Wettbewerbsprinzip im AEG zu verstehen. Der Gesetzgeber unterstreicht damit den Charakter des Regulierungsrechts als Sonderkartellrecht, der im Gesetz auch an anderer Stelle zum Ausdruck kommt: Indem § 14b

__________ 56 VG Köln, Beschl. v. 16.6.2009 – 18 L 637/09, Rz. 9, zitiert nach der NRW-Rechtsprechungsdatenbank unter http://www.justiz.nrw.de; OVG Münster, Beschl. v. 20.8.2009 – 13 B 922/09, Rz. 8, zitiert nach der NRW-Rechtsprechungsdatenbank unter http://www.justiz.nrw.de. 57 Vgl. Deutscher Bundestag, Beschlussempfehlung des Ausschusses für Verkehr, Bauund Wohnungswesen (14. Ausschuss), BT-Drucks. 15/4419, S. 16.

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Abs. 2 Satz 1 AEG die Aufgaben und Zuständigkeiten der Kartellbehörden im Anwendungsbereich der Regulierungsvorschriften „unberührt“ lässt, erkennt das Gesetz mögliche Wechselwirkungen zwischen Kartell- und Regulierungsrecht auch verfahrensrechtlich an.58 Konsequenterweise ist daher in § 14b Abs. 2 Satz 2 AEG vorgesehen, dass sich die Regulierungsbehörde, die Eisenbahnaufsichtsbehörden sowie die Kartellbehörden gegenseitig über Umstände informieren, die für die Erfüllung ihrer jeweiligen Aufgaben von Bedeutung sein können. Nach § 14b Abs. 2 Satz 3 AEG gilt die Informationspflicht insbesondere im Fall beabsichtigter Entscheidungen, mit denen ein missbräuchliches oder diskriminierendes Verhalten von Eisenbahninfrastrukturunternehmen untersagt werden soll. Diese Regelungen können nur den Sinn haben, die Einheitlichkeit der Anwendung des allgemeinen GWB-Kartellrechts und des besonderen AEG-Kartellrechts sicherzustellen – was wiederum belegt, dass das allgemeine Kartellrecht und das Sonderkartellrecht zur Regulierung des Eisenbahnsektors von den gleichen Prinzipien ausgehen.59 Der materielle Inhalt der angesprochenen Prinzipien ergibt sich aus dem ordnungspolitischen Leitbild der deutschen Wettbewerbspolitik. Ihr Schutzobjekt ist der Wettbewerb als Institution, nicht der einzelne Wettbewerber.60 Wettbewerb wird als ergebnisoffener Prozess, als „Entdeckungsverfahren“ (Hayek) verstanden, dem für die Volkswirtschaft insgesamt wichtige Funktionen zugeschrieben werden, die mittelbar der Erreichung weitergehender Gemeinwohlziele dienen.61 Er treibt die Unternehmen zu ständigen Leistungsverbesserungen an (Antriebsfunktion), steuert den Wirtschaftsverlauf nach Maßgabe von Angebot und Nachfrage (Steuerungsfunktion), begrenzt und kontrolliert wirtschaftliche Macht (Kontrollfunktion), sorgt für die Auslese effizienter Unternehmen (Selektionsfunktion) und verteilt Einkommen nach wirtschaftlicher Leistung (Allokationsfunktion).62 In dieses Leitbild fügt sich die Präferenz des allgemeinen Kartellrechts für die Kontrolle der Marktstruktur und die punktuelle Kontrolle des Marktverhaltens nahtlos ein. Wo infolge von – grundsätzlich zulässigen – Unternehmenszusammenschlüssen Wettbewerbsbeschränkungen drohen, muss der Staat mit den Mitteln der Strukturkontrolle eingreifen, um die Märkte offen zu halten. Wo sich Unternehmen starke Marktpositionen erarbeitet haben und ihr Verhalten frei bestimmen können, müssen machtbedingte Verhaltensspielräume beschränkt werden.63 Der Staat muss ver-

__________ 58 Vgl. Förster/Kardetzky (Fn. 8), Rz. 417 ff. 59 Hierfür – aus Sicht des allgemeinen Kartellrechts – auch Bechtold (Fn. 42), § 19 Rz. 100. Im Ergebnis dürfte sich hieran mit dem Erlass des geplanten Eisenbahnregulierungsgesetzes nichts ändern: Die Formulierung des alten § 1 Abs. 1 Satz 1 AEG soll zwar nicht in das neue Gesetz übernommen werden. Allerdings nennt § 2 Abs. 1 Nr. 2 des Entwurfs als Ziel der Regulierung ausdrücklich auch „die Förderung und Sicherstellung eines wirksamen Wettbewerbs in den Eisenbahnmärkten“; vgl. RefE v. 21.11.2011 (unveröffentlicht). 60 Siehe hierzu nur Wiedemann in Wiedemann, Handbuch des Kartellrechts, § 1 Rz. 1 ff.; Bechtold (Fn. 42), Einführung Rz. 39 ff. 61 Wiedemann (Fn. 60), § 1 Rz. 4. 62 Bechtold (Fn. 42), Einführung Rz. 43. 63 Wiedemann (Fn. 60), § 1 Rz. 1.

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suchen, die Steuerungsfunktion des Wettbewerbs durch staatliche Eingriffe zu ersetzen, die so wirken, als ob tatsächlich Wettbewerb herrschte.64 Das Modell des Als-ob-Wettbewerbs erklärt die Skepsis des allgemeinen Kartellrechts gegenüber der laufenden Verhaltenskontrolle, die für den Bereich der Fusionskontrolle im ausdrücklichen gesetzlichen Verbot des § 40 Abs. 3 Satz 2 GWB ihren Ausdruck gefunden hat. Eine laufende Kontrolle des Marktverhaltens (durch Wettbewerber) findet selbst im schärfsten Wettbewerb nicht statt. Die dem Modell des Als-ob-Wettbewerbs verpflichtete Kartellbehörde muss sich deshalb auf punktuelle, gegen bestimmte Verhaltensweisen von Unternehmen gerichtete Eingriffe beschränken. Eine allgemeine oder laufende Verhaltenskontrolle darf sie nicht begründen. Mit der Entscheidung des Gesetzgebers zur wettbewerblichen Regulierung im Eisenbahnsektor sowie dem Gleichklang der ordnungspolitischen Prinzipien bei der Anwendung des allgemeinen Kartellrechts und des besonderen Rechts der Eisenbahnregulierung ist daher auch das Verbot einer laufenden Verhaltenskontrolle verbunden. 4. Verfassungsrechtliche Perspektive Ob sich ein Verbot der laufenden Verhaltenskontrolle im Eisenbahnregulierungsrecht über die systematisch-teleologische Begründung hinaus auch auf verfassungsrechtliche Vorgaben stützen lässt, ist zweifelhaft. Grundsätzlich steht es dem Gesetzgeber frei, einer Behörde Kompetenzen zuzuweisen, die von allgemeinen wettbewerbspolitischen Prinzipien abweichen, so lange sie insbesondere mit dem Rechtsstaatsprinzip, das sich vor allem im Verhältnismäßigkeitsgrundsatz konkretisiert, vereinbar sind.65 Behördliche Maßnahmen im Rahmen der Eisenbahnregulierung, die auf eine laufende Verhaltenskontrolle gerichtet sind, müssen nicht zwangsläufig ungeeignet zur Erreichung bestimmter Ziele sein. Auch gleich geeignete „mildere“ Alternativen zur laufenden Verhaltenskontrolle sind nicht von vornherein klar ersichtlich. Gleichwohl gehen behördliche Maßnahmen, die auf eine laufende Verhaltenskontrolle gerichtet sind, in vielen Fällen zu weit, was die ordnungspolitische Skepsis gegenüber einer laufenden und allgemeinen Verhaltenskontrolle erklärt. Der verfassungsrechtliche Verhältnismäßigkeitsgrundsatz würde aber überdehnt, wenn man ihm ein generelles Verbot der laufenden Verhaltenskontrolle entnehmen wollte. Hieran dürfte sich auch im Hinblick auf die spezifischen eisenbahnverfassungsrechtlichen Vorschriften nichts ändern, wenngleich Art. 87e Abs. 3 Satz 1 GG fordert, dass die Eisenbahnen des Bundes als Wirtschaftsunternehmen zu führen sind. Ein verfassungsrechtliches Verbot der laufenden Verhaltenskontrolle ergibt sich hieraus nicht. Die Vorschrift unterstreicht allerdings den Gleichklang der ordnungspolitischen Prinzipien bei der Anwendung des allgemeinen Kartellrechts und des besonderen Rechts der Eisenbahnregulierung, weil deutlich wird, dass die Eisenbahnen des Bundes

__________ 64 Bechtold (Fn. 42), Einführung Rz. 45 f. 65 So für die Gesetzgebung zum Schutz des Wettbewerbs ausdrücklich die Monopolkommission (Fn. 41), Rz. 41 ff.

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Keine „laufende Verhaltenskontrolle“ durch das Eisenbahnregulierungsrecht!

„am Wettbewerb auf den Verkehrsmärkten nicht bloß notgedrungen teilnehmen müssen, sondern als Marktsubjekte aktiv vorstoßend und reaktiv nacheilend auch und vor allem teilnehmen sollen“ (Hommelhoff).66 5. Europarechtliche Perspektive Auch die einschlägigen europarechtlichen Vorschriften sind in der Frage der Zulässigkeit einer laufenden Verhaltenskontrolle weitgehend neutral. Die sekundärrechtlichen Vorgaben für das deutsche Eisenbahnrecht enthalten kein dem § 1 Abs. 1 Satz 1 AEG vergleichbares Bekenntnis zu einer wettbewerblichen Regulierung. Dies betrifft insbesondere die Richtlinie 2001/14/EG, in deren Erwägungsgründen lediglich der „faire Wettbewerb bei der Erbringung von Eisenbahnverkehrsleistungen“ angesprochen ist.67 Zudem sind seit einiger Zeit in der Rechtsprechung der europäischen Gerichte Anzeichen dafür erkennbar, dass sich das europäische Wettbewerbsleitbild von der ursprünglichen Idee des Wettbewerbs als einem ergebnisoffenen Prozess zu einem ergebnisorientierten Konzept wandelt, das den Wettbewerb nicht in seinen Voraussetzungen schützt, sondern ihn letztlich zur Erreichung wohlfahrtsökonomischer Ziele (insbesondere Verbraucherschutz) instrumentalisiert,68 die nach dem traditionellen ordnungspolitischen Verständnis keinen unmittelbaren Zweck des Wettbewerbsschutzes darstellen. Gerade die Streichung des früher in Art. 3 lit. g EG-Vertrag genannten Systems des unverfälschten Wettbewerbs aus dem Katalog der Zielbestimmungen der Europäischen Gemeinschaft durch den Vertrag von Lissabon lässt sich als Argument für einen wirtschaftsverfassungsrechtlichen Paradigmenwechsel auf der Ebene des Gemeinschaftsrechts anführen.69 Dagegen spricht allerdings, dass die einschlägigen materiellen Rahmenbedingungen der Wettbewerbsordnung im Gemeinschaftsrecht, also die Grundfreiheiten, die Wettbewerbsregeln und die Wirtschaftsgrundrechte inhaltlich unverändert bestehen bleiben.70

__________ 66 Hommelhoff/Schmidt-Aßmann, ZHR 160 (1996), 521, 533. 67 Erwägungsgrund 16 der Richtlinie 2001/14/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 26.2.2001 über die Zuweisung von Fahrwegkapazität der Eisenbahn und die Erhebung von Entgelten für die Nutzung von Eisenbahninfrastruktur, ABl. L 75 v. 15.3.2001, S. 29. Dieser Rechtszustand wird durch die laufenden Arbeiten zum Erlass einer Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Schaffung eines einheitlichen europäischen Eisenbahnraums (Recast) bestätigt, deren erste Lesung im Rat am 8.3.2012 abgeschlossen wurde, vgl. Interinstitutionelles Dossier 2010/0253 (COD). Die Formulierung des bisherigen Erwägungsgrunds 16 findet sich jetzt in Erwägungsgrund 9. 68 Hierzu etwa EuGH, Urt. v. 15.3.2007 – Rs. C-95/04P, Slg. 2007, I-2331, 86 – British Airways plc/Kommission. Das Gericht hatte die Rechtfertigung von Wettbewerbsverzerrungen für möglich gehalten, wenn diese letztlich dem Verbraucher zugute kommen; vgl. Gärditz, Europäisches Regulierungsverwaltungsrecht auf Abwegen, AöR 135 (2010), 251, 265 m. w. N. 69 Vgl. etwa Basedow, Das Sozialmodell von Lissabon: Solidarität statt Wettbewerb?, EuZW 2008, 225; krit. auch Behrens, Der Wettbewerb im Vertrag von Lissabon, EuZW 2008, 193. 70 Hierzu eingehend Carsten Nowak, Europarecht nach Lissabon, 2011, S. 225 ff. m. w. N.

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Gegenüber einer laufenden oder allgemeinen Verhaltenskontrolle lässt die europäische Wettbewerbspolitik jedenfalls eine gewisse Zurückhaltung erkennen.71 Der deutsche Gesetzgeber ist in Ermangelung entgegenstehender gemeinschaftsrechtlicher Vorgaben frei darin, im Rahmen der Umsetzung der entsprechenden Richtlinien ggf. auch einem anderen ordnungspolitischen Leitbild folgende Regelungen zu treffen, solange die mit den Richtlinien verfolgten – verbindlichen – Ziele erreicht werden.

V. Fazit 1. Im Ergebnis ist festzuhalten, dass die Vorgaben des deutschen Eisenbahnregulierungsrechts, soweit sie zu einer laufenden Verhaltenskontrolle der betroffenen Unternehmen führen, kritisch zu beurteilen sind. Mit der ausdrücklichen Zielsetzung des deutschen Gesetzgebers, den Wettbewerb beim Betrieb der Eisenbahninfrastruktur stärken zu wollen, ist ein klares Bekenntnis zu einer an den Prinzipien des Wettbewerbs orientierten Regulierung verbunden. Infolgedessen ist Zurückhaltung bei behördlichen Maßnahmen zur laufenden und allgemeinen Verhaltenskontrolle der betroffenen Unternehmen geboten. 2. Die Abgrenzung zwischen unzulässiger laufender und zulässiger punktueller Verhaltenskontrolle kann im Einzelfall Schwierigkeiten bereiten. In dem das Stationspreissystem der DB Station&Service AG betreffenden Beispielsfall ergibt sich der Dauercharakter der behördlichen Maßnahmen insbesondere aus dem Wechselspiel zwischen behördlichen und unternehmerischen Maßnahmen, die jeweils Reaktionen provozieren, die auch von zivilrechtlichen Auseinandersetzungen beeinflusst werden. Hierbei handelt es sich nicht nur um die zufällige Folge paralleler Verwaltungs- und Rechtsschutzverfahren, was darauf hindeutet, dass die behördlichen Maßnahmen auf eine unzulässige laufende Verhaltenskontrolle gerichtet sind. 3. Um zu vermeiden, dass einzelne behördliche Maßnahmen das Ziel einer wettbewerblichen Regulierung verfehlen, sollte das behördliche Handeln im Einzelfall einem entsprechenden Test unterzogen werden. Jedenfalls unzulässig dürften solche behördlichen Maßnahmen sein, die nicht nur faktisch eine laufende Verhaltenskontrolle bewirken, sondern erkennbar auf eine solche Kontrolle gerichtet sind. 4. Will der Gesetzgeber sicherstellen, dass das Ziel einer wettbewerblichen Regulierung im regulierungsbehördlichen Tagesgeschäft nicht aus dem Blick gerät, würde sich eine dem § 40 Abs. 2 Satz 3 GWB entsprechende gesetzliche Klarstellung anbieten. So könnte etwa § 14b AEG bzw. die entsprechende Bestimmung des künftigen Eisenbahnregulierungsgesetzes um einen Absatz ergänzt werden, wonach sich „Maßnahmen der Regulierungsbehörde nicht darauf richten [dürfen], die betroffenen Unternehmen einer laufenden Verhaltenskontrolle zu unterstellen.“

__________ 71 Siehe hierzu o. III.1.

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Haftungsübernahme als Einlagenrückgewähr – Überlegungen zu § 57 AktG im Nachgang zu Telekom III Inhaltsübersicht I. Einleitung und Problemaufriss II. Auszahlung durch Haftungsübernahme gegenüber Aktionären 1. Haftungsübernahme kraft Gesetzes a) Fallgruppen b) Keine Bedenken aus der Nichtigkeitssanktion des § 57 AktG c) Keine Auszahlung ohne Mitwirkung/Veranlassung seitens des Aktionärs d) Bewertung der Fallgruppen 2. Rechtsgeschäftliche Haftungsübernahme III. Auszahlung durch Haftungsübernahme zugunsten von Aktionären 1. Besicherung von Aktionärsverbindlichkeiten 2. Haftungsrisiko aus Kapitalmarkthaftungstatbeständen a) Die Position des BGH in Telekom III

b) Würdigung c) Veranlasste Haftungsübernahme d) „Auftragslose“ Haftungsübernahme e) Veranlassungskriterien IV. Kompensation 1. Kompensation durch Freistellungsvereinbarung 2. Kompensation durch von dritter Seite der AG gewährte oder zufließende Vorteile a) Vorteilserbringung für Rechnung oder auf Weisung des Gesellschafters b) Vorteilsgewährung durch Dritte aus eigenem Antrieb 3. Keine bilanzielle Bezifferbarkeit von Vorteilen erforderlich V. Zusammenfassung

I. Einleitung und Problemaufriss Schon früh sind Schnittstellen zwischen dem Aktien- und Kapitalmarktrecht in das Blickfeld des Jubilars geraten.1 Zu den Klassikern gehört das Verhältnis der spezialgesetzlichen Prospekthaftung zu den aktienrechtlichen Kapitalschutzregeln, das heute im Sinne eines uneingeschränkten Vorrangs der Haftung für fehlerhafte Kapitalmarktinformation vor § 57 AktG als weithin geklärt angesehen werden kann.2 Für einen noch offenen praxisrelevanten Teil-

__________

1 S. etwa Hommelhoff, Anlegerinformationen im Aktien-, Bilanz- und Kapitalmarktrecht, ZGR 2000, 748–775. 2 Mülbert/Steup in Habersack/Mülbert/Schlitt (Hrsg.), Unternehmensfinanzierung am Kapitalmarkt, 2. Aufl. 2008, § 33 Rz. 5 ff.; Haag in Habersack/Mülbert/Schlitt, a. a. O., § 23 Rz. 61; Meyer in Marsch-Barner/Schäfer (Hrsg.), Handbuch börsennotierte AG, 2. Aufl. 2009, § 8 Rz. 153; Krämer in Marsch-Barner/Schäfer, a. a. O., § 10 Rz. 344; Hüffer, 10. Aufl. 2012, § 57 AktG Rz. 3; Cahn/v. Spannenberg in Spindler/Stilz, 2. Aufl. 2010, § 57 AktG Rz. 47; Fleischer in K. Schmidt/Lutter, Bd. 1, 2. Aufl. 2010, § 57

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aspekt hat der BGH jüngst im Telekom III-Urteil3 weitere Klärungen unternommen. Erste rasche Reaktionen lassen freilich ein gewisses Maß an (praktischer) Verunsicherung erkennen.4 Zudem finden sich im Urteil teils en passant getätigte Äußerungen von möglicherweise grundsätzlicherer Bedeutung für die aktienrechtlichen Kapitalschutzregeln. Diesem Aspekt soll im Folgenden für die verschiedenen Konstellationen einer gesetzlichen oder vertraglichen Haftungsübernahme durch eine Aktiengesellschaft nachgegangen werden. Der Beitrag untersucht zunächst, unter welchen Voraussetzungen eine Haftungsübernahme der Gesellschaft gegenüber Aktionären eine Auszahlung nach § 57 Abs. 1 AktG darstellt (II.). Sodann geht es um Auszahlungen durch Haftungsübernahme zugunsten von Aktionären, welche im Außenverhältnis gegenüber Dritten begründet wird (III.). Dort stehen neben der Besicherung von Aktionärsverbindlichkeiten insbesondere Konstellationen der Kapitalmarkthaftung im Vordergrund, wie sie etwa Gegenstand des Telekom III-Urteils gewesen sind. Schließlich ist zu erörtern, wann eine durch Haftungsübernahme erfolgende Auszahlung derart kompensiert wird, dass ein Verstoß gegen § 57 AktG entfällt (IV.).

II. Auszahlung durch Haftungsübernahme gegenüber Aktionären Unter welchen Voraussetzungen eine Haftungsübernahme durch die Gesellschaft eine Auszahlung nach § 57 Abs. 1 AktG bildet, soll zunächst für die Fälle einer gesetzlich angeordneten Haftung erörtert werden. Die Frage nach den

__________ AktG Rz. 67; Lenenbach, Kapitalmarktrecht, 2. Aufl. 2010, § 11 Rz. 11.636 ff.; Servatius in Wachter (Hrsg.), 2012, § 57 AktG Rz. 27; Hamann in Schäfer/Hamann (Hrsg.), Kapitalmarktgesetze, Kommentar, Bd. 1, 2. Aufl. (Stand 10/2010), §§ 44, 45 BörsG Rz. 78 ff.; Schlitt, CFL 2010, 304, 307; Brandi, NZG 2004, 600, 602; a. A. (Anlegerschutz hat hinter Gläubigerinteressen zurückzutreten) noch RGZ 54, 128, 132; RGZ 62, 29, 31; für eine vermittelnde Lösung (Beschränkung des Vorrangs der Haftungs- vor den Kapitalerhaltungsvorschriften auf das sog. freie Vermögen der AG) noch Bayer in MünchKomm. AktG, Bd. 1, 2. Aufl. 2003, § 57 AktG Rz. 24; Veil, ZHR 167 (2003), 365, 395 f.; zur Rechtslage in Österreich Told, Der Gesellschafter 2011, 346; rechtsvergleichend zum Konflikt zwischen Kapitalmarktinformationshaftung und Gläubigerschutz unter Berücksichtigung der Rechtslage in anderen europäischen Staaten sowie den USA Hopt/Voigt in Hopt/Voigt (Hrsg.), Prospekt- und Kapitalmarktinformationshaftung, 2005, S. 60 ff., 117 f. 3 BGH v. 31.5.2011 – II ZR 141/09 = BGHZ 190, 7 = AG 2011, 548 = WM 2011, 1273 = NZG 2011, 829 = NJW 2011, 2719. 4 Fleischer/Thaten, NZG 2011, 1081; Hoffmann-Theinert/Dembski, EWiR 2011, 517; Krämer/Gillessen, FAZ v. 27.7.2011, S. 19; Krämer/Gillessen/Kiefner, CFL 2011, 328; Leuschner, NJW 2011, 3275; Maaß/Troidl, BB 2011, 2563; Mackensen, GWR 2011, 331; Matyschok, BB 2011, 2065; Meyer-Landrut, Börsen-Zeitung v. 8.6.2011, S. 2; Nadoushani, ZIP 2012, 97; Podewils, DStR 2011, 1531; Seibt, Börsen-Zeitung v. 20.7.2011, S. 2; Stöber, WuB II A § 57 AktG 1.11; Wackerbarth, LMK 2011, 321437; Wink, AG 2011, 569; Ziemons, GWR 2011, 404; jüngst mit einer Reihe von Thesen auch Arbeitskreis zum „Deutsche Telekom III-Urteil“ des BGH, CFL 2011, 377.

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Haftungsübernahme als Einlagenrückgewähr

Mindestanforderungen an den Auszahlungstatbestand stellt sich hierfür mit besonderer Schärfe. 1. Haftungsübernahme kraft Gesetzes Mit Blick auf das vorliegende Erkenntnisinteresse erscheint es zunächst angezeigt, die zahlreichen Fälle einer gesetzlich angeordneten Haftungsübernahme einer AG gegenüber ihren Aktionären anhand der Bildung von Fallgruppen zu systematisieren. a) Fallgruppen Die erste Fallgruppe umfasst zunächst die Fälle eines gesetzlichen Schuldbeitritts der Gesellschaft zu einer bereits zugunsten des Aktionärs bestehenden Verbindlichkeit eines Dritten, etwa wenn die Gesellschaft unter Bildung einer OHG oder KG in das Handelsgeschäft dieses Dritten eintritt (§ 28 Abs. 1 HGB) oder die Gesellschaft als übernehmender Rechtsträger und einer ihrer Aktionäre als Gläubiger des übertragenden Rechtsträgers an einer Spaltung beteiligt sind (§ 133 UmwG).5 Der Aktionär erlangt hier einen wirtschaftlichen Vorteil, indem mit der AG eine zusätzliche Schuldnerin hinzutritt und die Werthaltigkeit seines Anspruchs erhöht. Ebenso liegt es im wirtschaftlichen Ergebnis, wenn es infolge der Verschmelzung einer Schuldnerin des Aktionärs auf die Gesellschaft zum Übergang der zugunsten des Aktionärs bestehenden Verbindlichkeit kommt (§ 20 Nr. 1 UmwG). Sodann geht es um die gesetzliche Anordnung von Haftungsverhältnissen, welche die Beeinträchtigung mitgliedschaftlicher Vermögensrechte von Aktionären infolge einer aktien- oder umwandlungsrechtlichen Strukturmaßnahme kompensieren sollen. Hierher gehört etwa, dass die AG einem ihrer Aktionäre nach Durchführung einer Verschmelzung eine Barzuzahlung im Sinne von §§ 15, 196 UmwG schuldet oder nach Abschluss eines Beherrschungs- oder Gewinnabführungsvertrages mit einer anderen, nunmehr abhängigen Gesellschaft, an welcher der Aktionär ebenfalls beteiligt ist, eine Abfindung (§ 305 AktG)6 oder einen Ausgleich (§ 304 AktG) leisten muss7. Derartige Konstella-

__________ 5 Es handelt sich um einen gesetzlichen Schuldbeitritt, da § 133 UmwG eine Gesamtschuld zur Entstehung bringt, s. nur BGH, NJW 2001, 1217, 1218; a. A. Maier-Reimer/ Seulen in Semler/Stengel, UmwG mit SpruchG, 3. Aufl. 2012, § 133 UmwG Rz. 28: zeitlich gestreckte privative Schuldübernahme. 6 Für weitere Fälle einer Abfindungspflicht s. statt vieler Mülbert in FS Hopt, Bd. 1, 2010, S. 1039 ff.; Brandi/Wilhelm, NZG 2009, 1408 ff. 7 Die Pflicht zur Gewährung von Ausgleich und Abfindung ist gesetzlichen Ursprungs, so dass sich die hiesige Zuordnung unabhängig davon rechtfertigt, ob man die Ansprüche als gesetzliche (z. B. Mülbert/Schneider, WM 2003, 2301, 2307 ff.; Weißhaupt, Kompensationsbezogene Informationsmängel in der Aktiengesellschaft, 2003, S. 48 ff.) oder mit der h. M. als rechtsgeschäftliche (s. nur Bilda in FS Hüffer, 2010, S. 49, 50 ff. m. w. N.) Ansprüche einordnet.

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tionen wurden bislang unter dem Aspekt eines Verstoßes gegen § 57 AktG allenfalls am Rande erörtert.8 ,9 Die dritte Fallgruppe betrifft Schadensersatzansprüche wegen fehlerhafter Kapitalmarktinformation, auf deren Grundlage sich ein Aktionär zur Veräußerung seiner Beteiligung unter Wert entscheidet (§§ 37b, 37c WpHG; § 826 BGB). Bei der vierten Fallgruppe geht es darum, dass fehlerhafte Kapitalmarktinformation einen Anleger zu einem überteuerten Beteiligungserwerb veranlasst, sei es aufgrund eines unrichtigen oder unvollständigen Wertpapierprospekts oder einer fehlerhaften Ad-hoc-Mitteilung. Neben der Haftung nach den jeweils maßgeblichen Prospekthaftungstatbeständen (z. B. §§ 44–47 BörsG; jetzt §§ 21 ff. WpPG n. F.) bzw. den §§ 37b, 37c WpHG gehören dazu auch die deliktische Haftung nach § 823 Abs. 2 BGB wegen Verletzung kapitalmarktrechtlicher Schutzgesetze und die Haftung gemäß § 826 BGB. Hier wird seit jeher ebenfalls allein auf die Erfüllung von Schadensersatzansprüchen als möglichen Kapitalerhaltungsverstoß fokussiert und die Frage ausgeblendet, ob eventuell schon die Begründung einer Schadensersatzpflicht gegenüber Aktionären eine verbotene Einlagenrückgewähr darstellen könnte. b) Keine Bedenken aus der Nichtigkeitssanktion des § 57 AktG Die Qualifizierung einer gesetzlich begründeten Haftung als Einlagenrückgewähr scheitert zunächst nicht schon daran, dass nach verbreiteter Auffassung die zur Durchführung der Einlagenrückgewähr gegebenenfalls abgeschlossenen Verpflichtungs- und Erfüllungsgeschäfte (oder doch wenigstens sämt-

__________ 8 Umwandlungsrechtliche Ansprüche der Gesellschafter auf bare Zuzahlung sollen nach teilweise vertretener Ansicht von vornherein insoweit verkürzt entstehen, als sie andernfalls mit den Kapitalschutzregelungen des jeweils verpflichteten Rechtsträgers kollidieren würden, s. nur Bork in Lutter, Bd. 1, 4. Aufl. 2009, § 15 UmwG Rz. 5; Marsch-Barner in Kallmeyer, 4. Aufl. 2010, § 15 UmwG Rz. 2; a. A. Stratz in Schmitt/Hörtnagl/Stratz, UmwG, UmwStG, 5. Aufl. 2009, § 15 UmwG Rz. 17; Hoger, AG 2008, 149, 150 f. 9 Nicht hierher gehört die insbesondere zu den §§ 30, 31 GmbHG geführte Diskussion um die Zulässigkeit von Verschmelzungen einer nach kreditfinanziertem Anteilserwerb überschuldeten Muttergesellschaft (meist eine Zweckgesellschaft) auf die akquirierte Tochter (down stream merger). Dort geht es nicht um eine – vorliegend interessierende – Haftungsübernahme der Tochter gegenüber den gemäß § 20 Abs. 1 Nr. 3 UmwG eintretenden Neugesellschaftern (= Gesellschafter der übertragenden Mutter), sondern um eine wirtschaftliche Gleichstellung des Vorgangs mit einer unentgeltlichen Weiterleitung von seitens der Zielgesellschaft darlehensweise aufgenommenen Beträgen an den Anteilsveräußerer (Altgesellschafter) zwecks Erfüllung des gegenüber den Erwerbern (Neugesellschaftern) bestehenden Kaufpreisanspruchs; für einen Verstoß gegen die Kapitalbindung in diesem Fall etwa Heidinger in Michalski, Bd. 1, 2. Aufl. 2010, § 30 GmbHG Rz. 107; Priester in Lutter (Fn. 8), § 24 UmwG Rz. 61 f.; Klein/Stephanblome, ZGR 2007, 351, 376 ff.; dagegen Widmann in Widmann/Mayer, Umwandlungsrecht, Bd. 2 (Loseblatt), § 24 UmwG Rz. 388 (dort Fn. 4); Riegger, ZGR 2008, 233, 246 f.; Bock, GmbHR 2005, 1023 ff.; Enneking/Heckschen, DB 2006, 1099, 1100.

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liche Verpflichtungsgeschäfte) gemäß § 134 BGB unwirksam sind.10 Zwar ist die Begründung gesetzlicher Ansprüche, wie im Falle der durch unerlaubte Handlung ausgelösten kapitalmarktrechtlichen Schadensersatzansprüche besonders klar zu Tage tritt, zumeist als Realakt einem Nichtigkeitsverdikt überhaupt nicht zugänglich. Jedoch gilt dies auch für bestimmte andere Fallgruppen, in denen eine verbotswidrige Auszahlung durch rein faktisches Tun oder Unterlassen anerkannt wird, beispielsweise beim Unterlassen der Durchsetzung einer Forderung gegen den Aktionär11 oder beim Verstreichenlassen der Möglichkeit zur Kündigung einer Darlehensvergabe.12 Im Übrigen scheint der BGH in seiner Telekom III-Entscheidung eine Nichtigkeit der dort streitgegenständlichen, zwischen Gesellschaft und Aktionär getroffenen vertraglichen Abrede ohnehin nicht zu unterstellen. Die an mehreren Stellen zu findenden Bezugnahmen auf eine seitens der Deutschen Telekom AG gegenüber der KfW eingegangene und vom Senat – möglicherweise wegen fehlender Entscheidungserheblichkeit – jedenfalls nicht explizit für nichtig erklärte Verpflichtung zur verbotswidrigen Übernahme eines Prospekthaftungsrisikos13 könnte man als Hinweis darauf deuten, dass die im Innenverhältnis getroffene Abrede entgegen der bislang herrschenden Meinung als rechtswirksam angesehen wurde. c) Keine Auszahlung ohne Mitwirkung/Veranlassung seitens des Aktionärs Bedenken gegen die generelle Qualifizierung gesetzlich vorgesehener Haftungsübernahmen gegenüber Aktionären als Auszahlung im Sinne von § 57 AktG knüpfen sich jedoch daran, dass ein Aktionär mit einem (Organ-)Verhalten seiner Gesellschaft vielfach selbst dann nicht einverstanden sein wird, wenn ihm hieraus gesetzliche Ansprüche erwachsen. Für deliktische Vorgänge liegt dies auf der Hand, ist aber auch in gesetzlichen Schuldbeitrittsfällen denkbar, etwa wenn der (Minderheits-)Aktionär der den Schuldbeitritt oder die Universalsukzession auslösenden Strukturmaßnahme seiner Gesellschaft widerspricht oder diese gar nicht zur Kenntnis nimmt.14 Dies wirft die grundsätzliche Frage auf, ob eine Auszahlung im Sinne von § 57 AktG auch ohne oder gar gegen den Willen des (vermeintlich) begünstigten Aktionärs angenommen werden kann. Unter Bezugnahme auf ein im Telekom

__________ 10 Hierzu OLG Hamburg, AG 1980, 275, 279; OLG Düsseldorf, AG 1980, 273, 274; OLG München, AG 1980, 272, 273; OLG Koblenz, AG 1977, 231, 232; Hüffer (Fn. 2), § 57 AktG Rz. 23 m. w. N.; Wand/Tillmann/Heckenthaler, AG 2009, 148, 149 f.; a. A. Bayer in MünchKomm. AktG, Bd. 1, 3. Aufl. 2008, § 57 AktG Rz. 162 ff.; K. Schmidt, Gesellschaftsrecht, 4. Aufl. 2002, § 29 II 2b aa; Joost, ZHR 149 (1985), 419, 435; differenzierend Cahn/v. Spannenberg (Fn. 2), § 57 AktG Rz. 86 ff. 11 BGHZ 122, 333, 338 = NJW 1993, 1922. 12 Mülbert/Leuschner, NZG 2009, 281, 283 f.; für diese Alternative zurückhaltender Drygala in KölnKomm. AktG, Bd. 2, 3. Aufl. 2011, § 57 AktG Rz. 76. 13 BGH, AG 2011, 548, 549 ff. (z. B. bei Rz. 15, 26). 14 Zur Situation, wenn die fragliche Strukturmaßnahme demgegenüber auf Betreiben z. B. eines Mehrheitsaktionärs durchgeführt worden ist, s. unten II. 1. d).

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III-Urteil erwähntes Veranlasserprinzip15 wird dies neuerdings bestritten: § 57 AktG setze prinzipiell einen Verursachungs- oder Mitwirkungsbeitrag des Aktionärs am Auszahlungsvorgang voraus, um im Sinne eines in sich konsistenten Kapitalschutzsystems einen Gleichlauf zwischen § 57 AktG und dem Recht des faktischen Konzerns (§§ 311 ff. AktG) zu gewährleisten, wobei an den Veranlassungszusammenhang freilich keine allzu hohen Anorderungen gestellt werden dürften.16 Wäre dem Telekom III-Urteil ein solches allgemeines Erfordernis des „kapitalerhaltungsrechtlichen Veranlassungszusammenhangs“17 zu entnehmen, müsste eine Veranlassung – und damit eine Einlagenrückgewähr – jedenfalls dann ausscheiden, wenn das Tun oder Unterlassen der Gesellschaft(sorgane) auf deren eigenmächtige Initiative zurückgeht oder dem Willen des Aktionärs widerspricht – und letzterer eventuell sogar protestiert.18 Bei näherem Zusehen sollte aus dem Telekom III-Urteil ein solches Erfordernis allerdings nicht vorschnell abgeleitet werden, auch wenn dies im Ergebnis das Richtige trifft: aa) Zurechnungszusammenhang in Mehrpersonen-Verhältnissen Vor allem die obergerichtliche Rechtsprechung stellt seit jeher nicht nur für § 317 Abs. 1 Satz 1 AktG, sondern bisweilen auch im Regelungssystem des § 57 AktG auf ein Kriterium der Veranlassung durch den Aktionär als Haftungsvoraussetzung ab. Dies blieb jedoch auf solche Fälle beschränkt, in denen der Empfang einer seitens der AG erbrachten Leistung durch einen außenstehenden Dritten einem bestimmten Aktionär zugerechnet und damit ausnahmsweise in den Anwendungsbereich des Kapitalerhaltungsrechts einbezogen werden sollte.19 Im Einzelnen finden in diesen Konstellationen freilich mehrere Zurechnungsaspekte Verwendung: Eine Haftung des Gesellschafters für entsprechende Zuwendungen wird von der h. M. zunächst dann bejaht, wenn dieser entweder durch die Leistung an

__________ 15 BGH, AG 2011, 548, 549 (bei Rz. 17) unter Bezugnahme insbesondere auf C. Schäfer, ZIP 2010, 1877, 1880, der ein Veranlassungsprinzip (wohl in Anlehnung an § 317 AktG) zwar erwähnt, für das Kapitalerhaltungsrecht aber nicht näher herleitet oder begründet. 16 In diesem allgemeingültigen Sinne wohl Krämer/Gillessen/Kiefner, CFL 2011, 328, 331; gegen jedes Veranlassungserfordernis demgegenüber Wackerbarth, WM 2011, 193, 202. 17 So die Terminologie bei Krämer/Gillessen/Kiefner, CFL 2011, 328, 331. 18 Vgl. Krämer/Gillessen/Kiefner, CFL 2011, 328, 331 f. 19 Prägnant zum Folgenden Cahn/v. Spannenberg (Fn. 2), § 57 AktG Rz. 72; Bayer (Fn. 10), § 57 AktG Rz. 64 ff.; Hüffer (Fn. 2), § 57 AktG Rz. 13 ff.; Wiesner in Münchener Hdb. des Gesellschaftsrechts, Bd. 4, 3. Aufl. 2007, § 16 Rz. 47 ff.; für §§ 30, 31 GmbHG auch Ekkenga in MünchKomm. GmbHG, Bd. 1, 2010, § 30 GmbHG Rz. 170 ff.

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den Dritten einen eigenen (mittelbaren) wirtschaftlichen Vorteil erhalten20 oder eben die Gesellschaft zur Leistung an den Dritten „veranlasst“ hat,21 wobei unter Heranziehung des Rechtsgedankens der §§ 362 Abs. 2, 185 BGB einiges dafür spricht, dass die Veranlassungsalternative einen bloßen Unterfall der wirtschaftlichen Vorteilserlangung darstellt.22 Was die Anforderungen an eine hinreichende Veranlassung anbelangt, soll jedenfalls ausreichen, dass die AG auf Betreiben des Aktionärs in seinem Interesse eine Leistung erbringt, wogegen es nicht genügt, wenn sie den Dritten im eigenen Interesse bereichert und der Aktionär dies, etwa als Mitglied des Vorstands oder des Aufsichtsrats, lediglich angeregt oder organisiert hat.23 Erforderlich ist jeweils ein im Einzelfall hinreichendes Maß an billigender Mitwirkung seitens des Aktionärs. Darüber hinaus werden in – freilich fragwürdiger – Analogie zu den §§ 89 Abs. 3, 115 Abs. 2 AktG, § 138 Abs. 1 InsO teilweise Leistungen an nahe Angehörige dem Aktionär selbst dann zugerechnet, wenn von einem wirtschaftlichen Vorteil oder einer Veranlassung des Aktionärs keine Rede sein kann.24 Handelt es sich bei dem Zuwendungsempfänger um ein mit dem Aktionär verbundenes Unternehmen, kann jedenfalls bei Vereinigung sämtlicher Anteile dieses Unternehmens in der Hand des Aktionärs, beim Bestehen eines Beherrschungs- und Gewinnabführungsvertrages (§ 291 AktG) oder im Falle der Eingliederung (§ 319 AktG) von einer wirtschaftlichen Identität auf Empfängerseite ausgegangen werden,25 so dass bei funktionaler Betrachtung gar kein Drei-, sondern ein Zweipersonenverhältnis vorliegt. Diese Zurechnungsfragen in Dreieckskonstellationen scheint der BGH in Telekom III vor Augen zu haben, wenn er die Kategorien der Veranlassung und des wirtschaftlichen Vorteils heranzieht, um den durchaus rechtfertigungsbedürfti-

__________ 20 Darauf abstellend OLG Hamburg, AG 1981, 344, 345; OLG Hamburg, WM 1987, 1163, 1167; Henze in Großkomm. AktG, Bd. 2, 4. Aufl. 2000, § 57 AktG Rz. 86 f.; hier mag es etwa um die Tilgung einer Schuld des Aktionärs i. S. von § 267 BGB gehen, wo der Vermögensvorteil im Freiwerden von einer Verbindlichkeit liegt. 21 BGH, WM 1957, 61; OLG Hamburg, AG 1980, 275, 278; OLG Düsseldorf, AG 1980, 273; OLG Frankfurt, WiB 1996, 163, 165; Henze (Fn. 20), § 57 AktG Rz. 88 f.; Drygala (Fn. 12), § 62 AktG Rz. 24. 22 S. Cahn/v. Spannenberg (Fn. 2), § 57 AktG Rz. 73 a. E.; Drygala (Fn. 12), § 62 AktG Rz. 24; ähnlich Henze (Fn. 20), § 57 AktG Rz. 88 m. w. N. 23 In diesem Sinne überzeugend Henze (Fn. 20), § 57 AktG Rz. 89; Hefermehl/ Bungeroth in Geßler/Hefermehl, AktG, Bd. 1, 1984, § 57 AktG Rz. 28; ähnlich vor dem Hintergrund der Telekom III-Entscheidung Arbeitskreis zum „Deutsche Telekom III“ Urteil des BGH, CFL 2011, 377, 378 f. 24 Hüffer (Fn. 2), § 57 AktG Rz. 15; Bayer (Fn. 10), § 57 AktG Rz. 69; BGHZ 81, 365, 368 ff. (für die GmbH); zu Recht kritisch Cahn/v. Spannenberg (Fn. 2), § 57 AktG Rz. 76, die in solchen Fällen lediglich eine widerlegbare Vermutung für eine Veranlassung durch den Aktionär eingreifen lassen wollen; ähnlich Henze (Fn. 20), § 57 AktG Rz. 91; Ekkenga (Fn. 19), § 30 GmbHG Rz. 158 f. 25 Umstritten, hier aber nicht näher zu beleuchten ist, ob bereits eine mehrheitliche Beteiligung des Aktionärs am Empfängerunternehmen als Zurechnungsgrund ausreicht und was für die Zusammenfassung mehrerer Unternehmen unter einheitlicher Leitung gilt; zum Ganzen Bayer (Fn. 10), § 57 AktG Rz. 70 ff.; Henze (Fn. 20), § 57 AktG Rz. 92 ff.

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gen Umstand zu erklären, dass eine Haftungsübernahme der Deutschen Telekom AG für Prospektmängel gegenüber Anlegern in den USA, also gegenüber Dritten, wenigstens mittelbar eine Leistung an den Aktionär KfW bildet.26 Daher kann Telekom III wohl keine für sämtliche Fälle des § 57 AktG gültige Aussage des Inhalts entnommen werden, dass ein wie auch immer gearteter Veranlassungszusammenhang stets, also auch bei einem direkten Auszahlungsvorgang im Zweipersonenverhältnis zwischen Gesellschaft und Aktionär, vorbehaltlich des Eingreifens anderweitiger Zurechnungstatbestände (nahe Angehörige, Konzernverhältnis) unabdingbar sei. bb) Zurechnungszusammenhang im Zweipersonen-Verhältnis Vorstehende Feststellung bedeutet andererseits nicht, dass es eines Zurechnungszusammenhangs im „normalen“ Zweiparteienverhältnis nicht bedürfe und dass ein Aktionär folglich auch für „aufgedrängte“, weil in keiner Weise veranlasste Zuwendungen gemäß den §§ 57, 62 AktG ersatzpflichtig wäre: – Erstens erscheint es schon begrifflich zweifelhaft, ob einem Aktionär, der sich gegen eine bestimmte Zuwendung gegebenenfalls verwahrt oder diese überhaupt nicht zur Kenntnis nimmt, tatsächlich etwas im Sinne von § 57 Abs. 1 AktG (zurück-)„gewährt“ werden kann. Dem Wortsinne nach kann nämlich nur dasjenige gewährt werden, was zuvor verlangt wurde oder doch wenigstens erwünscht ist. – Zweitens verlangt § 57 AktG zwar nach überwiegender Ansicht über seine objektiven Kriterien27 hinaus zumindest auf Seiten des Aktionärs28 kein besonderes subjektives Element,29 was teilweise im Umkehrschluss aus § 62 Abs. 1 Satz 2 AktG hergeleitet wird, welcher den guten Glauben des Aktionärs nur bei offenen Gewinnausschüttungen schützt.30 Hieraus kann aber nicht gefolgert werden, dass die innere Haltung des Aktionärs im Übrigen völlig bedeutungslos wäre. Zunächst geht es beim Bezugspunkt der Gutgläubigkeit im Sinne von § 62 Abs. 1 Satz 2 AktG mit der Berechtigung zum Gewinnbezug31 in erster Linie um eine Rechtsfrage,32 während das grund-

__________ 26 BGH, AG 2011, 548, 549 (bei Rz. 16 ff. und 42 ff.). 27 Relevant ist insbesondere das Missverhältnis von Leistung und Gegenleistung bei der verdeckten Einlagenrückgewähr. 28 Zum Teil wird richtigerweise insbesondere im Rahmen von Austauschgeschäften auf Seiten der AG das Bewusstsein gefordert, die ungebührliche Zuwendung an den Aktionär erfolge causa societatis, d. h. gerade aufgrund seiner Mitgliedschaft; ausführlich dazu Cahn/v. Spannenberg (Fn. 2), § 57 AktG Rz. 24; Bayer (Fn. 10), § 57 AktG Rz. 44; Servatius (Fn. 2), § 57 AktG Rz. 29 f. 29 Hüffer (Fn. 2), § 57 AktG Rz. 10; Solveen in Hölters, 2011, § 57 AktG Rz. 9; ausführlich zum Ganzen Henze (Fn. 20), § 57 AktG Rz. 46 f. 30 Fleischer (Fn. 2), § 57 AktG Rz. 20. 31 Hüffer (Fn. 2), § 62 AktG Rz. 11; Fleischer (Fn. 2), § 62 AktG Rz. 24; Drygala (Fn. 12), § 62 AktG Rz. 84. 32 Zwar kommen im Rahmen von § 62 Abs. 1 Satz 2 AktG auch Tatsachenirrtümer in Betracht, doch zumeist wird es um Rechtsfragen gehen; s. nur Solveen (Fn. 29), § 62 AktG Rz. 14 m. w. N.

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legendere Einverständnis des Aktionärs mit dem Zuwendungsempfang tatsächlicher Natur ist. Im Übrigen setzt die Diskussion um die Notwendigkeit eines subjektiven Elements geradezu voraus, dass sich der Aktionär überhaupt willentlich auf die Leistungshandlung eingelassen hat. Erst dann kann nämlich sinnvoll danach gefragt werden, ob er im Moment des Empfangs33 auch von einer diesbezüglichen Berechtigung ausging. – Drittens gebietet auch der Schutzzweck des § 57 AktG nicht, den Aktionär für Leistungen einstehen zu lassen, mit deren Erhalt er nicht einverstanden war. Sieht man den tragenden Grund für die aktienrechtliche Vermögensbindung mit der traditionell herrschenden Ansicht34 vor allem35 im Erhalt einer bestimmten Vermögensmasse zugunsten der Gesellschaftsgläubiger, ließe sich zwar annehmen, dass auch eine nicht vom Willen des Aktionärs getragene Zuwendung den zur Verfügung stehenden Haftungsfonds schmälere und damit erfasst sein müsse. Dass jedoch eine allzu sehr auf die bloße Minderung des Gesellschaftsvermögens abstellende Betrachtungsweise zu kurz greift, zeigt sich schon daran, dass eine Einlagenrückgewähr z. B. überwiegend abgelehnt wird, wenn der Aktionär seine Gesellschaft bestiehlt oder eine Unterschlagung begeht,36 obwohl auch dann den Gläubigern ein Teil der Haftungsmasse entzogen wird. Die ergänzend betonte Sicherung der Gleichbehandlung aller Aktionäre durch das Unterbinden disproportionaler Leistungen an einzelne37 gebietet ebenfalls keine Anwendung des § 57 AktG, was bei gesetzlichen Schadensersatzpflichten besonders klar zu Tage tritt. In diesen Fällen wird der geschädigte Aktionär regelmäßig gar nicht gezielt ausgewählt und damit bevorzugt, sondern eher zufällig betroffen. Schließlich besteht auch dann keine Notwendigkeit für kapitalerhaltungsrechtliche Sanktionen, wenn man mit einem neueren Verständnis die verhaltenssteuernde Funktion des (Grund-)Kapitals – die Vermögensbindung soll den Aktionär von übermäßig riskanten Unternehmensgründungen abhalten (Seriositätsfunktion), was konterkariert würde, könnte das aufgebrachte Kapital jederzeit willkürlich abgezogen werden – in den Vordergrund stellt.38 Aus dieser Perspektive erscheint eine Verhaltensdisziplinierung des Gesellschafters von vornherein entbehrlich, wenn dieser die fragliche Ver-

__________

33 Zur Maßgeblichkeit dieses Zeitpunkts Hüffer (Fn. 2), § 62 AktG Rz. 11. 34 Statt vieler Cahn/v. Spannenberg (Fn. 2), § 57 AktG Rz. 6; Fleischer (Fn. 2), § 57 AktG Rz. 3; zuletzt auch BGH, AG 2011, 548, 549 (Telekom III); ausführlich zu den unterschiedlichen Schutzzwecken des § 57 AktG Drygala (Fn. 12), § 57 AktG Rz. 9; ders., ZGR 2006, 587, 589 ff. 35 Richtigerweise greifen die verschiedentlich vertretenen Gesetzeszwecke ineinander und stehen nicht etwa in einem Exklusivitätsverhältnis, s. nur Westermann in Bürgers/Körber, 2008, § 57 AktG Rz. 2 m. w. N. 36 Für die parallele Wertung im GmbH-Recht s. nur Ekkenga (Fn. 19), § 30 GmbHG Rz. 142, 215; Habersack in Ulmer/Habersack/Winter, Großkomm. GmbHG, Bd. 2, 2006, § 30 GmbHG Rz. 80; a. A. Hueck/Fastrich in Baumbach/Hueck, 19. Aufl. 2010, § 30 GmbHG Rz. 64. 37 Zu diesem Normzweck Westermann (Fn. 35), § 57 AktG Rz. 2; Keusch/Wankerl, BKR 2003, 744, 746; Cahn/v. Spannenberg (Fn. 2), § 57 AktG Rz. 4 m. w. N. 38 Hierzu Drygala (Fn. 12), § 54 AktG Rz. 85 f. und § 57 AktG Rz. 89; ders., ZGR 2006, 587, 595 ff.

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mögenszuwendung gar nicht begehrt, sich eventuell sogar gegen sie verwahrt oder von ihr überhaupt keine Kenntnis nimmt.39 Zwar wird auch in solchen Fällen der finanzielle Eigenbeitrag des Aktionärs am Gesellschaftskapital vermindert, was einen Anreiz für eine erhöhte Risikobereitschaft in der Unternehmensführung schaffen mag. Jedoch rechtfertigt das Verhalten eines Aktionärs, der eine Zuwendung lediglich passiv und ohne eigenes Zutun erhält, nicht in gleichem Maße den Verdacht mangelnder unternehmerischer Seriosität wie das Gebaren eines solchen, der die fragliche Auszahlung aktiv betreibt, verlangt oder veranlasst. Nach alledem ist daher für eine verbotene Auszahlung in Zweipersonen-Verhältnissen ebenfalls eine hinreichende Mitwirkungshandlung bzw. Veranlassung seitens des Aktionärs erforderlich, etwa indem die Gesellschaft gerade auf sein Betreiben und in seinem Interesse leistet.40 Billigt der Gesellschafter demgegenüber die Zuwendung nicht, stellt das Erlangte für ihn schon gar keinen echten wirtschaftlichen Vorteil dar, mag es auch objektiv einen gewissen Wert besitzen. Insofern kann auf die dogmatische Nähe der §§ 57, 62 AktG zum bürgerlichen Bereicherungsrecht41 verwiesen werden, wo ein Bedarf nach Aufdrängungsschutz ungeachtet seiner genauen dogmatischen Verortung ebenfalls allgemein anerkannt ist.42 In Betracht kommt allenfalls, bei Direktzuwendungen der Gesellschaft an den Gesellschafter eine widerlegliche Vermutung der Leistungsveranlassung eingreifen zu lassen,43 da solche Vorgänge wohl zumeist auf Betreiben des Gesellschafters erfolgen dürften. d) Bewertung der Fallgruppen Bei Anwendung des Zurechnungskonzepts auf die eingangs umrissenen vier Fallgruppen44 ergibt sich folgendes: – Bei einem gesetzlichen Schuldbeitritt der AG zu einer gegenüber dem Aktionär bestehenden Verbindlichkeit eines Dritten (Fälle der § 28 Abs. 1 HGB, § 133 UmwG) sowie im Falle der Universalsukzession (§ 20 Nr. 1 UmwG) ist eine Auszahlung im Sinne von § 57 Abs. 1 AktG jedenfalls ausgeschlossen, wenn die zugrunde liegende Strukturmaßnahme nicht auf Betreiben oder in sonstiger Weise hinreichende Veranlassung des begünstigten Aktionärs erfolgt. Liegt eine Veranlassung vor, ist das Kapitalerhaltungsrecht aber in aller Regel gleichwohl nicht berührt, sofern man richtigerweise mit einer

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39 Vgl. Drygala (Fn. 12), § 57 AktG Rz. 89. 40 S. oben II. 1. c) aa). Die Notwendigkeit eines allgemeinen Veranlassungskriteriums klingt auch an bei Hüffer (Fn. 2), § 57 AktG Rz. 2, allerdings ohne Einbindung in den hier dargestellten Gesamtkontext; gegen ein Veranlassungsprinzip im Anwendungsbereich von § 57 AktG Wackerbarth, WM 2011, 193, 202. 41 §§ 57, 62 AktG als leges speciales zu §§ 812 ff. BGB, vgl. nur Bayer (Fn. 10), § 57 AktG Rz. 160; Drygala (Fn. 12), § 62 AktG Rz. 74. 42 Wendehorst in Bamberger/Roth, Bd. 2, 2. Aufl. 2008, § 818 BGB Rz. 141 ff.; ausführlich zum Ganzen auch Schwab in MünchKomm. BGB, Bd. 5, 5. Aufl. 2009, § 818 BGB Rz. 194 ff. 43 So für das Recht der GmbH Ekkenga (Fn. 19), § 30 GmbHG Rz. 170. 44 Eingangs unter II. 1.

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teilweise vertretenen Ansicht das Vorliegen einer Auszahlung nur unter der Prämisse eines Bewusstseins der Gesellschaft darüber bejaht, dass die Vermögenszuwendung gerade wegen der Mitgliedschaft des Empfängers (causa societatis) gewährt werde.45 Denn die jeweils zugrunde liegende Strukturmaßnahme dürfte typischerweise aus einer übergeordneten wirtschaftlichen Motivation heraus erfolgen und eine potentielle Gläubigerstellung einzelner Aktionäre im Vorfeld nicht ausschlaggebend gewesen oder gar völlig unberücksichtigt geblieben sein. Nur wenn die Dinge ausnahmsweise anders liegen und der Aktionär seine AG zur Durchführung der Strukturmaßnahme mit dem erkennbar dominierenden Ziel veranlasst, eine zusätzliche Schuldnerin zu gewinnen, steht § 57 AktG dem Vorgang entgegen. – Die Begründung aktien- oder umwandlungsrechtlicher Abfindungs-, Ausgleichs- oder Zuzahlungsverbindlichkeiten stellt ebenfalls keine verbotene Einlagenrückgewähr dar. Auch hier wird es regelmäßig schon an einer hinreichenden Veranlassung der zugrunde liegenden Strukturmaßnahme durch den begünstigten Aktionär mangeln. Verfehlt wäre insbesondere, eine Veranlassung mit dem Abstimmungsverhalten des Gesellschafters in den Hauptversammlungen, welche zur Herbeiführung der Zustimmungsbeschlüsse nach § 293 Abs. 1, Abs. 2 AktG oder § 13 Abs. 1 UmwG berufen sind, begründen zu wollen. Abgesehen davon, dass es in vielen Fällen – vor allem bei Publikumsgesellschaften ohne Großaktionär – schon an einer Kausalität der einzelnen Stimmabgabe für das Abstimmungsergebnis fehlen dürfte, wird der Unternehmens- oder Verschmelzungsvertrag regelmäßig vor Durchführung der Hauptversammlung geschlossen und ist als solcher sogar Gegenstand eines vorbereitenden Verfahrens,46 so dass auch eine etwaige Veranlassungshandlung allenfalls in einem entsprechend vorgelagerten Zeitpunkt zu suchen wäre. Im Übrigen fehlt es aber jedenfalls an einer Zuwendung causa societatis, da der Aktionär den Abfindungs-, Ausgleichs- oder Zuzahlungsanspruch zwar aufgrund einer Mitgliedschaft erlangt, nicht aber aufgrund seiner Mitgliedschaft gerade in der jeweils verpflichteten Gesellschaft; Abfindung, Ausgleich und Zuzahlung dienen nämlich der Entschädigung für Eingriffe in das Anteilseigentum des Aktionärs an der abhängigen Gesellschaft bzw. dem übertragenden Rechtsträger47 und gehen folglich auf das dortige Mitgliedschaftsverhältnis zurück. – Eine Auszahlung durch Begehung kapitalmarktrechtlicher Informationsdelikte ist in Fällen, in denen sich ein Anleger zur Veräußerung seiner Be-

__________ 45 Dazu schon oben in Fn. 28. 46 S. etwa §§ 293a ff. AktG, §§ 60 ff., 73 UmwG; im Umwandlungsrecht genügt es freilich, wenn vorerst nur ein schriftlicher Entwurf des Verschmelzungsvertrages vorliegt, § 4 Abs. 2 UmwG. 47 S. hierzu die mit Blick auf Art. 14 GG in zahlreichen Entscheidungen ausgeformten verfassungsrechtlichen Vorgaben des BVerfG, insbesondere BVerfGE 14, 263 = NJW 1962, 1667 (Feldmühle); BVerfGE 100, 289, 306, 308 = WM 1999, 1666, 1668 (DAT Altana); BVerfG, WM 1999, 1978, 1980 (Hartmann & Braun); zum Ganzen statt vieler Mülbert in FS Hopt (Fn. 6), S. 1039 ff.; ders. in Verhandlungen des 67. Deutschen Juristentages Erfurt 2008, Bd. II/1 2009, N 51; Brandi/Wilhelm, NZG 2009, 1408.

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teiligung z. B. aufgrund einer fehlerhaften Ad-hoc-Mitteilung entscheidet, schon praktisch kaum denkbar. Geht die Mitteilung nämlich tatsächlich auf sein willentliches Betreiben und damit auf seine Veranlassung zurück, wird ihm auch die Unrichtigkeit der zugrunde liegenden Insiderinformation regelmäßig nicht verborgen geblieben sein, so dass der Schadensersatzanspruch aus § 37c Abs. 1 WpHG ohnehin nach § 37c Abs. 3 WpHG oder – je nachdem, ob und mit welcher Akzentuierung man ein solches Merkmal überhaupt fordert48 – wegen fehlender Kausalbeziehung zwischen der Pflichtverletzung des Emittenten und der Deinvestitionsentscheidung des Aktionärs ausgeschlossen ist. Haben alle Beteiligten hinsichtlich der Unrichtigkeit (nur) grob fahrlässig gehandelt, kommt ein Anspruch zwar prinzipiell in Betracht.49 Allerdings fehlt dann den in – wenn auch vorwerfbarer – Unkenntnis handelnden Organmitgliedern wiederum das Bewusstsein, dass dem Aktionär ein Vermögenswert in Gestalt dieses Anspruchs zugewendet wird, und erst recht, dass dies gerade causa societatis geschieht. Im Übrigen sollte die Annahme eines Kapitalerhaltungsverstoßes auch mit Blick auf das Telos der §§ 15, 37b, 37c WpHG ausgeschlossen sein. Neben dem Schutz des Kapitalmarkts vor einer Funktionsbeeinträchtigung bezwecken die Vorschriften nämlich auch einen Individualschutz des Anlegers durch die sanktionsbewährte Pflicht des Emittenten zu umfassender informationeller Gleichbehandlung;50 wollte man ausgerechnet einem subjektiv rechtstreu agierenden Aktionär, der seine Gesellschaft zur sorgsamen Prüfung und gegebenenfalls Veröffentlichung einer nach seinem Dafürhalten zutreffenden Insiderinformation anhält, diesen Schutz über § 57 Abs. 1 AktG entziehen, wäre dies unter Wertungsgesichtspunkten kaum zu erklären. Entsprechendes gilt, wenn sich ein Schadensersatzanspruch nicht aus spezialgesetzlichen Vorschriften, sondern aus den §§ 823 ff. BGB ergeben sollte. – Schließlich finden auch die Fälle, in denen sich der Anleger im Anschluss an eine fehlerhafte Kapitalmarktinformation zu einem Anteilserwerb entschließt und sodann Schadensersatz z. B. nach den §§ 44 ff. BörsG (§§ 21 ff. WpPG n. F.) begehrt, mit dem Veranlassungskriterium eine sachgerechte Lösung. Geht die Erstellung eines fehlerhaften Prospekts durch die Gesellschaft bzw. die Übernahme des Haftungsrisikos für selbigen – was ohnehin kaum vorstellbar ist – auf eine willentliche, wie auch immer vermittelte Einflussnahme eines bestimmten Anlegers zurück, der erst nach Prospektveröffentlichung in die Gesellschaft eintritt, wird der Anspruch in aller Regel nach § 45 Abs. 2 Nr. 1 oder Nr. 3 BörsG (§ 23 Abs. 2 Nr. 1 oder Nr. 3

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48 Zur diesbezüglichen Kontroverse s. etwa Mülbert/Steup (Fn. 2), § 33 Rz. 200; dies., WM 2005, 1633, 1636 f.; Zimmer/Grotheer in Schwark/Zimmer, KapitalmarktrechtsKommentar, 4. Aufl. 2010, §§ 37b, 37c WpHG Rz. 90; Sethe in Assmann/Uwe H. Schneider, 6. Aufl. 2012, §§ 37b, 37c WpHG Rz. 97 ff. 49 Für eine Anspruchskürzung nach § 254 BGB ist hier neben § 37c Abs. 3 WpHG kein Raum, s. nur Fischer zu Cramburg/Royé in Heidel, Aktienrecht und Kapitalmarktrecht, 3. Aufl. 2011, § 37b, c WpHG Rz. 7. 50 S. etwa Sethe (Fn. 48), §§ 37b, 37c WpHG Rz. 9 ff.; Möllers/Leisch in KölnKomm. WpHG, 2007, §§ 37b, c WpHG Rz. 1 ff.; Zimmer/Grotheer (Fn. 48), §§ 37b, 37c WpHG Rz. 5.

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WpPG n. F.) ausgeschlossen sein; im Bereich fehlerhafter Ad-hoc-Mitteilungen gilt Entsprechendes mit Blick auf § 37c Abs. 3 WpHG. Im Übrigen kommt eine Unterbindung der Anspruchsentstehung über § 57 Abs. 1 AktG schon deshalb nicht in Betracht, weil die Kapitalmarktinformation nicht wegen einer bereits bestehenden Mitgliedschaft des Begünstigten (causa societatis) veröffentlicht wird, sondern allenfalls zum Zwecke des Werbens um neue Kapitalanleger. 2. Rechtsgeschäftliche Haftungsübernahme Rechtsgeschäftliche Haftungsübernahmen gegenüber Aktionären können in Gestalt eines Schuldbeitritts, einer Schuldübernahme (§§ 414 ff. BGB) oder der Einräumung von Kreditsicherheiten erfolgen. Bestellt die Gesellschaft durch Rechtsgeschäft mit einem Aktionär eine Sicherheit für dessen Forderung gegen einen Dritten, kann hierin nach wohl einhelliger Auffassung eine verbotene Einlagenrückgewähr liegen.51 Dies betrifft etwa die Stellung einer Bürgschaft oder selbständigen Garantie für Verbindlichkeiten einer Tochtergesellschaft oder die Abgabe einer Patronatserklärung, weil die Gesellschaft ihrem Aktionär damit das Insolvenzrisiko des Dritten abnimmt und also eine Zuwendung gewährt.52 Da der Gesellschafter beim Vertragsschluss über die Sicherungsbestellung notwendigerweise beteiligt ist, kommt eine Nichtanwendung des § 57 AktG wegen fehlender Mitwirkung des Gesellschafters53 von vornherein nicht in Betracht. Zulässig ist ein solches Geschäft nach Maßgabe der auch für diese Konstellation zumeist (wenigstens modifiziert) herangezogenen Regeln des Drittvergleichs54 daher nur, wenn die Sicherheit zu gleichen Konditionen auch einem Dritten gewährt worden wäre.55 Ob und unter welchen Bedingungen schon das Vorliegen eines vollwertigen Regressanspruchs der AG ein hinreichendes Kompensat darstellen kann, ist umstritten.56 § 57 Abs. 1 Satz 3 Alt. 2 AktG n. F.

__________ 51 Drygala (Fn. 12), § 57 AktG Rz. 81; Henze (Fn. 20), § 57 AktG Rz. 54; Bayer (Fn. 10), § 57 AktG Rz. 107; Cahn/v. Spannenberg (Fn. 2), § 57 AktG Rz. 38; aus der Rechtsprechung zudem OLG München, GmbHR 1998, 479, 480; KG, NZG 2000, 479, 480 m. Anm. Kleindiek (beide zur GmbH). 52 Bayer (Fn. 10), § 57 AktG Rz. 107. 53 Dazu ausführlich oben unter II. 1. c). 54 S. nur Bayer (Fn. 10), § 57 AktG Rz. 107; Kiefner/Theusinger, NZG 2008, 801, 803; allgemein zum Dritt- bzw. Marktvergleich Mülbert, ZGR 1995, 578, 581; Cahn/ v. Spannenberg (Fn. 2), § 57 AktG Rz. 19 ff.; Wand/Tillmann/Heckenthaler, AG 2009, 148, 150. 55 Kritisch zur Heranziehung des Drittvergleichs im Bereich der Sicherheitenbestellung und für ein Kriterium der „vollwertigen Gegenleistung“ Mülbert, ZGR 1995, 578, 581, 591. 56 Dafür Drygala (Fn. 12), § 57 AktG Rz. 81; Fleischer (Fn. 2), § 57 AktG Rz. 61; RGZ 168, 293, 295 (Argument: reiner Aktiventausch); dagegen Bayer (Fn. 10), § 57 AktG Rz. 107; Henze (Fn. 20), § 57 AktG Rz. 54; überdies wird z. T. noch hinsichtlich des für die Beurteilung der Vollwertigkeit maßgeblichen Zeitpunkts zwischen dinglichen und schuldrechtlichen Sicherheiten unterschieden, s. nur Drygala, a. a. O.

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bleibt für diese Frage angesichts seines eindeutigen Wortlauts ohne Bedeutung, da ein Regressanspruch regelmäßig nicht gegen den Aktionär, sondern allenfalls gegen den kreditnehmenden Dritten in Betracht kommt.57 Die Zahlung einer Avalprovision ist für sich genommen jedenfalls nicht ausreichend, da sie das sogenannte Klumpenrisiko, welches sich nur über den Abschluss einer Vielzahl gleichartiger Geschäfte ausgleichen lässt, nicht beseitigt.58 Im Übrigen stellen sich die mit der Sicherheitenbestellung einhergehenden Probleme – insbesondere die Frage nach dem maßgeblichen Auszahlungszeitpunkt – für die nachfolgend zu behandelnde Besicherung von Aktionärsverbindlichkeiten durch die AG ganz entsprechend und sollen im Rahmen dieser praxisrelevanteren Konstellation erörtert werden.

III. Auszahlung durch Haftungsübernahme zugunsten von Aktionären 1. Besicherung von Aktionärsverbindlichkeiten Die Besicherung von Gesellschafterverbindlichkeiten durch Vermögenswerte der Gesellschaft (aufsteigende Sicherheiten oder upstream securities)59 wird schon seit langem im engen Zusammenhang mit der Gewährung aufsteigender Darlehen (upstream loans) intensiv diskutiert. Die dort im vergangenen Jahrzehnt vor allem im GmbH-Recht erfolgte grundsätzliche Kursänderung60 ist daher auch für die Behandlung aufsteigender Sicherheiten von Bedeutung. Im Aktienrecht erfasst § 57 Abs. 1 AktG nach allgemeiner Meinung neben der Gewährung von Darlehen an Aktionäre auch die Gewährung von Sicherheiten jeder Form für Verbindlichkeiten eines Aktionärs. Eine Besicherung entspricht nämlich einer direkten Darlehensvergabe an den Aktionär insoweit, als beide Gestaltungen in Form einer Liquiditätsverbesserung beim Aktionär unter Zuweisung des Illiquiditätsrisikos an die AG jeweils zum gleichen wirtschaftlichen Ergebnis führen. Anders gewendet verschafft die AG in beiden Fällen auf Kosten ihres Vermögens dem Aktionär Kredit.61 Unter diesem Blickwinkel

__________ 57 Bei akzessorischen Sicherheiten kommen etwa die §§ 426, 774, 1143, 1225 BGB in Betracht, andernfalls Aufwendungsersatzansprüche aus Geschäftsbesorgungsvertrag, Auftrag oder Geschäftsführung ohne Auftrag; näher zu den zivilrechtlichen Grundlagen der Sicherheitenbestellung Mülbert, ZGR 1995, 578, 582 ff.; demgegenüber für eine Heranziehung von § 57 Abs. 1 Satz 3 AktG n. F. auch in Fällen, in denen sich ein Dritter zur Rückgewähr verpflichtet, Servatius (Fn. 2), § 57 AktG Rz. 21. 58 OLG Koblenz, AG 1977, 231, 232; Mülbert, ZGR 1995, 578, 590; Solveen (Fn. 29), § 57 AktG Rz. 10; Kiefner/Theusinger, NZG 2008, 801, 803; Wand/Tillmann/ Heckenthaler, AG 2009, 148, 151; vgl. auch Bayer (Fn. 10), § 57 AktG Rz. 105; anderes gilt gegebenenfalls, wenn die Gesellschaft ein Kreditinstitut betreibt. 59 Ausführlich hierzu schon Mülbert, ZGR 1995, 578; Schön, ZHR 159 (1995), 351. 60 Zur Rechtsentwicklung, insbesondere vom sog. November-Urteil (BGHZ 157, 72 = WM 2004, 325 = NZG 2004, 233 = NJW 2004, 1111) über das MoMiG bis zur MPSEntscheidung (BGHZ 179, 71 = AG 2009, 81 = WM 2009, 78 = NZG 2009, 107 = NJW 2009, 850), s. Altmeppen, ZIP 2009, 49; Mülbert/Leuschner, NZG 2009, 281. 61 Henze (Fn. 20), § 57 AktG Rz. 51; Drygala (Fn. 12), § 57 AktG Rz. 79; Drygala/ Kremer, ZIP 2007, 1289, 1295; Wand/Tillmann/Heckenthaler, AG 2009, 148, 151.

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lässt sich die Besicherung richtigerweise als eine Direktzuwendung der Gesellschaft an den Aktionär und nicht etwa als lediglich mittelbare Leistung im Dreiecksverhältnis verstehen, mag die zugrunde liegende Sicherheit als solche auch durch Vertrag mit dem Kreditgeber, also einem Dritten, zur Entstehung gelangen.62 Ob bereits das Eingehen einer Verpflichtung zur Bestellung der Sicherheit eine Auszahlung im Sinne von § 57 AktG darstellt, oder ob dies erst mit der Bestellung oder gar der Verwertung der Sicherheit angenommen werden kann, ist umstritten. Richtigerweise ist jedenfalls im Recht der AG schon deshalb auf den Bestellungsakt abzuheben, weil der Spielraum der Gesellschaft für Vermögensverfügungen in diesem Zeitpunkt eingeengt wird.63 Andererseits kommt der vom MoMiG eingeführte § 57 Abs. 1 Satz 3 Alt. 2 AktG n. F. auch bei der Bestellung aufsteigender Sicherheiten zur Anwendung. Obwohl weder das MoMiG noch die Gesetzesbegründung aufsteigende Sicherheiten ausdrücklich adressieren,64 ist dies angesichts der funktionalen Gleichwertigkeit von Darlehensvergabe und Besicherung nur konsequent. Folgerichtig scheidet eine verbotene Einlagenrückgewähr jedenfalls dann aus, wenn der Gesellschaft für den Fall der Inanspruchnahme der Sicherheit gegenüber dem Aktionär ein vollwertiger Freistellungsanspruch zusteht.65 Dieser ergibt sich aus §§ 670, 257 BGB, wenn zwischen den Beteiligten ein Auftrag oder Geschäftsbesorgungsvertrag geschlossen wurde; er entsteht allerdings erst mit der Inanspruchnahme der Sicherheit.66 Dessen ungeachtet wird der Zeitpunkt des Bestellungsaktes für die Beurteilung der Vollwertigkeit als maßgeblich angese-

__________ 62 A. A. Hommelhoff in Lutter/Hommelhoff, 17. Aufl. 2009, § 30 GmbHG Rz. 20 (für die GmbH); wohl auch BGH, AG 2011, 548, 549 (Telekom III), wo für die Besicherung von Gesellschafterverbindlichkeiten ausdrücklich darauf hingewiesen wird, dass § 57 AktG keine Unmittelbarkeit der Leistung voraussetze. 63 H. M.; eingehend Mülbert, ZGR 1995, 578, 586 ff.; Westermann (Fn. 35), § 57 AktG Rz. 22 f.; Drygala (Fn. 12), § 57 AktG Rz. 78; Henze (Fn. 20), § 57 AktG Rz. 51; s. auch OLG München, AG 1980, 272, 273; OLG Hamburg, AG 1980, 275, 279; OLG Koblenz, AG 1977, 231, 232; a. A. Tillmann, NZG 2008, 401, 404 (Zeitpunkt der Inanspruchnahme der Sicherheit); Kollmorgen/Santelmann/Weiß, BB 2009, 1818, 1819 (Eintritt der bilanzrechtlichen Rückstellungspflicht); Fleischer (Fn. 2), § 57 AktG Rz. 61 (differenzierend nach der Person des Sicherungsnehmers sowie danach, ob die Sicherheit schuldrechtlicher oder dinglicher Natur ist). 64 Drygala (Fn. 12), § 57 AktG Rz. 78; Solveen (Fn. 29), § 57 AktG Rz. 23; Winter, DStR 2007, 1484, 1488; Hippeli, NJOZ 2009, 2197, 2201. 65 Teilweise wird eine verbotene Einlagenrückgewähr darüber hinaus auch schon dann verneint, wenn bei der Bestellung der Sicherheit mit keiner Inanspruchnahme der AG zu rechnen ist, weil die Sicherheit dann lediglich „unter dem Strich“ auszuweisen sei (§§ 251, 268 Abs. 7 HGB); s. Drygala/Kremer, ZIP 2007, 1289, 1295; Kiefner/ Theusinger, NZG 2008, 801, 805; in der Sache macht dies wohl keinen Unterschied, da ein vollwertiger Rückgriffsanspruch zumeist vorliegen dürfte, wenn im Zeitpunkt der Besicherung mit keiner Inanspruchnahme zu rechnen ist; zum Ganzen Fleischer in K. Schmidt/Lutter (Fn. 2), § 57 AktG Rz. 59 m. w. N. 66 Näher auch zu den damit verbundenen Problemen Mülbert, ZGR 1995, 578, 582 ff. m. w. N.

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hen,67 ist er doch auch für das Vorliegen einer Auszahlung entscheidend. In der Konsequenz erfordert die im Bestellungszeitpunkt vorzunehmende Beurteilung der Vollwertigkeit des künftigen Freistellungsanspruchs stets eine auf den möglichen Inanspruchnahmezeitpunkt bezogene Prognose, welche jedenfalls in Dreipersonenverhältnissen häufig negativ ausfallen dürfte, sofern die Sicherheit gerade dazu dient, ein konkretes Ausfallrisiko abzusichern.68 Eine nachträgliche Verschlechterung der Erfüllungsaussichten des Freistellungsanspruchs ist allerdings unerheblich und begründet keine Leistung im Sinne von § 57 Abs. 1 AktG.69 Im Übrigen dürfte die Bestellung der Sicherheit in aller Regel auf Wunsch des Gesellschafters erfolgen, insbesondere wenn sie auf eine (geschäftsbesorgungs-) vertragliche Weisung zurückgeht. Sollte dies einmal nicht der Fall sein und die Gesellschaft die Sicherheit ohne oder gar gegen den Willen des Gesellschafters mit dem Kreditgeber vereinbaren, scheidet nach den oben herausgearbeiteten Wertungen eine verbotene Einlagenrückgewähr von vornherein aus.70 Im Ergebnis muss dies aber auch gelten, wenn man entgegen des hiesigen Verständnisses in der Besicherung keine direkte Leistung an den Aktionär, sondern primär eine im Dreiecksverhältnis erbrachte Leistung an einen Dritten erblickt. Für eine Zurechnung des Empfangs an den Aktionär fehlt es dann nicht nur an einer Veranlassung der Leistung durch den Aktionär im Besonderen, sondern infolge der „Aufdrängung“ auch an einem hinreichenden (mittelbaren) wirtschaftlichen Vorteil im Allgemeinen.71 2. Haftungsrisiko aus Kapitalmarkthaftungstatbeständen Im Zuge der Telekom III-Entscheidung in den Fokus der Öffentlichkeit gerückt sind Sachverhalte, in denen eine AG zugunsten ihrer Aktionäre das Haftungsrisiko für kapitalmarktrechtliche Pflichtverletzungen, insbesondere dasjenige einer spezialgesetzlichen (Börsen-)Prospekthaftung, übernimmt. Das Haftungsregime der §§ 44–47 BörsG72 (§§ 21–25 WpPG n. F.) für unrichtige oder unvollständige Prospekte im Sinne von § 32 Abs. 3 Nr. 2 BörsG i. V. m.

__________ 67 Drygala (Fn. 12), § 57 AktG Rz. 79; Wand/Tillmann/Heckenthaler, AG 2009, 148, 152; Cahn, Der Konzern 2009, 7, 9; Kiefner/Theusinger, NZG 2008, 801, 805; Mülbert, ZGR 1995, 578, 589 ff.; differenzierend Hommelhoff (Fn. 62), § 30 GmbHG Rz. 34 ff.; a. A. (Zeitpunkt der Inanspruchnahme maßgeblich) Vetter in Goette/ Habersack, Das MoMiG in Wissenschaft und Praxis, 2009, § 4 Rz. 76; Dampf, Der Konzern 2007, 157, 165 ff.; Tilmann, NZG 2008, 401, 404. 68 Ähnlich Fleischer (Fn. 2), § 57 AktG Rz. 60; Wand/Tillmann/Heckenthaler, AG 2009, 148, 152; vgl. auch Spliedt, ZIP 2009, 149, 152. 69 Vgl. Mülbert/Leuschner, NZG 2009, 281, 282 m. w. N. 70 S. oben unter II. 1. c). 71 Dazu oben unter II. 1. c) aa). 72 Nach Art. 6 und 7, Art. 26 Abs. 3 des Gesetzes zur Novellierung des Finanzanlagenvermittler- und Vermögensanlagenrechts v. 6.12.2011 (BGBl. I 2011, 2481) übernahmen die §§ 21–25 WpPG n. F. das Haftungsregime der bisherigen §§ 44 ff. BörsG und des § 13 VerkProspG mit Wirkung zum 1.6.2012, s. Begr. RegE, BT-Drucks. 17/6051, S. 1, 46.

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dem WpPG gelangt bei der Zulassung von Wertpapieren zum Börsenhandel im regulierten Markt zur Anwendung.73 Kraft Verweisung in § 13 VerkProspG (§ 22 WpPG n. F.) gelten diese Vorschriften ferner bei einem öffentlichen Angebot von nicht bereits zum Handel an einer inländischen Börse zugelassenen Wertpapieren sowie für Vermögensanlagen des Grauen Kapitalmarktes, wobei § 13a VerkProspG (§ 24 WpPG n. F.) diese um eine Haftung bei fehlendem Prospekt ergänzt.74 Schließlich finden diese Vorschriften auch bei einer öffentlichen Umplatzierung, in deren Rahmen existierende, regelmäßig aus dem Bestand eines Altaktionärs stammende Aktien einem breiten Investorenpublikum angeboten werden (secondary public offering, „SPO“),75 entsprechende Anwendung.76 Adressaten der Prospekthaftung für fehlerhafte Prospekte und damit Haftungsverpflichtete sind nach § 44 Abs. 1 Satz 1 BörsG bzw. § 21 Abs. 1 Satz 1 WpPG n. F. (auch i. V. m. § 13 VerkProspG bzw. § 22 WpPG n. F.) sämtliche Personen, die für den Prospekt die Verantwortung übernommen haben (Nr. 1) oder von denen der Erlass des Prospekts ausgeht (Nr. 2). Für einen fehlenden Prospekt haften dagegen gemäß § 13a Abs. 1 Satz 1 VerkProspG (§ 24 WpPG n. F.) lediglich Emittent und Anbieter als Gesamtschuldner.77 a) Die Position des BGH in Telekom III Übernimmt eine Gesellschaft den Anlegern gegenüber in Umplatzierungsfällen das Prospekthaftungsrisiko, liegt hierin aus Sicht des BGH eine Leistung an den Altaktionär. Nicht entscheidend soll dabei sein, ob der Aktionär seinerseits im konkreten Fall überhaupt Adressat von Prospekthaftungsansprüchen ist, etwa kraft Verantwortungsübernahme oder Prospektveranlassung (§ 44 Abs. 1 Satz 1 BörsG bzw. § 21 Abs. 1 Satz 1 WpPG n. F.) oder – bei einem Börsengang in den USA – aufgrund der Abgabe eines „registration statement“.78 Maßgeblich sei vielmehr, dass die Übernahme der Haftung für ein Risiko, welches

__________ 73 Eingehend Mülbert/Steup (Fn. 2), § 33 Rz. 9 ff.; Habersack in Habersack/Mülbert/ Schlitt (Hrsg.), Handbuch der Kapitalmarktinformation, 2008, § 28 Rz. 10 ff.; Oulds in Kümpel/Wittig (Hrsg.), Bank- und Kapitalmarktrecht, 4. Aufl. 2011, 15. Teil, Rz. 15.187 ff.; Einsele, Bank- und Kapitalmarktrecht, 2. Aufl. 2010, § 7 Rz. 57 ff. 74 Habersack (Fn. 73), § 28 Rz. 59 ff.; Langenbucher, Aktien- und Kapitalmarktrecht, 2. Aufl. 2011, § 14 Rz. 77; Einsele (Fn. 73), § 7 Rz. 62. 75 Zu Begriff und praktischer Bedeutung Schlitt, CFL 2010, 304, 305; C. Schäfer, ZIP 2010, 1877, 1877 f.; Fleischer, ZIP 2007, 1969, 1969 f.; Arnold/Aubel, ZGR 2012, 113, 127. 76 H. M.; s. Mülbert/Steup (Fn. 2), § 33 Rz. 19; Schlitt, CFL 2010, 304, 306; C. Schäfer, ZIP 2010, 1877, 1878; Meyer (Fn. 2), § 7 Rz. 19; Habersack (Fn. 73), § 28 Rz. 8. Ein Rückgriff auf die allgemeine bürgerlich-rechtliche Prospekthaftung kommt damit nicht in Betracht. 77 Mülbert/Steup (Fn. 2), § 33 Rz. 54 ff.; Assmann in Assmann/Schütze, Handbuch des Kapitalanlagerechts, 3. Aufl. 2007, § 6 Rz. 274. 78 Näher dazu Hülsebeck, DStR 2000, 894, 897 ff.; OLG Köln, BeckRS 2009, 13388 (unter II. 1.2.1., insoweit nicht abgedruckt in AG 2009, 584 = NZG 2009, 951); Arnold/Aubel, ZGR 2012, 113, 117.

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wirtschaftlich einen anderen treffe, bei wirtschaftlicher Betrachtung eine Leistung an diesen darstelle und das (Prospekt-)Haftungsrisiko bei einer Umplatzierung wirtschaftlich immer dem Altaktionär zufalle. Grundlage jeder Prospekthaftung sei nämlich eine mit der Suche nach Kapitalgebern verbundene Vertrauenshaftung, und Kapitalsuchender sei bei einer Umplatzierung nicht etwa die Gesellschaft, sondern ausschließlich der Altaktionär. Außerdem profitiere dieser von dem öffentlichen Angebot durch den Verkauf seiner Aktien, weil er die unmittelbaren Vorteile aus dem Geschäft (insbesondere den Verkaufserlös) erziele; dieser Gewinnchance entspreche wirtschaftlich das Risiko der Haftung für unzutreffende Informationen im Zusammenhang mit dem Kauf.79 b) Würdigung Zunächst kann es in der Tat nicht entscheidend darauf ankommen, ob der Altaktionär selbst im konkreten Fall z. B. kraft Prospektveranlassung Adressat einer Prospekthaftungspflicht ist. Denn Anknüpfungspunkt des Kapitalerhaltungsverstoßes ist nicht die Befreiung von einer Verbindlichkeit oder ein Schuldbeitritt, sondern die Übernahme eines Haftungsrisikos.80 Jedoch kann keiner der beiden Begründungsansätze zur zwingenden wirtschaftlichen Letztzuweisung dieses Risikos an den Altaktionär überzeugen: Zum einen finden die prospekthaftungsrechtlichen Vorschriften ihren rechtspolitisch tragenden Grund nicht in einer Vertrauenshaftung gerade des Kapitalsuchenden. Hiergegen streitet schon die aus § 44 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 BörsG (§ 21 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 WpPG n. F.) folgende Haftung auch der emissionsbegleitenden Kredit- oder Finanzdienstleistungsinstitute im Sinne von § 32 Abs. 2 BörsG,81 die zwar gemäß § 5 Abs. 3 Satz 2 WpPG den Prospekt unterzeichnen und nach § 5 Abs. 4 Satz 2 WpPG eine Verantwortung übernehmen, aber nicht auf Kapitalsuche sind, sondern eine Dienstleistung gegen Vergütung erbringen. Unvereinbar damit ist sodann, dass auch Vorstands- und Aufsichtsratsmitglieder des Emittenten der Prospekthaftung als Prospektverantwortliche82 oder – bei Einflussnahme auf die Erstellung des Prospekts – als Prospektveranlasser83 unterliegen können, obwohl sie sich keineswegs im eigenen Interesse auf Kapitalsuche befinden und ihre Haftung nicht einmal voraus-

__________ 79 BGH, AG 2011, 548, 549 (bei Rz. 16 bis 18). 80 Leuschner, NJW 2011, 3275; a. A. in der Vorinstanz das OLG Köln, BeckRS 2009, 13388 (unter II. 3.2.1., insoweit nicht abgedruckt in AG 2009, 584 = NZG 2009, 951); ähnlich Wardenbach, GWR 2009, 201. 81 Hierzu nur Mülbert/Steup (Fn. 2), § 33 Rz. 58 ff.; Lenenbach (Fn. 2), § 11 Rz. 11.480. 82 § 44 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 BörsG; s. nur Mülbert/Steup (Fn. 2), § 33 Rz. 79. 83 § 44 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 BörsG; s. Assmann in Assmann/Schlitt/von Kopp-Colomb, WpPG, VerkProspG, 2. Aufl. 2010, § 13 VerkProspG Rz. 74 f.; Mülbert/Steup (Fn. 2), § 33 Rz. 79; Fleischer in Fleischer (Hrsg.), Handbuch des Vorstandsrechts, 2006, § 14 Rz. 15 ff.; Ponick in Grunewald/Schlitt (Hrsg.), Einführung in das Kapitalmarktrecht, 2. Aufl. 2009, S. 227; Schwark in Schwark/Zimmer (Fn. 48), §§ 44, 45 BörsG Rz. 8 f.; Krämer (Fn. 2), § 10 Rz. 352.

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setzt, dass sie selbst Aktien gehalten oder gar veräußert haben. Überhaupt nicht erklären könnte das Konzept einer Kapitalnachfragerhaftung schließlich, dass im Falle des öffentlichen Angebots von Aktien nach § 3 Abs. 1 WpPG regelmäßig nur deren Anbieter (§ 2 Nr. 10 WpPG), welcher nicht zwingend zugleich Emittent sein muss,84 sondern gegebenenfalls sogar langjähriger Inhaber der Anteile sein kann, gemäß § 13 VerkProspG (§ 22 WpPG n. F.) i. V. m. §§ 44 ff. BörsG analog (§§ 21 ff. WpPG n. F.) haftet. Wenn der BGH insoweit davon spricht, dass der Altaktionär einen Kapitalgeber suche, trifft dies wirtschaftlich nicht das Richtige und steht auch im Widerspruch zu seiner treffenden Charakterisierung dieses Vorgangs als eines Wechsels der Kapitalgeber.85 Nach alledem liegt insbesondere § 44 BörsG (§ 21 WpPG n. F.) zwar das Konzept einer gesetzlichen Vertrauenshaftung zugrunde,86 jedoch knüpft diese nicht an die Suche nach Kapital an.87 Dies anerkennt in der Sache letztlich auch der BGH, wenn er die Prospekthaftung zudem in die Nähe der Haftung eines Verkäufers für fehlerhafte Angaben über den Kaufgegenstand rückt und das Haftungsrisiko für Fehlinformationen dem Veräußerer als demjenigen zuordnen will, der den – bei fehlender oder unzutreffender Information ungerechtfertigten – Erlös erzielt.88 Jedoch leistet auch diese ergänzende (?) Erwägung keine überzeugende dogmatische Fundierung. Wiederum ist hiermit weder die Haftung auch der emissionsbegleitenden Kredit- oder Finanzdienstleistungsinstitute noch die fallweise mögliche Haftung von Vorstands- und Aufsichtsratsmitgliedern des Emittenten zu erklären. Zum anderen lassen sich auf Basis des Kapitalnachfragerhaftungskonzepts keine trennscharfen und klaren Kriterien für die Verteilung von Haftungsrisiken zwischen der Gesellschaft und ihren Aktionären entwickeln: – Erstens kann es bei einer Umplatzierung auch darum gehen, dass die Gesellschaft einen neuen, aus einer Kapitalerhöhung mit Bezugsrechtsausschluss generierten Aktienbestand platzieren möchte oder dies im Wege einer gemischten Platzierung mit einem klassischen SPO kombiniert; letzteres dürfte im heutigen Marktumfeld sogar die Regel sein.89 In diesen Fällen kann das Haftungsrisiko auf der Basis des Konzepts einer Kapitalnachfragerhaftung jedenfalls nicht vollständig dem Altaktionär zugewiesen werden. Für gemischte Platzierungen wird daher überwiegend eine quotale Haftungsauf-

__________ 84 Groß in Ebenroth/Boujong/Joost/Strohn, Bd. 2, 2. Aufl. 2009, BankR IX, § 2 WpPG Rz. 598; von Kopp-Colomb/Knobloch in Assmann/Schlitt/von Kopp-Colomb (Fn. 83), § 2 WpPG Rz. 72. 85 BGH, AG 2011, 548, 549 (bei Rz. 17). 86 Groß (Fn. 84), §§ 44, 45 BörsG Rz. 371; Schwark in Schwark/Zimmer (Fn. 48), §§ 44, 45 BörsG Rz. 5 ff.; Assmann (Fn. 77), § 6 Rz. 25 ff.; Hamann (Fn. 2), §§ 44, 45 BörsG Rz. 33 ff. (jeweils auch zu den Gegenentwürfen). 87 Vgl. insoweit auch Wackerbarth, WM 2011, 193, 200. 88 BGH, AG 2011, 548, 549 (bei Rz. 18). 89 Arbeitskreis zum „Deutsche Telekom III Urteil“ des BGH, CFL 2011, 377; Ziemons, GWR 2011, 404, 405 f.; Fleischer/Thaten, NZG 2011, 1081, 1083; Arnold/Aubel, ZGR 2012, 113, 128, 143.

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teilung zwischen der Gesellschaft und dem Aktionär befürwortet,90 was freilich gewisse praktische Umsetzungsprobleme mit sich bringt.91 – Zweitens erhalten die Altaktionäre auch bei einem Börsengang unter Ausgabe neuer Aktien die Möglichkeit, ihren Altbestand jedenfalls nach Ablauf etwaiger Haltefristen über die Börse veräußern zu können, so dass sich auch für diese Konstellation die Frage stellt, in welchem Umfang auch dies als (mittelbarer) Vorteil im Sinne von § 57 AktG gewertet werden muss.92 – Drittens kann ein Aktionär einen seitens der Gesellschaft aus eigenem Antrieb für eine Börsenzulassung erstellten und wegen § 32 Abs. 3 Nr. 2 BörsG dem WpPG genügenden Prospekt für eine öffentliche Umplatzierung eigener Altaktien derselben Gattung „ausnutzen“. Bei einem derartigen SPO ist die Erstellung eines Prospekts nach § 3 Abs. 1 Satz 2 WpPG ausnahmsweise entbehrlich, sofern die Umplatzierung innerhalb der gemäß § 9 Abs. 1 WpPG zwölfmonatigen Gültigkeitsdauer des bestehenden Prospekts erfolgt.93 Andererseits erstreckt sich die im Rahmen der Börsenzulassung begründete Prospekthaftungsverantwortung der Gesellschaft gemäß § 44 Abs. 1 Satz 1 a. E. BörsG (§ 21 Abs. 1 Satz 1 a.E. WpPG n. F.) nicht auf Erwerbsgeschäfte, die erst nach Ablauf von sechs Monaten seit erstmaliger Einführung der betroffenen Wertpapiere abgeschlossen werden. Daher kommt eine verbotene Einlagenrückgewähr an den Aktionär von vornherein nicht in Betracht, wenn die Umplatzierung erst in einem Zeitraum von sechs bis zwölf Monaten nach der Börseneinführung realisiert werden soll – für diesen Zeitraum hat die AG überhaupt kein Prospekthaftungsrisiko übernommen –, und zwar selbst dann nicht, wenn der Aktionär dieses Vorgehen mit der Gesellschaft vorab besprochen hatte. Dass das Eingreifen des § 57 AktG schon im Ausgangspunkt davon abhängen soll, welchen Zeitpunkt der Aktionär für die Umplatzierung wählt, kann aber kaum befriedigen. Zudem stünde zu befürchten, dass es die allokative Effizienz des Kapitalmarktes beeinträchtigen würde, indem der Aktionär gegebenenfalls einen besonders günstigen Platzierungszeitpunkt zwecks Vermeidung von Haftungsrisiken nach §§ 57, 62 AktG verstreichen lassen müsste, ohne dass ein erkennbarer rechtspolitischer Gewinn zu verzeichnen wäre.

__________ 90 Wink, AG 2011, 569, 578 f.; Krämer/Gillessen/Kiefner, CFL 2011, 328, 334 ff.; Nodoushani, ZIP 2012, 97, 101; Arnold/Aubel, ZGR 2012, 113, 144 f.; Ziemons, GWR 2011, 404, 406 m. w. N.; a. A. im Sinne eines „Alles-oder-Nichts-Prinzips“ Meyer-Landrut, Börsen-Zeitung v. 8.6.2011, S. 2; Schneider, Die Freistellung der Banken von der Prospekthaftung der Aktienemission, 2011, S. 183. 91 Hierzu Wackerbarth, WM 2011, 193, 201; Fleischer, ZIP 2007, 1969, 1974 f.; Krämer/ Gillessen/Kiefner, CFL 2011, 328, 334 ff. 92 Wackerbarth, WM 2011, 193, 201. 93 Ausführlich hierzu Zeising in Just/Voß/Ritz/Zeising, 2009, § 3 WpPG Rz. 23 ff.; Lenenbach (Fn. 2), § 10 Rz. 10.286 f.; Grosjean in Heidel (Fn. 49), § 3 WpPG Rz. 3; Schlitt, CFL 2010, 304, 305; Schnorbus, AG 2008, 389, 402; Seitz, AG 2005, 678, 683; Schlitt/Schäfer, AG 2005, 498, 500; Wink, AG 2011, 569; die Prospektgültigkeit für nicht zwingend erforderlich halten Holzborn/Israel in Holzborn, 2008, § 3 WpPG Rz. 8.

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Nach alledem vermag die vom BGH neu entwickelte Klassifizierung der Prospekthaftung als einer Vertrauenshaftung eines Kapitalsuchenden weder die Letztzuweisung des wirtschaftlichen Haftungsrisikos an den Aktien platzierenden Aktionär dogmatisch überzeugend zu erklären noch eindeutige Lösungsansätze für Folgeprobleme vorzugeben. Daher bedarf es eines anderweitigen Lösungsansatzes gemäß den nachfolgenden Differenzierungen. c) Veranlasste Haftungsübernahme Eine Auszahlung im Sinne von § 57 AktG liegt in Anlehnung an die oben herausgearbeiteten allgemeinen Zurechnungskriterien94 erst dann vor, wenn die Gesellschaft das Prospekthaftungsrisiko auf Veranlassung bzw. unter hinreichender Mitwirkung des Aktionärs im Außenverhältnis tatsächlich eingeht. Eine gegebenenfalls vorangehende vertragliche Verpflichtung gegenüber dem Aktionär zur Erstellung des Prospekts und zur Haftungstragung im Außenverhältnis stellt für sich genommen noch keine Auszahlung dar.95 In Fällen dieser Art besteht, worauf der BGH in seinem Telekom III-Urteil zu Recht hinweist, eine Parallele zur weisungsgemäßen rechtsgeschäftlichen Haftungsübernahme zugunsten eines Aktionärs, insbesondere zur Besicherung von Aktionärsverbindlichkeiten durch Bürgschaften oder Garantien.96 Ebenfalls vergleichbar ist die im Interesse des Aktionärs gegenüber Dritten erfolgende Eingehung anderer als kapitalmarktrechtlicher Verpflichtungen durch die Gesellschaft, beispielsweise solcher zwecks Förderung des Absatzes von Produkten des Aktionärs, wobei insbesondere an Produktgarantien im Sinne von § 443 BGB zu denken ist.97 Auch ein auf Betreiben des Aktionärs vereinbarter Erlass (§ 397 BGB) von gegen den Aktionär gerichteten gesetzlichen Ansprüchen der Gesellschaft oder ein Verzicht auf deren Geltendmachung, die vor § 57 AktG einhellig als unzulässig angesehen werden,98 erweisen sich mit der vereinbarten Haftungsübernahme als funktional vergleichbar. Die Fallgruppen sollten daher nicht unterschiedlich behandelt werden. Bei einer gemischten Platzierung99 kann es schon im Ausgangspunkt allenfalls darum gehen, dass die Übernahme des Haftungsrisikos hinsichtlich der Plat-

__________ 94 S. oben unter II. 1. c). 95 A. A. BGH, AG 2011, 548, 549, Rz. 15 (Telekom III), unter insoweit unzutreffender Berufung auf Fleischer, ZIP 2007, 1969, 1973; Schäfer, ZIP 2010, 1877, 1880 f.; Technau, AG 1998, 445, 447; Hirte in Lutter/Scheffler/Uwe H. Schneider (Hrsg.), Handbuch der Konzernfinanzierung, 1998, § 35 Rz. 35, 37; Haag (Fn. 2), § 23 Rz. 60 a. E.; Bayer (Fn. 12), § 57 AktG Rz. 91. 96 Dazu oben unter III. 1.; s. auch BGH, AG 2011, 548, 549 (Telekom III); LG Bonn, ZIP 2007, 1267, 1269; Henze (Fn. 20), § 57 AktG Rz. 56; C. Schäfer, ZIP 2010, 1877, 1880; Fleischer, ZIP 2007, 1969, 1973; a. A. Wackerbarth, WM 2011, 193, 200; Schlitt, CFL 2010, 304, 309. 97 Zur Übernahme von Gewährleistungen durch die Gesellschaft als einem Fall des § 57 AktG vgl. Sieger/Hasselbach, BB 2004, 60. 98 Hierzu Bayer (Fn. 10), § 57 AktG Rz. 81; Lutter in KölnKomm. AktG, Bd. 2, 2. Aufl. 1988, § 57 AktG Rz. 28. 99 Dazu schon oben unter III. 2. b).

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zierung bestehender Aktien aus dem Bestand des Altaktionärs (sogenannte Sekundärtranche) eine Auszahlung im Sinne von § 57 Abs. 1 AktG darstellt, denn nur insoweit fließt dem Aktionär überhaupt ein Veräußerungserlös und damit ein wirtschaftlicher Vorteil zu.100 Entscheidend ist demzufolge, ob der Aktionär gerade dies nach Maßgabe der obigen Zurechnungskriterien hinreichend veranlasst bzw. mit bewirkt hat. Das die Platzierung neuer Aktien aus einer Kapitalerhöhung (Primärtranche) betreffende Haftungsrisiko der AG ist vor § 57 AktG im Übrigen schon deshalb unbedenklich, weil der der Gesellschaft zufließende Veräußerungserlös jedenfalls einen hinreichenden, sogar bilanziell bezifferbaren Vorteil als Kompensat generiert.101 Im Sonderfall der gemischten Platzierung in Form der so genannten „Greenshoe“- oder Mehrzuteilungsoption102 kommt schließlich eine Auszahlung nach § 57 AktG selbst dann nicht in Betracht, wenn ein oder mehrere Altaktionäre als Stillhalter des Emissionskonsortiums fungieren und die optionsweise zur Verfügung gestellten Aktien unter Ausnutzung eines von der Gesellschaft erstellten Prospekts platziert werden. Eine aktionärsseitig veranlasste Haftungsübernahme wird zumeist schon deshalb nicht vorliegen, weil der Altaktionär lediglich zum Zwecke einer primär im Interesse der Gesellschaft liegenden Kursstabilität als Stillhalter fungiert und im Übrigen passiv bleibt, während die Initiative für den Börsengang von der Gesellschaft selbst ausgeht. Darüber hinaus steht jedenfalls im Zeitpunkt der Optionsausübung fest, dass es sich für den Aktionär insgesamt um ein nachteiliges Geschäft handelt, da der Aktienkurs mittlerweile gegenüber dem Kursniveau im ursprünglichen Platzierungszeitpunkt gestiegen sein wird. Bei wirtschaftlicher Betrachtung kann also von einer Zuwendung an den Gesellschafter keine Rede sein.103 d) „Auftragslose“ Haftungsübernahme Übernimmt die Gesellschaft ein prospektrechtliches Haftungsrisiko, ohne hierzu durch einen Aktionär beauftragt worden zu sein, kommt eine Auszahlung nach § 57 Abs. 1 AktG vorbehaltlich des Eingreifens anderer Zurechnungstatbestände mangels hinreichender Veranlassung oder Mitwirkung des Aktionärs grundsätzlich nicht in Betracht. Dann liegt eine Zuwendung ohne oder gegen den Willen des Aktionärs vor, welche die Kapitalbindungsvorschriften von vornherein nicht berührt.104

__________ 100 So auch Wink, AG 2011, 569, 578. 101 Arnold/Aubel, ZGR 2012, 113, 141 f.; zum Erfordernis hinreichender Kompensation im Einzelnen noch unten unter IV. 102 Allgemein hierzu Meyer (Fn. 2), § 8 Rz. 65 ff.; Arnold/Aubel, ZGR 2012, 113, 128; Krämer/Gillessen/Kiefner, CFL 2011, 328, 333; Fleischer/Thaten, NZG 2011, 1081, 1085; Bezzenberger, AG 2010, 765; Dautel, DStR 2000, 891; aus der Rechtsprechung BGH, AG 2009, 446 = WM 2009, 951; KG, NZG 2008, 29. 103 Gegen eine Auszahlung im Sinne von § 57 AktG daher schon Krämer/Gillessen/ Kiefner, CFL 2011, 328, 336; Fleischer/Thaten, NZG 2011, 1081, 1085; Arnold/ Aubel, ZGR 2012, 113, 145 f. 104 Schon oben unter II. 1. c).

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Haftungsübernahme als Einlagenrückgewähr

Dieses Ergebnis trifft auch unter Wertungsgesichtspunkten das Richtige: Übernimmt die Gesellschaft aus eigenem Antrieb ohne Veranlassung durch einen Aktionär ein Haftungsrisiko, liegt hierin – vorbehaltlich besonders gelagerter Ausnahmefälle, in denen z. B. der Vorstand in grob pflichtwidriger Weise aus eigennütziger Motivation heraus agiert – typischerweise die Eingehung eines sorgsam abgewogenen unternehmerischen Risikos. Unternehmerische Risiken geht eine Handelsgesellschaft aber stets und ständig ein, und zwar immer mehr oder weniger im Interesse aller Aktionäre, die an einem unternehmerischen Erfolg der Gesellschaft über die Dividende partizipieren oder umgekehrt einen Misserfolg über einen denkbaren Jahresverlust mit zu tragen haben.105 Das Kapitalerhaltungsrecht ist nicht berufen, derartige Mechanismen zu unterbinden, mag die unternehmerische Entscheidung im Einzelfall auch einzelnen Aktionären einen besonderen wirtschaftlichen Vorteil zuwachsen lassen. e) Veranlassungskriterien Bei der Veranlassungslösung auch praktisch von besonderem Interesse sind die Anforderungen an eine „Veranlassung“. Eine solche liegt jedenfalls vor, wenn sich die Gesellschaft – wie im Fall Telekom III – auf Betreiben des Aktionärs gegenüber diesem durch Vertrag nach § 662 oder § 675 BGB zur Prospekterstellung bzw. zur Übernahme der Verantwortung für einen Prospekt verpflichtet. Bei einer gemischten Platzierung ist folglich danach zu fragen, ob gerade hinsichtlich der Sekundärtranche vom Vorliegen einer vertraglichen Verpflichtung ausgegangen werden kann. Dabei ist das Zustandekommen eines Vertrages zwar eine hinreichende und wohl typischerweise gegebene, jedoch keine notwendige Voraussetzung für die Annahme einer Veranlassung. Es genügt, wenn sich die Gesellschaft erkennbar der nachdrücklichen Initiative ihres Aktionärs unterordnet und in seinem Interesse handelt, mag eine rechtsgeschäftliche Fixierung der jeweils umzusetzenden Platzierungsschritte auch ausbleiben. Unter diesen Voraussetzungen kommt auch eine gemeinschaftliche Veranlassung durch mehrere konzertiert agierende Aktionäre in Betracht. Gegenläufig liegt eine Veranlassung nicht schon darin, dass im Vorfeld einer Platzierung unverbindliche informatorische Gespräche zwischen den Beteiligten stattgefunden haben oder ein im Übrigen untätiger Aktionär die Übernahme des Prospekthaftungsrisikos durch seine Gesellschaft (stillschweigend) billigt. Insofern ist es für sich genommen irrelevant, ob der Aktionär von den Vorgängen gegebenenfalls reflexartig profitiert, z. B. indem er die Möglichkeit gewinnt, eigene Aktien vor oder nach Ablauf der Sechsmonatsfrist des § 44 Abs. 1 Satz 1 a. E. BörsG (§ 21 Abs. 1 Satz 1 a. E. WpPG n. F.) prospektfrei zu platzieren.106

__________ 105 Wackerbarth, WM 2011, 193, 202. 106 Ähnlich Arbeitskreis zum „Deutsche Telekom III-Urteil“ des BGH, CFL 2010, 377, 378 f.

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Als praktische Konsequenz sind Gesellschaft und Aktionär gehalten, ihre im Vorfeld einer Platzierung stattfindende Kommunikation möglichst sorgfältig zu dokumentieren, um die Hintergründe der Transaktion – insbesondere die jeweiligen Interessenlagen sowie die fehlende Veranlassung durch den Aktionär im Allgemeinen und das Nichtbestehen einer vertraglichen Verpflichtung zur Eingehung des Prospekthaftungsrisikos im Besonderen – nachweisen zu können.107 Aus Sicht des Vorstands ist dies auch zur Vermeidung einer Haftung nach § 93 Abs. 3 Nr. 1 AktG i. V. m. § 57 Abs. 1 AktG geboten.108

IV. Kompensation Keine nach § 57 AktG verbotene Einlagenrückgewähr liegt vor, wenn die Leistung der Gesellschaft an den Aktionär durch eine gleichwertige Gegenleistung ausgeglichen wird,109 was für Umsatzgeschäfte bedeutet, dass die jeweils erbrachten Leistungen einem Dritt- oder Fremdvergleich standhalten müssen.110 Soweit es um die Übernahme einer Haftung oder eines Haftungsrisikos – insbesondere eines Prospekthaftungsrisikos – durch die Gesellschaft geht, stellt sich die Frage nach der erforderlichen Qualität solcher Gegenleistungen in besonderer Schärfe. 1. Kompensation durch Freistellungsvereinbarung Nach Ansicht des BGH kann die Übernahme eines Prospekthaftungsrisikos grundsätzlich nur durch eine Freistellungsvereinbarung ausgeglichen werden.111 Da die Gesellschaft folglich das Insolvenzrisiko ihres Aktionärs tragen muss, wird man – auch wenn der Senat dies in Telekom III nicht explizit ausgesprochen hat – unter Heranziehung des Rechtsgedankens von § 57 Abs. 1 Satz 3 Alt. 2 AktG wohl ergänzend fordern müssen, dass der gewährte Freistellungsanspruch zumindest im Zeitpunkt des Vertragsschlusses werthaltig ist.112 Erfolgt die Risikoübernahme zulasten der Gesellschaft auf Grundlage eines Auftrags oder Geschäftsbesorgungsverhältnisses, kommt freilich – entgegen

__________ 107 Lässt sich ex post nicht mehr rekonstruieren, auf wessen Initiative der Börsengang (und damit die Übernahme des Prospekthaftungsrisikos) zurückgeht, wird teilweise das Eingreifen einer Vermutungsregel befürwortet: Es sei zu vermuten, dass der Aktionär den Börsengang veranlasst habe, wenn ihm der Erlös des Platzierungsvolumens ganz oder überwiegend zufließt, während im umgekehrten Fall von einer Veranlassung durch die Gesellschaft selbst auszugehen sei, s. Arbeitskreis zum „Deutsche Telekom III-Urteil“ des BGH, CFL 2011, 377, 378. 108 Näher zu den Verhaltenspflichten des Vorstands nach der Telekom III-Entscheidung Arnold/Aubel, ZGR 2012, 113, 151 ff. 109 BGH, AG 2011, 548, 550 (Telekom III); BGHZ 179, 71 = AG 2009, 81 (MPS); BGH, AG 1987, 205. 110 Statt vieler Fleischer (Fn. 2), § 57 AktG Rz. 12; Drinhausen in Heidel (Fn. 49), § 57 AktG Rz. 8; Westermann (Fn. 35), § 57 AktG Rz. 20. 111 BGH, AG 2011, 548, 550, Rz. 25. 112 Leuschner, NJW 2011, 3275, 3276.

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der dezidierten Ablehnung insbesondere durch das OLG Köln113 als Vorinstanz zu Telekom III – in Betracht, dass der Aktionär als Auftraggeber schon in zumindest entsprechender Anwendung des § 670 BGB zur Erstattung von Beträgen verpflichtet ist, welche die AG zur Erfüllung begründeter prospekthaftungsrechtlicher Schadensersatzansprüche der betroffenen Anleger gezahlt hat.114 Der Aktionär wäre dann sogar schon vor Anspruchserfüllung zur Freistellung der Gesellschaft nach § 257 BGB verpflichtet, würde man auch die Begründung gesetzlicher Schadensersatzpflichten als Eingehung einer Verbindlichkeit im Sinne dieser Norm genügen lassen.115 Eine gesonderte Freistellungsvereinbarung wäre danach gar nicht erforderlich, es sei denn, dass die Parteien den Aufwendungsersatzanspruch aus § 670 BGB – wie im Fall Telekom III – ausdrücklich oder konkludent abbedungen haben oder es trotz Veranlassung der Risikoübernahme durch den Aktionär gänzlich an einer vertraglichen Grundlage fehlt.116 Vor diesem Hintergrund ist für aktionärsseitig veranlasste gemischte Platzierungen der überwiegenden Ansicht beizupflichten, die eine anteilige Aufteilung des Haftungsrisikos zwischen Gesellschaft und Aktionär auf Basis des Verhältnisses von Primär- und Sekundärtranche befürwortet und eine quotale Freistellungsvereinbarung für ausreichend erachtet.117 Agieren mehrere Altaktionäre im Verbund, etwa indem sie gemeinschaftlich als Geschäftsherr im Sinne von § 675 BGB auftreten,118 ist fraglich, ob die quotale Freistellungszusage gesamtschuldnerisch abgegeben werden muss oder ob jeder Aktionär nur entsprechend seines Anteils an der Sekundärtranche einzustehen hat. Vorzugswürdig dürfte letzteres sein, da die Platzierung theoretisch auch in mehrere Einzeltransaktionen unter Beteiligung nur jeweils eines Altaktionärs aufgeteilt werden könnte, in welchem Fall der AG auch nur jeweils ein Freistellungsschuldner zur Verfügung stünde.119 2. Kompensation durch von dritter Seite der AG gewährte oder zufließende Vorteile a) Vorteilserbringung für Rechnung oder auf Weisung des Gesellschafters Vorteile, die der Gesellschaft von dritter Seite gewährt werden, dürften jedenfalls dann als Kompensation hinreichend sein, wenn sie für Rechnung oder auf

__________

113 OLG Köln, BeckRS 2009, 13388 (unter II. 1., insoweit nicht abgedruckt in NZG 2009, 951 = AG 2009, 584); dem zustimmend Wink, AG 2011, 569, 571. 114 Zur im Einzelfall gegebenen Erstattungsfähigkeit nicht nur von Aufwendungen (freiwillige Vermögensopfer), sondern auch von Schäden (unfreiwillige Vermögenseinbußen) in entsprechender Anwendung des § 670 BGB s. nur BGH, NJW 2005, 981; Podewils, NZG 2009, 1101. 115 So etwa Bittner in Staudinger, Buch 2, Neubearbeitung 2009, § 257 BGB Rz. 3 f.; a. A. Krüger in MünchKomm. BGB, Bd. 2, 5. Aufl. 2007, § 257 BGB Rz. 3. 116 Hierzu oben unter III. 2. c)–e). 117 S. oben unter III. 2. b). 118 Zur Möglichkeit einer gemeinschaftlichen Veranlassung schon oben unter III. 2. e). 119 Für eine gesamtschuldnerische Freistellungszusage hingegen Fleischer/Thaten, NZG 2011, 1081, 1084; Arnold/Aubel, ZGR 2012, 113, 147 f.

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Weisung des Gesellschafters erbracht werden. Dies wird regelmäßig in Betracht kommen, wenn die Auszahlung ihrerseits nicht direkt an den Aktionär erfolgte, sondern diesem in einem Dreipersonenverhältnis nach den maßgeblichen Kriterien zugerechnet wurde.120 Die Zuwendung durch den Dritten stellt sich dann entsprechend der aus dem bürgerlichen Bereicherungsrecht bekannten Wertungen121 bei näherem Zusehen als eine Leistung des Gesellschafters selbst dar. Vor diesem Hintergrund ist für die im Telekom III-Urteil behandelte Konstellation denjenigen beizupflichten, die als Kompensation nicht nur den Abschluss einer Freistellungsvereinbarung mit dem Aktionär genügen lassen, sondern diesem auch gestatten, für von dritter Seite gewährten Versicherungsschutz in Höhe des Prospekthaftungsrisikos zu sorgen oder der Gesellschaft die Prämien für einen von ihr eingeholten Versicherungsschutz zu erstatten.122 Anerkennt man entgegen dem OLG Köln die Möglichkeit eines aus §§ 662, 675 i. V. m. §§ 670 analog, 257 BGB resultierenden Freistellungsanspruchs, kann dieser folglich ohne Verstoß gegen § 57 AktG abbedungen werden, wenn zugleich für ausreichenden Versicherungsschutz Sorge getragen wird. Letzteres dürfte für die Gesellschaft in vielen Fällen sogar vorteilhaft sein, weil hierdurch das Risiko eines späteren Bonitätsverfalls des Aktionärs als Freistellungsschuldner ausgeschlossen wird und Versicherungsschutz aufgrund der einschlägigen versicherungsaufsichtsrechtlichen Anforderungen stets mit einer besonders hohen Werthaltigkeit unterlegt ist.123 Auch der BGH spricht im Telekom III-Urteil nur davon, dass eine Freistellungsvereinbarung „grundsätzlich“124 erforderlich sei, was zumindest in besonders gelagerten Fällen Raum für die Anerkennung andersartiger Kompensationsleistungen lassen dürfte. b) Vorteilsgewährung durch Dritte aus eigenem Antrieb Erbringt ein Dritter – aus welchen Gründen auch immer – aus eigenem Antrieb eine Zuwendung an die Gesellschaft mit dem erkennbaren Ziel, die an den Gesellschafter erbrachte Leistung zu kompensieren, sprechen die wohl besseren Gründe für eine kompensatorische Berücksichtigung. Mit Blick auf die unterschiedlichen Schutzzwecke der Kapitalerhaltungsvorschriften125 dürfte insoweit nämlich entscheidend sein, dass es aus Sicht der Gesellschafts-

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120 Zur Behandlung solcher Fälle s. oben unter II. 1. c) aa). 121 Hierzu nur Sprau in Palandt, 70. Aufl. 2011, § 812 BGB Rz. 54 ff. m. w. N.; BuckHeeb in Erman, Bd. 2, 13. Aufl. 2011, § 812 BGB Rz. 16 ff. 122 Arbeitskreis zum „Deutsche Telekom III-Urteil“ des BGH, CFL 2011, 377, 380; Krämer/Gillessen/Kiefner, CFL 2011, 328, 338; Arnold/Aubel, ZGR 2012, 113, 137; Fleischer/Thaten, NZG 2011, 1081, 1083 m. w. N.; insoweit auf praktische Schwierigkeiten hinweisend Nadoushani, ZIP 2012, 97, 102; grundsätzlich die Zahlung einer Art Versicherungsprämie an die AG für erforderlich haltend Leuschner, NJW 2011, 3275, 3276. 123 Hierauf zu Recht hinweisend Krämer/Gillessen/Kiefner, CFL 2011, 328, 338; Arnold/Aubel, ZGR 2012, 113, 137 f. 124 BGH, AG 2011, 548, 550, Rz. 25. 125 Dazu oben unter II. 1. c) bb).

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gläubiger keine Rolle spielt, ob der ihnen zur Verfügung stehende Haftungsfonds durch eine Zahlung des Gesellschafters selbst oder eines Dritten zugunsten des Gesellschafters wiederhergestellt wird. Zudem wird das vom Aktionär gestellte Risikokapital durch die Vorteilsgewährung zwar faktisch geschmälert, jedoch bietet dies bei näherem Zusehen allenfalls moderaten Anreiz zu einer weniger seriösen Teilhabe an der Unternehmensführung, da der dem Aktionär nach wie vor zurechenbare Teil des bilanziellen Eigenkapitals weiterhin zur Verlusttragung herangezogen werden kann und damit auf dem Spiel steht. Freilich bleiben gewisse Bedenken deswegen, weil der Aktionär unter diesen Umständen einen wirtschaftlichen Vorteil erhält und behalten darf, der seinen Mitgesellschaftern (so) nicht gewährt wurde – eine Ungleichbehandlung, die sich nicht zuletzt vor § 53a AktG als problematisch erweist. Auf dem Boden der herrschenden Ansicht ist jedoch der gerade nicht tangierte Aspekt des Gläubigerschutzes in den Vordergrund zu stellen. 3. Keine bilanzielle Bezifferbarkeit von Vorteilen erforderlich Ob lediglich bilanziell bezifferbare Vorteile eine im Sinne von § 57 AktG hinreichende Gegenleistung darstellen können, war ebenfalls Gegenstand von Telekom III. Als der Deutschen Telekom AG zuwachsende Vorteile standen dort etwa die Verringerung ihrer Abhängigkeit von einem Großaktionär (Bund), die Präsenz auf dem US-Kapitalmarkt und eine Stärkung des Streubesitzes in Rede,126 was der BGH mangels fehlender, mit Blick auf § 57 Abs. 1 Satz 3 AktG n. F. aber angeblich zwingend erforderlicher bilanzieller Bezifferbarkeit nicht als Kompensation genügen ließ.127 Dieser Standpunkt des erkennenden Senats geht offenkundig auf eine (verbreitete) Überinterpretation der Regierungsbegründung zum MoMiG zurück, wo von einer Rückkehr zur bilanziellen Betrachtungsweise gesprochen wird.128 Eine solche hat im Kontext des § 57 AktG – anders im GmbH-Recht aufgrund der Vorgaben des § 30 GmbHG – jedoch weder für das Vorliegen einer Auszahlung noch für die Reichweite der Vermögensbindung jemals eine maßgebliche Rolle gespielt.129 Auch aus § 57 Abs. 1 Satz 3 Alt. 2 AktG n. F. lässt sich kein generelles Erfordernis der bilanziellen Bezifferbarkeit von Vorteilen ableiten. Richtigerweise besagt die Vorschrift nämlich nur, dass jedenfalls bei Vorliegen eines vollwertigen Gegenleistungsanspruchs eine verbotene Einlagenrückgewähr ausscheidet, womit für einen Spezialfall das Vorliegen eines dem Dritt- oder Fremdvergleich standhaltenden Umsatzgeschäfts dergestalt typisiert wird, dass ein gewissenhaft nach kaufmännischen Grundsätzen handelnder Geschäftsleiter das fragliche Geschäft jedenfalls bei Vorliegen eines entsprechenden

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126 Für weitere denkbare Vorteile s. Wink, AG 2011, 569, 575; Maaß/Troidl, BB 2011, 2563, 2565; Arnold/Aubel, ZGR 2012, 113, 129. 127 S. auch C. Schäfer, ZIP 2010, 1877, 1881 f.; LG Bonn, ZIP 2007, 1267, 1269. 128 BT-Drucks. 16/6140, S. 93 f.; hierzu jüngst Leuschner, NJW 2011, 3275, 3276; Krämer/Gillessen/Kiefner, CFL 2011, 328, 330. 129 Darauf hinweisend schon Mülbert/Leuschner, NZG 2009, 281, 282.

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Gegenleistungsanspruchs auch mit einem Nichtaktionär abgeschlossen hätte. Bei diesem Verständnis hat der Gesetzgeber in § 57 Abs. 1 Satz 3 Alt. 2 AktG n. F. gerade keine Aussage darüber treffen wollen, ob über bilanziell bezifferbare Gegenleistungen hinaus auch sonstige Vorteile berücksichtigungsfähig sind oder nicht.130 Im Übrigen entsprach es vor Umsetzung des MoMiG für Umsatzgeschäfte der wohl h. M., dass der Wert einer Gegenleistung zum Nachteil der AG hinter dem Marktpreis der Leistung zurückbleiben dürfe, sofern sich dies aus – schon terminologisch eine fehlende bilanzielle Bezifferbarkeit implizierenden – „betrieblichen Gründen“ rechtfertigen ließ.131 An anderer Stelle findet sich der Hinweis darauf, dass ein Umsatzgeschäft durchaus auch mit einem Verlust für die Gesellschaft enden dürfe, sofern es dem Drittvergleich – dann wohl aufgrund anderer als bilanziell bezifferbarer Umstände – standhält.132 Dass all dies nun anders sein sollte, dafür finden sich keine Anhaltspunkte. Vor diesem Hintergrund fällt auch auf, dass der BGH in Telekom III die Maßgeblichkeit einer „bilanziellen“ Betrachtungsweise (nur) in Anführungszeichen setzt.133 Wollte er hierdurch – was sich geradezu aufdrängt – die gewählten Formulierungen relativieren, könnte dies bedeuten, dass ein der AG zufließender wirtschaftlicher Vorteil zwar als Kompensation konkret greif- und messbar, nicht aber im strengen bilanzrechtlichen Sinne aktivierbar sein muss, auch wenn beides typischerweise zusammenfällt. Hierfür spricht nicht zuletzt, dass sich die relevanten Vorgänge gerade in Fällen der Haftungsübernahme bisweilen vollständig außerhalb der eigentlichen Bilanz abspielen134 und damit einer bilanziellen Betrachtungsweise im engeren Sinne gar nicht zugänglich sind. Darüber hinaus wäre ein streng bilanzielles Normverständnis in § 57 AktG auch sozial- und gesellschaftspolitisch bedenklich. Handelt es sich beim Aktionär wie im Fall Telekom III um eine öffentlich-rechtliche Körperschaft (z. B. Bund, Länder), wäre nämlich jedenfalls die vom Aktionär veranlasste Erbringung von Spenden oder Sponsoringleistungen an diesen oder an ihm verbundene, karitativen Zwecken verpflichtete Organisationen mit der aktienrechtlichen Kapitalbindung unvereinbar, sofern der Gesellschaft über die zu erwartenden positiven Auswirkungen auf Reputation und Image hinaus keine bilanziell messbareren Gegenwerte zuflössen. Zwar sind soziale Aufwendungen im Aktienrecht richtigerweise schon mit Blick auf § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG nur dann zulässig, wenn mit ihnen auf der Basis einer angemessenen Informa-

__________ 130 So auch Krämer/Gillessen/Kiefner, CFL 2011, 328, 330; Arbeitskreis zum „Deutsche Telekom III-Urteil“ des BGH, CFL 2011, 377, 378; Schlitt, CFL 2010, 304, 310; Arnold/Aubel, ZGR 2012, 113, 132. 131 Henze (Fn. 20), § 57 AktG Rz. 42 unter Verweis auf BGH, NJW 1987, 1194, 1195, wo die Möglichkeit einer entsprechenden Rechtfertigung ebenfalls anklingt. 132 Fleischer, WM 2007, 909, 913; Bayer (Fn. 10), § 57 AktG Rz. 33. 133 BGH, AG 2011, 548, 550 (bei Rz. 25). 134 Dazu Leuschner, NJW 2011, 3275, 3276; Krämer/Gillessen/Kiefner, CFL 2011, 328, 330 f.; s. auch Nadoushani, ZIP 2012, 97, 103 ff.; Arnold/Aubel, ZGR 2012, 113, 132 f.

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tionsgrundlage voraussichtlich hinreichend positive finanzielle Effekte einhergehen.135 Diese können und müssen einer exakten bilanziellen Bezifferung jedoch nicht unbedingt zugänglich sein,136 so dass eine gegenteilige Anforderung im Rahmen des § 57 AktG eine echte Beschränkung karitativer Aktivitäten mit sich brächte.

V. Zusammenfassung Bei gesetzlich angeordneten Haftungsübernahmen einer AG zugunsten ihrer Aktionäre stellen sich, was die Vereinbarkeit mit den aktienrechtlichen Kapitalerhaltungsvorschriften anbelangt, ganz ähnliche Probleme wie bei rechtsgeschäftlich begründeten Haftungstatbeständen. Für die erste Konstellation hat der BGH mit seiner Entscheidung Telekom III nunmehr durchaus restriktive Anforderungen formuliert und hierfür schon im Ausgangspunkt einen neuartigen Begründungstopos gewählt. Beides bietet Anlass zur kritischen Reflektion unter Entwicklung eines umfassenden Alternativkonzepts, dessen Kernthesen wie folgt lauten: 1. Die Verwirklichung eines gesetzlichen Haftungstatbestandes durch eine AG zugunsten ihrer Aktionäre stellt – von wenigen Ausnahmefällen abgesehen – keine verbotene Einlagenrückgewähr dar. Dies gilt insbesondere für die Herbeiführung eines gesetzlichen Schuldbeitritts oder eine Gesamtrechtsnachfolge der Gesellschaft in eine zugunsten des Aktionärs bestehende Verbindlichkeit, die Auslösung von Ausgleichs-, Abfindungs- oder Zuzahlungsansprüchen infolge einer aktien- oder umwandlungsrechtlichen Strukturmaßnahme und die Begründung von Schadensersatzpflichten wegen fehlerhafter Kapitalmarktinformation. 2. Eine Auszahlung im Sinne von § 57 AktG setzt nicht nur in Mehrpersonenverhältnissen, sondern auch in Zweipersonenverhältnissen voraus, dass die Leistungserbringung durch die AG dem Aktionär zugerechnet werden kann. Hierfür ist grundsätzlich erforderlich, dass letzterer die Leistung willentlich veranlasst hat, während eine Auszahlung ohne oder gegen den Willen des Aktionärs nicht in Betracht kommt. 3. Eine hinreichende Veranlassung liegt jedenfalls vor, wenn die AG auf Betreiben des Aktionärs und insbesondere auf vertraglicher Grundlage in seinem Interesse eine Leistung erbringt. Dagegen genügt es nicht, wenn der Aktionär die Zuwendung lediglich als Mitglied des Vorstands oder des Aufsichtsrats anregt oder organisiert oder sie nur (gegebenenfalls stillschweigend) in Empfang nimmt. 4. Das im Telekom III-Urteil entwickelte Konzept der wirtschaftlichen Letztzuweisung des Prospekthaftungsrisikos an den Altaktionär überzeugt vor allem deshalb nicht, weil die prospekthaftungsrechtlichen Vorschriften ihren

__________ 135 Zum Ganzen mit kritischer Würdigung Mülbert, AG 2009, 766, 772 ff. 136 Mülbert, AG 2009, 766, 773.

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rechtspolitisch tragenden Grund nicht in einer Vertrauenshaftungsverantwortung gerade eines Kapitalsuchenden finden. 5. Eine Leistungserbringung im Sinne von § 57 AktG kann nicht nur durch eine gleichwertige Gegenleistung des Aktionärs, sondern auch durch die Zuwendung eines Dritten an die AG kompensiert werden. 6. Hieraus folgt für die im Telekom III-Urteil behandelte Konstellation, dass als Kompensat nicht nur der Abschluss einer Freistellungsvereinbarung mit dem Aktionär zulässig ist. Vielmehr kann der Aktionär alternativ für Versicherungsschutz in Höhe des Prospekthaftungsrisikos sorgen oder der Gesellschaft die Prämien für einen von ihr selbst eingeholten Versicherungsschutz erstatten. 7. Handeln mehrere Aktionäre in einem konzertierten Verbund, muss die Freistellungszusage nicht gesamtschuldnerisch abgegeben werden. Es genügt, wenn jeder Aktionär individuell ein seinem Anteil am Platzierungsvolumen entsprechendes Freistellungsversprechen abgibt. 8. Die im Telekom III-Urteil betonte Rückkehr zur bilanziellen Betrachtungsweise geht im Aktienrecht mangels gesetzlicher Anknüpfungspunkte fehl und beruht auf einer Überinterpretation von § 57 Abs. 1 Satz 3 Alt. 2 AktG n. F. sowie der Regierungsbegründung zum MoMiG. Bilanziell nicht bezifferbare Vorteile können daher im Rahmen von § 57 AktG als Kompensation anzuerkennen sein, wofür auch einige sozial- und gesellschaftspolitische Erwägungen sprechen. 9. Bei gemischten Platzierungen kann allenfalls die Übernahme des Prospekthaftungsrisikos hinsichtlich der Sekundärtranche eine Auszahlung an den Aktionär darstellen, in welchem Fall eine am Verhältnis von Primär- und Sekundärtranche orientierte quotale Freistellungszusage des Aktionärs zugunsten der Gesellschaft als Kompensation ausreicht. Erfolgt die gemischte Platzierung auf Betreiben der Gesellschaft selbst, ist eine quotale Freistellungszusage dagegen mangels hinreichender Leistungsveranlassung durch den Aktionär entbehrlich. 10. Im Sonderfall der gemischten Platzierung in Gestalt einer „Greenshoe“oder Mehrzuteilungsoption kommt ein Kapitalerhaltungsverstoß nicht in Betracht, da es in aller Regel an einer Veranlassung der Transaktion durch den primär im Kursstabilisierungsinteresse der Gesellschaft als bloßer Stillhalter fungierenden Altaktionär sowie an einem wirtschaftlichen Vorteil im Sinne des § 57 Abs. 1 AktG fehlen wird.

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Der Bestätigungsvermerk des Abschlussprüfers Eine Sinnfrage

Inhaltsübersicht I. Grund und Anlass II. Der Informationsgehalt III. Beglaubigungsfunktion/Informationsfunktion 1. Bescheidene Information 2. Abgrenzung zum Rating

IV. Entschlackung des Bestätigungsvermerks V. Haftungsfragen VI. Ein Thema de lege ferenda VII. Conclusio

I. Grund und Anlass Schon immer hat das Rechnungswesen im Kontext des Gesellschaftsrechts und in diesem Zusammenhang auch die Prüfung des Rechnungswesens durch einen Abschlussprüfer eine besondere Affinität auf den Jubilar ausgeübt. Gesetzliche Entwicklungen hat er kritisch und mit Interesse begleitet1 und unter seiner Obhut entstand auch seinerzeit eine umfangreiche Dissertation zum Bestätigungsvermerk2 und zu guter Letzt ist er als Emeritus Partner einer der Big-Four-Wirtschaftsprüfungsgesellschaften geworden. Vielleicht mögen ihn einige (kritische) Gedanken zum Bestätigungsvermerk interessieren, auch wenn deren Realisierungschancen mehr als unwahrscheinlich sind. Warum gerade zum Bestätigungsvermerk? Ist dieser doch seit Einführung der Pflichtabschlussprüfung 1931 in Deutschland3 ein tradiertes, eigentliche bewährtes, derzeit wenig mit Kritik bedachtes und schließlich auch EU-abgesichertes4 Instrument. Zwar wirft das derzeit die Diskussion beherrschende „Gründbuch“ der EU-Kommission zur Abschlussprüfung5 zu Recht die Frage

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1 Vgl. z. B. BB 1998, 2567 ff. und 2625 ff. zum KonTraG; ZGR 2008, 250 ff. zum BilMoG. 2 Erle, Der Bestätigungsvermerk des Abschlussprüfers, 1990. 3 Notverordnung vom 19.9.1931 führt die Pflichtprüfung für AG und KGaA durch sachverständige unabhängige Prüfer ein. 4 Art. 51a RL 78/660/EWG; Art. 37 Abs. 2 RL 83/348 EWG. 5 Grünbuch der Europäischen Kommission vom 13.10.2010 KOM(2010) unter 2.1, S. 9. Der Vorschlag der Europäischen Kommission einer Verordnung über spezifische Anforderungen an die Abschlussprüfung bei Unternehmen von öffentlichem Interesse (Kom(2011) 779), der in Art. 22 eine ausführliche Regelung über den Bestätigungsvermerk enthält, konnte bei Abfassung des Manuskripts nicht mehr berücksichtigt werden. Der Entwurf veranlasst aber nicht eine Änderung oder Modifizierung der nachfolgenden Ausführungen; er ist vielmehr noch formalistischer und ausufernder als der derzeit geltende § 322 HGB. Zu begrüßen ist allenfalls, dass im Vorschlag eine spezifische Aussage zur Schuldendeckungsfähigkeit der geprüften Gesellschaft verlangt wird (Art. 22 Abs. 2 lit. l).

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der Sinnhaftigkeit des derzeit praktizierten Bestätigungsvermerks auf, der dem „Alles oder Nichts“-Prinzip folgt. Bereits die Einschränkung ist mit den Worten des Grünbuchs „für Mandanten wie Abschlussprüfer gleichermaßen ein Greul“. Eine vergleichende Aussage über die Qualität des Abschlusses und über das Ergebnis des Unternehmens im Vergleich zu den anderen Unternehmen werde nicht gegeben. Auch wird die Frage nach einer Ausweitung des Prüfungsmandats auf zukunftsorientierte Informationen und Analysen gestellt.6 Richtungsweisende Antworten kann und will das Grünbuch aber insoweit nicht liefern. Eine kritische Stimme kann man allerdings aus dem International Auditing and Assurance Standards Board (IAASB) vernehmen, der der Besorgnis Ausdruck verleiht,7 „that the auditor’s report has not kept pace with the globalized economy and increasingly complex financial reporting requirements, and that the auditor reporting and communications are not meeting the needs of financial statement users“. Die berüchtigte und gefährliche Erwartungslücke (information gap) wird hier zutreffend aufgerufen. Allerdings ist bei dieser – berechtigten – Kritik zu berücksichtigen, dass der ausländischen Prüfungspraxis ein ausführlicher Prüfungsbericht i. S. d. § 321 HGB weitgehend unbekannt ist und damit alles Gewicht auf dem an Gesellschaft und Externe gerichteten Auditors Report liegt. Aber der Prüfungsbericht i. S. d. § 321 HGB, ein wie sich im internationalen Vergleich herausstellt, sehr fortschrittliches Instrument des deutschen Prüfungsinstrumentariums, ist letztlich ein unternehmensinternes Dokument8 adressiert an die gesetzlichen Vertreter und ggf. ein Kontrollgremium (Aufsichtsrat, Prüfungsausschuss). Lediglich bei der GmbH ist der Adressatenkreis auf die Gesellschafter erweitert (vgl. § 321 Abs. 5 HGB; § 42a Abs. 1 Satz 2 GmbHG). Wenn es eine Erwartungslücke gibt – und die gibt es sicherlich – dann liegt nicht die Frage nach der Lücke, sondern die Frage nach der „Erwartung“ auf der Hand. Vielleicht ist es gerade der Bestätigungsvermerk, der heute die Erwartungen nicht oder nicht mehr erfüllt. Vielleicht bildet er im Verhältnis zum Aufwand einer Abschlussprüfung, zur Expertise des eingesetzten Personals und zum gewährten Einblick in die Unternehmen eine zu magere und nur eingeschränkt brauchbare Aussage. Eine Steigerung des Wertes und der Aussagekraft der Prüfung kann vielleicht weniger durch Ausweitung der Prüfungsgegenstände, sondern durch eine gehaltvollere Aussage nicht nur an die Kontrollgremien, sondern an die externen Adressaten erreicht werden. Das sind viele „Vielleichts“, die aber doch einer näheren Betrachtung wert sind. Die angesprochene Problematik hängt natürlich mit der grundsätzlichen Anlage der Pflichtprüfung zusammen. Sie ist darauf ausgerichtet, das Vertrauen auf die in der Rechnungslegung enthaltenen Informationen zu erhöhen. Die Konformität der Informationen mit bestimmten Maßstäben für die externe Rechnungslegung (HGB oder IFRS) soll mit hinreichender Sicherheit bestätigt werden. Das verlangte Gesamturteil des Abschlussprüfers (§ 322 Abs. 1 Satz 1 HGB) bezieht sich nur auf die Konformität des Abschlus-

__________ 6 Grünbuch (Fn. 5), S. 10. 7 IAASB CA6 Paper (February 2011) Enhancing Auditor Reporting and Evolving the Standard Auditor’s Report S. 2, abzurufen unter www.ifac.org. 8 Vgl. dazu auch Lanfermann, BB 2011, 937 ff.

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ses mit den maßgeblichen Rechnungslegungsvorschriften und schafft damit eine Vertrauensbasis,9 zieht aber keine Schlussfolgerungen i. S. einer Gesamtbeurteilung der wirtschaftlichen Lage. Der Bestätigungsvermerk in der Lesart des § 322 HGB ist der an die Öffentlichkeit gerichtete (externe) Extrakt aus einer umfänglichen und bereits im Prüfungsbericht komprimierten Darstellung der Tätigkeit und der Befunde des Abschlussprüfers. Seine Adressaten sind die Share- und die Stakeholder sowie die engere und weitere Öffentlichkeit, ganz im Gegensatz zum Prüfungsbericht als unternehmensinternem Instrument. Das AktG 1965 hatte ein gesetzlich vorgefasstes Testat vorgeschrieben, quasi eine Zertifizierungsformel, deren wortgetreuer Gebrauch zwingend war. Diese Formel wurde mit dem KonTrAG 1998 aufgegeben. Es verblieb allerdings bei, zwar nicht in ihrer Form, aber in ihrem Inhalt vorgegebenen Kernaussagen mit einer gewissen Fortentwicklung durch das BilReG 2004 zum sog. „Bestätigungsbericht“, ohne dass sich allerdings die Bezeichnung „Bestätigungsvermerk“ verändert hätte. In der Praxis ist es jedoch bei den Vorformulierungen im Wesentlichen geblieben. Zwar nicht von Gesetzes wegen, aber das Institut der Wirtschaftsprüfer (IdW) hat mit seiner Wegleitung im Prüfungsstandard IDW PS 40010 „Grundsätze für die ordnungsgemäße Erteilung von Bestätigungsvermerken bei Abschlussprüfungen“ formelhafte Vorgaben gemacht, die in der Prüfungspraxis gebetsmühlenartig zur Anwendung gebracht werden. Der Bestätigungsvermerk ist eine Art rituelle Manifestation in drei Kategorien: „uneingeschränkt“, „eingeschränkt“, „versagt“. Bezeichnend sind die stereotyp gewordenen Worte und Sätze, die vorkommen müssen, deren Gebrauch zwanghaft, ähnlich einem liturgischen Procedere die Prüfung zum Abschluss bringen. Dem Bestätigungsvermerk haftet damit etwas verfahrensmäßig formelhaftes an. Das ist vom Gesetz so angelegt und gewollt, birgt aber die Gefahr, dass mit diesem zeremoniellen Charakter der innere Gehalt einer umfangreichen und aufwendigen Prüfungstätigkeit in den Hintergrund gedrängt wird. Da der Wortlaut in seinen jeweiligen Ausprägungen im Kernbereich immer der Gleiche ist, wird der Bestätigungsvermerk als gesamtheitlicher Text, als Wortgebilde i. d. R. nicht mehr gelesen. Entscheidend ist sein äußeres Vorhandensein, seine visuelle Wahrnehmung. Der Blick richtet sich nur auf „uneingeschränkt“, „eingeschränkt“ oder „versagt“. Allenfalls die Einschränkungs- und Versagungsfälle oder Hinweise auf existenzgefährdende Risiken, also die extremen Ausnahmefälle, werden einer näheren Lektüre für Wert befunden und dann auch nur die dafür maßgeblichen Passagen. Die wirklich relevante Aussage ist verblüffend kurz in Anbetracht des nicht unbeträchtlichen Aufwands einer Abschlussprüfung; fast ist man in Umkehrung eines

__________ 9 Vgl. sehr instruktiv Almeling, WPg 2011, 607 ff. 10 WPg 2010 Suppl. 4; auch der International Standard on Auditing 700 „Forming an Opinion and Reporting on Financial Statements“, abrufbar unter www.ifac.org, zeigt eine gewisse Tendenz zu Vorformulierungen.

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Shakespeare-Titels geneigt zu sagen: „Nichts um viel Lärm“. Nun ist Kürze ein unschätzbares Positivum angesichts der Informationsflut, die HGB- und insbesondere IFRS-Rechnungslegungsvorschriften und Standards ausgelöst haben auf dem Wege zur absoluten, aber schwer durchschaubaren Transparenz. Jedoch, trägt der Bestätigungsvermerk etwas zur Bewältigung, zur sinnvollen Komprimierung oder zur Analyse dieser Informationsflut bei? Er tut es nicht und soll es nach gegenwärtiger Gesetzeslage auch nicht. Im Gegenteil: Er verweist nur wiederum auf diese Informationsflut mit der Versicherung allerdings, dass es mit dieser Informationsflut seine gesetzliche oder standardmäßige Ordnung habe (oder nur teilweise oder gar nicht habe). Natürlich hat der Bestätigungsvermerk eine gesellschaftsrechtliche Bedeutung (jedenfalls der zum Einzelabschluss): ohne ihn gibt es keine Abschlussfeststellung (Feststellungssperre) oder keine Kapitalerhöhung aus Gesellschaftsmitteln. Aber wiederum kommt es nur auf das stereotype Vorhandensein an (Entsperrungswirkung). Auch dies animiert nicht zur textlichen Lektüre und belegt einmal mehr die mehr oder weniger starke Ritualisierung. Die gesellschaftsrechtliche Bedeutung ist u. a. auf die herkömmliche Zielsetzung des handelsrechtlichen Einzelabschlusses zurückzuführen, nämlich die Ermittlung eines ausschüttungsfähigen Gewinns. Dabei gewährleistet das übergreifende Vorsichtsprinzip einen institutionellen Gläubigerschutz. Aber hier ist die Tendenz unverkennbar, mehr zu einem informationellen Gläubigerschutz überzugehen, indem Ansatz- und Bewertungsregeln marktnäher konzipiert werden (so geschehen im BilMoG) und dem Gläubigerschutz neben der besseren Information durch Ausschüttungssperren Rechnung zu tragen (§ 268 Abs. 8 HGB)11 Das führt aber wiederum zu der Frage, ob dem informationellen Gläubigerschutz durch ein wirtschaftliches Gesamturteil nicht mehr gedient wäre als durch eine formale Konformitätsbescheinigung.

II. Der Informationsgehalt Der eigentliche Informationsgehalt des Bestätigungsvermerks ist – jedenfalls gemessen an den Informationsinteressen des heutigen Kapitalmarkts – eher gering. Das ist wohl darauf zurückzuführen, dass der Bestätigungsvermerk nach seiner historischen Entwicklung immer noch seinen Schwerpunkt in der Rechenschaftslegung der Verwaltung über ein abgelaufenes Geschäftsjahr und/oder Konzerngeschäftsjahr hat. Die Rechenschaftslegung steht im Mittelpunkt und so ist auch die Brücke zur Entlastung (§ 120 AktG) zu verstehen: Die Verhandlung über die Entlastung soll mit der Verhandlung über die Verwendung des Bilanzgewinns verbunden werden (§ 120 Abs. 3 AktG), was wiederum das Vorliegen eines festgestellten und damit geprüften Jahresabschlusses voraussetzt (§ 316 Abs. 1 Satz 2 HGB; § 174 Abs. 1 Satz 2 AktG). Entlastung ist immer Rückschau auf eine vergangene Periode, nicht Vorausschau auf die noch kommende.

__________ 11 Vgl. Gros/Wallek, Der Konzern 2009, 541, 543 ff.

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Hier haben sich aber in den letzten Jahren und Jahrzehnten die Schwerpunkte verschoben. Die Rechenschaft und ihre gesellschaftsrechtlichen Auswirkungen sind zwar noch Gegenstand von Prüfung und Testat. Mit der Rechnungslegung werden nunmehr aber auch oder sogar vorrangig andere Zwecke verfolgt. Sie soll generell nützliche ökonomische und vor allem entscheidungsrelevante Informationen für das gegenwärtige und zukünftige Verhalten von Shareholdern und Stakeholdern, insbesondere für Investitions- und Deinvestitionsentscheidungen liefern. Sie soll die asymmetrische Informationsverteilung zwischen Verwaltung und Unternehmenseignern und sonstigen Beteiligten abbauen. Es geht um entscheidungsrelevante Informationen; entscheidungsrelevant aber nicht nur für die Entlastung (Rechenschaft), sondern viel weitergehend um Informationen, die für ein breites Spektrum von Adressaten nützlich sind, um wirtschaftliche Entscheidungen zu treffen, wie das IAS 1.9 treffend zum Ausdruck bringt. Die Regelungszwecke haben sich fortentwickelt, wenn nicht sogar wesentlich verändert von der rückschauenden Rechenschaftslegung zum zukunftsorientierten Unternehmensabbild das vielschichtigen ökonomischen Zwecken dienen soll. Ist dafür aber, neben dem Abschluss und Lagebericht, der Bestätigungsvermerk in seiner stereotypen Fassung noch ein geeignetes Instrument? Diese Frage stellt sich insbesondere in Anbetracht der überbordenden Informationsmenge, die bereits das modernisierte HGB-Rechnungslegungsrecht bringt, von den internationalen Rechnungslegungsgrundsätzen (IFRS) und den US-amerikanischen Vorschriften nach Sarbanes-Oxley ganz zu schweigen. Als Ergebnis dieses Informations-Overloads12 muss man erkennen, dass Geschäftsberichte von einem Durchschnittsgesellschafter (Durchschnitts-Anleger) eher selten im Zusammenhang gelesen werden (wahrscheinlich auch von den Professionellen, allenfalls in ganz bestimmten Sektionen), so dass schon die Forderung nach einem (natürlich zusätzlichen) leicht verständlichen Kurzfinanzbericht erhoben wird.13 Ob ein weiterer Bericht sinnvoll ist, mag dahingestellt bleiben. Die Forderung unterstreicht aber, dass die Informationsflut, wie sie heute Praxis ist, desorientierend wirkt und schlicht, wenigstens in großen Teilen, nicht zur Kenntnis genommen wird (Information Overkill). Wäre es da nicht sinnvoll gerade den Bestätigungsvermerk als eine an die interessierte Öffentlichkeit gerichtete Mitteilung, die nach gesetzlicher Anlage und praktischer Sinngebung auf äußerste Kürze bei höchstmöglicher Präzision angelegt ist, einerseits auf das wirklich Notwendige zu reduzieren, zum anderen aber auch materiell mit einem Mehr als nur stereotypen, ritualhaften Aussagen auszustatten. Diese Überlegung drängt sich auch deshalb auf, weil gerade der Abschlussprüfer als einziger Externer sozusagen kraft Amts über umfangreichere, präzisere und zeitnähere Informationen verfügt als jeder andere Außenstehende. Zugegeben ist ein solches Unterfangen für den Abschlussprüfer eine größere Herausforderung als die heutige, eigentlich sehr komfortable Situation mit

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12 Möllers/Kernchen, ZGR 2011, 1 ff. 13 Möllers/Kernchen, ZGR 2011, 1, 21.

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weitgehend vorgegebenen, vom Gesetzgeber und vom Berufsstand abgesicherten formelhaften Wendungen. Damit bleiben aber Missverständnis und Erwartungslücke. Es bleibt auch die Frage nach dem Nutzen einer so aufwendigen Veranstaltung wie der Abschlussprüfung, wenn für Gesellschafter und interessierte Dritte nur ein Statement nach § 322 HGB herauskommt. Ein Statement mit, darauf ist bereits hingewiesen, eher geringem Informationsgehalt. Besagt der Bestätigungsvermerk doch nur – jedenfalls im Regelfall des uneingeschränkten Vermerks –, dass der Abschluss den gesetzlichen Vorschriften und den GoB entspricht und ein den tatsächlichen Verhältnissen entsprechendes Bild der Vermögens-, Finanz- und Ertragslage vermittelt. Wie dieses Bild und diese Lagen de facto allerdings beschaffen sind und was die gesetzlichen Vorschriften und die GoB im Hinblick auf das geprüfte Unternehmen tatsächlich aussagen, das ergibt nicht die Lektüre des Bestätigungsvermerks, sondern allein die Lektüre der geprüften Unterlagen selbst. Und nicht einmal diese Lektüre ist schlussendlich ausreichend: Ein wirkliches Bild entsteht auch nur dann, wenn zu den tatsächlichen Zahlen und Aussagen noch das richtige Verständnis der im Rechenwerk umgesetzten gesetzlichen Vorschriften, GoB oder Standards hinzukommt; von Regeln also, die durchaus im Hinblick auf ein realistisches Bild eine kritische Hinterfragung notwendig machen. Gerade die Finanzund die anschließende Wirtschaftskrise haben deutlich gemacht, dass ein gesetzliches und standardgeprägtes Regelwerk durchaus Schwächen und Lücken aufweisen kann, die in ihrer Relevanz auf das geprüfte Unternehmen einem kritischen Prüfer auffallen müssen. Nur scheinbar haben etwa die internationalen Rechnungslegungsstandards (IAS und IFRS) mit der Abschaffung fast aller Wahlrechte dazu beigetragen, Verschleierung und Manipulation einzugrenzen. In Wirklichkeit ist dort durch Entobjektivierung und weite Ermessensspielräume eine breite und nicht immer leicht erkennbare Entscheidungsbandbreite eingeräumt, die die bilanzpolitischen Möglichkeiten im Vergleich zum HGB eher vergrößert denn verkleinert hat.14 Das alles schlägt sich aber im Bestätigungsvermerk nicht nieder und so wird der Adressat und Nutzer letztlich auf die Informationsflut der Geschäftsberichte verwiesen, in der er unterzugehen droht, jedenfalls wenn er kein lesefreudiger Experte mit Durchhaltevermögen ist. Es zeigt sich eben immer deutlicher, dass Transparenz allein nicht das Allheilmittel ist. Transparenz muss aufgenommen, verarbeitet und analysiert werden. Deshalb wird die Forderung nach immer mehr Transparenz das Problem nicht lösen, wenn nicht gleichzeitig der Weg zu komprimierten Schlussfolgerungen gewiesen wird. Erst die Schlussfolgerungen aus und die Analyse der transparent gemachten Fakten ergeben das getreue Gesamtbild des Unternehmens. Der betriebswirtschaftliche Experte, als den die WPO den Abschlussprüfer ausweist (vgl. § 2 Abs. 1 WPO), jedoch zeigt dies dem Adressaten nicht. Mit einem Unternehmen muss keinesfalls alles in Ordnung sein, wenn es ein uneingeschränktes Testat erhält und umgekehrt kann es trotz Einschränkung wirtschaftlich hervorragend dastehen. Der Experte

__________ 14 Vgl. Küting, BB 2011, 2091, 2093 f.

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sieht das, muss es sehen, sagt es aber nicht. Das ist der tiefere Grund und die Ursache des Missverständnisses von Auftrag und Aussage des Prüfers.

III. Beglaubigungsfunktion/Informationsfunktion 1. Bescheidene Information Der Bestätigungsvermerk in der Gestalt des § 322 HGB erfüllt eine Art Beglaubigungsfunktion, was die Gesetzmäßigkeit, Ordnungsmäßigkeit (GoB) und Abbildtreue (Vermögens-, Finanz- und Ertragslage) anbelangt. Aber – wie bei jeder Beglaubigung – wird nur etwas über die Ordnungsmäßigkeit der Form (die Compliance des Rechnungswesens), nichts über den Inhalt gesagt. Da muss der Adressat in die beglaubigten Unterlagen gehen, mag das noch so schwierig und aufwendig sein. Wobei – das sei nur am Rande vermerkt – die Beglaubigungsfunktion umso verlässlicher erfüllt werden kann, je objektiver oder objektivierter das Regelwerk ist, auf dem die Rechnungslegung aufbaut. Dem entspricht weitgehend das HGB-System. Wird auf subjektive (zum Teil zukunftsbezogene) Wertungen abgestellt, wie das im IFRS-System der Fall ist, wird auch die Beglaubigung des getreuen Abbilds in eine subjektive und damit ggf. schillernde Richtung gedrängt.15 An die Beglaubigungsfunktion schließt sich die gesellschaftsrechtliche Entsperrungsfunktion für die Abschlussfeststellung, Gewinnverwendung und ggf. andere gesellschaftsrechtliche Akte an. Hierfür ist zweifelsohne das Testat mit genormtem Wortlaut bestens geeignet. Die Informationsfunktion hingegen hat weder mit der Entwicklung des Rechnungswesens noch mit den Bedürfnissen der Adressaten Schritt gehalten. Aus dem Bestätigungsvermerk erfährt der Leser – wie bereits dargelegt –, das der Abschluss ordnungsgemäß und gesetzesmäßig ist und ein den tatsächlichen Verhältnissen entsprechendes Abbild des Unternehmens (zum Stichtag) vermittelt. Die auf der Hand liegende spannende Frage, wie das Abbild des Unternehmens nun tatsächlich aussieht, muss sich der Adressat erst aus der nicht unkomplizierten Lektüre des HGB- oder IFRS-Abschlusses verschaffen und dies obwohl sich der Abschlussprüfer als betriebswirtschaftlicher Sachverständiger (§ 2 Abs. 1 WPO) nach gewissenhafter, eigenverantwortlicher und unparteiischer Prüfung (§ 43 Abs. 1 WPO) des Rechenwerks und nach Zugang zu allen Unterlagen und Auskünften (§ 320 HGB) natürlich ein sachverständiges Urteil über das Unternehmen in seinem gegenwärtigen Zustand und i. d. R. auch über seine (näheren) Zukunftsaussichten gebildet haben muss. Andernfalls könnte er ja die getreue Abbildung nicht bestätigen. Wäre es da nicht zumindest überlegenswert, wenn die Abschlussprüfer, die ja ständig auf der Suche nach einem „Mehrwert“ ihrer Prüfungstätigkeit sind,16 statt immer neue Prüfungsfelder zu entdecken, an eine Neugestaltung eines aussagefähigen, über die reine Ordnungsmäßigkeitsbestätigung hinausgehen-

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15 Vgl. Küting, DB 2011, 1404. 16 Vgl. Naumann/Feld, FN 2011, 349.

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den Testats denken würden, um dann dem Gesetzgeber ggf. entsprechende Vorschläge zu machen? Dabei soll nicht verkannt werden, dass in Extremfällen (Existenzgefährdung) bereits heute über die Ordnungsmäßigkeitsbestätigung hinausgehende Aussagen verlangt werden. Aber warum nur in Extremfällen und nicht im normalen „going concern“. Hinzu kommt, dass man wohl ganz allgemein feststellen muss, dass sich die Anforderungen, insbesondere der institutionellen Investoren, nicht nur an den Jahresabschluss, sondern auch an die Prüfung geändert haben und nicht nur die Gesellschafter (shareholder), sondern immer mehr auch die anderen Unternehmensbeteiligten (stakeholder) in den Adressatenkreis der Rechnungslegung und damit auch eines Prüfungsergebnisses eingerückt sind.17 Sie, die alle nicht Mitglieder eines Kontrollorgans sind und damit – wenigstens in Deutschland – nicht in den Besitz eines ausführlichen Prüfungsberichts nach § 321 HGB kommen, wären sicherlich an einem inhaltlichen „Mehr“ des Bestätigungsvermerks interessiert. Es ist schon richtig, wenn das Treasury Committee des britischen Unterhauses bei der Untersuchung der Rolle des Abschlussprüfers im Rahmen der Finanzmarktkrise in seinem Bericht 2009 die Feststellung trifft: „Auditors did their job right. But did they do the right job?“.18 2. Abgrenzung zum Rating Ein gewisses Unbehagen muss einen befallen, wenn man in diesem Zusammenhang den unaufhaltsamen Aufstieg und die Macht der Ratingagenturen verfolgt. Zugegeben Rating ist etwas anderes als Prüfung; es ist die Einschätzung der Kreditwürdigkeit (Credit Ratings) von Unternehmen. Dafür spielen neben dem Rechnungswesen und den daraus abgeleiteten Kennzahlen auch andere Parameter wie wirtschaftliches und politisches Umfeld, Marktdaten etc. eine wichtige Rolle.19 Rating ist i. d. R. nicht stichtags- sondern zukunftsbezogen. Trotz alledem: Rating baut auf dem Zahlenwerk des Unternehmens auf. Dieses Zahlenwerk wird gerade im Hinblick auf diese Trends und Bedürfnisse mit IFRS und selbst noch mit dem Lagebericht nach HGB mehr zukunftsgerichtet und, da IFRS nicht mehr hinwegzudenken sind, immer weniger rechenschafts-, sondern immer mehr informationsorientiert. Dieses Zahlenwerk ist vielfach bezogen auf Marktwerte (fair value), die ihrerseits eine zukünftige Entwicklung antizipieren. Damit sind die Unternehmen gehalten, im Rechenwerk Informationen zu liefern, die den Anforderungen der Analysten (sei es für shareholder oder stakeholder) gerecht werden20 und der Abschlussprüfer wird notgedrungen seine Prüfungsaktivitäten an diesen neuen Anforderungen ausrichten müssen. Der Abschlussprüfer leistet damit eine für den Analysten mehr oder weniger unverzichtbare Vorarbeit.

__________ 17 Vgl. Bericht über die Conference Financial Reporting and Auditing, Brüssel 9./10.2. 2011 in IRZ 2011, 165, 167. 18 Zitiert bei Naumann/Feld, FN 2011, 349. 19 Vgl. Brammertz/Akkizidis/Breymann/Entin/Rüstmann, Unified financial analysis (2009), S. 131. 20 Vgl. König FAZ v. 16.5.2011, S 12.

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Nimmt man dies als gegeben an, erstaunt es doch, warum der Abschlussprüfer als betriebswirtschaftlicher Sachverständiger – dies ist er nicht nur kraft Gesetzes (§ 2 Abs. 1 WPO), sondern kraft seiner strengen Ausbildung, seiner Erfahrung und seiner intimen Kenntnis des geprüften Unternehmens – kein komprimiertes Gesamturteil über die wirtschaftliche Lage des geprüften Unternehmens abgeben sollte; ein Gesamturteil, das auch die Fähigkeit des Unternehmens, seine Verbindlichkeiten und die Renditeerwartungen seiner Investoren erfüllen zu können, mit umfasst. Im Klartext: Der Abschlussprüfer muss in der Lage sein, eine ökonomische Analyse ähnlich der eines professionellen Analysten oder einer Agentur, darzustellen; allerdings nicht auf einen x-beliebigen Zeitpunkt, aber auf den Zeitpunkt der Beendigung seiner Prüfung. Ein großer Zusatzaufwand darf damit gar nicht verbunden sein, denn der Abschlussprüfer muss diese Analyse ohnehin anstellen, wenn er das getreue Abbild des Unternehmens im Rechnungswesen bestätigen will. Nur wenn dies gelingt, kann m. E. die „Erwartungslücke“ (das „information gap“) geschlossen werden. Wenn insoweit eine gewisse Konkurrenz zu den Rating-Agenturen entstehen würde, wäre das gesamtwirtschaftlich nur zu begrüßen und sicherlich sinnvoller, als das derzeit bestehende Oligopol durch neue womöglich öffentliche oder öffentlich initiierte (Staats-)Rating-Agenturen aufbrechen zu wollen.21 Das wäre kein Schaden auch deshalb, weil das Urteil des Abschlussprüfers kraft umfassender Kenntnis des Unternehmens ggf. filigraner ausfallen könnte als das eines externen Analysten. Es erscheint durchaus machbar, eine betriebswirtschaftliche aussagefähige Kurzklassifikation zu entwickeln, die ein Abbild des Unternehmens auf der Basis der durch Prüfung und Analyse des Rechenwerks gewonnenen Erkenntnisse des Prüfers ist.

IV. Entschlackung des Bestätigungsvermerks Als Zwischenergebnis ist festzuhalten, dass der Bestätigungsvermerk in der materiellen Aussage ein „Mehr“ enthalten sollte. Daran knüpft sich die Frage, ob es auf der formellen Seite nicht mit einem „Weniger“ getan wäre. Denn: gerade die formelle Seite ist der rituelle Ballast, in dem die materielle Aussage beinahe untergeht. Das wird deutlich am Musterbestätigungsvermerk des IdW,22 bei dem auf 28 Zeilen rituellen Formalteil 9 Zeilen – ebenfalls formalisierter – materieller Aussage folgen. Das IdW hat mit seinem Prüfungsstandard IDW PS 400 ein ausgefeiltes Musterwerk geschaffen, das in der Tat inhaltlich auch so von § 322 HGB und Art. 51a der RL 78/660/EWG (Vierte Richtlinie) verlangt wird. Es sind in einem „Einleitenden Abschnitt“ der Gegenstand der Prüfung und in einem „Beschreibenden Abschnitt“ Art und Umfang der Prüfung zu umschreiben. Ob das in der gehandhabten Extensität sinnvoll ist,

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21 Vgl. zu diesbezüglichen Überlegungen z. B. FAZ v. 25.6.2011, S. 19 oder Freihauf „Das Rating Dilemma“, in FAZ v. 30.6.2011, S. 9; kritisch Luttermann, EWS 2011, 330 ff. 22 IDW PS 400 Anhang unter I.; WPg 2010 Suppl. 4.

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möchte ich bezweifeln. Der Gegenstand der Prüfung (Abschluss nach IFRS oder HGB und Geschäftsjahr) lässt sich sicherlich mit wenigen Worten in den materiellen Aussageteil integrieren. Bei Licht besehen, gehören die formalen Teile des Bestätigungsvermerks insbesondere über Art und Umfang der Prüfung in den vertraglichen Prüfungsauftrag, den das Unternehmen mit dem Prüfer schließt. Für Drittadressaten, die in keinem vertraglichen Verhältnis zum Prüfer stehen, haben sie allenfalls den Anschein eines – wohl überflüssigen – Disclaimers für sich. Der entscheidende Nachteil liegt jedoch darin, dass diese Teile – auch wegen ihrer Voranstellung und Länge – von der Kernaussage ablenken und diese in der Bedeutung zurücktreten lassen. Durch Verzicht oder wenigstens Verkürzung und Hintanstellung dieser Bestandteile könnte man Raum gewinnen für die einzig bedeutsame materielle Kernaussage. Allerdings wird man ohne eine Richtlinienänderung diesem Umstand nicht beikommen können. Es wäre aber m. E. der Mühe wert, gerade hier anzusetzen, denn Form und Inhalt der Kernaussage zum wirtschaftlichen Abbild des Unternehmens kommt eine Schlüsselrolle in der – gewandelten – heutigen Funktion des Abschlussprüfers zu. Neue Maßstäbe wären dann an die Kernaussage anzulegen, denn auch der formalisierte materielle Aussageteil (Art. 51a Abs. 1 lit. c RL 78/660/EWG; § 322 Abs. 3 HGB) hält den Prüfer heute davon ab, seinen eigenen Gesamteindruck von der Lage des Unternehmens auf Basis der geprüften Informationsquellen abzugeben; dieses wird gerade nicht von ihm verlangt. Es ist ja immerhin bemerkenswert, wenn das Institut der Wirtschaftsprüfer mit seinen Mitgliedern in einen Dialog tritt mit dem Ziel, Möglichkeiten zu diskutieren, „von denen eine Steigerung des Wertes und der Aussagekraft der Abschlussprüfung erwartet werden kann“.23 Hier werden bereits Themen wie das kritische Hinterfragen des Geschäftsmodells, der daraus ggf. resultierenden Risiken und Chancen und überhaupt der zukunftsbezogenen Informationen ins Gespräch gebracht. Letztendlich kann das alles aber nur zu einer eigenverantwortlichen Aussage über das Gesamtbild führen, die über die Einklangsbestätigung mit den einschlägigen Regularien hinausgeht. Der Weg ist damit vorgezeichnet zu einer eigenständigen und eigenverantwortlichen materiellen Aussage zur wirtschaftlichen Lage und wer sollte dafür kraft Ausbildung und Erfahrung geeigneter sein als der Abschlussprüfer. Die Erwartungslücke wird ein solches Verständnis der Prüferaufgabe aber nur schließen, wenn diese Erkenntnis ihren Niederschlag im Testat findet und zwar weg von den formelhaften, rituellen Wendungen hin zu einer belastbaren materiellen Aussage. Soll die Erwartungslücke sinnvoll geschlossen werden, darf der Prüfer nicht vor der Verantwortung zurückweichen, ein eigenes Urteil über die Lage des Unternehmens abzugeben. Dies sollte allgemein gelten und nicht nur im Extremfall der Fortbestehensrisiken (§ 322 Abs. 2 Satz 3 HGB).24 De lege lata hat der Gesetzgeber mit der Formulierung des § 322 HGB dem Prüfer diese weiter-

__________ 23 Naumann/Feld, FN 2011, 349. 24 Selbst hierfür genügt heute ein kurzer Hinweis auf den Lagebericht, wenn dort die Risiken hinreichend dargestellt sind, vgl. KK-RLR/Welf Müller, § 322 Rz. 35.

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gehende Verantwortung – damals sicher aus wohlerwogenen Gründen – abgenommen; den heutigen Gegebenheiten und Anforderungen entspricht dies aber nicht mehr. Es wäre auch kein Schaden, wenn bei einem modifizierten Testat z. B. der Prüfer Aussagen zur Prüfungssicherheit machen würde, die durchaus unterschiedlich sein kann, je nachdem, ob der Abschluss in hohem Maße auf zukunftsorientierten Schätzungen oder mehr auf objektivierten Werten beruht.25 Es ist sogar mit einer Ausweitung der heute schon bestehenden „Erwartungslücke“ zu rechnen, wenn z. B. Bewertungen bei der IFRS-Rechnungslegung auf Modellrechnungen (mark to model, „Level 3“) zurückgreifen bzw. zurückgreifen müssen, weil Marktparameter nicht vorhanden sind (GoodwillImpairment oder Finanzinstrumente) und der Prüfer allenfalls auf Plausibilität, aber nicht auf Objektivität prüfen kann.26 Vorstellbar wäre etwa ein Gesamturteil in Anlehnung an die Ratingklassen der Credit-Ratings (von AAA Highest bis D Dangerous). Sinnvoller wäre wohl die Anknüpfung an den Lagebericht (soweit ein solcher erstellt werden muss bzw. erstellt worden ist). Er kann durch eine eigene Aussage des Abschlussprüfers im Bestätigungsvermerk ergänzt werden etwa dergestalt, dass der Abschlussprüfer die Beurteilung der Lage teilt (oder nicht teilt oder nur modifiziert teilt), dass das Unternehmen in der überschaubaren Zukunft seine Ertragsziele erreichen, seine Marktstellung erhalten (verbessern, verschlechtern) und seine Verpflichtungen und ggf. Renditeprognosen wird erfüllen können. Ein solches zusammengefasstes Urteil kann wesentlich filigraner sein als der Allzu-GrobRaster des „uneingeschränkt“, „eingeschränkt“, „versagt“ und auch filigraner als das Raster der Rating-Agenturen. Es können Schattierungen eingebaut werden, die vor oder neben der Einschränkung liegen, für die Adressaten aber von Bedeutung sein können, von größerer Bedeutung vielleicht als Einschränkungen wegen Verletzung irgendwelcher Form- oder Berichtspflichten. Der Abschlussprüfer würde damit seinen Aussagebereich über die Prüfung historischer Daten und Sachverhalte (assurance) hinaus erweitern müssen. Der Jahresabschluss ist in seiner Grundausstattung zwar keine Zukunftsrechnung, aber die Informationen und Annahmen, die zu seiner Erstellung und sodann zu seiner Prüfung verarbeitet werden müssen, sind bereits heute, insbesondere nach IFRS, aber auch nach HGB jedenfalls schon so weitgehend auf den Zeitpunkt der Beendigung der Prüfung gegenwarts- und sogar zukunftsorientiert, dass dem Prüfer ein Gesamturteil über die wirtschaftliche Lage des Unternehmens möglich sein muss. Etwas vollständig Neues kann darin nicht erblickt werden, müssen doch schon heute genau diese Überlegungen z. B. bei der going-concern Prämisse, bei Nutzungsdauerschätzungen, beim Impairment, bei der Wertaufholung und bei allen am fair market value ansetzenden Kriterien angestellt werden. Es geht eigentlich nur darum, dass der Prüfer den – allerdings entscheidenden – Schritt macht, neben der formalen Konformitätsbestätigung auch eine wirtschaftliche Schlussfolgerung unter Berücksichtigung von Risiken und Chancen des Unternehmens mit dem Erkenntnisstand

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25 Vgl. Köhler/Ruhnke/Schmidt, DB 2011, 773, 775. 26 Schruff, WPg 2011, 855, 856; Ruhnke/Schmiele/Schwind, Zfbf 2010, 409, 414 f.

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zum Zeitpunkt der Beendigung der Prüfung abzugeben. Damit würden zwei Ziele erreicht, die die bisherige Prüfung nicht erfüllen kann: – Die überbordende Informationsflut würde in einer kurzen, prägnanten, unabhängigen und sachverständigen Aussage gebündelt. – Die Informationsassymmetrie zwischen Abschlussadressaten und Management würde effizienter überbrückt als durch eine bloße Konformitätsbestätigung. Das rückt den Abschlussprüfer natürlich in die Nähe des Ratings. Aber warum nicht? Zumindest die weltweit agierenden Big Four wären wahrscheinlich in der Lage – und vermutlich nur sie – eine valide Konkurrenz zu den Big Three Rating Agenturen aufzubauen. Eine Konkurrenz, die von vielen Seiten als höchst wünschenswert und notwendig gefordert, deren Aufbau aber als kaum durchführbar angesehen wird.27 Es wäre jedenfalls eine Bereicherung für die Wertung und Beurteilung von Unternehmen, da das Rating die Sicht von außen auf Basis extern zugänglicher Informationen und Beurteilungsrastern, das Testat die Sicht von innen repräsentieren könnten. Die Beschränkung auf eine formelle Konformitätsbestätigung trägt die Gefahr in sich, dass die so aufwendige und sachverständige Prüfungstätigkeit sinnentleert wird. Das derzeitige Prüfungskonzept ist nicht zuletzt bestimmt von der Scheu, Verantwortung für das zu übernehmen, was der adressierte externe Personenkreis gerade erfahren will, nämlich ein Gesamturteil über den wirtschaftlichen Zustand des Prüfungsobjekts. Je mehr sich der Abschluss von Rechenschafts- zum Informationsinstrument entwickelt, desto dringender wird auch eine Modifikation der Prüfungsaussage. Andernfalls ist abzusehen, dass die Prüfung schrittweise an Bedeutung verliert und zu ihren Lasten die Bedeutung der Analysten und Ratingagenturen zunimmt. Es ist ja nicht zu übersehen, wie sich diese zuerst neben, dann an der Prüfung vorbei raschen Schrittes entwickelt haben. Sie liefern nämlich genau das, was von den Adressaten erwartet und von IAS 1.9 auch als Zweck des Abschlusses stipuliert wird, nämlich „Informationen, die nützlich sind, um wirtschaftliche Entscheidungen zu treffen“.

V. Haftungsfragen Ein Gesamturteil über die Lage eines Unternehmens ist eine Meinungsäußerung und deshalb stärker subjektiv geprägt als das Einklangsurteil (Bestätigungsfunktion) über die Gesetz- und Standardgemäßheit eines Jahresabschlusses. Aber auch hier gewährleistet schon das Berufsrecht ein unabhängiges, gewissenhaftes und eigenverantwortliches Vorgehen (vgl. §§ 43 ff. WPO i. V. m. der Berufssatzung). Damit ist ein weitgehend objektiviertes Urteil sichergestellt; ein rein objektives Urteil ist in diesen Fällen ohnehin denklogisch ausgeschlossen. Gegenüber den Analysten anderer Genres zahlt sich hier die starke Regulierung (beinahe Überregulierung) des Berufsstandes der Wirtschaftsprüfer

__________ 27 Vgl. statt vieler FAZ v. 25.6.2011, S. 19, FAZ v. 30.6.2011, S. 9; Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung v. 26.6.2011, S. 24; NZZ v. 7.7.2011, S. 8.

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Der Bestätigungsvermerk des Abschlussprüfers

aus. Sie gewährleistet eine statusmäßige Unabhängigkeit mit berufsaufsichtlicher und berufsgerichtlicher Sanktion. Der Prüfer würde natürlich – zumindest in der Außenwirkung – ein Mehr an Verantwortung übernehmen, dem er sich aber kraft seiner Ausbildung und seines beruflichen Selbstverständnisses nicht zu entziehen bräuchte. Auch bei einer solchen Modifikation oder Erweiterung des Testats müsste es bei dem bisherigen Haftungsregime des § 323 Abs. 2 HGB verbleiben. Der Abschlussprüfer steht, abgesehen von besonderen vertraglichen Konstruktionen (Auskunftsvertrag oder Vertrag mit Schutzwirkung zugunsten Dritter) in keinem vertraglichen Verhältnis zu den Drittadressaten des Testats. Eine vertragliche Haftung kommt deshalb grundsätzlich nur gegenüber dem Auftraggeber, dem geprüften Unternehmen, in Frage. Hier gelten bei der Pflichtprüfung § 323 Abs. 2 HGB und bei der freiwilligen Prüfung die jeweiligen vertraglichen Vereinbarungen, die sich i. d. R. an § 323 Abs. 2 HGB anlehnen werden. Damit verbleibt es auch insoweit bei der gesetzlichen oder vertraglichen Haftungsbegrenzung. Eine Dritthaftung kommt deshalb, von vertraglichen Haftungsgrundlagen abgesehen, grundsätzlich nur bei deliktischem Verhalten in Betracht.28 Da es sich bei der Gesamtbeurteilung der wirtschaftlichen Lage des Unternehmens ebenso wie bei einer Bonitätsbeurteilung um eine Meinungsäußerung handelt, die, das ist beim Abschlussprüfer i. d. R. der Fall, auf einer zutreffenden Tatsachengrundlage beruht, scheiden nach der Rechtsprechung der BGH-Ansprüche wegen Kreditgefährdung (§ 824 BGB) oder wegen des Eingriffs in den eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb (§ 823 Abs. 1 BGB) aus.29 Im Verhältnis zum geprüften Unternehmen würde sich das Haftungsrisiko gegenüber der bloßen Ordnungsmäßigkeitsprüfung erhöhen. Ein unzutreffendes Gesamturteil über das Unternehmen kann durchaus einen Vermögensschaden verursachen, z. B. durch Veränderung der Finanzierungskonditionen bei der Eigen- oder Fremdkapitalbeschaffung. Wenn die Erwartungslücke aber nur durch ein Mehr an Verantwortung geschlossen werden kann, muss eine Erhöhung des Haftungsrisikos in Kauf genommen werden. Übrigens wäre darauf hinzuwirken, dass auch die Ratingagenturen zumindest gegenüber ihren Auftraggebern ein entsprechendes (vertragliches) Haftungsrisiko zu tragen haben.

VI. Ein Thema de lege ferenda De lege lata bleibt alles so wie es ist. Der Bestätigungsvermerk nach § 322 HGB ist mit der Erläuterung und den Mustern im IdW Prüfungsstandard PS 400 ausgereizt und kann viel anders nicht gestaltet werden. Ein komprimiertes Gesamturteil über das Unternehmen ergibt sich damit nicht aus dem Bestäti-

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28 KK-RLR/Welf Müller, § 323 Rz. 104 ff.; Welf Müller in Wellhöfer/Peltzer/Müller, Die Haftung von Vorstand, Aufsichtsrat, Wirtschaftsprüfer, S. 835 ff.; Seibt/Wollenschläger, DB 2011, 1378 ff. 29 Vgl. BGH, Urt. v. 22.2.2011, NJW 2011, 2204 ff.

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Welf Müller

gungsvermerk, sondern bedarf des eigenen kritischen Studiums von Jahres(Konzern)abschluss und Lagebericht. Auch eine Entschlackung des Vermerks erscheint ohne Modifikation des § 322 Abs. 1 Satz 2 HGB nicht möglich. Darüber hinaus sind Änderungen des § 322 HGB der materiellen Kompetenz des deutschen Gesetzgebers weitgehend entzogen, denn sie setzen Art. 51a RL 78/660/EWG in deutsches Recht um. Da eine Modifikation der Richtlinie wohl außerhalb des Erwartungshorizonts liegt, muss es wohl bei dem bisherigen Inhalt verbleiben. Denkbar wäre aber eine Ergänzung des Vermerks in Richtung auf die Abgabe eines eigenen Gesamturteils des Prüfers im vorbeschriebenen Sinne. Dem steht auch die Richtlinie nicht entgegen. Wenn man überhaupt einer solchen Überlegung nähertreten will, wäre natürlich eine europaweite Lösung vorzuziehen.

VII. Conclusio Angesichts der Gesetzes- und Richtlinienlage ist es vielleicht eine utopische Idee, das Testat um eine Gesamtaussage im Sinne einer Beurteilung des geprüften Unternehmens zu erweitern. Nach Auffassung des Verfassers ist dies aber der einzig zielführende Weg, die „Erwartungslücke“ zu schließen und der Prüfung den Mehrwert zu verschaffen, der sie über eine bloße Zuarbeit für die eigentliche Wertung durch Analytiker und Agenturen hinaushebt. Von seiner Ausbildung und seinem Standing her muss der Prüfer diese Aufgabe meistern können. Das Haftungsthema sollte ihn nicht davon abhalten, seinem Urteil auch Ausdruck zu verleihen. Wenn man schon eine Konkurrenz zu den etablierten Ratingagenturen mit Oligopolcharakter aufbauen will, kann es erfolgreich und mit einer gewissen Qualitätsgarantie wohl nur der Branche der Prüfer gelingen. Auch wäre es im Sinne einer erweiterten Transparenz, wenn man die Außensicht (Rating) mit der Innensicht (Prüfung) abgleichen könnte.

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Peter Hommelhoff 747. Rektor der Ruperto Carola1 Die Herausgeber dieser Festschrift, die einem herausragenden Rechtsgelehrten und Rechtslehrer gewidmet ist, waren der Auffassung, dass die Persönlichkeit des Jubilars nicht in Gänze erfasst würde, wenn die Würdigung seiner wissenschaftlichen Leistungen nicht erweitert würde durch einen Blick auf seine Amtszeit als Rektor der Ruperto Carola, in der sein Engagement in der Selbstverwaltung seiner Universität ihren Höhepunkt und Abschluss fand. Der Rektor einer Hochschule wirkt nach innen und außen. Er ist kraft Amtes Vorsitzender des Senats,2 der den akademischen „Kernbereich“ – Forschung, Lehre und Studium – verantwortet.3 Gleichzeitig vertritt der Rektor die Hochschule4 und ist somit deren Repräsentant gegenüber Gesellschaft, Wirtschaft und Politik. Eine Zuständigkeit und Aufgabe, die bei der Universität Heidelberg mit ihrer nunmehr 625-jährigen Geschichte von ganz besonderem Gewicht ist. Es war daher konsequent, die Verantwortung für diesen Beitrag zwei Autoren zu übertragen. Die „Innensicht“ wird vom langjährigen Prorektor für Forschung und medizinische Infrastruktur im Rektorat Hommelhoff, Prof. Dr. Jochen Tröger, verantwortet; die „Außensicht“ sowie diese Einleitung vom vormaligen Leiter der Abteilung Hochschulen und Klinika im baden-württembergischen Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst, Ministerialdirigent i.R. Hans-Jürgen Müller-Arens.

Innensicht Ohne Frage ist die Innensicht im Vergleich zur Außensicht wesentlich stärker von subjektiven Erinnerungen und persönlichen Beziehungen geprägt. Der über sechs Jahre währende, fast tägliche Umgang in der gemeinsamen Arbeit eines Rektorates zwischen Rektor und leitendem Prorektor führt zur Verschmelzung zwischen den sachlichen und den persönlichen Betrachtungen. Die Innensicht der Arbeit mit dem Rektor Peter Hommelhoff stützt sich auf die Rektorats-Beschlussprotokolle, auf die Protokolle öffentlicher Senatssitzungen der gleichen Zeit und ebenso auf die Erinnerungen des Verfassers. Berichtet wird über ausgewählte Aktivitäten des Rektorates Hommelhoff und

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1 Weisert/Drüll/Kritzer, Rektoren – Dekane – Prorektoren – Kanzler – Vizekanzler – Kaufmännische Direktoren des Klinikums der Universität Heidelberg 1386–2006, Kurpfälzischer Verlag, 2007. 2 § 17 (1) 2 Gesetz über die Hochschulen in Baden-Württemberg – LHG – v. 1.1.2005. 3 § 19 (1) 1 LHG. 4 § 17 (1) 1 LHG.

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über den Jubilar charakterisierende Begebenheiten; alles aus der Sicht des Verfassers. Keineswegs stellt diese Innensicht einen vollständigen oder gar nach der Bedeutung geordneten Bericht über die Amtszeit des Rektors Peter Hommelhoff dar.

I. Vorspiel Als Prorektor für Medizin im Rektorat Siebke (1999–2001) traf der Verfasser erstmals auf das professorale Verwaltungsratsmitglied Peter Hommelhoff, C4-Professor für Bürgerliches Recht, Handels- und Wirtschaftsrecht, sowie Rechtsvergleichung. Kennzeichen des neuen Verwaltungsratsmitgliedes: Detailkenntnisse der Universität, schnelle Erfassung auch eines neuen Themas, blitzartige Analyse und sofortige manuskriptreife, meist mit viel Humor gewürzte, gelegentlich auch emotional bestimmte Gegenrede. Die Anwesenheit eines, fast immer entspannten Peter Hommelhoff erhöhte den Unterhaltungswert jeder Verwaltungsratssitzung ohne den inhaltlichen Diskurs zu reduzieren. Peter Hommelhoff stellte dann zwischen seiner Wahl durch den Senat und der Ernennung durch den Ministerpräsidenten sein Rektorat zusammen: Neben der Kanzlerin (qua Amt) Romana Gräfin von Hagen, der 2003 Dr. Marina Frost folgte, benannte der neue Rektor: – Silke Leopold, C4-Professorin für Musikwissenschaft, zuständig für Lehre, – Angelos Chaniotis, C4-Professor für Alte Geschichte, zuständig für Internationale Angelegenheiten, während der 2. Rektoratsperiode gefolgt von Vera Nünning, C4-Professorin für Englische Literaturwissenschaft, – Karl Meier, C4-Professor für Physik, zuständig für Entscheidungssysteme, mit Beginn der 2. Rektoratsperiode gefolgt von Peter Comba, C3-Professor für Anorganische Chemie und – Jochen Tröger, C3-Professor für Pädiatrische Radiologie, zuständig für Forschung sowie für die Struktur der medizinischen Einrichtungen und Fakultäten.5

II. Zuerst Peter Hommelhoff ist eine liberal denkende, gleichzeitig aber entscheidungsfreudige Persönlichkeit. Seine Fähigkeit eine Situation im Moment und auch visionär zu erfassen, führt oft zu schnellen Einordnungen. Gelegentlich geraten diese Eigenschaften in Konflikt. Führt eine schnell getroffene Entscheidung zu heftiger Diskussion, ist Peter Hommelhoff immer bereit, getroffene Einordnungen zu überdenken und das Gespräch zu dem Thema wieder aufzunehmen. Und auch zu diesem Zeitpunkt konnte man ihn mit guten Argumenten noch überzeugen.

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5 329. Sitzung des Senates v. 22.6.2004, öffentlicher Teil.

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Unter dem Motto: „Der Einzelfall ist entscheidend“ konnte Peter Hommelhoff auch vom Grundsatz abweichen. Hierfür der leicht gekürzte Bericht einer Doktorandin aus dem Jahre 2001: Professor Hommelhoff hatte zahlreiche Doktoranden. Als gerade gewählter Rektor hatte er wegen der schnell eintretenden Überlastung die Order ausgegeben: „Keine neuen Doktoranden“. Die Sekretärin und einer seiner Assistenten vermittelten dies einer Bewerberin sehr deutlich. Die Bewerberin ließ sich aber nicht abwimmeln! Sie bewaffnete sich mit guten Gründen, warum Professor Hommelhoff gerade sie und ausnahmsweise nehmen solle. Zitat: „Ich werde dieses Gespräch nie vergessen. Es dauerte 5 Minuten, in denen ich ungefähr 5 Sekunden das Wort hatte und hinaus kam ich als Doktorandin von Professor Hommelhoff mit dem ‚Auftrag‘, ein Konzept für eine Doktorarbeit über die ‚Besteuerung der Europäischen Aktiengesellschaft‘ zu erstellen.“ Ein flexibler, visionärer Denker: Doktorarbeit, obwohl Annahmestopp, zur Besteuerung von europäischen Aktiengesellschaften, die es 2001 noch nicht gab.

III. Klartext Peter Hommelhoff besitzt eine liberale Grundeinstellung und ist bereit zu jedem wichtigen Problem Stellung zu beziehen. Die Attentate des 11.9.2001 hatten in der Öffentlichkeit und so auch an der Universität Heidelberg eine Diskussion über die Konsequenzen im täglichen Umgang mit islamischen und arabischen Universitätsmitgliedern geführt. Das Thema Rasterfahndung wurde in der Öffentlichkeit intensiv diskutiert und diese teilweise durchgeführt. Es waren Forderungen laut geworden, dass unter anderem die Religionszugehörigkeit der Studentinnen und Studenten der Universität Heidelberg gegenüber den Sicherheitsbehörden angegeben werden sollte. Diese Offenlegung erfolgte nicht. Die öffentlich gemachte Stellungnahme des gesamten Rektorates lautete: „Mit großer Besorgnis beobachtet das Rektorat die Auswirkungen der Terroranschläge vom 11. September auf das akademische Leben in Deutschland und die in der Öffentlichkeit geführte Diskussion über deutsche Hochschulen als potentielle Ausgangspunkte terroristischer Aktivitäten. Die Universität Heidelberg wird stets in Zusammenarbeit mit den Behörden gegen jegliche verbrecherische Handlung vorgehen. Ebenso entschlossen lehnt die Universität, als Stätte freien Denkens, jede Form von Diskriminierung ab, insbesondere die Diskriminierung ausländischer Studierender aufgrund ihrer ethnischen oder religiösen Zugehörigkeit. Als akademische Institution und Ort exzellenter Lehre und Forschung kann die Universität Heidelberg keine ethnische, kulturelle, religiöse, geschlechts- oder altersspezifische Abgrenzung hinnehmen. Das Rektorat teilt die Trauer der Angehörigen von Opfern der Terroranschläge und wirkt daraufhin, dass pauschales und unbegründetes Misstrauen und Vorurteile gegenüber Universitätsangehörigen und Mitbürgern islamischen Glaubens oder arabischer Herkunft abgebaut werden.“6

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6 Stellungnahme des Rektorates zu den Terroranschlägen v. 11.9. und ihren Auswirkungen auf die Universität Heidelberg v. 21.11.2001.

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IV. Bekenntnis: Volluniversität als gesellschaftlicher Auftrag Peter Hommelhoff war und ist ein glühender Verfechter der Universität Heidelberg als Volluniversität. Und es war seine nicht verhandelbare Überzeugung, dass im Zeitalter der zunehmenden Spezialisierung vieler Hochschulen die Ruperto Carola als Volluniversität erhalten bleiben muss und diese Positionierung der Universität Heidelberg weiter gestärkt werden soll. Diese Überzeugung durchzieht das Strategiepapier7 aus dem Jahre 2004: „Die Ruperto Carola: eine klassische und zukunftsgestaltende Universität von internationalem Rang“ Die Universität Heidelberg ist eine – auf ihrer Tradition als klassische universitas literarum scientiarumque gründende – klassische und zukunftsgestaltende Stätte der Forschung, Lehre und Weiterbildung … mit weitgefächertem Aktionsfeld … und will dies auch bleiben.“

Diese Position war anfangs weder intern noch extern unumstritten. Intern gab es Stimmen, die gerne „Randbereiche abschneiden“ wollten und die Mittel in Zeiten der Finanzknappheit in Richtung der Schwerpunkte bündeln wollten. Extern waren mehrere Vorschläge abzuwehren, die Universität Heidelberg auf ihre lebenswissenschaftlichen und naturwissenschaftlichen Schwerpunkte zu fokussieren. Es war auch stets klar, dass Rektor Hommelhoff im Konsens mit dem gesamten Rektorat eine andere Position als die der Volluniversität nicht mittragen würde. Diese Position stellt sich auch in der dritten Säule der Exzellenzinitiative, sowohl im ersten gescheiterten als auch im zweiten dann erfolgreichen Antrag dar. In diesem zweiten Antrag „Heidelberg: Realising the Potential of a Comprehensive University“8 heißt es: „Die Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg, 1386 gegründet, kann auf eine lange Tradition als grundlagenorientierte Volluniversität zurückblicken. Als solche bietet sie auch heute die einzigartige Möglichkeit, Wissen zu entfalten, das auf die Beantwortung großer Fragen der Menschheit zielt. Heidelberg kann sich dabei auf Forschungsbereiche mit großer nationaler und internationales Wirkung stützen, die sich den grundlegenden Mechanismen des Lebens, den Vorgängen der Natur und der Entwicklung des Universums sowie der Herkunft und Zukunft von Kulturen und Zivilisationen widmen.“

V. Senat als Träger der akademischen Selbstverwaltung Für Peter Hommelhoff beruhte die Qualität der wissenschaftlichen Arbeit einer Universität auch in dem kritischen Zusammenspiel zwischen dem Senat und dem Rektorat. Das zweite Gesetz zur Änderung hochschulrechtlicher Vorschriften wurde Ende 2003 von der Landesregierung in den Diskussionsprozess an den Hoch-

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7 Strategiepapier der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg (2004). 8 Proposal Excellence Initiative by the German Federal and State Goverments to Promote Science and Research Second Call (2007).

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schulen eingebracht. Dieser Gesetzesentwurf sah unter anderem die Veränderung der Zusammensetzung des Hochschulrates und eine Stärkung von Hochschulrat und Rektorat auch zu Lasten des Senates vor. Besonders deutlich wurde diese Schwächung des Senates bei der Wahl der Universitätsratsmitglieder, der Wahl der hauptamtlichen Mitglieder des Rektorates, Rektor und Kanzler und bei der Wahl der Prorektoren. In dieser angedachten Entwicklung sah Peter Hommelhoff eine große Gefahr für die akademische Selbstverwaltung der Universitäten. Zwei Tage nach der Information der Hochschulrektoren durch das Ministerium informierte Rektor Hommelhoff den Senat über die Vorschläge des Ministeriums. Eine weitere Senats-Sondersitzung folgte zum gleichen Thema nach 9 Tagen. Damit wollte der Rektor einerseits zu einer hochschulinternen Willensbildung beitragen und andererseits die Bedeutung des Senates in diesen Fragen hervorheben. Am Ende des Diskussionsprozesses zwischen Landesregierung, Universitätsrat, Rektorat und Senat gelang es, den Einfluss des Senates, auch durch eine Änderung der Grundordnung9 der Universität Heidelberg, weitestgehend zu erhalten. Besonders an diesem Punkt „Erhalt des Einflusses des Senates“ lässt sich der Arbeitsstil von Peter Hommelhoff besonders gut darstellen. Schon während der Vorfelddiskussion im politischen Raum nimmt er regen Anteil durch Formulierung einer klaren Position. Hierbei stellt er durchaus mit betont scharf formulierten Standpunkten seine Position dar. Diese Position wird dann im Gespräch mit den Kontrahenten weiter ausformuliert und möglichst zum Konsens gebracht.

VI. Wissenschaftlicher Nachwuchs: Zukunft der Ruperto Carola Peter Hommelhoff ist der festen Überzeugung, dass jede Universität ihre Bedeutung zu einem erheblichen Teil den Leistungen des wissenschaftlichen Nachwuchses verdankt; und dies gilt besonders für Heidelberg. Die Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses war und ist deshalb ein Hauptanliegen von Peter Hommelhoff. Diese Grundeinstellung schlug sich in der Formulierung des „Nachwuchspapieres“10 nieder. Die Kommission, die diese Positionsbestimmung erarbeitete, stand unter seinem Vorsitz und gehörte zu den wichtigsten Terminen des wahrlich nicht unterbeschäftigten Rektors. Zur Charakterisierung des Führungsstiles von Peter Hommelhoff gehört auch, dass er in einer universitätsöffentlichen Diskussion das „Nachwuchspapier“ mit den Nachwuchswissenschaftlern diskutierte.11 Zu den Grundlagen der Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses gehörte für Peter Hommelhoff auch die Gleichberechtigung der verschiedenen Qualifi-

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9 Grundordnung v. 19.9.2006. 10 „Zur Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg – leitende Empfehlungen des Senates“ v. 20.9.2005. 11 Universitätsöffentliche Diskussion am 22.4.2005, Neue Universität Hörsaal 1.

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zierungswege als kompetitives Nebeneinander unter Berücksichtigung der unterschiedlichen Fächerkulturen. So bestand für das Rektorat Hommelhoff in der Herbeiführung der Gleichberechtigung der verschiedenen Qualifizierungswege Habilitation (dieser Weg stand in der Zeit von Wissenschaftsministerin Buhlman stark in der Kritik und sollte abgeschafft werden), Juniorprofessur (sollte politisch als einziger akademischer Qualifizierungsweg durchgesetzt werden) und Nachwuchsgruppenleiter ein wichtiges Ziel. Das Austarieren dieser 3 Karrierewege war schwierig; z. B. sollten Zeitdauer und spätere Chancen ungefähr identisch sein. Keine der 3 Gruppen sollte benachteiligt sein (z. B. Dauer der Habilitation im Vergleich zum Juniorprofessor). Ebenso bedeutsam war die Stärkung des Einflusses der Nachwuchswissenschaftler in der akademischen Selbstverwaltung. Mit Nachdruck hat Peter Hommelhoff die Positionierung einer/s Nachwuchswissenschaftlers/In im Universitätsrat betrieben. Nachwuchswissenschaftler waren nach dem Landeshochschulgesetz im Universitätsrat nicht vorgesehen; deshalb musste hierfür die Grundordnung geändert werden, denn die Position einer/s Nachwuchswissenschaftlers/In ging zu Lasten der Gruppe der Professoren.12 In diesem Zusammenhang ist auch zu erwähnen, dass Peter Hommelhoff besonders stolz auf die hohe Zahl qualifizierter Promotionen an der Universität Heidelberg war. Er sprach gerne von der „Doktorschmiede Heidelberg“. Stets mahnte er auch, dass die Dauer einer Promotionsarbeit begrenzt sein müsse.

VII. Medizin als unverzichtbarer Teil der Volluniversität Peter Hommelhoff hat während seines Rektorates viel Zeit und Kraft auf die Situation der Medizin an der Universität Heidelberg verwendet und verwenden müssen. Universität und Medizinische Fakultäten befinden sich auch in BadenWürttemberg in einem permanenten Spannungsfeld. Die Budgethoheit der Medizinischen Fakultäten, ihre Größe, die Verpflichtung der ärztlichen Wissenschaftler gegenüber den Patienten und die naturgemäß enge Anbindung der Medizinischen Fakultäten an die finanziell starken Universitätsklinika sorgen einerseits für nur die Medizin betreffende Fragestellungen und führen andererseits immer wieder zu Bestrebungen nach mehr Autonomie bis hin zum Wunsch der partiellen oder vollständigen Separierung der medizinischen Fakultäten von der Universität. Es ist eine der wichtigen Eigenschaften von Peter Hommelhoff, dass ihn die zu erwartenden Schwierigkeiten einer Aufgabe nicht davon abhalten diese anzupacken. Gemeinsam mit allen Mitgliedern der Landeshochschulrektorenkonferenz hat Peter Hommelhoff engagiert und erfolgreich dafür gekämpft, dass die Medizinischen Fakultäten nicht aus dem Verbund der Baden-Württembergischen

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12 4. Satzung zur Änderung der Grundordnung der Universität Heidelberg v. 26.8.2003.

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Universitäten gelöst wurden bzw. die Universitäten nur noch als wissenschaftliches Alibi für die Medizinischen Fakultäten gelten. Zur Universität Heidelberg gehören zwei Medizinische Fakultäten, Heidelberg und Mannheim. Beide Fakultäten kooperieren, allerdings in einem wechselnden, aber permanenten Spannungsverhältnis. Die historische Entwicklung des Verhältnisses der beiden Medizinischen Fakultäten der Universität Heidelberg ist in der Außensicht von Müller-Arens detailliert dargestellt. Zu keinem Zeitpunkt konnte Peter Hommelhoff akzeptieren, dass in Mannheim der für die Krankenversorgung im ökonomischen Bereich verantwortliche Geschäftsführer gegenüber der wissenschaftlichen Leitung, dem Dekan, die stärkere Position besitzt. In der Geschäftsführung des Universitätsklinikums Mannheim war der Dekan nicht vertreten und im Aufsichtsrat gab es keinen Wissenschaftler. Diesen Missständen hat Rektor Hommelhoff massiven Widerstand entgegengesetzt. Nach sechsjähriger intensiver Befassung mit diesem Thema stellte Peter Hommelhoff in der letzten Sitzung des Senates in seiner Amtszeit resigniert fest: „… dass diese Aufgabe in seinem Rektorat nicht gelöst werden konnte.“ Der Verfasser ist jedoch der Ansicht, dass die in jüngster Zeit gefundenen, deutlichen, aber noch nicht ausreichenden Verbesserungen der Situation an der Medizinischen Fakultät Mannheim (Dekan in der Geschäftsführung, Aufsichtsrat mit zwei auswärtigen Wissenschaftlern) ohne den engagierten Einsatz von Peter Hommelhoff nicht zustande gekommen wären.

VIII. Studiengebühren zur Verbesserung der Studienbedingungen Peter Hommelhoff war und ist ein engagierter Befürworter der Studiengebühren. Er sprach stets von Studienbeiträgen statt von Studiengebühren, um klar zu machen, welch geringer Anteil an den echten Kosten des Studiums, die Studienbeiträge darstellen. Von Anfang an war für ihn und mit ihm klar, dass die Studienbeiträge nur für die direkte Verbesserung der Lehre genutzt werden sollten. Die auf Vorschlag des Rektorates gebildete Senatskommission „Studiengebühren“ formulierte u. a.:13 – „Studiengebühren haben der Verbesserung der Lehre zu dienen“ – „Studiengebühren stehen in erster Linie den Einheiten zu, welche die Studiengänge verantworten“ – „Ein geringer Teil der Gebühren wird für zentrale Einrichtungen verwendet für Verbesserungen in Studium und Lehre, die nur oder besser zentral erbracht werden“ – „Reguläre Haushaltsmittel dürfen nicht durch Studiengebühren ersetzt werden“

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13 „Verteilungsmodell Studiengebühren“ (2007).

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Außerdem sollten die Studenten im Entscheidungsprozess über die Verwendung der Studienbeiträge den wesentlichen Einfluss haben. Dem stand entgegen, dass in universitären Entscheidungsgremien die beamteten Professoren die Stimmenmehrheit haben müssen. Damit der Einfluss der Studierenden auf die Verteilung der Studiengebühren hoch ist, wurde von den für die Studiengänge verantwortlichen Fächern eine Kommission gegründet, in der die Studierenden die Stimmenmehrheit hatten. Diese Kommission legt dann der Fakultät ihre Vorschläge zur Entscheidung vor. „Fakultätsrat und -vorstand sollen den Vorschlägen der Kommission folgen“.

IX. Und zuletzt Peter Hommelhoff ist ein Mannschaftsspieler, der aber stets erkennen lässt, wer die Kapitänsbinde trägt. Oder vielleicht mehr aus dem von ihm geliebten maritimen Bereich: Jedes Crewmitglied hat eine gleichberechtigte Stimme und trägt zur Fahrt des Schiffes Wesentliches bei, aber der Kapitän führt das Schiff. Peter Hommelhoff ist ein humorvoller Vor- und Mitarbeiter mit viel Empathie. Danke für sechs Jahre prägender Zeit.

Außensicht I. Zur Rektorwahl 2001 Peter Hommelhoff war der 747. Rektor der Universität Heidelberg. Nimmt man die Jahre 1933–1945 aus, dann kann festgehalten werden, dass die Wahl des Rektors über die Jahrhunderte hinweg nach vergleichsweise gleich bleibenden Regularien ablief.14 Mit der politisch gewollten Gewichtsverlagerung im Leitbild der Universitäten – stärkere Betonung des Aspekts „wissenschaftliches Dienstleistungsunternehmen“ zu Lasten der „Gelehrtenrepublik“15 – wurde das Verfahren zur Wahl des Rektors grundlegend verändert. Da nach der Wahl von Peter Hommelhoff das Verfahren der Rektorwahl durch das Landeshochschulgesetz von 200516 erneut geändert wurde, lohnt es, sich mit den rechtlichen Bestimmungen der Rektorwahl 2001 und dem tatsächlichen Ablauf dieser Wahl näher zu befassen. 1. Die Wahl des 746. Rektors der Universität Heidelberg, Professor Siebke, erfolgte nach den quasi klassischen Regularien, wie sie ihren Niederschlag im damals maßgebenden Universitätsgesetz17 und in der Grundordnung der Uni-

__________ 14 Vgl. dazu: Weisert u. a. (Fn. 1), XVI ff. 15 Hierzu: Herberger in Haug (Hrsg.), Das Hochschulrecht in Baden-Württemberg, 2001, Rz. 201 ff. 16 Vgl. LHG (Fn. 2). 17 Gesetz über die Universitäten im Lande Baden-Württemberg (Universitätsgesetz – UG) in der Fassung v. 10.1.1995.

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versität gefunden hatten: keine Ausschreibung, Wahlvorschlag des Senats, erarbeitet von einer Findungskommission, an den Großen Senat, Wahl durch den Großen Senat, Amtszeit vier Jahre, Ernennung durch den Ministerpräsidenten. 2. Anders bei der Wahl des 747. Rektors.18 a) Die Ausschreibung der Stelle ist zwingend, da zum Rektor nicht nur gewählt werden kann, wer als hauptberuflicher Professor der Universität angehört, sondern jeder, der aufgrund einer Hochschulausbildung und seiner bisherigen beruflichen Tätigkeit erwarten lässt, dass er den Aufgaben des Amtes gewachsen ist. b) Von einem Auswahlausschuss aus Mitgliedern des Hochschulrats und des Senats, geleitet vom Vorsitzenden des Hochschulrats, wird im Einvernehmen mit dem Wissenschaftsministerium ein Wahlvorschlag erarbeitet. c) Wahl durch den Senat d) Amtszeit sechs Jahre e) Ernennung durch den Ministerpräsidenten 3. Im Einzelnen lief die Wahl von Peter Hommelhoff wie folgt ab:19 a) Der Vorsitzende des Hochschulrats bildete im Oktober 2000 einen Auswahlausschuss, dem 7 Mitglieder des Hochschulrats und 4 des Senats angehörten. An den Sitzungen nahm der Verfasser als Vertreter des Ministeriums teil, um das erforderliche Einvernehmen mit dem Ministerium frühzeitig zu gewährleisten. b) Der Text der Ausschreibung wurde in Abstimmung mit dem Ministerium erarbeitet und beschränkte sich auf eine Aufgabenbeschreibung unter Verweis auf das Universitätsgesetz, die Nennung der persönlichen Wahlvoraussetzungen und die Darstellung des Wahlverfahrens. c) Die Ausschreibung erfolgte in der ersten Novemberhälfte 2000 in lokalen, regionalen und überregionalen Zeitungen, u. a. in der ZEIT Nr. 46 v. 9.11.2000. Bewerbungsschluss war der 15.12.2000. d) Am 12. Dezember führte Peter Hommelhoff mit dem Verfasser ein Gespräch im Wissenschaftsministerium in Stuttgart, in dem er über die Absicht seiner Bewerbung unterrichtete, seine wesentlichen Ziele für den Fall seiner Wahl darlegte und um Klärung einiger ihm wichtiger Randbedingungen für seine Bewerbung bat. aa) Den Zielsetzungen – Stärkung von Forschung und Lehre durch Schärfung des jeweiligen fachlichen Profils, Ausbau der internationalen Beziehungen, Stärkung der Zusammenarbeit mit der Universität Mannheim, Verbesserung und Stärkung der Organisation der Universität – konnte in dieser Allgemein-

__________ 18 Vgl. zum Folgenden: § 13 (5) i. V. m. (2) Gesetz über die Universitäten im Land BadenWürttemberg (Universitätsgesetzt – UG) in der Fassung v. 1.2.2000. 19 Zur gesetzlichen Grundlage vgl. UG (Fn. 18).

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heit uneingeschränkt zugestimmt werden. Konkrete Stellen- und Mittelwünsche waren zu diesem Zeitpunkt damit ja noch nicht verbunden. bb) Unproblematisch war auch der Wunsch, in erheblich eingeschränktem Umfang die Forschungs- und Lehrtätigkeit neben dem Rektoramt fortsetzen zu können. Das Ministerium hat derartige Absichten immer begrüßt und in Einzelfällen auch durch konkrete Maßnahmen unterstützt, nicht zuletzt auch deshalb, um nach dem Rektoramt den Wiedereinstieg in Lehre und Forschung zu erleichtern. Nicht verschwiegen sei, dass es in der Mehrzahl der Fälle jedoch bei der Absicht blieb, neben dem Rektoramt noch kontinuierlich Verpflichtungen in Forschung und Lehre wahrzunehmen. cc) Ungewöhnlich war jedoch der Wunsch von Peter Hommelhoff, sein Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Handels- und Wirtschaftsrecht, Rechtsvergleichung möge sofort und dauerhaft wiederbesetzt werden. Dies entsprach nicht der üblichen Praxis von Ministerium und Hochschulen. Vielmehr wurde die durch den Wechsel des Gewählten auf die Zeitbeamtenstelle des Rektors freiwerdenden Professorenstelle im Regelfall nur befristet oder gar nicht wiederbesetzt, so dass der Gewählte nach Ablauf seiner Zeit als Rektor auf seine Professur zurückkehren konnte. Auf diese Möglichkeit, die ihm altersmäßig entsprechend der Praxis des Ministeriums, Anträgen von Professoren auf Verlängerung ihrer Lebensarbeitszeit über das 65. Lebensjahr hinaus zu entsprechen, offenstand, verzichtete Peter Hommelhoff im Interesse seiner Fakultät und im Interesse der Studierenden. Nach Rücksprache mit Minister von Trotha konnte diesem Wunsch entsprochen werden. e) Die Bewerbung von Peter Hommelhoff erfolgte unter dem Datum vom 15.12.2000 und trägt den Eingangsstempel des Rektorats vom 14.12.2000! Eine vorweggenommene Konkretisierung des Mottos zum 625-jährigen Jubiläum der Universität: „Zukunft. Seit 1386“! f) Eingegangen waren insgesamt fünf Bewerbungen. Vier Bewerbungen Externer sowie die von Peter Hommelhoff. Der Auswahlausschuss verständigte sich im schriftlichen Verfahren darauf, drei externe Bewerbungen aufgrund der Bewerbungsunterlagen nicht weiter zu verfolgen. Die persönliche Vorstellung der verbleibenden zwei Bewerber fand am 18.1.2001 vor dem Auswahlausschuss statt und endete mit dem einmütigen Beschluss, dem Senat als einzigen Kandidaten den internen Bewerber Peter Hommelhoff vorzuschlagen. Der Verfasser gewann dabei den Eindruck, dass im Vorfeld der Sitzung vom 18. Januar unter den professoralen Ausschussmitgliedern eine Festlegung auf den internen Bewerber erfolgt war. Dies hätte der üblichen Praxis bei Rektorwahlen entsprochen, wonach sich die verschiedenen Professorengruppen – in Heidelberg „Ruperto Carola“ und „Semper Apertus“ – vor der Wahl auf einen Kandidaten verständigen. g) Das Ministerium erklärte am 29.1.2001 sein Einvernehmen zu diesem Wahlvorschlag. 800

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h) Die Wahl durch den Senat erfolgte am 13.2.2001 mit einer Gegenstimme.20 Vorausgegangen war eine persönliche Vorstellung, in welcher der Kandidat seine Ziele in zwölf Leitpunkten vorstellte. i) Abgeschlossen wurde das Verfahren mit der Aushändigung der Ernennungsurkunde von Ministerpräsident Erwin Teufel vom 21.6.2001 durch Wissenschaftsminister Professor Frankenberg am10.9.2001.

II. Hochschulrat – Aufsichtsrat – Universitätsrat21 Der 747. Rektor fand bei seinem Amtsantritt andere Gremien und damit andere Organisationsstrukturen vor als sein Vorgänger. Großer Senat und Verwaltungsrat waren aufgelöst, deren Zuständigkeiten auf Senat, Rektorat und den neu geschaffenen Hochschulrat aufgeteilt worden 1. Der Entwurf der Landesregierung eines Gesetzes zur Änderung hochschulrechtlicher Vorschriften22 hatte – nachdem durch die Aufhebung von Vorschriften des Hochschulrahmengesetzes die Gestaltungsmöglichkeiten des Landesgesetzgebers erweitert worden waren – die Stärkung der Autonomie der Hochschulen zum Ziel. Ihre Finanzverantwortung sollte erhöht sowie Aufgaben und Zuständigkeiten, die bisher vom Ministerium wahrgenommen wurden, entweder abgebaut (Deregulierung) oder auf die Hochschulen übertragen werden. All dies bedingte „eine Änderung der Organisationsstruktur der Hochschulen“23, wobei u. a. eine klare Trennung von Exekutive und Kontrolle sowie die Übereinstimmung von Verantwortung und Handlungskompetenz angestrebt wurden.24 2. Die Zahl der Hochschulorgane wurde von vier auf drei reduziert. Das Rektorat wurde in seiner Funktion als Exekutivorgan, das insbesondere die laufenden Geschäfte verantwortet, gestärkt. Beim Senat wurden die akademischen Angelegenheiten konzentriert. Der Hochschulrat beaufsichtigt das Rektorat und ist für die strategische Ausrichtung der Hochschule verantwortlich; er übernimmt Aufgaben, die bislang beim Ministerium lagen. Im Folgenden soll nun der Hochschulrat näher betrachtet werden.

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20 Utgenannt, „Neuer Uni-Rektor setzt auf Wettbewerb“, Mannheimer Morgen v. 14.2.2001. 21 Die Bezeichnung des durch das Gesetz zur Änderung hochschulrechtlicher Vorschriften v. 6.12.1999 neu geschaffenen Gremiums Hochschulrat (vgl. § 18 Universitätsgesetz v. 1.2.2000) war von Beginn der Tätigkeit dieses Gremiums an zwischen der Universität Heidelberg und dem Wissenschaftsministerium kontrovers: Die Universität bestand und beharrte auf der Bezeichnung „Universitätsrat“, das Ministerium auf der Verwendung der gesetzlichen Bezeichnung „Hochschulrat“. Diese Kontroverse erledigte sich erst durch das LHG (vgl. Fn. 2), das zwar die Bezeichnung „Aufsichtsrat“ anstelle von „Hochschulrat“ einführte, gleichzeitig aber die Möglichkeit einer abweichenden Bezeichnung durch die Grundordnung eröffnete, vgl. § 15 (1), (2) 3. Im Text wird durchgängig die Bezeichnung „Hochschulrat“ verwendet, da diese auf alle Hochschularten zutrifft. 22 LT-Drucks. 12/4404 v. 23.9.1999. 23 LT-Drucks. 12/4404, S. 224. 24 LT-Drucks. 12/4404, S. 226/227.

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3. „Der Hochschulrat (Aufsichtsrat) trägt die Verantwortung für die Entwicklung der Universität (Hochschule) und schlägt Maßnahmen vor, die der Erhöhung der Leistungs- und Wettbewerbsfähigkeit dienen. Er beaufsichtigt die Geschäftsführung des Rektorats (Vorstands).“25 Der Hochschulrat nach baden-württembergischem Recht ist somit ein Organ mit beachtlicher Entscheidungskompetenz. Dies zeichnet ihn gegenüber Gremien mit gleich- oder ähnlich lautender Bezeichnung im Hochschulrecht anderer Länder aus. Durch seine strategischen Entscheidungen legt er die langfristigen Ziele der Hochschule und den „Fahrplan“ zu ihrer Realisierung fest und bestimmt damit ihre Entwicklung. Außerdem beaufsichtigt er das Rektorat und wirkt – insoweit ohne eigene Entscheidungskompetenz – bei einigen akademischen Angelegenheiten mit. 4. Die angeführten gesetzlichen Regelungen26 zählen an konkreten Aufgaben beispielhaft auf: a) im Bereich der strategischen Steuerung der Hochschule Beschlussfassung über die Struktur- und Entwicklungspläne sowie über die Funktionsbeschreibung von Professorenstellen; Zustimmung zu Hochschul- und Finanzierungsverträgen sowie zur Gründung von und Beteiligung an Unternehmen; Den strategischen Kompetenzen kann auch die Wahl der hauptamtlichen sowie die Bestätigung der nebenamtlichen Mitglieder des Rektorats zu gerechnet werden. b) an Aufsichtszuständigkeiten Beschlussfassung über den Haushalts- bzw. Wirtschaftsplan sowie die Feststellung des Jahresabschlusses und die Entlastung des Rektorats. c) bei den akademischen Angelegenheiten Stellungnahme zur Grundordnung bzw. zu deren Änderung sowie Stellungnahme zur Einrichtung, Aufhebung und Veränderung von Studiengängen. Ein Vergleich der für den Hochschulrat maßgeblichen Regelungen des Jahres 2000 mit denen des Jahres 2005 zeigt, dass ab 2005 eine noch stärkere Ausrichtung des Hochschulrats auf strategische Aufgaben erfolgte unter gleichzeitigem Abbau der Beteiligung an akademischen Angelegenheiten. 5. Verändert wurden durch das Landeshochschulgesetz von 2005 auch die Zusammensetzung und das Verfahren zur Benennung der Mitglieder des Hochschulrats.27 a) Der „Hochschulrat 2000“ zählte dreizehn Mitglieder, davon sechs externe Persönlichkeiten. Die Mitglieder der Universität hatten somit die Mehrheit. Zum Vorsitzenden konnte jedoch nur ein Externer gewählt werden.

__________ 25 So mit Ausnahme der in Klammer gesetzten Bezeichnungen übereinstimmend § 18 (1) 1, 2 UG (Fn. 18), und § 20 (1) 1, 2 LHG (Fn. 2). 26 Vgl. Fn. 25. 27 Vgl. dazu: § 18 (3) – (6) UG einerseits und § 20 (3) – (6) LHG andererseits.

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Alle Mitglieder des Hochschulrats wurden vom Senat für die Dauer von drei Jahren gewählt, wobei das Gesetz ausdrücklich nur das Wahlverfahren der externen Mitglieder regelt. Hierfür bildete der Senat einen Ausschuss, der sich mit dem Ministerium auf einen gemeinsamen Wahlvorschlag an den Senat verständigte. Für den Fall, dass es zu keiner Verständigung kommen sollte, enthielt das Gesetz eine Konfliktregelung dergestalt, dass drei der externen Mitglieder vom Senat gewählt und drei vom Ministerium benannt wurden. In der Praxis erfolgte die Auswahl der externen Mitglieder des Hochschulrats konfliktfrei: Der Rektor als Vorsitzender des Senatsausschusses teilte – wohl nach einer hochschulinternen Vorklärung – dem Verfasser seine Vorstellungen mit. Diese wurden erörtert und ggf. modifiziert. Zu Modifikationen kam es insbesondere dann, wenn der Vorschlag des Rektors allzu sehr auf ein Akklamations- oder allenfalls Beratungsgremium zielte, das nicht erwarten ließ, dass es im gebotenen und erforderlichen Umfang auch die Aufsichtsbefugnisse wahrnehmen würde. Der dann erreichte Konsens wurde dem Minister zur Zustimmung vorgelegt. Nach der Zustimmung des Ministers erfolgte die Wahl durch den Senat und die förmliche Bestellung durch den Minister. Nach der Erinnerung des Verfassers wurde bei den Universitäten vom damaligen Minister von Trotha nur ein Vorschlag abgelehnt; in einem anderen Fall hatte der Minister zunächst erhebliche Bedenken, die dann aber zurückgestellt wurden. b) Der „Universitätsrat 2005“ wurde verkleinert; er besteht aus sieben, neun oder elf Mitgliedern. Die genaue Festlegung erfolgt ebenso wie die Dauer der Amtszeit in der Grundordnung. Die Zahl der Externen muss die der Internen mindestens um eins übersteigen. Möglich sind auch rein extern besetzte Hochschulräte.28 Den Vorsitz hat – wie bisher – ein externes Mitglied. Die Auswahl der Mitglieder obliegt einem besonderen „Wahlausschuss“, dem zwei Vertreter des Senats, zwei Mitglieder des Aufsichtsrats und ein Vertreter des Landes mit doppeltem Stimmrecht angehören. Dieser Ausschuss beschließt mit 2/3 Mehrheit; sein Beschluss bedarf der Bestätigung durch den Senat und der Zustimmung des Landes. Für den Fall, dass der Ausschuss keine Einigung erzielt, gilt eine detaillierte Konfliktregelung,29 auf die nach Kenntnis des Verfassers bislang nicht zurückgegriffen werden musste. Verfasser hat als Vertreter des Landes in zahlreichen Auswahlausschüssen mitgewirkt. Kennzeichnend und prägend für die Arbeit der Ausschüsse war – unabhängig davon, um welche Hochschulart es sich handelte – das Bewusstsein um die große Verantwortung dieses Ausschusses und das gemeinsame Bemühen, die „richtigen“ Persönlichkeiten für den jeweiligen Hochschulrat zu finden und zu gewinnen. Dies schloss zeitaufwändige und kontroverse Diskussionen nicht aus. Ausführliche Gespräche einzelner oder mehrerer Ausschussmitglieder mit den ins Auge gefassten Persönlichkeiten, über die dann im Ausschuss ausführlich berichtet und diskutiert wurde, waren die Regel. Entscheidungen aufgrund der „Papierform“ waren seltene Ausnahmen. Von besonderer Bedeutung war die frühe Einbeziehung des Senats, um dessen Bestätigung zu

__________

28 Hierfür hat sich z. B. die Universität Konstanz entschieden. 29 Vgl. § 20 (4) 3 LHG.

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erhalten. Diese – angesichts der unverzichtbaren Vertraulichkeit – heikle und delikate Aufgabe oblag primär den beiden Senatsvertretern im Ausschuss sowie ggf. dem Vorsitzenden bzw. stellvertretenden Vorsitzenden des Hochschulrats, die im Regelfall für den Hochschulrat im Auswahlausschuss mitwirkten. Die Tatsache, dass – anders als bei einigen Rektorwahlen – die formelle Zustimmung zu den Vorschlägen des Auswahlausschusses vom Senat nach Kenntnis des Verfassers in keinem Fall versagt wurde, spricht sowohl für die Praktikabilität der nach ihrem Wortlaut sperrigen Regelung als auch für die ergebnisorientierten Abstimmungsbemühungen des Auswahlausschusses mit dem Senat. 6. a) Das Gesetz formuliert – anders beispielsweise als beim Rektor oder Kanzler- keinerlei subjektive Voraussetzungen für die Mitglieder des Hochschulrats. Die Gesetzesbegründung spricht 1999 einmal davon, dass für die Auswahl allein die Kriterien Unabhängigkeit und Kompetenz entscheidend sind,30 zum anderen soll die Besetzung mit Externen „außeruniversitäre Kompetenz, Unabhängigkeit und Objektivität für die Entwicklung der Universität fruchtbar machen.“31 In der Begründung zum LHG 2005 heißt es, dass „nur Personen in Betracht kommen, die kraft ihrer Kompetenz, beruflichen Erfahrung, Unabhängigkeit und Objektivität erwarten lassen, dass sie den besonderen Anforderungen des Amtes gewachsen sind.“32 Der BGH hat in einer Entscheidung aus dem Jahre 1995 zu den Anforderungen eines Aufsichtsratsmitglieds in einer GmbH ausgeführt: „Der Aufsichtsrat bedarf Mindestkenntnisse allgemeiner, wirtschaftlicher, organisatorischer und rechtlicher Art, die erforderlich sind, um alle normalerweise anfallenden Geschäftsvorgänge auch ohne fremde Hilfe zu verstehen und sachgerecht beurteilen zu können.“33 b) In beiden Gesetzesbegründungen taucht der Begriff „Kompetenz“ auf. Da es abstrakte Kompetenz nicht gibt, sondern nur Kompetenz auf bestimmtem Gebiet und der BGH, dessen Ausführungen sich auf den Hochschulbereich übertragen lassen, von der Notwendigkeit spricht, die anfallenden Geschäftsvorgänge verstehen und sachgerecht beurteilen zu können, bedeutet dies, dass die Mitglieder des Hochschulrats um die Randbedingungen von Forschung und Lehre wissen sollten und eine Vorstellung davon haben sollten, wie Lehre und Forschung in der Organisationsstruktur einer Hochschule ablaufen. c) Nimmt man dies zum Maßstab, dann ist bei aller gebotenen Zurückhaltung doch festzustellen, dass zumindest in der Anfangszeit der Hochschulräte diese Voraussetzungen nicht immer bei allen externen Mitgliedern gegeben waren. Andererseits fehlte bei internen Mitgliedern nicht eben selten das richtige Verständnis von ihrer Aufgabe als Hochschulrat. Häufig wurden Diskussionen,

__________ 30 31 32 33

LT-Drucksache 12/4404, S. 226. LT-Drucksache 12/4404, S. 239. LT-Drucksache 13/3640, S. 196. BGHZ 85, 293, 295.

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die bereits auf der Fakultätsebene und im Senat geführt worden waren, in den Hochschulrat getragen, um eine Korrektur des Ergebnisses zu erreichen. d) Neben den bereits angeführten Kriterien seien noch zwei weitere angesprochen, die nach den Erfahrungen des Verfassers durchaus von Bedeutung sind: aa) Die Aufgaben und der Fächerkosmos einer Hochschule, insbesondere einer Universität, erfordern von den Mitgliedern des Hochschulrats ein hohes Maß an Offenheit, an Bereitschaft, sich auf vollkommen neue und unbekannte Themen und Bereiche einzulassen, sich also neue Themen zu erarbeiten, mit anderen Worten zu lernen. bb) Dies wiederum erfordert Zeit, Zeit für eine Tätigkeit, die ehrenamtlich ausgeübt wird. Ein Hochschulrat muss in diese Aufgabe, wenn er sie verantwortungsvoll wahrnehmen will, erheblich Zeit investieren. Ein Externer im Regelfall mehr als ein Interner. Ist diese Bereitschaft nicht gegeben oder lässt sie sich nicht verwirklichen, dann sollte als Konsequenz die Aufgabe niedergelegt werden, wie dies in Einzelfällen – nach freundlichem Hinweis durch den Vorsitzenden des Hochschulrats – auch geschehen ist. 7. Die Hochschulräte haben in Baden-Württemberg im Laufe des Jahres 2000 ihre Tätigkeit aufgenommen, so dass es nach einem Jahrzehnt möglich erscheint, eine – vorläufige – Bewertung ihrer Tätigkeit abzugeben.34 a) Die Hochschulen haben dieses neue Organ, das durchaus auch Anlass zu rechtlichen Kontroversen gab,35 akzeptiert. Sie sehen und nutzen den in diesem Gremium gebündelten Sachverstand, insbesondere bei der langfristigen Struktur- und Entwicklungsplanung und der Finanzplanung. Hinzu kommt, dass der Hochschulrat bzw. dessen Vorsitzender in der Lage ist, den Anliegen, Vorstellungen und Wünschen der Hochschule gegenüber Politik und Gesellschaft zusätzliches Gewicht zu verleihen. b) Das Selbstverständnis der Hochschulen hat sich verändert. Sie empfinden sich nicht mehr so ausgeprägt wie vordem als autonome Gelehrtenrepublik, sondern akzeptieren ihre Verpflichtungen gegenüber Gesellschaft und Politik. Dies zeigt sich in vielen Einzelheiten, z. B in einem wesentlich verbessertem internen Berichtswesen und einer Verstärkung der Kommunikation nach außen. c) Für die Zukunft kommt es darauf an, sicherzustellen, dass auch weiterhin ausreichende Anreize bestehen, um herausragende Persönlichkeiten aus Wissenschaft, Wirtschaft und Kultur für die Mitwirkung in Hochschulräten gewinnen zu können. Erreicht werden könnte dies auch durch erweiterte Zuständigkeiten der Hochschulen – und damit ihrer Gremien – auf den Gebieten Finanzen, Personal, Bau und Liegenschaften.

__________ 34 Vgl. zu dem neuen Managementstil an den Universitäten und dessen Akzeptanz auch das Interview von Jan-Martin Wiarda mit Jörg Bogumil in DIE ZEIT Nr. 33 v. 11.8.2011, S. 59. 35 Vgl. dazu: Kahl, Hochschulräte – Demokratieprinzip – Selbstverwaltung, AöR 130 (2005), 225–262.

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III. Hochschulmedizin Mannheim Die Hochschulmedizin Mannheim war in der Amtszeit von Rektor Hommelhoff ein gewichtiges Thema. Es beschäftigte neben Rektor und Rektorat auch den Senat, den Hochschulrat sowie zahlreiche Arbeitsgruppen und Kommissionen. Dafür trug der Rektor die Verantwortung! In der Senatssitzung am 20.11.2001 stellte er zwölf Leitpunkte36 seines Rektorats vor, die vom Senat und anschließend vom Hochschulrat gebilligt wurden. Dieses „Regierungsprogramm“ befasste sich unter Ziffer 9 mit der Zusammenführung der beiden medizinischen Fakultäten der Universität Heidelberg zu einer medizinischen Gesamtfakultät. Zum Verständnis dieses Vorhabens ist ein Blick zurück unerlässlich. 1. Die Medizin ist die jüngste der vier Gründungsfakultäten der Universität Heidelberg. Während die Artistenfakultät, die Theologie und die Juristische Fakultät den Lehrbetrieb im Gründungsjahr 1386 aufnahmen, wurde der erste medizinische Lehrstuhl erst 1390 besetzt.37 a) Im Herbst 1964 nahm die medizinische Fakultät zusätzlich zur Ausbildung am Standort Heidelberg den Lehrbetrieb in der Klinischen Medizin am Standort Mannheim auf.38 Ursächlich dafür waren gleichgelagerte Interessen bei der medizinischen Fakultät in Heidelberg und der Stadt Mannheim. aa) Die Heidelberger Fakultät wollte der stetig wachsenden Nachfrage nach Medizinstudienplätzen durch zusätzliche Ausbildungsmöglichkeiten entsprechen. Hierfür bot sich im klinischen Bereich die Zusammenarbeit mit den Städtischen Krankenanstalten39 in Mannheim an. bb) Die Stadt Mannheim plante einen Klinikneubau und erhoffte sich durch die Beteiligung an der universitären Medizinerausbildung nicht nur einen Prestigegewinn, sondern vornehmlich eine finanzielle Entlastung – nicht nur bei den Investitionskosten, sondern möglichst auch bei den Betriebskosten – durch einen finanziellen Beitrag des Landes. So wurde für die Ausbildung der zu Beginn siebzig klinischen Studierenden die zunächst rechtlich unselbstständige Teilfakultät für Klinische Medizin Mannheim der Medizinischen Fakultät der Universität Heidelberg eingerichtet, die ab 1969 als selbstständige Fakultät für Klinische Medizin der Universität Heidelberg mit eigenem Promotions- und Habilitationsrecht geführt wurde40 und die klinische Ausbildung in und mit der Mannheimer Klinik durchführte.

__________

36 Anlage 1 zum Protokoll der Senatssitzung v. 20.11.2001. 37 Weisert u. a. (Fn. 1), S. 71. 38 Zur Medizinerausbildung in Mannheim wird verwiesen auf Bauer, Vom Nothaus zum Mannheimer Universitätsklinikum, 2002 und auf den Beitrag von Wellnitz, Medizinische Fakultät Mannheim, in Meusburger/Schuch (Hrsg.), Wissenschaftsatlas der Universität Heidelberg, 2011. 39 „Städtische Krankenanstalten“ lautete die Bezeichnung bis 1980. Daraus wurde zunächst das „Klinikum der Stadt Mannheim“ und ab 1998 die „Klinikum Mannheim gGmbH“, ab 2001 mit der Bezeichnung „Universitätsklinikum“. Heute firmieren Klinikum und Fakultät als „Universitätsmedizin Mannheim“. 40 Weisert u. a. (Fn. 1), S. 86.

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b) Angesichts der Überlegungen zur Neuordnung der Krankenhausfinanzierung – Vergütung der Krankenhausleistungen nicht mehr nach Pflegetagen, sondern nach Fallpauschalen mit den Folgen eines verstärkten Wettbewerbs zwischen den Krankenhäusern, der Verkürzung der Verweildauer und damit des Bettenabbaus – kam es im Jahr 2000 zu Fusionsgesprächen zwischen den Leitungen des städtischen Klinikums Mannheim und des Universitätsklinikums Heidelberg, Anstalt des öffentlichen Rechts, unter Beteiligung der beiden medizinischen Fakultäten und dem Stuttgarter Wissenschaftsministerium. In einem „Medizin-Konzern Heidelberg – Mannheim“ wurde eine Chance gesehen, die anstehenden Herausforderungen durch die Neuordnung der Krankenhausfinanzierung zu bestehen. Konsequent war es dann, auch die beiden Fakultäten zu einer zusammen zu fassen. 2. Dies war die faktische Grundlage des 9. Leitpunkts von Rektor Hommelhoff, wobei betont wurde, dass „die Fakultäten sich darauf verständigt (haben) in einer Fakultät zusammenwachsen zu wollen.“41 Hinsichtlich der Klinika heißt es dann: „Das Rektorat erwartet, dass sich gleichzeitig die Universitätsklinika einander annähern.“42 Auffällig, aber verständlich ist, dass Reihenfolge und Kausalität umgekehrt werden, und dass hinsichtlich der Klinika lediglich die „Erwartung“ der Annäherung zum Ausdruck gebracht wird. Inzwischen hatte sich nämlich herausgestellt, dass eine Fusion der beiden Klinika mit ganz erheblichen Problemen und Schwierigkeiten verbunden gewesen wäre: unterschiedliche Rechtsformen mit unterschiedlichen Trägern, woraus Unterschiede bei der Finanzierung von Investitionen folgten; unterschiedliche Tarif- und Versorgungsregelungen, unterschiedliche Leitungsstrukturen sowie Unternehmensmitbestimmung in Mannheim, was die Frage der Sicherung der Wissenschaftsfreiheit aufwarf.43 Angesichts dieser Gegebenheiten wurden Strukturveränderungen zunächst einmal bis nach der Vorlage des angekündigten Berichts des Wissenschaftsrats zur Heidelberger Hochschulmedizin zurückgestellt. 3. Der Wissenschaftsrat hat 2002 und 2003 zu den Standorten der Hochschulmedizin in Baden-Württemberg Stellung genommen und Empfehlungen zu ihrer Weiterentwicklung gegeben. Für die Fakultät für Klinische Medizin Mannheim der Universität Heidelberg stellte er u. a. fest:44 a) Die Fakultät hat den „strukturellen Nachteil“, keine eigenen vorklinischen Einrichtungen zu haben und in Forschung und Lehre mit einem Klinikum in städtischer Trägerschaft kooperieren zu müssen. b) Die Leitungsstruktur des Klinikums Mannheim bedarf der „institutionellen Einbindung“ der Universität, um den wissenschaftlichen Anforderungen und Interessen ein entsprechendes Gewicht zu verleihen. Empfohlen wird:

__________ 41 Anlage 1 zum Protokoll der Senatssitzung v. 20.11.2001, Ziffer 9 S. 1 (Fn. 36). 42 Anlage 1 zum Protokoll der Senatssitzung v. 20.11.2001, Ziffer 9 S. 4 (Fn. 36). 43 Diese Probleme stellten sich schließlich als nicht lösbar dar und die Überlegungen zur Fusion der beiden Klinika wurden eingestellt. 44 Wissenschaftsrat Drucks. 5516/03 v. 16.1.2003, S. 107 ff.

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aa) ein hauptamtlicher Dekan, der in die Geschäftsführung des Klinikums integriert ist; bb) medizinisch-wissenschaftlichen Sachverstand im Aufsichtsrat der Trägergesellschaft zu verankern, damit die Belange von Forschung und Lehre auch institutionell abgesichert sind; cc) Forschung und Lehre neben der Krankenversorgung in den maßgeblichen rechtlichen Regelungen zu verankern. c) Die Fakultät muss ihre Forschungsanstrengungen erhöhen und ein eigenes Lehrkonzept entwickeln. Zur Fusion der beiden Heidelberger Medizinfakultäten äußerte sich der Wissenschaftsrat nicht, vielmehr erbat er von Land, Universität und den beiden Fakultäten bis Jahresende 2003 einen Bericht zur Weiterentwicklung der Hochschulmedizin an den Standorten Heidelberg und Mannheim. 4. Das Jahr 2003 war geprägt durch die intensiven Bemühungen aller Akteure, die Petita und Monita des Wissenschaftsrats aufzuarbeiten. Dabei zeigte sich sehr rasch, dass der „Knackpunkt“ die Frage der wissenschaftsfreundlichen und wissenschaftsadäquaten Umgestaltung der Leitungsstruktur des Mannheimer Klinikums war. Letztlich konnte keine Übereinstimmung zwischen Rektor Hommelhoff, der Stadt Mannheim und dem Land erzielt werden. Rektor Hommelhoff betonte unnachgiebig und kompromisslos die Notwendigkeit, die Belange von Forschung und Lehre in Vorstand und Aufsichtsrat der Trägergesellschaft institutionell abzusichern, was von der Stadt unter Hinweis auf ihre Haftung als Alleingesellschafter ebenso kompromisslos abgelehnt wurde. 5. Weder für das Land noch für die Universität Heidelberg war es daher überraschend, dass der Wissenschaftsrat in einer weiteren Äußerung45 folgende an Deutlichkeit kaum zu überbietende Feststellung traf: „Die Leitungsstrukturen des Mannheimer Klinikums werden vor dem Hintergrund der Herausforderungen an die Universitätsmedizin für nicht zukunftsfähig gehalten, da den akademischen Anforderungen nicht ausreichend Rechnung getragen wird.“46

Empfohlen wurde die Zusammenarbeit mit dem Klinikum Mannheim auf eine neue vertraglich Basis zu stellen um so „die Sicherstellung des Primats von Forschung und Lehre durch geeignete Leitungsstrukturen zu erreichen.“47 Sollte dies bis 2007 nicht erreicht werden, empfiehlt sich „die Fakultät für Klinische Medizin Mannheim in die Medizinische Fakultät Heidelberg zu integrieren.“48 6. a) Nach den bisherigen Erfahrungen konnte eine Änderung der Leitungsstruktur des Klinikums Mannheim mittelfristig, also bis Ende 2007, nicht erreicht werden. Die Fusionsempfehlung konnte somit nicht als irrelevant abge-

__________ 45 Standortübergreifend Stellungnahme zur Weiterentwicklung der Universitätsmedizin in Baden-Württemberg, Wissenschaftsrat Drucks. 6196-04 v. 16.7.2004. 46 Wissenschaftsrat (Fn. 45), S. 107. 47 Wissenschaftsrat (Fn. 45), S. 19. 48 Wissenschaftsrat (Fn. 45), S. 19.

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tan werden; auch wenn die damit verbundenen Konsequenzen – weitere Zusammenarbeit mit dem Klinikum Mannheim oder Abbau von Studienplätzen in einem der am stärksten nachgefragten NC-Fächer – wohl auch dem Wissenschaftsrat nicht ganz klar gewesen sein dürften. Hinzu kam, dass Empfehlungen des Wissenschaftsrats vom Land auch deshalb nicht einfach ignoriert werden konnten, weil das Land angesichts seiner zahlreichen großen Bauvorhaben im Hochschulbereich für deren Mitfinanzierung durch den Bund auf die positiven Voten des Wissenschaftsrats angewiesen war. b) Landespolitisch war eine Fusion der beiden Fakultäten, durch welche die Mannheimer Fakultät auf einen Status von vor 1969 zurückgeworfen worden wäre, nicht vorstellbar. aa) 1991 hatte der Landtag einstimmig über alle Parteigrenzen hinweg einen Antrag angenommen, wonach die Selbstständigkeit der Fakultät für Klinische Medizin Mannheim erhalten bleibt.49 bb) Im März 2001 hatte der Ministerpräsident des Landes dem Klinikum Mannheim offiziell die Bezeichnung „Universitätsklinikum“ verliehen,50 so dass nicht wenige Jahre darauf die Auflösung der Fakultät erfolgen konnte. c) Im Gegensatz dazu stand die Universität Heidelberg – abgesehen von der betroffenen Fakultät – einer Fusion durchaus offen gegenüber. Insbesondere dem Hochschulrat war die Einheit der Heidelberger Hochschulmedizin ein Anliegen. Die hierzu erforderliche Änderung der Grundordnung hätte der Zustimmung des Ministeriums bedurft.51 Ihre Versagung hätte zu einem Konflikt mit der Universität Heidelberg geführt. 7. Angesichts dieser konträren Interessenlagen wurden im Ministerium im Folgenden für die Mannheimer Hochschulmedizin unterschiedliche Organisationsmodelle diskutiert.52 Erörtert wurde die Bildung einer eigenständigen Medizinischen Hochschule durch Fusion von Klinikum und Fakultät; die Herauslösung der Fakultät aus der Universität Heidelberg bei gleichzeitiger Eingliederung in die Universität Mannheim oder rechtlicher Verselbstständigung durch Umwandlung in eine Stiftung. All diese Erwägungen erschienen im Ergebnis entweder politisch nicht durchsetzbar oder wenig erfolgversprechend, so dass sich das Ministerium schließlich dafür entschied, in einem ersten Schritt die vom Wissenschaftsrat angesprochenen Kritikpunkte aufzugreifen, bei denen Abhilfe im Zusammenwirken mit der Mannheimer Fakultät am ehesten möglich erschien. Dies waren die Entwicklung eines eigenständigen Lehr- und Ausbildungskonzepts sowie der Ausbau zur medizinischen Vollfakultät durch eine eigene Vorklinik. Dies bedeutet sowohl eine klare Entscheidung des Ministeriums für den Fortbestand der Mannheimer Fakultät als eigenständige Fakultät als auch für deren

__________ 49 50 51 52

Drucks. 10/6202 v. 13.11.1991 und Protokoll der 80. Plenarsitzung, S. 6616/6617. Bauer (Fn. 38), S. 182. § 15 (3) 1 i. V. m. § 8 (4) 2 LHG. Vgl.: Pressemitteilung des Ministeriums Nr. 171/2004 v. 20.10.2004.

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Verbleib im Verbund der Universität Heidelberg, wodurch auch eine weitere Intensivierung der Verbindung mit den in Heidelberg starken Lebenswissenschaften ermöglicht werden sollte. Die Entscheidung bedeutet auch ein klares und deutliches Bekenntnis zum Wettbewerb zwischen den beiden medizinischen Fakultäten der Universität Heidelberg. Die nach wie vor ungelöste Frage der Leitungsstruktur des Mannheimer Klinikums hatte das Ministerium nicht verdrängt. Insoweit erwartete es jedoch einen Wandel durch Zeitablauf, wobei dieser Wandel durch den Ausbau und die Stärkung der Mannheimer Fakultät gefördert werden sollte. 8. Nachdem die Position des Ministeriums intern geklärt und nach außen kommuniziert war, entwickelten sich die Dinge sehr zügig. a) Die vom Land im 2. Halbjahr 2004 eingesetzte Medizinstrukturkommission empfahl in ihrem Abschlussbericht vom Mai 2006 die Verwirklichung des von der Mannheimer Fakultät rasch und konzentriert erarbeiteten neuen Studienkonzepts „MaReCuM“53 mit einem eigenständigen Zulassungsverfahren für den Standort Mannheim sowie den Aufbau eines Medizinisch-Biologischen Zentrums in Mannheim.54 b) Die Universität Heidelberg richtete den neuen Studiengang ein. Zum WS 2006/07 wurden die ersten Studierenden in diesem Studiengang zugelassen. c) Der Aufbau einer eigenen Vorklinik in Mannheim wurde eingeleitet. Hierfür und als Kompensation für die Heidelberger Fakultät, die Stellen und Mittel zur Mannheimer Fakultät – den vorklinischen Studienplätzen folgend – transferieren musste, stellte das Ministerium über mehrere Jahre verteilt insgesamt rund 30 Mio. Euro aus zentralen Mitteln bereit. d) Die Mannheimer Fakultät erhielt durch eine Änderung der Grundordnung der Universität Heidelberg die Bezeichnung „Medizinische Fakultät Mannheim der Universität Heidelberg“. 9. Angesichts dieser Entwicklung ist die Feststellung von Rektor Hommelhoff in der Sitzung des Senats am 11.9.2007, seiner letzten als Rektor, wonach das Problem der Hochschulmedizin Mannheim von seinem Rektorat nicht hätte gelöst werden können, nur hinsichtlich der Leitungsstruktur des Mannheimer Klinikums zutreffend. Geklärt wurden unter dem Rektorat Hommelhoff jedoch der Status der Mannheimer Fakultät und das Verhältnis der beiden medizinischen Fakultäten zueinander. Wettbewerb statt Fusion! Gewonnen hat durch diese Entwicklung die Universität Heidelberg. Sie ist die einzige Universität in Deutschland mit zwei vollausgebauten medizinischen Fakultäten mit jeweils sehr eigenständigem Profil. Durch die verschiedenen Konzepte der Wissensvermittlung in den Staatsexamensstudiengängen werden

__________ 53 MaReCuM = Mannheimer Reformiertes Curriculum für Medizin und medizinnahe Berufe. 54 Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst Baden-Württemberg (Hrsg.), Abschlussbericht der Medizinstrukturkommission – Sachverständigenkommission Universitätsmedizin – Baden-Württemberg, 2006, S. 73–75.

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unterschiedliche Studienbewerber angesprochen. Die Forschungsorientierung der beiden Fakultäten – Grundlagenforschung bei der Heidelberger Fakultät, Anwendungsbezogenheit bei der Mannheimer Fakultät – macht die Universität Heidelberg für Wissenschaftler mit unterschiedlichen Interessen in Forschung und Lehre attraktiv. Nachzutragen ist noch, dass Ende 2008 durch eine Neufassung der rechtlichen Regelungen die Leitungsstruktur des Klinikums Mannheim in dem vom Wissenschaftsrat geforderten Sinn verändert wurde.

IV. Peter Hommelhoff 1. Begegnet bin ich Peter Hommelhoff zum ersten Mal anlässlich der konstituierenden Sitzung des Hochschulrats der Universität Heidelberg am 20.10.2000. Er war eines der internen Mitglieder dieses Gremiums. Sein Gewicht und seine Stellung innerhalb der Universität wurden den externen Mitgliedern und dem Verfasser als Vertreter des Ministeriums durch seine Wahl zum stellvertretenden Vorsitzenden deutlich. Aus dieser Sitzung in Erinnerung geblieben ist die Diskussion um die Bezeichnung des neuen Gremiums – Universitätsrat versus Hochschulrat – wobei Peter Hommelhoff aus dem Selbstverständnis einer über 600 Jahre alten Universität argumentierte. Eine Argumentation, der jeder mit etwas Verständnis und Aufgeschlossenheit gegenüber derartigen Erwägungen nur zustimmen konnte. Aber nicht jeder durfte es. 2. Über unser erstes intensives Gespräch wurde bereits berichtet, vgl. Abschnitt I. 3. d). Dieses Gespräch war der Auftakt zu zahlreichen weiteren Gesprächen, Begegnungen und Gremiensitzungen, in denen der Verfasser Peter Hommelhoff näher kennen und schätzen gelernt hat. Gremiensitzungen gehören zu den Dienstaufgaben von Hochschulrektoren und Ministerialen. Gemeinsam mit Peter Hommelhoff gehörte der Verfasser dem Aufsichtsrat des Universitätsklinikums Heidelberg und dem Kuratorium der Hochschule für Jüdische Studien an. Gemeinsam war darüber hinaus die Teilnahme an den Sitzungen des Hochschulrats der Universität und an den Dienstbesprechungen des Wissenschaftsministers mit den Universitätsrektoren. 3. Der Hochschule für Jüdische Studien, der kleinen Schwester der Ruperto Carola, galt die besondere Aufmerksamkeit und fürsorglich begleitende Achtsamkeit des 747. Rektors der Universität Heidelberg. Die Hochschule für Jüdische Studien befand sich zu Beginn dieses Jahrhunderts in einer ernsten, selbst zu verantwortenden Führungskrise. Diese konnte erfolgreich ohne relevante negative publizistische Begleitung überwunden werden. Hierzu hat Peter Hommelhoff als Rektor der Ruperto Carola maßgeblich beigetragen. 4. Dienstbesprechungen des Wissenschaftsministers mit den Universitätsrektoren fanden mit einer gewissen Regelmäßigkeit – ein- bis zweimal pro Jahr – statt; standen größere Reformvorhaben, wie beispielsweise ein neues Gesetz an, auch häufiger. Entsprechend dem Comment der Rektoren lag bei diesen Besprechungen die Gesprächsführung beim Vorsitzenden der Landesrektoren811

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konferenz. Peter Hommelhoff konzentrierte sich auf die Mitwirkung in Arbeitsgruppen, die den Auftrag hatten, konkrete Themen aufzuarbeiten und für eine Beschlussfassung vorzubereiten – seien es interne der Landesrektoren oder gemeinsame mit dem Ministerium. Hier zeigte sich einerseits pragmatische administrative Erfahrung, aber auch ein ausgeprägter Gestaltungswille: Wer das erste Papier vorlegt, bestimmt die weitere Diskussion und damit vielfach den weiteren Gang der Dinge! 5. Im Aufsichtsrat des Universitätsklinikums Heidelberg legte Peter Hommelhoff sein besonderes Augenmerk darauf, dass in der für das Universitätsklinikum bestimmenden Trias von Krankenversorgung – Wissenschaft/Forschung – Ökonomie, die Aspekte von Forschung und Lehre immer ausreichend behandelt und mitbedacht wurden. Sein Leitbild schien insoweit das Modell eines Universitätsklinikums zu sein, das Krankenversorgung nur in dem Umfang betreibt, wie Lehre und Forschung dies erfordern. Er akzeptierte aber auch, dass Modell und Wirklicht gerade hinsichtlich des Gewichts der Krankenversorgung nicht übereinstimmen konnten, da in den Städten mit medizinführenden Universitäten keine kommunalen oder Kreiskrankenhäuser bestehen, so dass die Universitätsklinika deren Aufgaben in der Medizinversorgung mitübernehmen müssen. Wichtig war Peter Hommelhoff darüber hinaus, dass die Verbindung zwischen Universität und Universitätsklinikum nicht nur bei den allfälligen Gelegenheiten beschworen, sondern tatsächlich auch gelebt wurde. 6. Nach den gesetzlichen Vorgaben besteht zwischen Rektorat und Hochschulrat eine dem Verhältnis zwischen Vorstand und Aufsichtsrat einer Kapitalgesellschaft nachempfunde Situation.55 Eine solche Situation kann zelebriert werden. Dies geschah. Peter Hommelhoff genoss es, die Mitglieder des Hochschulrats an der fast grenzenlosen Breite und Tiefe seines Wissens und seiner Kenntnisse, die durch seine Aufgabe als Sprecher der „Universitätsbank“ in der Hochschulrektorenkonferenz weit über die „provinzielle“ baden-württembergische Hochschulpolitik und -landschaft in den bundesrepublikanischen und europäischen Rahmen reichte, großzügig – und gelegentlich durchaus wohlwollend-gönnerhaft – teilhaben zu lassen, auf dass diese sich auch bewusst würden, wer die Ruperto Carola sachkundig, glanzvoll und würdig in der Welt der Wissenschaft und des Geistes repräsentiert. Sitzungen des Hochschulrats der Universität Heidelberg hatten daher für den Verfasser gelegentlich auch einen beachtlichen Unterhaltungswert, der bewusst genossen wurde. 7. Das Verhältnis des Wissenschaftsministeriums und seiner Vertreter zu den einzelnen Hochschulen und ihren Repräsentanten wird maßgeblich von den jeweiligen Akteuren geprägt. Dennoch lässt sich dieses Verhältnis modellhaft erfassen, indem die Spannweite möglichen Verhaltens durch eine Beschreibung der Eckpunkte aufgezeigt wird.

__________ 55 Hierzu Hommelhoff in FS Jayme, Bd. 2, 2004, Unternehmerische Leitungsstrukturen in der Universität?, S. 1133–1139.

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a) Das „Misstrauens-Modell“ wird geprägt durch die Auffassung und ein entsprechendes Verhalten der Hochschulvertreter, wonach ein die Rechts- und Fachaufsicht führendes Ministerium sozusagen der geborene Widersacher einer auf Wahrung ihrer Autonomie bedachten Hochschule ist, ja sein muss. Demgemäß ist das Verhältnis der Hochschule zum Ministerium von ausgeprägter Zurückhaltung, ja von offenem Misstrauen bestimmt. Beispiele hierfür finden sich unter allen Hochschularten. b) Das am anderen Ende der Bandbreite angesiedelte „Vertrauens-Modell“ wird geprägt durch die übereinstimmende und gemeinsame Auffassung, zum Wohl der Institution an einem Strang ziehen zu müssen. Dies bedeutet jedoch nicht, dass immer Konsens darüber herrscht, in welcher Richtung gezogen werden muss. Dies herauszufinden bedarf der Diskussion und der Bereitschaft, sich die gegenseitigen Argumente nicht nur anzuhören, sondern gegebenenfalls auch die Überlegenheit der Argumente des Gesprächspartners anzuerkennen. Es wird nicht überraschen, wenn ich feststelle, dass Grundlage des Handelns von Peter Hommelhoff und des Verfassers das gegenseitige Vertrauen war, das in dem ersten Gespräch Ende 2000 gründete, wuchs und – aus der Warte des Verfassers betrachtet – nicht enttäuscht wurde. Wir haben gemeinsam in vielen Gesprächen und Einzelfragen um die richtige Entscheidung für die Ruperto Carola gerungen, wobei dem Verfasser die Aufgabe zu viel neben den Interessen der Universität Heidelberg auch die hochschulpolitischen Interessen des Landes und/oder die Interessen anderer Hochschulen, vorzugsweise der Universität Mannheim, in die Entscheidungsfindung mit einzubringen. Dies bedeutete harte sachliche Auseinandersetzungen. Diese erfolgten jedoch immer in einer Art und Weise, die es – nachdem die Entscheidung getroffen worden war – erlaubte, sich ohne Verletzung und ohne Groll anderen Themen zuzuwenden. Erleichtert wurde dies zweifelsohne auch dadurch, dass Peter Hommelhoff und den Verfasser die Freude an der geschliffenen, häufig auch deutlich zugespitzten Formulierung verbindet, die gelegentlich auch mit Süffisanz vorgetragen wurde. Entscheidend für die ertragreiche Zusammenarbeit mit Peter Hommelhoff war jedoch, dass der Verfasser als Vertreter der Wissenschaftsadministration sich auf das Wort von Peter Hommelhoff verlassen konnte. Was gesagt war, galt und wurde umgesetzt. Für jeden Kenner der Administration ist einleuchtend, dass auf einer solchen Basis des Vertrauens auch schwierige und risikobehaftete Vorhaben mutig und zuversichtlich ins Werk gesetzt werden konnten. Verfasser hat Peter Hommelhoff in einem sehr persönlichen Brief anlässlich seines Ausscheidens aus dem Amt des Rektors für die guten Jahre der Zusammenarbeit gedankt. Die persönlichen Bemerkungen sollen persönlich bleiben, der damalige Dank sei aus der Rückschau von vier Jahren erneuert und bekräftigt.

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Peter-Christian Müller-Graff

Ungerechtfertigte Bereicherung im Unionsrecht Die Kondiktion als Teil der unionsrechtlichen Staatsund Unionshaftung?

Inhaltsübersicht A. Der Begriff der ungerechtfertigten Bereicherung als normative Kategorie B. Haftung auf Herausgabe einer ungerechtfertigten Bereicherung als Teil der unionsrechtlichen Staatshaftung? I. Die Vorfragen des unionsrechtlichen Haftungsbegriffs und der unionsrechtlichen Staatshaftung 1. Haftungsbegriff im Unionsrecht 2. Voraussetzungen der unionsrechtlichen Staatshaftung II. Sperrwirkung der „Francovich“Rechtsprechung? III. Die Kohärenz des unionsrechtlichen Haftungssystems 1. Die unionsrechtliche Bereicherungshaftung der Union

2. Unionsrechtliche Kondiktionshaftung der Mitgliedstaaten IV. Überschneidung von Vermögensmehrung und Vermögensminderung C. Die Rolle des Verfahrensrechts bei der Begründung einer unionsrechtlichen Erstattungspflicht I. Unionsrechtliche Unionshaftung II. Unionsrechtliche Staatshaftung III. Verfahren und materielles Recht in der Begründung einer unionsrechtlichen Haftung auf Herausgabe einer ungerechtfertigten Bereicherung

Ungerechtfertigte Bereicherung im Unionsrecht speziell als Teil der unionsrechtlichen Staats- und Unionshaftung1 ist eine Frage, die trotz oder gerade wegen der Ansätze der Unionsgerichtsbarkeit2 dogmatisch teils ungesichertes Gelände auch aus dem Sichtwinkel des den Jubilar seit vielen Jahren3 beschäftigenden Schnittfeldes von Privatrecht und Europarecht4 bezeichnet. Das positi-

__________ 1 Der Text basiert auf einem Vortrag, den der Verf. auf Einladung der Europäischen Rechtsakademie am 2. Dezember 2011 auf der Tagung „Staatshaftung Zwanzig Jahre nach Francovich“ gehalten hat. 2 Nachweise zur Judikatur zur unionsrechtlich begründeten Staatshaftung aus dem Gesichtspunkt der ungerechtfertigten Bereicherung vgl. unter B. III. 2.; zur Unionshaftung unter B. III. 1. 3 Vgl. nur Hommelhoff, AcP 192 (1992), 71 ff.; ders. in Müller-Graff (Hrsg.), Gemeinsames Privatrecht in der Europäischen Gemeinschaft, 1993, S. 287 ff. (2. Aufl. 1999, S. 361 ff.); ders., Verbraucherschutz im System des deutschen und europäischen Privatrechts, 1996. 4 Zu den Grundlinien des Schnittfelds von Privatrecht und europäischem Integrationsrecht vgl. Müller-Graff, Privatrecht und Europäisches Gemeinschaftsrecht – Gemeinschaftsprivatrecht, 1989 (2. Aufl. 1991); ders., NJW 1993, 13 ff.; ders. (Hrsg.) (Fn. 3), 1993 (2. Aufl. 1999); Ulmer, JZ 1992, 1 ff.; Hommelhoff (Fn. 3); Gebauer, Grundfragen

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vierte Unionsrecht kennt sie nicht auf seiner Landkarte ausdrücklicher Vorschriften. In der Rechtsprechung fehlt in der Begründung mitunter die dogmatische Sehschärfe oder bislang die Notwendigkeit, um das Terrain präzise zu fixieren. Das Gebiet ist nach mehreren Richtungen ungesichert: semantisch im Begriff der ungerechtfertigten Bereicherung (A), systemlokativ in der Zuordnung zur unionsrechtlichen Staatshaftung (B) und intradisziplinär im Zwischenreich von Verfahrenszuständigkeitsrecht und materiellem Recht (C). Diese drei Flanken dogmatisch kohärent abzusichern, ist nicht primäre Aufgabe der Rechtsprechung, wenn sie in einer Einzelfrage zur Entscheidung aufgerufen ist. Die kommentierende Nacherzählung von möglicherweise einschlägigen Entscheidungen des Gerichtshofs im englischen Juristenstil bleibt eher punktuell und/oder länglich einzelfallverhaftet.5 Daher ist die Rechtswissenschaft gefordert, die Landschaft zu erkunden, zu vermessen und gegebenenfalls mittels Leitpunkten normativ abzustecken. Es ist methodisch eine Aufgabe, der sich Peter Hommelhoff in seinem Spezialbereich der Zusammenschau von Kapitalgesellschaftsrecht und Europarecht in vielfältiger und herausragender Weise laufend stellt.6 Die Suche speziell nach rechtsgrundlos erlangten Vermögensvorteilen unter dem Gesichtspunkt ihrer möglichen Herausgabe oder Wertkompensation entdeckt im Feld der Praxis7 diverse Konstellationen: so etwa die dem (privaten oder öffentlichen) Arbeitgeber erbrachte Arbeitszeit, die im Widerspruch zur

__________ der Europäisierung des Privatrechts, 1998; Franzen, Privatrechtsangleichung durch die Europäische Gemeinschaft, 1999; Gebauer/Wiedmann (Hrsg.), Zivilrecht unter europäischem Einfluss, 2004 (2. Aufl. 2010); Heiderhoff, Gemeinschaftsprivatrecht, 2005 (2. Aufl. 2007); Langenbucher, Europarechtliche Bezüge des Privatrechts, 2005 (2. Aufl. 2008), jeweils m. w. N. 5 So Williams, Unjust Enrichment and public Law, A Comparative Study of England, France and the EU, 2010, S. 207–231. 6 Vgl. als Ausschnitt aus dem weit gespannten Oeuvre dieser Zusammenschau: Hommelhoff, AG 1990, 422 ff.; ders. in Müller-Graff (Hrsg.), Gemeinsames Privatrecht in der Europäischen Gemeinschaft, 1993, S. 287 ff. (2. Aufl. 1999, S. 361 ff.); ders. in Everling/Roth (Hrsg.), Mindestharmonisierung im Europäischen Binnenmarkt, 1997, S. 83 ff.; ders., RabelsZ 62 (1998), 381 ff.; ders. in Schulze (Hrsg.), Auslegung europäischen Privatrechts und angeglichenen Rechts, 1999, S. 29 ff.; ders., AG 2001, 279 ff.; ders./Helms (Hrsg.), Neue Wege in die Europäische Privatgesellschaft, 2001; ders., EuR Beiheft 1/2002, S. 147 ff.; ders. in FS Ulmer, 2003, S. 267 ff.; ders., AG 2003, 179 ff.; ders. in FS Doralt, 2004, S. 199 ff.; ders. in FS Priester, 2007, S. 245 ff.; ders., GesRZ 2008, 337 ff.; ders./Teichmann, GmbHR 2008, 897 ff.; ders./Teichmann, GmbHR 2009, 36 ff.; ders. in FS K. Schmidt, 2009, S. 671 ff.; ders./Teichmann, GmbHR 2010, 337 ff.; Boucourechliev/Hommelhoff (Hrsg.), Vorschläge für eine Europäische Privatgesellschaft, 1999; Lutter/Hommelhoff (Hrsg.), SE-Kommentar SE-VO, SEAG, SEBG, Steuerrecht, 2008. 7 Die tatsächliche oder vorausschauend imaginierte Konfliktpraxis ist für den Jubilar seit jeher eine Quelle von Anregung und Orientierung rechtswissenschaftlicher Arbeit; vgl. als Beleg dafür auch Hommelhoff/Müller-Graff/Ulmer (Hrsg.), Die Praxis der rechtsberatenden Berufe, 1999.

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Höchstarbeitszeitregelung der Richtlinie 2003/88/EG8 geleistet wurde;9 die Zahlung von Mehrwertsteuer, die unter Verstoß gegen Richtlinienvorgaben10 erhoben wurde (Fälle Marks & Spencer I11 und II;12 BP Soupergaz13); die Entrichtung von Gebühren, die unter Verstoß gegen das Diskriminierungsverbot aus (heute) Art. 18 AEUV eingezogen wurden (Fall Barra14); die Zahlung von Abgaben, die entgegen dem Verbot zollgleicher Abgaben (heute: Artt. 28, 30 AEUV) gefordert wurden (Fall Michailidis15); die Zahlung von im Widerspruch zur Niederlassungsfreiheit (heute: Art. 49 AEUV) erhobenen Körperschaftsteuern (Fälle Metallgesellschaft16 und Test Claimants17); die Zahlung indirekter Steuern, die gegen (heute) Art. 110 AEUV verstießen (Fall Dilexport18). Für eine unionsrechtlich stimmige Erfassung der Frage nach Herausgabe einer ungerechtfertigten Bereicherung (im Sinne eines unionsrechtswidrig erlangten Vorteils) und die Begründung eines derartigen Anspruchs im Rahmen der unionsrechtlichen Staatshaftung sind mehrere Fragen zu klären: zunächst diejenige des Begriffs der ungerechtfertigten Bereicherung als normativer Kategorie (A), sodann das Kernproblem, in welcher Weise die Pflicht zu deren Herausgabe als Teil der unionsrechtlichen Staatshaftung und Unionshaftung konzipiert werden kann (B), und schließlich die Frage nach der Rolle des Verfahrensrechts für die Begründung einer unionsrechtlichen Erstattungspflicht (C).

A. Der Begriff der ungerechtfertigten Bereicherung als normative Kategorie Mit dem Begriff der ungerechtfertigten Bereicherung ist jenseits eines positivierten Haftungstatbestandes eine dem Zivilrecht entstammende rechtsnormative Denkkategorie angesprochen, die auch für öffentliche Akteure von Bedeutung ist, sei es in deren zivilrechtlichem Umgang, sei es im Rahmen ihres hoheitlichen Handelns, unbeschadet von hierbei zu beachtenden Besonderheiten im Rahmen eines öffentlich-rechtlichen Erstattungsanspruchs.19 Ihre Kon-

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8 Richtlinie 2003/88/EG des Europäischen Parlaments/88/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 4.11.2003 über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung, ABl EG 2003 L 299/9 ff. 9 Vgl. als Fälle BAG, NJW 2004, 1268 („faktisches Arbeitsverhältnis“ als Rechtsgrund); OVG Hamburg, BeckRS 2011, 49454 („Treu und Glauben“ des Beamtenrechtsverhältnisses als Rechtsgrund). 10 Jetzt: Richtlinie 2006/112/EG des Rates über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem, ABl. EG 2006 L 342/1 ff. 11 EuGH, Rs. C-62/00, Slg. 2002, I-6325 (Marks & Spencer). 12 EuGH, Rs. C-309/06, Slg. 2008, I-2283 Tz. 32 ff., 41 ff. (Marks & Spencer II). 13 EuGH, Rs. C-62/93, Slg. 1995, I-1883 (BP Soupergaz). 14 EuGH, Rs. 309/85, Slg. 1988, 355 Tz. 16 ff. (Barra). 15 EuGH, verb. Rs.C-441/98 und C-442/98, Slg. 2000, I-7145 Tz. 27 ff. (Michailidis). 16 EuGH, verb. Rs. C-397/98 und C-410/98, Slg. 2001, I-1727 Tz. 80 ff. (Metallgesellschaft). 17 EuGH, Rs. C-446/04, Slg. 2006, I-11814 Tz. 202 ff. (Test Claimants in the FII Group Litigation). 18 EuGH, Rs. C-343/96, Slg. 1999, I-579 Tz. 23 ff. (Dilexport). 19 Vgl. hierzu z. B. Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, 16. Aufl. 2006, § 29 Rz. 20 ff.

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tur profiliert sich zunächst besonders deutlich im Vergleich zur rechtsnormativen Denkkategorie des Schadens. Während der Schaden die Vermögensminderung einer Person bezeichnet, ist die Bereicherung die Vermögensmehrung einer Person.20 Dieser Unterschied ist elementar für alle weiteren unionsrechtlichen Überlegungen. Verschiedene Fragen treten bekanntlich bereits im jeweiligen Ausgangspunkt auf, ob eine Vermögensminderung ein Schaden und ob eine Vermögensmehrung eine ungerechtfertigte Bereicherung im Sinne einer bestimmten Regel ist. Sowohl beim Schadensbegriff wie beim Bereicherungsbegriff geht es um eine jeweils eigenständige Bestimmung des Grundkriteriums.21 Die definitorische Zuordnung einer Vermögensveränderung zu Schaden und/oder Bereicherung ist wiederum Grundlage für die daran anknüpfende Frage, ob die Verminderung oder Vermehrung im Verhältnis zu einer anderen Person rechtlich ausgleichbar ist. Ist eine Vermögensverminderung durch das rechtswidrige Verhalten eines anderen erfolgt, stellt sich regelmäßig die Frage einer Schadensersatzhaftung. Ist hingegen eine Vermögensvermehrung erfolgt, entsteht die Frage, ob sie ohne rechtlichen Grund auf Kosten eines anderen erfolgt und deshalb an diesen herauszugeben ist. Beides kann im Einzelfall koinzidieren. Im Falle der eigenständigen Bestimmung des Grundkriteriums für Schaden und Bereicherung entfalten sich unterschiedliche Fragen in den jeweiligen tatbestandlichen Voraussetzungen einer bestimmten positivierten Rechtsordnung, so etwa im deutschen Zivilrecht bei der Schadensersatzhaftung nach §§ 249 ff. BGB die Fragen der Berücksichtigung von Nutzungsausfall, Vorteilsausgleichung und entgangenem Gewinn,22 bei der Bereicherungshaftung nach §§ 812 ff. BGB diejenigen der Einbeziehung von Nutzungsmöglichkeiten, erwirtschafteten Gewinnen und Entreicherung.23 Wie speziell eine herauszugebende ungerechtfertigte Bereicherung zu bestimmen und einzugrenzen ist, hängt im Einzelnen im Tatbestand und in der Rechtsfolge naturgemäß vom jeweils einschlägigen Rechtssystem ab. Im rechtsgeschichtlichen und rechtspositiven Vergleich zeigen sich mannigfache Erscheinungsformen,24 allerdings zugleich in Kontinentaleuropa, so will es scheinen, letztlich auch relativ stabile Grundkategorien im dogmatisch entwickelten Kondiktionenrecht, das sich in den aus dem römischen Aktionensystem

__________ 20 Vgl. Hagen in FS Larenz, 1973, S. 867 ff. 21 Vgl. einerseits zum Schadensbegriff Vieweg in Staudinger/BGB. Eckpfeiler des Zivilrechts, 2005, S. 371 ff.; andererseits zum Begriff der Bereicherung Martinek, ebda., S. 758 (differenzierende Bestimmung des „erlangten Etwas“). 22 Vgl. Vieweg (Fn. 21), S. 371, 378, 380, 387. 23 Vgl. Martinek (Fn. 21), S. 777 ff. 24 Vgl. Zweigert/Kötz, Einführung in die Rechtsvergleichung, Band II: Institutionen, 1969, S. 246 ff.; Schäfer, Das Bereicherungsrecht in Europa: Einheits- und Trennungslehren im gemeinen, deutschen und englischen Recht, 2001; als Aufriss der dogmengeschichtlichen Entwicklung des Bereicherungsrechts vgl. Reuter/Martinek, Ungerechtfertigte Bereicherung, 1983, S. 4 ff. 766 ff.; vgl. des weiteren Dawson, Unjust Enrichment. A Comparative Analysis, 1951; Donatuti, Le „Causae“ delle „Condictiones“, 1951; Krebs, Restitution at the Crossroads: A Comparative Analysis, 2001.

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hervorgegangenen25 oder von ihm geprägten nationalen Rechtsordnungen findet.26 Die dabei entstandene Unterscheidung verschiedener Gruppen ungerechtfertigter Bereicherungen legislativ durch einen Einheitstatbestand zu überwinden, ist auch dem Gesetzgeber des BGB trotz seines pandektistisch geprägten, generalklauselartigen Ansatzes27 nicht mit dauerhafter Wirkung auf Rechtstheorie und Rechtsprechung gelungen.28 In der konzeptionellen und judikativen Gegenwart des deutschen Rechts wird dies namentlich von der durch den finalen Leistungsbegriff29 geschaffenen großen Dichotomie zwischen Leistungskondiktion und Kondiktion in sonstiger Weise mit ihren unterschiedlichen Voraussetzungen ausgedrückt, die jeweils wiederum verschiedene Untergruppen umfassen.

B. Haftung auf Herausgabe einer ungerechtfertigten Bereicherung als Teil der unionsrechtlichen Staatshaftung? Nähert man sich mit diesem Verständnishintergrund der Frage, ob ungerechtfertigte Bereicherung Teil der unionsrechtlichen Staatshaftung sein kann, wie sie von der „Francovich“-Rechtsprechung des EuGH entwickelt worden ist, so sind zunächst zwei Vorfragen zu klären (I.), ehe der Begründbarkeit einer unionsrechtlichen Kondiktionshaftung von Mitgliedstaaten und Union nachgegangen werden kann (II. bis IV.). I. Die Vorfragen des unionsrechtlichen Haftungsbegriffs und der unionsrechtlichen Staatshaftung Die beiden Vorfragen betreffen den Haftungsbegriff im Unionsrecht (1.) und die Grundlagen der unionsrechtlichen Staatshaftung (2.). 1. Haftungsbegriff im Unionsrecht Der Begriff der Haftung im unionsrechtlichen Sinne bereitet für die Herausgabe einer ungerechtfertigten Bereicherung nur dann Schwierigkeiten, wenn man ihn auf die Haftung für Schäden begrenzt. Denn der Ausgleich einer Vermögensminderung ist offenkundig ein aliud zur Herausgabe einer Vermögensmehrung. Indes besteht kein unionsrechtlicher Grund für eine derartige Beschränkung. Die Pflicht, eine Vermögensmehrung herauszugeben, ist ebenso eine zu begleichende Schuld wie die Pflicht, die Vermögensminderung einer Person aus-

__________ 25 Wieling, Ungerechtfertigte Bereicherung, 2. Aufl. 1998; Reuter/Martinek (Fn. 24), S. 6 ff. 26 So für das deutsche Recht Reuter/Martinek (Fn. 24), S. 15. 27 Vgl. hierzu Reuter/Martinek (Fn. 24), S. 15 ff., 21. 28 Zur Theorienentwicklung von der Einheitslehre zur Trennungslehre ebda., S. 22 ff., 26 ff., 32 ff. mit skeptischer Beurteilung der Versuche einer Kehrtwendung, S. 35 ff., 38. 29 Konzipiert von Kötter, AcP 153 (1954), 193 ff.; sich diesem Begriff anschließend die Rechtsprechung seit BGHZ 48, 70, 73.

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zugleichen. In beiden Fällen geht es darum, dass eine Person verpflichtet ist, einer anderen eine Leistung zu erbringen, wie dies das deutsche Schuldrecht in seiner Eingangsnorm (§ 241 BGB) in treffend knapper Formulierung zum Ausdruck bringt. 2. Voraussetzungen der unionsrechtlichen Staatshaftung Ob allerdings die unionsrechtswidrige Mehrung mitgliedstaatlichen Vermögens der unionsrechtlichen Staatshaftung unterfällt, hängt zuallererst von deren Grundlagen ab. Diese ist bekanntlich primärrechtlich nicht ausdrücklich vorgesehen und wird durch die speziellen Vorschriften des Art. 260 Abs. 2 und 3 AEUV im Vertragsverletzungsverfahren weder funktional noch inhaltlich abgedeckt. Sie wurde aber von der Rechtsprechung als Schadensersatzhaftung entwickelt: nämlich im Grundsatz aus der Pflicht zur Gemeinschaftstreue (heute Loyalitätspflicht: Art. 4 Abs. 3 EUV) in Verbindung mit dem Gedanken der effizienten Durchsetzung des Unionsrechts30 und hinsichtlich der inhaltlichen Ausprägung aus Anregungen der unionsrechtlichen außervertraglichen Haftung der Union in (heute) Art. 340 Abs. 2 AEUV.31 In der daraus entwickelten Drei-Kriterien-Judikatur des EuGH hat danach ein Mitgliedstaat, der hinreichend qualifiziert gegen eine Rechtsnorm verstoßen hat, die bezweckt, dem Einzelnen Rechte zu verleihen, und dessen Verstoß den Schaden einer Person verursacht hat, diesen zu ersetzen, ohne dass es noch gesondert auf ein Verschulden ankommt (wobei dieser Verzicht allerdings im Wesentlichen durch das Erfordernis der hinreichenden Qualifikation des Verstoßes kompensiert wird).32

__________ 30 EuGH, verb. Rs. C-6/90 und C 9/90, Slg. 1991, I-5357 (Francovich u.a./Italien) Tz. 32 f. (Sicherstellung der vollen Wirksamkeit der gemeinschaftsrechtlichen Bestimmungen) und Tz. 36 (hier Bezugnahme auf den seinerzeitigen Art. 5 EWGV; heute Art. 4 Abs. 3 EUV); ebenso EuGH, verb. Rs. C-46/93 und C-48/93, Slg. 1996, I-1026 (Brasserie du Pêcheur/Factortame) Tz. 39 und zusätzlicher Beiziehung der Aufgabe des EuGH, das Recht zu wahren in Tz. 27 (seinerzeit Art. 164 EWGV; heute Art. 19 EUV). 31 Pointiert in EuGH, verb. Rs. C-46/93 und C-48/93 (Fn. 30), Tz. 41 f., 53 unter Hinweis auf die von Art. 215 Abs. 2 EWGV (heute Art. 340 Abs. 2 AEUV) bezogenen, den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten gemeinsamen allgemeinen Rechtsgrundsätzen und auf das Gebot paralleler Schutzregeln zugunsten Einzelner, falls nicht ein besonderer Grund zur Abweichung besteht. 32 Zu diesen Voraussetzungen EuGH, verb. Rs. C-46/93 und C-48/93 (Fn. 30), Tz. 51 ff., 55, 79. Obwohl es danach auf ein Verschulden nicht ankommt, umfassen die vom EuGH für die Frage eines hinreichend qualifizierten Verstoßes genannten, vom mitgliedstaatlichen Gericht zu berücksichtigenden Gesichtspunkte auch Verschuldenstopoi: „das Maß der Klarheit und Genauigkeit der verletzten Vorschrift, der Umfang des Ermessensspielraums, den die verletzte Vorschrift den nationalen oder Gemeinschaftsbehörden belässt, die Frage, ob der Verstoß vorsätzlich oder nicht vorsätzlich begangen oder der Schaden vorsätzlich oder nicht vorsätzlich zugefügt wurde, die Entschuldbarkeit oder Unentschuldbarkeit eines etwaigen Rechtsirrtums und der Umstand, dass die Verhaltensweisen eines Gemeinschaftsorgans möglicherweise dazu beigetragen haben, dass nationale Maßnahmen oder Praktiken in gemeinschaftsrechtswidriger Weise unterlassen, eingeführt oder aufrechterhalten wurden.“ (Tz. 56).

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Bleibt man bei diesen Voraussetzungen, kann es zu einer Herausgabe einer rechtsgrundlos erhaltenen Vermögensmehrung nur insoweit kommen, als diese mit dem Schaden eines Einzelnen faktisch koinzidiert. Anders ist die Frage jedoch zu beantworten, wenn sich die Schadensersatzhaftung nur als eine besondere Form der außervertraglichen unionsrechtlichen Haftungsverantwortlichkeit eines Mitgliedstaats für sein unionsrechtswidriges Verhalten verstehen lässt und Art. 4 Abs. 3 UAbs. 3 EUV in Verbindung mit dem Effektivitätsgrundsatz auch als Grundlage für die Haftung auf Herausgabe einer ungerechtfertigten Bereicherung angesehen werden kann, die dann allerdings näher zu bestimmen ist. Ob sich dies grundsätzlich begründen lässt, erfordert die Abklärung mehrerer Gesichtspunkte: hierbei ist zunächst der Frage der Sperrwirkung der „Francovich“-Rechtsprechung nachzugehen (II.), sodann derjenigen der Kohärenz des unionsrechtlichen Haftungssystems (III.) und schließlich derjenigen der Behandlung der Überschneidung von Vermögensmehrung und Vermögensminderung (IV.). II. Sperrwirkung der „Francovich“-Rechtsprechung? Eine Sperrwirkung gegenüber der Begründung einer unionsrechtlichen Bereicherungshaftung von Mitgliedstaaten wegen unionsrechtswidrigen Verhaltens aus der Loyalitätspflicht des Art. 4 Abs. 3 EUV in Verbindung mit dem Effektivitätsgrundsatz ließe sich aus der „Francovich“-Rechtsprechung ableiten, wenn diese die Staatshaftung wegen hinreichend qualifiziert unionsrechtswidrigen Verhaltens zum Ausgleich von dadurch verursachten Schäden von Einzelnen nicht nur zu ermöglichen, sondern auch darauf zu beschränken bezweckte. Die Postulierung einer Bereicherungshaftung wäre mithin ausgeschlossen, wenn oder soweit die Schadensersatzhaftung die abschließende Form der Staatshaftung bei unionsrechtswidrigem Verhalten wäre. Ein derartiger Nebenzweck lässt sich aber der „Francovich“-Rechtsprechung nicht entnehmen. Hinzu kommt, dass die Rechtsprechung des EuGH weder positiviertes Primärrecht noch ein erga-omnes wirkendes Präzedenzienrecht im klassischen angloamerikanischen Sinn33 darstellt34 (methodisch irreführend ist daher die un-

__________ Der EuGH selbst schlägt bei der Ablehnung eines gesonderten Verschuldenserfordernisses diesen Bogen zu den maßgeblichen Gesichtspunkten für die Beurteilung eines hinreichend qualifizierten Verstoßes (vgl. Tz. 77 und 78). Vgl. im einzelnen Aalto, Public Liability in EU Law, 2011, S. 158 ff.; zu den Anfängen: Triantafyllou, DÖV 1992, 564 ff.; Prieß, NVwZ 1993, 118 ff.; als Zwischenbilanz: Moreira de Sousa/ Heusel (Hrsg.), Durchsetzung des Gemeinschaftsrechts von Francovich zu Köbler: Zwölf Jahre gemeinschaftsrechtliche Staatshaftung, 2004. 33 Vgl. zu dessen Charakteristika Farnsworth, An Introduction to the Legal System of the United States, 1963, S. 45 ff., 48 f. 34 Mitgliedstaatliche Gerichte können in nachfolgenden Fällen von der Rechtsprechung des EuGH abweichen, falls es sich nicht um Gerichte nach Art. 267 Abs. 3 AEUV handelt. Wollen diese eine andere Auslegung einer unionsrechtlichen Bestimmung zugrunde legen als der EuGH, müssen sie die Frage dem EuGH vorlegen.

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reflektierte Bezeichnung der Rechtsprechung des EuGH als „case law“35). Der Rechtsprechung ist daher nicht verwehrt, auf der Grundlage des Art. 4 Abs. 3 EUV eine Ausdehnung der Staatshaftung auf die Herausgabe unionsrechtswidrig erlangter Bereicherung vorzunehmen. Allerdings bedarf es dazu einer eigenen bereicherungsspezifischen rechtsgedanklichen Begründung. III. Die Kohärenz des unionsrechtlichen Haftungssystems Die Kernfrage richtet sich hierbei auf die innere unionsrechtliche Stimmigkeit im Sinne der Kohärenz des unionsrechtlichen Haftungssystems im Allgemeinen und bei Vermögensverschiebungen ohne Rechtsgrund oder im Widerspruch zum Unionsrecht im Besonderen. Unter diesem Gesichtspunkt ist die Frage nach der unionsrechtlichen Staatshaftung an dieser Stelle um diejenige der unionsrechtlichen Unionshaftung zu erweitern. Zwar steht es dem Primärrechtsgeber frei, die unionsrechtliche außervertragliche Staatshaftung und die unionsrechtliche außervertragliche Unionshaftung unterschiedlich zu regeln. Auf der Grundlage und im Rahmen des positivierten Primärrechts ist allerdings der Gedanke der inneren Stimmigkeit beider Haftungsregime (Union, Mitgliedstaaten) ein legitimer Orientierungspunkt für eine in sich normativ widerspruchsfreie Rechtsordnungsgemeinschaft, soweit nicht gegenläufige Rechtsprinzipien eine Differenzierung erfordern. Unter diesem Gesichtspunkt überzeugend wurden daher die tatbestandlichen Voraussetzungen der unionsrechtlichen Staatshaftung auf Schadensersatz von der Rechtsprechung in Anlehnung zur außervertraglichen Unionshaftung des Art. 340 Abs. 2 AEUV ausgestaltet (insbesondere hinsichtlich des Kriteriums der erforderlichen Gewichtigkeit des unionsrechtlichen Verstoßes und hinsichtlich der Frage eines Verschuldenserfordernisses36). 1. Die unionsrechtliche Bereicherungshaftung der Union Die unionsrechtliche außervertragliche Unionshaftung nach Art. 340 Abs. 2 AEUV ist vom Wortlaut her ausdrücklich auf Schadensersatz begrenzt. Allerdings ergaben sich rasch Problemfelder der Bereicherung der Gemeinschaften (von denen die Fälle der ungerechtfertigten Bereicherung Dritter auf Kosten der Gemeinschaften/Union zu unterscheiden sind37): so namentlich die Zah-

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35 Zum substantiellen Begriff des case law Farnsworth (Fn. 33), S. 45 ff. Er unterscheidet sich von einer facon de parler, die die Tatsache bezeichnen will, dass in Einzelentscheidungen des EuGH Auslegungen und Regeln entwickelt werden, die hohes faktisches Praxisgewicht haben und für mitgliedstaatliche letztinstanzliche Gerichte, die davon abweichen wollen, nach Art. 267 Abs. 3 AEUV die Vorlagepflicht auslösen. 36 Vgl. dazu EuGH, verb. Rs. C-46/93 und C-48/93 (Fn. 30), Tz. 55, 79. 37 Dazu zählen insbesondere zu Unrecht erhaltene Fördermittel der EU (als ein jüngeres Beispiel etwa die Rückforderung der Kommission von Fördermitteln, die das Bezirksamt Friedrichshain-Kreuzberg aus dem Europäischen Fonds für regionale Entwicklung (Efre) erhalten hatte; vgl. Berliner Morgenpost v. 3.2.2012; als früher – zugunsten des Antragstellers entschiedener Fall – EuGH, Rs. 4 bis 13/59, Slg. 1960, 11 (Mannesmann/Hohe Behörde); s. auch von Bogdandy in Grabitz/Hilf (Hrsg.), Das

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lung von Kartellbußgeldern durch Unternehmen, ohne dass dafür ein Rechtsgrund besteht (namentlich im Fall der Rücknahme oder Nichtigerklärung einer Bußgeld-Entscheidung;38 z. B. die Fälle Corus39 und Holcim40); die Begleichung einer überhöhten Rückzahlungsforderung;41 die Leistungen der Vertragspartner eines Beihilfeempfängers der Union oder der Subunternehmer von Vertragspartnern der Union, die dieser zugute kamen, ohne dass deren Bezahlung an die Leistungserbringer erfolgte (Fälle Cantina Sociale42 und Masdar43). Es liegt auf der Hand, dass es hier Konstellationen geben kann, in denen ein Behaltendürfen des von der Union Erlangten oder die Verweigerung eines Ausgleichs hierfür einem allgemeinen Rechtsgedanken widerspräche, das rechtsgrundlos auf Kosten eines anderen Erhaltene herausgeben oder ausgleichen zu müssen. Will man daher eine Herausgabepflicht nicht rundweg ablehnen, sind im geltenden Unionsrecht zur Lösung dieser Problematik modellmäßig grundsätzlich zwei Lösungsansätze zu bedenken: entweder die Bildung eines einheitlichen außervertraglichen Haftungstatbestands auf der Grundlage des Art. 340 Abs. 2 AEUV (a) oder eine getrennte Konzipierung außervertraglicher Haftungstatbestände der Union (b). a) Das Modell des einheitlichen unionsrechtlichen außervertraglichen Haftungstatbestands. Bei der Bildung eines einheitlichen außervertraglichen Haftungstatbestands auf der Grundlage des Art. 340 Abs. 2 AEUV besteht schon im Ansatz die Gefahr, die Kategorien von Schaden und Bereicherung zu vermischen.44 Gleichwohl hat sich die Rechtsprechung der Unionsgerichte in zwei Verfahren auf diesen brüchigen Weg eingelassen. aa) Im Fall Cantina Sociale/Kommission45 ging es um Wein, der im Rahmen eines vom Europäischen Ausrichtungs- und Garantiefonds für Landwirtschaft (EAGFL) finanzierten Programms von sardinischen Erzeugern an einen Destillateur geliefert worden war. Der Wein war vom Destillateur nicht bezahlt

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Recht der Europäischen Union, Art. 288 EGV Rz. 3) und Vergütungen an Bedienstete der EG/EU, die diesen nicht zustanden; vgl. dazu namentlich EuGH, Rs. 36/72, Slg. 1973, 527 (Meganck/Kommission); EuGH, Rs. 71/72, Slg. 1973, 705 (Kuhl/Kommission); EuGH, Rs. 142/78, Slg. 1979, 3125 (Exner/Kommission); dargestellt bei Williams (Fn. 5), S. 212 ff. Davon wiederum unterscheidbar sind die Fälle, in denen ein Unternehmen von einem Mitgliedstaat unionsrechtswidrig Beihilfen erhielt. Diese sind vom Mitgliedstaat gemäß dem Rückforderungsbeschluss der Kommission auf der Grundlage nationalen Rechts im Rahmen der unionsrechtlichen Vorgaben zurückzufordern; vgl. Koenig/Paul in Streinz (Hrsg.), EUV/AEUV, 2. Aufl. 2012, Art. 107 Rz. 24 ff. Zur Frage der Wirkung einer derartigen Nichtigerklärung auf nicht am Nichtigkeitsverfahren Beteiligte s. unten B. III. 1. c) dd). EuG, Rs. T-171/99, Slg. 2001, II-2967 Tz. 55 (Corus UK/Kommission). EuG, Rs. T-28/03, Slg. 2005, II-1357 (Holcim/Kommission). So im Ansatz EuGH, Rs. C-259/87, Slg. 1990, I-2845 (Griechenland/Kommission). EuG, Rs. T-166/98, Slg. 2004, II-3991 Tz. 22 (Cantina Sociale/Kommission); EuGH, Rs. C-51/05 P, Slg. 2008, I-5341 (Kommission/Cantina Sociale). EuG, Rs. T-333/03, Slg. 2006, II-4377 (Masdar/Kommission); EuGH, Rs. C-47/07 P, Slg. 2008, I-9761 (Masdar/Kommission). Zur Kategorienbildung, s. oben A. S. oben Fn. 42.

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worden. Zwar hatte er die EG-Beihilfe erhalten, fiel aber in Konkurs. Die für diesen Fall gestellte Kaution wurde letztlich zugunsten des EAGFL verbucht.46 Die Kommission verweigerte den klagenden Erzeugern die Zahlung.47 Den Antrag auf Herausgabe einer ungerechtfertigten Bereicherung lehnte das Gericht erster Instanz zutreffend als unzulässig ab, da der EG-Vertrag eine Bereicherungsklage nicht vorsehe.48 Es hielt aber ein solches Begehren im Rahmen der Schadensersatzklage nach Art. 235 EGV (heute: Art. 268 AEUV) für möglich,49 bejahte die Bereicherung50 sowie einen allgemeinen Rechtsgrundsatz des Verbots der ungerechtfertigten Bereicherung51 sowie einen hinreichend qualifizierten Verstoß der Kommission, weil diese in ihrer Verordnung über die vorbeugende Destillation keinen hinreichend geeigneten Zahlungsmechanismus vorgesehen habe, der die Auszahlung der Beihilfe an die betroffenen Erzeuger im Falle der Insolvenz des Destillateurs gewährleistet hätte.52 Am Ende rubriziert das EuG das Begehren aber wieder als Schadensersatz.53 Der EuGH hat dieses Urteil 2008 aufgehoben, ohne aber zur Frage der Bereicherungshaftung Stellung zu nehmen.54 bb) In Masdar/Kommission prüfte das EuG 2006 einen Anspruch auf Herausgabe einer ungerechtfertigten Bereicherung auf der Grundlage der Artt. 288 Abs. 2, 235 EGV55 (heute Artt. 340 Abs. 2, 268 AEUV), verneinte ihn allerdings im konkreten Fall. Hierbei ging es um Leistungen des Subunternehmers eines Vertragspartners der Kommission im Rahmen des TACIS-Programms zum Aufbau einer privaten Vereinigung landwirtschaftlicher Betriebe in Moldavien.56 Sie wurden vom Hauptunternehmer nicht bezahlt, obwohl er von der Kommission das Geld erhalten hatte. Der Subunternehmer machte u. a. einen Anspruch aus ungerechtfertigter Bereicherung gegen die Kommission geltend.57 Das EuG sah jedoch den Rechtsgrund für die eventuelle Bereicherung oder Entreicherung in den vertraglichen Beziehungen zwischen Kommission und Hauptunternehmer einerseits und Hauptunternehmer und Subunternehmer andererseits.58 Dies ähnelt rechtsgedanklich dem im deutschen Kondiktionsrecht für Dreiecksverhältnisse entwickelten Vorrang der Leistungsbeziehung vor anderen Beziehungen.59 Das EuG begründet die Einschlägigkeit des

__________ 46 47 48 49 50 51 52 53 54 55 56 57 58 59

EuG, Rs. T-166/98 (Fn. 42), Tz. 18, 21 f., 32, 39 ff. EuG, Rs. T-166/98 (Fn. 42), Tz. 1, 42. EuG, Rs. T-166/98 (Fn. 42), Tz. 84. EuG, Rs. T-166/98 (Fn. 42), Tz. 84, 154 ff., 157 ff. EuG, Rs. T-166/98 (Fn. 42), Tz. 159. EuG, Rs. T-166/98 (Fn. 42), Tz. 160. EuG, Rs. T-166/98 (Fn. 42), Tz. 162, 176. EuG, Rs. T-166/98 (Fn. 42), Tz. 179. EuGH, Rs. C-51/05 P (Fn. 42). EuG, Rs. T-333/03 (Fn. 43), Tz. 59 ff., 91 ff. EuG, Rs. T-333/03 (Fn. 43), Tz. 2. EuG, Rs. T-333/03 (Fn. 43), Tz. 68, 70 ff. EuG, Rs. T-333/03 (Fn. 43), Tz. 97 ff. Vgl. hierzu den genannten Subsidiaritätsgrundsatz der Bereicherung in sonstiger Weise im Verhältnis zur Leistungskondiktion im Dreiecksverhältnis. vgl. BGHZ 40, 272, 278; 56, 228, 240; dazu Reuter/Martinek (Fn. 24), S. 399 ff.

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Art. 288 Abs. 2 EGV damit, dass dessen Wortlaut den Tatbestand nicht auf rechtswidriges oder schuldhaftes Verhalten begrenze und deshalb auch rechtmäßiges Verhalten darunter fallen könne.60 Das EuG verzichtet auf das Erfordernis der Rechtswidrigkeit mit der zusätzlichen sehr allgemeinen Überlegung, dass nach dem Recht der Mitgliedstaaten über die außervertragliche Haftung der Einzelne bestimmte Schäden auch ohne rechtswidrige Handlung des Verursachers ersetzt bekommen könne61 und bringt hierbei auch den Gedanken der Geschäftsführung ohne Auftrag ins Spiel.62 Diese Überlegungen sind hinsichtlich des Fehlens des Erfordernisses von Rechtswidrigkeit und Verschulden im Wortlaut des Art. 288 Abs. 2 AEUV zwar zutreffend. Gleichwohl wird damit begrifflich und rechtsgedanklich aus einer Bereicherung oder Aufwendung noch kein Schaden. Der EuGH bestätigte 2008 diese extensive Auslegung der Artt. 235, 288 Abs. 2 EGV63 mit dem Gedanken, dass eine Verpflichtung aus ungerechtfertigter Bereicherung eine außervertragliche Haftung darstelle.64 Dies ist zwar eine zivilrechtsdogmatisch abstrakt zutreffende Qualifikation des Haftungsgrunds, trifft aber nicht den spezifischen Haftungsinhalt der auf Schadensersatz ausgerichteten Vorschriften. Der EuGH begründet wie folgt: „Zwar fällt eine auf ungerechtfertigte Bereicherung gestützte Klage nicht unter die Regelung der außervertraglichen Haftung im strengeren Sinne, die ausgelöst wird, wenn eine Reihe von Voraussetzungen erfüllt ist, nämlich die Rechtswidrigkeit des der Gemeinschaft zur Last gelegten Verhaltens, das Vorliegen eines Schadens und das Bestehen eines Kausalzusammenhangs zwischen diesem Verhalten und dem geltend gemachten Schaden … Von den aufgrund dieser Regelung erhobenen Klagen unterscheidet sich diese Klage dadurch, dass weder ein rechtswidriges Verhalten des Beklagten nachgewiesen werden noch überhaupt ein Verhalten gegeben sein muss, sondern dass lediglich der Nachweis zu erbringen ist, dass der Beklagte ohne wirksame Rechtsgrundlage bereichert und der Kläger im Zusammenhang mit dieser Bereicherung entreichert ist. Jedoch kann dem Einzelnen trotz dieser Merkmale die Möglichkeit, eine auf ungerechtfertigte Bereicherung gestützte Klage gegen die Gemeinschaft zu erheben, nicht allein deshalb verwehrt werden, weil der EG-Vertrag nicht ausdrücklich eine für diese Klage bestimmte Klagemöglichkeit vorsieht. Eine Auslegung der Art. 235 EG und 288 Abs. 2 EG, die diese Möglichkeit ausschlösse, würde zu einem Ergebnis führen, das dem in der Rechtsprechung des Gerichtshofs verankerten und in Art. 47 der … Charta der Grundrechte … bekräftigten Grundsatz des effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes widerspräche.“65 b) Diese Begründung hat zwei Schichten: eine kondiktionsrechtliche und eine kompetenzrechtliche. In kondiktionsrechtlicher Hinsicht beinhaltet die Begründung eine Vermengung mit rechtsgedanklich unterschiedlich zu begrün-

__________ 60 61 62 63 64 65

EuG, Rs. T-333/03 (Fn. 43), Tz. 59 ff. EuG, Rs. T-333/03 (Fn. 43), Tz. 64. EuG, Rs. T-333/03 (Fn. 43), Tz. 91 ff. EuGH, Rs. C-47/07 P (Fn. 43), Tz. 48. Ebda. Tz. 48, 55. Ebda. Tz. 49.

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denden außervertraglichen Haftungstatbeständen und bleibt hoch abstrakt. In kompetenzrechtlicher Hinsicht wird indes der Kern dieser haftungsrechtlich kombinatorischen (oder verdrehten) Überlegung deutlich. Es geht zugleich um anderes als um die Voraussetzungen und Rechtsfolgen einer Bereicherungshaftung. Mit der Argumentation des EuGH einher läuft die Begründung der Direktzuständigkeit der Unionsgerichtsbarkeit, die diese über Art. 235 EGV (heute Art. 268 AEUV) herzuleiten sucht. Fragen der judikativen Direktzuständigkeit und der Begründung des materiell-rechtlichen Anspruchs werden dadurch in der Begründung vermengt. aa) Zur inhaltlichen Begründung eines allgemeinen Rechtsgrundsatzes der Pflicht zur Herausgabe einer ungerechtfertigten Bereicherung kann sich der Gerichtshof der Europäischen Union (im Sinne des Art. 19 Abs. 1 Satz 1 EUV: Gerichtshof, Gericht, Fachgerichte) durchaus auf seine Elementaraufgabe aus Art. 19 Abs. 1 Satz 2 EUV („das Recht zu wahren“) berufen. Die Unionsgerichtsbarkeit kann hieraus funktionell einen allgemeinen Rechtsgrundsatz des Verbots ungerechtfertigter Bereicherung legitimieren, wie sie ihn einleuchtend bereits seit einiger Zeit anerkennt: so schon 1990 in der Entscheidung des EuGH Griechenland/Kommission66 und sodann in Entscheidungen des EuG seit 2001 in Corus,67 Cantina Sociale,68 Vieira69 und Masdar70 und des EuGH in Masdar,71 van Dijk72 und jüngst Agrana Zucker.73 Sie kann schließlich durchaus auch den Gedanken des effektiven Rechtsschutzes aus Art. 47 GRCh heranziehen und diesen gegebenenfalls auch auf das Erfordernis einer effektiven Verwirklichung der subjektiven Rechte der Marktgrundfreiheiten stützen. bb) Diese Überlegungen allein genügen jedoch nicht zur Begründung einer primären Jurisdiktionszuständigkeit der Unionsgerichtsbarkeit. Denn Art. 19 EUV ist ein Ziel und keine Verfahrenskompetenz. Und Art. 51 Abs. 2 GRCh schließt die Begründung neuer Zuständigkeiten ausdrücklich aus. Damit aber ist man bei des Pudels Kern der Argumentation, dem Kompetenzproblem, und damit bei der unbeantworteten Frage, warum andere Verfahren vor der Unionsgerichtsbarkeit und vor allem nationale Verfahren (die Union ist rechtsfähig) mit Vorlageverfahren nach Art. 267 AEUV nicht genügen sollen. In der wichtigsten Problemgruppe, derjenigen der Erstattung von rechtsgrundlos gezahlten Kartellgeldbußen an die Union (namentlich ex-tunc-Nichtigkeits-

__________ 66 67 68 69 70 71 72 73

EuGH, Rs. C-259/87, Slg. 1990, I-2845 (Griechenland/Kommission). EuG, Rs. T-171/99, Slg. 2001, II-2967 Tz. 55 (Corus UK/Kommission). EuG, Rs. T-166/98, Slg. 2004, II-3991 Tz. 160 (Cantina Sociale). EuG, verb. Rs. T-44/01, T-119/01 und T-126/01, Slg. 2003, II-1209 Tz. 86 (Vieira/ Kommission). EuG, Rs. T-333/03, Slg. 2006, II-4377 Tz. 91 ff. (Masdar/Kommission). EuGH, Rs. C-47/07 P (Fn. 43). EuGH, Rs. C-470/08, Slg. 2010, I-603 Tz. 41 f. (van Dijk). EuGH, Rs. C-309/10, Urteil v. 28.7.2011 Tz. 54 (Agrana Zucker); vgl. auch HABM, GRUR-RR 2005, 379 Tz. 25 ff., 28, 29 zur rechtswidrigen Erhebung von Umschreibegebühren durch das Harmonisierungsamt für den Binnenmarkt (Hovital), hier in Verbindung mit dem Gedanken eines Folgenbeseitigungsanspruchs aus der Verletzung einer Rechtsnorm in Verbindung mit dem Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung.

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fälle), liegt ein anderer Weg zur Direktjurisdiktion des EuGH nahe. Er lässt sich in Art. 266 AEUV im Rahmen der Nichtigkeitsklage erkennen. Danach haben die Stellen, denen das für nichtig erklärte Handeln zur Last fällt, die sich aus dem Urteil des Gerichtshofs ergebenden Maßnahmen zu ergreifen. Da Art. 266 Abs. 2 AEUV ausdrücklich festlegt, dass diese Verpflichtung unbeschadet der Verpflichtungen besteht, die sich aus Art. 340 Abs. 2 AEUV ergeben, ist es ein leichtes, hier die Kompetenz für EuG und EuGH zu sehen, um im gegebenen Fall jedenfalls auf Antrag als „Maßnahme“ die Rückerstattung einer zu Unrecht gezahlten Geldbuße und den daraus gezogenen Zinsgewinn anzuordnen.74 Kosten durch das Stellen einer Bankbürgschaft wären als Schaden zu qualifizieren. cc) Inhaltlich lässt sich das Verbot ungerechtfertigter Bereicherung als allgemeiner Grundsatz des Unionsrechts befestigen, bedarf aber noch seiner Ausfaltung im Einzelnen (namentlich im Begriff der Bereicherung, der Rechtsgrundlosigkeit und der Entreicherung sowie der Bewältigung einer Bereicherung in Mehrpersonenverhältnissen). Zu Recht hat das EuG 2001 im Fall Corus75 für Art. 34 EGKSV einen derartigen Grundsatz (in Verbindung mit dem Gedanken der Wiedereinsetzung76) für die Rückzahlung einer zu Unrecht erhobenen Kartellgeldbuße samt Zinsen zugrunde gelegt77 und ihn im Fall Holcim 2005 bestätigt.78 dd) Allerdings bleibt beim Weg über Art. 266 AEUV das Problem, wie sich ein Rückerstattungsanspruch für diejenigen Adressaten einer für nichtig erklärten kartellrechtlichen Bußgeldentscheidung begründen lässt, die sich nicht an der Nichtigkeitsklage beteiligt hatten. Im Fall AssiDomän hat das EuG 1997 erklärt, dass aus Art. 176 EGV (heute Art. 266 AEUV) in Verbindung mit dem Grundsatz einer ordnungsgemäßen Verwaltung die Pflicht der Kommission folge, die Entscheidung auch gegenüber diesen Adressaten erneut zu prüfen,79 damit Art. 176 EGV nicht jede praktische Wirksamkeit verliere.80 Der EuGH hat dieses Urteil, das aus Art. 176 EGV eine Verpflichtung der Kommission zur Überprüfung ihrer Entscheidung begründet, im Ergebnis zu Recht aufgehoben.81 Es ist schon zweifelhaft, hinsichtlich dieser Dritter eine Rechtsschutzlücke anzunehmen. Sie hätten sich wehren können, haben es aber aus eigenem Entschluss nicht getan.

__________ 74 Vgl. z. B. Dannecker/Biermann in Immenga/Mestmäcker (Hrsg.), EG-Wettbewerbsrecht, 4. Aufl. 2007, Vorb. zu Art. 23 Rz. 223. 75 EuG, Rs. T-171/99 (Fn. 67). 76 EuG, Rs. T-171/99 (Fn. 67), Tz. 50, 54. 77 EuG, Rs. T-171/99 (Fn. 67) Tz. 52, 55. 78 EuG, Rs. T-28/03 (Fn. 40). 79 EuG, Rs. T-227/95, Slg. 1997, II-1185 ff. Tz. 69, 74, 90 (AssiDomän Kraft Products u.a./Kommission). 80 EuG, Rs. T-227/95 (Fn. 79), Tz. 97. 81 EuGH, Rs. C-310/97 P, Slg. 1999, I-5363 Tz. 71 (Kommission/AssiDomän Kraft Products u.a.).

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2. Unionsrechtliche Kondiktionshaftung der Mitgliedstaaten Die Begründung einer mitgliedstaatlichen Kondiktionshaftung kraft Unionsrechts muss sich mit der Frage einer Direktjurisdiktion des Gerichtshofs schon im Ansatz nicht belasten. Ungeachtet der Anregung des Art. 340 Abs. 2 AEUV für die Bestimmung der tatbestandlichen Voraussetzungen der unionsrechtlichen außervertraglichen Schadensersatzhaftung der „Francovich“-Rechtsprechung ist die Primärzuständigkeit der nationalen Gerichte für Schadensersatzklagen gegen Mitgliedstaaten unberührt geblieben. Erst über Vorlagefragen nach Art. 267 AEUV kann hier der EuGH ins Spiel kommen.82 Schon deshalb sollte bei Fragen mitgliedstaatlicher Erstattung keine Versuchung erwachsen, die rechtnormativen Elementarkategorien „Schaden“ und „Bereicherung“ wie bei der Unionshaftung zu vermengen. Die Unionsgerichtsbarkeit ist frei, in Erfüllung ihres Auftrags aus Art. 19 AEUV („das Recht“ zu wahren), in der Unionsrechtsordnung im Interesse ihrer tatsächlichen Wirksamkeit unabhängig von einer Pflicht zum Ausgleich unionsrechtswidrig verursachter Schäden auch einen allgemeinen Rechtsgrundsatz der Pflicht zum Ausgleich einer ungerechtfertigten Bereicherung zu fixieren. Dazu sind dann allerdings Voraussetzungen und Rechtsfolgen im Einzelnen zu präzisieren. Hierbei muss die Unionsgerichtsbarkeit das Rad nicht neu erfinden, sondern kann im gegebenen Fall aus der reichhaltigen Literatur zum mitgliedstaatlichen Bereicherungsrecht Anregungen ziehen.83 a) Grundsatz. Tatsächlich ist der bereicherungsrechtliche Erstattungsanspruch in den Fällen unionsrechtswidrig erhobener Abgaben und Steuern als Grundsatz seit drei Jahrzehnten, also gänzlich unabhängig von der Entwicklung der Francovich-Rechtsprechung, durch den EuGH zu Recht grundsätzlich anerkannt worden. Dies erfolgte unter Bindung an die Grundsätze der Äquivalenz und Effektivität namentlich in der Rechtssache San Giorgio zu gemeinschaftsrechtswidrig erhobenen gesundheitspolizeilichen Gebühren.84 Diese Rechtsprechung setzt sich in zahlreichen Entscheidungen fort, so etwa in Comateb,85 Metallgesellschaft,86 Weber’s Wine World87 (indirekte Steuern auf Wein), Test Claimants88 (mit bemerkenswerter Begründung der Erfordernisse

__________ 82 So beispielsweise in den Verfahren Brasserie (Fn. 30) und Dillenkofer (EuGH, verb. Rs. C-178/94, C-179/94, C-188/94, C-189/94 und C-190/94, Slg. 1996, I-4845). 83 Tatsächlich geschieht dies auch; vgl. etwa im Masdar-Verfahren die (freilich allgemein gehaltenen) Bezüge auf die allgemeinen Rechtsgrundsätze, die den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten gemeinsam sind: EuG, Rs. T-333/03 (Fn. 43), Tz. 91, 97; EuGH, Rs. C-51/05 P (Fn. 43), Tz. 44 f. Zum Erfordernis und zur Legitimität dieser Methode vgl. Müller-Graff in FS Konzen, 2006, S. 583, 588 ff. 84 EuGH, Rs. 199/82, Slg. 1983, 3595 Tz. 12 (San Giorgio); im Ansatz bereits EuGH, Rs. 33/76, Slg. 1976, 1989 (Rewe Zentralfinanz/Landwirtschaftskammer für das Saarland). 85 EuGH, verb. Rs. C-192/95 und C-218/95, Slg. 1997, I-165 Tz. 20 (Comateb). 86 EuGH, verb. Rs. C-397/98 und C-410/98 (Fn. 16), Tz. 84; vgl. dazu Tiedje/Troberg in von der Groeben/Schwarze (Hrsg.), Kommentar EU-/EG-Vertrag, 6. Aufl. 2003, Art. 43 EG Rz. 130 f. 87 EuGH, Rs. C-147/01, Slg. 2003, I-11365 Tz. 93 (Weber’s Wine World). 88 EuGH, Rs. C-446/04 (Fn. 17), Tz. 202 ff.

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eines effektiven Rechtsschutzes auf Erstattung aus den binnenmarktlichen Verkehrsfreiheiten89) und jüngst im Fall Accor.90 b) Einzelfragen. Allerdings bedarf auch hier die Ausgestaltung der tatbestandlichen Voraussetzungen und der Rechtsfolgen im Einzelnen einer rechtsgedanklich von der Schadensersatzhaftung unabhängigen Klärung. Einige Fragen ragen hierbei heraus. aa) Die erste Frage betrifft den Begriff der Bereicherung. Hierfür sollte in Anlehnung an das „erlangte etwas“ im Sinne des § 812 Abs. 1 Satz 1 BGB grundsätzlich jede Vermögensvermehrung genügen: ein finanzieller Zuwachs, Zinsgewinne, Güter, Dienstleistungen, ersparte Aufwendungen, gezogene Nutzungen. bb) Schwieriger gestaltet sich die Frage nach der Rechtsgrundlosigkeit der Vermögensmehrung. Sie ist jedenfalls zu bejahen, wenn ein Mitgliedstaat eine Vermögensmehrung zu verzeichnen hat, die daraus resultiert, dass jemand einer mitgliedstaatlichen Pflicht nachkommt (namentlich die Entrichtung von Gebühren und Steuern), die er wegen gegenläufigen Unionsrechts (z. B. Gewährleistung der Niederlassungsfreiheit oder der Nichtdiskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit) nicht hätte erfüllen müssen. Darauf, ob eine hinreichend qualifizierte Verletzung von Unionsrecht vorliegt,91 kommt es hier anders als bei der Staatshaftung auf Schadensersatz und anders als nach Ansicht des EuG im Fall Cantina Sociale92 nicht an. Der Bereicherungsanspruch ist ein eigenständiger Anspruch, bei dem lediglich die unionsrechtswidrige Vermögensverschiebung maßgeblich ist, nicht aber eine Verhaltensqualifikation, in deren Kriterien überdies auch Verschuldensgesichtspunkte eine Rolle spielen können.93 Umgekehrt besteht ein einen Erstattungsanspruch ausschließender Rechtsgrund bei Leistungen, auf die ein Mitgliedstaat einen rechtmäßigen Anspruch auf Grund eines Vertrages oder einer unionsrechtskonformen Vorschrift hat. Denkbar sind auch andere Fälle der Vermögensverlagerung, die dem Unionsrecht widersprechen, weil sie ohne rechtlichen Grund auf Kosten eines anderen erfolgen. Insoweit ist die Unionsrechtsordnung bislang über den allgemeinen Grundsatz eines Verbots der ungerechtfertigten Bereicherung hinaus nicht substantiiert ausgereift. Indes spricht nichts dagegen, in gegebenen Fällen Vermögensmehrungen, die durch einen unionsrechtswidrigen Eingriff eines Staates erfolgen, einzubeziehen (beispielsweise eine ungerechtfertigte Beschlagnahme von Gegenständen im Zuge der Durchsuchung eines Unternehmens wegen des Verdachts einer unionsrechtswidrigen Kartellabsprache). cc) Eine weitere Voraussetzung besteht darin, dass der Anspruchsteller im Zusammenhang mit der Bereicherung entreichert wurde, diese also auf seine Kosten geht. Damit verbunden ist das Problem der Berücksichtigung eines Ent-

__________ 89 90 91 92 93

Ebda., Tz. 204. EuGH, Rs. C-310/09, Urteil v. 15.9.2011 Tz. 71 (Accor). Zu diesem Erfordernis der Staatshaftung auf Schadensersatz (Fn. 30). EuG, T-166/98 (Fn. 42), Tz. 162, 176. Vgl. dazu oben Text bei Fn. 30 und 32.

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reicherungsausgleichs und hierbei namentlich die Frage, ob die Abwälzung rechtsgrundlos gezahlter Steuern, Gebühren oder Abgaben auf Dritte den Anspruch entfallen lassen soll. Darüber lässt sich streiten. Die ständige Rechtsprechung des EuGH anerkennt grundsätzlich die Ablehnung der Rückerstattung durch ein nationales Rechtssystem, wenn dadurch der Anspruchsberechtigte seinerseits bereichert würde (Urteile San Giorgio;94 Kommission/ Italien;95 Dilexport;96 Michailidis;97 Marks & Spencer II;98 Comateb;99 sowie jüngst Lady & Kid100). Dies ist jedoch eine zweifelhafte Lösung. Denn im Ergebnis behält dadurch der Mitgliedstaat Einnahmen, die ihm nach Unionsrecht nicht zustehen. Auffällig gerät der Gedanke des anspruchsausschließenden Entreicherungsausgleichs beim Anspruchsteller in die Nähe der Begründung des schadensaufhebenden Vorteilausgleichs. Zu begrüßen ist daher die jüngste Entwicklung der Rechtsprechung des EuGH in dieser Frage, die die Nichterstattung als Ausnahme „eng“ und einschränkend handhabt (Urteile Weber’s Wine World101 und Lady & Kid102). dd) Aufzuwerfen ist ferner die Frage, ob sich der in Anspruch genommene Mitgliedstaat in Anlehnung an den Rechtsgedanken des § 818 Abs. 3 BGB auf eine Entreicherung im Sinne der Verausgabung der unionsrechtswidrig eingenommenen Mittel für ansonsten nicht getätigte Maßnahmen berufen können soll. Dies ist wegen der Pflicht der Mitgliedstaaten zur Vertragstreue (Art. 4 Abs. 3 EUV) und wegen des Grundsatzes der Rechtsstaatlichkeit (Art. 2 EUV) unter dem Gesichtspunkt der Rechtmäßigkeit (und darin auch der Unionsrechtsbindung) der Verwaltung grundsätzlich abzulehnen. Es kommt allein darauf an, dass der Mitgliedstaat im Widerspruch zum Unionsrecht Einnahmen erzielt hat. Die Regel muss (auch im Interesse der Förderung der mitgliedstaatlichen Vertragstreue) lauten, dass derartige Einnahmen zurückzuerstatten sind, unabhängig davon, ob der Mitgliedstaat sie bereits für ansonsten nicht getätigte Aufwendungen verausgabt hat. IV. Überschneidung von Vermögensmehrung und Vermögensminderung Erkennt man die Staatshaftung wegen rechtsgrundloser Bereicherung als einen eigenständigen unionsrechtlichen Haftungstatbestand, stellt sich die Frage

__________ 94 EuGH, Rs. 199/82 (Fn. 84), Tz. 13. 95 EuGH, Rs. 104/86, Slg. 1988, 1799 Tz. 6 (Kommission/Italien). 96 EuGH, Rs. C-343/96 (Fn. 18), Tz. 47; danach darf allerdings den Antragsteller nicht die Beweislast für eine fehlende Abwälzung treffen. 97 EuGH, verb. Rs.C-441/98 und C-442/98 (Fn. 15), Tz. 31. 98 EuGH, Rs. C-309/06 (Fn. 12), Tz. 42. 99 EuGH, verb. Rs. C-192/95 und C-218/95 (Fn. 85), Tz. 21. 100 EuGH, Rs. C-398/09, Urteil v. 6.9.2011 Tz. 18, 19 (Lady & Kid), EuZW 2011, 722. 101 EuGH, Rs. C-147/01 (Fn. 87), Tz. 98, 101 ff., 109 ff. unter Betonung der Notwendigkeit, eine wirtschaftliche Gesamtwürdigung vorzunehmen und hierbei im Falle der Einpreisung in die Abnehmerpreise den Gesichtspunkt eines möglichen Absatzrückgangs zu berücksichtigen. 102 EuGH, Rs. C-398/09 (Fn. 102), Tz. 20: unter Hinweis auf die in dieser Ausnahme liegende Beschränkung eines subjektiven Rechts.

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seines Verhältnisses zur Francovich-Haftung in Überschneidungsfällen. Beispiele hierfür sind die unter Verstoß gegen die Grundfreiheiten erhobenen direkten Steuern.103 Sie führen einerseits zu einer rechtsgrundlosen Vermögensmehrung eines Mitgliedstaats und andererseits zu einer unionsrechtswidrigen Vermögensminderung des Belasteten. Denkbar ist daher die Konkurrenz eines Anspruchs auf Schadensersatz und eines Anspruchs auf Herausgabe einer ungerechtfertigten Bereicherung. Eine derartige Lage ist indes keine Besonderheit, sondern aus dem zivilrechtlichen Anspruchssystem vertraut und erfordert daher auch unionsrechtlich keine Vermengung in den tatbestandlichen Voraussetzungen beider Ansprüche. Ist in derartigen Fällen eine Unionsrechtswidrigkeit für die mitgliedstaatliche Behörde schwer einschätzbar (z. B. hinsichtlich der Anforderungen der Niederlassungsfreiheit des Art. 49 AEUV an eine bestimmte direkte Besteuerungsregel104), so ist die „hinreichende Qualifikation“ des Verstoßes und damit ein Ersatzanspruch im Sinne der „Francovich“-Rechtsprechung zu verneinen. Dies schließt aber einen kondiktionsrechtlichen Erstattungsanspruch nicht aus, weil dieser unionsrechtlich eigenständig aus seiner Funktion begründbar ist, nicht einen Verlust auszugleichen, sondern eine auf Kosten eines Dritten erfolgte rechtsgrundlose Bereicherung rückgängig zu machen. Insoweit im Respekt vor den mitgliedstaatlichen Jurisdiktionen dogmatisch unentschieden verweist der EuGH im Fall der unionsrechtwidrig erhobenen Steuer in der Rechtssache Test Claimants in das nationale Recht, indem er befindet, es sei einerseits Sache des nationalen Rechts, ob eine Klage auf Erstattung oder Schadensersatz zu stützen ist,105 der Mitgliedstaat aber andererseits gewährleisten müsse, dass die Einzelnen, wenn ein Mitgliedstaat unionsrechtswidrig Steuern erhoben hat, einen Anspruch auf Erstattung der Steuer und damit im Zusammenhang stehender Beträge haben.106 Richtigerweise ist die Bereicherungshaftung freilich nicht anders als die „Francovich“-Haftung im Grundsatz unionsrechtlich fundiert,107 auch wenn die Durchführung eines Bereicherungsausgleichs „auf der Grundlage des nationalen Erstattungsrechts“ zu erfolgen hat (mit grundsätzlich durchaus zulässiger mitgliedstaatlich spezifischer Aus-

__________ 103 So in den Fällen Metallgesellschaft (Fn. 16) und Test Claimants (Fn. 17). 104 Vgl. zu diesem komplexen Bereich Müller-Graff in Streinz (Hrsg.), EUV/AEUV, 2. Aufl. 2012, Art. 49 Rz. 70 ff. 105 EuGH, Rs. C-446/04 (Fn. 17), Tz. 81. 106 EuGH, Rs. C-446/04 (Fn. 17), Tz. 205. Zur mitgliedstaatlichen Pflicht der Rechtsschutzgewährung in Erstattungsfällen allgemein schon EuGH, Rs. 33/76, Slg. 1976, 1989 Tz. 5 (Rewe-Zentralfinanz/Landwirtschaftskammer für das Saarland); EuGH, Rs. 158/80, Slg. 1981, 1805 Tz. 44 (Rewe-Handelsgesellschaft Nord/Hauptzollamt Kiel); vgl. dazu und zum Versuch einer Unterscheidung nach Rechten, Rechtsmitteln und Verfahren van Gerven, CMLRev. 37 (2000), 501, 516, 522. 107 Zur unionsrechtlichen Fundierung der Staatshaftung auf Schadensersatz vgl. Müller-Graff in Moreira de Sousa/Heusel (Hrsg.), Durchsetzung des Gemeinschaftsrechts von Francovich zu Köbler: Zwölf Jahre gemeinschaftsrechtliche Staatshaftung, 2004, S. 153, 159.

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gestaltung im Einzelnen).108 Sie ist als eigenständiger unionsrechtlicher Haftungstatbestand daher auch nicht, wie schon angesprochen, von einem hinreichend qualifizierten Unionsrechtsverstoß abhängig zu machen.109 Die zur unionsrechtlichen Schadensersatzhaftung von Mitgliedstaaten und Union entwickelten Kriterien für die Feststellung eines hinreichend qualifizierten Verstoßes passen nicht zur Frage der Rückgängigmachung einer rechtsgrundlosen Vermögensverschiebung. In ihnen sind, wie aufgezeigt, Verschuldenstopoi enthalten (als teilweise Kompensation des Verzichts auf ein Verschuldenserfordernis bei der Schadensersatzhaftung verzichtet110), die nicht zu der Frage der „richtigen“ Vermögenszuordnung stimmig sind.

C. Die Rolle des Verfahrensrechts bei der Begründung einer unionsrechtlichen Erstattungspflicht Aus den bisherigen Überlegungen ist bereits die Antwort auf die Schlussfrage deutlich geworden: also auf die Frage nach der Rolle des Verfahrensrechts bei der Begründung einer unionsrechtlichen Staatshaftung auf Herausgabe einer Bereicherung, die rechtsgrundlos erfolgte. Auch hierbei ist die unionsrechtliche Staatshaftung strikt von der unionsrechtlichen Unionshaftung zu unterscheiden. I. Unionsrechtliche Unionshaftung Bei der Unionshaftung auf Herausgabe einer ungerechtfertigten Bereicherung zeigte sich, dass eine Jurisdiktion der Unionsgerichtsbarkeit für Direktklagen nicht aus Art. 268 AEUV i. V. m. Art. 340 Abs. 2 AEUV begründet werden kann. Diese ist auf Schadensersatzklagen beschränkt. Die extensive Auslegung durch die Rechtsprechung überzeugt nicht. Auch der Rückgriff auf Art. 47 GRCh ist wegen des Kompetenzausweitungsverbots in Art. 51 GRCh nicht zielführend. Jedoch können EuG und EuGH im Wege der Direktjurisdiktion über Art. 266 AEUV als Maßnahme auch die Rückerstattung zu Unrecht bezahlter Geldbußen samt Zinsen anordnen. Denn die Herausgabe einer rechtsgrundlosen Vermögensmehrung ist ein allgemeiner Rechtsgrundsatz. Er ist allerdings künftig zu präzisieren. Dass eine Rechtsschutzlücke für Nichtverfahrensbeteiligte besteht, ist grundsätzlich zweifelhaft. Andere Konstellationen ungerechtfertigter Bereicherung der Union sind vor nationalen Gerichten zu behandeln.

__________

108 Vgl. dazu die ständige Rechtsprechung seit EuGH, Rs. 33/76, Slg. 1976, 1989 (Rewe Zentralfinanz/Landwirtschaftskammer für das Saarland); EuGH, Rs. C-343/96, Slg. 1999, I-579 (Dilexport); dazu P. Karpenstein/U. Karpenstein in Grabitz/Hilf (Hrsg.), EU-Kommentar, 40. Aufl. 2009, Art. 228 EGV Rz. 19, die zu Recht hervorheben, dass „je nach Fallgestaltung“ die Voraussetzungen eines subjektiven „Wiedergutmachungsanspruchs“ des nationalen Rechts „von gemeinschaftsrechtlichen Grundsätzen modifiziert oder überlagert werden“ (Rz. 20); ähnlich von Bogdandy (Fn. 37), Rz. 122. 109 Anders allerdings EuG, Rs. T-166/98 (Fn. 43), Tz. 162, 176. 110 Vgl. oben Text bei und in Fn. 32.

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Ungerechtfertigte Bereicherung im Unionsrecht

II. Unionsrechtliche Staatshaftung Für Verfahren der unionsrechtlichen Staatshaftung wegen rechtsgrundlos erlangter Vorteile (insbesondere Abgaben und Steuern) liegt die Primärzuständigkeit (Direktjurisdiktion) in jedem Fall bei den nationalen Gerichten. Die Frage der judikativen Primärkompetenz der Unionsgerichtsbarkeit stellt sich hier anders als bei der Unionshaftung nicht. Das nationale Gericht hat die allgemeinen Rechtsgrundsätze des Unionsrechts mit Anwendungsvorrang anzuwenden. Dazu ist das allgemeine Verbot ungerechtfertigter Bereicherung zu zählen. Die Bereicherungshaftung ist unabhängig von der Schadensersatzhaftung zu präzisieren. Der Ausgleich einer Vermögensmehrung wirft andere Fragen auf als der Ausgleich einer Vermögensminderung. Zu deren Klärung können Vorlageverfahren mitgliedstaatlicher Gerichte an den EuGH dienen und dessen Rechtsprechung aus gereiften zivilrechtlichen Kategorien anregen. III. Verfahren und materielles Recht in der Begründung einer unionsrechtlichen Haftung auf Herausgabe einer ungerechtfertigten Bereicherung Das Mühen von EuG und EuGH um die Bereicherungshaftung der Union erinnert an das nach Max Kaser und Rolf Knütel „einmalige und großartige Wagnis“ der römischen Rechtsfortbildung durch den Magistrat und hierbei insbesondere durch die Prätoren.111 Diese anerkannten zivilprozessual durchsetzbare Ansprüche oder Klagen („actiones“), deren Legitimation allein auf der prätorischen Gerichtsgewalt ruhte.112 Dieses Phänomen kehrt teilweise wieder in der judikativen Entwicklung des Rechtsschutzes durch den EuGH. Der Rückgriff auf die Gedanken der Art. 19 EUV und Art. 47 GRCh durch die Luxemburger „Curia“ (so die treffende Selbstbezeichnung im Kopfteil ihrer Urteile) ähnelt insoweit der Rechtsentstehung in prätorischen Verfahren. Der EuGH agiert jedoch im legitimatorischen Rahmen des (vertraglich-demokratischen) Legitimationsprinzips der begrenzten Einzelermächtigung. Daher ist er wegen Art. 5 Abs. 2 EUV und Art. 51 Abs. 2 GRCh zur eigenständigen Begründung einer neuen Direktjurisdiktion nicht legitimiert. Bei der inhaltlichen Begründung der mitgliedstaatlichen Pflicht zur Herausgabe einer rechtsgrundlos auf Kosten eines Belasteten erlangten Bereicherung geht es hingegen nicht um eine Zuständigkeitsfrage. Daher lässt sich für diesen allgemeinen Rechtsgrundsatz substantiell nichts aus dem dienenden Gedanken eines effektiven prozeduralen Rechtsschutzes ableiten, also auch nicht aus Art. 47 GRCh. Andererseits ist aber auch nicht die Sperre des Art. 51 Abs. 2 GRCh einschlägig. Die unionsrechtliche Herausgabepflicht der Mitgliedstaaten entstammt vielmehr dem allgemeinen materiellen Rechtsgedanken, rechtsgrundlos auf Kosten eines anderen Erhaltenes nicht behalten zu dürfen. Auch hier gilt: Juristische Argumentation überzeugt, wenn sie ihre Begriffe klärt und ihre Kategorien klar unterscheidet.

__________ 111 Kaser/Knütel, Römisches Privatrecht, 19. Aufl. 2008, S. 23 (2.11). 112 Kaser/Knütel, ebda.

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The European Private Company (Societas Privata Europaea) – some regulatory reflections Inhaltsübersicht 1. Introduction and tribute to Professor Peter Hommelhoff 2. The SPE in a Regulatory Context a) The SPE in an international regulatory context b) How to achieve flexibility – the regulatory methods c) The regulatory method for the SPE 3. The SPE model – an optimal regulatory method? a) Compliance – and transaction costs

b) Legal certainty? i. The Risk of no regulation ii. Gap-filling – how? c) Regulation by contract – optimal solutions? d) The balance between the Regulation and the freedom of contract 4. Default rules – a more appropriate method of regulation? 5. Conclusion

1. Introduction and tribute to Professor Peter Hommelhoff The subject for my contribution and my tribute to Professor Peter Hommelhoff is the European Private Company (Societas Privata Europaea – SPE), and more specifically the appropriateness of the chosen method of regulation. Being interested in small and medium-sized enterprises (SMEs) and their special regulatory needs, I believe the SPE to be a particularly interesting and long-needed facility for SMEs in Europe. On 25 June 2008 the Commission published a proposal for the European private company.1 The goal is to create a new European legal form to enhance the competitiveness of SMEs by facilitating their establishment and operation in the single market. But the European Private Company is not a new idea. In the early 1970s, research carried out by CREDA2 pointed out that the SE Regulation3 would not satisfy the needs of business, among other things because it was not flexible enough. Therefore, as early as 1975, it was proposed that it should be radically simplified or that an attempt should be made to create a European private company.4 In 1995 CREDA put together an international group of company law experts, including

__________ 1 Proposal for a Council Regulation on the statute for a European private company (COM(2008) 396 final). 2 CREDA (Centre de Recherche sur le Droit des Affaires) is the legal research department of the Chambre de Commerce et D’industrie de Paris (CCIP). 3 The legislation was eventually adopted in Council Regulation (EC) No 2157/2001 of 8 October 2001 on the Statute for a European company (SE). 4 CREDA, ‚L’opinion des enterprises sur le projet de société européenne‘, 15.

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Professor Peter Hommelhoff,5 to examine the need for a European private company. In 1997 it published its favourable conclusions6. A smaller working group, also including Professor Hommelhoff, sponsored by MEDEF then produced a draft for an SPE Regulation. Thereafter, on the basis of its 2003 Action Plan, the Commission carried out a feasibility study, which produced a positive result with regard to the SPE.7 However, the Commission took no further action, and in 2006 the European Parliament requested the Commission8 to prepare a proposal for a European private company,9 and on 25 June 2008 the Commission finally published its proposal for a Societas Privata Europaea (SPE),10 which was then subject to several proposals for amendment.11 As a member of the group of experts that presented the CREDA proposal for a European Private Company, Professor Hommelhoff can be considered one of the ‚fathers‘ of the SPE. He thereby made an important and far-sighted contribution to the discussion of the needs of SMEs for enabling and flexible companies regulation and through the years he has managed to preserve his immense commitment to the SPE-project. Having had the honour of discussing the SPE project with Professor Hommelhoff over the years, including at the 4th Nordic Company Law Conference: ‚The internationalisation of Companies‘, in Denmark in 2000, my contribution has to be on the SPE. The particular objective of both the CREDA proposal and the European Commission’s proposal for the SPE is to create a flexible supranational corporate form for SMEs, which is inexpensive and easy to use. The Commission’s SPE proposal and the later Revised Presidency compromise proposals seeks to

__________ 5 The members of the working group were: Robert R. Drury, University of Exeter, Guillaume de Géry, the Direction des Études, CCIP; Dietmar Helms, Universität Heidelberg, Peter Hommelhoff, Universität Heidelberg; Nathalie Huet, CREDA, CCIP, and Charles Latham, Confederation of British Industries (CBI), Brussels. 6 Jeanne Boucourechliev (ed.), Propositions pour une société fermée européenne, CREDA, 1997. 7 Feasibility Study of a European Statute, Contract Letter No FIF 20030950. 8 Pursuant to Article 192, second paragraph, of the Treaty establishing the European Community, and Article 45 of the European Parliament’s Rules of Procedure. 9 In accordance with the instructions in resolution Provisional INI/2006/2013 proposed by Klaus-Heiner Lehne MEP based on the CREDA draft, and the drafts of Christoph Teichmann, Universität Würzburg and Notary Dr. Vossius. 10 See e.g. Daniel Kornack, German Law Journal, 2009, Vol. 9, No. 6, 1321 – 1332, Paollo Santella & Dino Lattuca, in Mette Neville & Karsten Engig Sørensen (eds.), Company Law and SMEs, 2010, 325–351, and Christoph Teichmann in the same book, 351–365, Andriaan F.M. Dorresteijn and Odeaya Uziahu-Santcross, European Company Law, 2008, Vol. 5, Issue 6, 277–283 (part I), and* part II in European Company Law, 2009, Vol. 6, Issue 4, 152–159. 11 The European Parliament made proposals for amendments to the Commission Proposal. These amendments prompted further debate within the Council of Ministers, which came up with a Revised Presidency compromise proposal for a Council Regulation on a European private company, Annex to Addendum 1 16115/09, Brussels 27 November 2009. As there was still no agreement, on 30 May 2011 the Hungarian presidency referred a compromise proposal on the outstanding issues to the Competitiveness Council with a view to reaching political agreement on the Draft Regulation, but this compromise proposal was also rejected.

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achieve this objective by using a regulatory method that combines a short Statute with a list of matters concerning the formation, capital and organisation for the SPE which the parties have to regulate in the articles of association. These are now listed in Article 8. In addition to the matters listed in Article 8, paragraph 1, the articles of association may, without prejudice to the Regulation include provisions concerning the matters listed in Annex 1 of the Statute. In this contribution I will focus on whether the regulatory method adopted in the SPE proposal is the most appropriate for achieving the Commission’s objectives. The focus will mainly be on the internal relationship of the SPE. I will not embark on a detailed study of the individual rules, but rather look at the method of regulation used.

2. The SPE in a Regulatory Context a) The SPE in an international regulatory context The Commission’s SPE proposal is focused on flexibility, as was the CREDA proposal.12 In fact the CREDA proposal was one of the first clear examples of the paradigm shift in company law thinking that started in the 1990s, giving greater emphasis to the idea of making companies regulation more supportive of business.13 Prior to that, both at national and at EU levels there had been a clear tendency for companies’ regulation to have primarily the character of preventing abuse. The greater emphasis on enabling legislation at EU level resulted in a programme for Small and Medium-Sized Enterprises (SMEs) in 1996.14 One of the ideas was that Member States should be requested to simplify their companies legislation for smaller undertakings, and in the 2003 Action Plan the Commission stressed that there should be as much flexibility for companies as possible. Where systems are deemed to be equivalent, maximum scope should be left to the freedom of the parties involved.15

__________

12 For a discussion of this proposal, see e.g. Peter Hommelhoff, WM 1997, 2101; Helms, Die Europäische Privatgesellschaft, 1998; Andreas Pense, Die personalistische Eurokapitalgesellschaft als Instrument der Unternehmenskooperation in der EU, 1997, Robert Drury, 53–79; Matti Sillanpää, 79–83 and Neville, 83–107; all in Mette Neville & Karsten Engsig Sørensen (eds.), The Internationalisation of Companies and Company Laws, 2001, Robert Drury & Andrew Hicks, The Journal of Business Law, 1999, 436, and Susanne Braun, German Law Journal, 2004, Vol. 5, No. 11, 1393–1408. 13 See Neville in Mette Neville & Karsten Engsig Sørensen (eds.), The Regulation of Companies, 2003, 39–111. 14 See Amended proposal for a Council Decision on a Third Multiannual Programme for Small and Medium-Sized Enterprises (SMEs) in the European Union (1997–2000) – ‚Maximising European SMEs‘ full potential for employment, growth and competitiveness‘ (COM(96) 591 final. 15 Section 2.2. The Action Plan was the Commission’s response to the Final Report of the High Level Group of Company Law Experts on a Modern Regulatory Framework for Company Law in Europe (the Winter Report), November 2002.

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National reform measures have also been focused extensively on smaller companies, with the aim typically being to introduce a greater measure of flexibility. The Nordic reforms are examples of this. In the case of Denmark, the aim of the 1996 reform of the Private Companies Act was to adapt the Act to the special needs of smaller companies by simplifying the law. In line with this, the Norwegian reform in 1997 stated in NOU 1996:3 that the committee wished to take account of differences between companies covered by the Act by framing a simpler and more flexible set of rules. In connection with the Swedish reform, it was stated in SOU 2001:1 that the legislation should take a form that would enable companies to adapt their organisation in line with the development of their business, with a view to promoting dynamism in the commercial sector since the main objective has been to better tailor the business environment to the needs of today’s SMEs. There is still emphasis on enabling legislation for SMEs. At European level this is reflected in for example the Small Business Act for Europe (COM(2008)803) final, and at national level through the reforms of companies legislation for example the introduction of „die haftungsbeschränkte Unternehmergesellschaft“ (UG) in Germany. Simplification of the regulation of SMEs was also the theme of the new Swedish reform SOU 2009:34; see below and the Norwegian reform from 2011. b) How to achieve flexibility – the regulatory methods Company law reforms of SMEs thus seem generally to have been driven by a desire for increased flexibility by introducing a greater degree of freedom of contract, but there are wide differences between the methods chosen to introduce the flexibility required for the regulation of internal relationships of SMEs. The methods seem to differ between regulation by providing a comprehensive set of default rules which the parties are free to vary, or by leaving the drafting task to the parties, either by imposing an obligation to regulate different matters in the articles of association,16 or by leaving it to the parties if and how different issues should be regulated. These differences may be based on differences in legal traditions, but even within the same tradition there are major methodological differences. The Nordic countries are a good example of this. Even though company legislation in Denmark, Norway and Sweden was originally based on Nordic cooperation, in their reforms in the 1990s, these countries used different approaches for adapting their company legislation to the need of smaller companies for greater flexibility. In the Danish reform of the Private Companies Act in 1996, simplification was achieved by repealing a large number of provisions on the internal regulation of companies17 leaving it to the parties to decide whether

__________ 16 For a discussion of this economic theory, see Yair Listokin (Yale Law School), ‚What Do Corporate Default Rules and Menus Do?, An Empirical Examination‘, John M. Olin Center for Studies in Law, Economics, and Public Policy, Research Paper No 335. 17 See the comments on Bill 199, paragraph 2.a p. 17.

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different issues concerning the internal relations should be regulated.18 See below on the latest major company law reform in Denmark (2009–2010). In Norway it was not found appropriate to exclude provisions which were useful in practice just because they were optional. Therefore, the reform of the regulation of private limited companies in 1997 introduced the dual-Act model (separate Acts for public and private limited companies) in place of the singleAct model. The Norwegian Private Companies Act (Aksjeloven) is aimed at SMEs and contains more than 350 sections. Flexibility has been achieved by including a large number of provisions on the internal affairs of companies as default rules. In Sweden, which still uses the single-Act model, the emphasis in the 2005 reform was also on simplification. As for the method of regulation, the Swedish Act is characterised by the thoroughness of its regulation. There is also use of a ‚checklist system‘, where a number of situations, which should be regulated in the articles of association are listed in the Act. In 2007, the Swedish Government initiated a review to assess the need for amendments to the Companies Act with a view to simplifying matters for companies. The work was focused particularly on the needs of SMEs for simpler company law regulations, and various amendments were proposed in SOU 2009:34. All methods provide flexibility in the form of freedom of contract,19 so deciding which method is more appropriate must be based on other parameters. c) The regulatory method for the SPE As mentioned in the introduction, it has been sought to achieve the objective of flexibility for the SPE by using a regulatory method that combines a short Statute with a list of matters that have to be dealt with in the articles of association. In the Revised Presidency compromise text from May 2011 these are listed in Article 8. This ensures that the parties do actually exercise their contractual freedom so that the matters concerned are regulated. In addition to the matters listed in Article 8, paragraph 1, the articles of association may, without prejudice to the Regulation include provisions concerning the matters listed in Annex 1 of the draft Statute. Furthermore, in matters where it is explicitly allowed by the Regulation, members should also be able to adopt rules in the articles of association that are different from the default rules, set out in the Regulation. In that case national law shall not apply to those matters included in the article of association. The internal relations of an SPE are largely left to the agreement of the parties.20 The draft Statute does not contain any default provisions to apply if the articles of association do not cover the matters listed in Annex I. No model articles of association is included, but accord-

__________ 18 For a more detailed discussion of the simplification of the law, see Neville, in Paul Krüger Andersen (ed.), Selskabers Organisation, 1997, 25; Neville, Revision og Regnskabsvæsen, 1996, No 5, 19 and Søren Friis Hansen, Anpartsselskaber efter 1996-loven, 1998. 19 See Peter Hommelhoff, German Law Journal, 2008, Vol. 9, No 6, 799–818 (at 807). 20 See recital 3 of the SPE Proposal; Explanatory Memorandum to the SPE Proposal, 5–6; and Dorresteijn & Uziahu-Santcroos (supra note 10 at 282).

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ing to the Revised Presidency compromise text from 2011, the Member States may draw up model articles of association that entrepreneurs may use as an example when they set up their company. However, the application of the model articles of association shall not be made mandatory.21 National law applicable to private limited companies in the Member State where the SPE has its registered office applies to matters listed in Annex I, where these have not been or have only partly been included in the articles of associations, cf. Article 4.3. National law also applies to further provisions in the articles of association that are not covered by the Regulation or its Annex I.22 The same applies to areas outside the scope of company law (such as labour, insolvency or tax law).

3. The SPE model – an optimal regulatory method? The assessment of whether the appropriate method of regulation has been chosen necessarily depends on the goals set. a) Compliance – and transaction costs The Commission wants to introduce a uniform form of company in order to reduce the compliance costs arising from differences between national rules both on the formation and the operation of companies. For this reason it has been decided to limit references to national law; see above. The fact that the draft Statute does not include a comprehensive set of rules governing the internal affairs of the company may, on the face of it, reduce compliance costs, but on the other hand it considerably increases the transaction costs for negotiating and drafting the articles of association. Article 8 lists ten issues that must be catered for in the articles of association, and Annex I lists 23 matters on which provisions may be included in the articles of association. As pointed out by Professor Hommelhoff and Professor Teichmann,23 professional advice is necessary to draft proper SPE-articles of association. This is particularly unfortunate, as many promoters of small companies have limited financial resources. An evaluation of the real compliance costs must include the transaction costs. The costs of the risk of errors in connection with contractual drafting must also be included, for instance the costs resulting from a contract not containing an intended or expected term. These costs could have been reduced if the Commission had chosen to draft model articles of association, as originally suggested in the CREDA proposal.24

__________

21 Cf. Section (8a). Example provisions for articles of association of an SPE, was in 2008 drafted by EU’s Advisory Group on Corporate Governance and Company Law. Council Register (12124/2008) (July 23, 2008) (Commission). 22 Compromise proposal from the Presidency Council, proposal for a Council Regulation of the Statute for a European Private Company (SPE), from May 2011. 23 Hommelhoff/Teichmann, GmbHR 2009, 37. 24 See Robert Drury, EBOR 2008, 9: 125–136 and the same author in European Company Law, 2006, Vol. 3, Issue 6, 267–272 (at 270).

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b) Legal certainty? i. The Risk of no regulation Flexibility is another key aim of the SPE proposal. As stated in section 2.b., this can be provided for either through a set of default rules or by leaving the task of regulation to the parties. By choosing a self-regulatory model, the Commission avoids reducing the scope of choice and strengthens the exercise of freedom at the responsibility of the drafter.25 The value of this freedom to contract depends on whether the parties exercise it. This may not necessarily be the case. Surveys show that, in practice, shareholders seldom take full advantage of their contractual freedom.26 A Danish survey of private limited companies27 from 2003 showed that about 43 % of the respondent companies did not have a shareholder agreement, even though owners typically have strong incentives to make such contracts governing core rights and duties.28 There can be several reasons why the parties do not take full advantage of their contractual freedom. First, the transaction costs play a role. According to mainstream economic theory, parties with full contractual freedom would agree on an efficient allocation of rights and duties if there were no transaction costs29 associated with the formation of a contract, and if the parties were rational and fully informed.30 If there are high transaction costs, the parties may retain inefficient rules, or refrain entirely from making rules.31 Even without the transaction costs of entering into a contract, it is unlikely that the parties would always regulate efficiently, as they will probably not have sufficient foresight to see the problems that may arise, and the lack of regulation may be due to lack of insight.32 Moreover, the parties do not neces-

__________ 25 Hommelhoff, (supra note 19 at 813). 26 See a British survey discussed by Judith Freedmann in Modern Law Review, 1994, Vol. 57, 565. 27 Mette Neville, in Mette Neville & Karsten Engsig Sørensen (eds) Company Law and SMEs, 2010, 247–295 (at 280). 28 See Brian R. Cheffins, Company Law Theory, Structure and Operation, 1997, 65. 29 Or if the transaction costs were so low that the value of the right exceeds the cost of reallocating it; see Russel Korobkin, Cornell Law Review, 1998, Vol. 83, 608 (at 613). 30 If there is an asymmetric allocation of information between the parties, this can mean that inefficient contracts are made; see e.g. Ian Ayres & Robert Gertner, Yale Law Review, 1992, Vol. 101, 729. 31 See e.g. Charles J. Goetz & Robert E. Scott, California Law Review, 1985, Vol. 73, 261 (at 280–281), J. Bradley, Corp. Law, 1985, Vol. 10, p. 817, O’Kelly, Nw. U.L.Rev 1992, Vol. 87, 216 (at 246 et seq.), and C.A. Riley in Barry A K Rider & Mads Andenas (eds.), Developments in European Company Law, 1997, Vol. 2, 79 et seq. 32 O’Kelly, (supra note 31) at 246 et seq., Larry E. Ribstein, Journal of Small and Emerging Business, 1997, 11 (at 23 et seq), J. A. C. Hetherington & Michael P. Dooley, Virginia Law Review, 1977, Vol. 63, 1; Günter H. Roth, ‚Das System der Kapitalgesellschaften im Umbruch – ein internationaler Vergleich‘, No 60 in the series Rechtsfragen der Handelsgesellschaften, 1990, 18.

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sarily always act rationally.33 Many private companies are set up by parties with long-lasting and close relationships, and mutual confidence which can be a reason why they do not legally formalise certain situations. The risks arising from the parties refraining from regulating key issues for SPEs are reduced by the fact that the draft Statute requires the shareholders to regulate a number of matters. The chosen method of regulation ensures that central matters are in fact regulated, and by leaving the drafting task to the parties the deprivation of choice is to some extend avoided.34 But requiring regulation in the articles of association is very far from ensuring appropriate, clear and coherent regulation. This requires expensive legal advice, cf. above. It should also be noted that legal advice in practice does not necessarily ensure an optimal tailor-made regulation, cf. below. Another problem is that it can be very difficult to know whether provisions in the articles of association are in accordance with the Regulation.35 This is also one of the reasons why the EU’s Advisory Group on Corporate Governance and Company Law has drafted Example provisions for articles of association of an SPE. As for matters that are not covered by the Draft Regulation, there will be a great risk that they will not be fully regulated, cf. above, possibly an even greater risk than if the Annex I solution were not chosen. Article 8 and Annex 1 will presumably give shareholders the feeling that, as long as the matters listed have been dealt with, then everything will have been covered. This is supported by a Danish study36, where 50 % of the respondents that did not have a provision for breakdown of cooperation explained that the reason for this was that they were confident that the legislation provided a reasonable solution. However, the draft Statute and the Annex 1 does not necessarily deal with all relevant issues; see below in section 4. ii. Gap-filling – how? If the parties have not entered into an agreement, the draft Statute does not contain any default rules. The question is then: what supplementary rules apply? In the CREDA proposal, the starting point was the marked resistance to any reference to national companies legislation as supplementary rules.37 The CREDA proposal therefore laid down a hierarchy of rules governing the SPE, starting with the Regulation itself and then the provisions in the articles of association. Anything that was governed by the Regulation was not to be subject to national laws. Instead, the general principles of the Regulation, the general principles of Community company law and the general principles

__________ 33 Thomas S. Ulen, Law and Soc. Inquiry, 1994, Vol. 19, 487–491; and Elizabeth Anderson, Philosophy and Public Affairs, 2000, Vol. 29, No 2, 170 et seq.; Karobkin and Ulen, California Law Review, 2000, Vol. 88, 1053 et seq. 34 Hommelhoff (supra note 19 at 813). 35 Cf. Hommelhoff (supra note 19 at 814). 36 Neville (supra note 27). 37 Drury (supra note 12).

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common to the Member States’ national laws were to be applied by the courts as bases for solving problems.38 In the 2008 proposal, the Commission rejected the idea that the SPE should be an entirely autonomous entity, without any reference to national law. The Commission found that it was ‚politically unrealistic and should be disregarded‘.39 This allows a wider scope for national laws; see above in section 2.c., but there is still a great risk of legal uncertainty, and at the same time the legal uniformity is endangered.40 For matters not covered by the draft Statute or the articles of association as required in Article 8, or where the matters in Annex I have not been included in the articles of association, the national law of the Member State where the SPE is registered will apply. It can be difficult to get a clear overview of which matters this applies to, and there are costs associated with getting to grips with different national laws in these areas. Besides, the content of the national law provisions is not always clear. Both are illustrated by the following example. In Denmark it is for example highly debated whether SMEs can be dissolved on the basis of legal principles, if the cooperation between shareholders breaks down. The applicable law must be determined via the decisions of the courts. It takes time, and during this time the parties will not be able to predict with certainty what the applicable law will be. In Germany the GmbH Gesetz § 61 gives authority to terminate cooperation with the effect that the company is dissolved. A necessary condition is that there are weighty grounds (wichtige Gründe). Moreover, the courts have established that there is a right to redemption even though the legislation only refers to dissolution by operation of law. Another example is the question whether shareholders in SMEs have a duty of loyalty.41 c) Regulation by contract – optimal solutions? The aim of freedom of contract is that shareholders should be able to tailor the articles of association of their company to their needs. One argument in favour for the SPE-method of regulation has been that the deprivation of choice is thereby avoided and it strengthens the exercise of design freedom with selfresponsibility of the drafter of the statutes.42 In practice, it seems that such individual tailoring rapidly gives way to the use of pre-existing models with largely the same content. There is a marked tendency to follow precedents in

__________ 38 See for a discussion of this solution Hommelhoff (supra note 19 at 815) and Neville (supra note 12). 39 Commission staff working document accompanying the proposal for a Council regulation on the Statute for a European Private Company (SPE) – Impact assessment (COM(2008) 396 final), at 22. 40 Hommelhoff (supra note 19 at 814). 41 See for an examination on the duty of loyalty in Denmark, Germany, the UK and the US, Karsten Engsig Sørensen in Mette Neville & Karsten Engsig Sørensen (eds), Company Law and SMEs, 2010, 127–171. 42 cf. e.g. Hommelhoff (supra note 19 at 813).

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the drafting of articles of association and shareholder agreements.43 It is not surprising that the production of contracts should draw on the lessons of experience.44 Standardisation ensures that clients can be provided with a reasonable solution much more quickly and cheaply than if a contract has to start with a blank piece of paper.45 The cost aspect is very relevant. There are both advantages and disadvantages linked to the standardisation of contracts, many of which are relevant for assessing whether the regulation of the internal affairs of a company should be left to the shareholders, or whether the legislator should provide default rules. Standardisation can have positive effects in the form of network externalities, including ‚network benefits‘ and ‚learning benefits‘.46 According to economic theory, a network benefit arises when the benefit of using a specific product (or standard) increases as the number of its users increases.47 By using a provision that is already widely used, one avoids paying for development costs and there is increased certainty about its content and interpretation.48 The courts and legal theorists will form a clear picture of how the standard provisions should be interpreted, in contrast to when more tailor-made provisions are used.49 This information can increase the certainty of the meaning of contractual provisions50 and help avoid the risks associated with unclear provisions,51, 52 and thus reduce transaction costs both ex ante and ex post. These advantages are in the nature of network benefits and learning benefits. By using contractual provisions whose use is already widespread, the benefits will already have been paid for by previous users. However, the use of models and the existence of network benefits and learning benefits can be a barrier to the development of more appropriate provisions, and therefore even expensive legal advice is no guarantee for optimal regula-

__________ 43 See e.g. Kahan & Klausner, Virginia Law Review, 1997, Vol. 83, 713; and Kahan & Klausner, Washington University Law Quarterly, 1996, Vol. 74, 347. This is also confirmed by a Danish study of 100 shareholder agreements conducted by the author of this contribution. 44 As stated by Claire A. Hill, Chicago-Kent Law Review, 2001, Vol. 77, 59 et seq., young lawyers would never be able to draw up reasonable contracts if they were not able to base them on precedents. 45 See Hill (supra note 44). 46 ‚Network benefits‘ and ‚learning benefits‘ are closely related. ‚Network benefits‘ are the advantages obtained by the user of a product, e.g. a contractual provision, when others use the same product at the same time. ‚Learning benefits‘ are the advantages obtained by the user of a contractual provision previously used by others. 47 See e.g. Michael Klausner, Virginia Law Review, 1995, Vol. 81, 757 (at 774). 48 Klausner (supra note 47 at 777). 49 Klausner (supra note 47 at 777). 50 On network benefits, see Larry E. Ribstein, Washington University Law Quarterly, 1995, 369 (at 389), Michael Klausner, (supra note 47 at 757). 51 See Goetz & Scott (supra note 31 at 286 et seq.). 52 As stated by Ribstein (supra note 50 at 376) these advantages will be less for companies with special problems, since there will be a need for special solutions. Moreover, there will be areas such as registration provisions which will not give rise to any problems of interpretation.

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tion. An alternative contractual provision may be more effective than an existing standard provision, but advisers and clients may be reluctant to use them. The costs and risks of developing alternative provisions are clearly barriers.53 Innovation is expensive. Advisers, typically lawyers, must first identify that existing contractual provisions are inadequate or inappropriate, then develop more effective provisions, and finally ‚sell‘ the provisions to the client. The value of the new provisions is not in the first contract, but in the potential gains from others using the provisions. So while the development costs are borne by the lawyer who has identified the need and developed the solution, others, who have not borne the costs, will share the benefit. Even if part of the development costs can be passed on to the client, it is unlikely to be the whole cost. But in this case too, it will be the first client that pays for the benefits subsequently enjoyed by others. This can result in contract drafters lacking the incentive to develop and improve their models.54 A Danish example of the lack of contractual solutions is the lack of provisions dealing with conflicts between shareholders, cf. below.55 The development of models is also restricted by the fact that advisers and their clients are biased in favour of the status quo. A provision is efficient when it maximises the welfare and utility of the parties. In this case it is Paretooptimal, because the parties are better off by sharing the common benefits than they would be under any other contractual arrangement. However, this requires the choice of one provision rather than another to be based purely on a rational assessment of the utility value of the chosen provision, and on the preference not changing over time.56 However, the theory of status quo bias has shown57 that choices between alternative provisions are not guided solely by the utility of the provisions. There is a tendency for parties to choose the status quo,58 which creates a potential lock-in effect. In other words, the models will not be further developed and there can be resistance to innovation. d) The balance between the Regulation and the freedom of contract The draft statute contains some provisions concerning the internal relationships in the SPE. It is important that the provisions should both govern the relevant problems and contain appropriate solutions. It is clear that there is a

__________ 53 See Kahan & Klausner 1997 (supra note 43 at 713) and Kahan & Klausner, 1996 (supra note 43 at 353-58). 54 Hill (supra note 44 at 77). 55 See Neville (supra note 27). 56 Rational choice theory is a decision-making theory based on the concept of homo economicus, i. e. the idea that humans are rational beings maximising their own welfare by making rational choices. See e.g. Thomas S. Ulen, Law and Soc. Inquiry, 1994, 487–491, Elizabeth Anderson, Philosophy and Public Affairs, 2000, Vol. 29, No 2, 170. 57 R.B. Korobkin, (supra note 29) and R.B. Korobkin, Vand. L. Rev., 1998, Vol. 51, 1583. 58 See William Samuelson & Richard Zeckhauser, Journal of Risk & Uncertainty, 1988, Vol. 1, 7 and Daniel Kahneman, Jack Knetsch & Richard Thaler, Journal of Political Economy, 1990, Vol. 98, 1325.

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need to evaluate whether SMEs have special regulatory needs and, if so, what these are. If one looks at the ownership and control structures of SMEs, they have special characteristics and consequently special regulatory needs. Empirical studies show that SMEs typically have few owners. In a study carried out by the author, looking at 1,313 Danish private companies with more than one shareholder, 67 % of the companies had two shareholders, often with 50:50 ownership, and only 4 % had more than 4 shareholders. There is typically an overlap of ownership and management. In this study there was an overlap in 89 % of the companies formed with the minimum capital. The average overlap was 77 %. These companies are often set up in the expectation of and/or on the condition that the shareholders will have an influence on the management of the company. A review of about 100 shareholder agreements and their associated articles of association shows that, in companies with unequal ownership, provisions are often included whereby most decisions must be taken unanimously, including decisions which, under Danish law, are normally a matter for the board. Another characteristic is that the shareholders have long-standing and close connections with each other, for example through family connections or friendship. There were family relationships in 35 % of the companies in the study, and in 25 % the shareholders were close friends. The ownership and control structures lead to there being a number of special regulatory needs. One area that is a clear example of this is conflicts between shareholders. Because of their ownership and control structures, where the owners also typically manage the company, conflicts in SMEs can have serious consequences both for the future running of the business and for the share holders in the company.59 If ownership is devided 50:50 or if decisions must be taken unanimously there is a risk of deadlock. A survey of deadlocks60 in Danish SMEs showed that about 15 % of SMEs had experienced a permanent deadlock. 52 % of the respondents stated that disagreements about the day-today running of the business was the reason for their deadlock, while 28 % said that disagreement about the strategic direction of the business (growth) was the cause. An international survey of family firms conducted by PwC61 showed that discussions about the future strategy of the business and the competence of members actively involved in the business are most likely to trigger disputes. 34 % of respondents said they had quarrelled about the future direction of the business. All this means that if the SPE Statute is to be tailored to the needs of SMEs, it must provide an effective mechanism for resolving conflicts.62 As shown in

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59 See Mette Neville in Paul Krüger Andersen, Nis Jul Clausen and Rolf Skog (eds.), Shareholder Conflicts, 2006, 87–131. 60 Study by Troels Mogensen & Janus Rosted Gjesager, Deadlock – i joint ventures og SMV’er, Aarhus School of Business, Aarhus University 2008. 61 PriceWaterhouseCoopers, Family Business Survey 2007/08, p. 39 ff. 62 See Mette Neville (supra note 27) and H-J. de Kluiver & J. Roest in D.F.M.M. Zaman, C.A. Schwartz, M.L. Lennarts, H-J. de Kluiver & A.F.M. Dorrestein (eds.), The European Private Company (SPE) – A Critical Analysis of the EU Draft Statute, 2009, 65–81 (at 66.).

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section 3.b.i., the parties often do not exercise their freedom of contract. A survey of Danish shareholder agreements shows that they do not deal with this problem, even though it is not dealt with in the Danish Companies Act.63 If parties do, the weaker party will often not have the bargaining power to negotiate adequate shareholder protection.64 This in turn means that it is important to include appropriate conflict resolution mechanisms in the Regulation, and not leave it to the parties to agree.65 In other companies, where there is one controlling owner or where ownership is unequally divided between two or more owners, there is a risk that, because of the conflict, a minority shareholder will be subject to oppressive conduct by the majority shareholder, for example by being dismissed from his/her job or being excluded from participation in the management of the company.66 The minority shareholder cannot sell his/her shares as there is no market for the shares in such a company.67 The Commissions 2008 proposal contained two articles relevant to conflicts between shareholders, namely Article 17 on expulsion and Article 18 on withdrawal, but they were too narrow and did not really address typical situations in SMEs. Article 17 and 18 only seemed to deal with conflicts in the form of abuse and not, for example, deadlocks arising from disagreements about operations or strategy or oppression, even though these are very common sources of conflict.68 Both articles were omitted from the revised Presidency compromise proposal for a Council Regulation (3.– 4.12.2009) and were not reintroduced in the proposal under the Hungerian Presidency from May 2011. Due to the differences in national regimes regarding the expulsion and withdrawal of members, it was found that these issues should be governed by national law. The appropriateness of this solution is highly questionable. While most company laws have provisions on majority abuse, there are bigger differences between national regimes on the regulation of, for example, breakdown of cooperation, deadlock and oppression of minority shareholders. In some Member States, for example the Netherlands, there are company law rules on the settlement of disputes that may have resulted in deadlock and where there are irreconcilable differences between groups of shareholders in the company.69 In other Member States like Denmark and

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63 See Neville (supra note 27). 64 Jan Andersson in Neville & Engsig Sørensen (eds.), Company Law and SMEs, 2010, 191–207 and Dorresteijn & Uziahu-Santcroos, (supra note 10 at 282). 65 See e.g. Neville (supra note 27) Andersson, (supra note 64), H-J. de Kluiver, EBOR, 2007, Vol. 8, 103–119, Dorresteijn & Uziahu-Santcroos (supra note 10 at 282). 66 Edward B. Rock & Michael L. Wachter, Journal of Corporation Law, 1999, Vol. 24, No 4, 913–948 and Joseph A. McCahery & Erik P. M. Vermeulen, Corporate Governance of Non-Listed Companies, 2008, p. 33. 67 These risks were discussed as far back as 1952 by Carlos L. Israels in The University of Chicago Law Review, 1952, Vol. 19, No 4, 778–793, Neville & Engsig Sørensen in Paul Krüger Andersen (ed.), Selskabers organisation, 1997, 168–220. 68 See also Andersson (supra note 64 at 203) and de Kluiver & Roest (supra note 62 at 74). See on shareholder conflicts in the SPE, Mette Neville in ECFR forthcoming. 69 Prof. L. Timmerman & A. Doorman: Rights of minority shareholders in the Netherlands, A report written for the XVIth World Congress of the International Academy of Comparative Law.

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Sweden, Company Law does not contain any provisions dealing with the breakdown of cooperation between shareholders, deadlock or oppression. It is clear that there are major differences between national regulations, and in a number of countries there is no regulation governing conflicts that commonly occur. The differences between national regimes will make it both difficult and costly for the parties to get to grips with different national laws in these areas, and the omission of such provisions is thus contrary to the most important aim of the SPE, which is to „create a corporate form for SMEs, which was inexpensive and easy to use“. Furthermore, the content of national laws is often unclear or the rules on expulsion or withdrawal are not based on company law provisions but on general legal principles, which makes it even harder to get an overview of the applicable law and whether it covers the most relevant conflicts, cf. section 3.c. In countries like Denmark there would be a need for a costly contractual solution, but as shown above there is a high probability of parties not drawing up contractual solutions.

4. Default rules – a more appropriate method of regulation? The chosen regulatory method for the SPE induces high transaction costs and some legal uncertainty. Default rules laid down in legislation – or in a table A concept – can reduce some of these disadvantages, without doing away with flexibility in the form of freedom of contract. The use of efficient default rules means that the legislator bears the costs of regulation, and thus reduces the transaction costs for the parties.70 This means that it becomes easier and cheaper to set up a company, and easier and cheaper to settle disputes. Default rules give a high level of protection to newly established small companies that are least able to bear the costs of drafting individual contracts.71 Default rules express a form of soft paternalism, ensuring that the parties make decisions that are in their best interests, but without depriving them of freedom of choice.72 Default rules also reduce legal uncertainty. As mentioned, in Denmark the 1996 reform of the Private Companies Act was partly based on repealing a number of provisions and leaving regulation to the parties. In the prelegislative documentation to the 1996 Act it was envisaged that the Act would, to some extent, be filled out by general legal principles. However, no guidance was given as to the content of these principles, including whether the gap-filling should draw on the principles of company law or partnership law. This created legal uncertainty as to the content of the Act. In the major reform of Danish company law in 2009 the legislator combined the two Acts (for pri-

__________ 70 Robert A. Hillmann, The Richness of Contract Law: An Analysis and Critique of Contemporary Theories of Contract Law, 1997, 226 and David Charney, Michigan Law Review, 1991, Vol. 89, 1815 (at 1841). 71 Ribstein, 1995 (supra note 50 at 374). Sandra Miller, American Business Law Journal, 2006, Vol. 43, 609, states that there is an urgent need for legislative provisions to protect parties who have not made an agreement, or who use minimum provisions. 72 In contrast to hard paternalism, which is normally coercive. See e.g. Judd F. Sneirson, Wisconsin Law Review, 2008, 22 (ssrn-version).

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vate and for public companies) into one, and regulated the internal matters of companies by default rules. In the legislative proposal in support of combining the two Acts into one and adopting default rules, a reference was made to the fact that: „some of the uncertainty that resulted from the 1996 reform of the Private Companies Act is removed“. With default rules laid down in legislation the same network benefits and learning benefits are obtained as by using standard contracts. The legislation acts as a standard contract, and the parties obtain a number of learning benefits by using the same provisions as other companies. This helps eliminate error costs in connection with the drafting of provisions, and presumably also in relation to interpreting them as the case law etc. interpreting the various provisions will quickly be developed.73 It is on this basis that it is assumed in mainstream economic theory that legislation ought to act as a standard contract, with a view to reducing the transaction costs of the parties. The content of default rules should reflect the agreement which rational, fully informed parties would have entered into, if there were no transaction costs for negotiating and drawing up the contract.74 Thus, a „hypothetical bargaining model“75 is used, where the legislator focuses more abstractly on how most shareholders in a given form of company would arrange for a given situation (majoritarian default rule). However, there can also be problems linked to the use of default rules laid down in legislation. The use of default rules will only save costs if the regulation is efficient. If not, the use of default rules will mean that the parties will incur a number of costs. First, the parties will incur considerable transaction costs if they wish to depart from the default rules by agreement, which will be the case if the gains from using contractual provisions: 1) exceed the parties’ joint transaction costs, 2) exceed the value to the parties of withholding relevant information, and 3) the parties joint preference for the status quo, cf. footnote 29. If this is not the case, the parties will not choose to vary the default rules, but they will incur costs to the extent that rules are not fully efficient. Thus, the drafting of default rules requires legislators to have considerable knowledge of SMEs and their problems. Moreover, default rules may necessarily be aimed at a particular kind of company, and thus those companies that do not match the characteristics of that kind of company are not spared from having to draw up contracts. This was the basis on which the CREDA proposal had two sets of model articles of association, cf. above. There is the further problem that, especially at EU level, default rules are static and do not develop in line with the needs of society.

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73 Kahan & Klausner, 1996 (supra note 43 at 350). 74 Posner, Economic Analysis of Law, 1986, 79–85. 75 William J. Carney, The Journal of Legal Studies, 1997, p. 305; Easterbrook & Fischel, The Economic Structure of Corporate Law, 1991, Chapter 1; and Easterbrook & Fischel in Romano (ed.), Foundations of Corporate Law, 1993), 101, Jonathan R. Macey, Journal of Corporation Law, 1993, 186; and Brian Cheffins (supra note 28, 264).

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5. Conclusion Flexibility through contractual freedom can be achieved by a comprehensive set of default rules which the parties are free to vary, or by leaving the drafting task to the parties, either by imposing an obligation to regulate different matters in the articles of association, or by leaving it to the parties to decide if and how different issues should be regulated. There has been an on-going discussion of whether the method of regulation in the SPE-proposal is appropriate. It is utopia to suggest that it would be possible to set up an optimal method to introduce flexibility through contractual freedom. All regulatory methods have advantages and disadvantages and the choice reflects a trade-off. The result of the assessment essentially depends on the considerations to which one gives priority. The Commission aims at reducing compliance costs. This goal of course stems from a wish to avoid that the parties have to deal with 27 different regulations. But the compliance costs – including transaction costs – are still high. The drafting of a set of coherent and clear provisions in the articles of association that comply with the draft Regulation requires expensive legal advice, which is unfortunate in the light of the fact that the SPE is aimed at SMEs that often suffer from limited financial resources. The costs could be reduced either by introducing different model articles of association that the parties could choose to use, or by introducing a comprehensive set of default rules in the draft Regulation – or as a table A solution. One could argue that to some degree this will deprive the parties of the freedom of choice. In the light of e.g. the status quo bias effect this is probably true, but as argued above this is also the case when the drafting task is left to the parties (their lawyers). In practice, it seems that such individual tailoring rapidly gives way to the use of pre-existing models with largely the same content. Legal certainty is important. A high degree of legal certainty can be achieved by a comprehensive set of default rules. However in the SPE-method of regulation legal certainty depends to some extent on the quality of the articles of association. The risks arising from the parties refraining from regulating key issues for SPEs are reduced by the fact that the Draft Regulation requires the shareholders to regulate a number of matters. The chosen method ensures that central matters are in fact regulated, but requiring regulation in the articles of association is very far from ensuring appropriate, clear and coherent regulation. Therefore, if the regulation of the SPE is intended to ensure a high degree of legal certainty and reduce the transaction costs of setting up a company and at the same time preserve flexibility, much speaks in favour of including a set of default rules in the Regulation or in the form of a Table A concept. A key question is whether the rules should be in the form of legislative provisions or a table A solution. In the light of the need to make adjustments in line with developments, there is much that favours a Table A solution. This would presumably also be more politically acceptable than having to agree a set of default rules in the Draft Regulation. 850

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Finally, as the examples in section 3.d. shows, there seems to be a need to analyse whether the balance between the Regulation and contract of freedom needs to be revised. However, these considerations probably contrast with the political possibility of carrying out the SPE-project. In the light of the experiences with the SE it is probably unrealistic that the Member States will be able to agree on such a comprehensive set of rules. The question is whether it is of greater importance to provide the long-needed supranational company form for SMEs than considering the expediency of the method of regulation. Without a regulatory compromise the birth of the SPE may turn into an even more difficult delivery than was the case with the SE.

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Erzwungener Wettbewerb und Als-ob-Kartellrecht im Gesundheitswesen – eine heilsame Mischung? I. Wenn es mit der Bemerkung des einstigen BGH-Präsidenten und Vorsitzenden des Kartellsenats, Robert Fischer, das GWB sei kein Gesetz, sondern ein Roman; Paragraphen, die sich über drei Buchseiten hinzögen, seien nicht mehr justiziabel,1 seine Richtigkeit hat, dann muss man das Buch V – Gesetzliche Krankenversicherung – des Sozialgesetzbuchs zu einem magnum opus legislativer Romanliteratur erklären. Anlass der nachstehenden, dem Freund und Jubilar gewidmeten Betrachtungen ist indes weniger das Skandalon, dass ein Regelwerk, das der geordneten Versorgung fast der gesamten deutschen Bevölkerung mit buchstäblich lebenswichtigen Gütern dienen soll, mit seinen labyrinthischen Wortgebirgen aus Sozialverwaltungskauderwelsch und dazwischen gestreuten, von Gemeinplätzen kaum zu unterscheidenden „Grundsätzen“2 allenfalls von einer Kaste eingeweihter Savants decodiert und administrativ umgesetzt werden kann, dem juristischen Generalisten aber alles andere als ein mit herkömmlichen Maßstäben der Justiziabilität erschließbares und den unmittelbar Betroffenen auch verständliches Gesetzbuch an die Hand gibt. Dieser Wesenszug des SGB V mag dem Zeitgeist oder den Sachgesetzlichkeiten der Sozialgesetzgebung geschuldet sein. Eine Besserung der gesetzgebungstechnischen Qualität des Sozialrechts, ganz zu schweigen von deren durchgreifender Bereinigung lassen solche Umstände indessen kaum erwarten. Hieran eingehender Kritik üben zu wollen, wäre nichts weiter als eine Übung im Kampf gegen Windmühlenflügel. In frappantem Kontrast zur bleiernen Schwerfälligkeit sozialrechtlicher Gesetzgebungsaktivitäten steht jedoch das politische Hin- und Hergezerre um einen Teilbereich der rechtlichen Ordnung des öffentlichen Gesundheitswesens, dessen Regelungen nicht die Hauptaufgabe, nämlich die Erbringung von Gesundheitspflegeleistungen an die gesetzlich Versicherten, sondern das Versorgungssystem, die Beschaffungsseite des das deutsche Gesundheitswesen beherrschenden Sachleistungsprinzips oder nach Sozialrechtsjargon: die Leistungserbringungsseite des Gesundheitssystems zum Gegenstand haben. Da den Ordnungsprinzipien, die für die Versorgung der Versicherten mit Gesundheitsleistungen gelten, kein systemischer Anreiz zur Erzielung von Kostenreduzierungen oder

__________ 1 WuW 1978, 6 – Kurzmitteilungen. 2 Für beides s. nur beispielshalber SGB V § 70 Qualität, Humanität und Wirtschaftlichkeit sowie § 72 Sicherstellung der vertragsärztlichen und vertragszahnärztlichen Versorgung.

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Einsparungen innewohnt3 und ein Trend zu unaufhaltsamen Kostensteigerungen vorgezeichnet ist, hat die Politik die Leistungserbringungsseite als Ersparnisquelle entdeckt. Befeuert hat diesen Trend des Gesetzgebers, hier einzugreifen, zusätzlich ein in der bundesrepublikanischen Rechtsgeschichte außergewöhnlich verbissen ausgetragener Kompetenzkonflikt zwischen den obersten Bundesgerichten der Sozialgerichtsbarkeit und der Zivilgerichtsbarkeit, nachdem letztere mit ihrer ursprünglich unangefochtenen Zuständigkeit für zivil-, kartell- und lauterkeitsrechtliche Streitsachen im Verhältnis zwischen Krankenkassen und Leistungserbringern zunehmend als Störfaktor aus Sicht der institutionellen Träger des öffentlichen Gesundheitswesens wahrgenommen worden ist.4 Nach einem anfänglich missglückten Versuch, durch das sog. Gesundheitsreformgesetz von 1988 das als sachfremd empfundene Wettbewerbsrecht und die für es zuständige Zivilgerichtsbarkeit ganz aus dem öffentlichen Gesundheitswesen zu verdrängen,5 hat der Gesetzgeber mit dem GKV Gesundheitsreformgesetz 2000 (GKV GRG 2000) v. 20.12.19996 handstreichartig7 tabula rasa und den ganzen Wirtschaftssektor der Leistungserbringung im Gesundheitswesen zu einer Domäne des öffentlichen sc. Sozialrechts gemacht und diesen so zugleich auch der „Alleinherrschaft“ der Sozialgerichtsbarkeit unterworfen, so dass über Maßnahmen der Kassen, die nach bisheriger Rechtslage als Marktmachmißbrauch oder Diskriminierung bspw. bei der Zulassung und Bezahlung von Leistungserbringern zu werten gewesen wären, von den Sozialgerichten nun mit Rückgriff auf Sozialrechtsgrundsätze und den unversehens zur Grundlage einer Kartellrechtsordnung im öffentlichen Recht erhobenen Grundrechtsartikel 128 judiziert werden sollte.9 Daneben und darüber hinaus hat der Europäische Gerichtshof auf der dem nationalen Gesetzgebungszugriff entzogenen Ebene des europäischen Kartellrechts der legislativen Absicherung der Sachwaltungsdomäne der gesetzlichen Krankenversicherungsträger gegen „Störangriffe“ durch Organe der Kartellrechtspflege in einer inzwischen gefestigten Reihe von Entscheidungen10 den nötigen Flankenschutz gegen den vom Gemeinschaftsrecht drohenden Kartell-

__________ 3 Vgl. Monopolkommission, XVIII. Hauptgutachten 2008/2009, BT-Drucks. 17/2600, Rz. 1068, 1071 ff. 4 S. dazu Oehler in FS Priester, 2007, S. 557, 558, 563 ff.; einen Wiederhall dieses – vorübergehend – „zugunsten“ der sozialverwaltungs- bzw. – gerichtlichen Seite „gelösten“ Konflikts zeigen noch die BSG-Urteile v. 12.5.2005 – B 3 KR 32/04 R, NZS 2006, 249, und v. 25.9.2001 – B 3 KR 3/01 R, BSGE 89, 24 Rz. 24 ff. 5 Gesundheitsreformgesetz v. 20.12.1988 (BGBl. I 1988, 2477), dazu vgl. BGHZ 114, 218 – Einzelkostenerstattung; sowie Oehler (Fn. 4), S. 562 f. 6 BGBl. I 1999, 2626. 7 So das Epitheton von Bornkamm in Langen/Bunte, GWB, 11. Aufl. 2011, § 87 Rz. 13; vom BVerfG in seinem Urteil v. 10.6.2009 – 1 BvR 706/08, Rz. 152 zwar als Vorgang gesehen, aber rechtsstaatlich für unbedenklich erachtet. 8 Vgl. hierzu Rixen, Sozialrecht als öffentliches Wirtschaftsrecht, 2005, S. 227 ff. 9 Rechtsprechungsbericht dazu bei Oehler in FS Möschel, 2011, S. 451, 455 m. w. N. 10 EuGH v. 5.3.2009 – Rs. C-350/07 – Kattner Stahlbau; EuGH v. 16.3.2004 – Rs. C-264/01, C-306/01 und C-355/01, Slg. 2004 I, 2493, Rz. 69 – AOK Bundesverband/Ichthyol-Gesellschaft; EuGH v. 11.7.2006 – Rs. C-205/03, Slg. 2006, I-6295 – Fenin; EuGH v. 17.2.1993 – Rs. C-159/91, C-160/91, Slg. 1993, I-637 – Poucet et Pistre.

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rechtseinfluß geleistet. In offenbar bedenkenfreiem (und überraschendem) Umgang mit dem kartellrechtlichen Unternehmensbegriff, dessen Geltung für das Einkaufsgebaren und die wirtschaftliche Bedarfsdeckung von Sozialverwaltungskörperschaften bis dahin nicht in Frage gestanden hatte, ist von ihm den Krankenkassen die Unternehmenseigenschaft in Bezug auf ihre Nachfragetätigkeit auf den Leistungserbringermärkten abgesprochen worden.11 Kurz: das Geschäftsgebaren der Krankenkassen bei der Beschaffung von Gesundheitsleistungen zur Erfüllung ihres Versorgungsauftrags ist aufgrund dieser Rechtssprechung für Europakartellrechtswächter „off limits“. II. Hat der Pendelausschlag der Regulierung des Gesundheitswesens mit dem GKV-Gesundheitsreformgesetz 2000 (GKV-GRG 2000) nahezu das eine Extrem in Richtung auf fast ausschließlich vom Sozialrecht bestimmte quasi planoder verwaltungswirtschaftliche Verhältnisse im Gesundheitssektor erreicht, so wenig, oder besser gesagt, noch weniger hat der Pendelrückschlag nach der anderen Seite auf sich warten lassen. Man kann es nur einer Veränderung der politischen Mehrheiten und der vermutlich damit verbundenen Bereitschaft, Bedenken gegen den mit dem GKV-GRG 2000 geschaffenen Rechtszustand von wirtschaftsverfassungsrechtlicher und ordnungspolitischer Seite Gehör zu schenken, zuschreiben, dass bei einem nur sechs Jahre später auf den Weg gebrachten Reformgesetzgebungsverfahren mit dem kurios anmutenden Titel Gesetz zur Stärkung des Wettbewerbs in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV-WSG) zunächst der bisherige Rechtszustand in Bezug auf das Kartellrecht beibehalten werden,12 dann jedoch gewissermaßen in einer rechtspolitischen halben Rolle rückwärts gleich das GWB in Bausch und Bogen13 gemäß § 69 (I) SGB V „entsprechend“ für den Leistungserbringerbereich gelten sollte. Schlussendlich aber, wohl weil man mit dem GWB etwas zu weit vorgeprescht zu sein glaubte, machte man im weiteren Verlauf der Beratungen nochmals eine Volte zurück, indem das GWB nun stark reduziert auf das Diskriminierungs- und Missbrauchsverbot14 mit §§ 19 bis 21 in § 69 Abs. 1 SGB V mit entsprechender Geltung für einen beschränkten Kreis von Verträgen mit Leistungserbringern Eingang gefunden hat. Als durchaus gesehene und gewollte Folge ist daneben eine Spaltung der Rechtswege für Sozialkartellsachen

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11 Möschel, JZ 2007, 601, 602 spricht hier von „Begriffsjurisprudenz in ihrer übelsten Form“; i. Ü. s. Nachw. Fn. 8. 12 Vgl. BT-Drucks. 16/3100 v. 24.10.2006, Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung des Wettbewerbs in der gesetzlichen Krankenversicherung. 13 Vgl. Bundesrat, Empfehlungen der Ausschüsse zum Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung des Wettbewerbs in der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz – GKV-WSG) v. 4.12.2006, Drucks. 755/1/06 Nr. 23; sowie RegE GKV-WSG, BT-Drucks. 16/3950 v. 20.12.2006, S. 15 (Art. 1 Nr. 20). 14 Vgl. Empfehlungen der Ausschüsse zum Entwurf eines GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetzes – GKV-WSG, BR-Drucks. 755/1/06 v. 4.12.2006; sowie Gegenäußerung der Bundesregierung zu der Stellungnahme des Bundesrats, BT-Drucks. 16/4020 v. 11.1.2007, S. 2; und die Gesetzestext gewordene Beschlussempfehlung des Ausschusses für Gesundheit (14. Ausschuss), BT-Drucks. 16/4200 v. 31.1.2007, S. 29.

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und „normale“ Kartellsachen geschaffen worden. Den Sozialgerichten sollten nun die nur Leistungserbringer betreffenden Rechtsstreitigkeiten mit kartellrechtlichen Einschlag vorbehalten bleiben,15 der Zivilgerichtsbarkeit alle übrigen außerhalb des von den Gesetzlichen Krankenversicherungsträgern kontrollierten Marktgeschehens für Gesundheitsgüter liegenden Kartellstreitsachen. Nur die rechtspolitische Kurzlebigkeit16 dieser Sozialkartellrechtsschimäre hat verhindert, dass der damit vollzogene eklatante Bruch mit der wirtschaftsverfassungsrechtlichen Tradition der Bundesrepublik,17 wie es eine Spaltung der Kartellrechtspflege in eine ordentliche und eine – kartellamtsfreie – Sozialkartellgerichtsbarkeit gewesen wäre, praktische Relevanz in der Rechtswirklichkeit erlangt hat. Nicht nur dieser Vorgang rechtfertigt, in Bezug auf den hier betrachteten Ausschnitt der Sozialgesetzgebung von rechtspolitischem Gezerre zwischen kartellrechtsaffinen und kartellrechtsaversen Sozialrechtspolitikern zu sprechen. Fast parallel zur Reintegration der zitierten Kartellrechtsnormen ins SGB V hat sich das öffentliche Vergaberecht als ein ähnlich wie die Kartellrechtsfrage bitter umkämpfter Zankapfel entpuppt, zumal letzteres entsprechend deutschen rechtspolitischen Ordnungsvorstellungen in der Kartellrechtspflege angesiedelt worden ist18 und trotz dieser Zuordnung von den gesetzlichen Krankenversicherungsträgern als unbestreitbar öffentlichen Auftraggebern in Anbetracht der Vergaberechtsrichtlinie19 nicht mehr ignoriert werden konnte. Das hat eine Kontroverse über der Frage entbrennen lassen, ob Rechtsmittel in Vergaberechtsstreitigkeiten von den nach § 116 Abs. 1 und 3 GWB zuständigen ordentlichen oder von den gemäß § 51 Abs. 2 SGG für LeistungserbringerKartellsachen zuständigen Sozialgerichten entschieden werden sollten.20 Hierzu hat das insoweit ganz im Geiste des GKV-WSG kaum ein Jahr nach dessen Inkrafttreten auf den Weg gebrachte, grotesk betitelte GKV-Organisationsstruktur-Weiterentwicklungsgesetz (GKV-OrgWG) eine ähnlich halbherzige Lösung wie in Bezug auf das Kartellrecht getroffen. Das materielle Vergaberecht des GWB gilt sonach einschließlich des Nachprüfungsverfahrens für Krankenkassen in Anbetracht der gemeinschaftsrechtlicher Richtlinienvor-

__________ 15 S. § 51 (Abs. 2) SGG in der gemäß Art. 1 des Gesetzes zur Änderung des Sozialgerichtsgesetzes und des Arbeitsgerichtsgesetzes v. 26.3.2008, BGBl. I 2008, 444, geltenden und auch der dieser vorausgehenden Fassung. 16 Beendigung durch das Gesetz zur Neuordnung des Arzneimittelmarkts in der gesetzlichen Krankenversicherung (AMNOG) v. 22.12.2010, BGBl. I 2010, 2262, in Kraft getreten am 1.1.2011. 17 S. dazu die an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig lassenden Ausführungen des Kartellsenats in BGHZ 114, 218 – Einzelkostenerstattung – zu einer noch früheren und gesetzgebungstechnisch problematischen Fassung des § 51 SGG. 18 S. dazu BGH, NJW 2008, 3222 – Rabattvereinbarungen. 19 Richtlinie 2004/18/EG des europäischen Parlamentes und des Rates v. 31.3.2004 über die Koordinierung der Verfahren zur Vergabe öffentlicher Bauaufträge, Lieferaufträge und Dienstleistungsaufträge, ABl. L 134/114 v. 30.4.2004. 20 S. den in z. T. bemerkenswert gereiztem Unterton gehaltenen Beschluss des BSG v. 22.4.2008 – B 1 SF 1/08 R, NJW 2008, 3238, und den zur gleichen Rechtswegstreitsache ergangenen (halb so langen) Beschluss des BGH v. 15.7.2008 – X ZB 17/08, NJW 2008, 3222 – Rabattvereinbarungen, alle m. w. N. zur lit. „Begleitmusik“.

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gabe unmittelbar; die Rechtsmittel sind hingegen bei den Sozialgerichten einzulegen, wobei als Zugeständnis an das im GWB vorgesehene Muster statt des Vergabesenats des zuständigen OLG nun nicht das Sozialgericht, wie es das BSG ursprünglich noch vor Klärung der Rechtslage durch den Gesetzgeber für richtig gehalten hatte,21 sondern das Landessozialgericht als Beschwerdeinstanz berufen sein soll. Die das Bild der Lage vervollständigende Konsequenz all dessen ist, dass dem Gesetzgeber offenbar die Kontrolle über die Bereitstellung von Versorgungsleistungen im Gesundheitswesen durch die von den Krankenkassen bevorzugten22 „systemeigenen“ Gerichte wichtiger war als Beibehaltung der für alle sonstigen Sektoren der öffentlichen Beschaffungswirtschaft geltenden Ordnungsregeln. Es hat insofern Symptomatisches, wenn der Präsident des BSG glaubt annehmen zu können,23 dass sich „mancher Sozialrechtler“ den Tag der Verkündung des GKV-OrgWG – vermutlich nicht aus Kummer über zu erwartende Mehrarbeit – im Kalender „rot angestrichen“ habe. III. Lässt sich der Gang der GKV-Gesetzgebung im Leistungserbringungssektor des öffentlichen Gesundheitswesens näherungsweise einer Echternacher Springprozession vergleichen, so versagt diese Metapher vor dem heute erreichten – und vorhersehbarer Weise nur bis zu einer mit politischem Farbenwechsel verbundenen Bundestagswahl andauernden – Rechtszustand. Dieser wird durch das fast schon traditionsmäßig monströs betitelte Arzneimittelmarkt-Neuordnungsgesetz (AMNOG) v. 27.12.201024 bestimmt. Es führt den 2007 mit dem GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz (GKV-WSG) eingeleiteten Trend spiegelbildlich zur einstigen Extremgesetzgebung des GKV-Gesundheitsreformgesetzes 2000 rückwärts ins andere Extrem fort. Denn im Leistungserbringerbereich sollen nun für die Geschäftbeziehungen zwischen Gesetzlichen Krankenkassen und Leistungserbringern fast das ganze GWB d. h. das Kartellverbot, das Missbrauchs-, und Diskriminierungs- sowie die Behinderungsverbote einschließlich der Rechtsschutz- und Sanktionsregelungen„entsprechend“ gelten. Ausgenommen bleibt – aus Sicht der Sozialversicherungsträger nur zu verständlich – die Fusionskontrolle. Das Vergaberecht gilt für die GKV nach wie vor unverändert. Diesen rechtspolitischen Roll-back perfekt macht die Begleitgesetzgebung über die Rechtsprechungszuständigkeiten. Die Sozialgerichte verlieren ihre Zuständigkeit für Kartell- und Vergabesachen, der alte durch das GWB bestimmte Rechtszustand tritt auch im Leistungserbringungsbereich des öffentlichen Gesundheitswesens wie ursprünglich wieder in Kraft. Zu Triumph besteht allerdings auch für kartellrechtsaffine Skeptiker gegenüber dem zu Vor-AMNOG-Zeiten herrschenden eher verworrenen als über-

__________ 21 Vgl. BSG (Fn. 19), Rz. 48 ff. 22 Vgl. Schriftliche Bewertung des GKV-Spitzenverbandes zu den Änderungsanträgen zum GKV-OrgWG im Nachgang zur Anhörung im Gesundheitsausschuss des Deutschen Bundestages v. 19.9.2008, S. 14. 23 Masuch, NZS 2009, 241. 24 BGBl. I 2010, 2262.

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zeugenden Rechtszustand25 kein Anlass. Gegen den Regelungsansatz des Gesetzgebers, den Gesetzlichen Krankenkassen wegen ihrer fehlenden Unternehmenseigenschaft die „entsprechende“ Geltung des Kartellrechts zu verordnen, sind von kartellrechtlich namhafter Seite, wenngleich bezeichnender Weise in einem vom AOK-Bundesverband bestellten Gutachten,26 nicht einfach von der Hand zu weisende Bedenken erhoben worden. Die Autoren sehen den Vorrang des Gemeinschaftsrechts auf dem Gebiet des Kartellrechts verletzt. Außerdem verbiete der Grundsatz der Unionstreue den Mitgliedstaaten, in Fällen mit Potential zur Beeinträchtigung des zwischenstaatlichen Handels ihrem Kartellrecht auf eine Weise zur Wirksamkeit zu verhelfen, die mit dem Gemeinschaftskartellrecht nicht vereinbar sei. Da die Gesetzlichen Krankenkassen nach europäischem Kartellrecht keine Unternehmen seien, dürfe Kartellrecht auf sie auch nicht angewendet werden. Die Anordnung der entsprechenden Geltung des GWB sei nur eine Umgehung des gemeinschaftsrechtlichen Anwendungsvorrangs. Der zuzugebendermaßen verblüffende Einwand kann letzten Endes nicht, geschweige denn zwingend überzeugen. Der Unternehmensbegriff bestimmt den persönlichen Anwendungsbereich des Kartellrechts; er begrenzt diesen auf privatautonom bestimmte wirtschaftliche Tätigkeit. Damit verhindert der Unternehmensbegriff zugleich aber auch die Geltung des mitgliedstaatlichem Einfluss entzogenen Gemeinschaftskartellrechts in Bereichen, die der souveränen politischen und legislativen Gestaltung der Mitgliedsstaaten vorbehalten sind. Wo der Staat gegenüber der Gemeinschaft unabhängige Gesetzgebungshoheit besitzt, soll er an deren Wahrnehmung nicht durch Kartellrechtsregeln gehindert werden können. Der die gesetzlichen Sozialkassen ausnehmende Unternehmensbegriff bedeutet im Hinblick auf das Unionskartellrecht, dass letzteres die Befugnis der Mitgliedstaaten unberührt lässt, ihre Systeme der sozialen Sicherheit auszugestalten.27 Das schließt die Befugnis der Mitgliedstaaten mit ein, ihren Sozialversicherungsträgern Verhaltensregeln vorzuschreiben, die ebenso wie ihr Kartellrecht oder das gemeinschaftsrechtliche Kartellrecht gestaltet sind. Ein Nachahmungsverbot für Kartellrechtsvorschriften gibt es nicht. Die Freiheit der Mitgliedstaaten, ihren Sozialversicherungsträgern Verhaltensregeln ihrer Wahl vorzuschreiben, endet im Blick auf das Kartellrecht nur an Regelungen, die die praktische Wirksamkeit der für die Unternehmen gelten-

__________ 25 Dazu Oehler (Fn. 9). 26 Bechtold, Rainer/Brinker, Ingo/Holzmüller, Tobias, Rechtliche Grenzen der Anwendung des Kartellverbots auf die Tätigkeit gesetzlicher Krankenkassen, www.bpb.de/ sosi/material/AAD346.pdf; das ebenfalls prominent beschickte, vom Bundesverband der Pharmazeutischen Industrie bestellte Gegengutachten Ehlermann, Claus-Dieter/ Kamann, Hans-Georg, Die unionsrechtliche Zulässigkeit einer Anwendung des Kartellverbots auf die Leistungsbeziehungen in der gesetzlichen Krankenversicherung, August 2010, www.bpi.de/bpi-Stellungnahmen, hat gleichfalls nicht auf sich warten lassen. 27 So seit EuGH v. 7.2.1993 – C-159/91, Slg. 1993, I-637 – Poucet et Pistre st. Rspr.; s. auch Schlussanträge des Generalanwalts in der Rs. C-350/07 – Kattnerstahlbau, Rz. 69.

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den Wettbewerbsregeln aufheben könnten.28 Dies wäre der Fall, „wenn ein Mitgliedstaat gegen Art. 101 AEUV verstoßende Kartellabsprachen vorschreibt oder begünstigt oder die Auswirkungen solcher Absprachen verstärkt oder wenn er seiner eigenen Regelung dadurch ihren staatlichen Charakter nimmt, dass er die Verantwortung für in die Wirtschaft eingreifende Entscheidungen privaten Wirtschaftsteilnehmern überträgt“.29 Kurz: die Frage könnte also nur sein, ob und in welcher Weise die praktische Wirksamkeit der für die Unternehmen geltenden Wettbewerbsregeln dadurch aufgehoben oder beeinträchtigt werden könnte, dass den Gesetzlichen Krankenversicherungsträgern kartellrechtsgemäßes Verhalten auf ihren Nachfragemärkten wie desgleichen auch den Leistungserbringern gegenüber den Kassen vorgeschrieben wird. Die Frage mag Gegenstand subtilen Grübelns sein; prima vista ist jedenfalls nichts ins Auge Springendes ersichtlich, das die Annahme rechtfertigte, Anordnung von Kartellrechtstreue für Nichtunternehmen im öffentlichen Gesundheitswesen erzeuge einen unzulässigen Kartellrechtsvereitelungseffekt auf Gemeinschaftsebene. IV. Schon bekannt und vielfach gewendet ist die grundsätzlichere Frage nach der ordnungstheoretischen Vereinbarkeit von strikter Kartellrechtstreue der öffentlichen Krankenversicherungsträger und an den öffentlichen Gesundheitspflegeauftrag gebundene Leistungsbeschaffung,30 insbesondere innerhalb des über Generationen gewachsenen und ohne Kartellrechtsskrupel ausgebauten Gesetzeskorsetts des SGB V,31 dessen Funktionstüchtigkeit, nach dem korporatistischen Verständnis seiner Anwender eher durch Konglomeration und Vereinheitlichung, einen Trend zu großen Einheiten und Losgrößen, durch Kooperation, Vergemeinschaftung und Zusammenschlüsse befördert wird als durch Flexibilisierung, Differenzierung, Diversifizierung, Bedarfs- und Markterkundung und ähnlichen unternehmenstypischen wettbewerbsinduzierten Marktaktivitäten. Der innerhalb des gesetzlichen Krankenversicherungssystems immer wieder ausgerufene und gern beschworene „Wettbewerb“ hat evidentermaßen mit dem Wettbewerb nichts zu tun, dessen Bewahrung und Gewährleistung Gegenstand des GWB ist. Solche Wettbewerbsvorstellungen beziehen sich regelmäßig nur auf die Versorgungsseite der öffentlichen Gesundheitspflege bzw. auf das Gebaren der Kassen gegenüber ihren Mitgliedern, das aufgrund jenes Kassenwettbewerbs auf eine möglichst effiziente, wirtschaftliche und stetig verbesserte Versorgung gerichtet sein soll.32 Dies ist ein eindimen-

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28 Vgl. EuGH v. 3.3.2011 – C-437/09 – AG2R Prévoyance, WuW/E EU-R 1929, Rz. 38. 29 EuGH, a. a. O. (Fn. 27). 30 Vgl. Becker/Kingreen, NZS 2010, 417, 419; Kingreen, ZESAR 2007, 139; Monopolkommission (Fn. 3), Rz. 1055f ff. 31 S. dazu insbes. Monopolkommission (Fn. 3), Rz. 1059 f. 32 Vgl. BVerfGE 113, 167, Rz. 172; Entwurf eines Gesetzes zur Reform des Risikostrukturausgleichs in der gesetzlichen Krankenversicherung, BT-Drucks. 14/6432, S. 1 u. 14; Entwurf eines Gesetzes zur Sicherung und Strukturverbesserung der gesetzlichen Krankenversicherung (Gesundheits-Strukturgesetz), BT-Drucks. 12/3808, S. 69.

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sionaler Wettbewerb nach dem Muster eines organisierten Wettkampfs auf sozialversorgerischem Gebiet. Alle diese Vorstellungen ignorieren, dass der Wettbewerb, der Regelungsgegenstand des GWB ist, ein spontaner Prozess ist, der ohne äußeres Zutun durch unternehmerische Akteure entsteht. Das deutsche öffentliche Gesundheitswesen beruht auf Zwangskörperschaften mit Gemeinwohlauftrag; es ist ein staatlich initiiertes, getragenes und gesteuertes Institutionensystem, dessen Gestalt ein Mischprodukt aus überkommener Tradition und – wechselndem – legislativem Ordnungswillen ist. Die Erfüllung seiner Aufgaben ist Verwaltungsangelegenheit und erwächst nicht aus einem spontanen sozialen Vorgang. Die Anwendung von Kartellrechtsregeln, namentlich des Kartellverbots auf diese Seite des Kassenhandelns macht naturgemäß keinen Sinn. Ein Wettbewerbsverhalten, wie es das GWB als Realität voraussetzt, mögen Verwaltungsfunktionäre infolge entsprechender Anweisungen vielleicht simulieren können. Aber ein Verhalten, als ob Wettbewerb bestünde, schafft nicht den Wettbewerb, dessen es bedürfte, um dessen sonst gern genossene Früchte zu ernten. Das Kassenverhalten auf der Nachfrageseite der Leistungserbringermärkte ist nicht in gleicher Weise rechtlich zielgebunden wie die Versorgung ihrer Mitglieder. Determiniert oder nur in schwerfälligen Verfahren mehr oder weniger zentralisiert gestaltbar ist lediglich ihr Güterbedarf, dessen Deckung aber nicht durch Entscheidungsträger bewerkstelligt wird, die stets mit denen identisch wären, die über die zu Versorgungszwecken zu deckenden Bedarfe befinden. Wo Entscheidungszuständigkeit und Risikoverantwortung nicht deckungsgleich sind, sind über den Markt nicht korrigierbare Fehlanreize vorprogrammiert. Das im öffentlichen Gesundheitswesen virulente Verbandswesen begünstigt daneben die einseitige Aktivierung des Marktverhaltensparameters, den die Maxime prägt: „je günstiger, desto besser“. Das mag als Rechtfertigung der Ausbeutung von Lieferanten aus Kassensicht in unmittelbarer Kurzfristperspektive vorteilhaft anmuten, schwerlich aber dem nicht nur privaten Interesse an deren wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit und Innovationsstärke dienlich sein,33 davon abgesehen, dass Missbräuche von Einzel- und Kartellmarktmacht ohnehin auch ohne Rückgriff auf die neu ins Gesetz gekommenen GWB-Vorschriften unzulässig wäre.34 Die Auferlegung kartellrechtlicher Marktverhaltensregeln ist in Anbetracht all dessen kaum von unmittelbarem Wettbewerbsbelang für die Krankenkassen. Sie kann dazu beitragen, dem Wettbewerb der Leistungserbringer förderlich zu sein. Dass das Kartellverbot die Existenzberechtigung mancher Erscheinung des Kassenverbandswesens und dessen Aktivitäten in Frage stellen mag, kann in Anbetracht des Ausnahmevorbehalts in § 69 Abs. 2 Satz 2 u. 3 SGB V zugunsten der Erfüllung gesetzlicher Verpflichtungen der Kassen und ihrer Verbände einem letztlich auch im Interesse der Versicherten liegenden Interesse an Verschlankung nur vorteilhaft sein. Wirkung als Entbürokratisierungstreibmittel liegt zwar nicht selbstverständ-

__________ 33 S. zu diesem Aspekt Möschel, JZ 2007, 601, 605. 34 Möschel, JZ 2007, 601, 604; Roth, GRUR 2007, 645, 655.

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lich im Zielraum eines Kartellgesetzes, einer Belebung von Wettbewerb wäre es immerhin mit größerer Wahrscheinlichkeit von Nutzen als von Nachteil. Eines kann aber wohl eine größere Prognosesicherheit als das Vorige beanspruchen: Wettbewerb nach gängigem Kartellrechtsverständnis kann nicht in einem Milieu funktionieren, das diesen als systemfremd und solidaritätsfeindlich ansieht, und dies noch einmal mehr unter institutionellen Bedingungen, die den Verwaltungstugenden der Beständigkeit und Zieltreue günstiger sind als der ständigen Suche nach Neuem oder dem Anreiz, das Entdeckungsverfahren, das der Wettbewerb stimuliert, in Gang zu halten. Gewiss ist auch, dass der Jubilar als Rechtswissenschaftler und als Mensch eher bei den Innovatoren und Gestaltern als den Verwaltern zu finden ist und, das wünsche ich von Herzen, noch lange unter ihnen zu finden sein wird.

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Das polnische Konzernrecht – Bemerkungen de lege lata und de lege ferenda

I. Das Konzernrecht liegt seit Jahrzehnten im Zentrum des wissenschaftlichen Interesses des Jubilars. Davon zeugen sowohl seine viel beachtete Habilitationsschrift,1 die die konzernrechtliche Diskussion in Deutschland wesentlich beeinflusst hat, als auch zahlreiche wissenschaftliche Aufsätze und Bearbeitungen in diesem Bereich.2 Dabei hat der Jubilar internationale und europarechtliche Aspekte der konzernrechtlichen Problematik stets im Auge gehabt.3 Dieser Bericht über den aktuellen Stand und die neuesten Entwicklungen im polnischen Konzernrecht ist in Dankbarkeit und Verehrung Peter Hommelhoff, der ein großer Freund Polens ist, gewidmet. Als Mitbegründer der Schule für Deutsches Recht an der Jagiellonen-Universität Krakau und Betreuer zahlreicher rechtsvergleichender Dissertationen war – und stets bleibt – Professor Hommelhoff „Spiritus Rector“ der deutsch-polnischen Zusammenarbeit auf dem rechtswissenschaftlichen Feld. Das polnische Gesetzbuch der Handelsgesellschaften (poln. Kodeks Spó»ek Handlowych, weiter: KSH) aus dem Jahre 2000, das die grundsätzliche, umfangreiche Rechtsquelle des polnischen Gesellschaftsrechts darstellt,4 enthält keine konzeptionell stimmige und ausgereifte Regelung des Konzernrechts. Ausweislich der amtlichen Begründung zum KSH haben sich die damaligen Mitglieder des Expertenausschusses im Rahmen der Kodifikationskommission und zugleich die Verfasser des KSH-Entwurfs5 gegen eine komplexe Kodifizierung des Konzernrechts nach dem deutschem Vorbild ausgesprochen und auf

__________ 1 Konzernleitungspflicht, 1982. 2 Vgl. nur Hommelhoff, Empfiehlt es sich, das Recht faktischer Unternehmensverbindungen neu zu regeln?, Gutachten G für den 59. Deutschen Juristentag, München 1992. 3 Aus dem reichen Schrifttum des Jubilars vgl. Konzernrecht für den Europäischen Binnenmarkt, ZGR 1992, 422; Corporate Law for Europe – the Principles and Proposals of the Forum Europaeum, in M. Neville/K. E. Sørensen (Hrsg.), The Internalisation of Companies and Company Laws, Copenhagen 2001, S. 11. 4 KSH regelt Personenhandelsgesellschaften (dies sind OHG, KG, Partnerschaftsgesellschaft und KGaA) und Kapitalgesellschaften (GmbH und AG) sowie die Umwandlungen (einschließlich der grenzüberschreitenden Verschmelzung). Allgemein zum poln. Gesellschaftsrecht vgl. Liebscher/Zoll (Hrsg.), Einführung ins polnische Recht, 2005, S. 390 ff. 5 Dies waren vier namhafte Hochschullehrer: Andrzej Szajkowski, Stanis»aw So»tysin´ski, Janusz Szwaja, Andrzej Szuman´ski.

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die Regelung einiger ausgesuchter Aspekte des Konzernphänomens beschränkt.6 Dafür wurden zum einen rechtspolitische und rechtsvergleichende Gründe angeführt (u. a. die Aufgabe der Arbeiten an der sog. Konzernrichtlinie in der EU, der Sonderweg-Charakter, der dem deutschem Konzernrecht zugeschrieben wird). Zum anderen hat man darauf hingewiesen, dass die konzernrechtliche Problematik im polnischen wissenschaftlichen Schrifttum zu wenig herausgearbeitet worden sei, weshalb kein ausreichender Boden für eine große Kodifikation des Konzernrechts gegeben wäre. Die Entwicklung einer konzernrechtlichen Regelung wollte man entweder der weiteren Diskussion im Schrifttum oder einer „Nachlieferung“ durch die Rechtsprechung überlassen. Im Ergebnis ist die im KSH enthaltene Regelung des Konzernrechts recht fragmentarisch. Als deren wichtigsten „Bausteine“ sind die folgenden Vorschriften des allgemeinen Teils des KSH zu nennen: – die Definition der Beherrschung (Art. 4 § 1 Ziffer 4 KSH), die sich hauptsächlich am europäischen Kontroll-Begriff orientiert und auf die in anderen KSHVorschriften (etwa in der Regelung des Erwerbs der eigenen Aktien, Art. 365 § 2 KSH oder der Informationsrechte der Aktionäre, Art. 428 § 2 KSH) Bezug genommen wird, – die Pflicht der herrschenden Gesellschaft, die abhängige Gesellschaft über die Entstehung des Herrschaftsverhältnisses zu informieren (Art. 6 § 1 KSH), flankiert von einem Informationsanspruch der Gesellschafter und der Organträger der (potenziell) abhängigen Kapitalgesellschaft in Bezug auf die tatsächlichen Machtverhältnisse in dieser Gesellschaft (Art. 6 § 4 KSH), – Offenlegungspflichten im Fall des Abschlusses eines Konzernvertrags, d. h. des Vertrages, welcher die Führung der abhängigen Gesellschaft oder die Gewinnabführung aus einer solchen Gesellschaft vorsieht (Art. 7 KSH).7 Darüber hinaus enthält das KSH einige konzernrechtliche Teilregelungen, die im KSH „verstreut“ und oft unklar formuliert sind. Einen konzernbezogenen Charakter kann man in einigen GmbH- und aktienrechtlichen Vorschriften erblicken, wie etwa in der Regelung des Gesellschafterausschlusses (Art. 266

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6 Zur Geschichte der polnischen Konzernrechtsregelung eingehend Schubel, Gestaltungsfreiheit und Gestaltungsgrenzen im polnischen Vertragskonzernrecht, 2010, S. 20 ff. 7 Art. 7 KSH sieht vor, dass im Fall des Abschlusses eines Vertrages zwischen der herrschenden und der abhängigen Gesellschaft, der die Führung der abhängigen Gesellschaft oder die Abführung des Gewinns durch die abhängige Gesellschaft vorsieht, der Auszug aus dem Vertrag, der die Bestimmungen über den Umfang der Haftung der herrschenden Gesellschaft für den der abhängigen Gesellschaft infolge der Nicht- oder Schlechterfüllung des Vertrages zugefügten Schaden sowie den Umfang der Haftung der herrschenden Gesellschaft für die Verbindlichkeiten der abhängigen Gesellschaft gegenüber deren Gläubigern enthält, bei den Registerakten der abhängigen Gesellschaft zu hinterlegen ist (§ 1). Der Offenlegung unterliegt auch der Umstand, dass der Vertrag die Haftung der herrschenden Gesellschaft nicht regelt oder ausschließt (§ 2). Die Nichtanmeldung der Umstände, die der Offenlegung bedürfen, innerhalb von drei Wochen ab dem Abschluss des Vertrages hat die Unwirksamkeit der Bestimmungen, die die Haftung der herrschenden Gesellschaft gegenüber der abhängigen Gesellschaft oder deren Gläubigern begrenzen oder ausschließen, zur Folge (§ 3 Satz 2).

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KSH) bzw. der Squeeze Out (Art. 4181 KSH) oder der Nachgründung (Art. 394 KSH). Von einem schlüssigen legislatorischen Gesamtkonzept lässt sich allerdings bestimmt nicht sprechen. Es ist insbesondere nicht klar, welches konzernrechtrechtliches Modell der polnische Gesetzgeber verwirklichen wollte: Konzernrecht als ein Schutzrecht, das vorrangig Interessen abhängiger Gesellschaften und deren Außenseiter, d. h. der Minderheitsgesellschafter und Gläubiger, vor der Ausbeutung durch die herrschende Gesellschaft schützen soll oder Konzernrecht als ein Organisationsrecht, das die Erleichterung und die rechtliche Absicherung der Führung der Gesellschaftsgruppen und der in ihnen zusammengefassten Gesellschaften primär zum Zweck hat. Die in den genannten Vorschriften vorgesehenen Mitteilungspflichten und Informationsrechte berechtigen die These, dass der polnische Gesetzgeber den erforderlichen Außenseiterschutz in einer konzernierten Gesellschaft vor allem durch Offenlegung und Transparenz verwirklichen will. Dabei setzt er auf den Selbstschutz der Betroffenen, denen er entsprechende Instrumente zu Verfügung stellt.8

II. Im polnischen Schrifttum ist der rechtliche Charakter der in Art. 7 KSH enthaltenen fragmentarischen Regelung des Konzernvertragsrechts umstritten. Man mag streiten, ob der polnische Gesetzgeber in dieser Regelung die Schaffung eines Organisationsrechts der Gesellschaftsgruppe ansatzweise anstrebte. Wenn er diese Regelung tatsächlich, wie vereinzelt behauptet wird, als einen obligatorischen Regelungsauftrag ausgestalten wollte,9 so hätte er mindestens diejenigen Fragen ausdrücklich bestimmen sollen, die in einem Konzernvertrag von dessen Parteien privatautonom geregelt werden müssten. Anders als etwa im ungarischen Konzernvertragsrecht,10 fehlt in Art. 7 KSH ein ausdrücklicher, an Gesellschaften adressierter Auftrag, in einem Konzernvertrag bestimmte Fragen – vor allem diejenigen, die den Schutz der Minderheitsgesellschafter und Gläubiger in der abhängigen Gesellschaft betreffen – privatautonom zu regeln. Die gesetzliche Pflicht, kompensatorische Maßnahmen im Konzernvertrag vorzusehen, lässt sich aus der vagen und fragmentarischen Regelung des Art. 7 KSH kaum ableiten. Vor allem aber lässt die polnische Regelung den organisationsrechtlichen Charakter der Konzernverträge außer Acht.11 Bemerkenswert ist, dass das Erfordernis der Zustimmung der Gesellschafterbzw. Hauptversammlung für den Abschluss eines Konzernvertrages erst durch die KSH-Novelle aus dem Jahr 2003 eingeführt wurde (Art. 228 Pkt 6, Art. 393 Pkt 7 KSH). Nach dem geltenden Recht bedarf der Zustimmungsbeschluss keiner qualifizierten Mehrheit. Wenn man aber den Konzernvertrag (insbesondere den Beherrschungsvertrag) als die maßgebliche Rechtsgrundlage für eine

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8 So zutreffend Schubel (Fn. 6), S. 120. 9 So Schubel (Fn. 6), S. 179. 10 Vgl. § 56 Abs. 3 des ungarischen Gesetzes über Wirtschaftsgesellschaften, dazu Schubel (Fn. 6), S. 425 ff. 11 Vgl. Opalski in W. J. Katner (Hrsg.), System Prawa Prywatnego, Bd. 9, Prawo zobowia3zan´ – umowy nienazwane, 2010, S. 938 i n.

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rechtsmäßige Ausübung der Konzernleitungsmacht ansieht, so muss man konstatieren, dass der Abschluss dieses Vertrages einen tiefen Eingriff in die Verfassung der abhängigen Gesellschaft darstellt. Der Beherrschungsvertrag verändert ihre Zielbestimmung und wirtschaftliche Ausrichtung; außerdem formt dieser das innere Kompetenzgefüge der Untergesellschaft um.12 Im Ergebnis derer Unterordnung einer einheitlichen Konzernleitung verlieren ihre Organe die eigenständige Position und können als Instrument der einheitlichen Konzernsteuerung eingesetzt werden. Die Geschäftsleiter in der abhängigen Gesellschaft sind zur Realisierung der von der herrschenden Gesellschaft angenommenen Strategie und zur Ausführung der von ihr (scil. von ihrem Vorstand) erteilten Weisungen verpflichtet. Dies bleibt aber im Spannungsverhältnis mit dem Grundsatz, dass die Organträger an das Gesellschaftsinteresse gebundenen sind, auch wenn dieses Interesse in der polnischen Rechtsprechung aus der Perspektive der Gesellschafter (Aktionäre) als eine „Resultante“ oder als ein Kompromiss deren Interessen definiert wird.13 Deswegen kann nur eine positive konzernvertragliche Regelung die Funktion der Konzernverträge in körperschaftsrechtlichen Verhältnissen erklären und eine rechtssichere Grundlage für ihre praktische Handhabung schaffen. Die Einführung einer solchen Regelung in das polnische Recht ist nachdrücklich zu postulieren.14 Sie soll erstens die Zulässigkeit der vertraglichen Unterstellung der abhängigen Gesellschaft unter eine einheitliche Konzernleitung ausdrücklich vorsehen und zweitens, einen Mindestkatalog der in solchem Vertrag zu regelenden Fragen, und zwar vor allem die Pflicht zur Einführung der kompensatorischen Maßnahmen für die Außenseiter, bestimmen. Im Hinblick auf den organisationsrechtlichen Charakter der Konzernverträge soll für deren Abschluss in allen Gesellschaften, die den Konzernvertrag abschließen, ein Zustimmungsbeschluss der Gesellschafter- bzw. Hauptversammlung mit der qualifizierten, für Satzungsänderungen vorgesehenen Mehrheit gefasst werden. Der gesetzgeberischen Entscheidung bedarf auch die im Schrifttum umstrittene Frage, ob Art. 7 KSH als Grundlage für eine spezielle Konzernhaftung der herrschenden Gesellschaft für die Verbindlichkeiten der Untergesellschaft betrachtet werden kann.15 Nach der richtigen Auffassung ist diese Frage de lege lata zu verneinen, weil eine solche Haftung, die ja eine Ausnahme von dem das Kapitalgesellschaftsrecht prägenden Grundsatz der Haftungsbeschränkung darstellt (Art. 151 § 4, Art. 391 § 4 KSH), nicht vermutetet, sondern im Gesetz ausdrücklich (samt der detaillierten Modalitäten) vorgesehen und geregelt werden soll.16 Die fehlerhafte, unklare Formulierung des Art. 7 § 2 KSH kann jedoch in der Praxis die Interpretationsfrage auslösen, ob im Fall des Abschlusses eines Konzernvertrages

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12 Vgl. nur Raiser/Veil, Recht der Kapitalgesellschaften, 5. Aufl., S. 707 f. Im polnischen Schrifttum: Opalski (Fn. 11), S. 937. 13 Urteil des Obersten Gerichts v. 5.11.2009, OSNC 2010/4, Pos. 53. Zum Begriff des Gesellschaftsinteresse im polnischen Schrifttum vgl. Opalski, PPH 2008/11, 17; Oplustil, Instrumenty nadzoru korporacyjnego (corporate governance) w spó»ce akcyjnej, 2010, 171. 14 So auch Doman´ski/Schubel, PPH 2011/5, 5, 12. 15 Vgl. dazu Schubel (Fn. 6), S. 166 ff. 16 So auch Targosz, Rejent 2003/1, 105, 128; Opalski (Fn. 11), S. 937.

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der fundamentale kapitalgesellschaftsrechtliche Grundsatz, wonach der Gesellschafter (hier: die herrschende Gesellschaft) für die Verbindlichkeiten der (abhängigen) Gesellschaft nicht haftet, gilt. Dies verursacht das Rechtsrisiko, welches die polnische Praxis vom Abschluss der Konzernverträge abschreckt. Im Ergebnis ist festzustellen, dass Art. 7 KSH ein klassisches Beispiel für das missglückte legal transplant aus dem deutschen (Konzern-)Recht darstellt. Der polnische Gesetzgeber hat den Begriff des Vertragskonzerns in das geltende Recht übertragen, ohne jedoch den Versuch unternommen zu haben, dieses neue Rechtsinstitut an die rechtlich-institutionelle Umgebung (etwa an die Vorschriften über die Zuständigkeiten der Gesellschaftsorgane oder über den Minderheit- und Gläubigerschutz) anzupassen. Die fragmentarische und unklare Regelung der Konzernverträge, welche erhebliche Interpretationsschwierigkeiten auslöst und mit den anderen KSH-Vorschriften im Spannungsverhältnis bleibt, reicht bei Weitem nicht aus, um rechtssichere Grundlage für die Organisation und Leitung der Vertragskonzerne zu schaffen und zugleich die Interessen der Außenseiter zu sichern. Die Streichung des Art. 7 KSH stellt allerdings keine gute Lösung dar, weil dadurch den bereits in der Praxis funktionierenden wenigen Vertragskonzernen rechtliche Grundlage entzogen würde. Ein Beherrschungsvertrag, kraft dessen die Organe der abhängigen Gesellschaft zum Instrument der Ausübung der Konzernleitung durch die herrschende Gesellschaft „degradiert“ werden, kann nicht unter bloßer Berufung auf die allgemeine zivilrechtliche Vertragsfreiheit (Art. 3531 poln. ZGB) abgeschlossen werden, weil er mit den KSH-Vorschriften über gesetzliche Zuständigkeiten der Gesellschaftsorgane unvereinbar wäre.17 Dasselbe betrifft auch den Gewinnabführungsvertrag, weil dessen Inhalt gegen die zwingende Kompetenz der (ordentlichen) Gesellschafter- bzw. Hauptversammlung verstößt, über die Bestimmung des Jahresgewinns zu entscheiden (Art. 231 § 2 Pkt 2, Art. 395 § 2 Pkt 2 KSH).18 Die Bedeutung der Konzernverträge kann somit nicht auf bloße schuldrechtliche Verhältnisse zwischen den an ihm beteiligten Gesellschaften reduziert werden („Konzernvertrag als bloßer schuldrechtlicher Vertrag“), weil sie als Organisationsverträge zwingend die Sphäre der körperschaftsrechtlichen Verhältnisse zwischen ihnen sowie ggf. zwischen der Untergesellschaft und ihren Minderheitsgesellschaftern betreffen. Will der polnische Gesetzgeber den Konzernvertrag als ein funktionsfähiges Instrument der Konzernleitung ausgestalten und der Praxis zur Verfügung stellen, so führt kein Weg an dem Ausbau und der Präzisierung der gesellschaftsrechtlichen Regelung vorbei – sei es nach dem deutschen, sei es nach dem ungarischen Vorbild. Nur am Rande ist zu bemerken, dass die praktische Attraktivität des Vertragskonzerns auch von der Einführung einer Regelung ins polnische Steuerrecht wesentlich abhängt, die die sog. steuerliche Organschaft vorsehen würde. De lege lata funktionieren die Vertragskonzerne nicht nur im gesellschaftsrechtlichen, sondern auch im steuerrechtlichen „Vakuum“.19

__________ 17 A. A. aber Szuman´ski, PiP 2001/3, 20, 29. 18 Anders Ge3bala, Rejent 2009/9, 37, 41. 19 So zutreffend Opalski (Fn. 11), S. 940.

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III. In der polnischen Praxis spielen die faktischen Gesellschaftsgruppen eine weitaus größere Rolle als die Vertragskonzerne, die nur vereinzelt vorhanden sind. Die Gesellschaftsgruppen existieren als ein wirtschaftliches Phänomen; als eine rechtliche Organisationsform der modernen Wirtschaft werden sie jedoch vom polnischen Gesetzgeber nicht anerkannt. Dem im KSH enthaltenen Kapitalgesellschaftsrecht liegt der Begriff einer selbständigen Gesellschaft zugrunde, deren Organmitglieder das objektive, autonome Gesellschaftsinteresse zu verfolgen haben. Ein Gesellschafter- bzw. Hauptversammlungsbeschluss, der gegen das Gesellschaftsinteresse verstößt, kann unter Umständen anfechtbar sein (Art. 249 § 1, Art. 422 § 1 KSH).20 Es ist grundsätzlich ausgeschlossen, das Gesellschaftsinteresse vollständig dem Interesse einer anderen, herrschenden Gesellschaft zu unterstellen.21 Nach dem polnischen Obersten Gericht, das sich einer in der Lehre vertretene Auffassung angeschlossen hat, kann das Gesellschaftsinteresse mit dem Interesse des Mehrheitsgesellschafters nicht identifiziert werden, sondern ist als ein Kompromiss zwischen den oft divergierenden Interessen der Groß- und Kleingesellschafter zu verstehen.22 Das Gesellschaftsinteresse soll vorrangig aus der Perspektive der Gesellschafter (Aktionäre), die als „wirtschaftliche Eigentümer“ der Gesellschaft zu betrachten sind, definiert werden. Es stellt eine „Resultante“ oder einen „gemeinsamen Nenner“ der Interessen aller Gesellschaftergruppen dar, der unter Berücksichtigung des im Gesellschaftsvertrag bzw. in der Satzung deklarierten, den Gesellschaftern gemeinsamen Ziels zu bestimmen ist. Nach der im Schrifttum überwiegenden, obwohl nicht unumstrittenen Ansicht ist auch die Einmann-Kapitalgesellschaft als ein eigenständiges Rechtssubjekt anzusehen, das ihre eigene, vor den schädigenden Eingriffen des alleinigen Gesellschafters zu schützende Interessensphäre hat.23 Andernfalls wäre die Rechtspersönlichkeit der Einmann-Gesellschaft zu einer bloßen Fiktion herabgestuft. Die Pfleger und Hüter des Gesellschaftsinteresses sind die Mitglieder ihrer Organe und zwar in der ersten Reihe – die Vorstandsmitglieder.24 Für die ordentliche Ausführung ihrer Funktionen haften sie zivil- und strafrechtlich, wobei die strafrechtliche Haftung bis vor kurzem besonders rigoros ausgestaltet war. Nach einer inzwischen (im Juni 2011) aufgehobenen, unklaren Regelung des Art. 585 KSH waren die Organ-

__________ 20 Ein Verstoß gegen das Gesellschaftsinteresse stellt einen unselbständigen Anfechtungsgrund dar. 21 Ausführlich zur Diskussion im polnischen Schrifttum über die Zulässigkeit und Grenzen der einheitlichen Konzernleitung s. Schubel (Fn. 6), S. 149 ff. 22 Urteil des Obersten Gerichts v. 5.11.2009, OSNC 2010/4, Pos. 53. Im Schrifttum etwa Opalski, PPH 2008/11, 17. 23 Vgl. Szuman´ski, PPH 2010/5, 9, 11 ff.; B»aszczyk, MoP 2011/19, 1029, 1035. A. A. Romanowski, PPH 2008/7, 4, 11, der das Interesse einer 100 % abhängigen Gesellschaft mit dem Interesse des alleinigen Gesellschafters identifiziert. 24 Im polnischen Recht heißt das Geschäftsführungsorgan „Vorstand“ sowohl in der AG, als auch in der GmbH.

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träger für die „Handlungen zum Schaden der Gesellschaft“ strafrechtlich haftbar.25 In der AG üben die Vorstandsmitglieder ihre gesetzliche Leitungsaufgabe völlig autonom aus und sind an Weisungen anderer Gesellschaftsorgane nicht gebunden. Nach der im Jahre 2003 ins KSH hinzugefügten Regelung kann weder die Hauptversammlung noch der Aufsichtsrat dem Vorstand bindende Anweisungen bezüglich der Geschäftsführung erteilen (Art. 3751 KSH). Ob dieser Grundsatz auch für die GmbH gilt, bleibt umstritten. Dagegen und für die Gebundenheit der GmbH-Vorstandsmitglieder an Gesellschafterweisungen sprechen gewichtige Gründe, und zwar: das Fehlen einer solchen Vorschrift im GmbH-Recht; die gesetzliche Regelung, wonach Vorstandsmitglieder der GmbH u. a. an die ihnen in Gesellschafterbeschlüssen auferlegten Beschränkungen gebunden sind (Art. 207 KSH) und nicht zuletzt – der rechtliche Charakter der GmbH als einer geschlossenen, privaten Gesellschaft. Die wohl unüberschreitbare Grenze dieser Weisungsgebundenheit stellt das Verbot der Ausführung von rechtswidrigen Beschlüssen oder auch jenen, die die Zufügung eines Nachteils für die Gesellschaft zur Folge haben, dar. Allerdings ist hervorzuheben, dass Vorstandsmitglieder in beiden Kapitalgesellschaftstypen jederzeit und ohne einen wichtigen Grund (ad nutum) von der Gesellschafter- bzw. Hauptversammlung abberufen werden können (Art. 368 § 4 Satz 2, Art. 370 § 1 KSH). Die praktische Bedeutung des oben erwähnten Grundsatzes einer autonomen Leitung der AG durch ihren Vorstand wird dadurch wesentlich abgeschwächt. Schon diese kurze Skizze der aktuellen Rechtslage kann zum Schluss führen, dass das aktuelle polnische Kapitalgesellschaftsrecht der Verfolgung von Konzerninteressen und der Ausübung der einheitlichen Konzernleitung nicht besonders förderlich ist. Es ist nicht klar, ob bzw. unter welchen Bedingungen die Geschäftsleiter das Interesse der Gruppe, deren Mitglied die von ihnen geleitete Gesellschaft ist, (mit-)berücksichtigen dürfen. Bildlich gesagt, befinden sich die Organträger einer abhängigen Gesellschaft oft zwischen Hammer und Amboss: Erfüllen sie die von der Muttergesellschaft erteilten und einem von ihr definierten Konzerninteresse dienenden Weisungen, die sich jedoch für die abhängige Gesellschaft möglicherweise als nachteilig erweisen können, so setzen sie sich der Gefahr der zivil- und strafrechtlichen Haftung aus. Lehnen sie die Ausführung solcher Anweisungen unter Berufung auf das autonome Interesse der von ihnen geleiteten Gesellschaft ab, so laufen sie Gefahr, vom herrschenden Gesellschafter sogleich abberufen zu werden.

IV. Vor dem Hintergrund der skizzierten Rechtslage wundert es nicht, dass vor allem die polnischen Unternehmer und Rechtspraktiker das Postulat der Ein-

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25 Die Funktion des aufgehobenen Art. 585 KSH soll ein neuer Verbrechenstyp der „Herbeiführung einer direkten Gefahr der Zufügung vom wesentlichen Vermögensschaden“ (sog. „schadenslose Unwirtschaftlichkeit“, Art. 296 § 1a poln. StGB) übernehmen. S. dazu. Zaw»ocki, MoP 2011/18, 965.

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führung einer gesetzlichen Regelung der faktischen Gesellschaftsgruppen erhoben haben.26 Das Postulat zielt auf die gesetzliche Legitimierung der Organisation und Führung von faktischen Konzernen ab. Der polnische Gesetzgeber sollte sich also bemühen, das Konzernorganisationsrecht – ergänzt um die Regeln zum notwendigen Schutz der Außenseiter (Minderheitsgesellschafter und Gläubiger) – zu schaffen. Als Eckpunkte der künftigen konzernrechtlichen Regelung wurden genannt: erstens, die gesetzliche Verankerung des Begriffs des Konzerninteresses, auf das sich die Organmitglieder sowohl der herrschenden, als auch der abhängigen Gesellschaften berufen können sollten, und zweitens, die gesetzliche Präzisierung der Bedingungen, unter welchen die von der Muttergesellschaft erteilten und für die abhängige Gesellschaft ggf. nachteiligen Weisungen durch die Geschäftsführungsorgane der letzteren erfüllt werden könnten.27 Als mögliche Inspirationsquellen wurden einerseits – das deutsche Konzernrecht, andererseits – das in der Rechtsprechung der französischen Gerichte entwickelte „Rozenblum“-Konzept28 vorgeschlagen. Diesen Forderungen der Praxis entgegenkommend hat die Kodifikationskommission für das Zivilrecht am Justizministerium im März 2010 einen Entwurf für das Recht der faktischen Gesellschaftsgruppe vorbereitet und zur Diskussion gestellt.29 Der Entwurf enthält eine legale Definition der Gesellschaftsgruppe. Darunter sind eine herrschende Gesellschaft und mindestens eine von ihr abhängige Gesellschaft zu verstehen, die in einer faktischen oder vertraglichen, dauerhaften organisatorischen Verbindung bleiben und ein gemeinsames Wirtschaftsinteresse („das Interesse der Gesellschaftsgruppe“) haben. Die herrschende oder die abhängige Gesellschaft sollen ihre Beteiligung in der Gesellschaftsgruppe im Unternehmerregister registrieren und veröffentlichen lassen. Die wohl zentrale Bedeutung kommt der geplanten Regelung zu, wonach sich die an der (registrierten) Gesellschaftsgruppe beteiligte Gesellschaft auf das Gruppeninteresse berufen kann, soweit eine fragliche Geschäftsführungsmaßnahme auch im Interesse dieser Gesellschaft liegt und die berechtigten Interessen der Gläubiger und der Minderheitsgesellschafter in der abhängigen Gesellschaft dadurch nicht angetastet werden. Die Möglichkeit der Berufung auf das Gruppeninteresse soll insbesondere den Organmitgliedern in der abhängigen Gesellschaft zustehen. Die übrigen vorgeschlagenen Regelungen sehen

__________ 26 Romanowski, PPH 2008/7, 4; Kwas´nicki/Nilsson, PPH 2007/12, 26; Staranowicz, KPP 2009/2, 371. 27 Kwas´nicki/Nilsson, PPH 2007/12, 26, sprechen in diesem Zusammenhang vom „legalen Handeln zum Schaden der abhängigen Gesellschaft“. 28 Vgl. dazu im deutschen Schrifttum: Falcke, Konzernrecht in Frankreich, 1996, S. 38 f.; Lächler, Das Konzernrecht der Europäischen Gesellschaft (SE), 2007, S. 168 ff. Zur Übernahme dieses Konzepts ins europäische Recht: Forum Europaeum Konzernrecht, ZGR 1998, 672, 705. 29 Der Jubilar hat den Regelungsvorschlag in seinem zu Ehren von Prof. Dr. Dr. h.c. mult. M. Lutter am 2. Juni 2011 in Warschau gehaltenen Vortrag („Für ein Recht der faktischen Gesellschaftsgruppe in Polen. Anmerkungen zum Regelungsvorschlag der Kodifikationskommission“) einer tiefgreifenden Analyse unterzogen. Die polnische Fassung dieses Vortrags wurde in der Beilage zum Monitor Prawniczy (MoP) 2011/24, 11, veröffentlicht (Mitverfasserin: J. Schubel).

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recht spärlich aus. Die Funktion der geplanten Regelung als ein „enabling law“30 soll in der Berechtigung der herrschenden Gesellschaft zum Vorschein kommen, in die Bücher und Unterlagen der abhängigen Gesellschaft jederzeit einzusehen und von ihr die Auskunftserteilung zu verlangen. Dem Außenseiterschutz sollen noch zwei besondere Instrumente dienen: Erstens, die Pflicht des Vorstandes der abhängigen Gesellschaft zur Erstellung eines jährlichen Berichts über deren Verträge und „sonstige Verbindungen“ mit der herrschenden Gesellschaft und zweitens, das Recht jedes Minderheitsgesellschafters in der abhängigen Gesellschaft, eine Sonderprüfung der gesamten Gesellschaftsgruppe zu verlangen. Der Entwurf sieht jedoch weder Austritts- bzw. Ausgleichrechte der Minderheitsgesellschafter noch besondere Regelungen, die dem Schutz der Gläubiger der abhängigen Gesellschaft unmittelbar dienen würden (etwa eine besondere Konzernhaftung der Muttergesellschaft).31 Die Kodifikationskommission will auch die fragmentarische konzernvertragliche Regelung des Art. 7 KSH streichen lassen. Nach der Entwurfsbegründung sollte dies allerdings nicht bedeuten, dass der Abschluss der Konzernverträge verboten sei. Die Zulässigkeit solcher Verträge ergebe sich aus dem allgemeinen zivilrechtlichen Grundsatz der Vertragsfreiheit.32 Das Erfordernis der Zustimmung der Gesellschafter- bzw. Hauptversammlung für den Abschluss eines Konzernvertrages (in einem mit der lediglich absoluten Mehrheit gefassten Beschluss) soll beibehalten werden. Der Kommissionsentwurf wurde im Schrifttum überwiegend kritisch aufgenommen.33 Der geplanten Regelung wird zutreffend vorgeworfen, dass sie die wichtigsten Postulate der Praxis nicht verwirklicht. Entgegen dem Postulat, Handlungen im Konzerninteresse auch dann zuzulassen, wenn sie, separat betrachtet, für die abhängige Gesellschaft zwar nachteilig sein, aber in der längeren Perspektive ausgeglichen werden können, geht die geplante Regelung vom absoluten Vorrang des Interesses der abhängigen Gesellschaft sowie deren Minderheitsgesellschafter und Gläubiger vor dem Interesse der Gesellschaftsgruppe aus.34 Das letztere Interesse kann nur dann berücksichtigt werden, wenn eine Geschäftsführungsmaßnahme zugleich im Interesse der abhängigen Gesellschaft liegt und die „berechtigten“ Interessen deren Außenseiter nicht berührt. Der Entwurf bestätigt somit die aktuelle Rechtlage und schafft keinen „sicheren Hafen“ für die Organmitglieder der abhängigen Gesellschaft, welche das Konzerninteresse realisieren möchten. Die geplante Regelung ist unpräzise

__________ 30 So die treffende Formulierung von Hommelhoff/Schubel, Beilage zum MoP 2011/24, 11. 31 Der Entwurf begründet diese Enthaltsamkeit mit dem Bestreben der Kommission, den Gesellschaftern die Bildung einer Gesellschaftsgruppe finanziell nicht übermäßig zu erschweren. Kritisch dazu Lutter, MoP 2011/8, 436, 438. 32 Dass diese Begründung nicht überzeugend ist, wurde schon oben (unter II.) dargestellt. 33 Kwas´nicki, PPH 2011/3, 22; Doman´ski/Schubel, PPH 2011/5, 5; Hommelhoff/ Schubel, Beilage zum MoP 2011/24, 11, 16 ff. sowie die Aufzeichnung der Diskussion der Praktiker: „Prawo o grupach spó»ek musi nada3zac´ za praktyka3“, Przegla3d Corporate Governance, 2010/2, 3. 34 So ausdrücklich der Entwurfsverfasser, Szuman´ski, PPH 2010/5, 9, 12 ff.

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und lädt zu verschiedenen Interpretationen ein, was in der Praxis zur Unsicherheit führen kann.35 Insbesondere ist zweifelhaft, ob diese Regelung die für abhängige Gesellschaften nachteiligen Maßnahmen zulässt und zwar selbst dann, wenn sie sich im Rahmen einer kohärenten Gruppenpolitik rechtfertigen lassen. Am Entwurf wird auch zutreffend bemängelt, dass er das im Schrifttum empfohlene „Rozenblum“-Konzept auf eine unvollständige Weise umsetzt.36 Das Erfordernis einer „verfestigten Gruppenstruktur“ kann zwar aus der „dauerhaften organisatorischen Verbindung“ in der Legaldefinition der Gesellschaftsgruppe noch hergeleitet werden. Die zwei übrigen Legitimationsvoraussetzungen der „Rozenblum“-Doktrin, d. h. die kohärente Gruppenpolitik und die Sicherung eines tatsächlichen Gesamtausgleichs von Vor- und Nachteilen innerhalb der Gruppe, lassen sich den geplanten Vorschriften jedoch nicht entnehmen. Ein Gesetzgeber, der für faktische Konzerne ein Rechtssicherheit stiftendes gesetzliches Fundament schaffen will, soll die Voraussetzungen der Verfolgung des Konzerninteresses deutlich und präzise bestimmen und eine klare Regelung vor allem für die Fälle bereitstellen, in denen separat betrachtete Geschäftsführungsmaßnahmen für einzelne Gruppengesellschaften nachteilig sein können. Der Kommissionsentwurf hat dieses Anliegen der Rechtspraxis leider nicht erfüllt. Kritisch zu betrachten sind auch die im Entwurf vorgesehenen Vorkehrungen zum Schutz der Außenseiter, vor allem der Minderheitsgesellschafter. Einerseits kann sich die unvollständige Umsetzung des „Rozenblum“-Konzepts, d. h. das Fehlen einer Regelung, welche den tatsächlichen Ausgleich zwischen Vorteilen und Lasten innerhalb der Gruppe vorsähe, auch auf die Interessen der Außenseiter in abhängigen Gesellschaften negativ auswirken. Andererseits besteht die Gefahr, dass die Ausgestaltung des Rechts auf konzernweite Sonderprüfung als ein Individualrecht jedes Kleingesellschafters und -aktionärs zu Missbräuchen und Erpressungsversuchen führen wird.37 Auch wenn die Einführung eines solchen Instruments durchaus plausibel erscheint, soll es jedoch als ein qualifiziertes Minderheitenrecht ausgestaltet sein. Einer mehr detaillierten Regelung bedarf ferner das Verfahren zur Durchsetzung dieses Rechts. Auf berechtigte Kritik ist ebenfalls der Vorschlag gestoßen, die fragmentarische konzernvertragliche Regelung des Art. 7 KSH zu streichen.38

V. Nach der überwiegend kritischen Aufnahme des Entwurfs wurde er ad acta gelegt. Gemäß der offiziellen Mitteilung des Justizministeriums können weitere legislatorische Arbeiten an einer gesetzlichen Regelung erst „nach dem Herausarbeiten neuer konzeptioneller Richtsätze im Bereich des Konzernrechts“ wieder aufgenommen werden. Es mag offenbleiben, ob dies nur eine kurze schöpferische Pause oder endgültige Aufgabe des legislatorischen Vorhabens

__________ 35 36 37 38

Doman´ski/Schubel, PPH 2011/5, 5, 8; Kwas´nicki, PPH 2011/3, 22, 27. Hommelhoff/Schubel, Beilage zum MoP 2011/24, 11, 16. Hommelhoff/Schubel, Beilage zum MoP 2011/24, 11, 19. Doman´ski/Schubel, PPH 2011/5, 5, 12.

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bzw. dessen Aufschieben „ad calendas graecas“ bedeutet. In diesem Zusammenhang stellt sich die fundamentale Frage, ob die polnische Praxis eine gesetzliche Regelung des Konzernrechts wirklich dringend braucht. Dabei soll berücksichtigt werden, dass die Anwendung neuer Vorschriften (zumindest am Anfang) mit Auslegungsproblemen verbunden ist und in der Praxis Rechtsunsicherheit verursachen kann. Damit ist insbesondere dann zu rechnen, wenn die neue Regelung fragmentarisch bzw. unvollständig ist und unbestimmte Begriffe enthält. Als Alternative für eine gesetzliche Regelung bietet sich deswegen an, die Fortentwicklung des polnischen Konzernrechts der Rechtsprechung und der Lehre zu überlassen. Zurückgreifend auf die Vorarbeiten in der Lehre könnten die Instanzgerichte und das Oberste Gericht die dem „Rozenblum“-Konzept zugrunde liegende Idee eines gruppeninternen Gleichgewichts zwischen Vorteilen und Lasten rezipieren. Es gibt schon heute einige Zeichen, die für die Übernahme dieser Idee durch polnische Gerichte sprechen können.39 Als ein Einfallstor für die Berücksichtigung des Konzerninteresses kann der richtig verstandene Begriff des Gesellschaftsinteresses betrachtet werden. Wenn man diesen Begriff nicht völlig autonom, sondern vorrangig aus der Perspektive der hinter der Gesellschaft stehenden Gesellschafter bzw. Aktionäre definiert, so kann das Interesse der ganzen Gruppe, der die betreffende Gesellschaft angehört, als eine der Determinanten ihres Interesses betrachtet werden.40 Der vom polnischen Obersten Gericht akzeptierte Gedanke vom Kompromisscharakter des Gesellschaftsinteresses könnte auf die Konzern-Ebene überführt werden und das Gebot des gruppeninternen Ausgleichs der Vor- und Nachteile der einzelnen Gruppengesellschaften berechtigen. Gegen die rasche Wiederaufnahme der legislatorischen Arbeiten am Konzernrecht kann auch der Umstand sprechen, dass sich ein Bedarf an einer solchen Regelung teilweise entschärft hat. Die mit der Verfolgung von Konzerninteressen verbundenen Rechtsrisiken haben sich insbesondere durch die Aufhebung der unklaren, strafrechtlichen Regelung des Art. 585 KSH, in dem die Ahndung des „Handeln zum Schaden der Gesellschaft“ von Amts wegen vorgesehen war,41 einigermaßen verringert. Auch die Gefahr, dass die Organträger wegen der

__________ 39 Zum Beispiel das Urteil des Stettiner Kreisgerichts, das die Manager der Stettiner Werft-Holding vom Vorwurf der Untreue (Art. 296 poln. StGB) freigesprochen hat. In der Begründung wurde festgestellt, dass die Vornahme eines für die Holdinggesellschaft nachteiligen, gruppeninternen Geschäfts dann zulässig sei, wenn es mit Vorteilen, die sich aus der Zugehörigkeit zu der Gruppe ergeben, kompensiert wird. Vgl. das Interview mit So»tysin´ski, Czy regulowac´ stosunki w holdingu, „Rzeczpospolita“ v. 8.10.2008. 40 In diese Richtung auch B»aszczyk, MoP 2011/19, 1029, 1034 ff. 41 Allerdings ist zu betonen, dass der neu eingeführte Verbrechenstyp der „Herbeiführung einer direkten Gefahr der Zufügung vom wesentlichen Vermögensschaden“ (sog. „schadenslose Unwirtschaftlichkeit“, Art. 296 § 1a poln. StGB) ebenfalls Auslegungsprobleme bereitet. S. dazu Zaw»ocki, MoP 2011/18, 965. Im Unterschied zum gestrichenen Tatbestand des „Handels zum Schaden der Gesellschaft“ (Art. 585 KSH) wird die „schadenslose Unwirtschaftlichkeit“ nicht von Amts wegen, sondern nur auf Antrag des Beschädigten (d. h. der Gesellschaft, die von ihren Managern der direkten Schadensgefahr ausgesetzt wurde) geahndet. Die Stellung eines solchen Antrags in Konzernverhältnissen ist eher unwahrscheinlich.

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Ausführung der im Konzerninteresse liegenden Maßnahmen zur zivilrechtlichen Schadensersatzhaftung gegenüber der Gesellschaft gezogen werden (Art. 293, Art. 483 KSH), scheint im Lichte der neueren Rechtsprechung, in der die gesetzlichen Voraussetzungen dieser Haftung eng ausgelegt werden,42 nicht besonders groß zu sein. Ein neuer Anstoß für die Aufnahme der legislatorischen Arbeiten am polnischen Konzernrecht kann aus der Europäischen Union kommen. In ihrem am 5.4.2011 veröffentlichten Bericht über die Zukunft des Europäischen Gesellschaftsrecht hat sich die von der EU-Kommission berufene Expertengruppe („Reflektionsgruppe“) u. a. mit der Frage befasst, ob das Konzerninteresse auf der Ebene des Europäischen Rechts anerkannt werden soll.43 Die Experten sind der Meinung, dass einige schwerwiegende Argumente für die EU-weite Anerkennung des Konzerninteresses sprechen und zwar vor allem die Erleichterung der flexiblen und rechtsicheren Führung von grenzüberschreitenden Gesellschaftsgruppen.44 Deswegen sollte die EU-Kommission mindestens erwägen, eine Empfehlung zu erlassen, in der das Gruppeninteresse anerkannt und dessen Berücksichtigung bei unternehmerischen Entscheidungen zugelassen wird. Die Annahme einer solchen EU-Empfehlung könnte die polnische Kodifikationskommission dazu veranlassen, die Arbeit am Recht der faktischen Gesellschaftsgruppen wieder aufzunehmen. Aber auch in Deutschland könnte diese europäische Initiative einen Impuls für die Überprüfung des bisherigen konzernrechtlichen Ansatzes, der manchmal als zu kompliziert und wenig flexibel betrachtet wird, beisteuern. Hoffentlich werden die Vertreter der deutschen und polnischen Rechtslehre dabei im Dialog bleiben und damit die langjährige Tradition – zu deren Pflege der Jubilar ein wesentliches Stück beigetragen hat – fortsetzen. Ad multos annos!

__________ 42 Nach der Rechtsprechung des Obersten Gerichts (Urt. v. 9.2.2006 – V CSK 128/05, TPP 2006/2, 133) ist die Voraussetzung der Rechtswidrigkeit nur dann erfüllt, wenn ein Organträger gegen eine konkrete, im Gesetz oder im Gesellschaftsvertrag (in der Satzung) ausdrücklich formulierte Pflicht verstoßen hat, woraus der Gesellschaft ein Schaden entstanden ist. Ein Verstoß gegen den gesetzlichen Sorgfaltsmaßstab reicht allerdings nicht aus, um die Schadensersatzhaftung zu begründen. Kritisch dazu Oplustil, Instrumenty nadzoru koporacyjnego (corporate governance) w spólce akcyjnej, 2010, S. 762 ff.; So»tysin´ski, Za jakie b»e3dy odpowiada prezes, „Rzeczpospolita“ v. 11.10.2011. 43 Report of the Reflection Group on the Future of EU Company Law, Brussels, 5.4.2011, S. 60 ff. 44 „In order to enhance the flexibility of the management of groups especially on a cross-border basis, an EU recommendation should bring the consecration of the interest of the group („Konzerninteresse“, „intérêt du groupe“, „interesse di gruppo“).“ Report (Fn. 43), S. 60.

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Betriebsführungsverträge im Aktienkonzern – organisationsrechtliche Instrumente Inhaltsübersicht I. Thema II. Erscheinungsformen 1. Begriff, Rechtsnatur 2. Vertragsinhalte 3. Regelung der Weisungsbefugnis a) Gesetzliche Weisungsrechte b) Ausschluss der Weisungsbefugnisse c) Erweiterte Rechte des Eigentümerunternehmens 4. Konzernexterne und konzerninterne Verträge 5. Wirtschaftliche Zielsetzungen III. Zulässigkeit 1. Grundsatz 2. Grenzen IV. Streitfrage: Organisations- oder Schuldvertrag 1. Herrschende Beurteilung: Unternehmensvertrag

2. Gegenposition: Rein schuldrechtlicher Vertrag V. Erfordernis der Anwendung von § 293 AktG 1. Kompetenzabgrenzung Vorstand/ Hauptversammlung 2. Die Verträge des § 292 Abs. 1 Nr. 3 AktG 3. Strukturveränderung 4. Konsequenzen VI. Sonderfragen im Konzern 1. Isolierte Betriebsführungsverträge 2. Verdeckte Beherrschungsverträge 3. Kombinierte Verträge 4. Tochtergesellschaft als Betriebsführerin VII. Zusammenfassung

I. Thema Betriebsführungsverträge spielen in der Unternehmenspraxis eine bedeutende Rolle. Sie haben ein weites Anwendungsfeld, sind nicht auf Aktiengesellschaften oder GmbH beschränkt, sondern finden sich auch im Bereich der Personengesellschaften und werden sowohl zwischen unverbundenen Unternehmen geschlossen als auch und vor allem im Konzern. Hier soll es unter Ausklammerung der GmbH und der Personengesellschaften um Betriebsführungsverträge zwischen Aktiengesellschaften gehen, nicht zuletzt um solche zwischen Konzernunternehmen. Der aktienrechtliche Betriebsführungsvertrag wird herkömmlich als organisationsrechtlich eingestuft und den Regeln des Unternehmensvertrags unterstellt. Demgegenüber mehren sich im Schrifttum neuerdings die Stimmen, die in ihm lediglich schuldrechtliche Vereinbarungen sehen wollen, mit der Konsequenz, dass er auch ohne Zustimmung der Hauptversammlung und Eintragung in das Handelsregister wirksam wird. Ihre These soll in folgenden einer kritischen Überprüfung unterzogen werden. 875

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Wenn diese Überlegungen zu Ehren meines jahrzehntelangen wissenschaftlichen Gesprächspartners und persönlichen Freundes Peter Hommelhoff angestellt werden, hängt dies damit zusammen, dass sich der Jubilar schon in seiner wegweisenden Habilitationsschrift mit den Grundfragen des Aktienkonzerns auseinandergesetzt und dabei natürlich auch den Betriebsführungsvertrag in den Blick genommen hat.

II. Erscheinungsformen 1. Begriff, Rechtsnatur Mit einem Betriebsführungsvertrag beauftragt ein Unternehmen – das Eigentümerunternehmen – ein anderes Unternehmen – den Betriebsführer –, seinen Betrieb namens und für Rechnung des Eigentümers zu führen.1 Es kommt auch vor, dass der Betriebsführer zwar auf Rechnung des Eigentümers, aber im eigenen Namen handelt. Man spricht dann von „unechten“ Betriebsführungsverträgen.2 Der Betriebsführungsvertrag ist als solcher gesetzlich nicht geregelt. Für ihn gelten im Grundsatz die Bestimmungen zum Auftrag (§§ 662 ff. BGB). Da der Betriebsführer zumindest in aller Regel gegen Entgelt tätig wird,3 finden die Auftragsvorschriften über die Verweisung des § 675 BGB (Geschäftsbesorgungsverträge) Anwendung.4 2. Vertragsinhalte Vertragskern ist in jedem Falle die Betriebsführung auf Rechnung des Eigentümerunternehmens: Der Betriebsführer hat herauszugeben, was er aus der Betriebsführung erlangt (§ 667 BGB), dafür sind ihm die Aufwendungen zu erstatten, die er zum Zweck der Betriebsführung macht (§ 670 BGB). Gewinne und Verluste aus der Betriebsführung treffen nicht den Betriebsführer, sondern das Eigentümerunternehmen Dieses trägt damit weiterhin das wirtschaftliche Risiko. Gegenstand des Vertrages können sowohl der ganze Betrieb des Eigentümerunternehmens sein als auch einzelne Betriebe oder Betriebsteile. Möglich ist

__________

1 Statt vieler Altmeppen in MünchKomm. AktG, 3. Aufl. 2010, § 292 AktG Rz. 143; Hüffer, 9. Aufl. 2010, § 292 AktG Rz. 20; Krieger in MünchHdb. GesR, Bd. 4 – AG, 3. Aufl. 2007, § 72 Rz. 45; Würdinger in Großkomm. AktG, 3. Aufl. 1975, § 292 AktG Anm. 24. 2 Allg. Ans., vgl. nur Altmeppen (Fn. 1), § 292 AktG Rz. 144. Kritik an diesem Begriff allerdings bei Huber, ZHR 152 (1988), 1, 4 mit dem Hinweis, die Betriebsführung im eigenen oder im fremden Namen sei etwas wirtschaftlich durchaus Unterschiedliches, für das man besser nicht die gemeinsame Bezeichnung „Betriebsführungsvertrag“ verwenden solle. 3 Zum Betriebsführungsentgelt Fenzl, Der Konzern 2006, 18, 24; Weißmüller, BB 2000, 1949, 1952. 4 Unstr., etwa Emmerich in Emmerich/Habersack, Aktien- und GmbH-Konzernrecht, 6. Aufl. 2010, § 292 AktG Rz. 56.

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auch eine Beschränkung auf bestimmte Sparten oder betriebliche Funktionen wie etwa die Bereiche Produktion oder EDV.5 Der „klassische“ Betriebsführungsvertrag bezieht sich allerdings auf den gesamten Betrieb des Eigentümerunternehmens. 3. Regelung der Weisungsbefugnis a) Gesetzliche Weisungsrechte Nach der gesetzlichen Regel des § 665 BGB steht dem Auftraggeber, hier dem Eigentümerunternehmen, gegenüber dem Beauftragten, also dem Betriebsführer, ein Weisungsrecht zu, mag dies in der Formulierung der Vorschrift auch nur indirekt zum Ausdruck kommen. Daneben hat der Auftraggeber gemäß § 666 BGB ein Informationsrecht gegenüber dem Beauftragten, das darüber hinaus dessen aktive Berichtspflicht umfasst.6 b) Ausschluss der Weisungsbefugnisse Der Vertrag kann die Weisungsbefugnisse des Eigentümerunternehmens gegenüber dem Betriebsführer verkürzen oder sogar ganz ausschließen und auch keine anderen Einflussrechte in Form von Berichtspflichten und Zustimmungsvorbehalten zur Sicherung der Eigentümerinteressen gegenüber dem Betriebsführer vorsehen. Diesenfalls spricht man von „weisungsfreien“ Betriebsführungsverträgen.7 Sie werfen allerdings besondere Probleme auf, auf die und noch zurückzukommen ist.8 Als Beispielsfall für einen weisungsfreien Betriebsführungsvertrag wird bisweilen der Holiday Inn-Fall angesehen,9 über den der BGH vor nunmehr rund 30 Jahren zu entscheiden hatte.10 Auch wenn man sich dem anschließen wollte, bleibt zu berücksichtigen, dass der BGH es anders gesehen haben dürfte, denn sonst hätte er den Vertrag wohl rechtlich nicht gebilligt. c) Erweiterte Rechte des Eigentümerunternehmens Umgekehrt kann ein Betriebsführungsvertrag bestimmen, dass der Betriebsführer allein für die laufende Geschäftsführung zuständig ist, während die eigentlichen Leitungsentscheidungen dem Vorstand der Eigentümergesellschaft vorbehalten bleiben. Solchenfalls wird bestimmt, dass die Betriebsführung auf Geschäfte und Maßnahmen beschränkt ist, die der Betrieb des Handelsgewerbes des Eigentümers gewöhnlich mit sich bringt (§ 54 HGB). Hierfür

__________ 5 6 7 8 9

Köhn, Der Konzern 2011, 530, 531 m. w. N. Sprau in Palandt, 71. Aufl. 2012, § 666 BGB Rz. 2. Huber, ZHR 152 (1988), 1, 9. Unten VI.2. So Huber, ZHR 152 (1988),1, 9; Altmeppen (Fn. 1), § 292 AktG Rz. 154. Anders dagegen Fleischer, ZIP 2003, 1, 9: sämtliche Voraussetzungen für die Zulässigkeit lagen vor. 10 BGH, NJW 1982, 1817; dazu insbes. Löffler, NJW 1983, 2920.

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wurde der Begriff „leitungsgebundener“ Betriebsführungsvertragsvertrag vorgeschlagen.11 4. Konzernexterne und konzerninterne Verträge Im Schrifttum werden üblicherweise Betriebsführungsverträge zwischen zuvor unverbundenen und solche zwischen konzernverbundenen Unternehmen unterschieden.12 Das erscheint gerechtfertigt, da bei allen Gemeinsamkeiten solcher Verträge, nicht zuletzt hinsichtlich des Vertragskerns, doch bedeutsame Unterschiede bestehen. Dies gilt einmal – wie sogleich zu zeigen ist – für die wirtschaftlichen Hintergründe derartiger Verträge. Vor allem aber ist die mit den Betriebsführungsverträgen verbundene rechtliche Problematik in beiden Fällen eine deutlich unterschiedliche. Auf die speziellen Probleme solcher Verträge im Konzern ist unten deshalb näher einzugehen.13 5. Wirtschaftliche Zielsetzungen Motiv für den Abschluss von Betriebsführungsverträgen zwischen einander unverbundenen Unternehmen ist insbesondere der Umstand, dass der eine Partner, nämlich der künftige Betriebsführer, über eine besondere fachliche Expertise oder nicht zuletzt Managementkapazitäten verfügt, die dem anderen qualitativ und quantitativ nicht zur Verfügung stehen und von ihm auch wirtschaftlich sinnvoll nicht geschaffen werden können.14 Oft zitiertes Beispiel hierfür sind die sog. Kleinbahn-Verträge, bei denen ein kommunales Unternehmen für den Nahverkehr ein professionelles Verkehrsunternehmen mit der Führung des Betriebes beauftragt.15 In Gestalt der sog. Managementverträge begegnet uns die Betriebsführung auch im Hotelgewerbe.16 Das Hauptanwendungsfeld der Betriebsführungsverträge dürfte allerdings in Konzernen liegen.17 Parteien des Vertrages sind dann in der Mehrzahl der Fälle Mutter- und Tochtergesellschaft oder auch zwei Schwestergesellschaften. Hinsichtlich der Zielsetzung konzerninterner Betriebsführungsverträge lassen sich vor allem zwei Gruppen mit geradezu gegenläufigen Absichten trennen.

__________ 11 Köhn, Der Konzern 2011, 530, 534; Huber, ZHR 152 (1988), 1, 9 spricht diesenfalls von „weisungsgebundenen“ Verträgen. 12 Etwa: Emmerich (Fn. 4), § 292 AktG Rz. 56; Krieger (Fn. 1), § 72 Rz. 47; vor allem Huber, ZHR 152 (1988), 1 ff., 123 ff. 13 Unter VI. 14 Koppensteiner in KölnKomm. AktG, 3. Aufl. 2004, § 292 AktG Rz. 94 m. w. N. 15 Dazu Veelken, Der Betriebsführungsvertrag im deutschen und amerikanischen Aktien- und Konzernrecht, 1975, S. 30; Huber, ZHR 152 (1988), 1, 31. Eine ähnliche Konstellation hatte bereits das Reichsgericht im „rumänischen Eisenbahnfall“ zu beurteilen, RGZ 3, 123. 16 Als Beispiel sei auf den bereits zitierten Holiday Inn-Fall (Fn. 10) verwiesen. Eingehend zu Betriebsführungsverträgen in Hotellerie und Gastronomie Joachim, DZWiR 1992, 397 ff., 455 ff. 17 Krieger (Fn. 1), § 72 Rz. 47; Winter/Theisen, AG 2011, 662, 663.

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Verträge, bei denen die Muttergesellschaft als Betriebsführerin auftritt, zielen insbesondere auf eine stärkere Konzentration innerhalb des Konzerns ab. Sie dienen dann zur Regelung der konzerninternen Ordnung.18 Auf diese Weise wird die Leitung des operativen Geschäfts bei der Muttergesellschaft gebündelt und sollen Verbund-, Kooperations- und Synergievorteile erreicht werden.19 Im Einzelfall kann ein solches Vorgehen auch als flexiblere Alternative zu einer Verschmelzung in Betracht kommen, die etwa den Untergang steuerlicher Verlustvorträge oder den Anfall von Grunderwerbsteuer vermeidet.20 Übernimmt umgekehrt die Muttergesellschaft die Rolle der Eigentümergesellschaft, während die Tochter als Betriebsführerin fungiert, kann dies dem Aufbau einer Spartenorganisation dienen, wobei klarere Zuständigkeiten, Verantwortlichkeiten und Erfolgsbeträge als Vorteil erscheinen.21 Auch hier kann eine Alternative zu umwandlungsrechtlichen Lösungen beabsichtigt sein: Die Tochtergesellschaft übernimmt die Betriebsführung des sonst „abzuspaltenden“ Teils.22

III. Zulässigkeit 1. Grundsatz Ausgehend vom Prinzip der Vertragsfreiheit werden Betriebsführungsverträge im Ansatz für zulässig gehalten. Das heißt jedoch nicht, gegen ihre Zulässigkeit würden keine Bedenken geltend gemacht. Für das Aktienrecht wird insoweit § 76 AktG ins Feld geführt, wonach der Vorstand die Gesellschaft unter eigener Verantwortung zu leiten hat.23 Dem könne er sich nicht durch den Abschluss eines Betriebsführungsvertrags entziehen.24 Durchgesetzt hat sich allerdings die Auffassung, solche Verträge seien zulässig, wenn dem Betriebsführer lediglich die laufende Geschäftsführung übertragen wird und die grundsätzlichen Entscheidungen der Unternehmenspolitik beim Vorstand der Eigentümergesellschaft bleiben.25 Er müsse die Oberleitung behalten, das „Zentrum unternehmerischer Kreativität, Aktivität

__________ 18 Uwe H. Schneider, JbFSt 1982/83, S. 387, 392; auf gleicher Linie Damm, BB 1976, 294, 295: Instrumente einheitlicher Konzernleitung. 19 Fenzl, Betriebspacht-, Betriebsüberlassungs- und Betriebsführungsverträge in der Konzernpraxis, 2007, Rz. 162 ff. 20 Winter/Theisen, AG 2011, 662, 663 f. 21 Fenzl, Der Konzern 2006, 18, 19; näher Huber, ZHR 152 (1988), 123, 127, 149 f., 156 ff. 22 Winter/Theisen, AG 2011, 662, 664. 23 Zur Leitungsverantwortung des Vorstands näher Henze, BB 2000, 209 ff. 24 So dezidiert Veelken (Fn. 15), 210 ff., der meint, die Betriebsführung könne nur durch Eingliederung (§ 319 AktG) des Eigentümerunternehmens in das betriebsführende legalisiert werden. Kritik an dieser Position vor allem bei Geßler in FS Hefermehl, 1976, S. 263, 267 ff. 25 Altmeppen (Fn. 1), § 292 AktG Rz. 151; Emmerich (Fn. 4), § 292 AktG Rz. 56; Kort in Großkomm. AktG, 4. Aufl. 2003, § 76 AktG Rz. 159; Uwe H. Schneider, JbFSt 1982/83, S. 387, 403.

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und Initiative“ bleiben.26 Welche Anforderungen insoweit an die Ausgestaltung des hier im Vordergrund stehenden konzerninternen Betriebsführungsvertrages zu stellen sind, wird uns unten zu beschäftigen haben. Quasi parallel zu diesen aktienrechtlichen Einwendungen wird im Bereich der Personengesellschaften das Prinzip der Selbstorganschaft als etwaiges Hindernis der Betriebsführungsverträge thematisiert.27 Festzuhalten ist allerdings, dass der BGH in seinem Holiday Inn-Fall diesen Grundsatz nicht als verletzt angesehen hat.28 2. Grenzen Aus den vorstehend skizzierten Zulässigkeitsvoraussetzungen für Betriebsführungsverträge ergeben sich zugleich auch deren Grenzen. Sind die gesetzlichen Rechte des Eigentümerunternehmens vertraglich ausgeschlossen, insbesondere also das Weisungsrecht und das Recht auf hinreichende Information, handelt es sich in Wahrheit um Beherrschungsverträge. Sie bedürfen der Einhaltung der hierfür vorgesehenen gesetzlichen Schutzregeln. Betriebsüberlassungsverträgen sind auch insoweit Grenzen gesetzt, als sie mit unwiderruflichen Generalvollmachten einhergehen. Ohne gleichzeitigen Beherrschungsvertrag verstößt eine mit dem Betriebsführungsvertrag verbundene unwiderrufliche Generalvollmacht gegen die Grundsätze der Privatautonomie. Der „isolierte Betriebsführungsvertrag“29 kann deshalb nicht mit einer unwiderruflichen Generalvollmacht verbunden werden.30

IV. Streitfrage: Organisations- oder Schuldvertrag 1. Herrschende Beurteilung: Unternehmensvertrag Nach überwiegender Beurteilung im Schrifttum stellen Betriebsführungsverträge dann Unternehmensverträge in analoger Anwendung von § 292 Abs. 1 Nr. 3 AktG dar, wenn sie den gesamten Betrieb des Eigentümerunternehmens umfassen.31 Betriebsführungsverträge über Teilbetriebe könnten höchstens in Ausnahmefällen unter Holzmüller-Gesichtspunkten einschlägig sein.32

__________ 26 Hommelhoff, Die Konzernleitungspflicht, 1982, S. 285 Fn. 63; zust. Fleischer in FS Schwark, 2009, S. 137, 150. 27 Huber, ZHR 152 (1988), 1, 13 f. 28 Fn. 10. 29 Dazu unten VI. 30 Altmeppen (Fn. 1), § 292 AktG Rz. 155 im Anschluss an Huber, ZHR 152 (1988), 1, 24 ff.; a. A. Veil, Unternehmensverträge, 2003, S. 295 f. 31 Altmeppen (Fn. 1), § 292 AktG Rz. 149; Emmerich (Fn. 4), § 292 AktG Rz. 58; Hüffer (Fn. 1), § 292 AktG Rz. 17; Knepper, BB 1982, 2061, 2064; Koppensteiner (Fn. 14), § 292 AktG Rz. 81; Langenbucher in K. Schmidt/Lutter, 2. Aufl. 2010, § 292 AktG Rz. 35; Veil in Spindler/Stilz, 2. Aufl. 2010, § 292 AktG Rz. 53. 32 Krieger (Fn. 1), § 72 Rz. 48; Weißmüller, BB 2000, 1949, 1950.

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Begründet wird die Einstufung als Unternehmensvertrag mit dem Verweis darauf, dass die Aufgabe der eigenen Betriebsführung einen schwerwiegenden Eingriff in die Organisationsverfassung der Eigentümergesellschaft darstellt. Dieser erfordere eine Legitimation durch die Zustimmung ihrer Eigentümer,33 bei der Aktiengesellschaft also der Hauptversammlung.34 Dabei ist nicht entscheidend, ob das Eigentümerunternehmen abhängiges Unternehmen des Betriebsführers ist. Die Eingriffsintensität aufgrund des Betriebsführungsvertrages ist in beiden Fällen gleich, mögen sich auch im Konzern zusätzliche rechtliche Aspekte ergeben. 2. Gegenposition: Rein schuldrechtlicher Vertrag Eine andere gleichfalls schon länger vertretene,35 neuerdings verstärkt vorgetragene Auffassung will in den Betriebsführungsverträgen demgegenüber keine Unternehmensverträge, sondern lediglich schuldrechtliche Vereinbarungen sehen.36 Zwischen den eigentlichen, in 291 AktG geregelten Unternehmensverträgen und den anderen Unternehmensverträgen des § 292 AktG bestehe eine erkennbare Zäsur.37 Das habe schon in den gesetzlichen Schutzmechanismen seinen Niederschlag gefunden: Beim Beherrschungs- wie beim Gewinnabführungsvertrag seien besondere Ausgleichs- und Abfindungsansprüche zu Gunsten der außenstehenden Aktionäre vorgesehen, während solche im Rahmen von § 292 AktG fehlten.38 Plädiert wird deshalb dafür, auf den jeweiligen Vertragsinhalt abzustellen.39 Erweiterte Direktionsbefugnisse des Eigentümerunternehmens und ausgebaute Informationspflichten des Betriebsführers wie sie bei den sog. weisungsgebundenen Verträgen40 anzutreffen seien, könnten nicht als Unternehmensverträge angesehen werden.41 Das gelte etwa auch dann, wenn die Position des Eigentümerunternehmens aus steuerrechtlichen Erwägungen besonders stark ausgestaltet sei.42

__________ 33 Das dürfte auch für die Personengesellschaft zu bejahen sein. Der BGH hat das allerdings im Holiday Inn-Fall (NJW 1982, 1817, 1818) offen lassen können, da nach seiner Aussage in casu sämtliche Gesellschafter zugestimmt hatten. 34 Hommelhoff (Fn. 26), S. 285 f.; Altmeppen (Fn. 1), § 292 AktG Rz. 149. 35 Loos, BB 1963, 615, 618 für § 256 Abs. 2 AktG 1937; Biedenkopf/Koppensteiner in KölnKomm. AktG, 1. Aufl. 1985, § 292 AktG Rz. 24 m. w. N.; Frisch, AG 1995, 362, 363; bei hinreichenden Weisungsrechten des Eigentümerunternehmens auch K. Schmidt, Gesellschaftsrecht, 4. Aufl. 2002, § 31 III 1. b) S. 950. 36 Fenzl, Der Konzern 2006, 18, 27 ff.; Winter/Theisen, AG 2011, 662, 667; Köhn, Der Konzern 2011, 530, 534; Zweifel an der h. M. auch bei Krieger (Fn. 1), Rz. 46. 37 K. Schmidt (Fn. 35), § 31 III 1. b), S. 949. 38 Fenzl, Der Konzern 2006, 18, 26. 39 Fenzl, Der Konzern 2006, 18, 27. 40 Vgl. oben II 3 c. 41 Köhn, Der Konzern 2011, 530, 534. 42 Dazu Winter/Theisen, AG 2011, 662, 664 f.: Das wirtschaftliche Eigentum müsse bei der Eigentümergesellschaft verbleiben, damit eine Gewinnverwirklichung vermieden werde.

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V. Erfordernis der Anwendung von § 293 AktG 1. Kompetenzabgrenzung Vorstand/Hauptversammlung Ausgangspunkt der weiteren Überlegungen muss die gesetzliche Kompetenzzuordnung zwischen Vorstand und Hauptversammlung sein. Dabei zeigt sich: Der Vorstand hat die Gesellschaft unter eigener Verantwortung zu leiten (§ 76 AktG). Die Aktionäre geben zwar durch Festlegung des Unternehmensgegenstandes bei Gründung oder im Wege der Satzungsänderung den Rahmen für seine Geschäftsführungstätigkeit vor. Innerhalb dieses Rahmens ist der Vorstand aber autonom.43 Diese ausschließliche Geschäftsleitungszuständigkeit des Vorstandes geht zurück auf Erfahrungen aus der Zeit der Weimarer Republik. Sie haben zu dem Schluss geführt, die bis dahin bestehende Dominanz der Hauptversammlung sei zurückzuschneiden. Im Hinblick auf ihre inhomogene, dem Zufall ausgelieferte Zusammensetzung und dem Abstand zur jeweils zu treffenden Geschäftsführungsmaßnahme sei sie ungeeignet, die Leitung der Gesellschaft zu besorgen.44 Demgegenüber ist die Hauptversammlung für die Grundlagen der Gesellschaft zur Entscheidung befugt. Dazu gehören nicht nur die Festlegung des Unternehmensgegenstandes, sondern – wie § 119 Abs. 1 AktG ergibt – auch die Änderungen der Satzung einschließlich der so wichtigen Kapitalmaßnahmen. Hinzu kommen an anderer Stelle geregelte Strukturentscheidungen45 wie der Abschluss von Unternehmensverträgen oder Umwandlungsvorgänge. In diese – wie der BGH sie nennt – „wohlaustarierte Kompetenzverteilung“46 müssen die Betriebsführungsverträge eingepasst werden. 2. Die Verträge des § 292 Abs. 1 Nr. 3 AktG Im Rahmen der von § 292 AktG erfassten „anderen Unternehmensverträge“ führt Abs. 1 Nr. 3 unter den Verträgen, durch die eine Aktiengesellschaft „den Betrieb ihres Unternehmens einem anderen verpachtet oder sonst überlässt“ den Betriebspachtvertrag und den Betriebsüberlassungsvertrag namentlich auf. Inhaltlich sind beide Vertragstypen allerdings gesetzlich nicht näher definiert. Ein Betriebspachtvertrag wird dadurch gekennzeichnet, dass die Betriebseigentümerin ihre gesamten betrieblichen Anlagen gegen Entgelt der Pächterin überlässt. Diese führt dann den Betrieb im eigenen Namen und für eigene Rechnung weiter.47 Demgegenüber tritt die Betriebseigentümerin beim Betriebs-

__________

43 Zu Möglichkeiten und Grenzen von Satzungsvorgaben zum Vorstandshandeln Priester in FS Hüffer, 2010, S. 777 ff. 44 Dazu Assmann in Großkomm. AktG, 4. Aufl. 1992, Einl. Rz. 164; zur geschichtlichen Entwicklung eingehend v. Rechenberg, Die Hauptversammlung als oberstes Organ der Aktiengesellschaft, 1986, S. 20 ff. 45 BGH, ZIP 2010, 1487 – Stollwerk spricht von „Strukturmaßnahmen“. 46 BGH, BGHZ 159, 30, 39 = AG 2004, 384, 386 – Gelatine. 47 Vgl. nur Emmerich (Fn. 4), § 292 AktG Rz. 40.

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überlassungsvertrag weiterhin unter ihrem Namen auf, der Betrieb wird aber auch hier für Rechnung der Übernehmerin geführt. Derartige Verträge werden deshalb auch als „Innenpacht“ bezeichnet.48 Da das Betriebsergebnis in beiden Fällen allein der Betriebsübernehmerin zusteht, bekommt die Betriebseigentümerin lediglich einen Zins. Sie gibt damit ihre eigene unternehmerische Tätigkeit auf und wird quasi zur Rentnergesellschaft.49 Zwischen diesen beiden Vertragstypen einerseits und den uns interessierenden Betriebsführungsverträgen andererseits besteht demnach ein entscheidender Unterschied darin, dass das wirtschaftliche Ergebnis bei ihnen der Betriebseigentümerin zufällt. Sie hat nicht Zins-, sondern weiterhin unternehmerische Einkünfte. Damit ist freilich noch nicht entschieden, dass auf Betriebsführungsverträge nicht § 292 Abs. 1 Nr. 3 AktG – analog –50 angewendet werden kann. Die Gemeinsamkeiten der beiden gesetzlich in dieser Vorschrift ausdrücklich genannten Vertragstypen und des dort nicht erwähnten Betriebsführungsvertrages sind größer als die Unterschiede. 3. Strukturveränderung Ausschlaggebend ist nämlich, ob Betriebsführungsverträge einen strukturverändernden Eingriff in die Organisationsverfassung der Aktiengesellschaft darstellen. Hinsichtlich der in § 292 Abs. 1 Nr. 3 AktG namentlich benannten Verträge hat der Gesetzgeber gemeint, die Gesellschaft solle sich nicht ohne Einwilligung ihrer Aktionäre der eigenverantwortlichen Leitung durch den Vorstand begeben können.51 Der Betriebsführungsvertrag zieht nun aber – wie schon Gessler ausgeführt hat – eine vergleichbare Strukturänderung nach sich. Es könne, so schreibt er, „nicht allein in der Hand des Vorstands liegen, ob er sich der Geschäftsführung im engeren Sinn entledigen darf“.52 Dieser Beurteilung ist durchaus zuzustimmen. Wie beim Betriebsüberlassungsvertrag führt die Gesellschaft ihren Betrieb nicht mehr selbst, sondern überträgt die Führung einem Dritten. Nicht mehr der Vorstand der Eigentümergemeinschaft, dessen Sache dies eigentlich ist, sondern die Betriebsführerin führt den Betrieb. Ihr wird auch nicht lediglich die „aktive Unternehmensleitung“53 überantwortet. Der Vorstand verliert vielmehr zumindest einen wesentlichen Ausschnitt seiner Leitungs- und Vertretungskompetenz (§§ 76, 78 AktG). Er ist nicht mehr dafür zuständig, Führungsentscheidungen zu treffen.54 Es mag sein, dass er die „Oberleitung“ behält. Eine bloße Überwachung

__________ 48 49 50 51 52 53 54

Altmeppen (Fn. 1), § 292 AktG Rz. 106. Koppensteiner (Fn. 14), § 292 AktG Rz. 80. Dazu unten V 4. Begr. RegE § 293, abgedr. b. Kropff, Aktiengesetz 1965, S. 380. Geßler in Geßler/Hefermehl, AktG, 1994, § 292 AktG Rz. 79. Veil (Fn. 30), S. 288 f. Huber, ZHR 152 (1988), 1, 32 f.; Veil (Fn. 31), § 292 AktG Rz. 53.

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durch den Vorstand der Eigentümergesellschaft reicht aber nicht aus, denn dieser würde auf eine aufsichtsratsähnliche Stellung beschränkt.55 Die Anhänger der These vom lediglich schuldrechtlichen Charakter der Betriebsführungsverträge führen dagegen ins Feld, man müsse auf den jeweiligen Inhalt des konkreten Vertrages abstellen. Dem ist zu widersprechen. Die von ihnen gelieferten Abgrenzungskriterien erscheinen nicht scharf genug. Wenn es heißt, „umfassende Einsichts-, Informations- und Kontrollrechte“ führten zu einer schuldrechtlichen Qualifikation des Vertrages,56 ist zu bemerken: Weisungs- und Kontrollrechte hat die Betriebseigentümerin bereits aus §§ 665, 668 BGB und muss sie auch haben, damit der Vertrag nicht wegen Verletzung von § 76 AktG unwirksam ist.57 Wann werden diese gesetzlichen Rechte zu „umfassenden“, den organisationsrechtlichen Charakter des Vertrages ausschließenden vertraglichen Rechten? Sollen hier jedes Mal Gutachten eingeholt werden, ob die Grenzen noch eingehalten oder bereits überschritten sind? Das spricht für einen Vorrang der Rechtssicherheit.58 und damit für die Anerkennung eines generell organisationsrechtlichen Charakters der Betriebsführungsverträge. Hinzu kommt, dass bei einer allzu engen Weisungsbindung die Zielsetzung des Betriebsführungsvertrages, nämlich effektiveres Management durch den Betriebsführer, in Gefahr gerät.59 Zu bedenken ist schließlich das hinter der Etikettierung als „lediglich schuldrechtlich“ zumindest auch zu vermutende Motiv, beim Abschluss eines Betriebsführungsvertrages die Einschaltung der Hauptversammlung zu vermeiden. Die Unternehmenspraxis befürchtet – leider nicht immer ganz zu Unrecht – „Unbequemlichkeiten“ durch einen entsprechenden Hauptversammlungsbeschluss in Gestalt von Kosten und vor allem Zeitverzögerungen.60 Sie möchte deshalb den Vertrag an der Hauptversammlung „vorbeigestalten.“ Das darf aber nicht dazu führen, der Hauptversammlung eine ihrer wesentlichsten Kompetenzen zu nehmen, nämlich diejenige des Strukturentscheids. Da der Betriebsführungsvertrag zu einer solchen Strukturänderung führt, ist die Schutzzone zu Gunsten der Aktionäre weit zu ziehen. Es darf nicht sein,

__________ 55 Veil (Fn. 30), S. 289. Ähnlich argumentieren Winter/Theisen, AG 2011, 662, 667, wenn sie – freilich mit umgekehrter Zielrichtung – konstatieren, die Betriebseigentümerin werde zum Vorstand einer Holding. Der Begriff „Holding“ der ein „oben“ markiert, will allerdings nicht recht zur überwiegend abhängigen und damit „unten“ anzusiedelnden Betriebseigentümerin passen. 56 Fenzl, Der Konzern 2006, 18, 30 f.; Winter/Theisen, AG 2011, 662, 666 f. 57 Vgl. oben III 1, 2. 58 Wie ihn Emmerich (Fn. 4), § 292 AktG Rz. 58 mit Recht vertritt. 59 Koppensteiner (Fn. 14), § 292 AktG Rz. 81 a. E.; ähnlich Altmeppen (Fn. 1), § 292 AktG Rz. 147; Raupach in FS Bezzenberger, 2000, S. 327, 339; Weißmüller, BB 2000, 1949, 1951. 60 Wie Fenzl, Der Konzern, 2006, 18, 20 verraten hat. Dazu passt die Bemerkung von Mertens, ZGR 1994, 426, 434, Betriebsführungsverträge würden „in der Praxis nicht immer, aber ganz überwiegend auf holzmüllerfreiem Papier ausgefertigt.“

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dass man durch kleines Drehen an den Befugnis-Schrauben ihr Zustimmungsrecht aushebelt. Die Eingriffsintensität in die Struktur der Gesellschaft mag beim Betriebsführungsvertrag geringer sein als beim Betriebspachtvertrag,61 sie reicht aber aus, um die Zustimmung der Aktionäre zu verlangen. Dies erfordert die Einordnung in den Bereich des § 292 Abs. 1 Nr. 3 AktG.62 Bedenken aus der Sicht eines etwaigen numerus clausus der Unternehmensverträge63 stehen dem nicht im Wege. Dagegen spricht schon, dass der Betriebspachtvertrag und der Betriebsüberlassungsvertrag nur in einer erläuternden Klammer genannt sind. 4. Konsequenzen Sind die Betriebsführungsverträge damit in § 292 Abs. 1 Nr. 3 AktG einzubeziehen, fragt sich noch, ob diese Vorschrift unmittelbar oder lediglich analog anzuwenden ist. Darüber gehen die Ansichten auseinander. Früher hat man sich teilweise für eine unmittelbare Anwendung ausgesprochen.64 Heute wird dagegen allgemein vertreten, § 292 Abs. 1 Nr. 3 AktG sei lediglich analog heranzuziehen.65 Letzterem Standpunkt ist zuzustimmen, denn die unter § 292 Abs. 1 AktG geregelten Betriebspacht- und Betriebs- Überlassungsverträge unterscheiden sich nicht unwesentlich von den Betriebsführungsverträgen.66 Muss aber § 292 Abs. 1 Nr. 3 AktG auf Betriebsführungsverträge analog angewendet werden, bedeutet dies, dass § 293 AktG zum Zuge kommt: Die Wirksamkeit des Vertrages setzt danach voraus, dass die Hauptversammlung der Eigentümergesellschaft ihm durch Beschluss zugestimmt hat und er sodann in das Handelsregister eingetragen worden ist. Wenn der andere Vertragsteil, also die Betriebsführungsgesellschaft, eine Aktiengesellschaft ist, wird ein Beschluss ihrer Hauptversammlung dagegen nicht gebraucht, da dies gemäß § 293 Abs. 2 Satz 1 AktG nur bei einem Beherrschungs- oder Gewinnabführungsvertrag, also einem Vertrag nach § 291 AktG verlangt wird.

VI. Sonderfragen im Konzern 1. Isolierte Betriebsführungsverträge Ist die Eigentümergesellschaft abhängiges Unternehmen in einem Konzern, wird diskutiert, ob Betriebsführungsverträge mit dem herrschenden Unter-

__________ 61 62 63 64 65

So Krieger (Fn. 1), § 72 Rz. 46. Wie dies die h. M. – Nachw. in Fn. 31 – mit Recht vertritt. Offen gelassen von Veil (Fn. 30), S. 48. Geßler, DB 1965, 1691, 1693 ff.; Keller, DB 1994, 2097, 2009. Etwa Hommelhoff (Fn. 26), S. 285 f.; Huber, ZHR 152 (1988), 1, 32 f.; Hüffer (Fn. 1), § 292 AktG Rz. 20; Koppensteiner (Fn. 14), § 292 AktG Rz. 81. 66 Dazu oben V.2.

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nehmen ohne gleichzeitigen Abschluss eines Beherrschungs- oder Eingliederungsvertrages („isolierte Betriebsführungsverträge“) überhaupt zulässig sind. Die ablehnende Position wird vor allem von Huber vertreten, der derartige Verträge materiell als Beherrschungsverträge ansieht.67 Seien solchenfalls die Regeln für den Beherrschungsvertrag eingehalten (Hauptversammlungszustimmung, Ausgleich gemäß § 304 AktG) und nur die Bezeichnung falsch, sei das unschädlich. Das werde aber ein seltener Ausnahmefall sein. Jedenfalls sei der Vertrag unwirksam, wenn die Hauptversammlung ihm nicht zugestimmt habe und er nicht in das Handelsregister eingetragen worden sei. Werde er trotzdem durchgeführt, sei das herrschende Unternehmen zum Verlustausgleich analog § 302 AktG verpflichtet.68 Demgegenüber wird teilweise geltend gemacht, es möge zwar eine tatsächliche Vermutung dafür sprechen, dass sich das herrschende Unternehmen nicht den Weisungen der Eigentümer-AG aussetzen will.69 Entscheidend sei aber, was sich konkret aus dem Vertrage ergebe.70 Faktische Benachteiligungen würden nicht von den §§ 291 ff. AktG, sondern von den §§ 311 ff. AktG erfasst.71 Nehme der Vorstand der abhängigen AG seine Rechte aus dem Vertrag gegenüber der Mutter nicht ausreichend wahr, sei dies zwar ein Indiz dafür, dass die Interessen der abhängigen AG in besonderem Maße gefährdet sein. Eine solche Gefährdungssituation rechtfertige es aber nicht, dem Betriebsführungsvertrag allein ihretwegen die Gültigkeit zu versagen. Trotz des gewichtigen Arguments, die abstrakte Gefährdung als ausschlaggebend anzusehen, erscheinen isolierte Betriebsführungsverträge mit der Gegenmeinung als zulässig.72 Wenn der Vertrag dem abhängigen Unternehmen die gesetzlichen Weisungs- und Kontrollrechte eingeräumt hat und dieses nach der Gesamtanlage des Vertrages die Oberleitung behält, sollte man von einer reinen Betriebsführung durch die Mutter ausgehen, an der durchaus ein wirtschaftliches Interesse bestehen kann. Andererseits zeigt diese Diskussion, dass Betriebsführungsverträge mit einer abhängigen AG als Eigentümerin jedenfalls im Konzern nicht als rein schuldrechtliche Verträge behandelt werden können. Sie haben Organisationscharakter und unterliegen daher den Regeln des § 293 Abs. 1 AktG.

__________ 67 Huber, ZHR 152 (1988), 123, 140: Auf die Umstände im einzelnen soll es nicht ankommen. Dann – wörtlich – „Der Vertrag mag noch so günstig für die abhängige Gesellschaft aussehen: die Tatsachen sprechen für sich selbst.“ 68 Huber, ZHR 152 (1988), 123, 140 ff. 69 Erwogen von Hüffer (Fn. 1), § 292 AktG Rz. 24; ähnlich Altmeppen (Fn. 1), § 292 AktG Rz. 169 („Indiz“); gegenteiliger Meinung Krieger (Fn. 1), § 72 Rz. 54; Köhn, Der Konzern 2011, 530, 536. 70 Altmeppen (Fn. 1), § 292 AktG Rz. 166 ff.; Koppensteiner (Fn. 14), § 291 AktG Rz. 40; Joachim, DZWiR 1992, 455, 457. 71 Koppensteiner (Fn. 14), § 291 AktG Rz. 27, 40; ähnlich Veil (Fn. 30), S. 292, der auf die Grundsätze über den qualifizierten faktischen Konzern verweist. 72 In diesem Sinne Altmeppen (Fn. 1), § 292 AktG Rz. 167 ff.; Hüffer (Fn. 1), § 29 AktG Rz. 24; Koppensteiner (Fn. 14), § 201 AktG Rz. 40; Veil (Fn. 31), § 292 AktG Rz. 54.

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2. Verdeckte Beherrschungsverträge Ein abweichendes Bild ergibt sich freilich, wenn der Betriebsführungsvertrag dem herrschenden Unternehmen faktisch die Leitung überträgt, indem er für dieses an ein Weisungsrecht heranreichende Einflussmöglichkeiten begründet.73 Anders ausgedrückt: wenn dem herrschenden Unternehmen so weitgehende Rechte eingeräumt werden, dass die Eigentümergesellschaft die vom Betriebsführer verfolgte Unternehmenspolitik nicht mehr kontrollieren kann.74 Das wird insbesondere dann gegeben sein, wenn die gesetzlichen Weisungsund Kontrollrechte stark eingeschränkt oder gar ganz ausgeschlossen sind, es sich also um weisungsfreie Betriebsführungsverträge handelt.75 Unter diesen Umständen liegt in Wirklichkeit ein Beherrschungsvertrag vor. Werden dessen Kautelen nicht eingehalten, ist der Vertrag nichtig.76 Ein derartiger Vertrag kann auch nicht in einen Beherrschungsvertrag umqualifiziert werden. Wird der Vertrag aber gleichwohl durchgeführt, kommen die Grundsätze über den qualifizierten faktischen Konzern zum Zuge.77 3. Kombinierte Verträge Soll dem betriebsführenden herrschenden Unternehmen die vorbeschriebene starke Stellung eingeräumt werden, ist der Abschluss eines Beherrschungsvertrages erforderlich. Man kann natürlich auch vorsorglich so verfahren, um die Sache quasi „wasserdicht“ zu machen. Es ließe sich daran denken, solchenfalls sei es mit einem reinen Beherrschungsvertrag getan. Dem ist aber nicht so, denn die Betriebsführung kann nicht allein aufgrund eines derartigen Vertrages erfolgen. Sie erfordert vielmehr daneben eine weitere Beteiligung der Hauptversammlung analog § 292 Abs. 1 Nr. 3 AktG.78 Der reine Beherrschungsvertrag berechtigt zwar zur Weisungserteilung, nicht aber auch dazu, die Geschäfte des abhängigen Unternehmens gleich selbst zu führen. Bei einer Kombination beider Vertragstypen fragt sich, ob über die Betriebsführungselemente nach § 293 Abs. 1 AktG ausdrücklich Beschluss gefasst und ob neben dem Beherrschungsvertrag auch der Betriebsführungsvertrag in das Handelsregister eingetragen werden muss. Beides ist zu bejahen,79 denn die weitergehenden Befugnisse des herrschenden Unternehmens müssen von den Aktionären des abhängigen Unternehmens gesondert gebilligt werden und auch der Rechtsverkehr hat Anspruch auf eine entsprechende Unterrichtung.

__________ 73 74 75 76 77 78 79

Veil (Fn. 31), § 291 AktG Rz. 69. Emmerich (Fn. 4), § 292 AktG Rz. 57. Vgl. oben II. 3 b. Huber, ZHR 152 (1988), 123, 141 ff.; Krieger (Fn. 1), § 72 Rz. 40. Veil (Fn. 31), § 292 AktG Rz. 58. Altmeppen (Fn. 1), § 292 AktG Rz. 158. Huber, ZHR 152 (1988), 123, 133; Koppensteiner (Fn. 14), § 292 AktG Rz. 88; Bednarz in Happ, Konzern- und Umwandlungsrecht, 2011, Form. 3.04 Anm. 1.15.

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4. Tochtergesellschaft als Betriebsführerin Abschließend noch ein kurzer Blick auf die umgekehrte Situation: Betriebsführung nicht durch das herrschende Unternehmen, sondern durch die TochterAG. Fälle dieser Art sind – wie erwähnt – Ausfluss einer dezentralen Unternehmensführung zum Zwecke einer Spartentrennung.80 Geht man davon aus, dass ein Betriebsführungsvertrag nur vorliegt, wenn der gesamte Betrieb des Eigentümerunternehmens Gegenstand der Betriebsführung durch den Vertragspartner ist,81 scheidet eine Mitwirkung der Hauptversammlung der Eigentümergesellschaft aus. Sie überträgt der Tochter nämlich nicht den „Betrieb ihres Unternehmens“ zur Führung, sondern nur den Betrieb eines einzelnen Unternehmensbereichs.82 Eine Befassung der Hauptversammlung unter dem Gesichtspunkt einer Satzungsänderung wird zumindest dann ausscheiden, wenn die Gesellschaft satzungsmäßig den Unternehmensgegenstand auch durch Tochtergesellschaften verwirklichen kann.83 Es bleibt solchenfalls die Frage, ob etwa die „Holzmüller“-Grundsätze eingreifen könnten. Das aber dürfte allenfalls in ganz besonders gelagerten Ausnahmefällen zutreffen.84 Die Anforderungen an das Maß weggegebener Unternehmensteile sind durch die Gelatine-Urteile85 so verschärft worden, dass eine ungeschriebene Hauptversammlungszuständigkeit bei Schaffung einer Spartenorganisation kaum denkbar ist.

VII. Zusammenfassung 1. Betriebsführungsverträge, mit denen ein Eigentümerunternehmen die Führung seiner Geschäfte einem anderen Unternehmen, dem Betriebsführer, überträgt, selbst aber das wirtschaftliche Ergebnis behält, bilden nicht zuletzt in der aktienrechtlichen Konzernpraxis ein häufig genutztes Instrument. 2. Diese Verträge sind seit einiger Zeit verstärkt in den Fokus der rechtswissenschaftlichen Diskussion geraten. In deren Rahmen will eine neuere Ansicht in ihnen rein schuldrechtliche Vereinbarungen sehen, die den unternehmensvertraglichen Schutzregeln (Hauptversammlungszustimmung, Eintragung in das Handelsregister) nicht unterstellt seien. Hintergrund dieser Auffassung könnte das Ziel sein, den Vertragsabschluss rasch und „unbürokratisch“ zu bewerkstelligen. 3. Betriebsführungsverträge greifen aber in die Struktur einer Aktiengesellschaft nachhaltig ein. Sie beschneiden die von § 76 AktG satzungsfest statuier-

__________ 80 81 82 83 84 85

Vgl. oben II 5. Nachw. in Fn. 31. Huber, ZHR 152 (1988), 123, 151 f. Altmeppen (Fn. 1), § 292 AktG Rz. 158; Koppensteiner (Fn. 14), § 292 AktG Rz. 88. Ganz ablehnend Huber, ZHR 152 (1988), 123, 152. Maßgebend BGHZ 159, 30 = AG 2004, 384, für den Fall einer „Verenkelung“.

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te Leitungskompetenz des Vorstandes, und zwar auch dann, wenn dieser Weisungs- und Kontrollrechte gegenüber der Betriebsführerin behält. 4. Struktureingriffe bedürfen nach heutigem Verständnis der Legitimation durch die Hauptversammlung. Betriebsführungsverträge sind dementsprechend nicht schuldrechtliche, sondern organisationsrechtliche Instrumente. Das gilt auch und gerade im Aktienkonzern.

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Reichweite und Grenzen der Rechtsfähigkeit juristischer Personen, insbesondere wirtschaftlicher Unternehmen Inhaltsübersicht I. Der Begriff der Rechtsfähigkeit II. Strafrecht

IV. Verfassungsrecht V. Europarecht

III. Deliktsrecht

I. Der Begriff der Rechtsfähigkeit Peter Hommelhoff hat sich während seiner ganzen akademischen Laufbahn mit den als juristische Personen verfassten Unternehmen beschäftigt, und er hat namentlich in den vergangenen Jahren seine Kräfte darauf konzentriert, eine als juristische Person konzipierte Europäische Privatgesellschaft ins Leben zu rufen. Daher mag er auch eine Abhandlung wie die folgende als nützlich empfinden, die sich bemüht, die Rechte und Pflichten erneut auszumessen, die von dem Begriff der Rechtsfähigkeit umfasst werden. Das deutsche Bürgerliche Gesetzbuch kennt weder eine inhaltliche Definition des Begriffs der Rechtsfähigkeit noch allgemeine Vorschriften über juristische Personen. Den Begriff der Rechtsfähigkeit setzt es sowohl bei natürlichen als auch bei juristischen Personen ohne jede Umschreibung voraus. Bei natürlichen Personen beginnt sie mit der Vollendung der Geburt. Der Titel „Juristische Personen“ beschränkt sich auf Vorschriften über rechtsfähige Vereine, Stiftungen und juristische Personen des öffentlichen Rechts und regelt u. a. den Erwerb der Rechtsfähigkeit durch Eintragung in das Vereinsregister oder staatliche Verleihung. Die unterschiedslose Verwendung des Begriffs der Rechtsfähigkeit für natürliche und juristischen Personen legt den Schluss nahe, dass er in beiden Fällen die gleiche Bedeutung und Reichweite haben sollte. Auf der anderen Seite mussten von vorn herein auch Unterschiede ins Auge gefasst werden, die aus der vorgegebenen Verschiedenheit natürlicher und juristischer Personen und aus dem Umstand folgen, dass die Rechtsfähigkeit natürlichen Personen ohne weiteres zusteht, während sie juristischen Personen durch staatlichen Akt zuerkannt wird. Gegen die vollständige Gleichstellung spricht vor allem aber auch der individualistische Grundzug des dem BGB zugrunde liegenden Menschen- und Gesellschaftsbildes. In Bezug auf den Inhalt der Rechtsfähigkeit erweist sich auch der Wortlaut anderer Gesetze in der Regel als nicht ergiebiger. So sagt zum Beispiel § 1 AktG nur, die AG ist „eine Gesellschaft mit eigener Rechtspersönlichkeit“. 891

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Etwas mehr Substanz findet sich im Genossenschaftsgesetz und im GmbHGesetz, also in den beiden noch aus dem 19. Jahrhundert stammenden gesellschaftsrechtlichen Gesetzen. Diese führen wortgleich aus, die Genossenschaft bzw. Gesellschaft mbH hat „als solche selbständig ihre Rechte und Pflichten, sie kann Eigentum und andere dingliche Recht an Grundstücken erwerben, vor Gericht klagen und verklagt werden.“1 Die Formulierung übernimmt den kurz vorher schon im Aktiengesetz von 1870/1884 gebrauchten und für die AG auch noch in §§ 178, 210 HGB 1897 festgehaltenen Wortlaut. Sie spiegelt die bis zum Ende des 19. Jahrhunderts verbreitete Meinung wieder, dass der Begriff der Rechtsfähigkeit Grundstücksrechte und prozessuale Parteifähigkeit nicht selbstverständlich einschließt, es vielmehr notwendig oder um der Klarheit willen doch wünschenswert war, diese gesondert anzuführen. Welche anderen Rechte und Pflichten eine Handelsgesellschaft und allgemeiner eine juristische Person haben kann, sagen auch diese Vorschriften hingegen nicht. Es erschien wohl unproblematisch, die Klärung konnte, falls Zweifel auftreten sollten, der Rechtsprechung überlassen werden. Die Gesetze vermieden es auch, die Rechtsnatur der Handelsgesellschaften und der Genossenschaft zu bezeichnen und sich damit in dem seinerzeit noch nicht endgültig ausgetragenen Streit um das Verständnis der juristischen Person festzulegen. Erst in der nachfolgenden Zeit setzte sich dann das Dogma endgültig durch, dass neben den rechtsfähigen Vereinen und Stiftungen auch wenigstens die Kapitalgesellschaften juristische Personen mit eigener Rechtsfähigkeit seien. Daher konnte sich das Aktiengesetz von 1937 nunmehr mit der Formulierung begnügen, die AG genieße eine eigene Rechtspersönlichkeit, ist also rechtsfähige juristische Person. Heute wird diese juristische Qualifikation auch hinsichtlich der GmbH und der Genossenschaft nicht mehr ernstlich bezweifelt. Der Befund schlägt inzwischen auch auf die Gesellschaften des europäischen Rechts durch. Art. 1 Abs. 3 des Statuts der SE und Art. 1 Abs. 5 des Statuts der Europäischen Genossenschaft sagen in der deutschen Fassung, die SE bzw. SCE „besitzt eigene Rechtspersönlichkeit“, und eine entsprechende Formulierung ist auch für die Europäische Privatgesellschaft (Art. 3 Nr. 1 Entwurf-SPE 2008) vorgesehen.2 Die Übereinstimmung in diesem Punkt mit dem deutschen Recht folgt auch aus dem Umstand, dass dieses für die in Deutschland ansässigen Gesellschaften ergänzend heranzuziehen ist, soweit die Europäischen Vorschriften keine eigenständige Regelung enthalten. Was also besagt „eigene Rechtspersönlichkeit“ einer juristischen Person, insbesondere einer Kapitalgesellschaft, inhaltlich? Der Grundgedanke ist klar: die im sozialen Verkehr als selbständige Einheiten auftretenden Wirtschaftsunternehmen sollen ebenso wie andere gesellschaftliche Organisationen rechtlich natürlichen Personen soweit wie möglich gleichgestellt werden, damit sie ihre satzungsgemäßen Funktionen erfüllen können, denn dazu muss ihre Eigenständigkeit auch im Rechtsverkehr anerkannt werden. Sie sollen ungeachtet der Rechtsfähigkeit der Gründer, die sie ins Leben gerufen haben und hinter

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1 §§ 17 Abs. 1 GenG, 13 Abs. 1 GmbHG. 2 Englischer Begriff „legal personality“, französisch: „personnalité juridique“.

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ihnen stehen, als solche grundsätzlich dieselben eigenen Rechte und Pflichten haben können wie natürliche Personen, weil das Bedürfnis besteht, ihrer sozialen Realität als Einheiten, welche die Summe der an ihr beteiligten Personen transzendieren, auch im Recht Geltung zu verschaffen. Daraus folgt eine der Tendenz nach vollständige rechtliche Gleichstellung mit natürlichen Personen. Eine Lehre, wonach die Rechtsfähigkeit juristischer Personen nicht weiter reicht als ihr satzungsmäßiger Zweck (ne ultra vires), ist dem deutschen Recht fremd. Dass eine vollständige Gleichstellung wegen der Verschiedenheit natürlicher und juristischer Personen nicht möglich ist, wurde eingangs bereits angedeutet. Juristische Personen können nicht an einer Geisteskrankheit leiden, die sie geschäftsunfähig macht; sie können keine Ehe schließen und ihr Vermögen nicht vererben. Unzweifelhaft entspricht es demgegenüber dem Sinn der Gleichstellung, dass sie Verträge schließen können, die nur sie, nicht aber die an ihr beteiligten natürlichen Personen berechtigen und verpflichten, dass sie für deren einwandfreie Erfüllung selbst haften und dass sie um der Haftung willen ein eigenes, vom Privatvermögen der Beteiligten getrenntes Vermögen haben müssen (oder doch wenigstens haben können). Jenseits dieser eindeutigen Fälle beginnen aber mannigfache Zweifelsfragen. Einige davon hat der Gesetzgeber entschieden. Zum Beispiel können nach §§ 76 Abs. 3, 100 Abs. 1 AktG und 6 Abs. 2 GmbHG nur natürliche Personen Mitglieder des Vorstands und des Aufsichtsrats einer AG oder Geschäftsführer einer GmbH sein. Das leuchtet zwar ein, folgt aber nicht zwingend aus dem Charakter ihrer Position als Mitglieder eines Unternehmensorgans, was sich schon daraus ergibt, dass es möglich war, bezüglich der Stellung der Komplementäre einer OHG, KG und insbesondere einer KGaA anders zu entscheiden.3 Die Praxis umgeht die Vorschriften in geeigneten Fällen durch Betriebsführungsverträge. Jedenfalls für den Aufsichtsrat gibt es auch sachliche Gegengründe, denn dessen Aufgabe, die Geschäftsführung zu überwachen und den Jahresabschluss zu prüfen, wird de facto weitgehend von den Abschlussprüfern erledigt, die sich kraft Gesetzes auch als Aktiengesellschaften organisieren können. Ähnlich ungereimt erscheint zum Beispiel die Meinung, zum Liquidator einer aufgelösten Gesellschaft kann auch eine juristische Person bestellt werden,4 während § 56 Abs. 1 InsO vorschreibt, dass Insolvenzverwalter nur eine natürliche Person sein kann. Ein anderes Beispiel: Verbraucher im Sinn des § 13 BGB kann, wie sich aus dem Wortlaut der Vorschrift und aus dem Vergleich mit dem Begriff des Unternehmers nach § 14 BGB ergibt, eine juristische Person niemals sein, obwohl sie oft erworbene Gegenstände auch verbraucht und sozialpolitisch manches dafür spricht, ihr insoweit auch den gesetzlichen Verbraucherschutz zuteilwerden zu lassen. Größere Schwierigkeiten treten auf, wenn keine klare gesetzliche Regelung vorliegt, Rechtsprechung und Wissenschaft vielmehr darauf angewiesen sind, Argumente pro und contra zu finden und gegeneinander abzuwägen. Wie unsicher und widersprüchlich dann alsbald die Zuordnung wird, lässt sich am

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3 Vgl. zur KGaA die bekannte Entscheidung BGHZ 134, 392. 4 H. M., vgl. statt aller Emmerich in Scholz, § 13 GmbHG Rz. 16.

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Beispiel der Behandlung juristischer Personen im Strafrecht und im Deliktsrecht nachvollziehen.

II. Strafrecht Das deutsche Strafrecht beruht, wie man weiß, auf dem Prinzip der persönlichen Schuldzurechnung. Dieses ist Ausdruck der christlichen Lehre von der Sündhaftigkeit und Schuld des Menschen vor Gott und deren Transformation in eine individualistische philosophische Ethik durch die Aufklärung, namentlich durch Kant und Hegel.5 Folgerichtig können juristische Personen als solche nicht strafbar sein.6 Die zahlreichen Strafvorschriften, welche das geltende Recht zur Absicherung handels-, gesellschafts- und wirtschaftsrechtlicher Vorschriften kennt, richten sich deshalb gegen die die juristische Person repräsentierenden natürlichen Personen, im Recht der Kapitalgesellschaften also gegen Mitglieder des Vorstands und des Aufsichtsrats einer AG oder Geschäftsführer und Gesellschafter einer GmbH.7 Doch ist dieser Grundgedanke wiederum keineswegs selbstverständlich. Im germanischen Recht und demzufolge nach der deutschrechtlichen Tradition konnten auch Personenverbände, zum Beispiel Sippen, bestraft werden.8 Im modernen Recht führte die Beschränkung der Straffähigkeit auf natürliche Personen insbesondere im Wettbewerbsrecht, im Umweltrecht und bei der Drogenbekämpfung zu gravierenden Problemen, weil in diesen Rechtsgebieten ein starkes kriminalpolitisches Bedürfnis auftritt, auch gegen die in rechtswidrige Handlungen verwickelten Unternehmen selbst mit harten Sanktionen vorzugehen, wenn eine strafbare Handlung zu ihren Gunsten begangen wurde oder wenn sie Gewinn daraus gezogen haben. Im geltenden deutschen Recht bietet die Unterscheidung zwischen Straftat und Ordnungswidrigkeit, Strafe und Buße einen seltsamen Ausweg, indem sie als Angelpunkt dafür herangezogen wird, dass juristische Personen, wenn sie schon strafrechtlich nicht belangt, so doch ordnungswidrigkeitenrechtlich zu einer Geldbuße verurteilt werden können.9 Ihnen kann insoweit das strafbare Handeln ihrer Entscheidungsträger und Mitarbeiter als eigenes Handeln zugerechnet werden. Das Ordnungswidrigkeitenrecht geht über den Zurechnungsgedanken sogar noch hinaus, indem es in bestimmten Fällen gestattet, unter Verzicht auf die persönliche Strafverfolgung der unmittelbar straffälligen Personen nur die juristische Person zu verfolgen und eine Geldbuße gegen sie zu verhängen.10

__________ 5 Vgl. Hirsch, Strafrechtliche Verantwortlichkeit von Unternehmen, ZStW 107 (1995), 285, 294 ff. 6 Vgl. § 14 StGB. 7 §§ 399 ff. AktG, 82 ff. GmbHG. 8 Vgl. Gierke, Genossenschaftstheorie, S. 743 ff. 9 §§ 17 Abs. 4, 30 OWiG. 10 Vgl. insbesondere für das Wettbewerbsrecht §§ 81, 82 GWB sowie Art. 101 bis 103 AEUV, Art. 23 VO 1/2003 (zuvor Art. 81 bis 83 EGV und dazu Art. 14 der VO Nr. 17, Fusionskontrollverordnung).

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Die innere Unstimmigkeit dieses spitzfindigen Auswegs ist schwerlich zu übersehen: Ordnungswidrigkeiten sind, auch nach ihrem historischen Ursprung, nicht anders als Straftaten kriminelle Handlungen. Sie unterscheiden sich von diesen durch ihr geringeres kriminalpolitisches Gewicht, sind daher auch nicht mit einem gleich schweren rechtlichen und sittlichen Makel behaftet und können deshalb geringer bestraft werden. In einem am Begriff individueller Schuld orientierten Strafrecht ist es aber ein Widerspruch, juristische Personen zwar von der Strafbarkeit auszunehmen, sie aber wegen derselben Tat eines ihrer Organe oder Mitarbeiter nach dem Ordnungswidrigkeitenrecht zu verfolgen. Das rechts- und wirtschaftspolitische Ziel, Unternehmen als solchen wenigstens eine Geldbuße auferlegen zu können, rechtfertigt es nicht, den inneren Zusammenhang zwischen Strafe und Buße künstlich auseinanderzureißen und zu verschleiern. Auch das Strafrecht dient nicht nur der Sühne individueller Schuld, sondern auch der Verhinderung von Straftaten im Wirtschaftsleben. Aus überzeugender Einsicht in diese Funktion hat deshalb kürzlich Österreich ein „Gesetz über die Verantwortlichkeit von Verbänden für Straftaten“ erlassen, welches juristische Personen neben oder anstelle ihrer Entscheidungsträger und Mitarbeiter strafrechtlich haftbar macht, wenn eine Straftat zu ihrer Gunsten begangen wurde oder durch die Tat Pflichten verletzt wurden, welche den Verband treffen.11

III. Deliktsrecht 1. Im Recht der unerlaubten Handlungen konnte sich eine analoge Theorie der Deliktsunfähigkeit juristischer Personen von vornherein nicht durchsetzen. Sie kommt aber in der Lehre zum Vorschein, wonach juristische Personen kein Schmerzensgeld beanspruchen können, weil dieses einen Ausgleich für persönlich erlittene Schmerzen und entgangene Lebensfreude und eine Genugtuung für individuell erfahrenes Unrecht gewähren soll.12 Ungeachtet dieses nach seinem tragenden Gedanken allgemeingültigen Ausgangspunktes sah sich der BGH indessen auch hier genötigt, Ausnahmen zuzulassen. In dem Leitfall dazu verlangten zwei als rechtsfähige Vereine organisierte territoriale Gliederungen der Scientology-Sekte unter dem Gesichtspunkt der Amtshaftung Schmerzensgeld, weil sie sich durch einen eine Reihe von unwahren und ehrenrührige Behauptungen enthaltenden Bericht des Bundeskriminalamtes, der an zahlreiche Stellen weitergegeben worden war, in ihrer Ehre und ihrem Recht auf freie Entfaltung als Religionsgemeinschaft verletzt fühlten. Der 3. Zivilsenat des BGH führte dazu aus, im Fall einer schweren Persönlichkeitsverletzung könne auch einer als rechtsfähiger Verein organisierten Religions- und Weltanschauungsgemeinschaft eine Geldentschädigung wegen immaterieller Beeinträchtigungen zustehen, wenn die erlittene Beeinträchtigung sich nicht auf andere Weise befriedigend ausgleichen lasse. Dem Verein könne in einem solchen Fall ein eigenes Genugtuungsbedürfnis nicht abgesprochen werden.13 Auch wenn

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11 Gesetz von 2005, BGBl. I, Nr. 151/2005. 12 BGHZ 35, 363, 367 ff.; 39, 124, 133 ff.; 78, 24; 27 f. 13 BGHZ 78, 274, 280 (Scientology).

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es sich um einen Sonderfall handelt, wird dadurch das Prinzip relativiert, dass juristische Personen kein Schmerzensgeld beanspruchen können. 2. Das gilt umso mehr, als die Zubilligung von Schmerzensgeld an eine juristische Person Folge der tiefer liegenden Grundsatzentscheidung ist, juristischen Personen kein allgemeines Persönlichkeitsrecht zuzubilligen, welches als sonstiges Recht im Sinn des § 823 Abs. 1 BGB einzuordnen ist und dessen Verletzung deshalb Schadensersatzansprüche begründet. Nach seinem Ursprung wird das allgemeine Persönlichkeitsrecht aus dem Verfassungsauftrag des Schutzes der Menschenwürde nach Art. 1 GG abgeleitet.14 Der ihm zugrunde liegende Gedanke bezieht sich deshalb richtigerweise wiederum nur auf natürliche Personen, die vom Recht gegen fremde Eingriffe in ihre individuelle Lebenssphäre geschützt werden müssen.15 Im juristischen Schrifttum wurde deshalb schon früh die Meinung vertreten, das Recht könne juristischen Personen nicht zustehen.16 Auch in diesem Fall ließ sich die Lehre jedoch nicht aufrechterhalten, denn die abstrakt-dogmatischen Vorstellungen über die Herkunft und Rechtsnatur des Persönlichkeitsrechts mussten hier wiederum hinter die realen Anforderungen des modernen Wirtschaftslebens zurücktreten. Sie widersprachen aber auch dem Prinzip der gleichen Rechtsfähigkeit natürlicher und juristischer Personen.17 Auf der anderen Seite erwies sich die schematische Gleichstellung jedoch als zu weitgehend. Daher schlug die Rechtsprechung einen bemerkenswerten Mittelweg ein. Gegenstand des als Leitfall fungierenden Streits war die Klage von BMW gegen ein Unternehmen, das einen Aufkleber, der das Firmenemblem von BMW identisch, jedoch mit dem Aufdruck „Bums Mal Wieder“, versehen wiedergab, als Plakette vertrieb. Im Urteil des 6. Zivilsenats des BGH vom 3.6.198618 heißt es dazu, grundsätzlich könnten auch Kapitalgesellschaften Träger des allgemeinen Persönlichkeitsrechts sein. Indes sei deren Rechtsträgerschaft beschränkt. Der Entstehungsgrund des allgemeinen Persönlichkeitsrechts als Schöpfung der Rechtsprechung, die Lücken im Persönlichkeitsschutz ausfüllt und aus den in Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 1 GG getroffenen Wertentscheidungen ihre Legitimation erfährt, machten eine thematische Begrenzung deutlich. Eine Ausdehnung der Schutzwirkung des Rechts auf juristische Personen erscheine nur insoweit gerechtfertigt, als sie „gemäß ihrem Wesen als Zweckschöpfungen des Rechts und ihren Funktionen“ dieses Rechts-

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14 Seit BGHZ 35, 363 ständige Rechtsprechung. 15 Vgl. statt aller Klippel, Der zivilrechtliche Persönlichkeitsschutz von Verbänden, JZ 1988, 625 ff.; Raiser, Das allgemeine Persönlichkeitsrecht und die Lehre von der juristischen Person, in FS Traub, 1994, S. 331 ff. 16 Vgl. Hubmann, Das Persönlichkeitsrecht, 2. Aufl. 1967, S. 334; Leßmann, AcP 170 (1970), 266, 268 ff.; John, Die organisierte Rechtsperson, 1970, S. 227. Auch einige Oberlandesgerichte folgten diesem Standpunkt (vgl. OLG Hamburg, MDR 1966, 674; OLG Stuttgart, MDR 1979, 671). 17 Vgl. BGHZ 42, 201, 219 (zugunsten der Gewerkschaft ÖTV); BGH, NJW 1974, 1762 (zugunsten einer kulturellen Stiftung in der Rechtsform eines eingetragenen Vereins); BGH, NJW 1975, 1882 (zugunsten eines als Aktiengesellschaft geführten wirtschaftlichen Unternehmens). 18 BGHZ 98, 94, 97.

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schutzes bedürfen. Dieses sei der Fall, wenn ein Unternehmen, im entschiedenen Fall BMW, in seinem sozialen Geltungsanspruch als Arbeitgeber oder als Wirtschaftsunternehmen betroffen sei.19 Der Senat meinte, der soziale Geltungscharakter von BMW und ihr Ansehen als Wirtschaftsunternehmen werde durch den angegriffenen Scherzartikel nicht infrage gestellt. Über diese Würdigung wird man streiten können, doch kommt es darauf hier nicht an. Dogmatisch und rechtspolitisch ist entscheidend, dass die Rechtsprechung den ausschließlichen Bezug des allgemeinen Persönlichkeitsrechts auf die Würde individueller Menschen zwar prinzipiell aufgegeben hat, seine Reichweite aber bei natürlichen und bei juristischen Personen unterschiedlich bestimmt. Der Maßstab, den sie dazu für juristische Personen formuliert, gilt nicht mehr generell, sondern ist fallbezogen, differenziert nach der Eigenart und sozialen Funktion der juristischen Person. Nicht nur zwischen natürlichen und juristischen Personen bestehen Unterschiede, sie können sich auch zum Beispiel zwischen Sport- und Gesangsvereinen, Nichtregierungsorganisationen, politischen Parteien, Lobbyverbänden, Religionsgemeinschaften, großen und kleinen Wirtschaftsunternehmen ergeben. Anstelle eine generell-abstrakt geltende Regelung anzuwenden beansprucht die Rechtsprechung das Recht zu einer Einzelfallwürdigung, die primär nicht mehr nur auf die besonderen Umständen des jeweils zu beurteilenden Streits abstellt, sondern nach Typen von juristischen Personen differenziert, für deren Gliederung der Hinweis auf den Charakter der juristischen Person als Zweckschöpfung des Rechts und deren soziale Funktionen nur vage Vorgaben bietet. Die Tragweite der Rechtsfähigkeit juristischer Personen wird zum Gegenstand autonomer richterlicher Rechtsfortbildung. 3. Als problematisch erweist sich die Rechtsfähigkeit juristischer Personen auch auf der Passivseite, bei der Frage, ob bzw. in welchen Fällen die juristische Person selbst deliktsrechtlich verantwortlich gemacht und schadensersatzpflichtig sein kann, obgleich §§ 823 ff. BGB ein schuldhaftes Verhalten verlangen. Soweit ein Organmitglied oder ein sonstiger verfassungsmäßiger Vertreter der juristischen Person im Sinn des § 30 BGB in Ausübung seines Amtes eines der deliktsrechtlich geschützten Rechtsgüter eines Dritten verletzt hat, löst § 31 BGB das Problem, indem die Vorschrift die Verletzung dem Verband zurechnet und diesen damit zusätzlich zu dem selbst rechtswidrig und schuldhaft handelnden Organmitglied ersatzpflichtig macht. Für Stiftungen und für juristische Personen des öffentlichen Recht gilt die Vorschrift gemäß §§ 86, 89 BGB entsprechend. Für die Überwälzung der Haftung für Verschulden von Mitarbeitern gilt § 831 BGB, der aber infolge der Zulässigkeit des Entlastungsbeweises kaum effektiv wird. Die Regelung lässt bekanntlich empfindliche Lücken, insbesondere bei der Produkthaftung, bei der Haftung für Umweltschäden und wenn der Schaden durch die Verletzung einer Verkehrssicherungspflicht verursacht wurde, deren Erfüllung nicht einem Organ, sondern einem sonstigen Mitarbeiter des Ver-

__________ 19 Alle Zitate BGHZ 98, 94, 97.

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bands oblag, einem außenstehenden Dritten durch Vertrag übertragen oder überhaupt nicht bzw. unklar festgelegt war. In solchen Fällen stellt sich die Frage, ob die Verantwortlichkeit, insbesondere die Verkehrssicherungspflicht, die juristische Person selbst treffen kann und diese daher für Versäumnisse von Mitarbeitern oder vertraglich beauftragten Repräsentanten, die vorwerfbar gehandelt haben, haftet, bzw. ob sie selbst wegen des Mangels einer für die Erfüllung der Verkehrssicherungspflicht geeigneten inneren Organisation haftet, wenn die unmittelbare Verantwortlichkeit ungenügend bestimmt war oder undurchsichtig bleibt. Anders als bei der oben dargestellten strafrechtlichen Verantwortlichkeit sah sich die Rechtsprechung in der Tat früh genötigt, auch in solchen Fällen eine zivilrechtliche Verkehrssicherungs- und damit Schadensersatzpflicht juristischer Personen anzuerkennen, obwohl sie über den Grundsatz hinausging, dass nur vorsätzliches oder fahrlässiges, das heißt einer natürlichen Person vorwerfbares Handeln eine deliktische Haftung auslösen kann und die Zurechnungsnorm des § 31 BGB nicht erfüllt war.20 Sie anerkannte die Möglichkeit einer Verkehrssicherungspflicht der juristischen Person selbst sogar in Fällen, in denen eine natürliche Person überhaupt nicht in Anspruch genommen werden konnte. Schwierig und deshalb umstritten blieben die rechtliche Begründung dieser Lösung und die Abgrenzung der für die Haftung der juristischen Person in Betracht kommenden Fälle.21 Das muss in den Einzelheiten hier auf sich beruhen. Für unseren Zusammenhang genügt die Feststellung, dass Rechtsprechung und Lehre im Hinblick auf Rechtspflichten, deren Verletzung eine deliktische Haftung auslöst, die Verpflichtungsfähigkeit juristischer Personen unabhängig von einem persönlichen Schuldvorwurf beurteilen. Sie blicken in derartigen Fällen auch hier auf die konkreten Umstände des Einzelfalls und haben sich auf diesem Weg dafür einen beträchtlichen richterlichen Beurteilungsspielraum geschaffen. Bei näherem Hinsehen zeigt sich, dass sich die Differenzierung weniger an unterschiedlichen Typen juristischer Personen orientiert als an der Ausarbeitung spezifischer Verkehrspflichten für die verschiedenen solche Pflichten erfordernden Lebensbereiche. Zum Beispiel ist es für die in einem der Öffentlich-

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20 Vgl. BGHZ 24, 200, 212 f. unter Hinweis auf RGZ 162, 126, 166; 157, 228, 235; BGHZ 35, 363; 39, 124, 130; ferner als illustrative Beispiele BGH, NJW 1980, 2810 (Haftung eines Verlags trotz Prüfung der Rechtmäßigkeit einer Veröffentlichung durch einen Rechtsanwalt); BGH, NJW 1982, 1144 (Haftung bei einem Unfall in einem Schwimmbad, in dem keine ausreichende Vorkehrung zur Verhütung getroffen war); BGH, NJW 1998, 1857 (Repräsentantenhaftung einer Bank für einen formell selbständigen Handelsvertreter, der ohne ihre Autorisation eine Kapitalanlage vertrieb). 21 Vgl. statt aller v. Bar, Verkehrspflichten – Richterliche Gefahrsteuerungsgebote im deutschen Deliktsrecht, 1980; Kleindiek, Deliktshaftung und juristische Person, 1997. Kleindiek begründet die Haftung hauptsächlich mit dem Argument, dass andernfalls juristische Personen gegenüber natürlichen privilegiert würden, weil sie sich der Haftung leichter entziehen könnten, also mit dem Gerechtigkeitsgebot ihrer Gleichstellung (vgl. S. 478).

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Reichweite und Grenzen der Rechtsfähigkeit juristischer Personen

keit zugänglichen Gebäude geltende Verkehrssicherungspflicht unerheblich, ob Eigentümer des Gebäudes eine natürliche oder eine juristische Person und bei den juristischen Personen eine Körperschaft des öffentlichen Rechts oder ein privates Unternehmen ist. Insofern gilt die Gleichheit der rechtlichen Verpflichtungsfähigkeit natürlicher und juristischer Personen. Wann eine Verkehrssicherungspflicht besteht, entscheiden mangels ins Einzelne gehender gesetzlicher Regelung zwar die Gerichte. Diese orientieren sich aber nicht an der Rechtsform des Verpflichteten, sondern an den Erfordernissen des jeweils in Rede stehenden gesellschaftlichen Lebensbereichs. Bei juristischen Personen kommt lediglich die Haftung wegen eines Organisationsmangels hinzu, wenn in ihrer inneren Organisation keine hinreichenden Vorkehrungen für die einwandfreie Erfüllung von Verkehrssicherungspflichten getroffen wurden.

IV. Verfassungsrecht Im Verwaltungsrecht können juristische Personen ohne weiteres Adressaten von Verwaltungsakten, Widerspruchsberechtigte sowie Kläger und Beklage im verwaltungsgerichtlichen Verfahren sein.22 Insbesondere sind sie selbständig steuerpflichtig und als solche verpflichtet, die Sozialversicherungsbeiträge für ihre Arbeitnehmer zu entrichten. Dagegen wirft die Grundrechtsfähigkeit juristischer Personen wiederum hoch komplexe Rechtsfragen auf. Nach Art. 19 Abs. 3 GG gelten die Grundrechte auch für inländische juristische Personen, „soweit sie ihrem Wesen nach auf diese anwendbar“ sind. Insoweit sind juristische Personen gemäß § 90 Abs. 1 BVerfGG auch berechtigt, Verfassungsbeschwerde zu erheben. Was das Wesen eines Grundrechts verlangt, ist häufig aber zweifelhaft und problematisch. Das Bundesverfassungsgericht führt dazu grundsätzlich aus: „Das Wertsystem der Grundrechte geht von der Würde und Freiheit des einzelnen Menschen als natürliche Person aus. Die Grundrechte sollen in erster Linie die Freiheitssphäre des Einzelnen gegen Eingriffe der staatlichen Gewalt schützen und ihm insoweit zugleich die Voraussetzungen für eine freie aktive Mitwirkung und Mitgestaltung im Gemeinwesen sichern. Von dieser zentralen Vorstellung her ist auch Art. 9 Abs. 3 GG auszulegen und anzuwenden. Sie rechtfertigt eine Einbeziehung der juristischen Personen in den Schutzbereich der Grundrechte nur, wenn ihre Bildung und Betätigung Ausdruck der freien Entfaltung der natürlichen Personen sind, besonders wenn der „Durchgriff“ auf die hinter den juristischen Personen stehenden Menschen dies als sinnvoll und erforderlich erscheinen lässt.“23

Die Formel gibt zwar eine Richtung an. Doch bleibt sie mit den maßgeblichen Begriffen „sinnvoll und erforderlich“ so unbestimmt, dass damit nicht viel gewonnen ist. Letztlich eröffnet sich damit auch das Bundesverfassungsgericht einen Spielraum, jeweils im Einzelfall zu entscheiden, ob ein Grundrecht für eine juristische Person gelten soll.

__________ 22 §§ 11 Nr. 1 VwVfG; 61 Nr. 1 Alt. 1 VwGO. 23 BVerfGE 21, 362, 369.

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In einigen Fällen können, wie schon im bürgerlichen Recht, keine Zweifel auftreten: Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) können nur natürliche Personen haben, desgleichen das Recht auf Leben, körperliche Unversehrtheit und persönliche Freiheit (Art. 2 Abs. 2 GG). Auch die Garantie der Gleichheit von Männern und Frauen (Art. 3 Abs. 2 GG) und den verfassungsrechtlichen Schutz von Ehe und Familie sowie der unehelichen Kinder (Art. 6 GG) können nur natürliche Personen genießen. Schwierigkeiten bereitet dagegen schon der allgemeine Gleichheitssatz nach Art. 3 Abs. 1 GG, denn er bezieht sich nach seinem Wortlaut nur auf „alle Menschen“. Gleichwohl hat ihn das Bundesverfassungsgericht von Anfang an als allgemeinen Rechtsgrundsatz begriffen, auf den sich in geeigneten Fällen auch juristische Personen berufen können.24 Ob natürliche und juristische Personen von einem Eingriff gleich oder ungleich betroffen sind, ist dann aber wiederum nach den Umständen des Einzelfalls zu beurteilen. Im gleichen Zusammenhang ist problematisch, ob es Fälle geben kann, in denen sich eine juristische Person auf eines der speziellen Diskriminierungsverbote des Art. 3 Abs. 3 GG berufen kann, obwohl auch diese Verbote ersichtlich zum Schutz natürlicher Personen bestimmt sind.25 Am anderen Ende der Liste können bei einigen Grundrechten keine Bedenken aufkommen, dass sich juristische Personen auf sie berufen können. Ein Beispiel ist die Gewährleistung des Brief-, Post und Fernmeldegeheimnisses nach Art. 10 GG.26 Weniger eindeutig, vom Bundesverfassungsgericht aber bejaht, ist die Erstreckung der Garantie der Unverletzlichkeit einer Wohnung nach Art. 13 GG auf die Arbeits-, Betriebs- und Geschäftsräume aller Arten von Verbänden und wirtschaftlichen Unternehmen.27 Auch die Garantien der Unparteilichkeit von Richtern und fairer Gerichtsverfahren nach Art. 19 Abs. 4, 101, 103 GG müssen nach ihrem Sinn und Zweck zugunsten juristischer Personen genau so gelten wie zugunsten natürlicher Personen.28 In den häufigsten und wichtigsten Fällen lassen sich die aufgeworfenen Fragen dagegen nicht mit der gleichen Offenkundigkeit lösen. Soll sich etwa die

__________ 24 Vgl. BVerfGE 3, 383, 390; 4, 7, 12; 19, 5 ff.; 126, 149 ff., ständige Rechtsprechung. 25 In Betracht kommt, neben der Anwendung von Art. 4 GG Abs. 1 und 2 GG, das Verbot der Diskriminierung wegen des Glaubens und der religiösen Anschauungen. 26 Vgl. BVerfGE 100, 313, 356 f.: Schutz eines als GmbH organisierten Zeitungsverlags; BVerfGE 106, 28, 42 f.: Schutz einer von einer GmbH betriebenen Telekommunikationsanlage. 27 Dazu heißt es in dem Grundsatzurteil BVerfGE 42, 212, 219: „Zwar ist die Unverletzlichkeit der Wohnung ihrem Ursprung nach ein echtes Individualrecht, das dem Einzelnen im Hinblick auf seine Menschenwürde und im Interesse seiner freien Entfaltung einen „elementaren Lebensraum“ (… Literaturzitat) gewährleisten soll. Indessen ist für die Beantwortung der Frage, ob ein Grundrecht „seinem Wesen nach“ auf juristische Personen anwendbar ist, weniger auf den historischen Ursprung des Grundrechts als vielmehr darauf abzustellen, ob es nur individuell oder auch korporativ betätigt werden kann. Danach genießen auch Kommanditgesellschaften den Schutz des Grundrechts aus Art. 13 Abs. 1 GG; denn diese können – ebenso wie Einzelpersonen – berechtigterweise Inhaberinnen von Wohnungen sein.“ 28 BVerfGE 3, 363 ff.; 649 ff.; 12, 8 ff.; usw.

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Garantie der Freizügigkeit nach Art. 11 GG und die Freiheit der Berufswahl nach Art. 12 GG, welche das Grundgesetz als Deutschenrechte formuliert, auch für juristische Personen gelten, wenigstens für solche, die nach deutschem Recht organisiert und in Deutschland registriert sind? Das Bundesverfassungsgericht musste bei der Zulässigkeit von Verfassungsbeschwerden juristischer Personen großzügig verfahren, seitdem es im ElfesUrteil von 1957 aus dem Recht auf die freie Entfaltung der Persönlichkeit nach Art. 2 Abs. 1 GG die verfassungsrechtliche Gewährleistung einer allgemeinen Handlungsfreiheit im sozialen und wirtschaftlichen Verkehr abgeleitet und im Lüth-Urteil von 195829 die Grundrechte nicht nur als einzelnen Individuen zustehende subjektive Rechte, sondern als Ausdruck einer objektiven Wertordnung interpretiert hatte, die alle Bereiche des Rechts durchdringt. Seine folgerichtige generelle Tendenz, die Berufung auf Grundrechte auch juristischen Personen, insbesondere wirtschaftlichen Unternehmen zuzugestehen, ist unverkennbar. So heißt es bereits im oben zitierten Urteil vom 2.5.1967:30 „Der Wortlaut der Vorschrift (des Art. 9 Abs. 3 GG) legt es nahe, grundsätzlich von einer möglichen Grundrechtsfähigkeit der juristischen Personen auszugehen und sodann im Einzelfall zu prüfen, ob das mit der Verfassungsbeschwerde geltend gemachte einzelne Grundrecht seinem Wesen nach auf die jeweilige Beschwerdeführerin anwendbar ist. So ist das Bundesverfassungsgericht bei der Grundrechtsfähigkeit inländischer juristischer Personen des Privatrechts im allgemeinen verfahren und hat in zahlreichen Fällen Grundrechte für anwendbar erklärt, …“.

Die unvermeidliche Konsequenz dieses Ansatzes war es jedoch, dass sich das Gericht zu vielerlei Differenzierungen genötigt sah, die insgesamt ein ziemlich zerklüftetes Gesamtbild ergeben. Das kann hier nur andeutungsweise und mit Blick auf wirtschaftliche Unternehmen ausgeführt werden. Für diese kommen in erster Linie die Vereinigungs- und Koalitionsfreiheit (Art. 9 Abs. 1 und 3 GG), die Berufsfreiheit (Art. 12 GG), die Gewährleistung des Privateigentums (Art. 14 GG) sowie, in ihrem Verständnis als Auffanggrundrecht, die allgemeine Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG) in Betracht. Bei allen diesen Grundrechten ist anerkannt, dass sich grundsätzlich auch juristische Personen auf sie berufen können.31 Im Einzelnen zeigen sich bei ihrer Grundrechtsfähigkeit jedoch wiederum unter mehreren Gesichtspunkten erhebliche Unterschiede. Eine erste Differenzierung folgt aus dem Charakter und der Zweckbestimmung der juristischen Person selbst. Auf die Religionsfreiheit können sich sinngemäß nur Religionsgemeinschaften berufen, auf die Garantie der Pressefreiheit nur Presseunternehmen, auf die Freiheit der Kunst nur im Bereich der Kunst engagierte Verbände und Unternehmen. Am wichtigsten ist und am weitesten reicht indessen der vom Bundesverfassungsgericht in ständiger Rechtsprechung festgehaltene grundsätzliche Ausschluss der juristischen Personen des öffentlichen Rechts, den das Gericht damit begründet, dass diese Hoheitsrechte ausüben und daher Teile der Staatsgewalt sind, vor der die

__________ 29 BVerfGE 7, 198 ff. 30 BVerfGE 21, 362, 368. 31 Vgl. exemplarisch BVerfGE 50, 290 ff., 319, Mitbestimmung.

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Grundrechte gerade schützen sollen.32 Indessen sah sich das Gericht genötigt, auch insoweit Ausnahmen von der Grundregel zuzulassen: Zum Beispiel schützt die Rundfunkfreiheit auch die staatlichen Rundfunkanstalten;33 die Freiheit der wissenschaftlichen Forschung steht auch den Universitäten und deren Gliederungen zu.34 Als besonders schwierig erweisen sich bei diesem Ansatz die in der Rechtsform einer AG oder GmbH organisierten Unternehmen, deren Anteile sich vollständig oder zum Teil in der Hand des Bundes, eines Bundeslandes oder einer Gemeinde befinden und die zwar gemeinnütziger Aufgaben erfüllen, jedoch nach Maßgabe der das private Unternehmensrecht beherrschenden Regeln der Rechnungslegung und Gewinnerzielung arbeiten. Das Bundesverfassungsgericht hat ausgesprochen, dass eine Aktiengesellschaft, deren Aktien zu 100 % in den Händen einer Gemeinde liegen, jedenfalls dann nicht grundrechtsfähig ist, wenn die Trägerkörperschaft selbst dem Verbot unterliegt, weil die Grundrechtsfähigkeit andernfalls weitgehend von der von der Gemeinde gewählten Organisationsform abhinge.35 Auf der anderen Seite hat namentlich das Bundesverwaltungsgericht die Grundrechtsfähigkeit der Deutschen Post AG und der Deutschen Telekom AG als teilprivatisierter öffentlicher Unternehmen im Hinblick auf Art. 87f Abs. 2 GG anerkannt.36 Über die Grundrechtsfähigkeit gemischtwirtschaftlicher kommunaler Unternehmen wurde, soweit ich sehe, noch nicht abschließend entschieden. Im verfassungsrechtlichen Schrifttum ist sie stark umstritten.37 Eine zweite und in der Praxis gleichfalls durch allgemeine abstrakte Regeln wenig fixierbare Differenzierung der Grundrechtsfähigkeit folgt aus der Eigenart des durch ein Grundrecht geschützten Rechtsguts. Ob juristischen Personen ein verfassungsrechtlich geschütztes allgemeines Persönlichkeitsrecht zustehen kann, hat das Bundesverfassungsgericht ausdrücklich bezweifelt.38 Es hat jedoch aus Art. 2 Abs. 1 GG abgeleitete Rechte auf Schutz des eigenen Bildes, des gesprochenen Wortes und der geschäftlichen Ehre anerkannt.39 Das Grundrecht auf die freie Entfaltung der Persönlichkeit nach Art. 2 Abs. 1 GG gewährte das Bundesverfassungsgericht zwar grundsätzlich auch juristischen Personen, namentlich wirtschaftlichen Unternehmen, beschränkte es jedoch auf die Freiheit im wirtschaftlichen Verkehr.40 Auch die grundsätzliche Einbe-

__________ 32 33 34 35 36 37 38 39 40

So wegweisend wiederum BVerfGE 21, 362, 369 ff. BVerfGE 31, 314 ff.; 95, 220 ff.; 97, 278 ff. u. a. BVerfGE 15, 256 u. a. BVerfGE 45, 63, 79 f. BVerwGE 114, 160, 189; 118, 352, 359; im Ergebnis auch BVerfGE 115, 205 (227), das darauf abstellt, dass bei der Deutschen Telekom AG „kein beherrschender Einfluss des Bundes auf die Unternehmensführung“ besteht. Nachweise bei Remmert in Maunz/Dürig, Art. 19 Abs. 3 GG Rz. 56 ff. Zur Grundrechtsbindung gemischtwirtschaftlicher Unternehmen vgl. neustens BVerfGE 128, 226 = NJW 2011, 1201 (Fraport) und dazu Gurlit NZG 2012, 249. BVerfGE 106, 28, 42. BVerfGE 95, 220, 242. Vgl. z. B. BVerfGE 73, 270 ff.

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ziehung juristischer Personen in den Schutz der Berufsfreiheit (Art. 12 GG) und der Eigentumsfreiheit (Art. 14 GG) hat das Gericht zwar von Anfang an und in ständiger Rechtsprechung wie selbstverständlich bejaht, dabei jedoch Unterschiede und Abstufungen vorgenommen, welche die Wichtigkeit verschiedener Nutzungsarten dieser Grundrechte reflektieren. Zu Art. 12 GG ist zum Beispiel die Formulierung charakteristisch, der Schutz der Berufsfreiheit komme für juristische Personen, insbesondere wirtschaftliche Unternehmen, dann in Betracht, „wenn auch eine natürliche Person eine entsprechende Tätigkeit wahrnehmen könnte.“41 Zu Art. 14 GG stuft das Gericht die Reichweite des Grundrechtsschutzes nach der Art des Eigentums ab. Aktien (und entsprechend Geschäftsanteile einer GmbH) genießen danach „als sozial vermitteltes Eigentum“ einen schwächeren Schutz als zum Beispiel das Eigentum an persönlichen Gegenständen, Grundstücken sowie Urheberrechte.42 Als drittes methodisches Mittel, den Grundrechtsschutz juristischer Personen abzustufen, dienen dem Bundesverfassungsgericht die bei den einzelnen Grundrechten im Grundgesetz selbst enthaltenen Schranken. Daran kann hier nur erinnert werden. Der Grundrechtsschutz der allgemeinen Handlungsfreiheit gilt nur in den Grenzen der verfassungsmäßigen Ordnung und des Sittengesetzes (Art. 2 Abs. 1 GG). Nach Art. 9 Abs. 2 GG sind Vereinigungen verboten, deren Zwecke oder deren Tätigkeit den Strafgesetzen zuwiderlaufen oder die sich gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder gegen den Gedanken der Völkerverständigung richten. Art. 12 Abs. 1 Satz 2 GG gestattet, die Ausübung der Berufsfreiheit gesetzlich zu regeln. Inhalt und Schranken des Eigentums werden durch die Gesetze bestimmt (Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG); Eigentum verpflichtet, sein Gebrauch soll zugleich dem Wohl der Allgemeinheit dienen. Alle diese Vorbehalte gestatten es, die Reichweite des Grundrechtsschutzes juristischer Personen und wirtschaftlicher Unternehmen abzustufen. Auch gewähren sie infolge ihrer parolenhaften Unbestimmtheit der Verfassungsrechtsprechung, letzten Ende dem Bundesverfassungsgericht, einen beträchtlichen, auf den Einzelfall bezogenen Beurteilungsspielraum, der sich in der neueren Grundrechtsdogmatik in dem von dem Gericht entwickelten allgemeine Prinzip der Verhältnismäßigkeit von Freiheitsrechten und deren Einschränkungen verdichtet. Als Ergebnis dieser Rechtsentwicklung wird man zusammenfassend sagen können, dass das Prinzip der gleichen Rechtsfähigkeit von natürlichen und juristischen Personen beim Grundrechtsschutz zwar als Leitmaxime weiter anerkennenswert ist und auch tatsächlich anerkannt wird, in der Praxis aber so generell relativiert und durchlöchert werden musste, dass es kaum noch eindeutige Entscheidungsvorgaben und Orientierung bietet.

__________ 41 BVerfGE 21, 261 ff. 42 So schon BVerfGE 14, 263 ff. (Feldmühle), ferner insbesondere BVerfGE 50, 290 ff., 319 ff. (Mitbestimmung).

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V. Europarecht Es bleibt noch ein Blick auf ausländische juristische Personen und auf das Europäische Recht. Die Rechts- und prozessuale Parteifähigkeit ausländischer juristischer Personen in Deutschland richtet sich nach den Vorschriften des Internationalen Zivil-, Straf-, Prozess- und Verfassungsrechts. Für die Frage, ob ein ausländischer Verband oder ein ausländisches Unternehmen in Deutschland als juristische Person anerkannt wird und damit rechts- und parteifähig ist, gilt vorbehaltlich des deutschen ordre public grundsätzlich das Personalstatut, das heißt der Ort, an dem sie gegründet wurden (sog. Gründungstheorie). In wichtigen Fällen kommt als Anknüpfungspunkt stattdessen der Ort in Betracht, an dem die juristische Person ihren tatsächlichen Sitz hat (Sitztheorie) oder an dem sich der Vorgang abspielte, aus dem die zu entscheidende Rechtsfrage hervorging. Die Grundrechtsfähigkeit steht ausländischen juristischen Personen generell nicht zu, denn Art. 19 Abs. 3 GG beschränkt diese nach seinem Wortlaut auf inländische juristische Personen.43 Anders ist die Rechtslage jedoch hinsichtlich der juristischen Personen aus den Mitgliedstaaten der Europäischen Union, denn für sie gelten die in der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und in der Grundrechtecharta enthaltenen Grundrechte, die europarechtlichen Grundfreiheiten (Art. 49 ff., 56 ff., 63 ff. AEUV, vormals Art. 43, 49, 56 EGV) sowie das allgemeine Diskriminierungsverbot (Art. 18 AEUV). Die Garantien der Niederlassungs- und der Dienstleistungsfreiheit erstrecken Art. 54, 62 AEUV (vormals Art. 48, 55 EGV) sogar ausdrücklich auf „Gesellschaften“. Nach der Rechtsprechung des EuGH verlangen diese Vorschriften insbesondere bezüglich der Rechts- und Gerichtsfähigkeit die Gleichbehandlung mit deutschen juristischen Personen, namentlich auch den freien Zugang zu den deutschen Gerichten.44 Selbst die deutsche Grundrechtsfähigkeit von juristischen Personen aus den Mitgliedsstaaten der EU muss aus denselben Gründen anerkannt werden, wie ein erst kürzlich ergangenes Urteil des Bundesverfassungsgerichts bestätigt.45 Umgekehrt sind deutsche juristische Personen auch vor dem EuGH und den ihm nachgeordneten europäischen Gerichten rechts- und parteifähig. Noch nicht abschließend geklärte Probleme wirft dagegen die Frage auf, ob bzw. wie weit sie sich materiellrechtlich auf die in der Europäischen Menschenrechtskonvention enthaltenen Menschenrechte und auf die Europäische Grundrechtecharta berufen können. Nach Art. 13 EMRK hat „jede Person“, die in ihren in der Konvention anerkannten Rechten und Freiheiten verletzt worden ist, das Recht, bei einer innerstaatlichen Instanz eine wirksame Beschwerde zu

__________ 43 Vgl. BVerfGE 21, 207; 23, 229; 100, 313: Dagegen können sich ausländische juristische Personen auch auf die Rechtswegegarantie und auf die Garantien eines fairen Verfahrens berufen (Art. 19 Abs. 4, 101, 103 GG). 44 EuGH, NJW 1999, 2027 (Centros); EuGH, NZG 2002, 1164 (Überseering). 45 BVerfG v. 19.7.2011 – 1 BvR 1916/09. Die in dem Urteil weiter enthaltenen Ausführungen zum Nebeneinander des Rechtsschutzes durch das BVerfG und den EuGH interessieren hier nicht.

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erheben. Im gleichen Sinn heißt es in der Grundsatznorm Art. 1 EMRK, die Hohen Vertragsparteien sichern allen ihrer Hoheitsgewalt unterstehenden „Personen“ die in der Konvention enthaltenen Rechte und Freiheiten zu. Auch die einzelnen in der Konvention ausformulierten Rechte werden in der Regel „jeder Person“ gewährt, Verbote werden mit „niemand darf“ eingeführt.46 Ob damit auch juristische Personen gemeint sind, kann zweifelhaft sein, wenn man bedenkt, dass die Konvention primär den Schutz von Menschenrechten bezweckt. Eine grundsätzliche Beschränkung auf natürliche Personen könnte auch aus einem argumentum e contrario zu dem durch Art. 1 des 6. Zusatzprotokolls zur EMRK von 2002 eingeführten Eigentumsschutz abgeleitet werden, denn dieses formuliert nunmehr ausdrücklich: „Jede natürliche oder juristische Person hat das Recht auf Achtung ihres Eigentums“. Auf der anderen Seite sagt schon Art. 34 EMRK, der Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte kann von „jeder natürlichen Person, nichtstaatlichen Organisation oder Personengruppe“ angerufen werden, die behauptet, von einem Mitgliedstaat in einem in der Konvention anerkannten Rechte verletzt zu sein. Eine Zusammenschau aller genannten Vorschriften nötigt zu der Erkenntnis, dass aus ihrem unterschiedlichen Wortlaut keine klare Regelung über die Anwendbarkeit der Vorschriften zugunsten juristischer Personen abgeleitet werden kann. Im Ergebnis dürfte jedoch die Absicht eindeutig sein, natürliche und juristische Personen auch in Bezug auf die in der Konvention garantierten Rechte und Freiheiten grundsätzlich gleichzustellen. Doch wirft dieses Verständnis die gleichen Differenzierungsprobleme auf wie der Grundrechtsschutz juristischer Personen nach deutschem Recht. Es kann angenommen werden, dass diese Rechtslage, ungeachtet möglicher Beurteilungsunterschiede zwischen Bundesverfassungsgericht und europäischem Gerichtshof für Menschenrechte im Einzelfall, auch zu gleichartigen Lösungskategorien und -strategien führen muss. Nicht anders lautet der Befund zu den europarechtlichen Grundfreiheiten und zur europäischen Grundrechtecharta. Auch hier steht der Schutz der Menschenwürde an der Spitze (Art. 1 GR-Charta).47 Es folgen die Rechte auf Leben (Art. 2), körperliche und geistige Unversehrtheit (Art. 3) und auf Freiheit und Sicherheit (Art. 6), die nach dem Text, aber auch nach ihrem Sinn, „jedem Menschen“, das heißt nur allen natürlichen Personen zustehen können. Gleiches gilt von den Verboten der Folter, unmenschlicher oder erniedrigender Strafen, Sklaverei und Zwangsarbeit gemäß Art. 4 und 5 GR-Charta. Dagegen heißt es bei den Grundrechten auf Achtung des Privat- und Familienlebens, der Wohnung und der Kommunikation (Art. 7), auf Schutz personenbezogener Daten (Art. 8), der Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit (Art. 10), der Meinungs- und Informationsfreiheit (Art. 11), der Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit (Art. 12), der Berufsfreiheit (Art. 15) sowie beim Eigentumsschutz (Art. 16), dass die Rechte „jeder Person“ zustehen. Art. 20 ergänzt: „Alle Per-

__________

46 Nur bei dem Recht auf Leben nach Art. 2 Abs. 1 EMRK spricht die Konvention von „jeder Mensch“. 47 Art. 1 GR-Charta lautet: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie ist zu achten und zu schützen.“

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sonen sind vor dem Gesetz gleich“. Auch zahlreiche weitere Rechte gewährt die Charta „jeder Person“. Die unternehmerische Freiheit schließlich schützt Art. 16 nach seinem Wortlaut als Institution ohne Bezug auf Menschen oder Personen.48 Der auffällige terminologische Unterschied zwischen Menschenrechten und Personenrechten, der sich in diesen Formulierungen findet, könnte auch hier darauf hinweisen, dass die Personenrechte, nicht aber die Menschenrechte, auch juristischen Personen zustehen sollen. Dagegen spricht, dass es auch bei den Personenrechten solche gibt, die nach ihrem Sinn nur für natürliche Menschen in Betracht kommen,49 während es umgekehrt denkbar ist, dass gewisse Menschenrechte in geeigneter Weise auch von juristischen Personen geltend gemacht werden können. Der Text allein genügt zur Wegweisung also auch hier nicht. Im Ergebnis wird man deshalb auch in der Grundrechtecharta einen Art. 19 Abs. 3 GG entsprechenden Passus ergänzen müssen, wonach die europäischen Grundrechte und Freiheiten für juristische Personen gelten, soweit sie ihrem Wesen nach auf diese anwendbar sind. Ist die Interpretation richtig, importiert sie auch alle Auslegungsschwierigkeiten und Differenzierungserfordernisse in das europäische Grundrechtsverständnis, welche das Bundesverfassungsgericht zum deutschen Grundgesetz zu bewältigen hatte.

__________ 48 Die Vorschrift lautet: „Die unternehmerische Freiheit wird nach dem Unionsrecht und nach den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten anerkannt.“ 49 Zum Beispiel das Recht auf Schutz des Privat- und Familienlebens (Art. 7).

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Das Prinzip der Regelverfolgung von Schadensersatzansprüchen nach „ARAG/Garmenbeck“ Eine kritische Würdigung

Inhaltsübersicht I. Einleitung: 15 Jahre „ARAG/Garmenbeck“ 1. Die Entscheidung 2. Bilanz aus Sicht der Rechtsberatung 3. Faktische oder normative Regelverfolgung? II. Gründe für eine Regelverfolgung als Rechtspflicht 1. Wertung des § 93 Abs. 4 Satz 3 AktG 2. Wahrung der Legalitätspflicht

3. Reduziertes Ermessen III. Stellungnahme 1. Nichtverfolgung und Verzicht 2. Legalitätspflicht und Sorgfaltspflicht 3. Unternehmerisches Ermessen und Regelverfolgung IV. Zusammenfassung

I. Einleitung: 15 Jahre „ARAG/Garmenbeck“ Eine der für die gesellschaftsrechtliche Praxis besonders bedeutenden Entscheidungen der letzten Jahre und Jahrzehnte ist das Urteil des II. Zivilsenats vom 21.4.1997 in der Sache „ARAG/Garmenbeck“.1 Die Relevanz dieser Entscheidung hat in den 15 Jahren seit ihrer Verkündung nicht abgenommen; im Gegenteil: Sie steht angesichts der zunehmenden Bedeutung von Organhaftungsfragen stärker im Blick der betroffenen Organe und der sie beratenden Anwälte denn je. Dabei scheint sie bisweilen dahin verstanden zu werden, dass etwaige Schadensersatzansprüche gegen Organmitglieder in jedem Fall verfolgt werden müssten, auch wenn dies – im Rahmen einer eingehenden Analyse der Situation – nicht im Gesellschaftsinteresse liegt. Schon angesichts dieser in der Praxis zu beobachtenden Tendenz erscheint eine kritische Würdigung unter Einschluss der Erfahrung ihrer Auswirkungen in den letzten eineinhalb Jahrzehnten lohnend.2

__________ 1 BGHZ 135, 244 = BGH, NJW 1997, 1926 = ZIP 1997, 883 = BB 1997, 1169 = DStR 1997, 880. 2 Vgl. dazu bereits Goette in Liber amicorum Martin Winter, 2011, S. 153 ff., der „ARAG/ Garmenbeck“ – m. E. zutreffend – einschränkend interpretiert, jedoch auf den im Folgenden untersuchten kompetentiellen Aspekt der Entscheidung nicht näher eingeht.

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1. Die Entscheidung In dem zu Grunde liegenden Fall3 wandten sich Mitglieder des Aufsichtsrats einer in der Form der AG organisierten Rechtsschutzversicherung gegen Aufsichtsratsbeschlüsse, mit denen die Geltendmachung eines Schadensersatzanspruchs gegen den Vorstandsvorsitzenden der beklagten Versicherung mehrheitlich abgelehnt worden ist. Hintergrund waren Darlehensgeschäften mit der in London ansässigen G. Ltd., die zu hohen Verlusten – in der Größenordnung von rund 80 Mio. DM – bei der Beklagten und deren 100 %igen Tochtergesellschaft geführt hatten. Bei der G. Ltd. handelte es sich um eine englische „Briefkastenfirma“, deren Geschäftsleitung in der Hand eines mehrfach vorbestraften Elektroinstallateurs lag. Das „Geschäftsmodell“ bestand darin, dass die G. Ltd. einerseits Kapital zu erheblich über dem Kapitalmarktniveau liegenden Zinsen entgegen nahm und andererseits unterhalb des marktüblichen Zinsniveaus liegende Billigkredite gewährte. Über einen gewissen Zeitraum konnten die Verluste, die bei diesem Modell anfielen, durch Ausweitung des Geschäftsumfanges nach Art eines „Schneeball-Systems“ aufgefangen werden, dann aber brach die G. Ltd. unter der Last der Schulden zusammen und schädigte dadurch die Beklagte, die Garantieerklärungen für gewährte Kredite übernommen hatte.4 Das OLG Düsseldorf wies – im Unterschied zur Vorinstanz5 – die Klage der Aufsichtsratsmitglieder, die sich im Gremium nicht hatten durchsetzen können, ab.6 Der BGH sah das anders und verwies die Sache zur erneuten Prüfung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurück, da nicht ausgeschlossen werden könne, dass der Aufsichtsrat der Beklagten zur Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen gegen den Vorstandsvorsitzenden verpflichtet sei.7 Die „ARAG/Garmenbeck“-Entscheidung war und ist in zweifacher Hinsicht von grundsätzlicher Bedeutung. Bedeutend ist sie zum einen deshalb, weil sich darin das höchste deutsche Zivilgericht so deutlich wie in keiner Entscheidung zuvor zu der – nunmehr in § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG normierten – „Business Judgment Rule“ bekannte und feststellte, „dass dem Vorstand bei der Leitung der Geschäfte des Gesellschaftsunternehmens ein weiter Handlungsspielraum zugebilligt werden muss, ohne den eine unternehmerische Tätigkeit schlechterdings nicht denkbar ist.“8 Zum anderen übt das Urteil bis heute einen nachhaltigen Einfluss dadurch aus, dass der BGH – gleichsam in umgekehrter Tendenz – dem Aufsichtrat eine „Entscheidungsprärogative“ bei der Frage, ob ein (voraussichtlich) gegen ein Vorstandsmitglied bestehender Schadensersatzanspruch tatsächlich verfolgt werden soll, absprach. So heißt es zusammenfassend am Ende des Urteils: „Die vorstehenden Überlegungen führen zu der Schlussfolgerung, dass die Ver-

__________ 3 4 5 6 7 8

Vgl. dazu auch Goette (Fn. 2), S. 155, 156 f. BGHZ 135, 244, 246. LG Düsseldorf, ZIP 1994, 628. OLG Düsseldorf, ZIP 1995, 183. BGHZ 135, 244, 256 f. BGHZ 135, 244, 253.

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Regelverfolgung von Schadensersatzansprüchen nach „ARAG/Garmenbeck“

folgung der Schadensersatzansprüche gegenüber einem Vorstandsmitglied die Regel sein muss. Hingegen bedarf es gewichtiger Gegengründe und einer besonderen Rechtfertigung, von einer – voraussichtlich – aussichtsreichen Anspruchsverfolgung, die einem Anspruchsverzicht der Gesellschaft außerordentlich nahe kommt, abzusehen; sie muss die Ausnahme darstellen. Das Landgericht hat zu Recht in diesem Zusammenhang auf die Beschränkungen hingewiesen, denen der Verzicht auf einen Schadensersatzanspruch nach der gesetzlichen Regelung unterliegt (§ 93 Abs. 4 Satz 3 AktG).“9 Allein dieser zweite Aspekt ist Gegenstand des vorliegenden Beitrags. 2. Bilanz aus Sicht der Rechtsberatung Aus Sicht der Rechtsberatung fällt die Bilanz der „ARAG/Garmenbeck“-Rechtsprechung des BGH zwiespältig aus. Einerseits hat die Entscheidung eine starke Sensibilisierung von Aufsichtsratsmitgliedern für Haftungsfragen bewirkt. Anders als noch vor 15 Jahren wird ein rechtlich informiertes und verantwortungsbewusstes Aufsichtsratmitglied heute nicht mehr ohne weiteres von der Verfolgung von Schadensersatzansprüchen gegen Vorstandsmitglieder allein deswegen absehen, weil es mit diesen seit Jahren vertrauensvoll zusammengearbeitet hat. Die Sensibilisierung erfasst nicht allein Organmitglieder. „ARAG/Garmenbeck“ strahlt vielmehr auch auf die Verantwortung des Vorstandes sowie auf die Verantwortung leitender Mitarbeiter unterhalb der Organebene aus. Zudem hat die Entscheidung, die sich explizit auf die Aktiengesellschaft bezieht, auch den Umgang mit Schadensersatzansprüchen bei anderen Gesellschaftsformen beeinflusst. Die geschilderte Entwicklung einer Absenkung der Toleranzschwelle im Hinblick auf Organpflichtverstöße ist zu begrüßen und liegt im betriebs- wie volkswirtschaftlichen Interesse. Andererseits ist eine Tendenz erkennbar, aus Sorge, andernfalls den Vorgaben von „ARAG/Garmenbeck“ nicht zu entsprechen, Schadensersatzansprüche zu verfolgen, ohne sich des verbleibenden Ermessens bewusst zu sein. So begegnet man in der Praxis nicht selten der Einschätzung, man sei, sofern nicht ein schwierig zu bestimmender Ausnahmefall vorliege, generell zur Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen verpflichtet. Wer nicht in die Haftung geraten wolle, sei gut beraten, die Ansprüche in jedem Fall geltend zu machen. Diese Einschätzung erklärt auch, warum sich die Fälle häufen, in denen die Kosten für die Anspruchsverfolgung – und die der Aufklärung vorausgehenden Ermittlungen – in keinem Verhältnis zu der realistischerweise zu erzielenden Schadensersatzsumme mehr stehen. Wenn ein Unternehmen einen zwei- oder dreistelligen Millionenbetrag in Ermittlungstätigkeiten und wirtschaftsrechtliche Beratung investiert mit der Aussicht, bestenfalls einige hunderttausend Euro von den pflichtwidrig handelnden Vorstandsmitgliedern zu erhalten, bestehen – um es vorsichtig zu formulieren – erhebliche Zweifel, ob ein solches Vorgehen noch dem Unternehmensinteresse dient.

__________

9 BGHZ 135, 244, 256.

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Auch wenn es bislang an belastbaren statistischen Erhebungen fehlt,10 macht sich in der Praxis eine Tendenz bemerkbar, Ansprüche trotz geringer Realisierungschancen mit unverhältnismäßig hohem Aufwand zu verfolgen, um damit das Risiko einer Sorgfaltspflichtverletzung der zur Entscheidung über die Geltendmachung der Ansprüche berufenen Organe zu vermeiden. Eine „Überinterpretation“ von „ARAG/Garmenbeck“ könnte daher dem aus den USA bekannten Phänomen Vorschub leisten, immense Aufklärungs-, Ermittlungsund Verfolgungskosten in Kauf zu nehmen, um der bei einer Unterlassung der Aufklärung und Anspruchsverfolgung drohenden eigenen Haftungsgefahr zu entgehen, ohne dass diese Vorgehensweise einen die Kosten übersteigenden Erfolg der Vorgehensweise verspricht. 3. Faktische oder normative Regelverfolgung? Die angezeigte Entwicklung wird vom BGH durch die in der „ARAG/Garmenbeck“-Entscheidung verwendeten Formulierungen begünstigt. Besonders einprägsam ist die zusammenfassende Formel am Ende der Entscheidung: „Die vorstehenden Überlegungen führen zu der Schlussfolgerung, dass die Verfolgung der Schadensersatzansprüche gegenüber einem Vorstandsmitglied die Regel sein muss.“11 Da die „vorstehenden Überlegungen“ vor allem von den Gesellschaftsinteressen und -belangen handeln, insbesondere von der Pflicht, „Schäden von der Gesellschaft abzuwenden“ und „allein (!) dem Unternehmenswohl“ zu dienen,12 hat Mertens die Frage gestellt, welches Rangverhältnis besteht zwischen der (Regel-)Pflicht, Organmitglieder wegen einer Pflichtverletzung rechtlich zu belangen, und der Pflicht, einen Vermögensschaden von der Gesellschaft abzuhalten: „Der Bundesgerichtshof entzieht sich einer klaren Stellungnahme zu dieser Frage, indem er die Möglichkeit eines Konflikts zwischen diesen Pflichten ausblendet … als ob diese Ziele nicht konträr zueinander stehen könnten.“13

Angesichts dieser – wie noch auszuführen sein wird – berechtigten Kritik könnte man daran denken, in der vom BGH entwickelten Regel-AusnahmeFormel nur eine Aussage über die tatsächliche Häufung der Verfolgung von Schadensersatzansprüchen treffen („statistische Regelverfolgung“). Zu diesem Schluss veranlasst haben könnten ihn seine Ausführungen zur Frage, ob der Aufsichtsrat bei seiner Abwägung „anderen Gesichtspunkten als denen des Unternehmenswohls, wie etwa der Schonung eines verdienten Vorstandsmitglieds oder dem Ausmaß der mit der Betreibung für das Mitglied und seine Familie verbundenen sozialen Konsequenzen“14 Raum geben dürfe. Da der BGH dies nur für „Ausnahmefälle“ bejaht und unmittelbar anschließend den

__________ 10 Einen Überblick über prominente Haftungsfälle der letzten Jahre bieten Helmrich/ Eidam, ZIP 2011, 257, 258. 11 BGHZ 135, 244, 256. 12 BGHZ 135, 244, 255. 13 Mertens in FS K. Schmidt, 2009, S. 1183, 1186. 14 BGHZ 135, 244, 256.

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allgemeinen Satz von der Regelverfolgung formuliert („Die vorstehenden Überlegungen …“), ist es nicht unwahrscheinlich, dass das Gericht zu kurz gegriffen und fälschlich unterstellt hat, eine Nicht-Verfolgung liege grundsätzlich nicht im Interesse der Gesellschaft, sondern immer nur im Interesse des pflichtwidrig handelnden Vorstandsmitglieds – und da dessen Interessen nun einmal nur in „Ausnahmefällen“ zu berücksichtigen seien, komme auch eine Nicht-Verfolgung nur in Ausnahmefälle in Betracht. Eine solche Folgerung ist indessen in mehrfacher Hinsicht zu hinterfragen: Erstens erscheint es nicht gesichert, dass die persönlichen Interessen der handelnden Vorstandsmitglieder überhaupt eine Rolle spielen können; unzweifelhaft erweist sich dies allenfalls dann, wenn die Auswirkung der Maßnahme auf diese Vorstandsmitglieder wiederum eine Reflexwirkung auf das Gesellschaftsinteresse hat.15 Zweitens und vor allem trifft es nicht zu, dass die NichtVerfolgung von Schadensersatzansprüchen stets nur dem Interesse der zu verklagenden Vorstände entsprechen muss. Sollte der BGH – wenn auch unter Verkennung des Umstands, dass das Gesellschaftsinteresse auch ein Unterlassen der Verfolgung gebieten kann – lediglich eine Einschätzung über den Ausgang der Interessenabwägung in der Aufsichtsratspraxis hat abgeben wollen, könnte man die als Leitlinie herangezogene Formel von der Regelverfolgung ohne weiteres ad acta legen und mit Markus Roth konstatieren: „Das Regel-Ausnahme-Verhältnis greift zu kurz. Fixpunkt des auszuübenden Ermessens ist allein das Unternehmensinteresse. Ob dieses tatsächlich ‚in der Regel‘ eine Geltendmachung des Schadensersatzanspruchs fordert, wird die Praxis zeigen müssen. Im Normalfall dürften die negativen Folgen für das Image des Unternehmens die tatsächlich realisierbaren Vermögenswerte der Organmitglieder weit übersteigen.“16

Doch dürfte ein solches Verständnis des „Regel-Ausnahme-Verhältnisses“ hinter dem Aussagegehalt, den der BGH in diese Formel hineinlegte, zurückbleiben. Es dürfte ihm nicht um eine statistische Aussage gegangen sein, sondern um eine Einschränkung der Entscheidungsprärogative des Aufsichtsrats zu einer Regelverfolgung materiell aussichtsreicher Schadensersatzansprüche, also einer „normativen Regelverfolgung.“17 Dafür, dass der Rechtsprechung des BGH diese Erwägung zu Grunde liegt, spricht neben der apodiktischen Diktion des Gerichts („… die Regel sein muss“) dessen Hinweis, dass ein Absehen von der Anspruchsverfolgung „einem Anspruchsverzicht der Gesellschaft außerordentlich nahe kommt“,18 über welchen nach § 93 Abs. 4 Satz 3 AktG allein die Hauptversammlung und dies erst nach drei Jahren zu entscheiden hat.

__________ 15 Kindler, ZHR 162 (1998), 101, 114; Heermann, AG 1998, 201, 207; zur Notwendigkeit einer angemessenen Begrenzung der Ersatzpflicht als Billigkeitskorrektur vgl. Mertens/Cahn in KölnKomm. AktG, 3. Aufl. 2010, § 93 AktG Rz. 38. 16 Markus Roth, Unternehmerisches Ermessen und Haftung des Vorstandes, 2001, S. 121. 17 Vgl. auch Mertens (Fn. 13), S. 1183, 1187. 18 BGHZ 135, 244, 256.

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Im Folgenden sollen daher die denkbaren Argumente für eine normative Regelverfolgung untersucht und einer kritischen Würdigung unterzogen werden. Dies erscheint umso dringender angezeigt, als die Formel von der (Regel-)Verfolgungspflicht bereits vom Gesetzgeber aufgegriffen wird und sich etwa in der Gesetzesbegründung zum UMAG wiederfindet.19

II. Gründe für eine Regelverfolgung als Rechtspflicht Als Argumente, die für eine Verfolgung von Schadensersatzansprüchen ohne Rücksichtnahme auf das Unternehmensinteresse sprechen könnten, kommen namentlich die Wertung des – wie gesehen – vom BGH eher beiläufig erwähnten § 93 Abs. 4 Satz 3 AktG (dazu 1.), eine etwaige Erkenntnis, dass die Einschränkung der Einschätzungsprärogative auf diesen kompetentiellen Aspekt zurückzuführen ist, und die aktienrechtliche Legalitätspflicht (dazu 2.) in Betracht. Außerdem verweist die Literatur in diesem Zusammenhang immer wieder auf die vom BGH – ebenfalls in „ARAG/Garmenbeck“ – getroffene Feststellung, dem Aufsichtsrat stehe in Haftungsfragen kein oder nur ein sehr eingeschränktes Ermessen zu (dazu 3.). 1. Wertung des § 93 Abs. 4 Satz 3 AktG Nach § 93 Abs. 4 Satz 3 AktG kann die Gesellschaft erst drei Jahre nach der Entstehung des Anspruchs und nur dann auf Ersatzansprüche verzichten oder sich über sie vergleichen, wenn die Hauptversammlung zustimmt und nicht eine Minderheit, deren Anteile zusammen den zehnten Teil des Grundkapitals erreicht, zur Niederschrift Widerspruch erhebt. Die Vorschrift lässt nicht erkennen, dass der Verzicht an überwiegende Gründe des Unternehmenswohls gebunden wäre; ebenso wenig ist erkennbar, dass das Fehlen überwiegender Gründe des Unternehmenswohls, die für die Anspruchsgeltendmachung streiten, einem Widerspruch einer 10 %-Minderheit entgegenstünde. Zwar könnte man von einer „typisierenden“ Entscheidung zu Gunsten des Unternehmenswohls sprechen, weil der Gesetzgeber offenkundig davon ausgegangen ist, dass ein Verzicht oder Vergleich, der nicht die im Gesetzestext genannten Anforderungen erfüllt (Abwarten der Dreijahresfrist, Beteiligung der Hauptversammlung, kein Widerspruch durch Minderheit) nicht dem Unternehmenswohl entspricht. Auch dies erscheint indessen zweifelhaft; jedenfalls lehnt die herrschende Meinung eine teleologische Reduktion des § 93 Abs. 4 Satz 3 AktG – etwa für den Fall, dass ein schneller Anspruchsverzicht aus kartellrechtlichen Gründen, etwa um die Fakten für einen effektiven Kronzeugen-

__________ 19 BT-Drucks. 15/5092, S. 22: „Liegen Verdachtstatsachen, die auf Unredlichkeit des Vorstands hindeuten, zur Überzeugung des Gerichts vor, so ist es freilich schwer vorstellbar, dass Gründe des Gesellschaftswohls (mit Ausnahme sehr geringer Schadenssummen, vor allem aber der Mehrfachklagen) der Haftungsklage entgegenstehen können; in diesen Fällen ist in der Regel der Aufsichtsrat selbst ohnehin zur Klageerhebung verpflichtet.“

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anteil zu erlangen, für die Gesellschaft vorteilhafter wäre als ein Abwarten der drei Jahre – ab.20 Mit anderen Worten: Nach § 93 Abs. 4 Satz 3 AktG ist es ausgeschlossen, auch wenn dies im Interesse der Gesellschaft läge, auf Schadensersatzansprüche vor Ablauf von drei Jahren und ohne Beschluss der Hauptversammlung zu verzichten. Wollte man nun die Nichtgeltendmachung einem Verzicht gleichsetzen, so käme man in der Tat zu dem Ergebnis, dass selbst ein überwiegendes Gesellschaftsinteresse ein Absehen von der Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen nicht rechtfertigen könne. Die Frage ist indessen, ob die Nichtgeltendmachung und ein Verzicht so ohne weiteres gleichzusetzen sind. Das sagt der BGH nicht. Immerhin stellt er jedoch fest, dass ein Absehen von der Anspruchsverfolgung einem Verzicht außerordentlich nahe komme.21 In dem Urteil des Landgerichts Düsseldorf, auf das der BGH Bezug nimmt, heißt es, die Entscheidung über die Geltendmachung von Schadenersatzansprüchen „unterliegt … nicht der Beliebigkeit“. Das „zeigt schon die gesetzliche Regelung, soweit sie sich mit dem Problemkreis befasst. Der Gesellschaft selbst ist es verboten, auf Schadensersatzansprüche gegen Vorstandsmitglieder in den ersten drei Jahren seit ihrer Entstehung zu verzichten (§ 93 Abs. 4 AktG), danach ist ein Verzicht auch nicht beliebig möglich (§ 93 Abs. 4 S. 3 AktG).“22

Auch das Schrifttum neigt dazu, aus der angenommenen strukturellen Verwandtschaft von Verzicht und Nichtgeltendmachung ein Argument für die grundsätzliche Verpflichtung des Aufsichtsrats, aussichtsreiche Schadensersatzansprüche zu verfolgen, abzuleiten.23 So wird insbesondere darauf verwiesen, dass nach § 93 Abs. 4 Satz 3 AktG eine Minderheit von 10 % einem Verzicht selbst dann widersprechen kann, wenn die Hauptversammlung einem solchem Verzicht zugestimmt habe. Dass die Minderheit der Mehrheit in dieser Weise ihren Willen aufzwingen könne, sei nur dort berechtigt, wo ihr Anliegen schon vom Gesetz mit einer besonderen Rechtfertigung ausgestattet sei.24 2. Wahrung der Legalitätspflicht Ein weiteres, vom BGH in „ARAG/Garmenbeck“ allerdings nicht explizit angeführtes Argument für eine Regelverfolgung von Pflichtverletzungen des Vorstandes kann sich aus dem Legalitätsprinzip ergeben. Nach ganz h. M. stellt ein rechtswidriges Verhalten im Außenverhältnis zugleich eine Pflichtverlet-

__________ 20 21 22 23

Dazu eingehend Harbarth in Liber amicorum Martin Winter, 2011, S. 215 ff. BGHZ 135, 244, 256. LG Düsseldorf, ZIP 1994, 628, 630. Vgl. Habersack in MünchKomm. AktG, 3. Aufl. 2008, § 111 AktG Rz. 35; Spindler in Spindler/Stilz, 2. Aufl. 2010, § 116 AktG Rz. 48; Koch, AG 2009, 93, 101; Henze, NJW 1998, 3309, 3311; Jäger/Trölitzsch, ZIP 1995, 1157, 1158, 1161; Timm, EWiR 1994, 629, 630; Kindl, WiB 1994, 727, 728. A. A. Paefgen, AG 2008, 761, 765. 24 Koch, AG 2009, 93, 101; Jäger/Trölitzsch, ZIP 1995, 1157, 1158.

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zung im Innenverhältnis dar.25 Dabei soll es nach ebenfalls ganz h. M. nicht darauf ankommen, ob das Vorstandsmitglied subjektiv im Interesse der Gesellschaft zu handeln glaubte oder ob der Gesetzesverstoß sogar objektiv dem Interesse der Gesellschaft entsprach und sich im Ergebnis als vorteilhaft erwies. Eine „nützliche Gesetzesverletzung“ – einen efficient breach of public law – erkenne das deutsche Recht als Rechtfertigung nicht an.26 Der Vorstand habe insoweit keinen Handlungs- und Entscheidungsspielraum: Er dürfe niemals für eine gesetzwidrige Maßnahme optieren, selbst dann nicht, wenn diese die einzige Möglichkeit darstelle, die Gesellschaft vor der Insolvenz zu bewahren. Der Grundsatz von dem absoluten Vorrang gesetzeskonformen Verhaltens wird namentlich aus § 396 Abs. 1 AktG abgeleitet.27 Danach kann eine Aktiengesellschaft oder eine Kommanditgesellschaft auf Aktien auf Antrag der zuständigen obersten Landesbehörde des Landes, in dem sie ihren Sitz hat, durch Urteil aufgelöst werden, sofern die betreffende Gesellschaft durch gesetzwidriges Verhalten ihrer Verwaltungsträger das Gemeinwohl gefährdet und die zuständigen Organe nicht für eine Abberufung der Verwaltungsträger sorgen. Auch § 130 Abs. 1 Satz 1 OWiG, der das Gewährenlassen von straf- oder bußgeldbewährten Handlungen im Betrieb sanktioniert, lässt sich der Rechtsgedanke entnehmen, dass etwaige positive Effekte des Rechtsbruchs keine Berücksichtigung finden dürfen.28 Damit korrespondiert auch die Auslegung des Untreuetatbestandes durch den BGH, der den Eintritt eines endgültigen Vermögensnachteils i. S. des § 266 Abs. 1 StGB annimmt, selbst wenn das Anlegen „schwarzer Kassen“ durch leitende Angestellte in der Absicht geschah, das Geld zum Vorteil des Unternehmens zu verwenden.29 Nun folgt indes aus dem Umstand, dass Gesetzesverstöße, die im Gesellschaftsinteresse liegen, in jedem Fall eine Pflichtverletzung begründen, nicht notwendigerweise, dass der Aufsichtsrat solche „nützlichen“ Pflichtverletzungen auch stets sanktionieren muss. Denkbar wäre es, sich auf den Standpunkt zu stellen, dass auf dieser Ebene das Interesse des Unternehmens an dem Gesetzesverstoß berücksichtigt werden dürfe. Freilich würde eine solche Differenzierung letztlich auf eine – für die h. M. inakzeptable – Anerkennung „nütz-

__________ 25 Fleischer in Spindler/Stilz, 2. Aufl. 2010, § 93 AktG Rz. 24; Lutter, ZIP 2007, 841, 844; Mertens/Cahn (Fn. 15), § 93 AktG Rz. 71; Spindler in MünchKomm. AktG, 3. Aufl. 2008, § 93 AktG Rz. 64; Dreher in FS Konzen, 2006, S. 85, 92; Ihrig, WM 2004, 2098, 2103; Paefgen, AG 2004, 245, 251 f. 26 Fleischer (Fn. 25), § 93 AktG Rz. 36; Hopt in Großkomm. AktG, 4. Aufl. 1999, § 93 AktG Rz. 99; Spindler (Fn. 25), § 93 AktG Rz. 76; Mertens/Cahn (Fn. 15), § 93 AktG Rz. 71; Bayer in FS K. Schmidt, 2009, S. 85, 91 f.; Fleischer, ZIP 2005, 141 ff.; Haas/Ziemons in Michalski, 2. Aufl. 2010, § 43 GmbHG Rz. 50 f.; Thole, ZHR 173 (2009), 504, 512 ff.; Schäfer, ZIP 2005, 1253, 1256. 27 Bayer (Fn. 26), S. 85, 90; Fleischer (Fn. 25), § 93 AktG Rz. 36; Fleischer, ZIP 2005, 141, 148; Rehbinder, ZHR 148 (1984), 555, 569. 28 Zur Ableitung der Compliance-Pflicht aus § 130 Abs. 1 Satz 1 OWiG vgl. Bayer (Fn. 26), S. 85, 88; Reichert/Ott, ZIP 2009, 2173, 2178. 29 BGH, NJW 2009, 89, 91; dazu Fleischer, NJW 2009, 2337, 2338; Fleischer (Fn. 25), § 93 AktG Rz. 36.

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licher“ Pflichtverletzungen hinauslaufen, weil nur eine effektive Sanktionierung es vermag, dem Grundsatz des absoluten Gesetzesvorrangs auch in der Praxis Geltung zu verschaffen.30 Noch nicht abschließend geklärt ist, welche Rechtsbereiche von der Legalitätspflicht erfasst sind. Nach verbreiteter Ansicht scheidet eine Differenzierung nach Art der Rechtsnorm aus, da es Normen erster und zweiter Klasse nicht gebe.31 Schon wegen der oft inkonsistenten Einordnung einer Regelung als Straf- oder Ordnungswidrigkeitsvorschrift verbiete es sich, die Legalitätspflicht beispielsweise nur auf Strafnormen zu erstrecken.32 Zugestanden wird von der h. M. immerhin, dass die Vorstandsmitglieder im Innenverhältnis keine Rechtspflicht trifft, sämtlichen Vertragspflichten gegenüber Dritten nachzukommen, da ein Vertrag keine Rechtsquelle im technischen Sinn darstelle.33 Folglich kann auch der Aufsichtsrat aus dem Legalitätsprinzip nicht dazu verpflichtet sein, Schadensersatz geltend zu machen, wenn etwa bei einem Liquiditätsengpass der Vorstand sich dafür entscheidet, einen Vertrag nicht einzuhalten und statt Erfüllung Schadensersatz zu leisten. 3. Reduziertes Ermessen In „ARAG/Garmenbeck“ hat der BGH nicht nur festgestellt, ein Aufsichtsrat habe „grundsätzlich“ oder „in der Regel“ durchsetzbare Schadensersatzansprüche zu verfolgen, sondern auch, dass ihm in Fragen der Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen „kein autonomer unternehmerischer Ermessensspielraum“ zustehe. Beide Aspekte scheinen in dem Urteil miteinander verwoben, doch bleibt unklar, ob das Ermessen reduziert ist, weil eine (Regel-)Verfolgungspflicht (etwa aus § 94 Abs. 4 Satz 3 AktG) besteht oder ob nach Vorstellung des Gerichts das reduzierte Ermessen selbst eine (Regel-)Verfolgungspflicht bedingt. Für die erste Alternative spricht, dass der BGH unmittelbar im Anschluss an seine Aussage, ein Absehen von einer Anspruchsverfolgung komme einem Anspruchsverzicht außerordentlich nahe, bemerkt: „Nur in diesen [durch die Wertung des § 93 Abs. 4 Satz 3 AktG vorgegebenen – J. R.] engen Grenzen kann dem Aufsichtsrat … ein Entscheidungsermessen für die Frage zuzubilligen sein, ob er trotz Erfolgsaussicht einer Haftungsklage aus übergeordneten Gründen des Unternehmenswohles ausnahmsweise von der

__________ 30 Vgl. Redeke, ZIP 2008, 1549, 1557. Zur Notwendigkeit konsequenter Sanktionierung von Gesetzesverstößen auch Reichert/Ott, ZIP 2009, 2173, 2178; Schneider, ZIP 2003, 645, 649 f. 31 Spindler (Fn. 25), § 93 AktG Rz. 64; Fleischer (Fn. 25), § 93 AktG Rz. 23; Krieger/ Sailer-Coceani in K. Schmidt/Lutter, 2. Aufl. 2010, § 93 AktG Rz. 6; Bayer (Fn. 26), S. 85, 90; Ihrig, WM 2004, 2098, 2105; Fleischer, ZIP 2005, 141, 149; teilweise abweichend M. Roth (Fn. 16), S. 131 f.; Paefgen, Unternehmerische Entscheidungen, 2002, S. 25 f.; W. Müller in Liber amicorum Happ, 2006, S. 179, 181. 32 Spindler (Fn. 25), § 93 AktG Rz. 64. 33 Hopt (Fn. 26), § 93 AktG Rz. 100; Fleischer (Fn. 26), § 93 AktG Rz. 33; Fleischer, ZIP 2005, 141, 144, 148; M. Roth (Fn. 16), S. 132 f.; Uwe H. Schneider in FS Hüffer, 2010, S. 905, 910 ff.; Windbichler, ZGR 1989, 434, 437; teilweise abweichend Spindler (Fn. 25), § 93 AktG Rz. 73; Sven H. Schneider, DB 2005, 707, 711.

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Durchsetzung des Schadensersatzanspruchs absehen möchte.“34 Andererseits stellt der BGH die Ausführungen zur Negation des unternehmerischen Ermessensspielraums an den Anfang seiner materiellrechtlichen Überlegungen und scheint diese „vorstehenden Überlegungen“ auf die „Schlussfolgerung“ zu beziehen, „dass die Verfolgung der Schadensersatzansprüche gegenüber einem Vorstandsmitglied die Regel sein muss“. Auch die Literatur nimmt häufig einen Zusammenhang zwischen (Regel-)Verfolgungspflicht und Ermessensreduktion bzw. Ermessensausschluss an, ohne auf den Nexus näher einzugehen. Umso kontroverser wird hingegen die Frage diskutiert, ob die verschiedenen Gesetzesänderungen der letzten Jahre den Ermessensspielraum bei der Entscheidung über die Inanspruchnahme von Vorstandsmitgliedern eher vergrößert oder eher verkleinert haben.35 Nach einer Ansicht soll die durch das UMAG gesetzlich verankerte Business Judgment Rule nach §§ 116 Satz 1 i. V. m. 93 Abs. 1 Satz 2 AktG dem Aufsichtsrat in vollem Umfang zugute kommen, wenn er über die Geltendmachung von Ansprüchen gegen Vorstände zu entscheiden habe. So verweist insbesondere Paefgen – wie ich meine, zu Recht – auf die eminent unternehmerische Qualität von Beurteilungskriterien wie die Beeinträchtigung des Betriebsklimas oder das Ansehen der Gesellschaft in der Öffentlichkeit, die bei der Entscheidung über das Für und Wider einer Anspruchsverfolgung eine Rolle spielen. Er betont, dass es sich dabei „in geradezu exemplarischer Weise“ um Erwägungen handelt, bei denen das Beurteilungsvermögen des Aufsichtsrats als ein mit dem Sachverhalt intim vertrautes, unternehmerisch denkendes und handelndes Gesellschaftsorgan gefragt ist.36 Die Gegenansicht stellt ebenfalls auf eine durch das UMAG implementierte Neuerung ab, aber eben nicht auf die Business Judgment Rule nach § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG, sondern auf die neu gefasste Aktionärsklage nach § 148 AktG.37 Nach Abs. 1 Satz 1 dieser Vorschrift können Aktionäre mit einem bestimmten Anteil oder anteiligen Betrag am Grundkapital bei Gericht die Zulassung beantragen, im eigenen Namen die in § 147 Abs. 1 Satz 1 AktG bezeichneten Ersatzansprüche der Gesellschaft – mithin auch Ansprüche gegen den Vorstand – geltend zu machen. Das Gericht lässt die Klage zu, wenn (u. a.) der Geltendmachung des Ersatzanspruchs keine überwiegenden Gründe des Gesellschaftswohls entgegenstehen (§ 148 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 AktG). Da das Gericht in diesem Rahmen als uneingeschränkt berechtigt gilt, die verschiedenen Aspekte des Unternehmenswohls selbständig gegeneinander abzuwägen,38 ihm also zugetraut wird, trotz seiner mangelnden unternehmerischen Erfahrung das Unternehmenswohl zu definieren und notfalls die abwei-

__________ 34 BGHZ 135, 244, 256. 35 Zum älteren Meinungsstand vgl. Habersack (Fn. 23), § 111 AktG Rz. 38; Kindler, ZHR 162 (1998), 101, 114 f.; Thümmel, DB 1997, 1117, 1119. 36 Paefgen, AG 2008, 761, 763. 37 Redeke, ZIP 2008, 1549, 1551 ff.; Koch, AG 2009, 93, 98 ff. 38 Vgl. Mock in Spindler/Stilz, 2. Aufl. 2010, § 148 AktG Rz. 86; Hüffer, 9. Aufl. 2010, § 148 AktG Rz. 9; Spindler, NZG 2005, 865, 867.

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chende Beurteilung des Aufsichtsrats durch Zulassung einer Klage zu korrigieren, sieht Koch keinen Anlass, dem Gericht diese Kompetenz bei der Beurteilung der Frage, ob ein Aufsichtsrat zur Geltendmachung von Ersatzansprüchen verpflichtet sei oder nicht, abzusprechen. Ob eine derartige Verdichtung der gerichtlichen Kontrolle Sinn mache, stehe auf einem anderen Blatt, doch sei die in § 148 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 AktG enthaltene Wertung des Gesetzgebers zu akzeptieren.39 Diese Wertung verbiete es nicht nur, die Entscheidung über die Inanspruchnahme von Vorstandsmitgliedern der Business Judgment Rule zu unterstellen, sondern darüber hinaus auch die jenseits der Business Judgment Rule bestehenden Ermessensspielräume – soweit von der h. M. anerkannt – dem Aufsichtsrat in Haftungsfragen zu belassen.40

III. Stellungnahme Im Folgenden soll die Überzeugungskraft der Argumente auf den Prüfstand gestellt werden, die für die Annahme streiten, der Aufsichtsrat habe „in der Regel“ Schadensersatzansprüche gegen den Vorstand geltend zu machen. 1. Nichtverfolgung und Verzicht Die gesetzliche Regelung des Verzichts (§ 93 Abs. 4 Satz 3 AktG) heranzuziehen, um einen Maßstab zur rechtlichen Beurteilung der Nichtverfolgung von Schadensersatzansprüchen zu gewinnen, ist nahe liegend und nachvollziehbar. Doch aus dem Umstand, dass ein Absehen von der Anspruchsverfolgung einem Verzicht nahe komme, lässt sich nicht das Gebot ableiten, Schadensersatzansprüche stets oder auch nur in der Regel geltend zu machen – schon deshalb nicht, weil die Restriktionen für die Nichtgeltendmachung nicht weiter reichen können als die Restriktionen für den Verzicht: § 93 Abs. 4 Satz 3 AktG statuiert kein generelles oder „regelmäßiges“ Verzichtsverbot, sondern eine temporäre Beschränkung und die Pflicht zur Beteiligung der Hauptversammlung, also jedenfalls in der zweiten Variante lediglich eine Modifikation der Kompetenzzuweisung ohne inhaltliche Vorgabe. Es erscheint auch methodisch nicht überzeugend, allein aus der „Nähe“ von zwei Verhaltensweisen – Verzicht und Nichtgeltendmachung – auf eine Verpflichtung zur Gleichbehandlung zu schließen. Eine Analogie hat nicht nur die Vergleichbarkeit der Umstände, sondern auch das Vorliegen einer planwidrigen Regelungslücke zur Voraussetzung. Eine solche ist vorliegend kaum zu begründen, da mit den §§ 147, 148 AktG Vorschriften existieren, die den Fall der Nichtgeltendmachung von Schadensersatzansprüchen ausdrücklich regeln (dazu sogleich). Sinn und Zweck der Sperrfrist in § 93 Abs. 4 Satz 3 AktG, die 1937 gesetzlich normiert wurde und damals noch fünf Jahre betrug, ist der Schutz vor Über-

__________ 39 Koch, AG 2009, 93, 96; vgl. auch Redeke, ZIP 2008, 1551 f. 40 Koch, AG 2009, 93, 97 ff.

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eilung. Zwar enthielt sich der Gesetzgeber von 1937 einer substantiellen Begründung,41 doch der Gesetzgeber von 1965 reichte sie gleichsam nach, als er die Frist von fünf auf drei Jahre verkürzte: „Die Vorschrift soll verhindern, dass über einen Verzicht oder Vergleich bereits zu einem Zeitpunkt entschieden wird, in dem sich noch kein abschließendes Bild über die Auswirkungen der schädigenden Handlungen gewinnen lässt.“42 Dieser Ansatz, der auch in der Literatur dominiert,43 knüpfte an eine Begründung des Reichsgerichts an.44 Die Fristenregelung dient demnach nicht so sehr dem Schutz vor Missbrauch als dem Schutz vor Nachlässigkeit. Es soll verhindert werden, dass bereits zu einem sehr frühen Zeitpunkt endgültig Ansprüche aufgegeben werden, obwohl noch gar nicht feststeht, in welchem Umfang Schäden entstanden sind. Dieses Problem stellt sich indes nicht, wenn der Vorstand lediglich (vorläufig) nichts unternimmt. Ihm bleibt es dann unbenommen, seine Entscheidung zu korrigieren und zu einem späteren Zeitpunkt, wenn neue Tatsachen bekannt geworden sind, doch noch Klage zu erheben. Als reines Aufsichtsratsinternum ist die Nichtgeltendmachung daher „grundsätzlich unproblematisch“ (etwas anderes gilt nur bei einem pactum de non petendo ohne Widerrufsvorbehalt).45 Es kommt hinzu, dass eine beachtliche Meinung im Schrifttum46 der Fristenregelung des § 93 Abs. 4 Satz 3 AktG de lege ferenda zurückhaltend gegenübersteht; die berechtigten Vorbehalte gebieten auch eine Zurückhaltung bei der Übernahme von „Wertungen“ dieser Vorschrift. In der Anordnung der Beteiligung der Hauptversammlung und der Einflussnahmemöglichkeit der Minderheit kommt – dies ist einzuräumen – die gesetzgeberische Wertung zum Ausdruck, der Durchsetzung von Ersatzansprüchen im Unternehmensinteresse einen hohen Rang einzuräumen.47 Der Gesetzgeber ist sich der Gefahr für das Unternehmenswohl bewusst, die von einer Rücksichtnahme auf die persönlichen Belange von Vorstandsmitgliedern ausgeht, mit denen der Aufsichtsrat möglicherweise schon seit vielen Jahren eng zusammenarbeitet. Bereits in der Begründung zum ADHGB heißt es (damals noch auf die Gründerhaftung bezogen), ein Verzicht oder Vergleich sei erst dann zuzulassen, „nachdem die Beherrschung der Generalversammlung durch die Gründer präsumtiv aufgehört hat, damit nicht der Gesellschaft durch die in höchstem Grade beteiligten

__________ 41 Begr. zum AktG 1937, Reichs- und Staatsanzeiger Nr. 28 v. 4.2.1937, S. 4 (r.Sp.). 42 Begr. RegE (zu § 93 AktG) in Kropff, Aktiengesetz, 1965, S. 123. 43 Spindler (Fn. 25), § 93 AktG Rz. 221; Hopt (Fn. 26), § 93 AktG Rz. 366; Mertens/ Cahn (Fn. 15), § 93 AktG Rz. 164; Hüffer (Fn. 38), § 93 AktG Rz. 28; Zimmermann in FS Duden, S. 773, 774. 44 RGZ 133, 33, 38. 45 Dazu Hasselbach/Seibel, AG 2008, 770, 773. 46 Eingehend Harbarth (Fn. 20), S. 215, 232 ff.; vgl. auch Thümmel, Persönliche Haftung, 4. Aufl. 2008, Rz. 344; Cahn, Vergleichsverbote im Gesellschaftsrecht, 1996, S. 143; Mertens/Cahn (Fn. 15), § 93 AktG Rz. 164; Hopt (Fn. 26), § 93 AktG Rz. 353; Fleischer, WM 2005, 909, 919. 47 Vgl. Koch, AG 2009, 93, 101.

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Regelverfolgung von Schadensersatzansprüchen nach „ARAG/Garmenbeck“ Gründer oder die von diesen beherrschten Stimmberechtigten und Gesellschaftsorgane wohlbegründete Ansprüche entzogen werden.“48

Um gerade diesem Fehlverhalten entgegen zu wirken, hat der Gesetzgeber indessen die §§ 147, 148 AktG eingefügt, die es einer prinzipiell am Unternehmenswohl interessierten Instanz – der Hauptversammlung bzw. den Aktionären selbst – ermöglicht, in das Geschehen einzugreifen und die Verfolgung von Ansprüchen durchzusetzen. Dieser Weg würde durch einen vorzeitigen Verzicht verstellt werden; ein bloßes Untätigbleiben steht ihm indessen nicht entgegen. Mit anderen Worten: Der Schutz vor nachteiligen Rücksichtnahmen des Aufsichtsrats gegenüber dem Vorstand, der bei einem Verzicht durch § 93 Abs. 4 Satz 3 AktG gewährleistet wird, wird bei einer schlichten Nichtgeltendmachung durch die §§ 147, 148 AktG garantiert. Die Bedeutung des § 93 Abs. 4 Satz 3 AktG liegt funktional in der Wahrung der Rechte aus §§ 147, 148 AktG. Aus § 93 Abs. 4 Satz 3 AktG kann daher nicht geschlossen werden, dass der Aufsichtsrat nicht berechtigt ist, die Verfolgung von Schadensersatzansprüchen gegen Vorstandsmitglieder von einer Abwägung der unter Berücksichtigung des Unternehmensinteresses für und gegen die Anspruchsverfolgung sprechenden Argumente abhängig zu machen.49 Auch nach der jüngst erfolgten Revision der §§ 147, 148 AktG durch das UMAG gilt nichts anderes. Denn nunmehr knüpft der Gesetzgeber die Zulassung einer Klage von Aktionären an die Voraussetzung, „dass der Geltendmachung des Ersatzanspruchs keine überwiegende Gründe des Gesellschaftswohl entgegenstehen“ (§ 148 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 AktG), und bringt damit zum Ausdruck, dass selbst bei „Unredlichkeit oder grobe[r] Verletzung des Gesetzes oder der Satzung“ (Voraussetzung Nr. 3) keine generelle, von der Rücksichtnahme auf das Unternehmenswohl entkoppelte Berechtigung zur Klage besteht – und damit reziprok auch keine generelle Verpflichtung des Aufsichtsrats, Ansprüche geltend zu machen, wenn das Unternehmensinteresse ein anderes gebietet. Im Übrigen führt die in der Folge von „ARAG/Garmenbeck“ gestiegene und als unbefriedigend empfundene Neigung, Ansprüche mit einem Aufwand zu verfolgen, der in keiner Relation mehr zum Ertrag steht, vor Augen, dass die gegenwärtige gesetzliche Konzeption, auf die es sich wieder zu besinnen gilt, sehr wohl Sinn macht. Denn einerseits trägt diese der Einsicht Rechnung, dass sowohl die Geltendmachung als auch die Nichtgeltendmachung von Ersatzansprüchen im Einzelfall dem Unternehmensinteresse zuwider laufen können. Das wird zum einen durch den Verzicht auf die Implementierung einer Verfolgungspflicht gewährleistet. Zum anderen wird durch die etablierten Interventionsrechte der Hauptversammlung und der Aktionäre das Risiko gemindert,

__________ 48 Allgemeine Begründung zum Entwurf eines Gesetzes, betreffend die KGaA und AG von 1884, abgedruckt in Schubert/Hommelhoff, Hundert Jahre modernes Aktienrecht, 1985, S. 404, 452 f. 49 Im Ergebnis auch Paefgen, AG 2008, 761, 765.

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dass der Vorstand sich aufgrund traditionell guter Kontakte zum Aufsichtsrat seiner Verantwortung entzieht. Als Zwischenergebnis ist festzuhalten, dass § 93 Abs. 4 Satz 3 AktG als funktionales Äquivalent zu §§ 147, 148 AktG nicht entnommen werden kann, dass eine Unterlassung der Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen unzulässig ist, sofern sie im Unternehmenswohl liegt. Fehlt es an einem Verzicht durch die Hauptversammlung, erfolgt eine Überwachung und Korrektur des Aufsichtsratshandelns allein mit Hilfe der in §§ 147, 148 AktG zur Verfügung gestellten Instrumente. Solange Hauptversammlung und Aktionäre von ihren Interventionsrechten keinen Gebrauch machen, gilt der allgemeine Grundsatz, dass der Aufsichtsrat sich bei seinen Entscheidungen – vorbehaltlich sogleich zu erörternder Einschränkungen – ausschließlich am Unternehmenswohl zu orientieren hat.50 2. Legalitätspflicht und Sorgfaltspflicht Was die Ableitung der Regelverfolgungspflicht aus der Legalitätspflicht anbelangt, so muss man – wie bereits angedeutet – unterscheiden zwischen der Reichweite der Legalitätspflicht als solcher und der Bedeutung der Legalitätspflicht für das Verhalten des Aufsichtsrats gegenüber dem Vorstand. Anders als die Literatur teilweise angenommen, ist die Rechtslage keineswegs eindeutig. Unklar ist zunächst der normative Gehalt und Anknüpfungspunkt der Legalitätspflicht. Gewöhnlich wird auf einen „für alle Gesellschaften geltenden Rechtssatz“ rekurriert, „dass die Einhaltung der Gesetzesbestimmungen dem Gesellschaftsinteresse vorgeordnet ist.“51 In dem Zusammenhang verweist man auf zwei Vorschriften, denen dieser allgemeine Rechtssatz zu Grunde liegen soll: auf § 396 Abs. 1 AktG und § 130 Abs. 1 OWiG. Das ist insoweit problematisch, als die beiden Vorschriften den Umfang der einbezogenen Normen unterschiedlich definieren. Nach § 396 Abs. 1 AktG kommt eine Gesellschaftsauflösung nur in Betracht bei „Gemeinwohl gefährdendem“ gesetzeswidrigem Verhalten. Strafbewehrt oder vergleichbar sanktioniert muss das gesetzeswidrige Verhalten zwar nicht sein,52 dafür aber stellt das Merkmal „Gemeinwohlgefährdung“ eine relativ hohe Hürde dar. Das „Gemeinwohl“ wird erst als gefährdet anzusehen sein bei erheblichen Nachteilen für die rechtlich geschützten Interessen der Allgemeinheit oder jedenfalls größerer Bevölkerungskreise und nicht schon bei Nachteilen für die Interessen der Aktionäre oder Gesellschaftsgläubiger.53 Dagegen

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50 Im Ergebnis ähnlich Hüffer (Fn. 38), § 148 AktG Rz. 9a; Mertens (Fn. 13), 1183, 1187; Redeker, ZIP 2008, 1549, 1550; Ulmer, ZHR 163 (1999), 290, 297. 51 Fleischer, ZIP 2005, 141, 148. 52 Hüffer (Fn. 38), § 96 AktG Rz. 3; Zöllner in KölnKomm. AktG, 3. Aufl. 2010, § 396 AktG Rz. 15. 53 Schürnbrand in MünchKomm. AktG, 3. Aufl. 2011, § 396 AktG Rz. 8; Oetker in K. Schmidt/Lutter, 2. Aufl. 2010, § 396 AktG Rz. 7; Hüffer (Fn. 38), § 396 AktG Rz. 2; K. Schmidt, NJW 1983, 1520, 1524.

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Regelverfolgung von Schadensersatzansprüchen nach „ARAG/Garmenbeck“

stellt § 130 Abs. 1 OWiG ab auf Pflichten, „die den Inhaber treffen und deren Verletzung mit Strafe oder Geldbuße bedroht ist.“ Wer eine Zuwiderhandlung gegen diese Pflichten fahrlässig oder vorsätzlich nicht verhindert, handelt ordnungswidrig. In beiden Fälle kann also nicht die Rede sein von einer Sanktionierung jedweder Gesetzesverstöße. Der Gesetzgeber kennt offenkundig durchaus Normen unterschiedlicher Rangordnung und Qualität und knüpft an sie auch unterschiedliche Rechtsfolgen. § 396 Abs. 1 AktG behandelt freilich mit der gerichtlichen Auflösung einer Gesellschaft einen Sonderfall, der die Voraussetzungen einer allgemeinen Legalitätspflicht nicht zu determinieren vermag. Anders verhält es sich mit § 130 Abs. 1 OWiG: Dieser Vorschrift lässt sich unmittelbar der Grundsatz entnehmen, dass der Vorstand für rechtmäßiges Verhalten im Unternehmen zu sorgen hat. Daher besteht kein Anlass und wohl auch – in Ermangelung anderer gesetzlicher Anhaltspunkte oder eines bereits zu Gewohnheitsrecht erstarkten Rechtsprinzips – keine Berechtigung, die Legalitätspflicht auf Vorschriften zu beziehen, die nicht von § 130 Abs. 1 OWiG erfasst werden.54 Demnach hat der Vorstand die Pflicht, alle Vorschriften einzuhalten, deren Verletzung mit Strafe oder Geldbuße bedroht ist. Es sind also neben Strafnormen solche des Ordnungswidrigkeitenrechts einbezogen, auf keinen Fall aber vertragliche Bestimmungen. Legt man dies zu Grunde, so stellt sich die weitere Frage, ob die Legalitätspflicht den Aufsichtsrat auch dazu zwingt, einen Schadensersatzanspruch gegen den Vorstand geltend zu machen, der gegen eine Vorschrift im oben definierten Sinn verstoßen hat. Gewiss geht es nicht an, die Legalitätspflicht dadurch leer laufen zu lassen, dass man die Ahndung eines Verstoßes in das Belieben des Aufsichtsrats stellt. Das folgt überdies bereits aus der Wertung des § 130 Abs. 1 OWiG. Daraus ergibt sich aber auch sinngemäß, dass die Pflicht darin besteht, Maßnahmen zu treffen, die erforderlich sind, um einer Wiederholung der rechtswidrigen Handlung entgegen zu wirken. Das Gesetz spricht aus gutem Grund, nämlich um der Vielfalt der denkbaren Konstellationen Rechnung zu tragen, unspezifisch von „erforderlichen Maßnahmen“ und schreibt keine bestimmte Maßnahme vor. Eine dieser Maßnahmen kann die Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen sein, zwingend ist das nicht. Dem Aufsichtsrat stehen noch andere Möglichkeiten zu Gebote, etwa die Suspendierung des betreffenden Vorstandsmitglieds, dessen Abberufung oder die Veränderung/Beschränkung der Zuständigkeit.55 Auch die Initiierung von Straf- und Ordnungswidrigkeitsverfahren – durch (Straf-)Anzeigen und ggf. durch Strafanträge (§ 158 StPO, §§ 77 ff. StGB), indessen unter Wahrung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes – ist nicht auszuschließen.56 Staatliche Sanktionen werden von den Betroffenen in der Regel als einschneidender empfunden als privatrechtliche, so dass im Falle derartiger

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54 Vgl. zu den Voraussetzungen Gürtler in Göhler, 15. Aufl. 2009, § 130 OWiG Rz. 21. 55 Zu diesen Sanktionsmöglichkeiten etwa Lutter/Krieger, Rechte und Pflichten des Aufsichtsrats, 5. Aufl. 2008, § 3 Rz. 100, 121, 361 ff. 56 Dazu Reichert/Ott, ZIP 2009, 2173, 2179.

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Sanktionen einer Schadensersatzklage häufig keine zusätzliche Präventionswirkung zukommt, auf die bei den auf dem Legalitätsgebot beruhenden Abwägungen abzustellen ist. Wenn eine Schadensersatzklage nicht für eine Verhaltenssteuerung essentiell ist, weil andere Maßnahmen diese Funktion bereits erfüllen, bleibt es auch in solchen Fällen bei dem allgemeinen Gebot der allein am Unternehmensinteresse orientierten Abwägung der „Pros“ und „Cons“. Folglich kommt die Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen nur in Betracht, wenn keine überwiegenden Gründe des Gesellschaftswohls entgegenstehen. Angesichts des bisweilen ganz erheblichen finanziellen Aufwandes für Ermittlungen und Prozessführung und den – selbst bei materieller Erfolgsaussicht – bisweilen geringen Durchsetzungschancen bedeutet dies, dass diese Abwägung keineswegs regelmäßig im Sinne einer Anspruchsverfolgung ausgehen muss. 3. Unternehmerisches Ermessen und Regelverfolgung Der BGH betont, dass nach seiner Auffassung dem Aufsichtsrat in der Frage der Geltendmachung des Ersatzanspruchs kein autonomer unternehmerischer Ermessensspielraum zukommt. In Anlehnung an Raiser57 unterscheidet das Gericht zwischen einer Mitwirkung des Aufsichtsrats an der „unternehmerische[n] Tätigkeit des Vorstandes im Sinne einer präventiven Kontrolle“ (z. B. „Bestellung und Abberufung von Vorstandsmitgliedern oder im Rahmen des § 111 Abs. 4 Satz 2 AktG“) und der „nachträglichen Überwachungstätigkeit, deren Ziel darauf gerichtet ist, den Vorstand zur Erfüllung seiner Pflichten anzuhalten und Schäden von der Gesellschaft abzuwenden.“58 Soweit der Aufsichtsrat im Bereich der „nachträglichen Überwachung“ tätig werde, könne er ein unternehmerisches Ermessen nicht in Anspruch nehmen. Wenn man es dabei bewenden würde, müsste man von einer vollständigen Überprüfung von Aufsichtsratsentscheidungen durch die Gerichte ausgehen. Diesen kommt die Befugnis zu, Aufsichtsratsentscheidungen zu korrigieren, wenn sie die Folgen einer Klageerhebung für das Unternehmenswohl anders einschätzen als der Aufsichtsrat. Allerdings ist diese Schlussfolgerung verfrüht, da der BGH – wie gesehen – am Ende der Entscheidung fast en passant die Bemerkung einflechtet, unter Umständen komme dem Aufsichtsrat auch bei nachträglichen Überwachungstätigkeiten ein Entscheidungsermessen zu. Danach bleibt die Frage eines Ermessensspielraums offen. Selbst wenn man einen solchen verneinen wollte, würde dies die Entscheidung des Aufsichtsrats nicht inhaltlich determinieren. Ein Gericht kann ebenso zur Überzeugung gelangen, dass eine Klageerhebung dem Unternehmenswohl schaden würde, wie dazu, dass sie ihm nützen würde. Eine Pflicht, Schadensersatzklagen in der Regel zu erheben, ließe sich selbst aus dem Fehlen eines Ermessensspielraums nicht ableiten. Allenfalls kann man mutmaßen, dass bei voller gerichtlichen Überprüfung der Entscheidung Klageerhebungen statistisch

__________ 57 Raiser, NJW 1996, 552, 554. 58 BGHZ 135, 244, 254 f.

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Regelverfolgung von Schadensersatzansprüchen nach „ARAG/Garmenbeck“

häufiger vorkommen als ohne diese Überprüfung, wenn man annimmt, dass Aufsichtsräte dazu neigen, einen Ermessensspielraum eher zu Gunsten als zum Nachteil von Vorständen zu nutzen („Bisssperre“59). Was dem Aufsichtsrat in der Tat nicht erspart bleibt, ist die Unsicherheit, ob die Gerichte seine Beurteilung der Geschäftssituation, der Schwere des Pflichtverstoßes, der Außenwirkung usw. teilen. Es bleibt indessen die Frage, ob das Dogma der vollen gerichtlichen Überprüfbarkeit von Aufsichtsratsentscheidungen in einem gerade unternehmerisch so sensiblen Bereich wie der Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen gegen Vorstandsmitglieder Sinn macht. Vor allem die „weichen“ Parameter einer solchen Entscheidung – wie die Störung des Betriebsklimas oder die Rückwirkungen auf das Ansehen des Unternehmens – können Gerichte, die – anders als der Aufsichtsrat – über keine langjährigen Erfahrungen mit dem spezifischen geschäftlichen Umfeld verfügen, nur sehr schwer evaluieren.60 Eine Überforderung der Gerichte liegt nahe. Eine weitere Frage ist, ob „ARAG/Garmenbeck“ im Lichte der Änderungen des Aktiengesetzes durch das UMAG neu bewertet oder sogar revidiert werden muss. Was die Normierung der Business Judgment Rule in § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG anbelangt, so besteht zu einer Neubewertung deshalb kein Anlass, weil der erste Teil von „ARAG/Garmenbeck“ § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG im Grunde vorwegnimmt, indem er dem Vorstand bei der Leitung der Geschäfte einen weiten Handlungsspielraum zubilligt.61 Mit anderen Worten: Obwohl der BGH – wie später der UMAG-Gesetzgeber – das Bedürfnis nach Freiraum für unternehmerische Tätigkeit und das bewusste Eingehen geschäftlicher Risiken grundsätzlich anerkennt, hat er in Bezug auf das Geltendmachen von Schadensersatzansprüchen eine Entscheidungsprärogative des Aufsichtsrats verneint. Dann besteht kein Anlass, darauf zu hoffen, dass allein der Umstand einer gesetzlichen Anerkennung von Ermessensspielräumen bei unternehmerischen Entscheidungen zu einer Revision von „ARAG/Garmenbeck“ führen wird. Nicht so leicht von der Hand zu weisen ist die Annnahme, dass umgekehrt die Neuregelung der Aktionärsklage in § 148 AktG die „ARAG/Garmenbeck“Grundsätze zementiert haben könnte, so dass der BGH nunmehr sich erst recht nicht zu einer Revision seiner Position in der Lage sieht. Wenn nämlich der Gesetzgeber im Rahmen des Klagezulassungsverfahrens nach § 148 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 AktG den Gerichten zutraut, selbständig zu prüfen, ob „der Geltendmachung des Ersatzanspruchs keine überwiegenden Gründe des Gesellschaftswohls entgegenstehen“, dann bedarf es einer Begründung, warum den Gerichten eine solche umfassende Prüfungskompetenz bei einer Feststellungsklage hinsichtlich der Entscheidungen des Aufsichtsrats nicht zustehen soll.62

__________ 59 Paefgen, AG 2008, 761, 766. 60 Vgl. Dreher, ZHR 158 (1994), 614, 638; Dreher, JZ 1997, 1074, 1075; Heermann, AG 1998, 201, 203 ff.; Kropff in FS Raiser, 2005, S. 225, 229 f.; Paefgen, AG 2008, 761, 763. 61 BGHZ 135, 244, 253. 62 Koch, AG 2009, 93, 98.

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Begründen lässt sich ein unterschiedlicher Ermessensmaßstab bei Aufsichtsratsbeschlüssen und der Beurteilung im Rahmen von Aktionärsklagen insbesondere damit,63 dass zum einen der Verfahrensgegenstand ein anderer ist – geht es doch bei der Aktionärsklage unmittelbar nicht um die Überprüfung der Aufsichtsratsentscheidung64 – und dass zum anderen die umfängliche gerichtliche Prüfung der „Gründe für das Gesellschaftswohl“ nach § 148 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 AktG immerhin ein Überschreiten der Erheblichkeitsschwelle nach § 148 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AktG voraussetzt: Nur bei Unredlichkeit oder einer groben Verletzung des Gesetzes oder der Satzung kommt ein Gericht nach dem Willen des Gesetzgebers in die Verlegenheit, das konkrete Unternehmenswohl definieren und konkretisieren zu müssen.65 Man bewegt sich dann wohl meist schon in Bereichen, in denen ohnehin das Legalitätsprinzip gilt, so dass es angesichts der aus dem Legalitätsgebot folgenden Verpflichtungen ohnehin häufig geboten ist, Schadensersatzansprüche geltend zu machen.66 Es ist also wegen der prozessualen und materiellrechtlichen Unterschiede zwischen der gerichtlichen Bewertung einer Aufsichtsratsentscheidung und der von einer Minderheit initiierten Rechtsverfolgung „im eigenen Namen“ keineswegs zwingend, aus der Neufassung der Aktionärsklage Rückschlüsse auf den Entscheidungsspielraum des Aufsichtsrates zu ziehen. Freilich ist nicht zu leugnen, dass beide Sachverhalte eng beieinander liegen, was den BGH dazu bewegen könnte, in der Neuregelung der Aktionärsklage eine gesetzliche Bestätigung des Ermessensauschlusses zu sehen, zumal der Gesetzgeber in der Gesetzesbegründung zu § 148 AktG explizit auf „ARAG/Garmenbeck“ verweist.67 Dieser Ansatz erscheint konsequenter als die Annahme, es gebe stets nur eine richtige Entscheidung. Überzeugender erscheint daher die Annahme, in beiden Fällen den Organen, die sich für oder gegen die Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen entschieden haben, bei den aus unternehmerischer Sicht anzustellenden Folgeabschätzungen einen weiten Beurteilungsspielraum einzuräumen, der nur dann gerichtlich korrigiert werden kann, wenn er als unvertretbar erscheint. Dies zeigt sich schon daran, dass auch die Befürworter eines Ermessensausschlusses es als ein legitimes Anliegen ansehen, Aufsichtsratsmitglieder im Falle einer vertretbaren Fehleinschätzung vor Schadensersatzansprüchen zu bewahren. Diesem Anliegen tragen sie auf der Ebene des Verschuldens Rechnung, indem sie den Nachweis fehlenden Verschuldens als erbracht ansehen, wenn der Aufsichtrat die Tatsachengrundlagen sorgfältig aufgearbeitet hat und Gründe benennen kann, die im Interesse des Unternehmenswohls für seine Entscheidung sprechen.68

__________ 63 Vgl. Hüffer (Fn. 38), § 148 AktG Rz. 9a; K. Schmidt, NZG 2005, 796, 798, 800. 64 Vgl. Koch, AG 2009, 93, 99; Hüffer (Fn. 38), § 148 AktG Rz. 9a. 65 Dazu eingehend Seibert in FS Priester, 2007, S. 763 ff.; vgl. auch K. Schmidt, NZG 2005, 796, 800; Happ in FS Westermann, 2008, S. 971, 991. 66 So auch Seibert (Fn. 65), S. 769 f.: „kriminelle Handlungen“, „krasse“ Verletzungshandlung, die eine Nichtverfolgung für das Rechtsgefühl unerträglich macht. 67 BT-Drucks. 15/5092, S. 22. 68 Koch, AG 2009, 93, 101.

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Regelverfolgung von Schadensersatzansprüchen nach „ARAG/Garmenbeck“

Mit einer „Regel“-verfolgung hat das alles – um es noch einmal zu betonen – indessen nichts zu tun. Zur Diskussion steht allein die Intensität, das rechte Maß der gerichtlichen Überprüfung.

IV. Zusammenfassung 1. Eine normative Regelverfolgungspflicht des Aufsichtsrats in dem Sinne, dass dieser ohne Rücksichtname auf das Unternehmensinteresse stets oder in der Regel Schadensersatzansprüche gegen den Vorstand zu verfolgen hat, besteht nicht. Vielmehr gilt der Grundsatz: Der Aufsichtsrat hat sich bei seiner Entscheidung am Unternehmenswohl zu orientieren. Die „ARAG/ Garmenbeck-Entscheidung ist in diesem Punkt unklar gefasst und sollte insbesondere in ihrem Verweis auf § 93 Abs. 4 Satz 3 AktG überdacht werden. Steht fest, dass die Verfolgung eines Schadensersatzanspruches für das Unternehmen mit größeren Nachteilen als Vorteilen verbunden wäre, hat der Aufsichtsrat von der Verfolgung abzusehen. Andernfalls läuft er Gefahr, seine Pflichten gegenüber der Gesellschaft zu verletzten. Eine solche Konstellation läge etwa vor, wenn die notwendigen Aufklärungs- und Beratungskosten die Höhe der voraussichtlich durchsetzbaren Ansprüche übersteigen würden. Ein solches Missverhältnis kann sich schon aufgrund des Verhältnisses der Schadenshöhe zu den voraussichtlichen Aufklärungs- und Prozesskosten und aus den mangelnden Vollstreckungschancen ergeben. Der Frage, inwieweit eine Deckung durch eine D&O-Versicherung besteht, kann bei dieser Abwägung eine erhebliche Rolle zukommen. Ferner sind die unternehmensinternen Auswirkungen sowie die Auswirkungen auf das Ansehen des Unternehmens mit zu berücksichtigen. Diese können – je nach Sachlage – für oder gegen die Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen sprechen. 2. Der alleinige Maßstab des Unternehmenswohls ist ausnahmsweise durch die Vorgaben, die aus dem Legalitätsgrundsatz folgen, zu ergänzen, wenn der Vorstand gegen gesetzliche Vorschriften (nicht: vertragliche Bestimmungen) verstoßen hat, deren Verletzung mit Strafe oder Geldbuße bedroht ist. Dann gilt grundsätzlich – als Ausfluss der Legalitätspflicht – das Primat effizienter Sanktionierung, um zukünftig normenwidriges Verhalten auszuschließen. Das bedeutet jedoch nicht, dass notwendigerweise Schadensersatzsprüche geltend gemacht werden müssen. Es kommen auch andere sanktionierende Verhaltensweisen in Betracht. Bei der Auswahl ist der Maßnahme der Vorzug einzuräumen, die das Unternehmenswohl am wenigsten beeinträchtigt, andererseits aber ausreicht, um ein künftiges legales Verhalten des Unternehmens sicherzustellen. Bei der Wahl der Sanktion ist ferner der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zu beachten. 3. Die vorstehend entwickelten Grundsätze gelten unabhängig davon, ob man dem Aufsichtsrat bei seiner Entscheidung ein Ermessen zubilligt oder nicht. Richtigerweise wird man dem Aufsichtsrat bei der Beurteilung der unternehmerischen Auswirkungen bei der Verfolgung von Schadensersatzansprü925

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chen einen Beurteilungsspielraum einräumen müssen. Angesichts der Formulierung in der ARAG/Garmenbeck-Entscheidung und angesichts der dem Gericht in § 148 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 AktG übertragenen Prüfungspflicht erscheint dies indessen nicht gesichert. Der erhöhten Rechtsunsicherheit ist dadurch entgegen zu wirken, dass der Aufsichtsrat die Tatsachengrundlage für seine Entscheidung gründlich ermittelt, die Pros und Cons abwägt und die Argumente für seine Entscheidung deutlich macht. Dann dürfte, wenn seine Beurteilung nicht völlig unvertretbar ist, zumindest eine Haftung mangels Verschulden ausscheiden, selbst wenn man – wie ich meine zu Unrecht – einen Beurteilungsspielraum verneint.

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Gerald Rittershaus und Corinna Mickel*

Hat die GmbH noch eine Zukunft? Inhaltsübersicht I. Zur Geschichte II. Zum Jubilar III. Zum Stand der Diskussion in der Wissenschaft und Rechtsprechung IV. Zwischenbilanz V. Unsere Auseinandersetzung mit dem Thema 1. Mindestkapital als Preis der Haftungsbeschränkung?

a) Kein Schutz der individuellen Gläubiger b) Wirksame Seriositätsschwelle? 2. Mindestkapital als Überschuldungsschutz 3. Konkurrenzfähigkeit der GmbH VI. Zusammenfassung

I. Zur Geschichte Zumindest hat sie eine bewegte Vergangenheit. Die im Jahre 1884 durchgeführte Reform des Aktienrechts1 löste eine Debatte über die Schaffung einer neuen Gesellschaftsform aus, durch welche die Lücke zwischen den reinen Personengesellschaften wie OHG und KG und der reinen Kapitalgesellschaft wie einer Aktiengesellschaft ausgefüllt werden könne.2 Eine solche wurde von der Wirtschaft dringend gefordert. Dies machte der Ausschuss des Deutschen Handelstages vom 7.12.1888 in einem an den Königlich Preußischen Handelsminister gerichteten Gutachten deutlich, in dem es heißt: „Es erscheint nothwendig, die Assoziation zwischen Kapital und Intelligenz in höherem Grade zu erleichtern und dieser Zweck läßt sich am einfachsten erreichen durch die Einführung neuer Rechtsformen für gesellschaftliche Unternehmungen, welche sich auf das Antheilsprinzip stützen und die Möglichkeit gewähren, das werdende Kapital der Gesellschaft nach Bedürfniß zu erhöhen.“3 Wenn dies nicht gelinge, wenn also „die fruchtbare Verbindung zwischen Kapital und geistiger Tüchtigkeit“ nicht geschaffen werde, müsse „dieser

__________ * Die Verfasser danken ihrem Kollegen RA Marc Hauser für seine wertvolle Unterstützung bei der Recherche zur Erstellung des vorliegenden Beitrags. 1 Gesetz, betreffend die Kommanditgesellschaft auf Aktien und die Aktiengesellschaften v. 18.7.1884. 2 Fleischer in MünchKomm. GmbHG, 2010, Einl. Rz. 54; Ulmer in GroßKomm. GmbHG, 8. Aufl. 1990, Einl. Rz. 5 (unter Verweis auf Hachenburg, GmbHG (1926) Allg. Einl. 1 (S. 67); Schaal in Erbs/Kohlhaas, Strafrechtliche Nebengesetze, 185. Ergänzungslieferung 2011, Vorbemerkungen Rz. 1. 3 Reichstag, Aktenstück Nr. 660, S. 3760 (f.).

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Gerald Rittershaus und Corinna Mickel

Mangel […] endlich zu einer Verödung unseres wirthschaftlichen Bodens führen“. Auch das Preußische Handelsministerium und die Handelskammern forderten eine neue Rechtsform.4 Mittlere und kleinere Unternehmungen sollten über sie die Möglichkeit erhalten, sich hinter einem Haftungsschild unternehmerisch zu betätigen. Hierzu wurden in der Zeit zwischen 1884 und 1889 intensive Diskussionen darüber geführt, ob diese neuartige Gesellschaftsform, die weder historische noch rechtsvergleichende Vorbilder hatte, eher individualistisch oder kollektivistisch, personalistisch oder kapitalistisch, ausgestaltet sein sollte.5 Einig war man sich über die Grundvoraussetzungen: Die neue Gesellschaftsform sollte auf der einen Seite den Zusammenschluss von wenigen Gesellschaftern, wie dies bei den Personengesellschaften anzutreffen ist, ermöglichen und auf der anderen Seite die Haftung auf das Gesellschaftsvermögen begrenzen.6 Schließlich wurde mit der Gesellschaft mit beschränkter Haftung eine selbständige Rechtsform7 geschaffen, welche aufgrund des „freien Spielraums“ für „sehr verschiedene Verhältnisse und Zwecke und bei einem sehr verschiedenen Umfange des Mitgliederkreises“8 einsetzbar sein und deshalb entsprechend dem gewünschten Zweck eine „Mittelstellung zwischen den streng individualistischen Gesellschaftsformen des geltenden Rechts und der als äußerste Konsequenz des kapitalistischen Prinzips sich darstellenden Aktiengesellschaft“9 einnehmen sollte. Dementsprechend und passend zu der Tatsache, dass die Übertragbarkeit der GmbH-Anteile stark beschränkt und der Anlegerkreis überschaubar war, stand der Schutz der Anleger bei der GmbH, anders als im Aktienrecht, eher im Hintergrund, als die GmbH am 10.5.189210 ins Leben trat.11 Hingegen wurde der Gläubigerschutz im Rahmen der Lesungen des Gesetzes intensiv diskutiert12 und im Ergebnis in § 5 Abs. 1 GmbHG ein Mindestkapital bei der Gründung einer Gesellschaft mit beschränkter Haftung von 20.000 Mark sowie eine

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4 Vgl. Rießer, Beilage ZHR 35 (1889), 299, 302, 311 f.; Schubert, FS 100 Jahre GmbHG, 1992, S. 1, 10, 14; Fränkel, Die Gesellschaft mit beschränkter Haftung, 1915, S. 11; dazu auch Stellungnahmen zu dem GmbHG von 1891, die diesem in Ausschnitten als Anlage B beigefügt sind: Entwurf eines Gesetzes betreffend die Gesellschaften mit beschränkter Haftung, 1891, Anlage B, S. 137 f. 5 Fleischer in MünchKomm. GmbHG, 1. Aufl. 2010, Einl. Rz. 50, 68. 6 Ulmer in GroßKomm. GmbHG, 8. Aufl. 1990, Einl. Rz. 3. 7 Begr. GmbHG, S. 35. 8 Begr. GmbHG, S. 35. 9 Begr. GmbHG, S. 35. 10 Gesetz v. 20.4.1892, RGBl., S. 477. 11 Begründung zum GmbH-Gesetz-Entwurf v. 11.2.1892, stenografischer Bericht über die Verhandlung des Reichstages, 8. Legislaturperiode, 1. Session, Bd. V, Anlagen, Aktenstück-Nr. 660, S. 3725, 3728 f., 3734. 12 2. und 3. Lesung des Gesetzes, stenografischer Berichte des Reichstages, 8. Legislaturperiode, 1. Session, 1890/92, S. 4878, 4879, 4881 f., 4884 f.; vgl. hierzu auch Nachweise bei Schubert, FS 100 Jahre GmbHG, S. 7, 12, 15, 19.

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Hat die GmbH noch eine Zukunft?

Mindesteinlage von 500 Mark gesetzlich normiert. Seither ist der Kapitalaufbringungsgrundsatz als eines der grundlegenden Prinzipien im Kapitalgesellschaftsrecht anzusehen,13 dessen Ausprägungen allerdings immer wieder geändert wurden.14 Heute, und auch nicht erst seit gestern, sollen zahlreiche Bestimmungen, wie die Erbringung des Mindestanteils des Stammkapitals (§§ 5, 7 Abs. 2, Abs. 3 GmbHG), die Grundsätze über die Kapitalerhaltung (§§ 30, 31 GmbHG), die Haftung von Rechtsvorgängern (§ 22 GmbHG) sowie die Vorschriften über die Behandlung einer verdeckten Sacheinlage (§ 19 Abs. 4 GmbHG), Stammkapital und Gläubiger schützen. Und wo das GmbH-Gesetz mit seinen zwischenzeitlichen Änderungen nicht ausreicht, treiben Rechtsprechung und Literatur zur Kapitalaufbringung und -erhaltung beispielsweise in der Situation des Mantelkaufs,15 zur Durchgriffshaftung16 oder zur Unterkapitalisierung17 den Gläubigerschutz zu Lasten der Gesellschaft, ihrer Gesellschafter und ihrer Geschäftsführer bis zu einem Punkt, bei dem der Eindruck entstehen kann, der Schutz der beschränkten Haftung werde ausgehöhlt und Geschäftsführer wie teilweise auch Gesellschafter seien Opfer einer geradezu zur Regel mutierenden Durchgriffshaftung. Die Entwicklung des GmbH-Rechtes wird deshalb auch als Geschichte der Rechtsfortbildung bezeichnet.18

II. Zum Jubilar Mit diesen Fragen beschäftigt sich der Jubilar seit vielen Jahren in Wort und Schrift. Von der Kommentierung des GmbHG über Aufsätze zur Implementierung verschiedener Reformvorhaben in Bezug auf das Recht der GmbH bis hin zu Urteilsanmerkungen hat der Jubilar die Entwicklung der GmbH entscheidend mitgestaltet.19 Der von ihm Mitte der neunziger Jahre gegründete und bis

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Schluck-Amend/Penke, DStR 2009, 1433, 1433. Vgl. hierzu zusammenfassend Schubert, ZHR 58 (1906), 17. Haas, DStR 2006, 996; Bayer in Lutter/Hommelhoff, § 3 GmbHG Rz. 14 et alt. BGH v. 5.11.1980, BGHZ 78, 318, 333 = NJW 1981, 522; BGH v. 30.11.1978 = NJW 1979, 2104; Goette, Die GmbH, § 9 Rz. 45, S. 346; Ablehnung der Durchgriffshaftung, wenn eine Verpflichtungsgründe vorliegen, nach denen ein Gesellschafter haftet, BGH v. 14.12.1959, BGHZ 31, 258, 271. 17 Michalski/Funke in Michalski, § 13 GmbHG Rz. 387; Reuter in MünchKomm. BGB, 4. Aufl. 2001, Vor § 21 BGB Rz. 37; Hueck/Fastrich in Baumbach/Hueck, 19. Aufl. 2010, § 5 GmbHG Rz. 6; Lutter/Hommelhoff, ZGR 1979, 31; Stimpel in FS Goerdeler, 1987, S. 601 f.; a. A. aber geminderte Voraussetzungen eines Anspruchs aus § 826 BGB bejahend: BGH v. 4.5.1977, BGHZ 68, 312, 319; kritisch BGH v. 13.6.1977, NJW 1977, 1683, 1686; offen gelassen BGH v. 16.3.1981, BB 1981, 750, 751. 18 Vgl. auch Kübler/Assmann, GesR, 6. Aufl. 2006, § 18 I 4a, S. 265; K. Schmidt, GesR, 4. Aufl. 2002, § 33 II 2a, S. 987; Fleischer in MünchKomm. GmbHG, Einl. Rz. 125; Hirte, Kap.GesR, 6. Aufl. 2009, Rz. 1.22 c. 19 Auszug: Fischer/Lutter/Hommelhoff, Kommentar zum GmbH-Gesetz, 12. Aufl. 1987; Lutter/Hommelhoff, Kommentar zum GmbH-Gesetz, 13. Aufl. 1991 bis 17. Aufl. 2009; Bestimmungen des Bilanzrechts §§ 290, 292a, Anhang zu § 292a HGB §§ 342, 342a HGB in Canaris/Schilling/Ulmer (Hrsg.), Staub Großkommentar zum Handelsgesetzbuch, 4. Aufl. 2002; Kapitalersatz im Gesellschafts- und Insolvenzrecht, 2. Aufl. 1989 bis 5. Aufl. 1997; Eigenkapitalersatzrecht in der Praxis, 1. Aufl. 2000 bis

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heute von ihm geführte Arbeitskreis Recht und Wirtschaft Nordbaden/Nordwürttemberg hat sich mehrfach mit Fragen aus diesem Themenkomplex beschäftigt, so unter dem Titel „Neue Fragen zum Kapitalersatz“ mit Goette und Hommelhoff als Referenten, zum Thema „Haftung des GmbH-Gesellschafters bei Existenz gefährdenden Eingriffen“ (Ulmer/Wissmann), zum Thema „Eigenkapitalersatz nach dem MoMiG“ (Bitter/Lorz) und zum Thema „Existenzvernichtungshaftung – pro und contra“ (Weller/Ihrig).

III. Zum Stand der Diskussion in der Wissenschaft und Rechtsprechung Seit der letzten Befassung des Arbeitskreises mit Einzelthemen des Gläubigerschutzes hat es eine Reihe allgemeiner Äußerungen hierzu, aber geradezu eine Flut von Veröffentlichungen zu speziellen Aspekten wie beispielsweise zum Thema der verdeckten Sacheinlage,20 der Kapitalerhaltung,21 zur Solidarhaftung der Mitgesellschafter,22 zur Undurchsetzbarkeit eigenkapitalersetzender Gesellschafterdarlehen in der Krise,23 zur Darlehensgewährung an Gesellschafter im Zeitpunkt der Unterbilanz,24 zur Durchgriffshaftung,25 zur Haftung von Geschäftsführern26 sowie zu weiteren den Gläubigerschutzaspekt des GmbHRechts betonenden Themen27 gegeben.

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20 21 22 23 24 25 26 27

2. Aufl. 2001; Nachrangiges Haftkapital und Unterkapitalisierung in der GmbH, ZGR 1979, S. 31–66; Vollausschüttungsgebot und Verbot stiller Reserven – Ein Plädoyer für die Novellierung des § 29 Abs. 1 GmbHG, GmbHR 1979, 102–111; Gesellschaftsrechtliche Fragen im Entwurf eines Bilanzrichtlinien-Gesetzes – Bemerkungen zur Umsetzung der 4. EG-(Bilanz-)Richtlinie, BB 1981, 944–954; Das Risikokapital der GmbH in Roth (Hrsg.), Die Zukunft der GmbH, 1983, S. 15–39; Eigenkapital-Ersatz im Konzern und in Beteiligungsverhältnissen, WM 1984, 105, 111; Rechtliche Überlegungen zur Vorbereitung der GmbH auf das Bilanzrichtlinien-Gesetz, WPg 1984, 929, 939; Reaktionsmöglichkeiten der vorsorgenden Vertragspraxis für die GmbH auf das Bilanzrichtlinien-Gesetz, Jahrbuch der Fachanwälte für Steuerrecht 1984/1985, S. 397–423; Eigenkapitalersetzende Gesellschafterdarlehen und Konkursantragspflicht in FS Georg Dollerer, 1988, S. 245–268. Blasche, GmbHR 2010, 288; Kleindiek, ZGR 2011, 334; Pentz, GmbHR 2009, 126; Ulmer, GmbHR 2010, 1298; Veil/Werner, GmbHR 2009, 729. Eusani, GmbHR 2009, 512; Herrler, GmbHR 2010, 785; Paefgen, DZWIR 2009, 177; von Falkenhausen, NZG 2009, 1096. BGH v. 25.2.2002, BGHZ 150, 61 = NJW 2002, 1803. BGH v. 14.12.1959, BGHZ 31, 258; RG v. 16.11.1937, JW 1938, 862. BGH v. 24.11.2003, BGHZ 157, 72; aufgegeben durch BGH v. 1.12.2008 = NJW 2009, 850. BGH v. 13.4.1994, BGHZ 125, 366; BGH v. 14.11.2005, BGHZ 165, 85. Haas, GmbHR 2010, 1; Komo, GmbHR 2010, 230; Poertzgen, ZInsO 2011, 305; Rodewald, GmbHR 2009, 1301; Schneider, GmbHR 2011, 685. Bäuml, GmbHR 2009, 632; Blasche, GmbHR 2009, 897; Büscher, GmbHR 2009, 800; Eusani, GmbHR 2009, 795; Geißler, DZWIR 2011, 309; Gunßer, GmbHR 2010, 1250; Hofert/Möller, GmbHR 2009, 527; Krolop, GmbHR 2009, 397; Küting/Lorson/ Eichenlaub/Toebe, GmbHR 2011, 1; Lieder, GmbHR 2009, 1177; Schickerling/ Blunk, GmbHR 2009, 337; K. Schmidt, GmbHR 2009, 1009; Winstel/Skauradszun, GmbHR 2011, 185.

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Hat die GmbH noch eine Zukunft?

Auch die Obergerichte, so insbesondere der Zweite Senat des Bundesgerichtshofs wie auch verschiedene Oberlandesgerichte, haben sich unter den unterschiedlichsten Aspekten der Frage des Gläubigerschutzes gewidmet. Dies lässt sich beobachten im Rahmen der Behandlung einer verdeckten Sacheinlage, bei deren Vorliegen die erneute Leistungspflicht bereits bei Nichteinhaltung des Verfahrens gegeben ist, auch wenn keine Gläubigerbenachteiligung vorliegt,28 bei der Unterbilanzhaftung29 sowie bei der analogen Anwendung des § 19 Abs. 5 GmbHG a. F. auf den Fall des Hin- und Herzahlens30 oder des „Schüttaus-Hol-zurück-Verfahrens“, bei dem die Einhaltung der Sacheinlagevorschriften zu wahren sind.31 Während der II. Zivilsenat des BGH im Rahmen der Rechtsfortbildung richtungsweisend war, wurde dessen Rechtsprechung durch andere Senate oder Gerichte teilweise eingeschränkt oder abgeändert.32 Und schließlich haben sich auch in der neueren Literatur eine Reihe von Autoren des komplexen Themas des Gläubigerschutzes und dessen Fortbestand und Weiterentwicklung in Handbüchern und Monografien angenommen.33

__________ 28 BGH v. 18.2.1991, BHGZ 113, 335, 343; BGH v. 7.7.2003, BGHZ 155, 329 = DStR 2003, 1844, 1846; BGH v. 2.12.2003, DStR 2003, 1131, 1132; BGH v. 16.1.2006, DStR 2006, 764, 766, m. Anm. Goette; BGH v. 9.7.2007, DStR 2007, 1830, 1831 (Lurgi); BGH v. 18.2.2008, DStR 2008, 1052, 1054 (Rheinmöve). 29 BGH v. 9.12.2002, BGHZ 153, 158 = NZG 2003, 170; BGH v. 7.7.2003, BGHZ 155, 318 = NZG 2003, 972; OLG München, NZG 2010, 544; OLG Jena, ZIP 2007, 124. 30 BGH v. 4.3.1996, BGHZ 132, 135; BGH v. 21.2.1994, BGHZ 125, 143 f.; BGH v. 18.2.1991, BGHZ 113, 340; BGH v. 10.11.1958, BGHZ 28, 314; BGH v. 16.3.1998, NZG 1998, 428; OLG Schleswig v. 29.6.2000, NZG 2001, 84; OLG Braunschweig v. 12.11.1998, GmbHR 1999, 773; OLG Köln v. 10.11.1999 = NZG 2000, 489; OLG Köln v. 2.2.1999, NZG 1999, 459; OLG Hamburg v. 9.10.1987, BB 1988, 504; OLG Koblenz v. 9.2.1989, WM 1989, 1097, 1098; OLG Hamm v. 28.9.1989, ZIP 1989, 1398, 1399 f.; OLG München v. 29.1.1990, BB 1990, 1151. 31 BGH v. 18.2.1991, BGHZ 113, 381; BGH v. 26.5.1997, BGHZ 135, 381. 32 Einerseits BGH v. 5.12.1989, BGHZ 109, 297 (Baustoff); BGH v. 12.3.1996, ZIP 1996, 786; andererseits BGH v. 13.4.1994, BGHZ 125, 366, 375; sowie einerseits BGH v. 24.10.2005, ZIP 2005, 2257; BGH v. 4.11.2002, BGHZ 152, 290; BGH v. 27.1.1997, BGHZ 134, 333; sowie andererseits BAG v. 25.1.2006, ZIP 2006, 1044; BAG v. 4.4.2001, NZA 2001, 1247; BAG v. 15.12.1999, BAGE 93, 151; sowie einerseits BGH v. 8.1.2001, BGHZ 146, 264; BGH v. 18.4.2005, ZIP 2005, 1026; sowie andererseits BGH v. 28.5.2002, BGHSt 47, 318; BGH v. 30.7.2003, BGHSt 48, 307. 33 Bauer, Die GmbH in der Krise, 2010; Birkendahl, Reform des GmbH-Rechts: die Abschaffung der Rechtsprechungsregeln durch das MoMiG, 2009; Boese, Strukturprinzipien im Gläubigerschutz: eine rechtsvergleichende Untersuchung zur GmbH und zur englischen Limited Company, 2009; Giering, Risikobezogener Gläubigerschutz im Recht der GmbH, 2009; Henzler, Haftung der GmbH-Gesellschafter wegen Existenzvernichtung, 2009; Niggemann, Die Reform des Gläubigerschutzsystems der GmbH im Spiegel der Niederlassungsfreiheit, 2010; Röhricht, Gläubigerschutz im Spannungsverhältnis zwischen Gesellschafts-, Bilanz- und Insolvenzrecht, 2011; Schall, Kapitalgesellschaftsrechtlicher Gläubigerschutz: Grund und Grenzen der Haftungsbeschränkung nach Kapitaldebatte, MoMiG und Trihotel, 2009; Schober, Die Haftung des GmbH-Gesellschafters für die Verursachung der Unternehmensinsolvenz, 2009; Schult, Solvenzschutz der GmbH durch Existenzvernichtungs- und Insolvenzverursachungshaftung, 2009; Spies, Unternehmergesellschaft (haftungs-

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IV. Zwischenbilanz Von den zwangsläufig einzelfallbezogenen Entscheidungen der Obergerichte abgesehen, vermitteln die zahlreichen Beiträge zum Thema Gläubigerschutz zum einen den Eindruck, als gehe es überhaupt nicht mehr um das ursprüngliche Ziel der Förderung von Unternehmensgründungen in der Rechtsform der GmbH, und zum anderen den Eindruck eines überdimensionalen Fleckerlteppichs, an dem mit beunruhigender Geschwindigkeit mit ständig wechselnden Mustern und Farben gewoben wird, wie die eben aufgeführten obergerichtlichen Entscheidungen und wissenschaftlichen Beiträge belegen. Unternehmer, die ihr Unternehmen in einer haftungsbeschränkenden Rechtsform führen möchten, wie auch deren Berater stehen an einer Wegkreuzung, die in der einen, heimatlichen Richtung in einen Wald von Verbots- und Gebots-Schildern führt, teilweise scheinbar ohne System und innere Abstimmung aufgestellt, aber daneben auch verschiedene fremde alternative Pfade anbietet, deren Reiz sich mit unbekannten Herausforderungen paart.34 Man stellt sich die Frage: Was ist von der guten alten GmbH übriggeblieben? Und man muss sich die weitere Frage stellen: Hat die GmbH noch eine Zukunft?

V. Unsere Auseinandersetzung mit dem Thema Wenn man die Liste der Auseinandersetzungen rund um den Gläubigerschutz bei der GmbH betrachtet, braucht man nicht lange, um festzustellen, dass diese zum ganz überwiegenden Teil um Erbringung und Erhaltung des Stammkapitals kreisen. Möchte man Inhalt und Hintergrund dem unbefangenen Beobachter – sei es Tante Berta oder ein ausländischer Mandant – erklären, fällt das schwer. Und letzten Endes stellt man sich womöglich – wieder einmal – die Frage: Brauchen wir das Mindestkapital wirklich? 1. Mindestkapital als Preis der Haftungsbeschränkung? Das System des Mindestkapitals wurde bislang als Eintrittsgeld für das Privileg der Haftungsbeschränkung gesehen, das wiederum als Ausnahme vom Grundsatz der unbeschränkten persönlichen Vermögenshaftung verstanden wird.35

__________ beschränkt): Verfassung, Gläubigerschutz, Alternativen, 2010; Steffek, Gläubigerschutz in der Kapitalgesellschaft, 2011; Ulbrich, Die Abschaffung des Eigenkapitalersatzrechts der GmbH, 2011; Vogel, Die Rolle des GmbH-Geschäftsführers in den Ausgleichssystemen von Kapitalerhaltungs- und Kapitalersatzrecht, 2009. 34 Vgl. auch Kübler/Assmann, GesR, 6. Aufl. 2006, § 18 I 4a, S. 265. 35 BGH v. 16.3.1992, BGHZ 117, 323 = NJW 1992, 1824, 1826; Goette, Einführung in das neue GmbH-Recht, 2008, Rz. 12 ff.; Kleindiek, DJT-Referat, P 47 ff.; Schall, ZGR 2009, 126, 126; Röhricht in GroßKomm, AktG, 4. Aufl. 1996, § 36 AktG Rz. 30; Hüffer, 9. Aufl. 2010, § 1 AktG Rz. 10; grundlegend Lutter, Das Kapital, Sicherung der Kapitalaufbringung und die Kapitalerhaltung in den Rechten der EWG, 1964.

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a) Kein Schutz der individuellen Gläubiger Der hinter der Einführung des Mindestkapitals stehende Sinn und Zweck war allerdings nicht, wie man vermuten könnte und wie es vielfach in der Diskussion um die Weiterentwicklung des Mindestkapitals anklingt, der Schutz der Gläubiger der einzelnen Gesellschaft, sondern bestand darin, „die Entstehung einer Ueberzahl unbedeutender und ungenügend fundierter Gesellschaftsbildungen zu verhüten, und […] ein gewisses Interesse der Teilnehmer an den Schicksalen des gemeinsamen Unternehmens zu gewährleisten.“36 Welcher Einsatz dementsprechend als notwendig erachtet wurde, richtete sich nach den allgemeinwirtschaftlichen Gegebenheiten: Während 1922 noch ein Mindeststammkapital von 500.000 Mark und eine Mindeststammeinlage von 10.000 Mark zu erbringen war,37 genügte im Jahre 1924 ein Mindeststammkapital von Mark 5.000 Mark und eine Mindeststammeinlage von Mark 50 Mark. In Anbetracht der Lage des Kredit- und Kapitalmarktes wurde in der Kriegsund Übergangswirtschaft sogar eine Genehmigungspflicht für die Gründung und Kapitalerhöhung von Aktiengesellschaften und GmbHs für den Fall eingeführt, dass deren Stammkapital 300.000 Mark überstieg.38 Damit sollte eine Überflutung des Kapitalmarktes durch die Ausgabe von neuen Gesellschaftsanteilen vermieden werden. Dass das Mindestkapital kaum individuelle Schutzrichtung haben kann, wird an folgenden Überlegungen deutlich: Das Mindestkapital gilt ausnahmslos für alle Gesellschaften mit beschränkter Haftung unabhängig von ihrem konkreten Geschäftsfeld, unabhängig von dem damit verbundenen Finanzierungsbedarf und unabhängig vom Umfang der Forderungen der Gläubiger. Diese werden zudem in der Regel keine Sach-, sondern Barwerte von der Gesellschaft erwarten. In manchem Kopf mag noch die Vorstellung existieren, als Gläubiger einer GmbH habe man eine Haftungsmasse von mindestens 25.000 Euro, entsprechend einem Bankkunden, der seine Ansprüche (bis zu einem bestimmten Betrag) durch den Einlagensicherungsfonds für Banken garantiert weiß. Das Mindestkapital ist aber weder für jeden Gläubiger, noch zwingend in Barwerten aufzubringen oder in solchen zu erhalten. Um ihre Forderungen zu befriedigen, müssen Gläubiger im Ernstfall also gegebenenfalls die in der Gesellschaft vorhandenen Sachwerte liquidieren. Dabei kann es theoretisch natürlich zu positiven Überraschungen kommen, wenn die Sachwerte wertvoller sind, als ihre Buchwerte es ausweisen. Genauso kann eine entsprechende Verwertung aber auch hinter den angesetzten Werten zurückbleiben, das Mindeststammkapital nicht erreichen.

__________ 36 Entwurfsbegründung GmbH-Gesetz 1892, S. 3734. 37 Gesetz v. 24.12.1922, RGBl. I 1923, 22. 38 Bekanntmachung über die staatliche Genehmigung zur Errichtung von Aktiengesellschaften v. 2.11.1917, RGBl. 1917, S. 987.

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b) Wirksame Seriositätsschwelle? Im Gegensatz zum bisher verbreiteten Verständnis des Mindestkapitals als Legitimation der Haftungsbeschränkung, welches der Gesellschaft die notwendigen Betriebsmittel sichern soll,39 stellte der Gesetzgeber im Entwurf des MoMiG klar, dass „das Mindeststammkapital kein zwingender Bestandteil des Haftkapitalsystems der GmbH“ sei.40 Vielmehr handele es sich um eine Seriositätsschwelle der Gesellschaft mit beschränkter Haftung.41 Im rechtswissenschaftlichen Schrifttum war darauf bereits zuvor verschiedentlich hingewiesen42 und das Mindestkapital als Gewähr für eine ernsthafte Gründungsplanung verstanden und gefordert worden.43 Es sei notwendig, um Vertrauen bei den vorleistungspflichtigen Vertragspartnern einer Gesellschaft, insbesondere bei Arbeitnehmern und Werkunternehmern zu schaffen.44 In der Praxis ein geschäftsbegründendes Vertrauen auf die Mindestkapitalziffer von 25.000 Euro (welche möglicherweise erst zu 12.500 Euro aufgebracht ist) zu stützen, dürfte keinem zu empfehlen sein. Wer weiß schon, ob die Gesellschaft nicht anderweit bereits Verbindlichkeiten in Höhe von 100.000 Euro eingegangen ist. Infolgedessen verlangen Vertragspartner und Geldgeber, insbesondere Banken, von den geschäftsführenden Gesellschaftern oftmals die Einräumung von persönlichen Garantien, wie Bürgschaften oder andere Sicherheiten, beispielsweise (verlängerte) Eigentumsvorbehalte oder Sicherungsübereignungen von Wertgegenständen, Immobilien oder Warenbeständen.45 Ganz abgesehen davon ist ehrlicherweise für die Solvenz einer Gesellschaft auf relevantere Gesichtspunkte als das Kapital abzustellen, wie z. B. den Cashflow. Diesen zu erfragen, bedeutet, Einblick in die Zahlen der Gesellschaft, insbesondere Bilanz und Gewinn- und Verlustrechnung, zu nehmen. Hier, und nur hier, kann der Gläubiger einen Eindruck von der wirtschaftlichen Situation der Gesellschaft als seines Gegenübers gewinnen. Das BiRiLiG,46 das BilReG47 und zuletzt das BilMoG48 hatten zum Ziel, die Rechnungslegung transparenter,

__________ 39 Vgl. bspw. BGH v. 16.3.1992, BGHZ 117, 323 (zur AG); Kleindiek, DJT-Referat, P 47 ff.; Wilhelmi, GmbHR 2006, 13 f.; Barta, GmbHR 2005, 657, 659 f. 40 RegBegr. BT-Drucks. 16/6140, S. 31. 41 RegBegr. BT-Drucks. 16/6140, S. 29. 42 Nachweise bei Pentz/Priester/Schwanna in Lutter (Hrsg), Das Kapital der Aktiengesellschaft in Europa, 2006, S. 42, 51 f.; Heckschen, DStR 2007, 1442, 1445; Kleindiek in Verhandlungen des 66. DJT Stuttgart 2006, Bd. II/1, P 48 ff.; ders. ZGR 2006, 335, 341 ff.; Haas, DStR 2006, 993 f. 43 Hommelhoff/Teichmann, GmbHR 2008, 897, 904; GmbHR 2009, 36, 36; Matyk, GPR 2009, 2, 6; Hennrichs, NZG 2009, 921, 922, 926; so bereits Dejmek, NZG 2001, 878, 880; so auch RegBegr., BR-Drucks. 254/07 (MoMiG zu Unternehmergesellschaft (haftungsbeschränkt)). 44 Vgl. Miras in Michalski, § 5a GmbHG Rz. 20. 45 Kritisch hierzu Goette, WPg 2008, Heft 19, Seite 1 und Jung, DStR 2009, 1700, 1704 da diese Möglichkeit gesetzlichen Gläubigern nicht zustehe; so auch Anzinger, BB, 2009, 2606, 2610. 46 Bilanzrichtliniengesetz v. 19.12.1985, BGBl. I 1985, 2355. 47 Bilanzrechtsreformgesetz v. 4.12.2004, BGBl. I 2004, 3166. 48 Gesetz zur Modernisierung des Bilanzrechts v. 26.5.2009, BGBl. I 2009, 1102.

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wirklichkeitsnäher zu machen und so ihre praktische Funktion als Informationsgrundlage zu verbessern.49 Mit ihrer Hilfe sollte den Unternehmen im Verhältnis zu den internationalen Rechnungslegungsvorschriften eine gleichwertige, aber einfachere und kostengünstigere Alternative geboten werden.50 Dazu sah beispielsweise das BilMoG verschiedene Aktivierungspflichten vor und beseitigte etliche Ansatz-, Ausweis- und Bewertungswahlrechte, wodurch eine Annäherung der handelsrechtlichen Rechnungsvorschriften an die IFRS erfolgen und ihre Vergleichbarkeit und Aussagekraft gestärkt werden sollte,51 auch wenn kleine und mittelgroße Unternehmen im Vergleich zu den umfangreichen Informationspflichten nach IFRS nicht zu sehr belastet werden sollten.52 Freilich gibt es sicher noch genug Auslegungsspielräume im Zahlenwerk und taugt dieses nur so weit, wie es aktuell ist. Aber aktuelle Zahlen kann jeder Gläubiger anfordern, und auch wenn die darin transportierten Informationen interpretierbar sind – ein besseres Bild als eine Mindestkapitalziffer vermitteln sie in jedem Fall. Information und individuelle Absicherung sind deutlich wirksamere und praktisch lebbarere Vertrauensgrundlagen als das gesetzliche Mindestkapital. Die Seriosität der Unternehmung und die Ernsthaftigkeit der Gründungsplanung werden sodann doch nicht durch die Aufbringung eines (hälftigen) Mindestkapitals erwiesen. Wer gegenwärtig eine GmbH gründen will, muss sich irgendwie 12.500 Euro und mindestens einen Mitgesellschafter oder eben gleich 25.000 Euro besorgen. Dies ist in der Tat zu organisieren. Eine ernsthafte Gründungsplanung muss sich demgegenüber mit den Anforderungen der angestrebten Unternehmung beschäftigen. Diese fallen ganz unterschiedlich aus, je nachdem, ob die Unternehmung sich mit personellen, ideellen oder materiellen Gütern beschäftigt. Die Forderung eines pauschalen Betrages wird dem nicht gerecht. Und – für welche Geschäftsfelder sind 25.000 Euro noch seriös? 2. Mindestkapital als Überschuldungsschutz Gegen den Verzicht auf ein Mindestkapital wird eingewendet, eine ohne Mindestkapital neu gegründete Gesellschaft sei mit Aufnahme der Geschäftstätigkeit bilanziell und wohl auch insolvenzrechtlich überschuldet.53 Der Verzicht auf ein Mindestkapital bedeutet ja aber nicht, dass die neue GmbH nicht mit Eigenkapital ausgestattet werden muss, und zwar mit so viel Eigenkapital, dass sie ein Stadium erreicht, in dem sie sich selbst trägt. Würde man diese Menge Eigenkapital der GmbH nicht zur Verfügung stellen, wäre sie nicht „lebensfähig“, mit anderen Worten unterkapitalisiert. In dieser Situation der „Totgeburt“ wird die Rechtsfigur der Kapitalgesellschaft missbraucht; das Pri-

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RegBegr. BT-Drucks. 16/10067, S. 33 f. RegBegr. BT-Drucks. 16/10067, Allg. Teil I. Bezzenberger in MünchHdb. Gesellschaftsrecht, 3. Aufl. 2009, § 62 Rz. 28. RegBegr. BT-Drucks. 16/10067, Allg. Teil II 2. So auch Hennrichs, NZG 2009, 921, 924.

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vileg der beschränkten Haftung ist dann zu versagen.54 Wann dies der Fall ist, muss nach den konkreten Umständen des Einzelfalls beurteilt werden – unabhängig von einem pauschalen Mindestkapital.55 3. Konkurrenzfähigkeit der GmbH Seit Aufgabe der Sitztheorie durch den EuGH dürfen nunmehr der Staat des Sitzes und der Hauptniederlassung einer Gesellschaft auseinanderfallen.56 Infolgedessen können andere europäische Gesellschaftsformen, die kein oder nur ein geringes Mindestkapitalerfordernis haben, in der Bundesrepublik ihre Hauptniederlassung errichten.57 Als Reaktion darauf hat der Gesetzgeber mit Verabschiedung des MoMiG,58 der bei Weitem umfangreichsten Reform seit Erlass des GmbHG im Jahre 1892,59 erstmals eine Kapitalgesellschaft (fast) ohne Mindeststammkapital eingeführt – die Unternehmergesellschaft (haftungsbeschränkt) – nachfolgend auch „UG“ –, § 5a GmbHG.60 Ausreichend für die Gründung einer solchen ist bereits ein Mindestkapital von 1 Euro. Allerdings ist die Eigenschaft als UG in der Firma zu verdeutlichen und es besteht gemäß § 5a Abs. 5 GmbHG eine Thesaurierungspflicht, wonach Gewinne bis zum Erreichen des erforderlichen (GmbH-)Mindestkapitals in die Rücklage einzustellen sind. Damit wird nach Vorstellung des Gesetzgebers nur vorübergehend auf ein Mindestkapital verzichtet. Objektive Vorteile der GmbH gegenüber einer Ltd., S.A.R.L., S.A.S. oder sp. z o o, dürften die Verständlichkeit für den deutschen Unternehmer und eine gewisse organisatorische erleichterte Handhabbarkeit sein. Objektive Vorteile der GmbH gegenüber einer UG gibt es kaum, weicht man vom Musterprotokoll der Unternehmergesellschaft ab (was praktisch in aller Regel der Fall sein dürfte). Es bleibt das bessere Ansehen der GmbH. Angesichts der – wie gezeigt – eher dürftigen sachlichen Grundlagen dieses Ansehens sollte zweifelhaft sein, wie lange dies die Konkurrenzfähigkeit der GmbH noch trägt.

__________ 54 So die Befürworter einer Durchgriffshaftung bei Unterkapitalisierung: Ulmer in Ulmer, § 13 GmbHG Rz. 153, 157 f.; Emmerich in Scholz, § 13 GmbHG Rz. 81 f., 93 f. m. w. N.; ferner etwa Lutter in Lutter/Hommelhoff, § 13 GmbHG Rz. 6 f.; Altmeppen in Roth/Altmeppen, § 13 GmbHG Rz. 118; Kübler/Assmann (Fn. 18), § 18 VI 5; Lutter/Hommelhoff, ZGR 1979, 31, 57 ff.; Lutter, ZGR 1982, 249; Blaurock in FS Stimpel, 1985, 553, 558 ff.; Stimpel in FS Goerdeler, 1987, S. 607 ff.; Wüst, DStR 1991, 1388, 1424. 55 Vgl. Lanfermann/Richard, BB 2008, 1610, 1611; Peters/Wüllrich, DB 2008, 2179, 2182 m. w. N. 56 EuGH v. 9.3.1999 – Rs. C-212/97 (Centros), RIW 1999, 447; so auch EuGH v. 5.11.2002 – Rs. C-208/00 (Überseering), RIW 2002, 945 und EuGH v. 30.9.2003 – Rs. C-167/01 (Inspire Art) = RIW 2003, 957. 57 Schall, ZGR 2009, 126, 127. 58 Gesetz zur Modernisierung des Bilanzrechts v. 26.5.2009, BGBl. I 2009, 1102. 59 K. Schmidt, GmbHR 2007, 1672; Ulmer, ZIP 2008, 45; Hirte, NZG 2008, 761; Wedemann, WM 2008, 1381. 60 Hirte, NZG 2008, 761, 762.

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Hat die GmbH noch eine Zukunft?

VI. Zusammenfassung Die GmbH hat sich in der Beratungspraxis als anpassungsfähig, flexibel und zuverlässig bewährt. Der vorliegende Beitrag will die GmbH als Rechtsform stärken, nicht alternativlos einen empfundenen Missstand kritisieren. Würde man das GmbH-Recht um das Mindestkapital und die Regelungen zur Aufbringung und Erhaltung des Stammkapitals bereinigen, sie mit anderen Worten streichen, entfielen die damit verbundenen Streitpunkte und die GmbH würde wieder die haftungsbeschränkte „leichte“ Rechtsform für kleine und mittelständische Unternehmen auf solider Rechts- und Rechtsprechungsbasis, die sie ursprünglich sein sollte und die sie auch heute noch attraktiv machen kann. Die Funktion des Stammkapitals sollte darauf reduziert werden, das Innenverhältnis der Gesellschafter zu ordnen, wie in der Praxis regelmäßig das Festkapital in der Kommanditgesellschaft. Zum Schutz der Gläubiger vermag es wenig beizutragen.61 Ihr Vertrauen auf das Mindest- bzw. Stammkapital auszurichten, ist – wie oben gezeigt – trügerisch. Ehrlicher und zudem effektiver ist es, die Offenlegung der wirtschaftlichen Verhältnisse zur Basis des Vertrauens des Rechtsverkehrs zu machen. „Selbstschutz durch Information“ – diese Maxime taugt nicht nur im Verbraucherschutz. Die ohnehin zunehmend auf einen „true and fair view“ hinstrebenden Publikationspflichten bieten dafür die besten Voraussetzungen. Dieser Überzeugung scheint man auch auf Europäischer Ebene zu sein: Die Entwürfe zur Schaffung einer Europäischen Privatgesellschaft (Societas Privata Europaea, kurz SPE), gedacht als auf die spezifischen Bedürfnisse von kleinen und mittelständischen Unternehmen angepasste haftungsbeschränkte Kapitalgesellschaft62 zur grenzüberschreitenden Betätigung im europäischen Binnenmarkt,63 verzichten bisher auf eine Mindestkapitalvorschrift.64 Wie der rechtsfähige und der nichtrechtsfähige Verein zeigen, ist bestimmtes statutarisches Eigenkapital auch kein unverzichtbares Prinzip der haftungsbeschränkten Rechtsform.65 In der Gründungssituation helfen die aktuellen Offenlegungspflichten zugegebenermaßen wenig. Die Eröffnungsbilanz allein ist wenig aussagekräftig. Aus

__________

61 Ebenso Haas, DStR 2006, 993, 1000. 62 Vgl. hierzu: Habighorst in MünchHdb. Gesellschaftsrecht, § 76 Rz. 5; Maul/Röhricht, BB 2008, 1574, 1575. 63 Verordnung des Rates KOM 2008 (396), Ziele des Vorschlags; Maul/Röhricht, BB 2008, 1574, 1575; Anzinger, BB 2009, 2606, 2607; Giedinghagen, NJW-Spezial 2008, 751, 751; Hommelhoff in FS Priester, 2007, S. 245, 250. 64 2982nd meeting – public debate (Internal, Market, Industry) v. 4.12.2009; kritisch dazu: Hennrichs, NZG 2009, 921, 922; Maul/Röhricht, BB 2008, 1574, 1578; Anzinger, BB, 2009, 2606, 2610; Greulich, Der Konzern 2009, 229, 233; Hommelhoff, WM 1997, 2101, 2104; Matyk sieht den Verzicht vor dem schwierigen Umfeld der Kreditvergabe und aufgrund der erhöhten Bonitätsforderungen von Basel II als inkohärent und nicht nachvollziehbar an (GPR 2009, 2, 6), unterstützend: Cannivé/Seebach, GmbHR 2009, 519, 520. 65 So bereits Haas, DStR 2006, 993, 995.

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Gläubigersicht wäre es da charmant, eine Unternehmensplanung für die Anlaufphase einsehen zu können. Aus ihr könnten die Gläubiger ersehen, welche Vorstellungen die Gründer über die zu erwartenden Anlaufinvestitionen haben und wie sie diese zu decken gedenken. Die geäußerten Planungen vermittelten zudem einen Eindruck von der Seriosität der Gründer. Entsprechende Überlegungen sollte jeder Gründer vor dem Eintritt in den Rechtsverkehr angestellt haben. Ihm ihre Niederlegung abzuverlangen, erscheint als „Gegenleistung“ für die Gewährung der Haftungsbeschränkung legitim. Um den dadurch entstehenden Aufwand zu begrenzen, aber auch im Interesse der Vergleichbarkeit und damit im Interesse der Gläubiger sollte die geforderte Unternehmensplanung anhand eines einheitlichen Fragebogens erstellt werden, der ausgefüllt mit den Gründungsunterlagen beim Handelsregister einzureichen und zu veröffentlichen wäre. Derart erleichtert könnte und würde die GmbH gestärkt in die Zukunft gehen.

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„Girmes“ wiedergelesen: Zur Treupflicht des Aktionärs im Sanierungsfall Inhaltsübersicht I. Ausgangspunkt: Durch „Girmes“ geklärte und offene Fragen 1. Einführung 2. Zum Entscheidungsinhalt 3. Die Rechtsprechung zur Treupflicht des Personengesellschafters in Sanierungsfällen 4. Offene Fragen im Aktienrecht II. Zum grundsätzlichen Ansatz: Treupflicht versus Aufopferungspflicht III. Zu den offenen Fragen 1. Einleitung 2. Treupflichtbindung als Individualpflicht

3. Voraussetzungen des treupflichtbedingten Blockadeverbots bei erforderlichen Sanierungen a) Allgemeine Voraussetzungen an die Erforderlichkeit eines Kapitalschnitts b) Muss die Sanierung mehrheitlich gewollt sein? 4. Rechtsfolgen des Blockadeverbots: Zustimmungspflicht oder Unterlassungspflicht? a) Pflicht zur Enthaltung oder zur Abgabe einer Ja-Stimme? b) Beschlussfeststellung durch den Versammlungsleiter IV. Zusammenfassung in Thesen

I. Ausgangspunkt: Durch „Girmes“ geklärte und offene Fragen 1. Einführung Es fällt schwer, Peter Hommelhoff einem bestimmten Gebiet des Gesellschaftsrechts zuzuordnen, zu vielseitig sind seine Interessen, und entsprechend weit gestreut auch seine Publikationen. Zugleich macht er es dem Schenker dadurch einfach: Dieser kann nach seinem Gusto auswählen und dennoch hoffen, mit seiner Geburtstagsgabe den Geschmack des Jubilars zu treffen. Der Verfasser hat für seine Wahl denn auch gleich zwei „Anker“ im Werk des Jubilars gefunden. So hat Hommelhoff sich schon früh Gedanken gemacht über Finanzierungsmaßnahmen zur Krisenabwehr in der Aktiengesellschaft (gemeinsam mit seinem Lehrer Lutter und seinem akademischen Bruder Timm),1 und er kommentiert (gemeinsam mit seinem Schüler Witt) im „Karsten Schmidt/Lutter“ § 117 AktG, eine Vorschrift also, die in der „Girmes-Entscheidung“ des BGH für die Bestimmung der Haftung treuwidrig handelnder Aktionäre eine wichtige Rolle gespielt hat. „Girmes“ zu erwähnen, heißt die Treu(pflicht)bindung einzelner Aktionäre in den Blick zu nehmen, das zentrale

__________ 1 BB 1980, 737–750.

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Thema des berühmt gewordenen Urteils des II. Zivilsenats des BGH von 1995.2 Es hatte erstmals die Treubindung (auch) von Minderheitsaktionären betont und Maßstäbliches zu den einzelnen Konsequenzen speziell in der Sanierungssituation ausgesprochen. Hierum soll es im Folgenden gehen und dabei sollen vor allem die bei „Girmes“ noch offengelassenen Fragen aus heutiger Sicht beantwortet werden, und zwar vor dem Hintergrund neuerer Entscheidungen zur Publikums-Personengesellschaft (dazu unter 3.). Vor einer solchen Feinabstimmung erscheint es freilich angebracht, sich noch einmal des Grundsätzlichen zu vergewissern und mit Rücksicht auf neuere Vorschläge im Schrifttum die Frage zu stellen, ob der Treupflichtansatz der h. M. unverändert das Richtige trifft oder zugunsten alternativer Konzepte aufgegeben werden sollte (dazu unter II.). 2. Zum Entscheidungsinhalt Zur Erinnerung: Im Jahre 1988 war die Girmes AG rechnerisch überschuldet und stand kurz vor der Insolvenz. Um diese abzuwenden, verhandelte der Vorstand mit den wichtigsten Gläubigern und erreichte so deren Bereitschaft, auf einen erheblichen Teil ihrer Forderungen zu verzichten. Bedingung hierfür war jedoch, dass das Grundkapital nominell im Verhältnis 5:2 zum Ausgleich der Unterbilanz herabgesetzt werden sollte, um auf diese Weise auch die Aktionäre an der Sanierung zu beteiligen. Der damalige Herausgeber des „Effektenspiegels“, Bolko Hoffmann, war jedoch der Ansicht, dass die Aktionäre hierdurch zu hart getroffen würden und warb erfolgreich um Stimmrechtsvollmachten mit dem Ziel, eine Herabsetzung im Verhältnis 5:3 durchzusetzen. Aufgrund der von ihm akquirierten Vollmachten gelang es ihm, eine Sperrminorität gegen den Vorschlag der Verwaltung in Stellung zu bringen, so dass dieser ebenso scheiterte wie sein eigenes Konzept. Die Gesellschaft musste Konkurs anmelden, so dass die Aktionäre ihr gesamtes Kapital verloren. Einige der geschädigten, nicht von ihm vertretenen Aktionäre klagten nun gegen Hoffmann. Drei Aussagen des „Girmes“-Urteils sind für das Thema besonders bedeutsam; die Leitsätze fassen sie wie folgt: (1) Auch dem Minderheitsaktionär obliegt eine Treupflicht gegenüber seinen Mitaktionären. Sie verpflichtet ihn, seine Mitgliedsrechte, insbesondere seine Mitverwaltungsund Kontrollrechte, unter angemessener Berücksichtigung der gesellschaftsbezogenen Interessen der anderen Aktionäre auszuüben.

Dass der Mehrheitsaktionär einer Treubindung nicht allein gegenüber der Gesellschaft, sondern auch gegenüber den Minderheitsaktionären unterliegt, hatte der Senat bereits in seiner „Linotype“-Entscheidung3 ausgesprochen und inso-

__________ 2 BGHZ 129, 136 = NJW 1995, 1739 mit Anm. Altmeppen = ZIP 1995, 819 = JZ 1995, 1064 mit Bespr. Lutter (1053) = AG 1995, 368 = BB 1995, 1201 = DB 1995, 1064 = WM 1995, 882 mit Bespr. Hennrichs, WuB II A. § 135 AktG 1.95. 3 BGHZ 103, 184, 194 ff. = ZIP 1988, 301.

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„Girmes“ wiedergelesen: Zur Treupflicht des Aktionärs im Sanierungsfall

fern durchaus Neuland betreten.4 Die „Girmes“-Entscheidung ergänzt diese Aussage lediglich hinsichtlich des Minderheitsaktionärs, weil dieser ebenfalls in eine Machtposition geraten könne, die ihn zur Rücksichtnahme auf die gesellschaftsbezogenen Belange seiner Mitgesellschafter verpflichte.5 Der Einzelaktionär verfüge zwar regelmäßig nicht über ausreichende Stimmrechtsmacht, um das Rücksichtnahmegebot „zum Tragen“ zu bringen. Das ändere sich aber, wenn er als Minderheitsgesellschafter eine Beteiligung erreiche, die es ihm ermögliche bestimmte Rechte zu erzwingen. Damit ist schon die Frage angedeutet, ob die Treubindung den Aktionär wirklich als einzelnen oder gleichsam nur in der – willentlich gebildeten – Gruppe, dann aber in verstärktem Umfang trifft, wie es insbesondere Dreher im Vorfeld der Entscheidung auf dem ZHR-Symposion 1993 vertreten hatte.6 In seinem dritten Leitsatz (hier als Nr. 2 wiedergegeben) hat der Senat die Frage formal unbeantwortet gelassen: (2) Erreichen mehrere Minderheitsaktionäre in ihrer Gesamtheit bei der Abstimmung in der Hauptversammlung die Voraussetzungen für eine Sperrminorität oder für die Durchsetzung eines Minderheitenrechts, wird die Treubindung für jeden von ihnen jedenfalls dann relevant, wenn sie sich auf eine einheitliche Stimmrechtsausübung verständigen (Stimmbindung) oder wenn sie unabhängig voneinander mit der Ausübung des Stimmrechts einen Dritten bevollmächtigen, der dafür gegenüber den Aktionären ein eigenes Konzept entwickelt oder der ihnen ein bestimmtes Abstimmungsverhalten empfiehlt (Stimmrechtsbündelung). Ob die Treupflicht auch bei einer zufällig eintretenden Antrags- oder Sperrminderheit Bedeutung erlangen kann, bleibt offen.

In den Gründen wird freilich schon angedeutet, dass der Senat dazu neigt, beide Fälle gleich zu behandeln: Die Frage, ob den Aktionär gegenüber seinen Mitgesellschaftern eine Treubindung treffe, so führt er nämlich aus, sei letztlich nicht nach dem Umfang der Pflichtbindung zu entscheiden, sondern nach dem Inhalt der in Rede stehenden Pflicht – konkret also nach dem Verbot, eine erforderliche Sanierung der Gesellschaft zu blockieren.7 Gehe man hiervon aus, so komme es für die Pflichtwidrigkeit der Handlung des einzelnen Aktionärs nicht darauf an, ob sich seine Machtposition zufällig ergebe oder Folge einer Abstimmung sei. Letztlich konnte der Senat die Frage deshalb offen lassen, weil auch die Voraussetzungen einer Stimmrechtsbündelung erfüllt waren. Den Inhalt der konkreten Pflicht hat er in seinem 2. Leitsatz sodann wie folgt bestimmt (hier als Nr. 3 wiedergegeben): (3) Aufgrund der unter den Aktionären bestehenden Treupflicht ist es dem einzelnen Aktionär nicht erlaubt, eine sinnvolle und mehrheitlich angestrebte Sanierung der Ge-

__________ 4 Nach Vorbereitung insbes. durch Zöllner, Die Schranken mitgliedschaftlicher Stimmrechtsmacht bei den privatrechtlichen Personenverbänden, 1963, S. 335 ff.; Lutter, JZ 1976, 225 ff.; Wiedemann in FS Barz, 1974, S. 561, 569. – Zu BGHZ 103, 184 = JZ 1989, 447 mit Anm. Wiedemann, zust. ferner Lutter, ZHR 153 (1989), 446; Hüffer in FS Steindorff, 1990, S. 59 ff.; Kort, ZIP 1990, 294; Henze in FS Kellermann, 1991, S. 141 ff. und ders., BB 1996, 489, 490. 5 BGHZ 129, 136, 143 ff. 6 Dreher, ZHR 157 (1993), 150, 153 ff. 7 So BGHZ 129, 136, 147 unter Berufung auf einen Diskussionsbericht des Verf. (ZHR 157 [1993], 192 f.) sowie auf Zöllner (Fn. 4), S. 345, 359, wo dieser einen Bezug zwischen Beschlussgegenstand und Zweckverfolgung herstellt.

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Carsten Schäfer sellschaft – einschließlich einer zum Sanierungskonzept gehörenden Kapitalherabsetzung – aus eigennützigen Gründen zu verhindern.

Der Senat betont zunächst, dass die Treubindung gegenüber der Gesellschaft in der Sanierungssituation nicht relevant sei, weil kein Aktionär verpflichtet sei, sie am Leben zu halten. Gegenüber ihren Aktionären genieße die Gesellschaft keinen Bestandsschutz, weil diese jederzeit ihre Auflösung beschließen könnten; zudem beschränke das Gesetz die Förderpflicht der Aktionäre auf die Einlageleistung (§ 54 AktG).8 Wohl aber folge aus der Treupflicht gegenüber den übrigen Gesellschaftern das Verbot, eine sinnvolle und mehrheitlich angestrebte Sanierung aus eigennützigen Gründen zu verhindern. Auch im Personengesellschaftsrecht und für die GmbH habe der Senat aus der Treupflicht die Verpflichtung des Gesellschafters hergeleitet, in besonders gelagerten Ausnahmefällen der Anpassung des Gesellschaftsvertrages an veränderte Umstände zuzustimmen. Einer positiven Zustimmung habe es zur Erreichung der erforderlichen Dreiviertelmehrheit im Fall „Girmes“ aber gar nicht bedurft, weil schon eine Enthaltung zur ausreichenden Mehrheit geführt hätte. Konkret setze das aus der Treupflicht abgeleitete Blockadeverbot nicht nur voraus, dass die Sanierung sinnvoll und mehrheitlich angestrebt sei, sondern auch, dass der Zusammenbruch der Gesellschaft bei Scheitern der Sanierungsmaßnahme unvermeidlich und im Falle des Zusammenbruchs die Stellung des einzelnen Gesellschafters ungünstiger sei als beim Austritt aus der fortbestehenden Gesellschaft. Das Sanierungskonzept müsse bei objektiver Betrachtung nachhaltigen Erfolg versprechen und dürfe nicht durch eine weniger einschneidende Maßnahme ersetzbar sein. Im Fall hatten die Kläger vorgetragen und unter Beweis gestellt, dass die Gesellschaft rechnerisch überschuldet gewesen sei und die Gläubiger ihre Zustimmung zum Sanierungskonzept von einem Kapitalschnitt i. H. v. 5:2 abhängig gemacht hätten. Innerhalb der dreiwöchigen Konkursantragsfrist seien weitere Verhandlungen mit den Gläubigern nicht mehr möglich gewesen.9 Das hielt der Senat für relevant und verwies zur Beweisaufnahme an das Berufungsgericht zurück. 3. Die Rechtsprechung zur Treupflicht des Personengesellschafters in Sanierungsfällen Wie eine Entscheidung des BGH von Januar 2011 erneut klargestellt hat, können auch die Gesellschafter einer (Publikums-)Personengesellschaft im Sanierungsfall grundsätzlich nicht vor die Alternative „Beitragen oder Ausscheiden“ gestellt werden. Der Fall betraf eine sanierungsbedürftige, aber nicht überschuldete Gesellschaft, der mittelfristig Zahlungsunfähigkeit drohte.10 Allein der Krisenfall rechtfertige es noch nicht, so der Senat, die Gesellschafter für

__________

8 BGHZ 129, 136, 151 f. 9 BGHZ 129, 136, 153 f. 10 Die Gesellschaft legte 2005 ein „Bestandssicherungskonzept“ vor, weil „sie eine wachsende strukturelle Unterdeckung erwirtschafte und ihr ohne Umsetzung geeigneter Sanierungsmaßnahmen spätestens 2009 die Zahlungsunfähigkeit drohe“, s. Sachverhalt ZIP 2011, 768 f.

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„Girmes“ wiedergelesen: Zur Treupflicht des Aktionärs im Sanierungsfall

verpflichtet anzusehen, entweder selbst zur Sanierung beizutragen oder aus der Gesellschaft auszuscheiden.11 Dem ist zuzustimmen; denn ein Nachschussdruck wäre mit der Wertung des § 707 BGB unvereinbar; statt dessen müssen die Gesellschafter, wie im Kapitalgesellschaftsrecht, lediglich einen Kapitalschnitt, namentlich also eine damit verbundene nominelle Kapitalherabsetzung hinnehmen.12 Spitzt sich die Krise freilich zu, so ändert sich auch die Rechtslage: In seiner vielbeachteten Entscheidung „Sanieren oder Ausscheiden“13 hat der II. Senat die Gesellschafter einer rechnerisch überschuldeten, aber sanierungsfähigen Publikums-OHG in der Tat vor die Wahl gestellt, sich entweder an einer aussichtsreichen Sanierung mit neuen Einlagen zu beteiligen oder aber mit der Folge auszuscheiden, einen fiktiven Auseinandersetzungsfehlbetrag anteilig ausgleichen zu müssen. Der vom Senat geprägte Leitsatz besagt, dass die „nicht zahlungsbereiten Gesellschafter aus gesellschafterlicher Treuepflicht jedenfalls dann verpflichtet [sind], diesem Gesellschafterbeschluss [über ihr Ausscheiden] zuzustimmen, wenn sie infolge ihrer mit dem Ausscheiden verbundenen Pflicht, den auf sie entfallenden Auseinandersetzungsfehlbetrag zu leisten, finanziell nicht schlechter stehen als sie im Falle der sofortigen Liquidation stünden.“ Diese Aussage hat im Grundsatz viel Zustimmung erfahren,14 doch auch zu Kritik Anlass gegeben, was die Bemessung des nach § 739 BGB von den ausgeschiedenen Gesellschaftern geschuldeten Fehlbetrages betrifft.15 Im Ausgangspunkt ist ihr freilich allemal zuzustimmen; denn im Falle einer rechnerisch überschuldeten, aber sanierungsfähigen Gesellschaft ist es unter bestimmten Voraussetzungen erforderlich und zulässig, das Festkapital der Gesellschaft auf Null herabzusetzen und die Gesellschafter deshalb aus wichtigem Grund auszuschließen. Das ist auch deshalb richtig, weil in der Kapitalgesellschaft eine (nominelle) Kapitalherabsetzung auf Null schon automatisch zum Ausscheiden derjenigen Gesellschafter führt, die sich nicht an der effektiven Kapitalerhöhung beteiligen.16 Hinsichtlich der Voraussetzungen der Zustimmungspflicht verweist der Senat gerade auch auf die „Girmes“-Entscheidung. Allgemein müsse eine Änderung des Gesellschaftsvertrags dringend erforderlich und dem Gesellschafter zumutbar sein, damit der Gesellschafter kraft Treubindung zur Zustimmung verpflichtet ist.17 Diese Voraussetzungen seien erfüllt, weil „der Versuch, die Klägerin unter Aufbringung neuen Kapitals zu sanieren – verglichen mit den

__________ 11 12 13 14

BGH, ZIP 2011, 768, 771, Rz. 22 ff. Näher dazu Schäfer in FS Ganter, 2010, S. 33, 35 ff. BGH, ZIP 2009, 2289 = JZ 2010, 153 mit Bespr. K. Schmidt (125 ff.). Wahl/Schult, BB 2010, 14; Wagner, NZG 2009, 1378, 1381; grds. zust. auch K. Schmidt, JZ 2010, 125; Armbrüster, EWiR 2009, 739; Römermann, NZI 2009, 910 f. 15 Schäfer in FS Ganter, 2010, S. 33, 41 ff. 16 Dazu, dass die Personengesellschafter in diesem Fall kein schutzwürdiges Interesse am Verbleib in der Gesellschaft haben, vgl. Schäfer in BRV (Hrsg.), Stärkung des Anlegerschutzes – Neuer Rechtsrahmen für Sanierungen (Bankrechtstag 2011), 2012, S. 89 ff. 17 BGH, ZIP 2009, 2289, 2291, Rz. 23 ff.

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Folgen der ansonsten unstreitig unvermeidlichen Zerschlagung – wirtschaftlich sinnvoll“ gewesen sei. Die Gesellschaft sei 2002 sowohl zahlungsunfähig als auch überschuldet gewesen mit der Folge, dass im Falle der Liquidation ein Fehlbetrag von insgesamt ca. 133 % des Festkapitals entstanden wäre. Das Konzept beruhte auf Eigenleistungen der Gesellschafter i. H. v. ca. 60 % des Festkapitals, bei deren Erreichen sich Gläubigerbanken zu einem Forderungsverzicht bereit erklärt hatten, der mit ca. 30 % zum gesamten Sanierungsbedarf (ca. 6,7 Mio. Euro) beitrug. Angesichts der sehr guten Vermietungssituation des Immobilienfonds und des mit der Fortführung der Gesellschaft verbundenen Erhalts öffentlicher Fördermittel sei die Fortführung, gemessen an den Zerschlagungsfolgen, „nicht von vornherein sinnlos“ gewesen. 4. Offene Fragen im Aktienrecht Vor dem Hintergrund der unter 2. und 3. dargestellten Rechtsprechung sind insbesondere folgende Fragen sinnvollerweise zu beantworten: (1) Ist für die Treupflichtbindung der Gesellschafter an eine – willentlich herbeigeführte – Blockadeposition oder an den Inhalt des konkreten (Sanierungs-)Beschlusses anzuknüpfen, so dass auch eine zufällig eintretende Sperrminorität relevant ist? (2) In welcher Situation löst ein Sanierungskonzept das Blockadeverbot aus; ist hierfür entscheidend, dass die Sanierung „mehrheitlich angestrebt“ wird? (3) Verpflichtet das Blockadeverbot zu einem Unterlassen bzw. zur Stimmenthaltung oder kann es darüber hinaus auch zur Abgabe von Ja-Stimmen verpflichten? (4) Welche Möglichkeiten zur Durchsetzung des Blockadeverbots bestehen; kann insbesondere der Versammlungsleiter die treuwidrigen Stimmen unberücksichtigt lassen?

II. Zum grundsätzlichen Ansatz: Treupflicht versus Aufopferungspflicht Georg Bitter hat auf dem ZGR-Symposion 2010 einen erweiterten Ansatz zur Auflösung von Blockadepotentialen und zur Lösung des Trittbrettfahrerproblems im Sanierungsfall vorgestellt, der über den Treupflichtansatz der h. M. hinausgeht. Dessen wesentliche Schwäche sieht er darin, dass eine Bindung der Gesellschafter gegenüber den Gläubigern wie auch der Gläubiger untereinander bislang nicht anerkannt, nach seiner Ansicht in der Sanierungssituation aber notwendig ist, wobei er vor allem die Sanierung im Insolvenzverfahren im Auge hat, und zwar aufgrund eines Insolvenzplans.18 Die richtige Lösung liege in der konsequenten Durchführung des Aufopferungsgedankens: Wenn für die (Intensität der) Treubindung das Maß zwischen Einfluss und Verantwortung

__________ 18 Bitter, ZGR 2010, 147, 151 ff.

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entscheidend sei, so zeige dies bereits, dass eine vertragliche Grundlage zur Begründung von Rücksichtspflichten nicht unerlässlich sei, zumal sich auch innerhalb (gesellschafts-)vertraglicher Beziehungen höchst unterschiedliche Bindungsgrade zeigten (von der Publikumsgesellschaft bis zur personalistisch strukturierten Gesellschaft mit wenigen Mitgliedern). Ein relevanter Einfluss bestehe nicht nur innerhalb vertraglicher Bindung, und bestimmte Vorschriften der InsO, namentlich § 135 Abs. 3 InsO, legten zudem nahe, dass ein solcher Einfluss auch in der Sanierung pflichtbegründend sein könne; sie beruhten auf dem Gedanken der Aufopferung, der im Aktienrecht etwa auch beim Squeeze-Out nach §§ 327a ff. AktG begegne.19 Auch im Falle „Girmes“ sei weniger die – nur schwach ausgeprägte – vertragliche Bindung als vielmehr die Intensität der Einwirkungsmacht entscheidend gewesen und es somit eher um die Idee der Aufopferung gegangen: Im Interesse der Gemeinschaft der Sanierungsbeteiligten müsse der einzelne Gesellschafter sein Eigeninteresse zurückstellen, da eine Blockade der Sanierung auch die Vermögenssphäre der Mitgesellschafter erheblich tangiere; er habe lediglich Anspruch auf einen (vollen) Ausgleich der hingegebenen Vermögensposition, der aber im Sanierungsfall regelmäßig kein positiver Wert mehr zukomme.20 Diese (und ähnliche) Überlegungen haben offenbar den Gesetzgeber im Ansatz überzeugt, so dass er im ESUG 2011 bestimmte Instrumente zur Effektuierung des Planverfahrens geschaffen hat: Nach § 217 Satz 2 InsO können die „Anteils- oder Mitgliedschaftsrechte der am Schuldner beteiligten Personen in den Plan einbezogen werden“, eine Regelung, die Karsten Schmidt umgehend als „geradezu revolutionär“ bezeichnet hat.21 Die Gesellschafter werden Beteiligte des Insolvenzplanverfahrens, und der Insolvenzplan kann grundsätzlich jede Regelung treffen, die auch gesellschaftsrechtlich getroffen werden könnte (§ 225a Abs. 3 InsO). Die Gesellschafter stellen sodann lediglich eine von mehreren Gruppen dar, die dem Plan jeweils mehrheitlich zustimmen müssen, und zwar nicht in einer Hauptversammlung, sondern nach Maßgabe der insolvenzrechtlichen Verfahrensregeln. Das auf die Gesellschafter erstreckte insolvenzrechtliche Obstruktionsverbot macht deren Zustimmung sogar vollends entbehrlich, wenn kein Gläubiger mehr als die volle Befriedigung erhält und kein Gesellschafter schlechter gestellt wird als er ohne Plan, also bei Zerschlagung der Gesellschaft, stünde (§ 245 Abs. 3 InsO). Auf diese Weise lässt sich insbesondere ein Kapitalschnitt in der Regel auch ohne Zustimmung der Gesellschaftermehrheit durchsetzen; er kann gemäß § 225a InsO zusätzlich mit einem sog. debt equity swap,22 also einer Umwandlung von Forderungen in Eigenkapital, verbunden werden, und zwar unter Ausschluss des Bezugsrechts der Altgesellschafter. Konsequentermaßen werden die Gesellschafter außerdem auf einen stark ausgedünnten insolvenzrechtlichen Rechtsschutz beschränkt,

__________ 19 Bitter, ZGR 2010, 147, 172 ff. 20 Bitter, ZGR 2010, 147, 178 f. 21 K. Schmidt, BB 2011, 1603, 1607 mit Überblick über die geplanten Neuregelungen zur Gesellschafterbeteiligung. 22 Dazu etwa Brinkmann, WM 2011, 97, 99.

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sobald das Insolvenzgericht dem Plan zugestimmt hat,23 und auch die Planbestätigung selbst kann nur mit dem Argument verhindert werden, dass der Plan die Gesellschafter schlechter stelle als sie ohne Plan, also bei Zerschlagung des Unternehmens, stünden (§ 251 InsO). Dieser Regelung und namentlich dem Obstruktionsverbot liegt erkennbar der beschriebene Aufopferungsgedanke zugrunde. Freilich dürfte er damit auch gleichsam gesetzlich konsumiert sein, so dass die Regelung im ESUG einer über den geregelten Fall hinausgehenden Anwendung tendenziell entgegensteht. Es ist deshalb sehr zweifelhaft, ob man mit Bitter aus § 199 InsO noch ein allgemeines Verwertungsrecht des Insolvenzverwalters in Bezug auf Gesellschaftsanteile herleiten kann.24 Nachdem der Gesetzgeber im ESUG eigene Regeln (nur) für das Planverfahren geschaffen hat, erscheint ein allgemeines Verwertungsrecht praeter legem nur noch schwer begründbar. Wie im „Akkordstörer“-Urteil des BGH erkennbar,25 kann sich zwar auch außerhalb eines gesetzlich geordneten Verfahrens ein erheblicher Einfluss einzelner – nicht kooperationsbereiter – Gläubiger aus Sanierungsverhandlungen ergeben; doch muss die Etablierung des Aufopferungsgedankens hier ohne jede gesetzliche Anknüpfung auskommen und deshalb fragwürdig bleiben.26 Hinzu kommt: Soweit es allein um das Verhältnis der Gesellschafter untereinander bzw. zwischen Gesellschaft und ihren Mitgliedern geht, ist es letztlich belanglos, ob man hier die – in der Sache von Bitter erst recht betonte – Pflichtbindung auf die Treupflicht oder auf den Aufopferungsgedanken stützt. Für die Beantwortung der unter I. 4. skizzierten Fragen dürfen von der Aufopferungsidee keine neuen Erkenntnisse erwartet werden; tendenziell erschwert sie durch Überbetonung der Einwirkungsintensität vielleicht sogar deren Beantwortung, zumal die Treupflicht richtigerweise als Individualpflicht ausgestaltet ist (näher III. 2). Insgesamt zwingt der Aufopferungsansatz somit für die Bestimmung der Pflichtbindung zwischen den Gesellschaftern nicht zu einem Paradigmenwechsel. Sein Verdienst besteht insofern vielmehr darin, Gründe dafür zu beschreiben, dass die Gesellschafter in einer Sanierungssituation ihre nurmehr formale Rechtsposition „aufzuopfern“ haben, weil (und soweit) nämlich ihre Anteile wirtschaftlich entwertet sind, was allerdings nur für die Situation nach einem eröffnetem Insolvenzverfahren (regelmäßig) plausibel ist.27

__________ 23 § 253 InsO sieht als Rechtsmittel gegen den gerichtlich bestätigten Plan die Beschwerde vor, die gemäß § 253 Abs. 4 InsO in einer Art insolvenzrechtlichem Freigabeverfahren zudem auf Antrag des Insolvenzverwalters unverzüglich zurückzuweisen ist, „wenn das alsbaldige Wirksamwerden des Insolvenzplans vorrangig erscheint, weil die Nachteile einer Verzögerung des Planvollzugs nach freier Überzeugung des Gerichts die Nachteile für den Beschwerdeführer überwiegen.“ Der Beschwerdeführer ist in diesem Fall auf Schadensersatzansprüche aus der Masse beschränkt. 24 Bitter, ZGR 2010, 147, 192 f. 25 BGHZ 116, 319. 26 Vgl. nur den Hinweis bei K. Schmidt, BB 2011, 1603, 1604 und den Bericht zum Meinungsstand bei Bitter, ZGR 2010, 147, 164–167. 27 Hierauf beschränken sich die Ausführungen Bitters, ZGR 2010, 147, 192 mit Fn. 232.

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III. Zu den offenen Fragen 1. Einleitung Nachdem sich unter II. gezeigt hat, dass es für die Beantwortung der bei „Girmes“ offen gebliebenen Fragen zwar beim Treupflichtansatz bleiben sollte, dass aber die Sanierungssituation in besonderer Weise Eingriffe in die häufig nurmehr formale Rechtsposition der Aktionäre rechtfertigt, soll im Folgenden untersucht werden, wie sich diese, auch durch das ESUG im Ansatz bestätigten Erkenntnisse auf der Basis des Treupflichtansatzes umsetzen lassen. Wie zu zeigen sein wird, erscheint es durchaus veranlasst, die Akzente im Detail etwas zu verschieben, um auch außerhalb des Insolvenz(plan)verfahrens ein effizientes Instrumentarium zur Durchsetzung sinnvoller Sanierungskonzepte zu gewinnen. 2. Treupflichtbindung als Individualpflicht Der erste Punkt betrifft die bei „Girmes“ offengelassene Frage, ob die Treupflicht wirklich nur Minderheitsaktionäre mit – gezielt herbeigeführter – Sperrminorität trifft oder jeden Aktionär für sich und unabhängig von jeder Form der Abstimmung. Wie die Urteilsgründe zeigen, neigte schon der Senat dazu, jeden einzelnen Aktionär unmittelbar der Treupflicht zu unterwerfen – nur brauchte er dies nicht zu entscheiden, weil im Fall „Girmes“ eine abgestimmte Ausübung der Stimmrechte in Gestalt einer Stimmbündelung durch gemeinsamen Vertreter vorlag. Schon bald nach der Entscheidung stellte indessen Henze, Berichterstatter im „Girmes“-Verfahren, klar, dass der von Dreher vertretene Ansatz einer „wirkungsbezogenen“ Treupflicht28 abzulehnen sei und sich die Frage einer Zustimmungspflicht allein nach dem jeweiligen Beschlussgegenstand, also nach inhaltlichen Kriterien, zu richten habe. Dass eine eventuelle Pflichtverletzung wirkungslos bleibe, wenn der Beschluss auch ohne den dissentierenden Gesellschafter durch ausreichende Mehrheit zustande komme, sei keine Frage des Entstehens der Treupflicht, sondern allein eine solche der Kausalität.29 Diese Sichtweise hat sich weitgehend durchgesetzt,30 ihr ist auch unbedingt zuzustimmen. Gewiss sind treupflichtbedingte Zustimmungspflichten bzw. Blockadeverbote nur unter besonderen Voraussetzungen anzuerkennen. Wo aber diese Voraussetzungen, namentlich in einer Sanierungssituation, erfüllt sind (dazu unter 3.), erzeugen die Situation selbst und der auf ihre Beseitigung zie-

__________ 28 Dreher, ZHR 157 (1993), 150, 158 ff. 29 Henze, BB 1996, 489, 496 in Anschluss an Hennrichs, AcP 195 (1995), 221, 237 und dens., WuB II A § 135 AktG. 30 Vgl. nur Bungeroth in MünchKomm. AktG, 3. Aufl. 2008, Vor § 53a AktG Rz. 26; Fleischer in K. Schmidt/Lutter, 2. Aufl. 2010, § 53a AktG Rz. 50; Hüffer, 9. Aufl. 2010, § 53a AktG Rz. 17; Drygala in KölnKomm. AktG, 3. Aufl. 2011, § 53a AktG Rz. 94; Lutter, JZ 1995, 1053, 1054; Marsch-Barner, ZIP 1996, 853, 854; Ronge, Positive Treubindung auf Verfassungsebene, 2011, S. 300 f., alle m. w. N.

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lende Inhalt entsprechender Beschlussanträge eine Stimmpflicht, und zwar unabhängig davon, ob der einzelne Aktionär sich zuvor um eine Sperrminorität bemüht hat, eine solche sich zufällig ergibt oder der Beschlussantrag eine ausreichende Mehrheit findet, so dass es auf die treuwidrig abgegebene Stimme letztlich nicht mehr ankommt – was die Pflichtverletzung aber nicht entfallen lässt. Es mag in der Publikumsgesellschaft geboten sein, für an ein bestimmtes Stimmverhalten anknüpfende Schadensersatzansprüche engere Voraussetzungen zum Schutze des einzelnen Aktionärs aufzustellen, als sie im allgemeinen gelten – der Senat hat in „Girmes“ in Anlehnung an § 117 AktG vorsätzliches Verhalten gefordert –; für die Frage der Pflichtbindung als solche, also gleichsam der Primärpflicht, bedarf es hingegen solcher Schutzmechanismen nicht: Ist die Zustimmung zu einer Vertragsänderung geboten und den Aktionären zumutbar, dann trifft dies nicht nur auf eine Gruppe von Aktionären, sondern auch auf jeden einzelnen zu. Mit der heute ganz h. M. ist deshalb festzuhalten, dass die aus der Treupflicht hergeleiteten Rücksichtnahmeund Zustimmungspflichten Individualpflichten sind, also jeder Aktionär jeweils für sich gebunden ist. Abschließend sei noch angemerkt, dass es durchaus zweifelhaft ist, ob nicht auch die Treupflicht gegenüber der Gesellschaft als Grundlage für das Blockadeverbot angesehen werden kann. Der BGH hat dies, wie gesehen, mit der Begründung abgelehnt, dass die Aktionäre über die Auflösung frei entscheiden könnten und die Gesellschaft deshalb gegenüber ihren Aktionären keinen Bestandsschutz genieße (oben I. 2). Dieses Argument wiegt aber nicht sehr schwer; denn solange die Auflösung nicht mit der dafür erforderlichen Mehrheit beschlossen wurde, ist nicht recht einzusehen, warum die Treubindung schon durch die theoretische Möglichkeit zur Auflösung aufgehoben sein sollte. Eine Minderheitsauffassung leitet das Blockadeverbot deshalb – zusätzlich oder ausschließlich – aus der Treubindung gegenüber der Gesellschaft ab.31 Andererseits sind Träger der für Grundlagenänderungen relevanten Verbandsautonomie nach h. M. allein die Gesellschafter.32 Weil es auf die Frage jedoch im Ergebnis nicht ankommt, mag sie an dieser Stelle offen bleiben.

__________ 31 Lutter, ZHR 153 (1989), 446, 468 (sowohl als auch); Schwab in K. Schmidt/Lutter, § 243 AktG Rz. 11 (ausschließlich). Die gegenteilige h. M. (außer „Girmes“, hier nur Hennrichs, AcP 195 [1995], 221, 260; Henze, ZHR 162 [1998], 186, 192) ist jüngst mit dem Argument verteidigt worden, dass der Verband auf der Ebene seiner Verfassung keine Interessen haben könne, Ronge (Fn. 30), S. 48 ff., 281 ff. 32 So die h. M. (Nachw. bei Ronge [Fn. 30], S. 44 ff.), anders im älteren Schrifttum freilich Flume, Juristische Person, 1983, S. 211 f.; Teubner, ZGR 1986, 565, 568 f. (hinsichtlich Änderungen der Verbandsverfassung gehe es stets um einen Konflikt zwischen Mitglied und Verband).

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3. Voraussetzungen des treupflichtbedingten Blockadeverbots bei erforderlichen Sanierungen a) Allgemeine Voraussetzungen an die Erforderlichkeit eines Kapitalschnitts aa) Zu den Anforderungen an die Sanierungssituation und zur Notwendigkeit einer Unternehmensbewertung Was sind nun die Voraussetzungen des vom Senat in der „Girmes“-Entscheidung formulierten Blockadeverbots, das sich dort in einer Pflicht zur Stimmenthaltung niederschlug? Der Senat nimmt in der „Girmes“-Entscheidung Maß an seiner Rechtsprechung zur Zustimmungspflicht zu Vertragsänderungen bei Personengesellschaft und GmbH und orientiert sich umgekehrt in den neueren Entscheidungen zur Publikumspersonengesellschaft – namentlich in „Sanieren oder Ausscheiden“ (oben I. 3) – explizit an der „Girmes“-Entscheidung. In der Tat besteht kein überzeugender Grund, die primäre Stimmpflicht in der Sanierungssituation rechtsformspezifisch auszugestalten; dass möglicherweise anderes für die (sekundäre) Schadensersatzpflicht gilt, braucht hier nicht zu interessieren. Im Grundsatz stimmen die erwähnten Entscheidungen denn auch darin überein, dass ein Blockadeverbot in Bezug auf einen sanierenden Kapitalschnitt nur in Betracht kommt, wenn die Gesellschaft ohne Durchführung der geplanten Sanierung „zusammenbräche“ und der einzelne Gesellschafter dann (erwartungsgemäß) deutlich schlechter stünde als nach der Sanierungsmaßnahme – dies entspricht insofern vollauf der Betrachtungsweise des ESUG in Bezug auf das dort für Gesellschafter eingeführte Obstruktionsverbot (oben II.). Wie gesehen, setzt das ESUG allerdings voraus, dass die Mitgliedschaft nurmehr eine formale Rechtsposition darstellt, wirtschaftlich also entwertet ist. Das kann in der Insolvenzsituation, also nach Verfahrenseröffnung, plausibel angenommen werden, mag aber bei Sanierungen außerhalb einer schon eingetretenen Insolvenz zweifelhaft sein. Freilich verweist das vom Senat eingesetzte Kriterium des anderenfalls drohenden Zusammenbruchs auf die unmittelbare Nähe zur Insolvenz, und in der Tat: Soll die Sanierung eine sonst unvermeidliche Insolvenz abwenden, liegt es nicht fern, dass schon im Vorfeld der Insolvenz von einer Entwertung der Anteile auszugehen ist. Dennoch stellt sich (auch) hier zum einen die Frage, ob für die Feststellung der durch eine vereinfachte Kapitalherabsetzung auszugleichenden Unterbilanz und/oder für die Bemessung des Ausgabebetrages bei der anschließenden Kapitalerhöhung eine sachverständige Unternehmensbewertung erforderlich ist. Zum anderen erscheint eine kategorische Beschränkung der Stimmpflicht auf unmittelbar insolvenzabwendende Sanierungen fragwürdig; denn auch wenn die Gesellschaft noch nicht unmittelbar insolvenzbedroht ist, kann sie dringenden Kapitalbedarf haben, um ihr Überleben mittelfristig zu sichern. Ein Blick auf die Voraussetzungen einer nominellen Kapitalherabsetzung erweist sich insofern als weiterführend. Er zeigt zum einen, wie Aktionärsinteressen angemessen zu berücksichtigen sind, und zum anderen, dass Stimmpflichten nicht erst in der drohenden Insolvenz der Gesellschafter zur Debatte stehen:

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§ 229 AktG verlangt für einen Kapitalschnitt zunächst lediglich, dass der durch den Herabsetzungsbetrag abzudeckende Verlust voraussichtlich dauerhaft und nach kaufmännischen Grundsätzen vertretbar ermittelt werden muss, ohne dass zwingend eine Sonderbilanz oder gar eine vollständige Unternehmensbewertung erforderlich wäre.33 Freilich sind die Anforderungen an die sachliche Fundierung der Verluste zum Schutz der Gesellschafter ernst zu nehmen,34 zumal § 232 AktG (Einstellung zu hoch angenommener Verluste in Kapitalrücklage) allein dem Gläubigerschutz dient, weshalb die Praxis regelmäßig einen Zwischenabschluss empfiehlt.35 In seinem „Sachsenmilch“-Urteil hat der BGH zwar entschieden, dass auch der (isolierte) Herabsetzungsbeschluss keiner sachlichen Rechtfertigung bedarf, der Schutz der Aktionäre vielmehr abschließend durch § 222 Abs. 4 AktG gewährleistet wird, weil nicht schon bei Herabsetzung des Nennbetrags, sondern erst im Falle einer Zusammenlegung in Aktionärsrechte eingegriffen wird.36 Bei extremen Herabsetzungsverhältnissen (im Fall „Sachsenmilch“ 750:1) besteht allerdings die Gefahr, dass Aktionäre mit kleinen Beteiligungen ganz aus der Gesellschaft gedrängt werden, was bei der Beurteilung einer Zustimmungspflicht selbstverständlich zu berücksichtigen ist. In solchen Fällen muss also die Herabsetzung mit einer effektiven Kapitalerhöhung kombiniert werden, um die Rechtsstellung der Aktionäre ausreichend zu wahren, ferner darf das Bezugsrecht dann nicht ausgeschlossen werden,37 was bei einer gem. § 228 Abs. 1 AktG (bis zur Auffüllung des Mindestbetrages) erforderlichen Barkapitalerhöhung allerdings ohnehin nur schwer begründbar wäre.38 Außerdem kommt eine Zustimmungspflicht richtigerweise nur in Frage, wenn der Kapitalerhöhungsbeschluss für die neuen Aktien einen angemessenen Ausgabebetrag i. S. von § 255 Abs. 2 AktG festsetzt, und zwar auch dann, wenn das Bezugsrecht nicht ausgeschlossen wird. Denn das Ermessen zur freien Bestimmung des Ausgabebetrages gemäß § 182 Abs. 3 AktG39 steht eben nur einer qualifizierten Mehrheit gemäß § 182 Abs. 1 AktG zu. Auch dies bedeutet aber nach richtiger Ansicht nicht, dass vor der Kapitalerhöhung notwendigerweise eine (volle) Unternehmensbewertung nach IDW S1 von Vorstand oder externen Gutachtern durchgeführt werden müsste.40 Vielmehr ist ausreichend – aber auch erforderlich –, dass der Vorstand auf der Basis angemessener Information

__________

33 S. nur BGHZ 119, 305, 321; OLG Frankfurt, AG 1989, 207, 208; Hüffer (Fn. 30), § 229 AktG Rz. 8, 16; Henze, ZHR 162 (1998), 186, 194 f. 34 OLG Frankfurt, AG 1989, 207, 208. 35 Oechsler in MünchKomm. AktG, 3. Aufl. 2011, § 229 AktG Rz. 22; Krieger in MünchHb. AG, 3. Aufl. 2007, § 61 AktG Rz. 6. 36 BGHZ 138, 71, 76 f. = NJW 1998, 2054 = ZIP 1998, 692, 695; Oechsler (Fn. 35), § 229 AktG Rz. 27 f. 37 Bei „Sachsenmilch“ stellte sich diese Frage mangels ausreichender Mehrheit nicht; der in Betracht kommende Sanierer war zudem allein am Verlustvortrag interessiert, s. BGHZ 138, 71 = ZIP 1998, 692, 694; dazu auch Hüffer (Fn. 30), § 222 AktG Rz. 14. 38 S. nur Oechsler (Fn. 35), § 228 AktG Rz. 5. 39 Dazu nur Hüffer (Fn. 30), § 182 AktG Rz. 23 (allgM). 40 Hüffer in MünchKomm. AktG, § 255 AktG Rz. 17 und Hüffer (Fn. 30), § 255 AktG Rz. 6; s. a. Stilz in Spindler/Stilz, 2. Aufl. 2010, § 255 AktG Rz. 20: entscheidend sei die Vertretbarkeit von Methode, Annahmen und Prognosen.

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zu einer kaufmännischen Schätzung gelangt, welcher volle Wert (unter Berücksichtigung stiller Reserven und des Geschäftswerts) dem Unternehmen beizulegen ist.41 Der Verzicht auf ein Bewertungsgutachten und die Zubilligung einer Bewertungsbandbreite gilt erst recht, sofern das Bezugsrecht nicht ausgeschlossen wird: Denn die Aktionäre, die den Ausgabebetrag für unangemessen niedrig halten, haben dann die Möglichkeit, ihrerseits den (vermeintlich) zu günstigen Ausgabepreis durch Zeichnung neuer Aktien zu realisieren. Die Überlegungen zeigen: Im Allgemeinen sind die Aktionäre bei einem Kapitalschnitt durch ihr Bezugsrecht sowie durch § 222 Abs. 4 AktG ausreichend geschützt. Die nominelle Kapitalherabsetzung muss zwingend mit einer effektiven Kapitalerhöhung kombiniert werden, wenn anderenfalls aufgrund des extremen Zusammenlegungsverhältnisses ein Hinausdrängen von Kleinaktionären zu befürchten wäre. In diesem Falle muss bei der Kapitalerhöhung zudem ein möglichst geringer Nennbetrag (bzw. anteiliger Betrag) gewählt werden.42 Eine Zustimmungspflicht kommt in allen diesen Fällen in Betracht, wenn der Ausgabebetrag für die neuen Aktien angemessen ist. Für dessen Ermittlung ist aber allemal dann ein großzügiger Maßstab anzulegen, wenn und soweit das Bezugsrecht nicht ausgeschlossen ist; auch unabhängig hiervon muss der Vorstand jedenfalls keine vollständige Unternehmensbewertung durchführen (lassen). Im Übrigen ist selbstverständlich eine (nominelle) Kapitalerhöhung nur insofern zulässig, als sie voraussichtlich dauerhaft eingetretene Verluste abdecken soll. Werden diese Anforderungen beachtet, so kann eine Pflicht zur Zustimmung eines Sanierungskonzepts auch schon dann angenommen werden, wenn die Gesellschaft dringend neues Kapital benötigt, das Grundkapital aber teilweise durch eingetretene Verluste aufgezehrt ist, ohne dass die Gesellschaft unmittelbar insolvenzbedroht wäre. Frisches Kapital ist in einer solchen Situation ohne Kapitalschnitt nicht zu gewinnen, weil die Altaktionäre anderenfalls zu Lasten der neu zu werbenden Anleger bevorzugt würden. Denn der Nennbetrag bzw. anteilige Betrag ihrer Aktien ist durch Vermögenswerte nicht mehr voll abgedeckt, so dass sie ohne Korrektur des Grundkapitals einen zu großen Anteil an der sanierten Gesellschaft erhielten. Bei Unterbilanz kann eine Zustimmungspflicht nicht nur, aber besonders dann angenommen werden, wenn das von der Verwaltung vorgesehene Sanierungskonzept eine wirtschaftliche Umschuldung bzw. teilweise Entschuldung der Gesellschaft vorsieht. Denn die Gesellschafter stehen dann nach Durchführung der Sanierung allemal besser als ohne Kapitalschnitt. Die sowohl in „Girmes“ als auch in „Sanieren oder Ausscheiden“ vorgenommene Betonung der Zustimmungspflicht (bzw. des Blockadeverbots) bei unmittelbar insolvenzabwendenden Sanierungen schließt es deshalb bei dringendem Eigenkapitalbedarf nicht aus, eine Zustimmungspflicht auch sonst bei sanierenden Kapitalschnitten anzunehmen. Die anderenfalls drohende Insolvenz der Gesellschaft ist folglich

__________ 41 Überzeugend Hüffer (Fn. 40); zum Verkehrswert als Ermittlungsergebnis etwa BGHZ 71, 40, 51; OLG Frankfurt, AG 1999, 231, 232 f. 42 BGHZ 142, 167, 168 = NJW 1999, 3197 – Hilgers.

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keine notwendige Bedingung, bewirkt aber naturgemäß eine besondere Eilbedürftigkeit in Bezug auf die Durchsetzung der Zustimmungspflichten (vgl. 4. b). bb) Zu den Erfolgsaussichten des Sanierungskonzepts Auf den ersten Blick scheinen „Girmes“ und „Sanieren oder Ausscheiden“ unterschiedliche Maßstäbe an die Erfolgsaussichten der Sanierung zu stellen. Die erste Entscheidung verlangt, dass das Sanierungskonzept nachhaltigen Erfolg verspricht, die zweite lässt es ausreichen, dass die Durchführung der Sanierung „nicht von vornherein sinnlos ist“. Bei näherem Hinsehen dürften sich dahinter aber keine sachlichen Unterschiede verbergen; sie wären auch nicht begründet. Denn für die Erfolgsaussichten eines sorgfältig aufgestellten Sanierungskonzepts kann nichts anderes gelten als auch sonst bei unternehmerischen Entscheidungen: Sie müssen zum Wohle der Gesellschaft und auf ausreichender Tatsachengrundlage getroffen werden (§ 93 Abs. 1 Satz 2 AktG). Gewiss muss der Vorstand sich deshalb über die Sanierungsbedürftigkeit und -fähigkeit hinreichende Klarheit verschaffen; für die Erfolgsaussichten eines nach diesen Maßstäben ermittelten Konzepts kann er aber naturgemäß keine Garantie übernehmen und dies kann folglich auch nicht entscheidend für die Feststellung einer Stimmpflicht sein; beides ist vielmehr zwingend und definitiv im Zeitpunkt des Beschlusses über die Sanierung zu entscheiden: Führt die Durchführung des ggf. unter Hinzuziehung externen Rats entwickelten Konzepts zu einer substantiellen Verbesserung der Eigenkapital- bzw. Liquiditätslage der Gesellschaft und überwiegen die damit verknüpften Chancen die inhärenten Risiken, so stellt dies eine ausreichende Grundlage dar, sofern die Aktionärsinteressen bei der Durchführung der Sanierung, in angemessener Weise, wie beschrieben, gewahrt werden. b) Muss die Sanierung mehrheitlich gewollt sein? Der BGH hat in der „Girmes“-Entscheidung ohne Weiteres verlangt, dass die Sanierung „mehrheitlich“ getragen werden müsse, um eine Stimmpflicht zu erzeugen (oben I. 2.). Im Schrifttum ist dieses Erfordernis bislang meist unbesehen übernommen worden.43 Es ist allerdings höchst unklar, was es eigentlich besagen soll, bezieht es sich doch offenbar auf eine Situation, in der die – gesetzlich geforderte – qualifizierte Mehrheit bei der Beschlussfassung verfehlt, eine einfache Mehrheit aber erreicht wird. Wenn jedoch eine Stimmpflicht demnach immer erst mit Erreichen – der kaum je sicher prognostizierbaren – einfachen Stimmenmehrheit entstünde, könnte vor der Abstimmung niemals sicher beurteilt werden, ob der Aktionär durch Nein-Stimme oder Enthaltung eine – ggf. zum Schadensersatz führende – Pflichtverletzung begeht

__________ 43 K. Schmidt, Gesellschaftsrecht, 4. Aufl. 2002, § 5 IV 5, S. 134 und § 20 IV 3, S 593 f.; Bungeroth in MünchKomm. AktG, Vor § 53a AktG Rz. 74; Fleischer (Fn. 30), § 53a AktG Rz. 57; Henze/Notz in GroßKomm. AktG, 4. Aufl. 2004, Anh § 53a AktG Rz. 111; zuvor bereits K. Schmidt, ZGR 1982, 519, 525; Timm, WM 1991, 481, 485; a. A. aber Ronge (Fn. 30), S. 291.

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oder nicht. Schon aus Gründen der Rechtssicherheit sollte indessen vor der Beschlussfassung feststehen, ob im konkreten Fall eine Stimmpflicht besteht. Nicht ersichtlich ist zudem, wie sich das Erfordernis einer einfachen (Stimmen-)Mehrheit sollte legitimieren können, soweit diese keine gesetzliche Voraussetzung des Beschlusses ist. Hinzu kommt: Ist die aus der Treupflicht folgende Stimmpflicht eine Individualpflicht, die sich unter bestimmten, aus dem konkreten Beschlussgegenstand abgeleiteten Voraussetzungen ergibt (oben 2.), so will hierzu das Erfordernis einer einfachen Mehrheit nicht recht passen. Rechtfertigen ließe sich ein Mehrheitserfordernis nur, sofern die Mehrheit eine rechtlich nicht bzw. nur eingeschränkt nachprüfbare Ermessensentscheidung zu treffen hätte. Und in der Tat trifft dies ja generell auf Strukturänderungen zu. Gerade deshalb kommt aber eine Zustimmungspflicht eben nur dann in Betracht, wenn das Ermessen im konkreten Fall auf Null reduziert ist, und gerade dies hat der Senat in Bezug auf die bei „Girmes“ vorliegende Sanierungssituation zu Recht bejaht (wenn auch die Voraussetzungen hierfür zu eng gefasst sind, dazu unter 3. a, aa). Treffend hat etwa Lutter herausgestellt, dass zwar die Hauptversammlung und folglich auch jeder Aktionär mit Beschlüssen über eine Kapitalherabsetzung oder Kapitalerhöhung eine unternehmerische Entscheidung treffe und daher der Gesellschaft wie auch jedem einzelnen Aktionär ein unternehmerisches Ermessen zustehe. Das ändere sich aber, wenn der Sachverhalt gar keine Alternative zu der ergriffenen Sanierungsmaßnahme zulasse.44 Überdies kann eine Zustimmungspflicht, wie gesehen (oben a), nur insofern angenommen werden, als auch bei der Durchführung keine Ermessensentscheidung zu treffen ist. So darf insbesondere bei der Kapitalerhöhung nur eine – ausreichende – Mehrheit vom angemessenen Ausgabebetrag i. S. von § 255 Abs. 2 AktG abweichen, so dass zur Annahme einer Zustimmungspflicht der Ausgabebetrag stets angemessen sein muss, also auch dann, wenn das Bezugsrecht nicht ausgeschlossen werden soll. Und auch bei der Kapitalherabsetzung müssen die Interessen der zustimmungspflichtigen Aktionäre ausreichend gewahrt werden, namentlich durch – Zulassung der Herabsetzung allein zum Verlustausgleich, – Herabsetzung der Nennbeträge auf den geringstmöglichen Betrag zur Vermeidung von Spitzen, – Kombination der vereinfachten Kapitalherabsetzung mit einer Kapitalerhöhung ohne Bezugsrechtsausschluss, sofern ein extremes Herabsetzungsverhältnis erforderlich ist (oben a, aa). Soweit aber nach diesen Regeln ein Ermessen der Hauptversammlung bzw. des einzelnen Aktionärs gar nicht besteht, steht einer individuellen Zustimmungspflicht nichts entgegen. Im umgekehrten Fall könnte im Übrigen ja nicht schon eine einfache Mehrheit, sondern allein die qualifizierte Mehrheit i. S. von §§ 182, 222 AktG die Ermessensentscheidung treffen. Dass die Sanierung

__________ 44 Lutter, JZ 1995, 1053, 1055.

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„mehrheitlich angestrebt“ werden müsste, ist daher in keinem Falle konsistent begründbar. Das richtige Ergebnis kann daher nur lauten: Das Bestehen einer positiven Stimmpflicht muss bei Abgabe der einzelnen Stimme feststehen. Die Stimmpflicht zusätzlich davon abhängig zu machen, dass wenigstens eine einfache Mehrheit erreicht wird, lässt sich in Fällen einer Ermessensreduktion nicht konsistent begründen. Ebenso wenig wie die Stimmpflicht voraussetzt, dass eine Sperrminorität im Vorfeld abgestimmt wird, hängt sie umgekehrt davon ab, dass sich bei der Beschlussfassung eine einfache Mehrheit für die Sanierung ergibt. Erst recht kann nicht verlangt werden, dass die Sanierung im Vorfeld von einer einfachen Mehrheit getragen wird. Dies würde nicht nur das Verfahren durch Ermittlung einer solchen Mehrheit erheblich verzögern; die so ermittelte Mehrheit bliebe auch willkürlich, weil es letztlich allein auf die (qualifizierte) Mehrheit der in einer ordnungsgemäß einberufenen Hauptversammlung abgegebenen Stimmen ankommen kann. 4. Rechtsfolgen des Blockadeverbots: Zustimmungspflicht oder Unterlassungspflicht? a) Pflicht zur Enthaltung oder zur Abgabe einer Ja-Stimme? Der letzte hier zu erörternde Punkt gilt der aus dem Blockadeverbot konkret abzuleitenden Stimmpflicht. Der Senat nahm im „Girmes“-Fall – ex post – eine Pflicht zur Stimmenthaltung an, weil damit der Beschluss zustande gekommen wäre. Das passt zwar zum Blockadeverbot im Sinne eines Verhinderungsverbots. Geht man indessen davon aus, dass jeder einzelne Aktionär verpflichtet ist, alles zu unterlassen, was zum Nichtzustandekommen der erforderlichen Beschlüsse führt, und dass wiederum schon im Zeitpunkt der Stimmabgabe sicher feststehen muss, ob er diese Pflicht erfüllt oder eine ggf. schadensersatzträchtige Pflichtverletzung begeht, so ist zu konstatieren, dass nur die Abgabe einer Ja-Stimme garantieren kann, dass der Beschluss auch tatsächlich zustande kommt. In aller Regel reicht die Enthaltungsstimme für das Zustandekommen von Beschlüssen zwar aus; denn Stimmenthaltungen wirken sich nach allgemeiner Ansicht auf das Abstimmungsergebnis nicht aus, sind also neutral zu werten.45 Deshalb braucht für den Beschluss nur eine einzige wirksame Ja-Stimme abgegeben zu werden, wenn alle übrigen Stimmen Enthaltungen sind. Einerseits ist aber eben nicht garantiert, dass diese Stimme tatsächlich wirksam abgegeben wird, andererseits sind keine schutzwürdigen Interessen des einzelnen Aktionärs erkennbar, „nur“ eine – das positive Beschlussergebnis garantierende – Enthaltungsstimme abzugeben oder eine JaStimme, wenn doch zugleich feststeht, dass er aufgrund der Stimmpflicht den Beschluss auch ohne seine Zustimmung gegen sich gelten lassen muss. Ein Beschluss, der im Extremfall mit nur einer Stimme zustande gebracht wird,

__________ 45 BGHZ 83, 35, 36 f.; BGHZ 129, 136, 153; vgl. ferner nur Hüffer (Fn. 30), § 133 AktG Rz. 12 und § 179 AktG Rz. 14.

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hat keine höhere Legitimität als ein solcher, bei dem sämtliche Gesellschafter nur aufgrund der Treupflicht eine Ja-Stimme abgegeben haben. Insofern überrascht es, dass im Schrifttum verbreitet die These vertreten wird, dass der Gesellschafter zwar zu einem Unterlassen (Verweigerung der Stimmabgabe? Abgabe einer Stimmenthaltung?), nicht aber zu einem positiven Tun (Abgabe einer Ja-Stimme?) verpflichtet werden könne.46 Diese Unterscheidung ist indessen nur schwer nachvollziehbar. Weil es für die Stimmpflicht allein auf den Inhalt der in einer konkreten Sanierungssituation zu fassenden Beschlüsse ankommt (oben 2.), ist naturgemäß auch für die Zumutbarkeit der in Frage stehenden Satzungsänderungen allein auf Sanierungssituation und Inhalt der Beschlussanträge abzustellen, nicht aber zusätzlich auf die bloße Zufälligkeit, ob es für das Zustandekommen der Beschlüsse in der konkreten Abstimmungssituation einer Ja-Stimme bedarf oder ob auch eine Stimmenthaltung ausreicht. Weil das Abstimmungsergebnis nicht sicher prognostizierbar ist, die Frage, ob der Aktionär eine Pflichtverletzung begeht, aber rechtssicher bei Abgabe der Stimme feststehen muss (s. schon 3. b), lässt sich die Pflicht nur als eine solche zur Abgabe einer Ja-Stimme fassen; denn in extremen Fällen kann eben auch eine Enthaltungsstimme das Zustandekommen des Beschlusses verhindern und auf diese Weise die erforderliche Sanierung blockieren. Der Aktionär begeht folglich auch dann eine Pflichtverletzung, wenn er sich der Stimme enthält, kann allerdings mit hoher Wahrscheinlichkeit davon ausgehen, dass diese sich nicht auswirkt, weil und soweit der Beschluss wegen der neutralen Wirkung der Enthaltung gleichwohl zustande kommt. Dass der Kapitalschnitt den Aktionären unter den genannten Voraussetzungen zumutbar ist, ergibt sich im Übrigen zum einen aus der Sanierungssituation, zum anderen daraus, dass der Aktionär nicht zur Zeichnung junger Aktien verpflichtet werden kann, sondern ggf. lediglich die Verwässerung seiner Beteiligung durch Ausgabe junger Aktien zum angemessenen Ausgabepreis hinzunehmen hat (oben 3. a, aa). b) Beschlussfeststellung durch den Versammlungsleiter An die Feststellung, dass in der Sanierungssituation unter bestimmten Voraussetzungen jeder Aktionär verpflichtet ist, einem Kapitalschnitt (ggf. auch einer isolierten vereinfachten Kapitalherabsetzung) zuzustimmen, knüpft sich die weitere Frage, welche Möglichkeiten dem Versammlungsleiter in der Abstimmungssituation zu Gebote stehen, wenn er bemerkt, dass die erforderliche

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46 Z. B. Kunze, Positive Stimmpflichten im Kapitalgesellschaftsrecht, Diss. Bonn 2003, S. 181 ff.; Piepenburg, Mitgliedschaftliche Treupflichten der Aktionäre, Diss. Trier 1996, S. 191 f.; Timm, WM 1991, 481, 486 (Stimmenthaltung sei „milderes Mittel“ im Vergleich zur Zustimmung); explizit a. A. Nehls, Die gesellschaftsrechtliche Treuepflicht im Aktienrecht, Diss. Hamburg 1993, S. 88 f. (Stimmabgabe als solche sei keine ins Gewicht fallende Belastung); Ronge (Fn. 30), S. 300 („willkürliche Förmelei“). Die h. M. geht demgegenüber ohne Weiteres von einer Zustimmungspflicht aus, wenn die Maßnahme im dringenden Interesse der AG liegt und den einzelnen Aktionären zumutbar ist, vgl. nur Hüffer (Fn. 30), § 179 AktG Rz. 30 und Wiedemann in GroßKomm. AktG, 4. Aufl. 1995, § 179 AktG Rz. 157; Stein in MünchKomm. AktG, § 179 AktG Rz. 219; Lutter, JZ 1995, 1053, 1055, alle m. w. N.

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Dreiviertelmehrheit nicht erreicht worden ist. Der Fall „Girmes“ hat sehr schön gezeigt, wie viel von dieser Frage abhängt. Wäre der Versammlungsleiter bei der konstitutiven Beschlussfeststellung gehindert, pflichtwidrig abgegebene Nein-Stimmen als Ja-Stimmen oder Enthaltungen und pflichtwidrig abgegebene Enthaltungen als Ja-Stimmen zu behandeln, hätte sich die Frage der Stimmpflicht in der Sanierungssituation u. U. sehr schnell erledigt: Binnen einer Woche musste die Gesellschaft Insolvenz anmelden und war der endgültige Totalausfall für sämtliche Aktionäre damit zementiert. Jedenfalls die durch rasanten Wertverfall gekennzeichnete Situation drohender Insolvenz bedarf deshalb sofort wirkender Maßnahmen, um einen noch größeren Verlust zu verhindern und individuell rationales, aber „kollektiv schädliches“ Trittbrettfahrertum zu vermeiden.47 Jeder Tag weiteren Zuwartens vermindert in einer solchen Lage die Sanierungschancen erheblich und führt zu noch höheren Wertverlusten. Die sanierungswilligen Aktionäre hier auf den Weg einer positiven Beschlussfeststellungsklage zu verweisen, käme somit einer Kapitulation gleich. Betrachtet man den Meinungsstand zu der allgemeinen Frage, wie treuwidrig abgegebene Stimmen bei der Beschlussfeststellung zu berücksichtigen sind, so lässt sich freilich rasch Entwarnung geben: Denn die treuwidrig abgegebene Stimme ist nach ganz h. M. nichtig und kann deshalb vom Versammlungsleiter unberücksichtigt gelassen werden.48 Was dies genau bedeutet, sollte nach den Ausführungen zu a) nicht mehr zweifelhaft sein: Sind überhaupt wirksame Ja-Stimmen abgegeben worden, kann der Versammlungsleiter die treuwidrig abgegebenen Stimmen entsprechend der Stimmpflicht als Enthaltung werten, wodurch ebenfalls eine 100 %ige Zustimmungsquote erreicht wird. Sollten hingegen nicht sicher (wirksame) Ja-Stimmen vorliegen, kann er sämtliche Stimmen als Ja-Stimmen werten. Aus Gründen der – für eine eventuelle Anfechtungsklage wichtigen – Transparenz sollte auf diese Wertung allerdings jeweils hingewiesen werden. Nun ist allerdings speziell mit Blick auf „Girmes“ vereinzelt die These vertreten worden, dass der Versammlungsleiter die treuwidrigen Gegenstimmen nicht hätte außer Acht lassen und einen positiven Beschluss feststellen können. Denn: Angesichts der erheblichen Unsicherheiten, die mit der Feststellung einer treuwidrigen Stimmabgabe verbunden seien, werde sich im Rahmen einer Hauptversammlung kaum zuverlässig beurteilen lassen, wie ein etwaiges Anfechtungsverfahren ausgehe; auch trage die treuwidrige Stimme Ausnahme-

__________ 47 Bitter, ZGR 2010, 147, 149; Eidenmüller/Engert, ZIP 2009, 541 ff. 48 Vgl. nur BGHZ 65, 93, 98; BGHZ 102, 172, 179; BGH, ZIP 1991, 23, 24; OLG Hamburg, WM 1992, 272, 273; Hüffer (Fn. 30), § 53a AktG Rz. 22 und § 133 AktG Rz. 22; Henze/Notz (Fn. 43), Anh. § 53a AktG Rz. 128; zum GmbH-Recht vgl. ferner Hüffer in Ulmer/Habersack/Winter, GmbHG, 2006, § 47 GmbHG Rz. 199 und Raiser, ebd. Anh. § 47 GmbHG Rz. 132; zum Personengesellschaftsrecht Ulmer/Schäfer in MünchKomm. BGB, 5. Aufl. 2009, § 709 BGB Rz. 112 und Ulmer in MünchKomm. BGB, § 705 BGB Rz. 239; Schäfer in Staub, 5. Aufl. 2009, § 109 HGB Rz. 73; Hopt in Baumbach/Hopt, 34. Aufl. 2010, § 109 HGB Rz. 28; a. A. Oelrichs, GmbHR 1995, 863, 866.

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„Girmes“ wiedergelesen: Zur Treupflicht des Aktionärs im Sanierungsfall

charakter.49 Nach dem Vorstehenden sollte indessen auf der Hand liegen, dass diese Auffassung nicht zu überzeugen vermag, jedenfalls sofern sie dem Versammlungsleiter überhaupt die Möglichkeit nehmen will, die treuwidrige Stimme als unwirksam zu behandeln. Denn dies würde der Gesellschaft wegen der besonderen Eilbedürftigkeit häufig jede Chance nehmen, das Sanierungskonzept noch umzusetzen, so dass ihr Zusammenbruch – wie im Falle „Girmes“ – dann wirklich unvermeidlich wäre. Das ESUG hat demgegenüber gezeigt, dass und wie sehr der einzelne Aktionär seine Verfahrensrechte in der Sanierungssituation zurückstellen muss (oben II.). So weit braucht man hier nicht zu gehen. Denn stellt der Versammlungsleiter ein positives Beschlussergebnis entgegen den tatsächlich abgegebenen Stimmen fest, sind die dissentierenden Aktionäre keineswegs schutzlos; vielmehr mögen sie im Wege der Anfechtungsklage klären lassen, ob ihre Nein-Stimmen zu Unrecht unberücksichtigt blieben und daran ggf. Schadensersatzpflichten knüpfen, ohne dass deshalb die Eintragung der Kapitalmaßnahmen verhindert würde (§ 246a AktG). Umgekehrt würden die Minderheitsaktionäre sehr erheblichen Schadensersatzrisiken ausgesetzt, wenn der Versammlungsleiter sie gleichsam sehenden Auges in ihr Verderben laufen lassen müsste, obwohl er, typischerweise nach entsprechender Beratung, eindeutig erkennt, dass der Fall einer Stimmpflicht vorliegt. Die Feststellung des (materiell) richtigen Ergebnisses dient letztlich also gerade auch den Interessen dissentierender Gesellschafter. Es mag sein, dass im „Girmes“-Fall seinerzeit noch niemand an eine positive Beschlussfeststellung gedacht hat, zumal noch völlig ungeklärt war, ob die Aktionäre im Verhältnis untereinander überhaupt durch die Treupflicht gebunden sind. Das ändert aber nichts daran, dass gerade die dem Versammlungsleiter eingeräumte Möglichkeit, einen positiven Beschluss mit konstitutiver Wirkung festzustellen, in der Sanierungssituation das einzige Mittel ist, um die positive Stimmpflicht in der zu Gebote stehenden Zeit durchzusetzen, und zwar durchaus im Interesse aller Aktionäre. Eine hiervon zu unterscheidende Frage ist, ob man den Versammlungsleiter sogar für verpflichtet hält, die treuwidrigen Stimmen entsprechend ihrer Treubindung zu werten. Im Allgemeinen beschränkt die h. M. eine solche Pflicht mit gutem Grund auf Fälle, in denen die Treuwidrigkeit der Stimme „mit Händen zu greifen ist“,50 und damit mag man es auch hier bewenden lassen. Wichtig ist die Feststellung, dass der Versammlungsleiter, der gut daran tut, sich vor der Versammlung fachkundig beraten zu lassen, generell befugt ist, den Beschluss positiv festzustellen. Hierbei wird er es zwar regelmäßig dabei belassen können, treuwidrig abgegebene Stimmen als Enthaltungen zu werten. Sollte es aber ausnahmsweise überhaupt an einer

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49 Dezidiert Marsch-Barner, ZHR 157 (1993), 172, 189; ebenso i. E. Timm, WM 1981, 481, 486 (der meint, dies ergebe sich aus der Anfechtbarkeit des Beschlusses), ferner Kunze (Fn. 46), S. 205 (es sei Sache der übrigen Gesellschafter, treupflichtgemäßes Verhalten durchzusetzen – aber warum?); Oelrichs, GmbHR 1995, 863, 867 (Versammlungsleiter sei überfordert). 50 BGH, AG 1991, 137 = WM 1991, 97; Spindler in K. Schmidt/Lutter, § 133 AktG Rz. 27; Hüffer (Fn. 30), § 130 AktG Rz. 22; Volhard in MünchKomm. AktG, 2. Aufl. 2004, § 133 AktG Rz. 28; Rieckers in Spindler/Stilz, § 133 AktG Rz. 30; konzidiert auch von Marsch-Barner, ZHR 157 (1993), 172, 189.

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wirksamen Ja-Stimme fehlen, kann er die Nein-Stimmen auch als Ja-Stimmen werten. Die jeweilige Behandlung ist dabei offenzulegen.

IV. Zusammenfassung in Thesen 1. Die „Girmes“-Entscheidung hat zu Recht die Aktionäre im Verhältnis zueinander der Treupflicht unterworfen; die seinerzeit offen gebliebene Frage, ob sich die Treubindung in Sanierungssituationen aus dem Inhalt der zur Abstimmung gestellten Beschlussanträge oder aus dem zuvor herbeigeführten Einflusspotential ergibt, ist zugunsten eines reinen Inhaltsbezugs zu beantworten. Bei der Treubindung und den daraus abgeleiteten Stimmpflichten handelt es sich demgemäß um Individualpflichten jedes einzelnen Aktionärs. 2. Die Treupflicht ist das gesellschaftsrechtliche Mittel der Wahl, um gesellschaftsinterne Blockadepotentiale für Sanierungen angemessen aufzulösen; eines Rückgriffs auf den Aufopferungsgedanken bedarf es hierfür nicht; außerhalb einer Sanierung im Planverfahren lässt er sich zudem nur schwer rechtfertigen. 3. Die Voraussetzungen für die Zustimmungspflicht zu einem Kapitalschnitt sind folgende: Die nominelle Kapitalherabsetzung muss zwingend mit einer effektiven Kapitalerhöhung kombiniert werden, wenn aufgrund eines extremen Zusammenlegungsverhältnisses anderenfalls ein Hinausdrängen von Kleinaktionären zu befürchten wäre. Außerdem muss bei der Kapitalerhöhung ein möglichst geringer Nennbetrag gewählt werden. In jedem Falle muss der Ausgabebetrag für neue Aktien angemessen sein. Für dessen Ermittlung ist aber jedenfalls dann ein großzügiger Maßstab anzulegen, wenn und soweit das Bezugsrecht nicht ausgeschlossen ist. Auch unabhängig hiervon muss der Vorstand jedenfalls keine vollständige Unternehmensbewertung nach IDW S1 durchführen (lassen). Im Übrigen ist selbstverständlich eine (nominelle) Kapitalerhöhung nur insofern zulässig, als sie voraussichtlich dauerhaft eingetretene Verluste abdecken soll; auch insofern ist freilich ausreichend, dass diese Verluste nach kaufmännischen Grundsätzen vertretbar ermittelt werden. Bei Beachtung dieser Regeln kann eine Zustimmungspflicht zu einem Kapitalschnitt auch dann bestehen, wenn die Gesellschaft anderenfalls nicht sogleich in Insolvenz fiele, aber dringenden Kapitalbedarf hat, der nur durch eine effektive Kapitalerhöhung zu decken ist, die wiederum eine nominelle Herabsetzung zwingend erforderlich macht. 4. Die Auswahl eines bestimmten Sanierungskonzepts ist eine unternehmerische Entscheidung. Führt die Durchführung des – ggf. unter Hinzuziehung eines externen Rats – entwickelten Konzepts zu einer substantiellen Verbesserung der Eigenkapital- bzw. Liquiditätslage der Gesellschaft und überwiegen die damit verknüpften Chancen für die Fortführung des Unternehmens die inhärenten Risiken, so stellt dies eine ausreichende Grundlage für die Zustimmungspflicht dar, sofern die Aktionärsinteressen in angemessener Weise, wie in Nr. 3 beschrieben, gewahrt werden. Das gilt erst recht, 958

„Girmes“ wiedergelesen: Zur Treupflicht des Aktionärs im Sanierungsfall

wenn das Konzept einen Verzicht der Gläubiger auf einen Teil ihrer Forderungen vorsieht. 5. Dass die Sanierung „mehrheitlich angestrebt“ werden muss, damit eine Zustimmungspflicht entsteht, ist nicht begründbar. Aus Gründen der Rechtssicherheit muss vielmehr im Zeitpunkt der Stimmabgabe feststehen, ob der Aktionär durch Nein-Stimme oder Enthaltung eine – ggf. zum Schadensersatz führende – Treupflichtverletzung begeht. 6. Besteht nach den genannten Grundsätzen (Nr. 3, 4) eine Stimmpflicht, so begeht der Aktionär auch dann eine Pflichtverletzung, wenn er sich der Stimme enthält, kann allerdings mit hoher Wahrscheinlichkeit davon ausgehen, dass diese sich nicht auswirkt, weil und soweit der Beschluss wegen der neutralen Wirkung einer Enthaltung regelmäßig dennoch zustande kommt. Unabhängig hiervon besteht aber kein schutzwürdiges Interesse des Aktionärs daran, „nur“ eine Pflicht zur Enthaltung und nicht auch zur JaStimme anzunehmen. 7. Der Versammlungsleiter hat bei der konstitutiven Beschlussfeststellung das Recht, eine unter Verletzung der Stimmpflicht abgegebene Nein-Stimme als Enthaltung oder Ja-Stimme, eine pflichtwidrige Enthaltung als Ja-Stimme zu werten. Er wird dies aus Opportunitätsgründen (nicht aber auch aus Rechtsgründen) davon abhängig machen, ob das Zustandekommen des Beschlusses durch wenigstens eine wirksame Ja-Stimme auch ohne die Stimmen der Pflichtvergessenen gewährleistet ist und in diesem Falle pflichtwidrige Nein-Stimmen als Enthaltung werten.

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Die Insolvenzverursachungshaftung des GmbH-Geschäftsführers Inhaltsübersicht I. Einführung II. Die gesetzgeberische Konzeption des § 64 Satz 3 GmbHG 1. § 64 Satz 3 GmbHG als Ergänzung bestehender Schutzmechanismen a) § 64 Satz 3 GmbHG und das Kapitalerhaltungsgebot des § 30 Abs. 1 GmbHG b) § 64 Satz 3 GmbHG und die Insolvenzanfechtung gemäß §§ 129 ff. InsO c) § 64 Satz 3 GmbHG und die Existenzvernichtungshaftung d) § 64 Satz 3 GmbHG und die allgemeine Geschäftsführerhaftung gemäß § 43 Abs. 2 GmbHG 2. Qualifikation als insolvenzrechtliche Norm a) Auswirkungen der Ausrichtung von Haftungsnormen an Zielsetzungen des Insolvenzrechts b) Mögliche Auswirkung des insolvenzrechtlichen Bezugs des § 64 Satz 3 GmbHG auf dessen Auslegung 3. Fazit III. Zahlungen auf fällige und durchsetzbare Gesellschafterforderungen im Rahmen des § 64 Satz 3 GmbHG 1. Begriff der Zahlung – fällige und durchsetzbare Gesellschafterforderungen im Anwendungsbereich des § 64 Satz 3 GmbHG a) Zweifel an der Anwendbarkeit von § 64 Satz 3 GmbHG auf fällige und einredefreie Gesellschafterforderungen

b) § 64 Satz 3 GmbHG nicht nur bei kompensationslosen Zahlungen c) Anwendungsbereich des § 64 Satz 3 GmbHG vor dem Hintergrund des § 30 Abs. 1 Satz 3 GmbHG d) Fazit 2. Kein Bedürfnis für erweiternde Auslegung des § 64 Satz 3 GmbHG a) § 64 Satz 3 GmbHG als Auszahlungssperre oder Leistungsverweigerungsrecht b) Keine Notwendigkeit einer erweiternden Auslegung des § 64 Satz 3 GmbHG 3. Kein Leistungsverweigerungsrecht im Einzelfall a) Wortlaut und Systematik des § 64 Satz 3 GmbHG b) Kein besonderes Schutzbedürfnis des Geschäftsführers c) Kein besonderes Schutzbedürfnis der Gläubiger d) Kein besonderes Schutzbedürfnis der Gesellschaft e) Fazit IV. Prognose zu Zahlungsunfähigkeit im Rahmen des § 64 Satz 3 GmbHG 1. Realistische Planung maßgeblich 2. Exkulpation durch Testat eines Wirtschaftsprüfers oder Steuerberaters denkbar V. Fazit

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I. Einführung Obwohl die Insolvenzverursachungshaftung gemäß § 64 Satz 3 GmbHG bereits seit November 2008 im Gesetz verankert ist, dringen deren mögliche Auswirkungen auf die Verhaltenspflichten und die Haftung der GmbH-Geschäftsführer erst langsam in das Bewusstsein der Betroffenen. Die Diskussion um den Anwendungsbereich und die Auslegung dieser Norm sind bislang eher theoretischer Natur.1 Höchstrichterliche Rechtsprechung existiert noch nicht. Die sehr wenigen obergerichtlichen Entscheidungen sind nicht aussagekräftig.2 Praktische Erfahrungen mit der Durchsetzung des Erstattungsanspruchs gegen den GmbH-Geschäftsführer gibt es kaum. Schließlich führt auch die Zahl der zu beachtenden Haftungsnormen für GmbH-Geschäftsführer im Vorfeld der Insolvenz der Gesellschaft dazu, dass die derzeit noch weitgehend unbekannte Vorschrift des § 64 Satz 3 GmbHG ein Schattendasein fristet. Ob die Haftungsnorm künftig an Bedeutung gewinnen wird, hängt maßgeblich davon ab, wie extensiv Insolvenzverwalter und Gerichte die Tatbestandsmerkmale des § 64 Satz 3 GmbHG auslegen. Der offene Wortlaut der Norm begründet Zweifel an der Einordnung der Norm als „Ausnahmevorschrift zur Bekämpfung von Missbrauchsfällen“.3 Bei entsprechender Auslegung lassen sich nämlich sämtliche Vermögenstransfers zwischen Gesellschafter und Gesellschaft in der Krise erfassen, so dass die Haftung der Geschäftsführer weiter verschärft wird.4 Dies gilt für die in der Praxis besonders relevanten Fälle der Rückzahlung von Gesellschafterdarlehen in Zeiten der Krise, verdeckter Gewinnausschüttungen oder der Bestellung von Sicherheiten zu Gunsten der Gesellschafter. Damit wächst die Unsicherheit der Geschäftsführer in den Zeiten der Krise im Umgang mit Gesellschafterleistungen. Die Handlungsfähigkeit und Handlungsbereitschaft der Gesellschaft werden dadurch gerade dann behindert, wenn diese in besonderer Weise zur Sanierung notwendig wären. Andererseits steht § 64 Satz 3 GmbHG aber auch neben einer Reihe von bereits bestehenden und funktionierenden Schutznormen des Insolvenz-, Gesellschaftsund Deliktsrechts, so dass fraglich ist, ob § 64 Satz 3 GmbHG daneben überhaupt noch ein eigenständiger Anwendungsbereich verbleibt. Mit den nachfolgenden Ausführungen wird ein Versuch zur Konturierung der Insolvenzverursachungshaftung in Gestalt des § 64 Satz 3 GmbHG unternommen. Dabei wird vor dem Hintergrund der gesetzgeberischen Konzeption

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1 S. dazu nur die Kommentierungen von H. F. Müller in MünchKomm. GmbHG, § 64 GmbHG Rz. 154 ff.; Kleindiek in Lutter/Hommelhoff, § 64 GmbHG Rz. 20 ff.; Altmeppen in Roth/Altmeppen, § 64 GmbHG Rz. 54 ff. mit zahlreichen Fundstellen und weiterführenden Literaturhinweisen. Übersicht auch bei Drescher, Die Haftung des GmbH-Geschäftsführers, S. 121 ff.; Greulich/Rau, NZG 2008, 284, 285. 2 OLG München, ZIP 2010, 1236 ff.; OLG Stuttgart, ZInsO 2009, 1712 ff.; LG Berlin, GmbHR 2010, 201 ff. Diese Einschätzung teilen Winstel/Skauradszun, GmbHR 2011, 185 ff. 3 Kleindiek in Lutter/Hommelhoff, § 64 GmbHG Rz. 20 ff.; Altmeppen in Roth/Altmeppen, § 64 GmbHG Rz. 54 ff.; Seibert, ZIP 2006, 1157, 1167; Kleindiek in FS K. Schmidt, S. 893, 900 ff. 4 Poertzgen, NZI 2008, 9, 11; Böcker/Poertzgen, WM 2007, 1203 f.

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insbesondere der Fall der Zahlung auf eine einredefreie fällige Gesellschafterforderung im potentiellen Anwendungsbereich des § 64 Satz 3 GmbHG näher beleuchtet. Es wird untersucht, welchen Anwendungsbereich § 64 Satz 3 GmbHG neben den bereits bestehenden Schutzmechanismen beanspruchen kann und ob die Haftungsnorm im Ergebnis eine Haftungsfalle für GmbH-Geschäftsführer oder eine sinnvolle Ergänzung zu den bestehenden Schutzmechanismen des Insolvenz-, Gesellschafts- und Deliktsrechts darstellt.

II. Die gesetzgeberische Konzeption des § 64 Satz 3 GmbHG Ähnlich der Konzeption in anderen Rechtsordnungen,5 statuiert § 64 Satz 3 GmbHG kein ausdrückliches Zahlungsverbot sondern begründet eine Erstattungspflicht des GmbH-Geschäftsführers nach § 64 Satz 3 GmbHG für Zahlungen an Gesellschafter, welche zur Zahlungsunfähigkeit der Gesellschaft führen mussten. Auf diese Weise sollen Liquiditätsabflüsse aus der Gesellschaft an die Gesellschafter verhindert werden, um die Haftungsmasse für die Gläubiger zu erhalten. Der Gesetzgeber hat die Haftungsnorm ausweislich der Gesetzesbegründung als insolvenzrechtliche Ergänzung zu bestehenden Mechanismen ausgestaltet, welche die Gesellschaftsgläubiger vor Vermögensverschiebungen zwischen Gesellschaft und Gesellschafter schützen.6 Dieser gesetzgeberischen Konzeption sowie den Zielsetzungen des MoMiG7 lassen sich einige Hinweise und Vorgaben für die Auslegung des § 64 Satz 3 GmbHG und dessen Anwendungsbereich entnehmen, die der Vorschrift viel von Ihrer Schärfe nehmen könnten. Daneben wird jedoch deutlich, dass die dogmatische Konzeption des § 64 Satz 3 GmbHG eine klare Struktur vermissen lässt und in gewisser Weise auch eine Systematik einführt, die dem deutschen Recht so bislang nicht immanent war. Denn eine Haftung des Geschäftsführers war bislang immer mit dem Verstoß gegen konkrete Verhaltenspflichten verbunden. 1. § 64 Satz 3 GmbHG als Ergänzung bestehender Schutzmechanismen Nach der Gesetzesbegründung kommt § 64 Satz 3 GmbHG in erster Linie Missbrauchsschutzfunktion zu.8 Darüber hinaus soll § 64 Satz 3 GmbHG die bereits bestehenden Mechanismen des Kapitalschutzrechts, des Anfechtungsrechts gemäß §§ 129 ff. InsO sowie der Existenzvernichtungshaftung ergänzen.9 Daneben ist aber auch das Verhältnis von § 64 Satz 3 GmbHG zu der allgemeinen Haftungsnorm des GmbH-Geschäftsführers gemäß § 43 Abs. 2 GmbHG relevant. Denn es geht auch darum zu beurteilen, ob eine neue Haf-

__________ 5 Vgl. Haftung für wrongful trading in UK bei Schillig in Kindler/Nachmann, Handbuch Insolvenzrecht in Europa, England und Wales, Rz. 416 ff.; Schlegel in MünchKomm. InsO, Bd. 3 Anhang, England und Wales, Rz. 38. 6 Reg-Entwurf zum MoMiG v. 25.7.2007, BT-Drucks. 16/6140, S. 46 f. 7 Gesetz zur Modernisierung des GmbH-Rechts und zur Bekämpfung von Missbräuchen (MoMiG) v. 23.10.2008, BGBl. I 2008, 2026, in Kraft seit 1.11.2008. 8 Reg-Entwurf (Fn. 6), BT-Drucks. 16/6140, S. 25. 9 Reg-Entwurf (Fn. 6), BT-Drucks. 16/6140, S. 46.

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tungsnorm eine Verschärfung oder lediglich Konkretisierung der bestehenden Verhaltenspflichten des Geschäftsführers nach sich zieht. Vor dem Hintergrund dieser bereits bestehenden Regelungskonzepte mit unterschiedlicher dogmatischer Ausgestaltung, stellt sich die Frage, welcher eigenständige Anwendungsbereich § 64 Satz 3 GmbHG zukommen kann. a) § 64 Satz 3 GmbHG und das Kapitalerhaltungsgebot des § 30 Abs. 1 GmbHG Das Zahlungsverbot in § 30 Abs. 1 GmbHG – präziser § 43 Abs. 3, 2 GmbHG10 – soll mit § 64 Satz 3 GmbHG dadurch ergänzt werden, dass neben den Vermögensschutz bei Zahlungen an Gesellschafter ein Liquiditätsschutz tritt und den Gläubigern nicht nur das zum Erhalt des Stammkapitals erforderliche Vermögen, sondern auch die Mittel, deren Auszahlung eine Zahlungsunfähigkeit herbeiführen würde, schützt.11 Wenn daraus allerdings gefolgt wird, dass der § 64 Satz 3 GmbHG die Schutzlücken des Kapitalschutzrechtes schließen soll, geht dies entschieden zu weit. Die Rückzahlung von Gesellschafterdarlehen ist aus dem Anwendungsbereich des Auszahlungsverbots des § 30 Abs. 1 GmbHG ganz herausgenommen (§ 30 Abs. 1 Satz 3 GmbHG). Mit dem MoMiG wurde das Eigenkapitalersatzrecht abgeschafft und in den Bereich der Insolvenzanfechtung verlagert.12 Mit § 64 Satz 3 GmbHG scheint das Eigenkapitalersatzrecht über eine Liquiditätsbetrachtung nun – im gleichen Gesetz – doch wieder Eingang in das GmbHRecht zu finden.13 Das Erfordernis, dass die Zahlung zu einer Zahlungsunfähigkeit führen musste, entspricht im Ergebnis dem Merkmal der Krise. Denn diese Betrachtung führt dazu, dass der Geschäftsführer gerade in finanziell belasteten Zeiten der Gesellschaft die Leistungen an die Gesellschafter mit dem Verweis auf die dadurch drohende Krise verweigern muss. Das Gesellschaftsvermögen soll dieser Wertung entsprechend vorrangig zur Gläubigerbefriedigung erhalten werden. Diese Überlegung deckt sich mit den Wertungen des Eigenkapitalersatzrechts, setzt aber nicht beim gebundenen Vermögen der Gesellschaft, sondern bei deren liquiden Mitteln an. Mit dieser Verlagerung des Eigenkapitalersatzrechts aus § 30 Abs. 1 GmbHG zu § 64 Satz 3 GmbHG würde sich die Situation für den Geschäftsführer verschlechtern. Das Eigenkapitalersatzrecht in § 30 Abs. 1 GmbHG war trotz des-

__________ 10 Der Vergleich des § 64 Satz 3 GmbHG mit dem Auszahlungsverbot des § 30 Abs. 1 GmbHG ist unpräzise. Während das Auszahlungsverbot das Verhältnis der Gesellschaft zu den Gesellschaftern betrifft, regelt § 64 Satz 3 GmbHG zunächst nur die Haftung des Geschäftsführers und entspricht damit eigentlich § 43 Abs. 3 GmbHG. Allerdings knüpft auch § 43 Abs. 3 GmbHG als lex specialis zum § 43 Abs. 2 GmbHG an eine Verletzung einer Verbotsnorm (§ 30 Abs. 1 GmbHG) an. An dieser Anknüpfung an eine spezielle Verbotsnorm fehlt es § 64 Satz 3 GmbHG. 11 Reg-Entwurf (Fn. 6), BT-Drucks. 16/6140, S. 46. 12 Reg-Entwurf (Fn. 6), BT-Drucks. 16/6140, S. 25 f.; Roth, GmbHR 2008, 1184 ff. 13 Ähnlich Desch, BB 2010, 2586, 2588; Roth, GmbHR 2008, 1184, 1190; Dahl/Schmitz, NZG 2009, 567, 570.

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sen „verwirrender Doppelspurigkeit“14 den Beteiligten bereits vertrauter als dies § 64 Satz 3 GmbHG nun ist. Der Tatbestand des § 64 Satz 3 GmbHG birgt eine Vielzahl von unbeantworteten Fragen, die in nächster Zeit mühsam aufgearbeitet und geklärt werden müssen. Zudem bringt die Verlagerung aus dem Kapitalschutzsystem hin zu einer Liquiditätsbetrachtung mit ihren prognostischen Elementen schon im Allgemeinen eine Verunsicherung hinsichtlich der Anwendung.15 Daneben ist § 64 Satz 3 GmbHG im Gegensatz zum Auszahlungsverbot des § 30 Abs. 1 GmbHG insofern schwächer ausgestaltet, als die Zahlung an die Gesellschafter nicht verboten wird und ein ausdrückliches Leistungsverweigerungsrecht des Geschäftsführers, um den Liquiditätsschutz durchsetzen zu können, nicht verankert wurde.16 Der Gesetzgeber hat eine bewusste Entscheidung getroffen, das Eigenkapitalersatzrecht abzuschaffen. Es kann daher kaum sein, dass § 64 Satz 3 GmbHG den Zweck verfolgen soll, die durch § 30 Abs. 1 Satz 3 GmbHG entstandenen Schutzlücken, zu schließen. Dies gilt umso mehr, als der Gesetzesbegründung auch zu entnehmen ist, dass § 64 Satz 3 GmbHG in erster Linie ein Teil des Schutzmechanismus gegen die missbräuchliche Nutzung der Rechtsform der GmbH sein soll.17 Die Vorschrift soll dort eingreifen, wo eine ordnungsgemäße Liquidation oder Insolvenz durch die Leitungsorgane und Gesellschafter bewusst verhindert wurde, was gerade durch die gewerblich betriebenen Firmenbestattungen vor dem MoMiG beachtliche Ausmaße angenommen hatte.18 Dieser Zweck der Vorschrift verschiebt die Betrachtung weg von den Fällen der Zahlung an die Gesellschafter im Allgemeinen hin zu den Fällen der Ausplünderung und bewussten Vermögensverschiebung durch die Gesellschafter unter Mitwirkung der Geschäftsführer. Die Auslegung der Tatbestandsmerkmale des § 64 Satz 3 GmbHG, die sich stets auch an der Zielsetzung der Vorschrift und der gesetzgeberischen Intention auszurichten hat, sollte daher mit Zurückhaltung erfolgen, um den Anwendungsbereich im Hinblick auf diese Konzeption des § 64 Satz 3 GmbHG als Ausnahmevorschrift nicht zu überdehnen.19 b) § 64 Satz 3 GmbHG und die Insolvenzanfechtung gemäß §§ 129 ff. InsO Im Verhältnis zum Anfechtungsrecht soll § 64 Satz 3 GmbHG eine eigenständige Bedeutung gewinnen, wenn die Anfechtungsfristen abgelaufen sind oder die Voraussetzungen der Anfechtung nicht mit Erfolg nachgewiesen werden können.20 Insofern scheint § 64 Satz 3 GmbHG eine Auffangfunktion zuzu-

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14 Reg-Entwurf (Fn. 6), BT-Drucks. 16/6140, S. 25. 15 K. Schmidt, GmbHR 2007, 1, 5; zu den Unterschieden zwischen dem Kapitalschutzsystem und dem Solvenztestsystem Jungmann, ZGR 2006, 638 ff. 16 Zu der Frage, ob § 64 Satz 3 GmbHG ein Leistungsverweigerungsrecht zu entnehmen ist, s. Kleindiek (Fn. 1), § 64 GmbHG Rz. 20 ff.; Altmeppen (Fn. 1), § 64 GmbHG Rz. 60; Wicke in Wicke, § 64 GmbHG Rz. 26; H. F. Müller (Fn. 1), § 64 GmbHG Rz. 174 m. w. N.; Dahl/Schmitz, NZG 2009, 567, 570; Haas, DStR 2010, 1991 ff. 17 Reg-Entwurf (Fn. 6), BT-Drucks. 16/6140, S. 26; Kleindiek, ZGR 2007, 276 ff. 18 Zu der Praxis der Firmenbestattungen s. Kleindiek, ZGR 2007, 276 ff. 19 Kleindiek in FS K. Schmidt, S. 893, 906. 20 Reg-Entwurf (Fn. 6), BT-Drucks. 16/6140, S. 46.

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kommen für den Fall, dass die Anfechtung gegen den Zahlungsempfänger nicht gelingt. Diese potentiell ausufernde Betrachtung ist jedoch erneut vor dem Hintergrund eines eng umgrenzten Anwendungsbereichs des § 64 Satz 3 GmbHG in Missbrauchsfällen einzuschränken. Verlangt man im Rahmen der tatbestandlichen Voraussetzungen des § 64 Satz 3 GmbHG ein besonderes gläubigerschädigendes Element oder eine missbräuchliche Gesinnung und bringt § 64 Satz 3 GmbHG so nur in den Fällen der bewussten Ausplünderung der Gesellschaft zur Anwendung, könnte die Norm in der Tat eine bereits präventiv disziplinierende Ergänzung zum Anfechtungsrecht bilden. c) § 64 Satz 3 GmbHG und die Existenzvernichtungshaftung Der Gedanke einer engen und nur auf Missbrauchsfälle beschränkten Anwendung des § 64 Satz 3 GmbHG begründet eine enge Nähebeziehung zu der Existenzvernichtungshaftung.21 Wie die Existenzvernichtungshaftung soll auch § 64 Satz 3 GmbHG die Gesellschaftsgläubiger vor der Möglichkeit eines missbräuchlichen Umgangs mit dem Gesellschaftsvermögen bedingt durch die beschränkte Haftung in der Rechtsform der GmbH schützen.22 In dieser Hinsicht ergänzt § 64 Satz 3 GmbHG das Schutzkonzept des existenzvernichtenden Eingriffs, indem der Geschäftsführer in diesen Fällen zur Verantwortung gezogen wird.23 Dies führt zu einer Präzisierung des engen Anwendungsbereichs des § 64 Satz 3 GmbHG und nimmt der Vorschrift, die auf den ersten Blick eine Vielzahl von Sachverhalten zu erfassen und die Geschäftsführer enorm zu beschränken scheint, einiges von ihrem Schrecken. Allerdings ist auch im Rahmen der Existenzvernichtungshaftung bereits über §§ 826, 830 BGB eine Verantwortlichkeit der Geschäftsführer denkbar. Welchen Nutzen eine zusätzliche Haftungsnorm in § 64 Satz 3 GmbHG in diesen Fällen haben soll, bleibt unklar. Mag der Schadensnachweis für den Insolvenzverwalter im Einzelfall schwierig und die Ausgestaltung des § 64 Satz 3 GmbHG als Erstattungsanspruch in diesen Fällen von Vorteil sein, so ist auch zu bedenken, dass der Erstattungsanspruch nur die Rückführung in Höhe der Zahlung ermöglicht. Der durch den missbräuchlichen Entzug von Liquidität entstandene Schaden kann unter Umständen viel größere Ausmaße annehmen, so dass ein bloßer Erstattungsanspruch den Missbrauch nicht in ausreichendem Maße kompensieren würde. Da zudem im Rahmen des § 64 Satz 3 GmbHG nicht geklärt ist, ob dem Geschäftsführer ein Leistungsverweigerungsrecht zukommt, bleibt der eigenständige Nutzen des § 64 Satz 3 GmbHG gegenüber §§ 826, 830 BGB zweifelhaft.

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21 Hueck/Fastrich in Baumbach/Hueck, § 13 GmbHG Rz. 57 ff.; Liebscher in MünchKomm. GmbHG, Anhang F: Die GmbH als Konzernbaustein, Rz. 1 ff. m. w. N.; Lutter in Lutter/Hommelhoff, § 13 GmbHG Rz. 28. 22 Reg-Entwurf (Fn. 6), BT-Drucks. 16/6140, S. 25 f.; 46 f.; Weller in MünchKomm. GmbHG, Einleitung, Rz. 415 ff. 23 Ähnlich Geißler, DZWiR 2011, 309, 314; Greulich/Rau, NZG 2008, 284 f.; Niesert/ Hohler, NZI 2009, 345, 348.

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d) § 64 Satz 3 GmbHG und die allgemeine Geschäftsführerhaftung gemäß § 43 Abs. 2 GmbHG Im Verhältnis zu § 43 Abs. 2 GmbHG lässt sich § 64 Satz 3 GmbHG vergleichsweise einfach als Konkretisierung einordnen.24 Der Rechtsgrund der Haftung wäre dann in § 43 Abs. 1 GmbHG angelegt, im Verstoß gegen den allgemeinen Sorgfaltsmaßstab. Der Haftungsnorm des § 64 Satz 3 GmbHG lassen sich inzident weitere Vorgaben für Geschäftsführer im Hinblick auf die Prüfungs- und Überwachungspflichten hinsichtlich der finanziellen Situation der Gesellschaft entnehmen. Dennoch bleibt die Frage offen, warum diese Konkretisierung in § 64 Satz 3 GmbHG erfolgen musste. Der Vorteil des § 64 Satz 3 GmbHG als Erstattungsnorm gegenüber § 43 Abs. 2 GmbHG als Schadensersatzanspruch entfällt, wenn der verursachte Schaden weit über die Höhe der einzelnen Zahlung hinaus geht. Ein Leistungsverweigerungsrecht lässt sich § 64 Satz 3 GmbHG nicht eindeutig entnehmen. Und selbst die Tatsache, dass eine Weisung der Gesellschafter eine Haftung gemäß § 64 Satz 3 GmbHG nicht ausschließen kann,25 fällt im Rahmen des Vergleichs nicht derart ins Gewicht, dass ein eigenständiger Nutzen und Anwendungsbereich des § 64 Satz 3 GmbHG erkennbar wäre. Denn auch im Rahmen des § 43 Abs. 2 GmbHG ist es anerkannt, dass Weisungen der Gesellschafter zu existenzvernichtenden Eingriffen keine Bindungswirkung für den Geschäftsführer entfalten.26 Im Ergebnis rechtfertigt § 64 Abs. 3 GmbHG als Konkretisierung der Rechtsfolgen des § 43 GmbHG für die Fälle der Auszahlung in der Krise an Gesellschafter, die zur Insolvenz führen, kaum den Aufwand einer eigenen – so rudimentären – Norm, da dasselbe Ergebnis über § 43 Abs. 1 und 2 GmbHG direkt erzielbar wäre. 2. Qualifikation als insolvenzrechtliche Norm Die ausdrückliche Qualifikation der Norm als Insolvenzrecht sollte vor allem die Anwendung der Schutzvorschrift auf Auslandsgesellschaften ermöglichen.27 Die geringen Gründungsvoraussetzungen ausländischer Gesellschaften sollen bei einer Tätigkeit in Deutschland mit der Anwendung des deutschen Insolvenzrechts kompensiert werden.28 Es ist jedoch mehr als fraglich, ob diese gesetzgeberische Intention mit einem § 64 Satz 3 GmbHG in seiner konkreten Ausgestaltung umgesetzt werden konnte.29 Es steht darüber hinaus zu be-

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24 Desch, BB 2010, 2586, 2589. 25 Dies ist §§ 64 Satz 4, 43 Abs. 3, 4 GmbHG zu entnehmen. 26 Zöllner/Noack in Baumbach/Hueck, § 43 GmbHG Rz. 34, 62a; Fleischer in MünchKomm. GmbHG, § 43 GmbHG Rz. 277 f. 27 Reg-Entwurf (Fn. 6), BT-Drucks. 16/6140, S. 47. Kritisch dazu Greulich/Bunnemann, NZG 2006, 681, 682 f.; Roth, GmbHR 2008, 1184, 1190. 28 Reg-Entwurf (Fn. 6), BT-Drucks. 16/6140, S. 47. 29 In diesem Zusammenhang ist auch das Versäumnis des Gesetzgebers erwähnenswert, im Zuge des MoMiG die Krisenverantwortung der Leitungsorgane einheitlich in der Insolvenzordnung zu regeln. Während für die Insolvenzantragspflicht in § 15a InsO dieser Schritt vollzogen wurde, bleiben die zivilrechtlichen Haftungsnormen bei Insolvenzverschleppung und verbotener Auszahlung weiterhin über alle Gesetze

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fürchten, dass sich der insolvenzrechtliche Bezug der Vorschrift auch auf die Auslegung der Tatbestandsmerkmale bei reinen Inlandssachverhalten (nachteilig für die Geschäftsführer) auswirken wird. a) Auswirkungen der Ausrichtung von Haftungsnormen an Zielsetzungen des Insolvenzrechts Das Insolvenzrecht zielt auf die gleichmäßige Befriedigung der Gläubiger und soll dem Insolvenzverwalter unter anderem ermöglichen, die Insolvenzmasse zu Gunsten eben dieser Gläubiger anzureichern. Dies geschieht unter anderem dadurch, dass Vermögensverschiebungen zu Lasten der Masse wieder rückgängig oder Haftungsansprüche gegen Leitungsorgane und Gesellschafter geltend gemacht werden. Gerade im Hinblick auf die Haftungsansprüche gegen die Geschäftsführer räumte die Rechtsprechung den Insolvenzverwaltern bisher einige Erleichterungen ein, um die Durchsetzung dieser Ansprüche erfolgreich betreiben zu können.30 So werden eine weite und insolvenzverwalterfreundliche Auslegung der jeweiligen Tatbestandsmerkmale praktiziert und Beweiserleichterungen bei der gerichtlichen Geltendmachung eingeräumt. Auch die Ausgestaltung der Zahlungsverbote in § 64 GmbHG als Ersatzanspruch ist ein Indiz auf die insolvenzverwalterfreundliche Ausrichtung der Vorschrift.31 Der Insolvenzverwalter muss damit nicht mehr den konkreten Schaden nachweisen, sondern kann pauschal auf die jeweils getätigten Zahlungen verweisen. Zudem wird bei den Zahlungsverboten des § 64 Satz 1 GmbHG, § 130a HGB das Verschulden bei Vorliegen einer Überschuldung vermutet.32 Für einen Nachweis der Überschuldung reicht als (starkes) Indiz schon die Darlegung einer handelsbilanziellen Überschuldung aus.33 Schließlich wird auch der Begriff der Zahlung so weit ausgelegt, dass dem Geschäftsführer in der Regel nur über die Ausnahme des § 64 Satz 2 GmbHG eine Entlastung gelingen kann.34

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30 31 32 33 34

verstreut. Eine einheitliche Regelung in der InsO wäre daher nicht nur dogmatisch konsequent, sondern auch aus praktischen Gründen zu begrüßen. So auch Kleindiek (Fn. 1), § 64 GmbHG Rz. 4. BGH, ZInsO 2008, 1019; BGHZ 143, 184, 186 ff.; OLG Düsseldorf, WM 1996, 1922, 1926; Flume, ZIP 1994, 337, 341; Haas in Baumbach/Hueck, § 64 GmbHG Rz. 65 m. w. N.; K. Schmidt in Schlegelberger, § 130a HGB Rz. 32. BGH, NJW 1974, 1088; BGH, NJW 2000, 668; BGH, BB 2007, 1241; Goette in FS Kreft, S. 53, 62; Fleck, GmbHR 1974, 224 ff.; Übersicht bei K. Schmidt, ZHR 168, 637 ff. Hillmann in Ebenroth/Boujong/Joost/Strohn, § 130a HGB Rz. 25; Haas (Fn. 30), § 64 GmbHG Rz. 126. BGH, ZInsO 2008, 1019. BGHZ 143, 184, 186 ff.; OLG Düsseldorf, WM 1996, 1922, 1926; Flume, ZIP 1994, 337, 341; Haas (Fn. 30), § 64 GmbHG Rz. 65 m. w. N.; K. Schmidt (Fn. 39), § 130a HGB Rz. 32.

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b) Mögliche Auswirkung des insolvenzrechtlichen Bezugs des § 64 Satz 3 GmbHG auf dessen Auslegung Auch im Zusammenhang mit § 64 Satz 3 GmbHG werden bereits konkrete Beweiserleichterungen diskutiert, um den Insolvenzverwalter nicht vor unüberwindbare Hindernisse u. a. beim Nachweis des Zusammenhangs zwischen Zahlung und Zahlungsunfähigkeit zu stellen.35 Zudem wird eine einheitliche Auslegung zu § 64 Satz 1 GmbHG für den Begriff der Zahlung befürwortet.36 Es steht zu vermuten, dass sich die Tendenz zu einer insolvenzverwalterfreundlichen Auslegung und Anwendung auch in § 64 Satz 3 GmbHG fortsetzen wird. Aus Sicht der Insolvenzverwalter und zum Schutze der Gläubiger gibt es durchaus auch gewichtige Gründe dafür, eine erleichterte Durchsetzung von Haftungsansprüchen gegen die verantwortlichen Leitungsorgane zu ermöglichen. Die Kehrseite ist jedoch Verschärfung der Haftung zu Lasten der Geschäftsführer.37 Vor diesem Hintergrund ist es umso wichtiger, dass schon der Anwendungsbereich des § 64 Satz 3 GmbHG eng begrenzt wird. 3. Fazit Trotz der ausführlichen Gesetzesbegründung ist § 64 Satz 3 GmbHG nur schwer in das bestehende Schutzsystem einzuordnen:38 Am ehesten lässt sich § 64 Satz 3 GmbHG dem Zweck und Anwendungsbereich entsprechend in der Nähe des existenzvernichtenden Eingriffs verorten. Aber selbst mit dieser Zuordnung ergeben sich im Hinblick auf die Notwendigkeit der Norm Zweifel. Die Anwendung des § 64 Satz 3 GmbHG sollte auf Ausnahmefälle beschränkt bleiben. Dem Geschäftsführer soll das Haftungsrisiko nicht aufgebürdet werden, wenn er seinen Pflichten im Rahmen einer ordnungsgemäßen Geschäftsführung nachkommt. Auch der insolvenzrechtliche Bezug der Vorschrift darf nicht dazu führen, die Haftung gemäß § 64 Satz 3 GmbHG zu Gunsten einer vereinfachten Masseanreicherung durch die Insolvenzverwalter über Gebühr auszudehnen.

III. Zahlungen auf fällige und durchsetzbare Gesellschafterforderungen im Rahmen des § 64 Satz 3 GmbHG Nicht nur die dogmatische Einordnung in das bestehende Schutzsystem des deutschen Insolvenz- und Gesellschaftsrechts, sondern auch die Frage nach der Handhabbarkeit in der Praxis bereitet im Rahmen des § 64 Satz 3 GmbHG Schwierigkeiten. Angesichts des weiten Wortlauts sind Geschäftsführer verunsichert, in welchen Fällen ein Verstoß gegen § 64 Satz 3 GmbHG in Betracht

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35 Haas (Fn. 30), § 64 GmbHG Rz. 108; Geißler, DZWiR 2011, 309, 315. 36 H. F. Müller (Fn. 1), § 64 GmbHG Rz. 159; Knof, DStR 2007, 1536, 1537; krit. Böcker/Poertzgen, WM 2007, 1203, 1204. 37 Ähnlich K. Schmidt, GmbHR 2007, 1, 6. 38 Greulich/Bunnemann, NZG 2006, 681; K. Schmidt, GmbHR 2007, 1, 7; Greulich/ Rau, NZG 2008, 284, 286; Roth, GmbHR 2008, 1184, 1190.

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kommt und welche Vorkehrungen ergriffen werden können, um der möglichen Haftung aus § 64 Satz 3 GmbHG vorzubeugen. Nachfolgend soll der Begriff der Zahlung auf eine fällige und einredefreie Forderung als besonderer Problemfall näher beleuchtet werden. Darüber hinaus soll das Erfordernis einer Prognoseentscheidung im Rahmen des § 64 Satz 3 GmbHG hinsichtlich ihrer praktischen Konsequenzen untersucht werden. 1. Begriff der Zahlung – fällige und durchsetzbare Gesellschafterforderungen im Anwendungsbereich des § 64 Satz 3 GmbHG Der Zahlungsbegriff im Rahmen des § 64 Satz 3 GmbHG ist entsprechend den Grundsätzen zu § 64 Satz 1 GmbHG zu bestimmen.39 Danach darf der Geschäftsführer weder reine Geldleistungen noch sonstige vergleichbare Leistungen zulasten des Gesellschaftsvermögens tätigen, durch die der Gesellschaft im Ergebnis Liquidität entzogen wird.40 Dies gilt nicht nur für Zahlungen, auf die gar kein Anspruch des Gesellschafters besteht wie z. B. verdeckte Gewinnausschüttungen,41 sondern auch für Zahlungen, auf die der Gesellschafter einen Anspruch hat. Dabei lassen weder der Wortlaut der Vorschrift noch die Definition der Zahlung eine Unterscheidung in Zahlungen auf fällige und nicht fällige Gesellschafterforderungen zu. a) Zweifel an der Anwendbarkeit von § 64 Satz 3 GmbHG auf fällige und einredefreie Gesellschafterforderungen Dennoch bestehen Zweifel, ob der Gesetzgeber insbesondere die Rückzahlung fälliger Gesellschafterdarlehen, die gemäß § 30 Abs. 1 Satz 3 GmbHG nunmehr auch in der Krise der Gesellschaft nicht gegen das Kapitalerhaltungsgebot verstoßen, dem Anwendungsbereich des § 64 Satz 3 GmbHG unterstellen wollte.42 § 64 Satz 3 GmbHG soll nicht als „Ersatz“ für das abgeschaffte Eigenkapitalersatzrecht dienen und gerade nicht durch § 30 Abs. 1 Satz 3 GmbHG bewusst geschaffene Schutzlücken schließen. Sofern jedoch auch alle fälligen und einredefreien Gesellschafterforderungen § 64 Satz 3 GmbHG unterstellt werden, würde damit auch die liberalisierende Wirkung des § 30 Abs. 1 Satz 3 GmbHG im Ergebnis aufgehoben.43 Auch die Formulierung in der Gesetzesbegründung spricht dafür, dass fällige und einredefreie Gesellschafterforderungen im Rahmen des § 64 Satz 3 GmbHG

__________ 39 Kleindiek (Fn. 1), § 64 GmbHG Rz. 24; H. F. Müller (Fn. 1), § 64 GmbHG Rz. 159, 160; Haas (Fn. 30), § 64 GmbHG Rz. 96 ff.; Wicke (Fn. 16), § 64 GmbHG Rz. 27 ff. 40 Niesert/Hohler, NZI 2009, 345, 349; Kleindiek (Fn. 1), § 64 GmbHG Rz. 24; H. F. Müller (Fn. 1), § 64 GmbHG Rz. 159, 160; Haas (Fn. 30), § 64 GmbHG Rz. 96 ff.; Wicke (Fn. 16), § 64 GmbHG Rz. 27 ff.; Poertzgen/Meyer, ZInsO 2012, 249, 252 m. w. N. 41 Strohn, NZG 2011, 1161, 1168 f.; Altmeppen (Fn. 1), § 64 GmbHG Rz. 61 ff. 42 Spliedt, ZIP 2009, 149 ff.; Desch, BB 2010, 2586, 2587; Niesert/Hohler, NZI 2009, 345, 347; m. w. N. Strohn, NZG 2011, 1161 ff. 43 Desch, BB 2010, 2586, 2587; Niesert/Hohler, NZI 2009, 345, 347.

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außer Acht zu lassen sind,44 wenn in den Materialien von „Ausplünderung“ und „Vermögensverschiebung“ im Zusammenhang mit § 64 Satz 3 GmbHG die Rede ist. Daraus könnte der Schluss gezogen werden, dass nur kompensationslose Zahlungen in den Anwendungsbereich des § 64 Satz 3 GmbHG fallen.45 Die Zahlung zur Begleichung einer fälligen und einredefreien Forderung des Gesellschafters mit der Folge, dass auch eine fällige und liquiditätswirksame Verbindlichkeit der Gesellschaft entfällt, kann demgemäß nicht erfasst sein.46 b) § 64 Satz 3 GmbHG nicht nur bei kompensationslosen Zahlungen Die Argumentation mit der Formulierung in der Gesetzesbegründung ist jedoch nicht stichhaltig. Aus den verwendeten Begrifflichkeiten kann nicht zwingend darauf geschlossen werden, dass nur kompensationslose Zahlungen erfasst werden sollen. Zum einen ist schon unklar, wann eine kompensationslose Zahlung vorliegen soll und welche Form von Kompensation die Anwendbarkeit von § 64 Satz 3 GmbHG ausschließen kann. Denn auch in den Fällen einer Zahlung auf eine nicht fällige oder eine einredebehaftete Forderung, die unzweifelhaft unter § 64 Satz 3 GmbHG fallen können, erhält die Gesellschaft im Ergebnis eine Kompensation in Form des Wegfalls einer Verbindlichkeit. Darüber hinaus würde ein derartiges Verständnis des § 64 Satz 3 GmbHG die Vorschrift komplett leer laufen lassen, da damit Umgehungsmöglichkeiten für Geschäftsführer und Gesellschafter eröffnet werden. Diese könnten zum Schein einen gegenseitigen Vertrag abschließen, um die Zahlungen an den Gesellschafter zum Nachteil der Gläubiger aber ohne das Haftungsrisiko des § 64 Satz 3 GmbHG durchführen zu können. c) Anwendungsbereich des § 64 Satz 3 GmbHG vor dem Hintergrund des § 30 Abs. 1 Satz 3 GmbHG Die Überlegung, dass mit § 64 Satz 3 GmbHG die durch § 30 Abs. 1 Satz 3 GmbHG eingeführte Liberalisierung im Hinblick auf die Rückzahlung von Gesellschafterdarlehen nicht aufgehoben werden darf,47 ist ebenfalls kein tragfähiges Gegenargument. Auch mit diesem Verständnis von § 64 Satz 3 GmbHG können und müssen Zahlungen auf fällige und einredefreie Forderungen von § 64 Satz 3 GmbHG erfasst werden. Denn bei Anwendung des § 64 Satz 3 GmbHG auf die Zahlung fälliger und einredefreier Forderungen ergibt sich

__________ 44 Desch, BB 2010, 2586, 2587; Seulen/Osterloh, ZInsO 2010, 881, 884. 45 Reg-Entwurf (Fn. 6), BT-Drucks. 16/6140, S. 41, 42; s. dazu auch Desch, BB 2010, 2586, 2587. 46 So auch Spliedt, ZIP 2009, 149, 159 f. S. dazu auch Desch, BB 2010, 2586, 2587; Altmeppen (Fn. 1), § 64 GmbHG Rz. 61 ff. 47 Desch, BB 2010, 2586, 2587; anders Poertzgen/Meyer, ZInsO 2012, 249, 253 f., die in § 64 Satz 3 GmbHG die Auffangnorm für die durch § 30 Abs. 1 Satz 3 GmbHG geschaffenen Schutzlücken sehen. S. dazu auch Hölzle, GmbHR 2007, 729, 731; Hirte, ZInsO 2008, 689 ff.; Knof, DStR 2007, 1536 ff.; Seibert, ZIP 2006, 1157, 1167; Strohn, NZG 2011, 1161, 1168.

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durch die Auslegung der einzelnen Tatbestandsmerkmale ein enger Anwendungsbereich für § 64 Satz 3 GmbHG. Die Rückzahlung von Gesellschafterdarlehen in Zeiten der Krise der Gesellschaft wird nicht über Gebühr eingeschränkt und das Ziel des Gesetzgebers, mit § 30 Abs. 1 Satz 3 GmbHG die Rückzahlung von Gesellschafterdarlehen im Vorfeld der Insolvenz zu ermöglichen, nicht konterkariert. aa) Zahlungsunfähigkeit bzw. drohende Zahlungsunfähigkeit im Sinne der §§ 17, 18 InsO Ausgangspunkt ist dabei die Definition der Zahlungsunfähigkeit bzw. drohenden Zahlungsunfähigkeit im Rahmen des § 64 Satz 3 GmbHG, die mit der allgemeinen Definition der Zahlungsunfähigkeit bzw. drohenden Zahlungsunfähigkeit gemäß §§ 17, 18 InsO übereinstimmt.48 Die einheitliche Auslegung ist dabei zwingend, da § 64 Satz 3 GmbHG als insolvenzrechtliche Norm zu qualifizieren ist und eine abweichende Beurteilung der Zahlungsunfähigkeit bzw. drohenden Zahlungsunfähigkeit mit erheblicher Rechtsunsicherheit in der Anwendung des § 64 Satz 3 GmbHG verbunden wäre.49 Gemäß § 17 InsO liegt Zahlungsunfähigkeit vor, wenn die Gesellschaft nicht in der Lage ist, ihre fälligen Zahlungspflichten zu erfüllen.50 Für die Definition der drohenden Zahlungsunfähigkeit tritt ein prognostisches Element hinzu. Eine drohende Zahlungsunfähigkeit liegt vor, wenn die Gesellschaft voraussichtlich nicht in der Lage sein wird zum Zeitpunkt der Fälligkeit ihre bestehenden Zahlungspflichten zu erfüllen.51 Um dies zu ermitteln, sind den fälligen Verbindlichkeiten der Gesellschaft (für den Prognosezeitraum) in einem Liquiditätsstatus deren liquide Mittel gegenüberzustellen. Sofern sich dabei eine Deckungslücke von 10 % oder mehr ergibt und die Lücke in einem absehbaren Zeitraum von drei Wochen nicht beglichen werden kann, ist die Gesellschaft zahlungsunfähig bzw. droht die Gesellschaft zahlungsunfähig zu werden.52

__________ 48 H. F. Müller (Fn. 1), § 64 GmbHG Rz. 166; Haas (Fn. 30), § 64 GmbHG Rz. 98; ohne ausdrücklichen Verweis auf § 17 InsO jedoch im Ergebnis mit gleicher Überlegung Kleindiek (Fn. 1), § 64 GmbHG Rz. 27 f. S. auch Niesert/Hohler, NZI 2009, 345, 350; Desch, BB 2010, 2586, 2587. 49 Zur insolvenzrechtlichen Qualifikation s. Altmeppen (Fn. 1), § 64 GmbHG Rz. 55; H. F. Müller (Fn. 1), § 64 GmbHG Rz. 158; Poertzgen/Meyer, ZInsO 2012, 249 ff.; Haas (Fn. 30), § 64 GmbHG Rz. 21 ff. 50 Schröder in HambKomm. InsO, § 17 InsO Rz. 4; Leithaus in Andres/Leithaus, § 17 InsO Rz. 2; Eilenberger in MünchKomm. InsO, § 17 InsO Rz. 6 ff.; Mönning in Nerlich/Römermann, § 17 InsO Rz. 12 ff.; Uhlenbruck in Uhlenbruck, § 17 InsO Rz. 4 ff. 51 Statt vieler Uhlenbruck (Fn. 50), § 18 InsO Rz. 3 ff. 52 BGHZ 163, 134 = ZInsO 2005, 807; Eilenberger (Fn. 50), § 17 InsO Rz. 6 ff.; Mönning (Fn. 50), § 17 InsO Rz. 12 ff.; Uhlenbruck (Fn. 50), § 17 InsO Rz. 4 ff.; zum Prognosezeitraum s. Uhlenbruck (Fn. 50), § 18 InsO Rz. 18 f.

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bb) Zahlungsunfähigkeit bei Begleichung einer fälligen Forderung Begleicht der Geschäftsführer eine fällige und durchsetzbare Forderung des Gesellschafters, so hat er dabei zu prüfen, ob dies zur Zahlungsunfähigkeit der Gesellschaft führt oder führen wird. Im Liquiditätsstatus, den er dabei zur Hilfe zieht, hat er nicht nur einen Abfluss von liquiden Mitteln zu verzeichnen, sondern in gleicher Höhe auch den Wegfall einer fälligen Verbindlichkeit. Sofern also eine Unterdeckung vor Zahlung auf die betreffende Forderung des Gesellschafters nicht bestand, kann eine solche durch die Zahlung nicht entstehen und damit die Zahlungsunfähigkeit nicht auslösen. Übersteigt die Summe der fälligen Verbindlichkeiten die Summe der liquiden Mittel aber bereits vor der Zahlung auf eine fällige Forderung, ist die Zahlung schon gemäß § 64 Satz 1 GmbHG haftungsbegründend. Für § 64 Satz 3 GmbHG verbleiben bei fälligen und einredefreien Forderungen originär die Fälle, in welchen die Zahlung einer fälligen Verbindlichkeit eine wesentliche Deckungslücke von über 10 % herbeiführt, während vorher lediglich eine unwesentliche Deckungslücke bestand. Nur in diesen seltenen Fällen ist der Anwendungsbereich des § 64 Satz 3 GmbHG trotz Anwendbarkeit des § 30 Abs. 1 Satz 3 GmbHG eröffnet.53 Damit wird aber der durch § 30 Abs. 1 Satz 3 GmbHG geschaffene Freiraum durch § 64 Satz 3 GmbHG nicht derart eingeschränkt, dass dadurch eine vollständige Herausnahme fälliger Forderungen aus § 64 Satz 3 GmbHG zu folgern wäre. cc) Drohende Zahlungsunfähigkeit bei Begleichung einer fälligen Forderung Selbst wenn davon auszugehen ist, dass die Zahlung auf eine fällige und einredefreie Gesellschafterforderung zum Zeitpunkt der Zahlung in der Gegenwart nicht zur Zahlungsunfähigkeit führt, könnte eine Haftung des Geschäftsführers gemäß § 64 Satz 3 GmbHG jedoch dann begründet sein, wenn die ausgezahlten liquiden Mittel möglicherweise zu einem späteren Zeitpunkt von der Gesellschaft zur Erfüllung ihrer Verbindlichkeiten benötigt werden. Damit würde die Zahlung auf eine fällige und einredefreie Forderung des Gesellschafters auch dann zur Haftung gemäß § 64 Satz 3 GmbHG führen, wenn die Zahlung zunächst noch liquiditätsneutral scheint. (1) Prognoseelement im Rahmen des § 64 Satz 3 GmbHG § 64 Satz 3 GmbHG ist durch die Formulierung „führen musste“ auch ein prognostisches Element zu entnehmen. Der Geschäftsführer ist danach verpflichtet, die Auswirkungen der Zahlung nicht nur in der Gegenwart sondern auch in der Zukunft zu bedenken. Dabei ist der Prognosezeitraum zwar noch ungeklärt. In Anlehnung an § 18 InsO wird jedoch von einem Prognosezeitraum des laufenden und künftigen Geschäftsjahres auszugehen sein.54

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53 Haas, DStR 2010, 1991, 1992; Kleindiek (Fn. 1), Anh. zu § 64 GmbHG Rz. 9; Haas (Fn. 30), § 64 GmbHG Rz. 39; Poertzgen/Meyer, ZInsO 2012, 249, 253; Strohn, NZG 2011, 1161, 1168. Weitergehender Altmeppen (Fn. 1), § 64 GmbHG Rz. 61 ff. 54 Statt vieler Uhlenbruck (Fn. 50), § 18 InsO Rz. 3 ff.

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(2) Hypothetischer Kausalverlauf nicht zu berücksichtigen Diese Überlegung führt jedoch nicht zu einer anderen Bewertung hinsichtlich fälliger und einredefreier Gesellschafterforderungen im Anwendungsbereich des § 64 Satz 3 GmbHG. Der Anwendungsbereich des § 64 Satz 3 GmbHG wird durch das prognostische Element nicht übermäßig ausgedehnt. Dies liegt zum einen daran, dass bei Weigerung des Geschäftsführers, die fällige und einredefreie Forderung des Gesellschafters zu begleichen, die Liquiditätssituation der Gesellschaft auch in der Zukunft nicht verbessert wird. Zwar bleiben die liquiden Mittel im Vermögen der Gesellschaft. Daneben erscheint aber auch die fällige und einredefreie Forderung55 des Gesellschafters weiterhin im Liquiditätsstatus. Folglich kann auch bei einer Prognosebetrachtung die Zahlung auf eine fällige und durchsetzbare Gesellschafterforderung nur dann zur Zahlungsunfähigkeit führen, wenn aus einer unwesentlichen Deckungslücke eine wesentliche Deckungslücke entsteht. Allenfalls könnte man damit argumentieren, dass die Weigerung des Geschäftsführers, in der Gegenwart nicht auf die fällige und durchsetzbare Gesellschafterforderung zu zahlen, weil die liquiden Mittel zu einem späteren Zeitpunkt gebraucht werden, die Beteiligten unter Umständen dazu veranlasst hätte, über eine Stundung und einen Rangrücktritt zu verhandeln. Mit einer Stundung würde die Fälligkeit der Gesellschafterforderung hinausgeschoben, unter Umständen solange bis eine Auszahlung ohne Verstoß gegen § 64 Satz 3 GmbHG wieder möglich ist. Der Gesellschaft stünden mehr liquide Mittel zu Verfügung. Die Zahlung des Geschäftsführers auf eine fällige und durchsetzbare Gesellschafterforderung würde dann in einer weitaus größeren Anzahl von Fällen zur Zahlungsunfähigkeit und damit Haftung des Geschäftsführers gemäß § 64 Satz 3 GmbHG führen können. Dies betrifft jedoch das Merkmal der Kausalität im Rahmen des § 64 Satz 3 GmbHG und ändert grundsätzlich nichts daran, dass die Zahlung auf eine fällige und einredefreie Gesellschafterforderung sowohl in der Gegenwart als auch in der Zukunft nur in wenigen Ausnahmefällen zu einer Zahlungsunfähigkeit führen wird. Die Option, mit dem Gesellschafter einen Rangrücktritt verhandeln zu können, ist zudem ein hypothetischer Kausalverlauf, dessen Berücksichtigung im Rahmen der Kausalität nicht ohne Weiteres zulässig ist.56 Es bleibt folglich bei dem Ergebnis, dass die Einbeziehung fälliger und einredefreier Gesellschafterforderungen den Anwendungsbereich des § 64 Satz 3 GmbHG nicht derart ausweitet, dass die Bestrebungen des MoMiG-Gesetzgebers, die Rückzahlung fälliger Gesellschafterdarlehen in der Krise zu ermöglichen, unterlaufen werden.

__________ 55 Zu der Frage, ob aus § 64 Satz 3 GmbHG ein Leistungsverweigerungsrecht hergeleitet werden kann, s. III.2. und III.3. 56 Zur hypothetischen Kausalität im Rahmen der Anfechtung s. Kirchhof in MünchKomm. InsO, § 129 InsO Rz. 180 ff.; Huber in Gottwald, Insolvenzrechts-Handbuch, § 46 Rz. 73 ff.

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d) Fazit Sowohl die Zahlungen auf nicht fällige und einredebehaftete als auch auf fällige und einredefreie Gesellschafterforderungen fallen potentiell in den Anwendungsbereich des § 64 Satz 3 GmbHG. Zahlt der Geschäftsführer auf eine Forderung des Gesellschafters, auf die dieser in der Art oder zu dieser Zeit keinen Anspruch hatte,57 ist die strenge Haftung des § 64 Satz 3 GmbHG gerechtfertigt, da der Geschäftsführer dadurch den Grundsatz der vorrangigen Befriedigung der Insolvenzgläubiger vor den Gesellschaftern (absolute priority rule) verletzt.58 Dieser Grundsatz stellt als Kehrseite der beschränkten Haftung der Gesellschafter für Verbindlichkeiten der Gesellschaft sicher, dass die Gesellschafter ihr Kapital in der werbenden Gesellschaft belassen und den Gesellschaftsgläubigern das Recht des ersten Zugriffs auf das Gesellschaftsvermögen einräumen. Begleicht der Geschäftsführer dagegen eine fällige und einredefreie Forderung in finanziell schwierigen Zeiten der Gesellschaft, macht er sich nur haftbar, wenn diese Zahlung zur Zahlungsunfähigkeit führt oder künftig führen wird. Bei fälligen und einredefreien Forderungen kann dies in konsequenter Anwendung der Kriterien zu §§ 17, 18 InsO nur gegeben sein, wenn durch die Zahlung aus einer unwesentlichen Deckungslücke eine wesentliche Deckungslücke entsteht.59 Damit verbleibt für § 64 Satz 3 GmbHG in diesen Fällen ein enger Anwendungsbereich. Dies ist jedoch in Übereinstimmung mit dem Verständnis dieser Vorschrift als Ausnahmenorm vereinbar und bedarf keiner Korrektur.60 Der Geschäftsführer soll nicht dazu verpflichtet werden, per se alle Zahlungen an die Gesellschafter in Krisenzeiten der Gesellschaft einzustellen. 2. Kein Bedürfnis für erweiternde Auslegung des § 64 Satz 3 GmbHG Die grundsätzliche Entscheidung, dass auch fällige und einredefreie Forderungen in den Anwendungsbereich des § 64 Satz 3 GmbHG fallen, entspricht der herrschenden Meinung in der Literatur.61 Allerdings ziehen einige Stimmen aus der Tatsache, dass § 64 Satz 3 GmbHG bei fälligen und einredefreien Forderungen kaum ein eigenständiger Anwendungsbereich verbleibt, den Schluss, dass § 64 Satz 3 GmbHG korrigierend ausgelegt werden müsste. Dahinter steht

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57 Interessant in diesem Zusammenhang ist auch die Frage, ob inwiefern die Zahlung zur Erfüllung einer Gewinnauszahlungsanspruchs des Gesellschafters unter § 64 Satz 3 GmbHG fallen kann. Da auch der Gewinnauszahlungsanspruch in der Regel als fällige Forderung im Liquiditätsstatus abgebildet wird, sind dafür wohl die dargestellten Grundsätze zur Zahlung auf eine fällige und durchsetzbare Gesellschafterforderung anzuwenden. 58 S. dazu insbesondere Jungmann, ZGR 2006, 638, 646; Wiedemann, Gesellschaftsrecht Bd. I, S. 516; Haas, DStR 2010, 1991, 1992. 59 Weitergehend sogar Altmeppen (Fn. 1), § 64 GmbHG Rz. 61 ff. 60 S. dazu unter II.3. 61 Poertzgen/Meyer, ZInsO 2012, 249, 252; Poertzgen, ZInsO 2010, 785, 787; Kleindiek, GWR 2010, 75, 76; Seulen/Osterloh, ZInsO 2010, 881, 884; Altmeppen (Fn. 1), § 64 GmbHG Rz. 61 ff.; Kleindiek (Fn. 1), § 64 GmbHG Rz. 21; Haas (Fn. 30), § 64 GmbHG Rz. 65.

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die Überlegung, dass § 64 Satz 3 GmbHG als Auffangnorm für die durch die Rückkehr zur bilanziellen Betrachtungsweise im Rahmen des §§ 30, 31 GmbHG entstandenen Schutzlücken dienen soll.62 Ausgehend von dieser Einordnung des § 64 Satz 3 GmbHG würde die eingeschränkte faktische Anwendbarkeit bei fälligen und einredefreien Forderungen der Gesellschafter eine Einbuße an Effektivität bedeuten. § 64 Satz 3 GmbHG liefe im Ergebnis leer. Ungeachtet der Tatsache, dass schon die „Vertreter“-Funktion des § 64 Satz 3 GmbHG zweifelhaft ist,63 führt auch die Argumentation der Befürworter einer korrigierenden Auslegung zu einem nicht hinnehmbaren Zirkelschluss. a) § 64 Satz 3 GmbHG als Auszahlungssperre oder Leistungsverweigerungsrecht64 Die korrigierende Auslegung des § 64 Satz 3 GmbHG soll über die Verortung einer allgemeinen Auszahlungssperre oder eines allgemeinen Leistungsverweigerungsrechts in § 64 Satz 3 GmbHG die Problematik des beschränkten Anwendungsbereichs des § 64 Satz 3 GmbHG bei fälligen Forderungen zu lösen.65 aa) Konsequenz bei Betrachtung des § 64 Satz 3 GmbHG als Auszahlungssperre oder Leistungsverweigerungsrecht Die Annahme einer Auszahlungssperre oder eines allgemeinen Leistungsverweigerungsrechts – ähnlich wie in § 30 Abs. 1 GmbHG – führt im Ergebnis

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62 Poertzgen/Meyer, ZInsO 2012, 249, 253 f.; Hölzle, GmbHR 2007, 729, 731; Hirte, ZInsO 2008, 689 ff.; Knof, DStR 2007, 1536 ff.; Seibert, ZIP 2006, 1157, 1167; dazu Strohn, NZG 2011, 1161, 1168. Diese Einordnung des § 64 Satz 3 GmbHG widerspricht der unter III.1. dargestellten Ansicht, dass § 64 Satz 3 GmbHG gerade nicht als „Ersatz“ für das Eigenkapitalersatzrecht dienen und die durch § 30 GmbHG eröffneten Möglichkeiten zur Rückzahlung von Gesellschafterdarlehen wieder einschränken soll. 63 Die „Vertreter“-Funktion ist im Sinne eines Ersatzes für das Eigenkapitalersatzrecht und die durch § 30 Abs. 1 GmbHG nunmehr vorhandenen Schutzlücken zu verstehen; siehe dazu schon unter II.1.a) und sogleich unter III.2.c). 64 Neben der Lösung über ein Leistungsverweigerungsrecht wird auch eine modifizierte Auslegung des Zahlungsbegriffs in § 64 Satz 3 GmbHG vorgeschlagen. So soll schon die Forderungsbegründung als liquiditätswirksame Zahlung im Sinne des § 64 Satz 3 GmbHG anzusehen sein. Diese Ansicht verkennt jedoch schon die notwendige einheitliche Auslegung des Zahlungsbegriffs in § 64 Satz 1 und Satz 3 GmbHG. Liquiditätswirksam ist grundsätzlich erst der tatsächliche Abfluss von Gesellschaftsvermögen und nicht schon die potentielle Begründung der Verbindlichkeit. S. dazu Haas (Fn. 30), § 64 GmbHG Rz. 99; Hueck/Fastrich (Fn. 21), § 30 GmbHG Rz. 58 ff.; Haas (Fn. 30), § 64 GmbHG Rz. 99; Poertzgen/Meyer, ZInsO 2012, 249, 253; Strohn, NZG 2011, 1161, 1168 f.; BGHZ 138, 211, 216 f.; BGH, DStR 2007, 1004, 1005. 65 Poertzgen/Meyer, ZInsO 2012, 249, 253 ff.; ausführlich Spliedt, ZIP 2009, 149, 159 f.; Gehrlein, BB 2008, 846, 849; Seibert, ZIP 2006, 1157, 1161; Schäfer, DStR 2006, 2085, 2087; Roth, GmbHR 2008, 1184, 1190; Kallmeyer, DB 2007, 2755, 2758. Davon ist die Frage zu unterscheiden, ob der Geschäftsführer in bestimmten Fällen des § 64 Satz 3 GmbHG ein Leistungsverweigerungsrecht erhalten soll, um bei einer fälligen und durchsetzbaren Forderung des Gesellschafters die Zahlung verweigern zu können und damit die Haftung gemäß § 64 Satz 3 GmbHG vermeiden zu können, s. dazu sogleich III.3.

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dazu, dass fällige und durchsetzbare Gesellschafterforderungen im Rahmen der Prüfung der Zahlungsunfähigkeit in § 64 Satz 3 GmbHG nicht mehr zu berücksichtigen sind. Dies wird dadurch erreicht, dass der Begriff der Zahlungsunfähigkeit im Rahmen des § 64 Satz 3 GmbHG anders als in §§ 17, 18 InsO ausgelegt und im Liquiditätsstatus in der Folge nur fällige Forderungen von Nicht-Gesellschafter-Gläubigern berücksichtigt werden.66 Alternativ wird mit den Wirkungen eines Leistungsverweigerungsrechts aus § 64 Satz 3 GmbHG auf fällige Gesellschafterforderungen argumentiert. Jedenfalls haben diese Überlegungen zur Folge, dass eine fällige und durchsetzbare Forderung des Gesellschafters im Liquiditätsstatus der Gesellschaft außen vor zu lassen ist.67 Zahlt nun der Geschäftsführer auf diese im Liquiditätsstatus gar nicht enthaltene (da einredebehaftete) Forderung des Gesellschafters, ist diese Zahlung nicht mehr liquiditätsneutral, sondern kann in einer weitaus größeren Anzahl von Fällen zur Zahlungsunfähigkeit führen. Auf diese Weise wird der Anwendungsbereich des § 64 Satz 3 GmbHG ausgeweitet. bb) Argumentation gegen die Auszahlungssperre bzw. das Leistungsverweigerungsrecht Dem ist entgegenzusetzen, dass weder ein allgemeines Auszahlungsverbot noch ein allgemeines Leistungsverweigerungsrecht eine Grundlage im Wortlaut oder der Systematik von § 64 Satz 3 GmbHG finden. Überdies kann eine Auszahlungssperre nicht mit einer Parallele zu § 30 Abs. 1 GmbHG begründet werden, da § 64 Satz 3 GmbHG (bewusst) anders strukturiert ist. § 64 Satz 3 GmbHG ist an den Geschäftsführer adressiert und regelt das Verhältnis des Geschäftsführers zur Gesellschaft („vertreten“ durch den Insolvenzverwalter). Durch eine Verhaltenssteuerung soll vermieden werden, dass der Geschäftsführer, der maßgeblichen Einfluss auf die Geschicke der Gesellschaft hat, diesen Einfluss ausnutzt, um zum Nachteil der Gesellschaftsgläubiger zu verfahren. Anders als § 30 Abs. 1 GmbHG richtet sich § 64 Satz 3 GmbHG somit nicht an den Gesellschafter und enthält kein Verbot der Auszahlung, aus dem eine Auszahlungssperre hergeleitet werden könnte. Des Rückgriffs auf eine Auszahlungssperre in § 64 Satz 3 GmbHG bedarf es zudem gar nicht, wenn in Übereinstimmung mit der hier vertretenen Auffassung die Struktur des § 64 Satz 3 GmbHG als Ausnahmeregelung anerkannt wird.68 Auch ein Leistungsverweigerungsrecht ausgehend vom Tatbestand des § 64 Satz 3 GmbHG kann nicht dazu führen, dass fällige und einredefreie Gesellschafterforderungen nicht im Liquiditätsstatus zu berücksichtigen sind. Das Leistungsverweigerungsrecht gemäß § 64 Satz 3 GmbHG könnte nur damit begründet werden, dass die Voraussetzungen der Haftung des Geschäftsführers gemäß § 64 Satz 3 GmbHG erfüllt sind und dieser einem Haftungsrisiko ausgesetzt ist, obwohl er im Verhältnis zum Gesellschafter wegen dessen fälliger

__________ 66 Spliedt, ZIP 2009, 149, 159 f. 67 Poertzgen/Meyer, ZInsO 2012, 249, 253 ff. 68 S. dazu auch sogleich unter III.2.c).

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und durchsetzbarer Forderung zur Leistung verpflichtet ist. In diesem Fall würde jedoch die daraus gefolgerte Annahme eines Leistungsverweigerungsrechts dazu führen, dass aus einer durchsetzbaren Gesellschafterforderung eine einredebehaftete Gesellschafterforderung wird, die sich wiederum im Liquiditätsstatus dahingehend auswirken kann, dass die Voraussetzungen des § 64 Satz 3 GmbHG entfallen. Dies ist ein Zirkelschluss, bei dem die Rechtsfolge des § 64 Satz 3 GmbHG deren Tatbestand aufhebt.69 Zudem wäre der Geschäftsführer bei konsequenter Anwendung der gesetzlichen Bestimmungen im Falle einer einfachen Weigerung, eine Zahlung an den Gesellschafter auszuführen, keinem besonderen Haftungsrisiko ausgesetzt.70 Zudem besteht auch kein besonderes Schutzbedürfnis für die Gesellschaft oder die Gläubiger der Gesellschaft.71 Schließlich würde die Nichtberücksichtigung fälliger Gesellschafterforderungen im Liquiditätsstatus der Gesellschaft zu einer Verzögerung der Insolvenzantragstellung beitragen, da die Liquiditätssituation der Gesellschaft verfälscht wird.72 Die Förderung einer frühzeitigen Insolvenzantragstellung ist aber eine wichtige Zielsetzung des Gesetzgebers, die gerade auch im Rahme des ESUG gefördert werden sollte, um die Sanierungschancen der Gesellschaften zu erhalten.73 Es kann damit nicht die Intention des Gesetzgebers sein, mit § 64 Satz 3 GmbHG eben diese Zielsetzung zu durchkreuzen.74 b) Keine Notwendigkeit einer erweiternden Auslegung des § 64 Satz 3 GmbHG Die Kritik an den dargestellten Lösungsansätzen, setzt über die jeweilige Argumentation hinaus schon bei der vermeintlichen Problematik an, § 64 Satz 3 GmbHG überhaupt erweiternd auslegen zu müssen. Für eine erweiternde Auslegung des § 64 Satz 3 GmbHG besteht kein Bedarf, wenn die Intention des Gesetzgebers, die Regelung in der Nähe des existenzvernichtenden Eingriffs zu

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69 Dies erkennt auch Spliedt, ZIP 2009, 149, 160. 70 S. dazu III.3.b). Angesichts der Tatsache, dass eine höchstrichterliche Klärung dieser Frage im Zusammenhang mit § 64 Satz 3 GmbHG noch nicht erfolgt ist, sollte in der Praxis lediglich darauf hingewiesen werden, dass bei stringenter Verknüpfung der Voraussetzungen und Rechtsfolgen einzelner Haftungsnormen der Geschäftsführer keinem besonderen Haftungsrisiko ausgesetzt wäre. Es sollten sodann jedoch in jedem Fall entsprechende Vorkehrungen zur Vermeidung eines möglichen Haftungsrisikos getroffen werden. 71 S. dazu ausführlich sogleich III.3.b), c), d). 72 Dies sehen auch die Befürworter eines Leistungsverweigerungsrechts so, übergehen dieses gewichtige Argument jedoch ohne weitere Begründung, Poertzgen/Meyer, ZInsO 2012, 249, 254. 73 Gesetz zur weiteren Erleichterung der Sanierung von Unternehmen (ESUG) v. 7.12.2011, BGBl. I 2011, Nr. 64, S. 2582; zur Begründung des ESUG s. Reg-Entwurf zum Gesetz zur weiteren Erleichterung der Sanierung von Unternehmen v. 4.5.2011, BT-Drucks. 17/5712. 74 Diese nachteilige Auswirkung könnte dadurch vermieden werden, dass im Rahmen des § 17 InsO und der Normen zur Insolvenzantragspflicht die Forderung des Gesellschafters wieder als fällig angesehen wird. Dies dürfte jedoch der Einheitlichkeit der Rechtsordnung und der Rechtssicherheit ersichtlich nicht zuträglich sein.

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verorten und auf Ausnahmefälle zu beschränken, ernst genommen wird. § 64 Satz 3 GmbHG sollte nicht dazu dienen, gleichsam in Vertretung der ehemaligen Regelungen zum Eigenkapitalersatzrecht, nunmehr sämtliche Leistungen an Gesellschafter mit einem Haftungsrisiko des Geschäftsführers zu belasten. Vielmehr soll § 64 Satz 3 GmbHG allenfalls gewährleisten, dass das Vermögen der Gesellschaft dieser nicht missbräuchlich entzogen, sondern zwecks ordnungsgemäßer Abwicklung im Rahmen der Insolvenz belassen wird. In dieser Funktion verbleibt für § 64 Satz 3 GmbHG ein ausreichender Anwendungsbereich insbesondere in Fällen der Leistung auf eine Forderung des Gesellschafters, die dieser gar nicht, nicht in dieser Art oder nicht zu dieser Zeit zu beanspruchen hat.75 Selbst in Fällen der Zahlung auf eine fällige Forderung kann § 64 Satz 3 GmbHG wie bereits dargelegt durchaus zur Anwendung kommen.76 3. Kein Leistungsverweigerungsrecht im Einzelfall Auch wenn § 64 Satz 3 GmbHG ein generelles Leistungsverweigerungsrecht nicht zu entnehmen ist, stellt sich weiter die Frage nach den Schutzmöglichkeiten des Geschäftsführers im Einzelfall. Dies gilt vor allem, wenn der Geschäftsführer zur Zahlung auf eine fällige Forderung des Gesellschafters verpflichtet ist, diese Zahlung aber gleichzeitig zu dessen Haftung gemäß § 64 Satz 3 GmbHG führen würde. In diesen Situationen steht dem Geschäftsführer weder auf Grund allgemeiner zivilrechtlicher Bestimmungen noch auf Grund vertraglicher Ausgestaltung das Recht zu, die Leistung, die zur Zahlungsunfähigkeit der Gesellschaft führt oder voraussichtlich führen wird, zu verweigern. Dennoch ist es auch in diesen Einzelfällen bei stringenter Verknüpfung der Voraussetzungen und Rechtsfolgen der einzelnen Haftungsnormen nicht zwingend notwendig, zum Schutz des Geschäftsführers auf ein Leistungsverweigerungsrecht aus § 64 Satz 3 GmbHG zurückzugreifen.77 In der Praxis wird dieses Ergebnis allerdings wegen des Gebots des sichersten Weges bei der Beratung von Geschäftsführern und mangelnder praktischer Erfahrungen mit § 64 Satz 3 GmbHG noch nicht umsetzbar sein. a) Wortlaut und Systematik des § 64 Satz 3 GmbHG Wie bereits angedeutet lässt der Wortlaut des § 64 Satz 3 GmbHG nicht auf ein Leistungsverweigerungsrecht schließen. § 64 Satz 3 GmbHG regelt vielmehr die Erstattungspflicht des Geschäftsführers und betrifft damit das Verhältnis zwischen Geschäftsführer und Gesellschaft („vertreten“ durch den Insolvenzverwalter). Etwas anderes gilt zu Recht für § 30 Abs. 1 GmbHG, dem

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75 Zu möglichen Anwendungsfällen s. Strohn, NZG 2011, 1161, 1168 f.; Altmeppen (Fn. 1), § 64 GmbHG Rz. 61 ff. 76 S. dazu unter III.1. 77 OLG München, ZIP 2010, 1236, 1237; ausführlich zu den einzelnen Argumenten Haas, DStR 2010, 1191 f. Anders LG Berlin, GmbHR 2010, 201, 202; Seulen/ Osterloh, ZInsO 2010, 881, 887; Poertzgen, ZInsO 2010, 785, 878; Dahl/Schmitz, NZG 2009, 567, 569; Poertzgen/Meyer, ZInsO 2012, 249, 253 m. w. N.

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jedenfalls ein ausdrückliches Verbot der Auszahlung und daran anknüpfend ein Leistungsverweigerungsrecht zu entnehmen ist.78 Auch der Systematik in § 64 GmbHG lässt sich kein Hinweis auf ein Leistungsverweigerungsrecht entnehmen. Ganz im Gegenteil ist für § 64 Satz 1 GmbHG anerkannt, dass der Geschäftsführer die Zahlung selbst nach Eintritt der Insolvenzreife nicht mit Verweis auf § 64 Satz 1 GmbHG verweigern kann. Dies wird mit der zu diesem Zeitpunkt unter Umständen schon bestehenden Pflicht des Geschäftsführers begründet, stattdessen den Insolvenzanatrag zu stellen.79 Für § 64 Satz 3 GmbHG kann nichts anderes gelten.80 Der Geschäftsführer kann als Alternative die Insolvenzantragstellung wegen drohender Zahlungsunfähigkeit betreiben oder, wie vom Gesetzgeber vorgesehen, das Amt niederlegen.81 b) Kein besonderes Schutzbedürfnis des Geschäftsführers Stellt der Geschäftsführer fest, dass die Zahlung auf eine fällige Forderung des Gesellschafters zur Zahlungsunfähigkeit der Gesellschaft führen und damit ein Verstoß gegen § 64 Satz 3 GmbHG vorliegen würde, könnte er die Auszahlung gegenüber dem Gesellschafter verweigern, ohne Haftungsrisiken befürchten zu müssen.82 Das GmbH-Recht kennt mit Ausnahme von § 31 Abs. 6 GmbHG keine unmittelbare Haftung des Geschäftsführers gegenüber Gesellschaftern. Sofern der Gesellschafter die Gesellschaft (erfolgreich) auf Zahlung in Anspruch nehmen sollte, kann auch die Gesellschaft keine Haftungsansprüche gegen den Geschäftsführer geltend machen. Der Gesellschaft gegenüber ist der Geschäftsführer zwar gemäß § 43 Abs. 2 GmbHG zum Schadensersatz verpflichtet. Sofern jedoch die Weigerung, die Auszahlung gegenüber dem Gesellschafter vorzunehmen, mit der Sorgfalt eines ordentlichen Geschäftsmannes vereinbar und im Sinne des § 64 Satz 3 GmbHG erfolgt ist, kann daraus keine Pflichtverletzung gemäß § 43 Abs. 2 GmbHG gegenüber der Gesellschaft hergeleitet werden.83 c) Kein besonderes Schutzbedürfnis der Gläubiger Für die Gläubiger der Gesellschaft würde ein Leistungsverweigerungsrecht des Geschäftsführers nur dann ein Mehr an Schutz bedeuten, wenn das Leistungs-

__________ 78 Hommelhoff in Lutter/Hommelhoff, § 30 GmbHG Rz. 23 ff.; Ekkenga in MünchKomm. GmbHG, § 64 GmbHG Rz. 275 f., 282; Hueck/Fastrich (Fn. 21), § 64 GmbHG Rz. 67. 79 OLG München, ZIP 2010, 1236, 1237; Haas, DStR 2010, 1991, 1991; Poertzgen/Meyer, ZInsO 2012, 249, 253 f. 80 So auch Haas, DStR 2010, 1991, 1992. 81 Reg-Entwurf (Fn. 6), BT-Drucks. 16/6140, S. 47. 82 Ziemons in Oppenländer/Trölitzsch, GmbH-Geschäftsführung, § 23 Rz. 1 f.; Zöllner/ Noack (Fn. 26), § 43 GmbHG Rz. 1 ff.; Fleischer (Fn. 26), § 43 GmbHG Rz. 335. 83 Haas, DStR 2010, 1991, 1992.

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verweigerungsrecht nicht nur im Verhältnis zwischen Geschäftsführer und Gesellschafter wirken, sondern die Auszahlung an den Gesellschafter auch dann verhindern könnte, wenn der Gesellschafter die fällige Forderung gerichtlich durchsetzt. Dazu müsste § 64 Satz 3 GmbHG ein allgemeines Leistungsverweigerungsrecht ähnlich § 30 Abs. 1 GmbHG begründen. Ein solches allgemeines Leistungsverweigerungsrecht ist § 64 Satz 3 GmbHG jedoch nicht zu entnehmen.84 Es würde zu einem Zirkelschluss im Rahmen des § 64 Satz 3 GmbHG führen. Auch die Parallele zu § 30 GmbHG lässt sich nicht ohne weiteres ziehen. Die Insolvenzverursachungshaftung ist strukturell anders als das Auszahlungsverbot ausgestaltet. Das Ziel des Gläubigerschutzes soll vorrangig über das Instrument der Verhaltenssteuerung des Geschäftsführers erreicht werden. Diese Verhaltenssteuerung wird durch ein allgemeines Leistungsverweigerungsrecht in § 64 Satz 3 GmbHG nicht verstärkt. Der Geschäftsführer kommt seinen Pflichten nach, wenn er die betreffende Auszahlung unterlässt. Hätte der Gesetzgeber eine andere Schutzintensität gewollt, wäre eine parallele Ausgestaltung des § 64 Satz 3 GmbHG zu § 30 GmbHG angebracht gewesen. Überdies sind die Gläubiger ohne ein allgemeines Leistungsverweigerungsrecht nicht völlig schutzlos gestellt. Setzt der Gesellschafter seinen fälligen Anspruch gerichtlich durch und führt die anschließende Zahlung zur Zahlungsunfähigkeit, muss dieser mit einer Anfechtung durch den Insolvenzverwalter gemäß § 135 InsO rechnen. Diese Verlagerung des Gläubigerschutzes aus § 30 GmbHG in die Phase der Insolvenz war vom MoMiG-Gesetzgeber gerade bezweckt.85 d) Kein besonderes Schutzbedürfnis der Gesellschaft Schließlich würde ein Leistungsverweigerungsrecht auch nicht in besonderer Weise dem Schutz der Gesellschaftsinteressen dienen. Die Erstattungspflicht gemäß § 64 Satz 3 GmbHG schützt die Gläubiger der Gesellschaft vor einer Ausplünderung derselben durch die Gesellschafter im Zusammenwirken mit dem Geschäftsführer. Der Fortbestand der Gesellschaft soll über § 64 Satz 3 GmbHG gerade nicht gesichert werden.86 Ein allgemeines Leistungsverweigerungsrecht, das die Auszahlung an den Gesellschafter und eine damit einhergehende Insolvenz verhindern soll, wäre im Rahmen des § 64 Satz 3 GmbHG fehl am Platz.87 Zudem würde die Annahme eines Leistungsverweigerungsrechts mit der bereits dargestellten Folge, dass die Gesellschafterforderung ihre Durchsetzbarkeit verliert und nicht mehr als fällige Verbindlichkeit im Liquiditätsstatus zu berücksichtigen ist, im Ergebnis zur Verzögerung einer möglichen Insolvenz-

__________ 84 S. dazu die Argumente unter III.2.b)bb), insbesondere den sich daraus ergebende Zirkelschluss. 85 Reg-Entwurf (Fn. 6), BT-Drucks. 16/6140, S. 25 ff.; statt vieler Hommelhoff (Fn. 78), § 30 GmbHG Rz. 1; Spliedt, ZIP 2009, 149, 152; K. Schmidt, GmbHR 2007, 1, 4; Knof, DStR 2007, 1536 ff. 86 Haas, DStR 2010, 1991 ff. 87 S. dazu ausführlich Haas, DStR 2010, 1991 ff.

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antragstellung führen.88 Dieses Ergebnis würde im krassen Widerspruch zur Intention des Gesetzgebers stehen, frühe Insolvenzantragstellungen zu fördern und dadurch die Sanierungschancen der Gesellschaft zu erhalten. e) Fazit Ausgehend von der gesetzlichen Systematik der Haftungsbestimmungen des Geschäftsführers wäre ein Leistungsverweigerungsrecht aus § 64 Satz 3 GmbHG zum Schutz des Geschäftsführers grundsätzlich nicht notwendig. Dieser könnte theoretisch die Zahlung verweigern, ohne dass es dazu eines gesonderten Leistungsverweigerungsrechts bedarf. Damit würde es sich keinem Haftungsrisiko gegenüber der Gesellschaft oder den Gesellschaftern aussetzen. Zudem besteht auch kein besonderes Schutzbedürfnis für die Gesellschaft und deren Gläubiger, zumal der Gesetzgeber selbst in der Gesetzesbegründung von einem solchen Recht nicht ausgeht.89 Allerdings ist erneut darauf hinzuweisen, dass trotz dieses eindeutigen Ergebnisses ein Untätigbleiben des Geschäftsführers im Falle einer Zahlung im Sinne des § 64 Satz 3 GmbHG derzeit noch nicht zu empfehlen ist. Da die Funktion des § 64 Satz 3 GmbHG und daran anknüpfend die Reichweite der Auslegung der Tatbestandsmerkmale noch nicht geklärt sind, befinden sich die Geschäftsführer weiterhin im Unklaren darüber, wie sie sich im Einzelfall vor einer Haftung gemäß § 64 Satz 3 GmbHG oder § 43 Abs. 2 GmbHG (im Falle der Weigerung der Zahlung) schützen können. Das Dilemma, im Einzelfall zur Leistung verpflichtet zu sein, die zugleich die eigene Haftung begründen könnte, ist damit noch nicht abschließend gelöst.

IV. Prognose zu Zahlungsunfähigkeit im Rahmen des § 64 Satz 3 GmbHG Die Ausgestaltung des § 64 Satz 3 GmbHG als Erstattungspflicht des Geschäftsführers weist darauf hin, dass der Schutz der Gesellschaftsgläubiger über eine Disziplinierung des Geschäftsführers erreicht werden soll. Um sich nicht dem Vorwurf auszusetzen, eine insolvenzbegründende Zahlung getätigt zu haben, werden die Geschäftsführer in Zukunft verstärkt darauf achten müssen, die Liquiditätssituation der Gesellschaft sorgfältiger zu überwachen und zu dokumentieren. Insbesondere die Überlegungen zu der Frage, ob die Zahlung zu einer Zahlungsunfähigkeit führen musste und ob dies bei Auszahlung erkennbar war, müssen für eine spätere Prüfung nachvollziehbar bleiben. 1. Realistische Planung maßgeblich Im Rahmen der Prognoseüberlegungen können die Geschäftsführer zur Orientierung auf die zu § 18 InsO und der Fortbestehensprognose bei der Überschul-

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88 S. dazu unter II.2.b)bb). 89 Ein Leistungsverweigerungsrecht wird in der Gesetzesbegründung jedenfalls nicht erwähnt; s. dazu Reg-Entwurf (Fn. 6), BT-Drucks. 16/6140, S. 46 f.

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dungsprüfung entwickelten Grundsätze zurückgreifen. Die Auswirkungen der Zahlung an den Gesellschafter müssen dabei unter Berücksichtigung künftiger eintretender Umstände bewertet werden. Dabei sollte der Geschäftsführer von einem realistischen und üblichen Verlauf ausgehen und keinesfalls zwingend ein worst case Szenario zu Grunde legen müssen.90 Denn § 64 Satz 3 GmbHG soll nicht dazu führen, dass der Geschäftsführer unter dem Damoklesschwert der drohenden Insolvenz die Geschäfte der Gesellschaft mit dem Gesellschafter im Ergebnis aus Angst vor einer Haftung gänzlich einstellt. 2. Exkulpation durch Testat eines Wirtschaftsprüfers oder Steuerberaters denkbar Zum Nachweis einer realistischen Planung sollte auch darüber nachgedacht werden, ähnlich wie schon bei der Prüfung der Insolvenzgründe, das Urteil eines Wirtschaftsprüfers oder Steuerberaters zu möglichen Auswirkungen der Zahlung auf die Liquidität der Gesellschaft als Exkulpationsmöglichkeit für den Geschäftsführer gelten zu lassen.91 Sofern ein qualifizierter Berufsträger die Planung des Geschäftsführers auf Grundlage aller offen gelegten Unterlagen als tragfähig ansieht, wird diese Planung als ausreichend angesehen werden müssen. Vor diesem Hintergrund ist zu erwarten, dass die Rolle der Berater weiter wachsen wird. Es bleibt aber auch zu hoffen, dass diese Exkulpationsmöglichkeit nicht zum Anlass genommen wird, § 64 Satz 3 GmbHG zu extensiv auszulegen. Anderenfalls würde die Aufgabenerfüllung des Geschäftsführers unnötig erschwert. Der Geschäftsführer wäre zur eigenen Absicherung womöglich nur noch mit einem qualifizierten Berater an seiner Seite handlungsfähig.

V. Fazit Die Insolvenzverursachungshaftung gemäß § 64 Satz 3 GmbHG bleibt hinsichtlich ihrer dogmatischen Einordnung unklar. Die Signale des Gesetzgebers sind nicht eindeutig. Vor dem Hintergrund der Systematik, Struktur und Gesetzesbegründung der Vorschrift ist diese jedoch am ehesten in der Nähe des existenzvernichtenden Eingriffs zu verorten. Damit wird klar, dass der Anwendungsbereich des § 64 Satz 3 GmbHG auf Ausnahmefälle beschränkt bleiben muss. Mit diesem Verständnis der Vorschrift sind auch keine Kunstgriffe angezeigt, um den Anwendungsbereich auszuweiten. Auf Grund der Zielsetzung des § 64 Satz 3 GmbHG und der Ausgestaltung als Verhaltenspflicht des Geschäftsführers kann ein Auszahlungsverbot oder ein Leistungsverweigerungsrecht in § 64 Satz 3 GmbHG nicht verortet werden. Im

__________ 90 Anders Greulich/Rau, NZG 2008, 284, 288. 91 BGH, ZInsO 2007, 660 ff. m. w. N.; BGHZ 126, 181, 199; OLG Düsseldorf, NZG 1999, 944, 946; Lutter, DB 1994, 129, 135; OLG Hamburg, GmbHR 2003, 587; OLG Hamburg, NJW-RR 2005, 137; OLG Rostock, BeckRS 2008, 00547; OLG Düsseldorf, NZG 1999, 944.

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Gegensatz zu § 30 GmbHG hat sich der Gesetzgeber mit § 64 Satz 3 GmbHG nicht für einen umfassenden Liquiditätsschutz der Gesellschaft entschieden und insbesondere die Gesellschafter selbst nicht in vergleichbarer Form wie in § 30 GmbHG in die Pflicht genommen. Die Funktion des § 64 Satz 3 GmbHG sollte vor allem darin bestehen, den Geschäftsführer zu einer sorgfältigen Prüfung und Dokumentation liquiditätswirksamer Leistungen zu bewegen. Das darf jedoch nicht dazu führen, dass der Handlungsspielraum von Geschäftsführern derart eingeschränkt und mit Haftungsrisiken belastet wird, dass eine sinnvolle Geschäftstätigkeit mit Gesellschaftern unterbunden wird. Solange eine höchstrichterliche Klärung der Fragen rund um § 64 Satz 3 GmbHG noch nicht erfolgt ist, ist den Geschäftsführern zu raten, bei der Zahlung an Gesellschafter Vorsicht walten zu lassen. Im Sinne des Gebots des sichersten Weges sind die Abwägungen zu Zahlungen an die Gesellschafter im Vorfeld der Insolvenz nicht nur sorgfältig zu dokumentieren. Darüber hinaus sollten Geschäftsführer auch die Möglichkeit in Betracht ziehen, ein Leistungsverweigerungsrecht in den Fällen des § 64 Satz 3 GmbHG vertraglich zu regeln. Auf diese Weise könnte den Geschäftsführer nicht der Vorwurf gemacht werden, keine Vorkehrungen für die Fälle des § 64 Satz 3 GmbHG getroffen zu haben. Damit werden spätere Auseinandersetzungen mit der Gesellschaft oder dem Insolvenzverwalter hinsichtlich der eigenen Haftung vermieden.

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Entherrschungsvertrag und faktische Entherrschung im Aktienkonzern Zugleich ein Rückblick auf Peter Hommelhoffs „Konzernleitungspflicht“ nach drei Jahrzehnten

Inhaltsübersicht I. Zum Thema 1. Themenwahl 2. Abgrenzung 3. Aufgabe der Untersuchung II. Entherrschungsvertrag und Konzernverfassung 1. Die Herangehensweise 2. Die entherrschte Konzernverbindung – ein atypischer Vertragskonzern? 3. Der Entherrschungsvertrag: ein Unternehmensvertrag? 4. Stellungnahme

III. Faktische Entherrschung durch Vertrag 1. Zum Konzept 2. Parteien des Entherrschungsvertrags 3. Die aktienrechtliche Zulässigkeit 4. Die Kompetenzfrage 5. Der Vertragsinhalt 6. Nachhaltigkeit 7. Schall und Rauch? 8. Fehlerhafte Entherrschungsverträge? IV. Statt einer Zusammenfassung 1. Warum keine Zusammenfassung? 2. Inspiration durch Habilitation

I. Zum Thema 1. Themenwahl Entherrschungsverträge sind Verträge unter verbundenen Unternehmen zur Abwehr der Abhängigkeitsvermutung nach § 17 Abs. 2 AktG.1 Über sie ist abwechselnd zu lesen, sie hätten als konzernrechtliche Gestaltungsmittel einen „festen Standort“2 und die Diskussion über sie blühe auf3 oder sie führe ein „Schattendasein“.4 Zum täglichen Brot jedes Unternehmensrechtlers wird man Entherrschungsverträge nicht rechnen dürfen, aber die Handbücher machen doch Formulierungsvorschläge.5 Charakteristisch ist auch, dass die ersten gründlichen Untersuchungen von dominierenden Praktikern aus der

__________ 1 Vgl. vorerst nur Krieger in Hoffmann-Becking, MünchHdb. GesR IV, 3. Aufl. 2007, § 68 Rz. 61. 2 Jäger, DStR 1995, 1113, 1117. 3 Hentzen, ZHR 157 (1993), 65, 71. 4 Jürgen Götz, Der Entherrschungsvertrag im Aktienrecht, 1991, S. 1. 5 Vgl. zuletzt Happ, Konzern- und Umwandlungsrecht, 2012, Formulare 4.02 und 4.03; Hoffmann-Becking in Heidenhain/Meister, Münchener Vertragshandbuch I, 7. Aufl. 2011, Formular X 9; Messerschmidt in Lorz/Pfisterer/Gerber, Beck’sches Formularhandbuch Aktienrecht, 2005, Formular T V.

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Epoche nach dem Inkrafttreten des Aktiengesetzes stammen.6 Jedenfalls handelt es sich um ein für das Verständnis des Rechts der verbundenen Unternehmen bedeutsames Phänomen und schon deshalb um ein geeignetes Thema für die Festschrift zu Peter Hommelhoffs siebzigstem Geburtstag, weil das runde Geburtstagsjahr mit dem seines 1982 erschienenen Grundlagenwerks über „Die Konzernleitungspflicht“ zusammentrifft. Diese nun genau seit einer kalendarischen Generation im Druck vorliegende Schrift enthält 24 Seiten über Entherrschungsverträge.7 Der Beitrag wird zeigen, dass die Auseinandersetzung mit ihr auch in dieser Hinsicht bis heute anhält. 2. Abgrenzung Die Anknüpfung an Hommelhoffs Werk erlaubt eine doppelte Begrenzung des Themas. a) Zunächst einmal beschränkt sich die Untersuchung wie die meisten Stellungnahmen zum Entherrschungsvertrag auf den Aktienkonzern. Die minder schwierigen Fälle der GmbH8 und der (GmbH & Co.-)Personengesellschaft9 bleiben ausgespart. Der Beitrag geht außerdem davon aus, dass, allgemeiner Usance folgend,10 beim satzungsmäßigen Gegenstand des Mutterunternehmens auch der Erwerb und die Errichtung von Unternehmen und die Beteiligung an Unternehmen mitgenannt ist. b) Ausgespart bleibt auch, so bedeutsam sie ist, die Rechtsfolgenseite. Selbstverständlich wird den Praktiker in erster Linie interessieren, inwieweit der Entherrschungsvertrag im Ergebnis von konzernrechtlicher Zurechnung befreit. Als generelle Regel kann gelten, dass die Entherrschung dies nur bewirken kann, wo es auf Stimmrechte (vgl. § 290 Abs. 2 Nr. 1 HGB) oder auf den Konzern- (§ 18 AktG) oder Abhängigkeitstatbestand (§ 17 AktG) ankommt (Beispiele: § 5 MitbestG, § 36 Abs. 2 GWB, s. auch §§ 54 Abs. 1 BetrVG, 2 Abs. 1 DrittelbG, 12a Abs. 2 TVG oder § 3 Nr. 39 EStG). Im Einzelnen sind die Effekte einer vertraglich stipulierten Entherrschung jedoch unterschiedlich. Weitgehend anerkannt ist die vermutungsabwendende Wirkung des Entherrschungsvertrags im Unternehmensrecht, insbesondere

__________ 6 Möhring in FS H. Westermann, 1974, S. 427 ff.; Barz in FS Bärmann, 1975, S. 185 ff. 7 Hommelhoff, Die Konzernleitungspflicht, 1982, S. 80–103. 8 Dazu Emmerich in Scholz, 10. Aufl. 2006, Anh. § 13 GmbHG Rz. 29a; über die GmbH als Obergesellschaft im Aktienkonzern vgl. Hentzen, ZHR 157 (1993), 65, 72. 9 Nach h. M. kommt § 17 Abs. 2 AktG hier wegen des Einstimmigkeitsgrundsatzes nicht zur Anwendung; vgl. Schäfer in Staub, 5. Aufl. 2009, Anh. § 105 HGB Rz. 26 mit umfangreichen Nachweisen; s. auch Haar, Die Personengesellschaft im Konzern, 2006, S. 247; Bitter, Konzernrechtliche Durchgriffshaftung bei Personengesellschaften, 2000, S. 15 ff.; das ist für Personengesellschaftsverträge mit Mehrheitsklausel zu bezweifeln; vgl. Mülbert in MünchKomm. HGB, 3. Aufl. 2012, Anh. KonzernR Rz. 60; für Anwendung bei GmbH & Co. KG J. Vetter in K. Schmidt/Lutter, 2. Aufl. 2010, § 17 AktG Rz. 67. 10 Vgl. etwa das Formular bei Volhard in Hopt, Vertrags- und Formularhandbuch, 3. Aufl. 2007, Formular II D 8.

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– im Bereich der Abhängigkeits-Berichterstattung (§ 312 AktG),11 – im Recht der Mitbestimmung (§ 5 Abs. 1 Satz 1 MitbestG).12 Tendenziell engherzig gegenüber dem Entherrschungseinwand ist dagegen die Diskussion im Recht der Wettbewerbs- und Kapitalmarktaufsicht, nämlich – im Recht der Zusammenschlusskontrolle (§ 36 Abs. 2 Satz 1 GWB13 bzw. Art. 5 Abs. 4b FKVO),14 – sowie im Kapitalmarktrecht, soweit die §§ 29 Abs. 2 und 22 WpÜG auf § 290 HGB verweisen.15 Im Recht der Konzernrechnungslegung ist die Rechtsfolgenseite etwas unübersichtlich. § 290 Abs. 1 Satz 1 HGB wiederholt sinngemäß den § 17 Abs. 1 AktG. § 290 Abs. 2 Nr. 1 HGB schließt bei Stimmrechtsmehrheit jeden NichtBeherrschungsnachweis aus.16 Aber es ist umstritten, ob hierfür die Stimmrechtsinhaberschaft ausreicht17 oder ob ein Nichtausübungsversprechen diesen Tatbestand ausschließt.18 Eine gleichfalls angebotene, wenn auch schwerlich für Entherrschungsverträge konzipierte Befreiung nach § 296 Abs. 1 Nr. 1 HGB lässt die Nicht-Einbeziehung eines Tochterunternehmens zu, wenn erhebliche und andauernde Beschränkungen die Ausübung der Rechte des Mutterunternehmens nachhaltig beeinträchtigen.19 All das wird hier nicht untersucht. 3. Aufgabe der Untersuchung Ungeachtet dieser hier nicht zu verfolgenden Detailprobleme auf der Rechtsfolgenseite wird die nachfolgende Befassung mit der vertragsbasierten Entherrschung auf die Grundfrage hinauslaufen: Ist der Entherrschungsvertrag in

__________ 11 Dies war Prämisse im Fall „Winterthur/Nordstern“; vgl. LG Köln, AG 1992, 258 = BB 1992, 1248 = DB 1992, 627; OLG Köln, AG 1993, 86 = NJW-RR 1993, 804 = EWiR 1993, 5 (Geuthing) = WuB II A § 119 AktG 1.93 (Marsch-Barner). 12 BayObLG, NZG 2002, 579, 581 (im Ergebnis allerdings verneinend); OLG Düsseldorf, AG 2007, 170, 171 = NJW-RR 2007, 330, 331 = ZIP 2006, 2375, 2376; ArbG Düsseldorf, AuR 2005, 338 m. Anm. Hjord. 13 Vgl. abl. Monopolkommission, Hauptgutachten I, 1976, Rz. 869 = BT-Drucks. 8/702 S. 11 Rz. 48; Mestmäcker/Veelken in Immenga/Mestmäcker, GWB, 4. Aufl. 2007, § 36 Rz. 62; für Anerkennung dagegen m. w. N. Richter in Wiedemann, Hdb. des Kartellrechts, 2. Aufl. 2008, § 19 Rz. 30. 14 Nach Art. 5 Abs. 4b FKVO genügt für die Zusammenrechnung außer der Hälfte der Stimmrechte auch die Hälfte des Kapitals. 15 Abl. z. B. OLG Frankfurt, ZIP 2007, 864, 866 f. = AG 2007, 592, 594 = NZG 2007, 553, 557; v. Bülow in KölnKomm. WpÜG, 2. Aufl. 2010, § 29 WpÜG Rz. 76; Krause, ZGR 2002, 500, 513. 16 Wiedmann in Ebenroth/Boujong/Joost/Strohn, 2. Aufl. 2008, § 290 HGB Rz. 18. 17 So etwa OLG Frankfurt, NZG 2007, 553, 555 = ZIP 2007, 864, 867; Adler/Düring/ Schmaltz, Rechnungslegung und Prüfung der Unternehmen, 6. Aufl. 1995, § 290 HGB Rz. 38 m. w. N.; Kozikowski/Kreher in Beck’scher BilanzKomm., 8. Aufl. 2012, § 290 HGB Rz. 46. 18 So beispielsweise Busse von Colbe in MünchKomm. HGB, 2. Aufl. 2008, § 290 HGB Rz. 54; Pfaff, ebd., § 296 HGB Rz. 21; Jürgen Götz (Fn. 4), S. 11. 19 Alternativ angeboten bei Merkt in Baumbach/Hopt, 35. Aufl. 2012, § 290 HGB Rz. 9; Wiedmann (Fn. 16), § 290 Rz. 18.

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seinen Voraussetzungen bezogen nur auf die an ihm beteiligten verbundenen Unternehmen zu denken, oder kommt in ihm ein Element des Verfassungsrechts der Unternehmensgruppe zum Ausdruck? Die Fragestellung mag zunächst auf Verwunderung stoßen. Es ist ja nicht zu verkennen, dass ein Entherrschungsvertrag, unterstellt, er ist wirksam, das So-Sein einer Unternehmensgruppe maßgeblich beeinflusst. Die Frage ist indes eine andere. Sie besteht darin, ob Rechtsnatur, Legitimation und Wirkung des Entherrschungsvertrags aus einem Recht der Unternehmensgruppe abzuleiten sind oder, wenngleich auf Entherrschung gerichtet, doch nur aus dem Recht der ihr zugehörenden Einzelgesellschaften.

II. Entherrschungsvertrag und Konzernverfassung 1. Die Herangehensweise Das hier zum Ausgang genommene Werk des Jubilars hat sich des Themas in einer bis dahin unbekannten Weise angenommen, denn Peter Hommelhoff wendet sich dem Entherrschungsvertrag überhaupt nicht um seiner selbst willen zu. Sein Einstieg in den Problemkreis steht in engem Zusammenhang mit seinem Plädoyer für eine Pflicht des Muttervorstands zur Ausübung des ihm durch Anteilsbesitz zuwachsenden Einflusses im Sinne einer einheitlichen und umfassenden, wenngleich mittelbaren Leitung auch der abhängigen Gesellschaft.20 Das Phänomen Entherrschungsvertrag beschäftigt Hommelhoff deshalb zunächst nur als Falsifikationstest im Hinblick auf die Leitidee der Konzernleitungspflicht.21 Methodisch bewusst oder unbewusst an Karl Popper angelehnt, testet Hommelhoff seine Konzernleitungshypothese darauf, ob sie an der Offenheit des Aktienrechts für Entherrschungsverträge zerbricht. Eine Unzulässigkeit von Entherrschungsverträgen könne nämlich in Anbetracht der Widerleglichkeit der in § 17 Abs. 2 AktG enthaltenen Vermutung „nicht in Betracht gezogen werden“.22 Der Entherrschungsvertrag stehe nun aber „im direkten Widerspruch zur Konzernleitungspflicht; er entlässt eine Tochtergesellschaft aus dem Konzernverband. Falls der Konzernvorstand frei über die Reichweite, ja sogar über den Bestand seiner Konzernleitungspflicht im Beherrschungsvertrag disponieren könnte, dann müsste füglich bezweifelt werden, dass es überhaupt eine rechtsverbindliche Konzernleitungspflicht gibt“, und damit werde der Entherrschungsvertrag „zum Prüfstein für die rechtliche Existenz der Konzernleitungspflicht schlechthin.“23 Solle der Entherrschungsvertrag nämlich die mit ihm intendierte vermutungswiderlegende Wirkung haben, so müsse er „dem Mehrheitsgesellschafter“ – m. a. W. der Konzernspitze – „die Möglichkeit nehmen, auf das Beteiligungsunternehmen – hier demnach: auf die Konzerntochtergesellschaft – beherrschenden Einfluss auszu-

__________ 20 21 22 23

Vgl. Hommelhoff (Fn. 7), S. 43 ff., 165 ff., 182 ff. Hommelhoff (Fn. 7), S. 80. Vgl. Hommelhoff (Fn. 7), S. 82. Hommelhoff (Fn. 7), S. 82.

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üben“,24 also „dies(es) Einflusspotential beseitigen“.25 Auf AG-Töchter bezogen müsse der Vertrag „der Konzernspitze die Möglichkeit nehmen, den TochterAufsichtsrat nach ihren Vorstellungen zu besetzen; darüber hinaus hat der Vertrag auch sonst das Stimmengewicht der Konzernspitze in der Hauptversammlung der Tochter zu beschneiden, sofern dort über Angelegenheiten geschäftsführender Natur entschieden werden könnte (§§ 111 Abs. 4 Satz 3, 119 Abs. 2, 173 Abs. 1 AktG). Schließlich muss die Unabhängigkeit der TochterVorstandsmitglieder durch eine gewisse Mindestlaufzeit des Entherrschungsvertrags abgesichert werden, die in Anlehnung an die Amtsperiode der Vorstandsmitglieder (§ 84 Abs. 1 Satz 1 AktG) allgemein mit fünf Jahren angenommen wird.“26 Das ist der zugrunde gelegte Befund. Der Entherrschungsvertrag betritt die Bühne bei Hommelhoff gleichsam als ein ungebetener Gast im faktischen Aktienkonzern, entpuppt sich dann aber als Wegweiser zu einer vollkommen eigenständigen Würdigung des Phänomens. 2. Die entherrschte Konzernverbindung – ein atypischer Vertragskonzern? a) Der folgenden Analyse des von Hommelhoff entworfenen Entherrschungsmodells muss klarstellend vorausgeschickt werden, dass nicht dessen Wiedergabe in eigenen Worten, sondern eine Deutung des schwierigen Textes vorgelegt wird.27 Klarzustellen ist weiter, dass es sich bei dem hier so genannten entherrschten Vertragskonzern nicht um einen Konzern i. S. von § 18 AktG, sondern gewissermaßen um dessen Gegenteil handelt.28 Die strikte Befolgung eines Entherrschungsvertrags entlässt nach Hommelhoff die Tochtergesellschaft aus dem Status eines abhängigen Unternehmens in den eines bloßen Beteiligungsunternehmens, dessen Vorstand die Aktivitäten dieser Gesellschaft autonom und „unbeeinflusst von der ehemaligen Konzernspitze leiten, insbesondere die Geschäftspolitik … frei von jedem Fremdeinfluss selbständig bestimmen“ könne.29 Hierdurch entsteht – in der Interpretation des Werks voranschreitend – eine atypische Vertrags-Konzernverfassung30 und, bezogen auf die Konzernspitze, eine Änderung ihres Gesellschaftszwecks31 sowie ein Eingriff in den Unternehmensgegenstand:32 „Ihr eigener Gesellschaftszweck wird von nun an nicht mehr durch das Beteiligungsunternehmen verfolgt und verwirklicht; die Leitungsmacht des Konzernvorstands stößt beim Beteiligungs-

__________ 24 25 26 27 28 29 30 31 32

Originalwortlaut: zu nehmen. Hommelhoff (Fn. 7), S. 80. Hommelhoff (Fn. 7), S. 80. Über dessen Ungewöhnlichkeit vgl. auch Kropff, ZGR 1984, 112, 128: „schwer verständlich“. Von schulmäßiger Terminologie müssen wir uns im „Konzernrecht“ allenthalben lösen. Hommelhoff (Fn. 7), S. 82. Zur Aufgabe, ein Konzernverfassungsrecht zu entwerfen, vgl. Hommelhoff (Fn. 7), S. 39 und öfter; krit. Rittner, AcP 183 (1983), 295 ff., insbes. S. 308. Hommelhoff (Fn. 7), S. 84. Hommelhoff (Fn. 7), S. 85.

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unternehmen auf ihre Grenzen.“33 Der damit implizierte „Widerspruch zwischen dem Abschluss des Entherrschungsvertrags und dem statutarischen Gesellschaftszweck“ ergibt sich für Hommelhoff aus der folgenden Überlegung:34 „Wird eine Tochtergesellschaft durch Entherrschungsvertrag aus dem Leitungsbereich des Konzernvorstands herausgelöst, so hält die Konzernspitze die Beteiligung nicht mehr unternehmerisch, sondern nur noch schlicht kapitalistisch. Es ist ja das betonte Ziel des Entherrschungsvertrags, die Rechtsposition der beteiligten Gesellschafterin auf die einer bloßen Anlagegesellschafterin zurückzuschneiden. Die rein kapitalistische Vermögensverwaltung aber ist eine besondere Form gesellschaftsrechtlicher Betätigung35 und bedarf deshalb einer entsprechenden Vorgabe im statutarischen Unternehmensgegenstand der beteiligten Gesellschaft (§ 23 Abs. 3 Nr. 2 AktG)“. b) Damit wird wohl verständlich, warum Hommelhoffs Bild vom Entherrschungsverhältnis hier im Sinne eines atypischen, nämlich herrschaftsfreien Vertragskonzerns interpretiert wird: So, wie man im Fall eines Beherrschungsvertrags (§ 291 AktG) von einer Denaturierung der autonom gedachten Tochtergesellschaft sprechen kann,36 erscheint im Entherrschungsverhältnis die konzernleitungspflichtig gedachte Muttergesellschaft und gar das Konzerngebilde in toto als denaturiert. Ähnlich wie die Beherrschung für die Tochter wird so die Entherrschung für die Mutter zu einer der Legitimation bedürftigen Abweichung von ihrer aktienrechtlichen Regelverfassung. 3. Der Entherrschungsvertrag: ein Unternehmensvertrag? Zwei Wege zur Legitimation des Entherrschungsvertrags erkennt Hommelhoff: die Satzungsänderung bei der Obergesellschaft und einen qualifizierten Strukturbeschluss ihrer Hauptversammlung.37 Die vice-versa-Parallele zum Beherrschungsvertrag ist offenkundig. Auch er tritt ja an die Stelle einer Satzungsänderung.38 Dass die Beherrschung einer Aktiengesellschaft nach § 291 AktG nur als Organisationsvertrag und nicht – wie bei einer GmbH-Tochter39 – auch im Wege der Satzungsänderung legitimiert werden kann (vgl. auch § 293 Abs. 1 Satz 4 AktG), dürfte allein daran liegen, dass § 76 AktG eine Weisungsbindung des Vorstands als Satzungsregelung nicht zulässt (§ 23 Abs. 5 AktG).40 Da ein solches Verbot im Fall der Entherrschung nicht in Rede steht, kann Hommelhoff nebeneinander die Satzungsänderung oder einen „qualifizierten Strukturbeschluss“ der Hauptversammlung der Konzernspitze als Legitimationsinstru-

__________ 33 34 35 36 37 38 39 40

Hommelhoff (Fn. 7), S. 82. Hommelhoff (Fn. 7), S. 84. Der Text verweist hier auf Hommelhoff (Fn. 7), S. 46. Sprachlich abgeschwächt bei Emmerich/Habersack, Konzernrecht, 9. Aufl. 2008, § 11 Rz. 19. Hommelhoff (Fn. 7), S. 85. Ohne nach h. M. eine solche zu sein; Altmeppen in MünchKomm. AktG, 3. Aufl. 2010, § 291 AktG Rz. 39. Dazu Karsten Schmidt, Gesellschaftsrecht, 4. Aufl. 2002, S. 508, 1216. Karsten Schmidt (Fn. 39), S. 507, 1216.

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ment für den Entherrschungsvertrag anbieten.41 Der Entherrschungsvertrag erscheint ihm deshalb, wie der Beherrschungsvertrag, als ein Unternehmensvertrag oder doch jedenfalls als ein einem Unternehmensvertrag gleich zu behandelnder Vertrag.42 Wenngleich sich das Schutzrecht der §§ 300 ff. AktG hierher – man möchte ergänzen: selbstverständlich – „nicht unmittelbar“ übertragen lasse, genüge es doch, dass der Gesetzeszweck des § 293 Abs. 1 AktG die Zustimmung der Hauptversammlung gebiete. Dieses kombinierte Beschlussund Vertragsmodell wird sodann gegen Einwände aus § 119 Abs. 2 AktG43 und aus dem numerus clausus der Unternehmensverträge44 abgesichert. Hommelhoff ist nicht der Erste oder der Letzte, der dies vertreten hat.45 Konsequent durchgeführt leitet ihn dieser Gedankengang zu dem spektakulären Ergebnis, dass der Entherrschungsvertrag rechtsähnlich § 294 AktG zu seiner Wirksamkeit sogar der Eintragung im Handelsregister bedarf.46 4. Stellungnahme a) Die Größe und Kraft des vorgestellten Entherrschungskonzepts – wie des ganzen Werks47 – ist offenkundig. Das Konzept der Konzernleitungspflicht des Vorstands einer mehrheitlich an einer AG-Tochter beteiligten Aktiengesellschaft hat, bis hinein in die Handbuchliteratur, tiefe Spuren hinterlassen.48 Einer Konzernarchitektur, die dem klassischen, durch einen Beherrschungsvertrag getragenen Vertragskonzern jenseits der faktischen Konzernherrschaft einen Vertrags-Entherrschungskonzern gegenüberstellt, kann auch Ausgewogenheit, ja geradezu rechtliche Schönheit attestiert werden.49 Selbst noch die sich in Praktikeraugen befremdlich ausnehmende Idee einer konstitutiven Registereintragung50 steht, wenn die Vermutung des § 17 Abs. 2 AktG erga omnes widerlegt werden soll, nicht außerhalb jeder Diskussionsfähigkeit. Die Frage ist nur, ob das zugrundeliegende Modell einer die Konzernleitungspflicht des Muttervorstands umfassenden Konzernverfassung im faktischen Konzern das von Hommelhoff konstruierte Entherrschungsgebäude trägt. Das ist, wie zu zeigen sein wird, mit der herrschenden Auffassung zu bestreiten.

__________ 41 Hommelhoff (Fn. 7), S. 85; für unschlüssig hält dieses Nebeneinander offenbar Kropff, ZGR 1984, 112, 128. 42 Hommelhoff (Fn. 7), S. 85, 91. 43 Hommelhoff (Fn. 7), S. 87 ff. 44 Hommelhoff (Fn. 7), S. 86. 45 Ähnlich schon Möhring (Fn. 6), S. 427, 435 f.; eingehend Korsmeier, Der vertragliche Ausschluss von Abhängigkeit, 2000, S. 203 ff. 46 Hommelhoff (Fn. 7), S. 103. 47 Vgl. etwa die prominenten, wenngleich kritischen Rezensionen durch Kropff, ZGR 1984, 112 ff. (hier namentlich S. 132); Rehbinder, ZHR 147 (1983), 464 ff.; Rittner, AcP 183 (1983), 295 ff. 48 Vgl. m. w. N. Krieger (Fn. 1), § 69 Rz. 24, § 68 Rz. 61. 49 Das Lob ist ernst gemeint; Ästhetik ist nach Auffassung des Verf. neben anderen ein Merkmal überzeugender Rechtsfiguren und Rechtskonstruktionen. 50 Ablehnend Kropff, ZGR 1984, 112, 128.

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b) Hommelhoffs Bild vom Entherrschungsvertrag kann nicht unabhängig von seinem Konzernrechtsbild insgesamt und dieses wiederum kann nicht unabhängig von dem bei Marcus Lutter angelegten, dessen Schule insgesamt inspirierenden Bild vom Konzern als einer verfassten Unternehmensgruppe verstanden werden, zu dessen Vollendung die Schrift beitragen will.51 Dass das Aktiengesetz, an diesem Maßstab gemessen, defizitär ist, hat Lutter unlängst dargelegt.52 Im Gegensatz hierzu hat der Verfasser in einer anderen Festschrift jüngst wieder ausgeführt, dass und warum das Aktiengesetz ein solches Recht der verfassten Unternehmensgruppe gar nicht entwerfen will und dass dies zugleich seine Stärke ist.53 Der Einwand besteht nicht in der Behauptung, dass es die verfasste Unternehmensgruppe nicht „gibt“. Das Vertragskonzernrecht gibt den Konzernarchitekten im Wirtschaftsleben durchaus Werkzeuge an die Hand, mit denen verfasste Unternehmensgruppen zusammengebaut werden können, und dazu gehört der Beherrschungs- und Gewinnabführungsvertrag (§ 291 AktG). Wie die sonstigen Rechtsinstitute des gesetzlichen Konzerngesellschaftsrechts befasst das Gesetz sich aber nur mit dem Herrschafts-, Verantwortungs- und Zurechnungsinstrumentarium unter je einzelnen „verbundenen Unternehmen“, nicht mit der Gruppe als solcher.54 Gründe, dies für den Entherrschungsvertrag anders zu sehen, sind nicht ersichtlich. c) Im Aktienkonzern ist die Tochter gemäß §§ 76 Abs. 1, 119 Abs. 2 AktG sowie §§ 311, 317 AktG vorbehaltlich konzernrechtlicher Legitimation gegen schädigende Einflussnahme durch herrschende Unternehmen geschützt. Die Annahme, diesem gesetzlichen Schutz stehe, wiederum vorbehaltlich konzernrechtlicher Legitimation, eine Pflicht zur Wahrnehmung aller Konzernleitungschancen und ein Verbot, hierzu geeignete Aktionärsbeteiligungen bloß als Kapitalanlagen wahrzunehmen, gegenüber, ist im Aktienrecht nicht nachzuweisen.55 Man mag auch in der Orientierung des Aktienkonzernrechts auf den Schutz der Tochter, ihrer Minderheitsgesellschafter und ihrer Gläubiger ein Zeichen für die Rückständigkeit unseres Aktiengesetzes erblicken.56 Aber für eine gesetzlich konsolidierte Verfassung des Konzernganzen fehlt in Anbetracht der unendlichen Vielfalt der Unternehmensgruppen jede Grundlage, und es bleibt zu bemerken, dass das geltende Konzerngesellschaftsrecht durchaus nicht an der Aufgabe scheitern muss, diesem faktisch unbesteitbaren Ganzen mit seiner Spinnwebmethode gerecht zu werden.

__________ 51 Vgl. Hommelhoff (Fn. 7), S. 35 ff. im Anschluss an Uwe H. Schneider, BB 1981, 249. 52 Lutter in FS Karsten Schmidt, 2009, S. 1065 ff. 53 Karsten Schmidt in FS Rokas, Athen 2012, S. 893 ff.; vgl. im Ansatz bereits dens. in FS Lutter, 2000, S. 1167 ff.; ders. in FS Druey, 2002, S. 551 ff.; ders., ZGR 2011, 108, 128 f.; ähnlich bereits Rehbinder, ZHR 147 (1983), 464, 466 f. 54 Vgl. ebd. 55 So im Ergebnis z. B. Mertens/Cahn in KölnKomm. AktG, 3. Aufl. 2010, § 76 AktG Rz. 65, m. w. N.; vgl. auch Rehbinder, ZHR 147 (1983), 464, 466 f.; Heinrich Götz, ZGR 1998, 524, 530. 56 Vgl. neuerlich Fn. 52.

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III. Faktische Entherrschung durch Vertrag 1. Zum Konzept Die mit der eingebürgerten Konzernrechtsterminologie schwer vereinbare Überschrift dieses dritten Teils soll, anders als es zunächst scheinen mag, ein in den Details eher positivistisches Bild des ungeregelten Entherrschungsvertrags rechtfertigen. Es geht beim Entherrschungsvertrag nicht um die Verfassung einer herrschaftsfreien Unternehmensgruppe, sondern um nicht mehr als die Widerlegung der zwischen je einzelnen Unternehmen wirkenden Vermutung faktischer Abhängigkeit nach § 17 Abs. 2 AktG. Die Kernfrage im Recht der Entherrschungsverträge lautet deshalb: Kann – und unter welchen Voraussetzungen kann – ein Vertrag (!) zwischen dem Mutter- und dem Tochterunternehmen zu faktischer (!) Entherrschung führen? 2. Parteien des Entherrschungsvertrags Da das gesetzliche Aktienkonzernrecht keinen verfassten Konzern zum Leitbild hat, sondern auf die verbundenen Unternehmen blickt, sind Parteien des Entherrschungsvertrags zunächst das potentiell herrschende und das potentiell abhängige Unternehmen.57 Es versteht sich jedoch, dass es sich bei mehrgliedrigen Konzernstrukturen komplizierter verhalten kann. Bei mehrstufiger Verflechtung kann u. U. nicht auf die Einbeziehung weiterer Konzernglieder verzichtet werden, um deren mittelbare Konzernherrschaft auszuschließen.58 Soll die Vermutung einer gemeinschaftlich im Mehrmütterkonzern ausgeübten Konzernherrschaft ausgeräumt werden, so liegt auf der Hand, dass der Entherrschungsvertrag als Mehrparteienvertrag gleichzeitig horizontal (zwischen den potentiell herrschenden Unternehmen) und vertikal (zwischen ihnen und dem Beteiligungsunternehmen) abgeschlossen wird.59 Man mag dies alles selbstverständlich nennen, muss aber auch hierin das beschriebene Konzernrechtsbild des Aktiengesetzes erkennen. 3. Die aktienrechtliche Zulässigkeit a) Die aktienrechtliche Zulässigkeit von Entherrschungsverträgen kann nicht einfach schon aus der Widerleglichkeit der Abhängigkeitsvermutung gefolgert werden. Der dem geltenden § 17 Abs. 2 AktG zugrundeliegende Kommissionsbericht hat nämlich, was Hommelhoff60 durchaus sieht, als Mittel der Widerlegung der Abhängigkeitsvermutung nur horizontale, nämlich als Stimmbindung unter den Aktionären vereinbarte, Entherrschungsvereinbarungen in den Blick genommen.61 Die Folgerung aus § 17 Abs. 2 AktG kann bezüglich der

__________ 57 58 59 60 61

Beispiel bei Hoffmann-Becking (Fn. 5), Formular X 9. Hentzen, ZHR 157 (1993), 65, 71. Happ (Fn. 5), Formular 4.02. Hommelhoff (Fn. 7), S. 83. Ausschussbericht in Kropff, AktG, 1965, S. 28.

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Entherrschungsverträge deshalb nur sein:62 Wenn (!) solche Verträge aktienrechtlich zulässig sind, dann können (!) sie nach § 17 Abs. 2 AktG zur Widerlegung der Abhängigkeitsvermutung taugen oder beitragen.63 b) Die aktienrechtliche Zulässigkeit ist immer wieder – von Geßler64 und Mestmäcker65 bis zur Grundlagenkritik von Hüttemann66 – von prominenten Autoren bestritten worden. Hüttemann hat zwar Bedenken aus § 134 Abs. 1 Satz 5 AktG67 und § 136 Abs. 2 AktG68 mit überzeugenden Gründen zurückgewiesen, erblickt aber im Entherrschungsvertrag einen Verstoß gegen die aus §§ 23 Abs. 5, 76 AktG ersichtliche zwingende Kompetenzordnung.69 Wäre das richtig, so wäre dieser Verstoß, da § 23 Abs. 5 AktG dann sogar eine entsprechende Satzungsregelung untersagte, auch nicht durch einen Hauptversammlungsbeschluss heilbar. Die Schlüssigkeit der von Hüttemann artikulierten Einwände ist also, wenn die Prämisse zutreffen sollte, kaum zu bestreiten. c) Just die Prämisse ist aber der Schwachpunkt von Hüttemanns Argument gegen Entherrschungsverträge. Die Satzung einer Aktiengesellschaft kann die strategischen Aktionsräume des Vorstands sehr wohl einengen,70 und zwar ohne Verstoß gegen die nach § 23 Abs. 5 AktG zwingend homogene AG-Verfassung.71 Um echte Abweichungen von der gesetzlichen AG-Struktur handelt es sich bei der Unterstellung einer (Tochter-)AG unter vertragliche Konzernherrschaft (vgl. nämlich § 76 Abs. 1 AktG) und eine Gewinnabführungsverpflichtung (vgl. nämlich § 174 AktG), weshalb Beherrschungs- und Gewinnabführungsverträge – der Sache, wenn auch nicht der Form nach Satzungsänderungen72 – der gesetzlichen Legitimation durch § 291 AktG bedürfen.73 Für Entherrschungsverträge gilt nicht dasselbe. Sie weichen bezüglich der Konzernobergesellschaft zwar von dem Konzernleitungstheorem Hommelhoffs, nicht aber von zwingendem Aktienrecht ab, und wenn man die §§ 134, 136 AktG als nicht tangiert ansieht, gilt das – ganz anders als beim Beherrschungsvertrag – erst recht für die Untergesellschaft. Daraus folgt: Der Entherrschungsvertrag ist der aktienrechtlichen Legitimation bedürftig, aber nicht unfähig.

__________ 62 Dass hieraus nicht die Unzulässigkeit folgt (so die Befürchtung von Jäger, DStR 1995, 1113, 1114), versteht sich. 63 Hüttemann, ZHR 156 (1992), 314, 317. 64 Geßler in Geßler/Hefermehl/Eckardt/Kropff, AktG, 1984, § 17 AktG Rz. 106. 65 Mestmäcker, Medienkonzentration und Meinungsvielfalt, 1978, S. 63 ff.; gegen seine Argumente Hommelhoff (Fn. 7), S. 82 f.; Hüttemann, ZHR 156 (1992), 314, 318 f. 66 Hüttemann, ZHR 156 (1992), 314 ff., zusammenfassend S. 329. 67 Hüttemann, ZHR 156 (1992), 314, 319 ff.; zust. insoweit Koppensteiner in KölnKomm. AktG, 3. Aufl. 2010, § 17 AktG Rz. 109; Hentzen, ZHR 157 (1993), 65, 67; Jäger, DStR 1995, 113, 114; Reichert/Harbarth, AG 2001, 447, 454. 68 Hüttemann, ZHR 156 (1992), 314, 321 ff.; insoweit zust. z. B. Koppensteiner (Fn. 67), § 17 AktG Rz. 109; Reichert/Harbarth, AG 2001, 447, 454. 69 Hüttemann, ZHR 156 (1992), 314, 324 ff.; dagegen z. B. Bayer in MünchKomm. AktG, 3. Aufl. 2008, § 17 AktG Rz. 99; Hentzen, ZHR 157 (1993), 65, 67; Jäger, DStR 1995, 113, 114. 70 Fleischer in Spindler/Stilz, 2. Aufl. 2010, § 76 AktG Rz. 76. 71 Arnold in KölnKomm. AktG, 3. Aufl. 2010, § 23 AktG Rz. 129 f. 72 Vgl. Fn. 38. 73 Statt vieler Veil, Unternehmensverträge, 2003, S. 114.

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4. Die Kompetenzfrage a) Nach der hier vertretenen Auffassung ist zwar die faktische Nichtausübung von Konzernherrschaft von der Geschäftsführungsbefugnis (§ 77 AktG) gedeckt. Nicht von ihr und von der Vertretungsbefugnis des Vorstands (§ 78 AktG) gedeckt ist aber, wie Hommelhoff überzeugend dargelegt hat, die vertragliche Verpflichtung zu solcher Enthaltsamkeit, und zwar auch dann nicht, wenn Opportunitäts- und Strategieüberlegungen für den Abschluss eines solchen Vertrags sprechen.74 b) Auf der Seite der Tochter setzt der Entherrschungsvertrag nach herrschender Auffassung keinen Beschluss der Haupt- oder Gesellschafterversammlung voraus, weil die mitgliedschaftliche Struktur unverändert bleibt.75 Eine Selbstverständlichkeit ist dies nicht, weil ja die Herrschungsfreiheit auch auf die Verfassung der Tochtergesellschaft durchschlägt. Nachdem aber Aktionärs- und Gesellschafterkonsortien als zustimmungsfrei zulässig erkannt worden sind,76 wird man unter dem Vorbehalt künftig besserer Einsicht dies auch hier gelten lassen.77 c) Für das potentiell herrschende Unternehmen verhält es sich anders. Der Entherrschungsvertrag hat ja zur Folge, dass sich dieses Unternehmen in rechtlich verbindlicher Weise der Möglichkeit begibt, seinen unternehmerischen Einfluss in dem Beteiligungsunternehmen auszuüben. Nicht als Aufhebung einer Konzernleitungspflicht, sondern als Einschränkung des strategischen Ermessens des Vorstands bedarf dies der verbandsrechtlichen Legitimation, sei es durch eine entsprechende Satzungsklausel,78 sei es, was streitig ist, durch eine qualifizierte Hauptversammlungsmehrheit.79 Um dies zu belegen, muss man den Entherrschungsvertrag nicht mit quasi-satzungsändernden Verträgen nach § 291 AktG auf eine Stufe stellen.80 Auch der Eintragung in das Handelsregister bedarf der Vertrag deshalb nicht.81 Nur vereinzelt vertreten wird aber auch seine Einordnung unter die rein schuldrechtlichen, der alleinigen Vorstands-

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74 Hommelhoff (Fn. 7), S. 84 f.; über Gegenansichten vgl. m. w. N. J. Vetter (Fn. 9), § 17 AktG Rz. 64; unentschieden Reichert/Harbarth, AG 2001, 447, 454; nach Koppensteiner (Fn. 67), § 17 AktG Rz. 114 ist eine Satzungsgrundlage erforderlich, der Entherrschungsvertrag aber auch ohne sie als Vertretungsgeschäft wirksam. 75 LG Mainz, AG 1991, 30, 32 = ZIP 1991, 583, 588; Jürgen Götz (Fn. 4), S. 106; Happ (Fn. 5), Formular 4.02, Rz. 15; Bayer (Fn. 69), § 17 AktG Rz. 108; Koppensteiner (Fn. 67), § 17 AktG Rz. 114; Jäger, DStR 1995, 113, 117. 76 Vgl. über Stimmbindungen die Angaben bei Hüffer, 9. Aufl. 2010, § 133 AktG Rz. 25 ff. 77 Nicht untersucht wird hier die Mitwirkung der Tochter an einer Aufhebung des Entherrschungsvertrags; dazu Hentzen, ZHR 157 (1993), 65, 70. 78 So auch Krieger (Fn. 1), § 68 Rz. 62; Raiser/Veil, Recht der Kapitalgesellschaften, 5. Aufl. 2010, § 51 Rz. 29; J. Vetter (Fn. 9), § 17 AktG Rz. 64; im Ergebnis auch Bayer (Fn. 69), § 17 AktG Rz. 109 (aber Rz. 110); a. M. Windbichler in Großkomm. AktG, 4. Aufl. 2004, § 17 AktG Rz. 82. 79 So im Ergebnis auch Emmerich in Emmerich/Habersack, Aktien- und GmbHKonzernrecht, 6. Aufl. 2010, § 17 AktG Rz. 44; hiergegen Krieger (Fn. 1), § 68 Rz. 62. 80 Hiergegen auch Koppensteiner (Fn. 67), § 17 AktG Rz. 115 mit umfangreichen Nachweisen. 81 Koppensteiner (Fn. 67), § 17 AktG Rz. 115; Kropff, ZGR 1984, 112, 128.

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verantwortung unterliegenden Verträge.82 Die organisationsrechtliche Schmälerung des dem Vorstand nach § 76 Abs. 1 AktG zustehenden Aktionsraums selbstverantwortlichen unternehmerischen Ermessens verbietet das. 5. Der Vertragsinhalt Umstritten ist, ob der Entherrschungsvertrag auf die Ebene des § 17 Abs. 1 AktG oder des § 17 Abs. 2 AktG gehört.83 Auch diese scheinbar rein technische Rechtsfrage hat eine konzeptionelle Komponente. Der Entherrschungsvertrag will nicht, wie es bisweilen heißt, die Vermutung des § 17 Abs. 2 AktG unanwendbar machen.84 Dem § 17 Abs. 2 AktG kann vielmehr im Fall des Mehrheitsbesitzes nur durch Widerlegung der Abhängigkeitsvermutung begegnet werden,85 also durch den Nachweis faktischer Herrschaftsfreiheit. Der Entherrschungsvertrag gehört damit auf die Ebene des § 17 Abs. 1 AktG.86 Das bedeutet nun nicht, dass ein sich auf die Stimmrechtsausübung beschränkender Entherrschungsvertrag87 unwirksam oder gar wertlos und allein auf die faktische Entherrschung abzustellen wäre. Die Beschränkung der Stimmrechtsausübung ist vielmehr der zentrale,88 nicht selten wohl ausschließliche Inhalt der Entherrschungsvereinbarung. Da nämlich § 17 Abs. 1 AktG nicht auf die Ausübung (!) von Konzernherrschaft, sondern auf deren Möglichkeit (!) abstellt („ausüben kann“),89 kann eine unter den Beteiligten oder der Öffentlichkeit gegenüber abgegebene Nicht-Beherrschungs-Erklärung der Muttergesellschaft nicht ausreichen,90 sondern die Entherrschungsvereinbarung muss – rechtlich verbindlich und – gleichzeitig faktisch entherrschend wirken. Diese doppelte Voraussetzung enthält eine charakteristische Schwierigkeit, die der Beherrschungsvertrag als actus contrarius nicht kennt. 6. Nachhaltigkeit a) Der auf diese Weise herzustellende Entherrschungsstatus ist ein Zustand, nicht ein sich von heute auf morgen vollziehendes Leistungsversprechen. Mit

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82 In dieser Richtung allerdings Bayer (Fn. 69), § 17 AktG Rz. 110; Koppensteiner (Fn. 67), § 17 AktG Rz. 109. 83 Meinungsspektrum bei J. Götz (Fn. 4), S. 8–18; Möhring (Fn. 6), S. 427, 432 ff. 84 So etwa Windbichler (Fn. 78), § 17 AktG Rz. 71; Koppensteiner (Fn. 67), § 17 AktG Rz. 100 ff.; Schall in Spindler/Stilz, 2. Aufl. 2010, § 17 AktG Rz. 50; grdlgd. Barz (Fn. 6), S. 185, 189. 85 In diesem Sinne Krieger (Fn. 1), § 68 Rz. 58 ff.; Bayer (Fn. 69), § 17 AktG Rz. 95; Emmerich (Fn. 79), § 17 AktG Rz. 37; Hüffer (Fn. 76), § 17 AktG Rz. 19; J. Vetter (Fn. 9), § 17 AktG Rz. 53. 86 Vgl. Fn. 83. 87 In der Terminologie von Reichert/Harbarth, AG 2001, 447, 454: „Stimmrechtsausschlussvertrag“. 88 Über deren zentrale Bedeutung vgl. Jürgen Götz (Fn. 4), S. 45 ff. 89 Vgl. statt aller Hüffer (Fn. 76), § 17 AktG Rz. 6. 90 So bereits Möhring (Fn. 6), S. 427, 432; Barz (Fn. 6), S. 185, 194 f.; h. M.; vgl. nur Hüffer (Fn. 76), § 17 AktG Rz. 22.

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dem statusbegründenden Charakter des Entherrschungsvertrags hängt es zusammen, dass es ohne Nachhaltigkeit nicht geht. Um der Abhängigkeitsvermutung entgegengesetzt zu werden, bedarf der Vertrag einer Mindestdauer, gemessen an den höchstzulässigen Amtsperioden von Vorständen und Aufsichtsräten.91 Eine ordentliche Kündbarkeit muss ausgeschlossen sein.92 Aber das allein reicht nicht aus. b) Macht man mit der Widerlegung der Abhängigkeitsvermutung durch den Beherrschungsvertrag ernst, so stellt sich die Frage, inwieweit der Vertrag nach Lage des Falls außer der Begrenzung der Stimmrechtsausübung weitere Verpflichtungen der Mehrheitsgesellschafterin enthalten muss, ihre Stellung auch nicht zu sonstiger, nicht auf Stimmrechte gestützter Herrschaftsausübung zu nutzen.93 Im Handbuch von Happ findet sich in einem Formular etwa die Formel:94 „Die Mehrheitsgesellschafterinnen verpflichten sich darüber hinaus gegenüber der Gesellschaft, ihre Stellung als deren Aktionär nicht dazu zu benutzen, um im Rahmen von Geschäftsverbindungen zur Gesellschaft für Leistungen und/oder Lieferungen Gegenleistungen der Gesellschaft in Anspruch zu nehmen, die sie mit anderen Geschäftspartnern unter gleichen oder vergleichbaren Bedingungen nicht vereinbaren würden. Sie werden im Rahmen der Geschäftsverbindung auch nicht sonstige von diesem Grundsatz abweichende Vorteile annehmen oder der Gesellschaft angemessene Gegenleistungen vorenthalten.“ Die meisten Formularempfehlungen enthalten solche Zusatzverpflichtungen nicht.95 Das ist, wenn man den Vertrag auf der Ebene des § 17 Abs. 2 AktG belässt, unschädlich. Verlangt man die Widerlegung der Abhängigkeitsvermutung, so stellt sich die Frage, ob Stimmrechtsbeschränkung für den Entherrschungseffekt genügt. 7. Schall und Rauch? a) In Anbetracht der von den Parteien beabsichtigten Entkräftung der Abhängigkeitsvermutung liegt bei Entherrschungsverträgen der Einwand des Scheingeschäfts, also der Möglichkeit nach § 117 BGB, nahe.96 Die hieraus resultierende Forderung, ein Entherrschungsvertrag müsse wirtschaftlich vernünftig97 oder von einem über die Vermeidung des Abhängigkeitstatbestands hinaus-

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91 OLG Köln, NJW-RR 1993, 804, 805 = EWiR 1993, 5 (Geutling) = WuB II A § 119 AktG 1.93 (Marsch-Barner); LG Köln, AG 1992, 238 = BB 1992, 1248 = DB 1992, 627; Bayer (Fn. 69), § 17 AktG Rz. 100 ff.; Hüffer (Fn. 76), § 17 AktG Rz. 22; Schall (Fn. 84), § 17 AktG Rz. 52; J. Vetter (Fn. 9), § 17 AktG Rz. 62; Hentzen, ZHR 157 (1993), 65, 71; Reichert/Harbarth, AG 2001, 447, 454. 92 OLG Düsseldorf, AG 2007, 169, 172; LG Köln, AG 1993, 86, 87; Jürgen Götz (Fn. 4), S. 62 f.; Emmerich (Fn. 79), § 17 AktG Rz. 43; Bayer (Fn. 69), § 17 AktG Rz. 102 f. 93 Dafür etwa ArbG Düsseldorf, AuR 2005, 338, 339 m. Anm. Hjort. 94 Happ (Fn. 5), Formular 4.02, S. 430; anders freilich Formular 4.03, S. 443. 95 Vgl. nur Hoffmann-Becking (Fn. 5), Formular X 9; Messerschmidt (Fn. 5), Formular T V; vgl. auch Happ (Fn. 5), Formular 4.03. 96 LG Mainz, AG 1991, 30, 32 = ZIP 1991, 583, 588; Raiser/Veil (Fn. 78), § 51 Rz. 28; Koppensteiner (Fn. 67), § 17 AktG Rz. 112; Windbichler (Fn. 78), § 17 AktG Rz. 81; Hentzen, ZHR 157 (1993), 65, 71; Jäger, DStR 1995, 1113, 1115. 97 So Möhring (Fn. 6), S. 427, 434.

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gehenden Motiv geleitet sein,98 verdient allerdings keinen Beifall.99 Wenn Entherrschungsverträge im Rahmen des § 17 Abs. 2 AktG zu akzeptieren sind, dann nicht als Mittel zu einem höheren Zweck, sondern als legitime Instrumente zur Widerlegung der Abhängigkeitsvermutung. Das muss genügen, wenn die Entherrschung ernst gemeint ist. Der Grund für die immer wieder aufkeimende Frage nach dem Entherrschungsmotiv liegt nach den hier angestellten Überlegungen nicht bei § 117 BGB, sondern bei den Anforderungen an die faktische Entherrschung. Wo der Vertrag nur als leeres Versprechen erscheint, verfehlt er diese Wirkung, ohne deshalb zum Scheingeschäft gestempelt werden zu müssen. Schutz gegen die Gefahr, „jedem Stück Papier Glauben zu schenken, das eine Widerlegung einer Konzernzugehörigkeit suggerieren will“,100 bietet nicht § 117 BGB, sondern der Blick auf die Fakten. b) In einem neuen Licht erscheint hiernach auch die Diskussion, ob und wie die Einhaltung der Entherrschungszusage ex ante gesichert werden muss.101 Nicht von ungefähr hat das OLG Frankfurt im Zusammenhang mit § 290 Abs. 2 Nr. 1 HGB ausgeführt:102 „weil ein vertraglicher Ausschluss der Stimmrechtsausübung nach herrschender Meinung die Möglichkeit vertragswidriger Stimmabgabe nicht beseitigt, kann sich ein Unternehmen der Mehrheit der Stimmrechte nicht durch Abschluss schuldrechtlicher Verträge (z. B. Stimmbindungs-, Entherrschungsverträge) begeben …“ Das liest sich, als wäre der Entherrschungsvertrag das Papier nicht wert, auf das er geschrieben ist, doch gilt dies nur auf der Rechtsfolgenseite des § 290 HGB (oben unter I 2 b). Zweifellos „kann“ (§ 17 Abs. 1 AktG) die Obergesellschaft jederzeit durch Vertragsbruch oder mit Zustimmung der Tochter in die Konzernherrschaft zurückkehren. Aber was tun? Von der Hinterlegung von Aktien bei einem Notar ist die Rede,103 doch würde dies selbst bei einer vertragstreuen Muttergesellschaft jede Variabilität bei der Stimmrechtsausübung in Frage stellen.104 Erkennbar wirft das Zusammentreffen von vertraglicher und faktischer Entherrschung Fragen der vernünftigen Handhabung auf. Im Regelfall sollte, solange der Vertrag eingehalten wird, die im Entherrschungsvertrag versprochene faktische Nicht-Beherrschung für die Entlastung genügen. c) Der Preis für diese Entformalisierung heißt Rechtsunsicherheit. Der durch den Entherrschungsvertrag zwischen den Unternehmen gespannte korporative Schleier ist ein fragiles Schutzinstrument. Seine Reißfestigkeit sieht sich in Frage gestellt, sobald die in ihm versprochene faktische Entherrschung nicht

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98 So LG Mainz AG, 1991, 30, 32 = ZIP 1991, 583, 588; Bayer (Fn. 69), § 17 AktG Rz. 112; J. Vetter (Fn. 9), § 17 AktG Rz. 63; Raiser/Veil (Fn. 78), § 51 Rz. 28; Möhring (Fn. 6), S. 427, 434; Barz (Fn. 6), S. 186, 196. 99 So auch Koppensteiner (Fn. 67), § 17 AktG Rz. 112; Schall (Fn. 84), § 17 AktG Rz. 52; Windbichler (Fn. 78), § 17 AktG Rz. 81; Hentzen, ZHR 157 (1993), 65, 71; Jäger, DStR 1995, 1113, 1115. 100 Vgl. Hjort, AuR 2005, 339, 340. 101 Dazu eingehend J. Götz (Fn. 4), S. 64 ff.; gegen eine Sicherung Barz (Fn. 6), S. 185, 197; Bayer (Fn. 69), § 17 AktG Rz. 105; Koppensteiner (Fn. 67), § 17 AktG Rz. 113. 102 OLG Frankfurt, NZG 2007, 553, 555 = ZIP 2007, 864, 867 = BeckRS 2007, 14828. 103 Jürgen Götz (Fn. 4), S. 71. 104 Hentzen, ZHR 157 (1993), 65, 71.

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mehr außer Frage steht. Ausführlich diskutiert wird deshalb, in welchem Umfang die Gesellschaften personell, finanziell und operativ entflochten werden müssen, damit der Entherrschungsvertrag hält, was er verspricht.105 Hier liegt der Grund, der über die bloße Stimmrechtsvereinbarung hinaus Vereinbarungen der oben unter III 6 b dargestellten Art empfehlenswert scheinen lässt. 8. Fehlerhafte Entherrschungsverträge? a) Mit Blick auf den Organisationscharakter des Entherrschungsvertrags ist die Frage aufgeworfen worden, ob auf diesen Vertrag die Regeln über fehlerhafte Gesellschaften angewendet werden können.106 Dies zu bejahen, liegt, wenn man Entherrschungsverträge mit Hommelhoff als Unternehmensverträge ansehen wollte, im Gefolge des „Familienheim“-Urteils107 nahe. Diskutiert wurde diese Frage am Beispiel der Fälle „Asko/Massa“ und „Winterthur/Nordstern“. In beiden Fällen ging es angesichts der Unwirksamkeit von Entherrschungsverträgen um die Nichtigkeit von Jahresabschlüssen der Tochtergesellschaften wegen Nichtausweises der beherrschenden Beteiligung („Asko/ Massa“)108 bzw. wegen Fehlens eines Abhängigkeitsberichts („Winterthur/ Nordstern“).109 Im letzteren Fall wurde die Frage der Anerkennung fehlerhafter Entherrschungsverträge nicht entscheidungserheblich, weil das Fehlen eines Abhängigkeitsberichts für den Jahresabschluss kein Nichtigkeitsgrund ist.110 Im Fall „Asko/Massa“ hing die Entscheidung dagegen ganz an der Unwirksamkeit des Entherrschungsvertrags. Vorgetragen wird nun, solche Überlegungen gingen ins Leere, weil fehlerhafte Entherrschungsverträge als Organisationsverträge anerkannt werden müssten.111 b) Diese interessante, doch wenig bemerkte Zweifelsfrage ist ein guter Beleg für den Nutzen der hier fortgesetzten Auseinandersetzung mit Peter Hommelhoffs Grundlagenarbeit. Sieht man den Entherrschungsvertrag und seine Wirkung statt im konzernverfassungsrechtlichen Gesamtkontext einzig in der doppelten Voraussetzung rechtlich versprochener und faktisch vollzogener Entherrschung, so erweist sich die Übertragung der Rechtsfigur fehlerhafter Gesellschaftsverträge als wenig weiterführend. Es geht bei der Nichtanerkennung fehlerhafter Entherrschungsverträge nämlich nicht um die Frage, ob diese mit Wirkung ex tunc null und nichtig oder trotz Fehlerhaftigkeit wirksam sind. Es geht vielmehr allein um die an die Widerlegung der Abhängigkeitsvermutung zu stellenden Anforderungen, und hier steht nicht der Vertrag im Mittel-

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Jürgen Götz (Fn. 4), S. 72 ff.; Hentzen, ZHR 157 (1993), 65, 72 f. Korsmeier (Fn. 45), S. 240 ff. BGHZ 103, 1 = NJW 1988, 1326; dazu Altmeppen (Fn. 38), § 291 AktG Rz. 192 ff. Nichtigkeit bejahend AG Mainz, AG 1991, 30 = ZIP 1991, 583 = EWiR 1991, 329 (Krieger). 109 Nichtigkeit verneinend OLG Köln, AG 1993, 86 = NJW-RR 1993, 804 = EWiR 1993, 5 (Geuthing) = WuB II A § 119 AktG 1.93 (Marsch-Barner); ebenso bereits in den Vorinstanzen LG Köln, AG 1992, 238 = BB 1992, 1248 = DB 1992, 677. 110 Dazu BGHZ 124, 111, 121 = AG 1994, 124, 126; J. Vetter (Fn. 9), § 312 AktG Rz. 26. 111 Korsmeier (Fn. 45), S. 52 f. (anders freilich S. 250 f. bei fehlender Zustimmung der Hauptversammlung).

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punkt, sondern die durch ihn bewirkte Entherrschung (oben unter III 7). Allein entscheidend ist deshalb, ob für die Widerlegung der Abhängigkeitsvermutung in der Vergangenheit außer der faktischen Entherrschung auch die Wirksamkeit des Entherrschungsvertrags in jeder Hinsicht geprüft werden muss oder ob der Vollzug einer nur vermeintlich bindenden Entherrschungsvereinbarung genügt. Hierüber entscheiden die einzelnen Rechtsfolgenregelungen (oben unter I 2). Eine Wirksamerklärung des fehlerhaften Vertrags nach den Regeln über fehlerhafte Gesellschaften ist nicht der weiterführende Weg.

IV. Statt einer Zusammenfassung 1. Warum keine Zusammenfassung? Es ist in der Rechtswissenschaft üblich geworden, Beiträgen eine Zusammenfassung in Thesen anzuhängen, um den „eiligen Leser“ ohne Einzellektüre ins Bild zu setzen, um den „gründlichen Leser“ prüfen zu lassen, ob die Erträge den Einsatz solcher Gründlichkeit lohnen, und um den Autor vor Fehl- oder Nichtzitaten zu schützen. Selbst die ambitionierten Archivzeitschriften mögen, wie Jubilar und Verfasser aus eigener Schriftleitertätigkeit wissen, auf diesen Kunstgriff nicht mehr verzichten. Auch für den vorliegenden Beitrag wäre es – sicher auch in den Augen des Jubilars – ein schlechter Lohn, wenn der Verzicht auf Einzelthesen ihn in das Lager der apokryphen Schriften verbannen würde. Gleichwohl seien die Leser der Festschrift auf die Aufgabe verwiesen, die Einzelaussagen selbst aus dem Text herauszufiltern. 2. Inspiration durch Habilitation Während nämlich eine Zusammenstellung von Einzelthesen die Aufmerksamkeit mehr auf Divergenzen zwischen der Arbeit des Jubilars und den hier präsentierten Thesen lenken würde, käme eine viel elementarere Gemeinsamkeit, nämlich die Wertschätzung großer, nicht bloß voluminöser Monographien auf diese Weise zu kurz. Hommelhoffs „Konzernleitungspflicht“ ist Resultat eines konzeptionellen Wagnisses, eines nach ungeschauten Einsichten suchenden Eigensinns und einer die Welt des Konzernrechts mit eigenen Augen erkundenden Expedition. Vor uns liegt eine Habilitationsschrift, deren Erträge, über den Forschungsauftrag weit hinaus, uns zu neuem Nachdenken auch über vermeintlich Gesichertes anhalten. Es ist der große, folgenreiche monographische Wurf, der die „Konzernleitungspflicht“ heute noch auszeichnet und ihr über drei Jahrzehnte die inspirierende Frische erhalten hat.

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Zur Haftung von Mitgliedern der Aufsichtsorgane von Anstalten des öffentlichen Rechts am Beispiel der Bayerischen Landesbank und der Bayerischen Staatsforsten Inhaltsübersicht I. Einleitung II. Die Rechtsform „Anstalt des öffentlichen Rechts“ 1. Die Anstalt des öffentlichen Rechts 2. Der öffentliche Auftrag 3. Das Zusammenwirken von Vorstand und Aufsichtsrat bzw. Verwaltungsrat III. Die Kontrolle der Arbeit des Vorstands durch das Aufsichtsorgan 1. Kontrollinstrumente 2. Umfang der Kontrolltätigkeit IV. Die Haftung der Mitglieder des Aufsichtsorgans 1. Der Haftungsmaßstab im Allgemeinen 2. Sorgfaltspflichten a) Entsprechende Anwendung aktienrechtlicher Grundsätze b) Kontrolldichte c) Erforderliche Maßnahmen

d) Keine Entlastung durch Rechtsaufsicht 3. Individuelle Verantwortung der Aufsichtsrats- bzw. Verwaltungsratsmitglieder a) Teilnahmepflicht an Sitzungen b) Mindestqualifikation und Sachkunde c) Selbstverantwortung 4. Differenzierung der Sorgfaltspflichten a) Keine Unterscheidung zwischen geborenen und gekorenen Mitgliedern b) Ausschussmitglieder und sonstige Mitglieder des Aufsichtsrates c) Vorsitzender von Aufsichts- bzw. Verwaltungsrat 5. Keine Weisungsgebundenheit der Mitglieder des Aufsichts- oder Verwaltungsrats V. Ausblick

I. Einleitung Landesbanken sind in Deutschland teilweise als Aktiengesellschaften, teilweise als Anstalten des öffentlichen Rechts organisiert. Wird die Rechtsform der Aktiengesellschaft gewählt, ist die Haftung der Aufsichtsräte in § 116 i. V. m. § 93 AktG geregelt. Aber auch bei Wahl der Rechtsform „Anstalt des öffentlichen Rechts“ lehnen sich Gesetz- oder Satzungsgeber häufig an das aktienrechtliche Modell an. So verweist etwa § 19 Abs. 2 Satz 2 der Satzung der Bayerischen Landesbank auf das Haftungsregime des Aktienrechts und weicht nur insoweit ab, als er den Verschuldensmaßstab für pflichtwidriges, schädigendes Verhalten des Verwaltungsrats auf grobe Fahrlässigkeit reduziert. Praktisch bedeutsam wurde dies, als im Jahr 2009 der Bayerischen Landesbank durch den Kauf der österreichischen Hypo Group Alpe Adria (HGAA) ein 1001

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Schaden in Höhe von 3,7 Mrd. Euro entstand. Erstmals wurde aufgrund dieses spektakulären Falls in einer breiteren Öffentlichkeit diskutiert, ob auch Mitglieder von Verwaltungsräten bzw. Aufsichtsräten erfolgreich auf Schadensersatz in Anspruch genommen werden können.1 Ausgangspunkt für derartige Überlegungen ist, dass sich die Bayerische Landesbank nicht wie jede andere Geschäftsbank verhalten darf, weil sie gleichzeitig einen öffentlichen Auftrag erfüllt. Wegen dieses öffentlichen Auftrags muss die gesamte Tätigkeit risikobewusster wahrgenommen werden. Ausdrücklich wurde betont, dass es sich bei der Kontrolltätigkeit des Verwaltungsrats um eine Holschuld handelt. Der Verwaltungsrat dürfe sich nicht darauf verlassen, welche Informationen geliefert würden, sondern er müsse sich diese gegebenenfalls selbst beschaffen.2 Im Fall der Bayerischen Landesbank wurden strafrechtliche Ermittlungsverfahren eingeleitet und zivilrechtliche Klagen auch gegen Mitglieder des Verwaltungsrates vorbereitet. Das hiermit verbundene Aufsehen führte ganz allgemein zu Unsicherheiten in Bezug auf das Ausmaß der Sorgfaltspflichten von Mitgliedern der Aufsichtsorgane von Anstalten des öffentlichen Rechts und zur rechtlichen Frage, ob deren Haftung rechtswirksam auf Vorsatz und grobe Fahrlässigkeit beschränkt werden könne. Das Verhältnis zwischen Aufsichtsorgan und Vorstand wurde generell thematisiert. Dies mag erstaunen, weil die nach dem Aktiengesetz bestehenden Sorgfaltspflichten entsprechend gelten. Für diese gibt es aber seit langem eine etablierte Rechtsprechung. Ohne dass dies im Einzelnen formuliert wurde, war nicht nur in der Öffentlichkeit, sondern auch bei Verwaltungs- bzw. Aufsichtsräten im öffentlichen Bereich der (falsche) Eindruck entstanden, dass bei der Ausübung der Aufsichtstätigkeit durch Mitglieder der Ministerien oder vom Gesetzgeber berufener politischer Personen andere, mildere Maßstäbe zu gelten haben. Das Aufsichts- bzw. Verwaltungsratsmandat wird oder wurde offensichtlich vielfach nur als Ehrenamt ohne besondere Pflichten verstanden. Der Grund hierfür mag auch darin liegen, dass in Aufsichts- und Verwaltungsräten vielfach Laien tätig sind, Personen, die allenfalls politische, aber keine wirtschaftliche Erfahrung haben. Die folgenden Ausführungen sollen am Beispiel der Bayerischen Landesbank und der Anstalt öffentlichen Rechts „Bayerische Staatsforsten“ sowohl den grundsätzlichen Haftungsmaßstab wie die konkreten Sorgfaltspflichten der Mitglieder von Aufsichtsorgane klarstellen.

__________ 1 Vgl. den Schlussbericht des Untersuchungsausschusses, Bayer. Landtag, Drucks. 16/7500, 2011. 2 Der Untersuchungsausschuss bezog sich hierbei auf einen Aufsatz von Lutter, BB 2009, 786 ff. und auf das Gutachten von Schmidt/Bulla/Landherr, Rechtsregeln beim Kauf der Hypo Group Alpe Adria (HGAA) durch die Bayerische Landesbank, vgl. den Bericht (Fn. 1), S. 118 (Fn. 817) und S. 255 (Fn. 1116 bis 1119).

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II. Die Rechtsform „Anstalt des öffentlichen Rechts“ 1. Die Anstalt des öffentlichen Rechts Der Begriff der öffentlichen Anstalt wird auch heute noch durch die von Otto Meyer gebrauchte Formulierung geprägt, wonach es sich um einen Bestand von Mitteln, sachlichen und persönlichen, handelt, welche in der Hand eines Trägers öffentlicher Verwaltung einem besonderen Zweck dauernd zu dienen bestimmt sind.3 Die rechtsfähige Anstalt nimmt ihre Aufgaben eigenverantwortlich wahr. Sie ist Trägerin von Rechten und Pflichten. Hintergrund der Schaffung bzw. der Wahl dieser Organisationsform ist die Idee der Dezentralisation. Die Möglichkeit der Verlagerung von staatlichen Aufgaben auf selbständige Verwaltungsträger soll der Entlastung der Staatsverwaltung dienen. Als selbständiger Verwaltungsträger muss die rechtsfähige Anstalt durch Gesetz oder aufgrund eines Gesetzes geschaffen werden.4 2. Der öffentliche Auftrag Die Rechtsform der öffentlichen Anstalt wird zunehmend als Organisationsform genutzt.5 Dies hat verschiedene Gründe. Zum einen kann die öffentlichrechtliche Anstalt zum multifunktionalen Organisationsgebilde ausgebaut werden. Speziell bei den öffentlichrechtlichen Kreditinstituten kann im Zug der Kapitalisierung anderen Rechtspersonen die Möglichkeit eingeräumt werden, sich als Anteilseigner bzw. Kapitalträger an dem Dotationskapital der Anstalt zu beteiligen.6 Ein Beispiel für die so geschaffene Flexibilität ist die Entwicklung der Eigentumsverhältnisse an der Bayerischen Landesbank, einer Anstalt des öffentlichen Rechts. Zunächst waren als Eigentümer der Freistaat Bayern und der Bayerische Sparkassen- und Giroverband beteiligt, daraufhin wurden die Anteile gegen Aktien auf die BayernLB Holding AG übertragen, an welcher der Freistaat Bayern und der Sparkassenverband ebenfalls zu jeweils 50 % beteiligt waren. Inzwischen beträgt der Anteil des Freistaats Bayern am Grundkapital der Holding 94 %, der des Sparkassen- und Giroverbands 6 %.7 Zum anderen kann es organisatorisch erstrebenswert sein, dem Prinzip der Dezentralisation zu folgen und zur Entlastung der Staatsverwaltung staatliche Aufgaben auf selbständige Verwaltungsträger zu übertragen, denn die rechtsfähige Anstalt ist wegen ihrer Verselbständigung berechtigt und verpflichtet, ihre Aufgaben eigenverantwortlich wahrzunehmen.8 So wurde im Jahr 2005

__________ 3 Vgl. Krebs in Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. V, 3. Aufl. 2007, § 108 Rz. 38. 4 Vgl. Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, 17. Aufl. 2009, S. 607. 5 Vgl. Wolff/Bachof/Stober, Verwaltungsrecht, Bd. 3, 5. Aufl. 2004, S. 357. 6 Vgl. Schuppert in Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Voßkuhle (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd. I, 2. Aufl. 2012, S. 1121 Rz. 131, unter Berufung auf Florian Becker. 7 Vgl. Gutachten Schmidt/Bulla/Landherr (Fn. 2), S. 15. 8 Vgl. Maurer (Fn. 4), S. 606.

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das gesamte dem Freistaat Bayern gehörende Waldeigentum durch Gesetz9 einer Anstalt des öffentlichen Rechts („Bayerische Staatsforsten“) übertragen, um „auf der Grundlage einer betriebswirtschaftlich ausgelegten Organisationsstruktur die bisher der Staatsforstenverwaltung obliegenden Aufgaben des Forstvermögens effektiver zu erbringen“.10 Auf diese Weise soll gewährleistet bleiben, „dass das BayWaldG und seine grundlegenden Zielvorgaben weiterhin uneingeschränkter Maßstab für die Bewirtschaftung des Staatswaldes sind. Danach sind im Staatswald insbesondere standortgemäße, naturnahe gesunde, leistungsfähige und stabile Wälder zu erhalten oder zu schaffen“.11 Mit der Rechtsform einer Person des öffentlichen Rechts sollte dem Umstand Rechnung getragen werden, dass mit der Bewirtschaftung des Staatswaldes nicht nur fiskalische, sondern auch Belange des Gemeinwohls erfüllt und berücksichtigt werden. Dies ist auch deshalb geboten, weil die treuhänderische Bewirtschaftung des Staatswaldes einen beträchtlichen Teil des Staatsvermögens betrifft.12 Die gesamte Tätigkeit der Bayerischen Staatsforsten steht unter dem Vorbehalt, dass gleichzeitig öffentliche Interessen wahrgenommen werden, die im Staatsforstengesetz und im Bayerischen Waldgesetz näher konkretisiert werden. Die Situation der Bayerischen Landesbank (BayernLB) ist ähnlich. Nach Art. 2 Abs. 1 BayLBG13 hat die Bank die Aufgabe, in Bayern durch ihre Geschäftstätigkeit unter Beachtung der Markt- und Wettbewerbserfordernisse den Wettbewerb zu stärken und die angemessene und ausreichende Versorgung der Wirtschaft, insbesondere des Mittelstands, und der öffentlichen Hand mit geld- und kreditwirtschaftlichen Leistungen sicherzustellen. Sie handelt nach Art. 2 Abs. 2 BayLBG bei Unterstützung der Geschäftstätigkeit des Freistaats Bayern „in der Erfüllung öffentlicher Aufgaben“. „Die Geschäfte der Bank sind nach kaufmännischen Grundsätzen unter Beachtung ihres öffentlichen Auftrags zu führen“ (Art. 2 Abs. 3 Satz 2 BayLBG). Mit der Begrenzung einer gesetzlich umrissenen Aufgabenstellung durch einen öffentlichen Zweck oder einen öffentlichen Auftrag versucht der Gesetzgeber, der wirtschaftsverfassungsrechtlichen Grundsituation der Bundesrepublik gerecht zu werden, wonach die Wirtschaft grundsätzlich marktwirtschaftlich geordnet ist, weshalb prinzipiell jedes gesetzgeberische Handeln im Bereich der Wirtschaft als Intervention in einen an sich freien Markt gewertet wird. Trotz der Umschreibung eines öffentlichen Auftrags oder eines öffentlichen Zweckes durch den Gesetzgeber unterscheidet sich die Aufgabenstellung in beiden Fällen von der Festlegung der Aufgabenstellung in jeder beliebigen

__________ 9 Gesetz zur Errichtung des Unternehmens „Bayerische Staatsforsten“ (BayStFoG) v. 9.5.2005 (GVBl. S. 138). 10 Vgl. die Begründung zum Gesetzentwurf zur Errichtung des Unternehmens „Bayerische Staatsforsten“. Bayer. Landtag, Drucks. 15/1775, S. 1. 11 Vgl. die Gesetzesbegründung (Fn. 10), S. 1. 12 Vgl. die Gesetzesbegründung (Fn. 10), S. 11. 13 Gesetz über die Bayerische Landesbank in der Fassung der Bekanntmachung v. 9.6.2005, zuletzt geändert am 27.7.2009.

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Aktiengesellschaft durch die jeweilige Satzung. Sollen öffentlicher Auftrag und öffentlicher Zweck nicht völlig aussagelos bleiben, dann erschöpft sich diese Verpflichtung nicht in der konkreten Aufgabenbestimmung (Grundsätze der Waldbewirtschaftung, des Betreibens von Bankgeschäften), sondern liegt in der erhöhten Verantwortung gegenüber der Allgemeinheit bei Wahrnehmung eben dieser Geschäftstätigkeit. Oder anders: Wegen des öffentlichen Auftrags muss die BayernLB ihre gesamte Tätigkeit risikobewusster als jede Geschäftsbank ausüben, darf der Bayerische Staatsforst weniger Risiken eingehen, als dies gegenüber privaten Eigentümern, etwa Aktionären, zulässig wäre.14 Es ist ein wesentlicher Unterschied, ob durch Missmanagement Belange von privaten Anteilseignern oder von Steuerbürgern verletzt werden.15 3. Das Zusammenwirken von Vorstand und Aufsichtsrat bzw. Verwaltungsrat Die Mitglieder des Vorstands der Bayerische Staatsforsten haben die Geschäfte mit der Sorgfalt ordentlicher und gewissenhafter Geschäftsleiter nach kaufmännischen Gesichtspunkten zu führen.16 Sie sind verpflichtet, vertrauensvoll und eng zum Wohl der Bayerischen Staatsforsten zusammenzuarbeiten und insbesondere die einschlägigen Rechtsvorschriften zu beachten. Ähnliches gilt für den Vorstand der BayernLB, der entsprechend den besonderen Gefahren des Kreditgeschäfts speziell darauf verpflichtet wird, ein Überwachungssystem einzurichten, damit Entwicklungen, die den Fortbestand der Bank gefährden, früh erkannt werden.17 Näher ist dazu in der Geschäftsordnung für den Vorstand bestimmt, dass der Vorstand die grundsätzlichen Entscheidungen zur strategischen Ausrichtung der Bank trifft, wie z. B. die Konzernstrategie und die Evaluierung der Erreichung der aus der Strategie abgeleiteten Unternehmensziele. Hierzu gehört die Festlegung der zur Steuerung erforderlichen Rahmenbedingungen, wie beispielsweise das Risikocontrolling unter Einsatz von Risikosteuerungsinstrumenten. Um rechtzeitig zu erkennen, welche Maßnahmen zu treffen sind, um Entwicklungen, welche die BayernLB oder einzelne Bereiche gefährden, vorzubeugen, wurde ein Risikomanagementsystem eingerichtet, dessen Wirksamkeit laufend überprüft wird.18 Der Vorstand hat dem Aufsichtsrat und dessen Vorsitzenden in allen Angelegenheiten auf Anforderung Auskunft zu geben und ihn über alle wichtigen Vorgänge rechtzeitig zu unterrichten. Dem entspricht auf der anderen Seite die

__________ 14 „Dem öffentlichen Zweck […] konnten bisher noch keine rechtsstaatlich ausreichenden Konturen abgewonnen werden […] Durch die Vermengung mit den nicht minder unklaren Ausdrücken der „öffentlichen Aufgabe und den „öffentlichen Interessen“, durch die Zulassung der verschiedenartigsten öffentlichen Zwecke in unterschiedlichen Abstufungen, wird vielmehr jede normative Brauchbarkeit aufgegeben“, so Schmidt, Öffentliches Wirtschaftsrecht, Allgemeiner Teil, 1990, S. 506. 15 Vgl. auch Gutachten Schmidt/Bulla/Landherr (Fn. 2), S. 7. 16 Art. 9 Abs. 1, 2 BayStFoG. 17 § 7 Abs. 8 der Satzung v. 11.9.2008. 18 Art. 8 BayLBG; § 11 Satzung der BayernLB; Ziff. II. 2. Corporate Governance-Grundsätze.

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Regelung, wonach der Aufsichtsrat darauf achtet, dass der Vorstand seine gesetzes- und satzungsmäßigen Pflichten erfüllt.19 Insgesamt gesehen sind die Regelungen für die BayernLB und die Bayerischen Staatsforsten erkennbar an die der Aktiengesellschaft angelehnt. Die allumfassende Zuständigkeit des Vorstands wird nur dort beschränkt, wo das Gesetz anderweitige Zuständigkeiten vorsieht. Beide Anstalten kennzeichnet eine zweigeteilte Leitungs- und Überwachungsstruktur. Der Vorstand führt die Geschäfte und wird dabei vom Verwaltungs- bzw. Aufsichtsrat beraten und überwacht.20

III. Die Kontrolle der Arbeit des Vorstands durch das Aufsichtsorgan 1. Kontrollinstrumente Hauptaufgabe des Aufsichts- bzw. Verwaltungsrats ist, die Geschäftsführung des Vorstands zu überwachen. Hommelhoff hat in seiner gemeinsamen Kommentierung mit Lutter für den fakultativen Aufsichtsrat einer GmbH die einprägsame wie zutreffende Aussage getroffen: „Ohne Überwachung kein Aufsichtsrat“.21 Sie ist verallgemeinerungsfähig. Die Überwachung beschränkt sich nicht auf eine nachträgliche Kontrolle. Das Aufsichtsorgan ist vielmehr berechtigt (und verpflichtet), den Vorstand schon im Vorfeld von Entscheidungen über die Unternehmenspolitik zu beraten (präventive Überwachung). Nach § 13 Abs. 1 Nr. 4 Satzung der Bayerischen Landesbank hat der Vorstand beispielsweise dem Verwaltungsrat so rechtzeitig über wichtige strategische Entscheidungen und Geschäfte (bedeutende Geschäfte) zu berichten, dass dieser „vor Vornahme der Geschäfte Gelegenheit hat, zu ihnen Stellung zu nehmen.“ Dem liegt erkennbar die Vorstellung zugrunde, dass der Verwaltungsrat mit dem Vorstand die Berichte erörtert und gegebenenfalls auf die Geschäftsführung lenkend und korrigierend einwirkt. Für die Bayerischen Staatsforsten trifft Art. 9 Abs. 4 BayStFoG eine vergleichbare Regelung.22 Weiterhin bedarf eine Reihe von Grundlagengeschäften der Zustimmung des Aufsichtsorgans. Zustimmungspflichtig sind insbesondere solche Angelegenheiten der Geschäftsführung, die das Vermögen und grundsätzliche Fragen der Unternehmensführung betreffen.23 Vermittelt über diese Berichtspflichten und

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19 § 5 der Geschäftsordnung für den Aufsichtsrat. 20 Vgl. auch die Präambel des Deutschen Corporate Governance Codex in der Fassung v. 26.5.2010. 21 Lutter/Hommelhoff, 16. Aufl., § 52 GmbHG Rz. 10. 22 Auch hier hat der Vorstand rechtzeitig über alle wichtigen Vorgänge sowie regelmäßig über die beabsichtigte Geschäftspolitik und andere grundsätzliche Fragen zu berichten, siehe § 5 Abs. 3 Geschäftsordnung für den Aufsichtsrat des Unternehmens „Bayerische Staatsforsten“ v. 14.9.2005. 23 Vgl. die Gesetzesbegründung (Fn. 10), S. 14: § 11 Abs. 3 der Satzung BayernLB zählt zu den zustimmungspflichtigen Geschäften etwa die Änderung der Geschäftsordnung (Nr. 1), die Ausgabe von Genussrechten, die Hereinnahme stiller Beteiligungen

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die Zustimmungsvorbehalte übt der Aufsichts- bzw. Verwaltungsrat somit eine präventive Kontrollfunktion aus.24 Ausfluss der präventiven Überwachung ist im Falle der Bayerischen Landesbank schließlich auch die Aufgabe des Verwaltungsrats, die Richtlinien für die Geschäftspolitik zu bestimmen.25 Eine Weisungsbefugnis des Aufsichts- bzw. Verwaltungsrats gegenüber dem Vorstand besteht demgegenüber nicht. 2. Umfang der Kontrolltätigkeit Der Aufsichts- bzw. Verwaltungsrat „überwacht die Geschäftsführung des Vorstands“.26 Schon der Wortlaut verdeutlicht, dass sich die Aufsichtspflicht grundsätzlich auf den Vorstand in seiner Gesamtheit erstreckt. Gleichwohl sind die Handlungen der einzelnen Vorstandsmitglieder Bezugspunkt der Kontrolltätigkeit.27 Dem Vorstand nachgelagerte Entscheidungsebenen unterliegen demgegenüber grundsätzlich nicht der unmittelbaren Aufsicht durch das Aufsichtsorgan, selbst wenn sie im Einzelfall befugt sind, Entscheidungen von wesentlicher Bedeutung zu treffen.28 Insoweit ist der Vorstand selbst in die Pflicht genommen, die leitenden Angestellten zu beaufsichtigen. Der Vorstand ist insoweit freilich seinerseits zu überwachen. Die Kontrolltätigkeit des Aufsichtsorgans erstreckt sich nicht nur auf die Rechtmäßigkeit, sondern auch auf die Zweckmäßigkeit einschließlich der Wirtschaftlichkeit der Geschäftsführung.29 Damit haben Aufsichts- und Verwaltungsrat auch Ermessensentscheidungen des Vorstands zu kontrollieren.30 Das Aufsichtsorgan darf freilich nicht im Rahmen seiner Aufsicht seine eigenen Zweckmäßigkeitserwägungen anstelle jener des Vorstands setzen. Hierin läge ein unzulässiger Eingriff in die Geschäftsführungskompetenz des Vor-

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sowie sonstigen haftenden Eigenkapitals (Nr. 2), die Errichtung, Verlegung oder Aufhebung von Zweigniederlassungen (Nr. 3), den Erwerb und die Veräußerung von Unternehmen oder von Beteiligungen an Unternehmen, den Abschluss und die Änderung von Unternehmensverträgen, die Beteiligung an Verbänden sowie die Errichtung eigener selbständiger Einrichtungen (Nr. 4), Grundstücksgeschäfte, soweit diese nicht der Vermeidung von Verlusten dienen (Nr. 5), die Besetzung leitender Stellen der Bank (Nr. 6) und den Erlass einer Prüfungsordnung (Nr. 7). So zum Aufsichtsrat einer AG BGHZ 114, 127, 130 f. = NJW 1991, 1830, 1381; ferner Habersack in MünchKomm. AktG, 3. Aufl. 2008, § 111 AktG Rz. 12; HoffmannBecking in MünchHdb. Gesellschaftsrecht, Bd. IV, Aktiengesellschaft, § 29 Rz. 32; Hüffer, 8. Aufl. 2008, § 111 AktG Rz. 5; Lutter/Krieger, Rechte und Pflichten des Aufsichtsrats, 5. Aufl., § 3 Rz. 94. Art. 8 Abs. 1 BayLBG, § 11 Abs. 1 Satzung BayernLB. Art. 11 Abs. 1 BayStFoG; § 11 Abs. 1 Satzung BayernLB. Vgl. Habersack in MünchKomm. AktG, 3. Aufl. 2008, § 111 AktG Rz. 23. So aber Hüffer, 8. Aufl. 2008, § 111 AktG Rz. 3. BGHZ 114, 127, 129 f. = NJW 1991, 1830, 1831; so auch schon RG, JW 1924, 1145, 1147. Die Wirtschaftlichkeitskontrolle soll insb. die Liquidität und Finanzierung, eine nachhaltige Rentabilität sowie letztlich den Bestand der Anstalt sicherstellen, Hüffer, 8. Aufl. 2008, § 111 AktG Rz. 6; Lutter/Krieger (Fn. 24), § 3 Rz. 71 ff. (insb. Rz. 83). So auch Völter, Aufgaben und Pflichten von Verwaltungsräten, 5. Aufl., S. 54.

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stands.31 Prüfungsgegenstand kann vielmehr nur sein, ob sich grundlegende Beschlüsse oder besonders gewichtige Einzelmaßnahmen in die langfristige Unternehmensstrategie, insbesondere in die Richtlinien des Verwaltungsrats, einfügen bzw. ob sie die dauernde Rentabilität oder den Bestand des Unternehmens gefährden. Der Aufsichts- oder Verwaltungsrat hat somit einen gewissen Beurteilungsspielraum des Vorstands zu achten, er darf – muss in diesem Fall aber auch – nur bei unvertretbaren Entscheidungen einschreiten.32 Die dargestellten Informationsrechte sollen den Aufsichts- bzw. Verwaltungsrat in die Lage versetzen, seiner Aufsichts- und Überwachungsaufgabe nachzukommen. Er darf sich nicht auf eine lediglich passive Überwachung beschränken. Auf der Grundlage der Erkenntnisse, die er durch die Berichts- und Informationspflichten des Vorstands gewinnt, muss er entscheiden, ob und wie er von seinen weiteren Überwachungsmöglichkeiten Gebrauch macht. Der Aufsichtsrat hat nicht nur ein Recht, sondern zugleich eine Pflicht zur Aufsicht. Gegebenenfalls sind die erforderlichen Berichte und Informationen vom Vorstand einzufordern. Man kann von einer Holschuld sprechen.

IV. Die Haftung der Mitglieder des Aufsichtsorgans 1. Der Haftungsmaßstab im Allgemeinen Der Verwaltungsrat bzw. Aufsichtsrat von Anstalten des öffentlichen Rechts haftet gemäß dem allgemeinen Verschuldensprinzip für Vorsatz und jede Form von Fahrlässigkeit. Dies entspricht den Bestimmungen der Haftung des Aufsichtsrats bei der Aktiengesellschaft.33 Es gilt ein verobjektivierter Verschuldensmaßstab für alle Aufsichtsratsmitglieder, so dass diese für diejenige Sorgfalt einzustehen haben, die von einem durchschnittlichen Aufsichtsratsmitglied erwartet wird. Für die Haftung des Unternehmens „Bayerische Staatsforsten“ verbleibt es bei dieser allgemeinen Regel. Auf eine Haftungsprivilegierung, wie sie etwa in § 19 Abs. 2 Satz 2 der Satzung der BayernLB vorgesehen ist (Haftung nur für Vorsatz und grobe Fahrlässigkeit), wurde verzichtet. Im Ergebnis haftet ein Aufsichtsratsmitglied somit selbst bei leichtester Fahrlässigkeit mit seinem persönlichen Vermögen. Man könnte dies, wollte man eine spezielle Rechtfertigung hierfür suchen, damit begründen, dass die Aufsichtsratsmitglieder als Sachwalter der Allgemeinheit im Besonderen verpflichtet sind, die Ausrich-

__________ 31 So zu Recht Schlierbach, Das Sparkassenrecht in der Bundesrepublik Deutschland, 5. Aufl., S. 185 f. 32 Ebenso Völter (Fn. 30), S. 65; Lutter, Pflichten und Haftung von Sparkassenorganen, S. 97 ff. Zum Aufsichtsrat einer AG ähnlich Habersack in MünchKomm. AktG, 3. Aufl. 2008, § 111 AktG Rz. 43. 33 Über den Verweis des § 116 AktG wird dort § 93 Abs. 2 AktG sinngemäß für anwendbar erklärt. Eine haftungsmildernde Satzungsklausel wäre für eine privatrechtliche AG unzulässig, vgl. Hüffer, 8. Aufl. 2008, § 116 AktG Rz. 8; Lutter/Krieger (Fn. 24), § 13 Rz. 1012.

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tung der wirtschaftlichen Tätigkeit auf das Allgemeinwohl sicherzustellen.34 Das persönliche Haftungsrisiko lässt sich durch eine sog. D&O-Versicherung absichern. Anders ist dies bei der BayernLB geregelt. Dort ist für die Haftung der Verwaltungsratsmitglieder die Haftung auf Vorsatz und grobe Fahrlässigkeit beschränkt.35 Insofern erübrigt sich eine Diskussion über die Übertragbarkeit der Grundsätze des Aktienrechts hinsichtlich des Haftungstatbestandes. Man kann diese in der Satzung vorgesehene Haftungsbeschränkung mit der Literatur aus unterschiedlichen Gesichtspunkten kritisieren.36 Das gravierendste Argument ist eine mögliche Verletzung verfassungsrechtlicher Direktiven. Selbstverwaltung muss sich zweifellos innerhalb der ihr zugewiesenen Grenzen bewegen und die staatlichen Gesetze beachten. Die Reichweite der Satzungsgewalt ist aber keineswegs auf reines Innenrecht beschränkt,37 sondern es kommt darauf an, ob sich im konkreten Fall „der Autonomiegedanke sinnvoll in das System der grundgesetzlichen Ordnung einfügen“ lässt.38 Dies ist durchaus der Fall.39 Die durch den Gesetzgeber eingeräumte Satzungshoheit gibt die Befugnis, die Binnenorganisation der Landesbank in eigener Verantwortung zu regeln. Abweichungen von den aktienrechtlichen Haftungsund Organisationsgrundsätzen sind möglich.40 2. Sorgfaltspflichten Die Sorgfaltspflichten, denen die Aufsichts- bzw. Verwaltungsratsmitglieder bei der Überwachung des Vorstands genügen müssen, werden weder für die Bayerische Landesbank noch für die Bayerischen Staatsforsten in Gesetz, Satzung oder Geschäftsordnungen näher konkretisiert. Bei den Bayerischen Staatsforsten verweist Art. 11 Abs. 4 BayStFoG für die Sorgfaltspflicht und Verantwortlichkeit des Aufsichtsrats in vollem Umfang auf die entsprechende Rege-

__________ 34 Art. 1, 3 i. V. m. Art. 11 BayStFoG. 35 § 19 Abs. 2 Satz 2 Satzung BayernLB. 36 Neuerdings vor allem Grooterhorst, Unzulässigkeit einer Haftungserleichterung für den Verwaltungsrat von Landesbanken in der Rechtsform der AöR, ZIP 2011, 212 ff.; Grimm, Organisationsrecht der Landesbanken im Spannungsfeld zwischen öffentlich-rechtlichem Organisationsrecht und Aktienrecht, 1989, S. 149; mit beachtlichen Argumenten auch Wulf, Der Verwaltungsrat öffentlich-rechtlicher Kreditinstitute, 1992, S. 84 ff., der insbesondere die willkürliche Herauslösung des Rechtsinstituts des dem Haftungsrecht generell fremden rechtlichen Haftungsprivilegs kritisiert und zudem die schlicht-hoheitliche Natur der Tätigkeit in Frage stellt. 37 So aber Grooterhorst (Fn. 36). 38 BVerfGE 33, 125, 157. Im Einzelnen Ossenbühl in Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, 3. Aufl. 2007, Bd. V, § 105 Rz. 24 ff. 39 Allgemein zur Herleitung und Rechtfertigung der Haftungsbeschränkung für das Sparkassenrecht Schlierbach (Fn. 31), S. 180 ff.; wie hier auch Lutter, Rechtsgutachten zu den Pflichten von Vorstand und Verwaltungsrat der Bayerischen Landesbank im Zusammenhang mit dem Kauf der Hypo Group Alpe Adria, 2010, S. 61 f. 40 Ähnlich Preußner, Organisationsrecht des Aufsichtsrats von Anstalten des öffentlichen Rechts, LKV 2004, 299, 301 unter Bezugnahme auf LG Berlin, Az. 9 O 311/02.

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lung für den Vorstand in Art. 9 Abs. 2 Satz 1 BayStFoG. Die Aufsichtsratsmitglieder müssen hiernach die Sorgfalt ordentlicher und gewissenhafter Aufseher beachten. Nähere Aussagen finden sich hierzu nicht. Bei der Bayerischen Landesbank sucht man selbst eine solche rudimentäre Regelung der Sorgfaltspflichten vergebens. § 19 Abs. 2 Satz 2 der Satzung regelt zwar die Haftung der Verwaltungsratsmitglieder, nicht aber die zu beachtenden Sorgfaltspflichten. Der Haftungstatbestand setzt freilich einen Sorgfaltspflichtverstoß tatbestandlich voraus: „Verletzt ein Mitglied des Verwaltungsrats […] vorsätzlich oder grob fahrlässig seine gesetzlichen oder satzungsmäßigen Pflichten, so hat es der Bank den daraus entstehenden Schaden zu ersetzen“. a) Entsprechende Anwendung aktienrechtlicher Grundsätze Diese Regelungslücke ist durch eine entsprechende Anwendung der aktienrechtlichen Grundsätze zu füllen. Die §§ 93, 116 AktG bringen einen allgemeinen Rechtsgedanken zum Ausdruck. Sie werden für den fakultativen Aufsichtsrat einer GmbH durch Gesetz (§ 52 Abs. 1 GmbHG) und für eine Publikums-KG in richterlicher Rechtsfortbildung41 für entsprechend anwendbar erklärt; für den Aufsichtsrat einer Genossenschaft trifft § 41 i. V. m. § 34 GenG eine identische Regelung. Weisen Anstalten des öffentlichen Rechts eine vergleichbare Organstruktur auf (Vorstand – Aufsichts- bzw. Verwaltungsrat), liegt es nahe, auch hier die einschlägige aktienrechtliche Rechtsprechung heranzuziehen. Bei der BayernLB spricht nicht nur ihre Organstruktur, sondern auch die Ausrichtung ihrer Unternehmenspolitik, die mit privatrechtlich in Form einer Aktiengesellschaft organisierten Kreditinstituten vergleichbar ist, für eine Analogie zum Aktienrecht. Hinzukommt, dass ihre Verflechtung mit juristischen Personen des Privatrechts zu Konzernstrukturen führt, die für das Aktienrecht typisch sind.42 Dass die Vorschriften des AktG über die Aufgaben des Vorstands (vgl. insb. § 111 AktG) inhaltlich weitgehend und zum Teil wortgleich in die Satzung der Bayerischen Landesbank übernommen worden sind, ist ein weiteres starkes Indiz für eine Anwendbarkeit der aktienrechtlichen Regelungen. Schließlich verweisen auch die Corporate Governance Grundsätze auf die sachliche Nähe zum Aktienrecht.43 Noch eindeutiger ist die Lage bei den Bayerischen Staatsforsten. Ausdrücklich hat der bayerische Gesetzgeber in der Gesetzesbegründung auf das Aktienrecht

__________ 41 BGH, NJW 1977, 2311 ff.; BGH, WM 1979, 1425 ff. Siehe hierzu auch Rümker in FS Werner, 1984, S. 745, 764 f. 42 So ist die BayernLB etwa Anteilseigner der Landesbank Saar, der Deutschen Kreditbank AG, der MKB Bank ZRT oder der Banque LBLux S.A. Hierzu Bohn, Die Anstalt des öffentlichen Rechts unter Berücksichtigung des Wandels der Anstalt durch die Beteiligung Dritter, S. 180 ff. 43 Siehe II. 1. a. der Corporate Governance Grundsätze (insoweit zum Vorstand: „[…] in Gesetz und Satzung in Anlehnung an das deutsche Aktiengesetz geregelt sind […]“).

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und im Besonderen auf § 93 Abs. 2 AktG (i. V. m. § 116 AktG) Bezug genommen und eine weitgehend übereinstimmende Regelung getroffen.44 Im Ergebnis ist die aktienrechtliche Rechtsprechung zur Verantwortlichkeit des Aufsichtsrats auch für vergleichbar organisierte Anstalten des öffentlichen Rechts heranzuziehen.45 Im Grundsatz haftet ein Aufsichtsratsmitglied damit schon für leichteste Fahrlässigkeit. Auch die sog. business judgment rule führt zu keiner Haftungsprivilegierung. Hiernach liegt eine Pflichtverletzung nicht vor, wenn ein Vorstandsmitglied (bzw. ein Aufsichtsrats- oder Verwaltungsratsmitglied) eine unternehmerische Entscheidung auf der Grundlage angemessener Information zum Wohle der Gesellschaft trifft.46 Sie kann im eigentlichen Kontrollbereich des Aufsichtsrates (von wenigen Ausnahmen abgesehen) aber keine Anwendung finden, da diesem bei der Erfüllung seiner Überwachungsaufgabe kein Ermessen zukommt. Etwas anderes gilt nur im Bereich unternehmerischer Entscheidungen – wie bei Zustimmungsvorbehalten. Hier muss dem Aufsichtsorgan der gleiche Ermessensspielraum wie dem Vorstand zukommen; es darf keinen strengeren Anforderungen unterliegen als der Vorstand.47 Ob eine Sorgfaltspflicht verletzt wurde, ist schließlich aus ex ante Sicht zu beurteilen. Es ist also der Zeitpunkt maßgebend, zu dem der Aufsichtsrat über einen Beteiligungserwerb o. Ä. Beschluss fasst bzw. untätig geblieben ist.48 b) Kontrolldichte Gerade weil die Mitglieder der Aufsichtsorgane im Ausgangspunkt schon für jede leichte Fahrlässigkeit haften – zur satzungsmäßigen Haftungsprivilegierung bei der BayernLB siehe oben –, dürfen die Anforderungen an ihre Sorgfaltspflichten nicht überspannt werden. Zu berücksichtigen ist auch, dass sie

__________ 44 Siehe die Gesetzesbegründung (Fn. 10), S. 13, zu Art. 9 BayStFoG: „Die Formulierungen, u. a. auch die Haftungsregelungen in Abs. 2 Sätze 3 und 4, lehnen sich an das Aktienrecht und Vorbilder aus anderen wirtschaftlich orientierten Anstalten des öffentlichen Rechts an (vgl. § 78 Abs. 2, § 93 Abs. 1 und 2 AktG).“ Ferner Gesetzesbegründung (Fn. 10), S. 14, zu Art. 11 BayStFoG: „Der Aufsichtsrat überwacht die Geschäftsführung, also die Tätigkeit des Vorstandes der AöR. Das entspricht der Rolle eines Aufsichtsrats einer Kapitalgesellschaft.“ 45 So auch für das Sparkassenrecht aus der Fünten, Der Verwaltungsrat der Sparkasse, S. 178 und S. 268 f.; Rümker in FS Werner, 1984, S. 745, 755 und 764 ff.; Völter (Fn. 30), S. 43; Wulf (Fn. 36), S. 103. So wohl auch schon Twiehaus, Die öffentlichrechtlichen Kreditinstitute, S. 145, und Lutter (Fn. 32), S. 11 („allgemeine[r] organisationsrechtliche[r] Grundsatz“). Schlierbach (Fn. 31), S. 180, will das AktG als gedankliche Anregung und Auslegungshilfe heranziehen. 46 § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG. 47 So ausdrücklich Schäfer/Missling, Haftung von Vorstand und Aufsichtsrat, NZG 1998, 441, 446. Zur business-judgment-rule vgl. Hüffer, Die leitungsbezogene Verantwortung des Aufsichtsrats, NZG 2007, 47, 48. Siehe hierzu auch Schmidt/Bulla/Landherr (Fn. 2), S. 60. 48 Nicht vorhersehbare wirtschaftliche Entwicklungen können dem Aufsichtsorgan und seinen Mitgliedern demgegenüber nicht zur Last gelegt werden. So zum Verwaltungsrat eines öffentlich-rechtlichen Unternehmens Völter (Fn. 30), S. 110.

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ihre Tätigkeit nur nebenberuflich ausüben. Eine Überwachungstätigkeit, die jeden Pflichtverstoß des Vorstands verhindern und jedem Risiko für das Unternehmen vorbeugen müsste, ist praktisch undenkbar und würde die Geschäftsführungstätigkeit des Vorstands lähmen. Notwendig und hinreichend ist daher, wie gezeigt, eine Kontrolle, die einem „ordentlichen und gewissenhaften Überwacher“ zugemutet werden kann.49 Der konkrete Umfang der Überwachungstätigkeit kann nicht abstrakt, sondern nur konkret anhand der Umstände des Einzelfalles bestimmt werden. Im Normalfall darf der Aufsichts- bzw. Verwaltungsrat den regelmäßigen Berichten des Vorstands grundsätzlich, wenngleich nicht blind, vertrauen. Er muss sie zumindest in Stichproben kritisch auf ihre Richtigkeit und Vollständigkeit überprüfen.50 Jahresabschluss und Lagebericht sind hingegen selbst dann sorgfältig auf ihre Plausibilität hin zu prüfen, wenn sie durch einen Abschlussprüfer bestätigt worden sind.51 Die allgemeinen Kontrollpflichten des Aufsichtsrates verdichten sich jedoch entsprechend der jeweiligen Risikolage.52 Eine zu gesteigerten Sorgfaltsanforderungen führende Sonderlage liegt nicht erst dann vor, wenn sich die wirtschaftliche Lage des Unternehmens verschlechtert oder sich konkrete Risiken abzeichnen. Der Aufsichtsrat muss namentlich auch bei Entscheidungen von erheblicher Tragweite, etwa größeren Investitionen, seine Aufsichtstätigkeit intensivieren.53 Der Aufsichtsrat verletzt nach der Rechtsprechung des BGH seine Sorgfaltspflichten nicht erst dann, wenn er die Geschäftsführung nicht an zustimmungspflichtigen Maßnahmen hindert, denen er seine Zustimmung nicht erteilt hat, sondern bereits dann, wenn er ohne gebotene Information (beim Erwerb von Beteiligungen z. B. konkreter Unternehmensgegenstand, wirtschaftliche Situation des in Aussicht genommenen Beteiligungsunternehmens, verfolgte Geschäftsziele und benötigtes Kapital) und darauf aufbauender Chancen- und Risikoabschätzung Investitionen in erheblichem Umfang billigt.54 Unvertretbare Geschäftsführungsmaßnahmen, etwa die Veräußerung von Grundstücken oder Beteiligungen weit unter dem Verkehrswert, sind zu

__________ 49 Vgl. Püttner, Sorgfaltspflichten und Verantwortlichkeit von Mitgliedern der Überwachungsorgane, in Kontrolle öffentlicher Unternehmen, Bd. I, S. 137, 141. Zum Aktienrecht siehe Habersack in MünchKomm. AktG, 3. Aufl. 2008, § 116 AktG Rz. 2. Zu Verwaltungsräten öffentlich-rechtlicher Unternehmen Völter (Fn. 30), S. 105. 50 Zum Aktienrecht Mertens in KölnKomm. AktG, 2. Aufl., § 111 AktG Rz. 16; Pentz, Vorstand und Aufsichtsrat, in Fleischer (Hrsg.), Handbuch des Vorstandsrechts, § 16 Rz. 45. Zum Verwaltungsrat eines öffentlich-rechtlichen Unternehmens Völter (Fn. 30), S. 69 ff. 51 Hüffer, 8. Aufl. 2008, § 171 AktG Rz. 9; Kropff in MünchKomm. AktG, 2. Aufl. 2003, § 171 AktG Rz. 82 ff. 52 Hüffer, 8. Aufl. 2008, § 111 AktG Rz. 7. 53 So auch Habersack in MünchKomm. AktG, 3. Aufl. 2008, § 111 AktG Rz. 46; Hopt/ Roth in Hopt/Wiedemann (Hrsg.), Großkomm. AktG, 4. Aufl., § 111 AktG Rz. 313 ff. 54 BGH, NJW-RR 2007, 390, 391. Zustimmend Habersack in MünchKomm. AktG, 3. Aufl. 2008, § 116 AktG Rz. 20.

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verhindern.55 Generell gilt: Hat ein Aufsichtsratsmitglied – auch aufgrund eigenen Sonderwissens – Anlass zu Bedenken, muss es diesen nachgehen.56 In einer solchen Risikosituation muss der Aufsichtsrat von seinen Informationsrechten, etwa über die Entwicklung von Tochtergesellschaften oder Unternehmensbeteiligungen, Gebrauch machen. Hierzu hat er vom Vorstand vermehrt Berichte anzufordern und die Zahl seiner Aufsichtsratssitzungen zu erhöhen. Als Ausfluss seiner Personalkompetenz muss er sich bei Eintritt einer Risikosituation fortlaufend vergewissern, ob der Vorstand noch in der Lage ist, den drohenden Schaden abzuwenden und die drohende oder bereits eingetretene Unternehmenskrise zu überwinden. Zur Beurteilung der vom Vorstand zu treffenden Maßnahmen ist gegebenenfalls ein Sachverständiger hinzuziehen; als Sicherungsmittel können Zustimmungsvorbehalte errichtet werden.57 c) Erforderliche Maßnahmen Ein Aufsichtsratsmitglied, das Kenntnis von erheblichen Risiken oder das Unternehmen gefährdenden Geschäftsführungsmaßnahmen erhält, ist verpflichtet, alle erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen, um Schaden vom Unternehmen abzuwenden. Bei belastbaren Informationen darf es sich nicht mit der bloßen Ausübung seines Informationsrechts gegenüber dem Vorstand begnügen.58 Bei Gremienentscheidungen – die für Aufsichtsrats- bzw. Verwaltungsratsbeschlüsse den Regelfall darstellen – genügt eine schlichte Stimmenthaltung nicht. Jedes Mitglied des Aufsichtsorgans muss den aktiven Versuch unternehmen, die anderen Mitglieder von seiner Meinung zu überzeugen. Einer hinreichenden „Verhinderungshandlung“ ist (erst) Genüge getan, wenn es seine abweichende Auffassung in der Diskussion vorträgt, inhaltlich begründet und (aus Beweisgründen unbedingt zu empfehlen) protokollieren lässt, einen Antrag stellt, den getroffenen Beschluss zu revidieren, oder die Absetzung des Vorstands beantragt.59

__________ 55 LG Stuttgart, DB 1999, 2462 (Leitsatz 1: „Der Aufsichtsrat einer Aktiengesellschaft ist im Rahmen seiner Pflicht zur Überwachung von Geschäftsführungsmaßnahmen verpflichtet, solche Einzelmaßnahmen besonders zu kontrollieren, die für die Rentabilität und Liquidität der Gesellschaft bedeutsam sind.“). 56 So zum Aufsichtsrat einer AG schon RGZ 144, 348, 352; RGZ 161, 129, 140; siehe auch BGH, NJW 1978, 425, 425. 57 Grundlegend Pentz (Fn. 50), § 16 Rz. 48 ff. Siehe zum Ganzen auch Bulla/Schmidt, Zu den Aufgaben und Verantwortlichkeiten des Aufsichtsrats der Bayerischen Staatsforsten, Gutachten im Auftrag des Bayerischen Staatsministers für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten, 2011, S. 9 ff. 58 So zum Aktienrecht Habersack in MünchKomm. AktG, 3. Aufl. 2008, § 116 AktG Rz. 33. 59 Zum Aktienrecht siehe schon RGZ 146, 145, 152 ff.; ferner Habersack in MünchKomm. AktG, 3. Aufl. 2008, § 116 AktG Rz. 33; Mertens in KölnKomm. AktG, 2. Aufl., § 116 AktG Rz. 17. Ferner Püttner (Fn. 49), S. 137, 147 f. und 155; Wulf (Fn. 36), S. 103 ff. (insb. 105). Zum Sparkassenrecht Lutter (Fn. 32), S. 114 ff.; Schlier-

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Bleibt der Aufsichts- oder Verwaltungsrat trotz belastbarer Informationen über Risiken oder einen drohenden Schaden für die Anstalt des öffentlichen Rechts untätig, muss jedes seiner Mitglieder auf eine (außerordentliche) Sitzung und Beschlussfassung hinwirken.60 Droht ein besonders großer Schaden, kommt als ultima ratio auch eine Anzeige an die zuständigen Aufsichtsbehörden oder eine Information der Öffentlichkeit in Betracht.61 d) Keine Entlastung durch Rechtsaufsicht Die rechtsaufsichtlichen Eingriffsbefugnisse,62 die ohnehin nur im Ermessen der Aufsichtsbehörden stehen (die also einschreiten kann, aber nicht muss), lassen die Verantwortlichkeit der Aufsichtsorgane unberührt. Selbst eine ergebnislos verlaufende rechtsaufsichtliche (Routine-)Kontrolle entbindet die Aufsichtsräte nicht von ihren eigenen Überwachungspflichten.63 Die Aufsicht über die Geschäftsführung des Vorstands ist organschaftliche und ureigene Aufgabe eines Aufsichtsrates. Der doppelte Kontrollmechanismus kann nur funktionieren, wenn Aufsichtsrat und Rechtsaufsicht unabhängig voneinander agieren. Dies schließt es aus, sich auf die Tätigkeit des jeweiligen anderen Überwachers zu verlassen.64 3. Individuelle Verantwortung der Aufsichtsrats- bzw. Verwaltungsratsmitglieder Für die Mitglieder der Aufsichtsorgane gilt der Grundsatz der gleichen und geteilten Verantwortung. Zur Überwachung ist nicht nur der Aufsichtsrat als Kollegium, sondern jedes einzelne seiner Mitglieder gleichermaßen verpflich-

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bach (Fn. 31), S. 182 f.; Völter (Fn. 30), S. 92. Zum Aktienrecht siehe schon RGZ 146, 145, 152 ff.; ferner Habersack in MünchKomm. AktG, 3. Aufl. 2008, § 116 AktG Rz. 33; Mertens in KölnKomm. AktG, 2. Aufl., § 116 AktG Rz. 17. Vgl. etwa § 12 Abs. 1 Satz 3 Satzung der Bayerischen Staatsforsten und § 1 Abs. 1 Satz 3 Geschäftsordnung für den Aufsichtsrat des Unternehmens „Bayerische Staatsforsten“, wonach der Vorsitzende des Aufsichtsrats diesen einberufen muss, wenn mindestens drei seiner Mitglieder es unter Angabe des Verhandlungsgegenstandes verlangen. Vgl. die Parallelregelung in § 10 Abs. 1 Satz 2 Satzung der Bayerischen Landesbank. So zum Aktienrecht BGHZ 64, 325, 330; Habersack in MünchKomm. AktG, 3. Aufl. 2008, § 116 AktG Rz. 33; Mertens in KölnKomm. AktG, 2. Aufl., § 116 AktG Rz. 17; zum Sparkassenrecht Lutter (Fn. 32), S. 115 f. Bei den Bayerischen Staatsforsten kann sich das Staatsministerium für Landwirtschaft und Forsten etwa nach Art. 6 Abs. 2 BayStFoG über die Angelegenheiten der Bayerischen Staatsforsten unterrichten, sie unter Fristsetzung anweisen, Maßnahmen zur Herstellung des gesetz- und satzungsmäßigen Zustandes zu treffen, und diese Maßnahmen nach Fristablauf sogar selbst verfügen und vollziehen (Ersatzvornahme). Siehe Völter (Fn. 30), S. 110 f., sowie grundlegend zu den Prüfungsberichten, a. a. O., S. 68 ff. Hierzu schon Bulla/Schmidt (Fn. 57), S. 12 f.

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tet.65 Unabhängig von sozialer Stellung, Bildung und beruflicher Tätigkeit wird von allen Mitgliedern die gleiche Sorgfalt erwartet. Es gibt „keinen Rabatt für Politiker und Personalvertreter“.66 a) Teilnahmepflicht an Sitzungen Jedes Mitglied ist verpflichtet, an den Sitzungen des Aufsichtsrates teilzunehmen. Aus ihrem organschaftlichen Treueverhältnis folgt die Obliegenheit, sich anhand von Tagesordnung und Vorlagen vorzubereiten und aktiv an den Sitzungen zu beteiligen. Diese Pflicht ist grundsätzlich eine höchstpersönliche. In der Rechtsprechung zum Aktienrecht wird es für unvereinbar mit dem Gebot persönlicher und eigenverantwortlicher Amtsausübung (vgl. § 111 Abs. 5, § 109 Abs. 1 AktG) gehalten, dass „ein Aufsichtsratsmitglied seine Aufgaben oder einen wesentlichen Teil davon laufend einem Außenstehenden zur selbständigen Erledigung überträgt oder auch nur bei ihrer Wahrnehmung jeweils einen ‚ständigen Berater‘ einschaltet.“67 Soweit die Möglichkeit einer Stellvertreterbestellung vorgesehen ist,68 können sich die Mitglieder im Verhinderungsfalle vertreten lassen. Nicht zuletzt, weil das Aktienrecht als Vorbild eine „Vertretung“ nur in Form einer schriftlichen Stimmabgabe durch einen Boten des verhinderten Aufsichtsratsmitglieds69 oder durch ein anderes Aufsichtsratsmitglied vorsieht,70 sind diese Vertretungsmöglichkeiten jedoch eng auszulegen. Sie können das jeweilige Aufsichtsbzw. Verwaltungsratsmitglied nur von seiner höchstpersönlichen Teilnahmepflicht an der Sitzung, nicht jedoch von seiner fortbestehenden Überwachungsverantwortung befreien. Wissen und Handeln seines Stellvertreters sind ihm nach allgemeinen Grundsätzen zuzurechnen.71 Die Grenze zulässiger Vertretung ist jedenfalls dort zu ziehen, wo es um besonders wichtige Angelegenheiten oder Entscheidungen mit weit reichenden Folgen für die Anstalt des öffentlichen Rechts geht. Hier kann sich das Mitglied des Aufsichtsorgans

__________ 65 Zum Aktienrecht BGHZ 64, 325, 330 f. = NJW 1975, 1412, 1413; BGHZ 83, 106, 120 = NJW 1982, 1525, 1526; BGHZ 99, 211, 216 = NJW 1987, 902, 903; Habersack in MünchKomm. AktG, 3. Aufl. 2008, § 111 AktG Rz. 18; Hoffmann-Becking (Fn. 24), § 33 Rz. 61; Hüffer, 8. Aufl. 2008, § 116 AktG Rz. 2; Lutter/Krieger (Fn. 24), § 12 Rz. 821. Grundlegend Schwark in FS Werner, 1984, S. 841 (insb. 849 ff.). Zum Verwaltungsrat Völter (Fn. 30), S. 110. 66 Zum Aktienrecht Habersack in MünchKomm. AktG, 3. Aufl. 2008, § 116 AktG Rz. 12. Zum Verwaltungsrat Völter (Fn. 30), S. 110. 67 BGH, NJW 1983, 991. Vgl. zum fakultativen Aufsichtsrat einer GmbH auch Lutter/ Hommelhoff, 16. Aufl., § 52 GmbHG Rz. 43. 68 Vgl. § 10 Abs. 2 Satzung Bayerische Staatsforsten. 69 § 108 Abs. 3 Satz 1 und 3 i. V. m. § 109 Abs. 3 AktG. Dies setzt allerdings eine Ermächtigung in Textform für eine konkrete Sitzung und einen konkreten Beschlussantrag voraus, vgl. Hoffmann-Becking (Fn. 24), § 31 Rz. 85; Lutter/Krieger (Fn. 24), § 11 Rz. 699 f. und 723 ff. 70 § 108 Abs. 2 Satz 2 AktG. 71 Vgl. den Rechtsgedanken der §§ 166, 278 BGB.

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seiner Verantwortung nicht mit dem Argument entziehen, an den entscheidenden Sitzungen des Aufsichtsrats nicht teilgenommen zu haben.72 b) Mindestqualifikation und Sachkunde Ein Mindestmaß an Qualifikation und Sachkunde ist unverzichtbar, um die Arbeit des Vorstands ordnungsgemäß kontrollieren zu können. Ein Mitglied des Aufsichtsorgans kann sich nicht damit entlasten, mit seiner Überwachungsaufgabe inhaltlich überfordert gewesen zu sein. Auch diese Mindestanforderungen an die einzelnen Aufsichtsrats- bzw. Verwaltungsratsmitglieder lassen sich mangels einer eigenständigen Regelung in den Errichtungsgesetzen und Satzungen der jeweiligen Anstalten den aktienrechtlichen Grundsätzen entnehmen. Das Aktiengesetz selbst stellt in § 100 Abs. 5 AktG allerdings nur bei kapitalmarktorientierten Gesellschaften fachliche Anforderungen auf. Somit ist auf die aktienrechtliche Rechtsprechung des BGH zurückzugreifen, der für den Aufsichtsrat einer AG aus § 111 Abs. 5 AktG folgert, dass „die Aufsichtsratsmitglieder ihre Aufgaben nicht durch andere wahrnehmen lassen [können]. Mit diesem Gebot persönlicher und eigenverantwortlicher Amtsausübung ist vorausgesetzt, daß ein Aufsichtsratsmitglied diejenigen Mindestkenntnisse und -fähigkeiten besitzen oder sich aneignen muß, die es braucht, um alle normalerweise anfallenden Geschäftsvorgänge auch ohne fremde Hilfe verstehen und sachgerecht beurteilen zu können […]. Andererseits ist nicht zu erwarten, daß jedes Aufsichtsratsmitglied auf sämtlichen Gebieten, auf denen der Aufsichtsrat tätig wird, umfassende Spezialkenntnisse besitzt. Auch können im Aufsichtsrat Fragen auftauchen oder Maßnahmen durchzuführen sein, die über die Fachkunde oder die zeitlichen und technischen Möglichkeiten seiner Mitglieder hinausgehen.“73

Ein Aufsichtsratsmitglied muss also zumindest solche Kenntnisse aufweisen, die eine wirksame Überwachung der öffentlichen Aufgaben der öffentlichrechtlichen Anstalt gewährleisten. Dies erfordert insbesondere74 – ein Maß an wirtschaftlicher, kaufmännischer, gesellschaftsrechtlicher und technischer Sachkunde, welches das Wissen eines Laien deutlich übersteigt und es dem Aufsichtsratsmitglied ermöglicht, bei ordnungsgemäßer Prüfung Mängel in der Vorstandsarbeit zu bemerken;75 hierzu muss es insbesondere die Berichte des Vorstands verstehen und die entsprechenden Schlussfolgerungen hieraus ziehen, sowie den Jahresabschluss prüfen, d. h. sich ein eigenes Urteil über Vermögens-, Finanz- und Ertragslage des Unternehmens machen können.

__________ 72 Vgl. zum Sparkassenrecht Lutter (Fn. 32), S. 114 ff.; zum Verwaltungsratsvorsitzenden auch Schlierbach (Fn. 31), S. 176. 73 BGH, NJW 1983, 991. Vgl. auch Hüffer, 8. Aufl. 2008, § 116 AktG Rz. 2; Mertens in KölnKomm. AktG, 2. Aufl., § 116 AktG Rz. 7. 74 BGH, ZBR 1956, 327, 328 f.; ferner Püttner (Fn. 49), S. 137, 145 f. 75 Völter (Fn. 30), S. 85.

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– Grundkenntnisse der wesentlichen Rechtsvorschriften für die Tätigkeit der Anstalt des öffentlichen Rechts, namentlich der Errichtungsgesetze, der Satzung und Geschäftsordnungen sowie der für die jeweilige Tätigkeit der Anstalt inhaltlich einschlägigen Gesetze (z. B. BayWaldG, KWG etc.), – Kenntnisse der eigenen Aufgaben, Rechte und Pflichten.76 Darüber hinausgehende Anforderungen dürften an den Vorsitzenden des Prüfungsausschusses zu stellen sein. Nach den (entsprechend anzuwendenden) Deutschen Corporate Governance Grundsätzen sollte dem Prüfungsausschuss, der sich mit Fragen der Rechnungslegung, des Risikomanagements, der Compliance und der Abschlussprüfung beschäftigt, eine unabhängige Person „mit besonderen Kenntnisse[n] und Erfahrungen in der Anwendung von Rechnungslegungsgrundsätzen und internen Kontrollverfahren“ vorstehen.77 c) Selbstverantwortung Eine hinreichende Sachkunde und Qualifikation ist zwar keine Bestellungsvoraussetzung. Nach Amtsübernahme ist ein Aufsichtsratsmitglied jedoch verpflichtet, sich die notwendigen Kenntnisse anzueignen.78 Andernfalls kann es sich unter dem Gesichtspunkt des Übernahmeverschuldens schadensersatzpflichtig machen.79 Auch eine Bestellung kraft Amtes vermag diese Anforderungen nicht abzuschwächen. Bei den Bayerischen Staatsforsten ist etwa der Staatsminister für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten (Art. 10 Abs. 1 Nr. 1 BayStFoG) Aufsichtsrat, bei der Bayerischen Landesbank sind die Staatsminister der Finanzen, des Innern, sowie für Wirtschaft, Infrastruktur, Verkehr und Technologie Verwaltungsratsmitglieder kraft Amtes. Abgesehen davon, dass ein sog. geborener Amtsträger schon kraft seines Amtes über die notwendigen Kenntnisse verfügen dürfte, ist ein Mitglied der Exekutive nicht nur berechtigt, sondern verpflichtet, auf den Sachverstand seines Ministeriums zurückzugreifen. Die Verpflichtung zur Dienstverschwiegenheit80 steht dem nicht entgegen, da die Minister auf ihrerseits zur Verschwiegenheit verpflichtete persönliche Referenten zurückgreifen können.81 4. Differenzierung der Sorgfaltspflichten Im Ausgangspunkt trifft die Überwachungsaufgabe nicht nur das Kollegium als Ganzes, sondern jedes einzelne Mitglied des jeweiligen Aufsichtsorgans. Diese

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76 Nach Ansicht des OVG Bautzen, DÖV 2002, 711, „gehört es für sie [Anm.: die Verwaltungsratsmitglieder einer Sparkasse] zu den ersten Obliegenheiten, sich mit den ihnen eingeräumten Befugnissen und zugewiesenen Verpflichtungen vertraut zu machen und ihr Handeln daran auszurichten“. 77 Ziff. 5.3.2 des Deutschen Corporate Governance Kodex v. 26.5.2010. 78 BGH, NJW 1983, 991– stRspr. 79 Vgl. Habersack in MünchKomm. AktG, 3. Aufl. 2008, § 116 AktG Rz. 22. 80 Vgl. etwa Art. 11 Abs. 4 i. V. m. Art. 9 Abs. 5 BayStFoG bzw. § 19 Abs. 1 Satz 1 Satzung BayernLB. 81 So auch Püttner (Fn. 49), S. 137, 154 und insb. 157.

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können sich im Grundsatz nicht darauf zurückziehen, selbst nicht über die notwendigen Kenntnisse zu verfügen, um die Arbeit des Vorstands effektiv überwachen zu können. a) Keine Unterscheidung zwischen geborenen und gekorenen Mitgliedern Wie aus den vorstehenden Ausführungen bereits deutlich wurde, unterliegen „geborene“ und „gekorene“ Mitglieder des Aufsichtsorgans denselben Haftungsmaßstäben. Es gibt weder einen normativen Anhaltspunkt noch einen Rechtfertigungsgrund dafür, den Grundsatz der gleichen und geteilten Verantwortung zu durchbrechen und Mitglieder kraft Amtes (namentlich die Staatsminister) gegenüber den gewählten Aufsichtsräten zu privilegieren. Die gesetzlich intendierte Gesamtschuld82 würde durch verschiedene Sorgfaltspflichtmaßstäbe ausgehebelt. Es ist nicht vertretbar, das Haftungsrisiko allein auf die gewählten Aufsichtsräte zu verlagern. An diesem Ergebnis ändert sich selbst dann nichts, wenn ein geborenes Mitglied verpflichtet sein sollte, seine Bezüge als Aufsichtsrat abzuführen. Auf der Gegenseite dürfte es nämlich die Fürsorgepflicht des Dienstherren bzw. Arbeitgebers gebieten, das Risiko einer unabsehbaren persönlichen Haftung durch eine D&O-Versicherung auszuschalten.83 b) Ausschussmitglieder und sonstige Mitglieder des Aufsichtsrates Der Grundsatz der gleichen und geteilten Verantwortung wird modifiziert, wenn eine Aufgabe vom Aufsichtsorgan an einen seiner Ausschüsse delegiert und die Kontrollfunktion arbeitsteilig ausgeübt wird. Hier kann das Maß der individuellen Sorgfalt bzw. Verantwortung unter den einzelnen Mitgliedern differieren: Einerseits sind Sonderkenntnisse und Sonderaufgaben der Ausschussmitglieder zu berücksichtigen,84 andererseits wandelt sich die Sachverantwortung der übrigen Aufsichtsratsmitglieder in gewissem Umfang in eine Überwachungsverantwortung. Werden Aufgaben an einen erledigenden bzw. beschließenden Ausschuss oder ein einzelnes Mitglied des Aufsichtsrates zur eigenverantwortlichen Wahrnehmung delegiert, so führt das zu einer gesteigerten, primären Verantwortung der Ausschussmitglieder. Wer eine spezielle Aufgabe übernimmt, muss hierfür auch besonders qualifiziert sein und eine größere Sorgfalt aufwenden.85 Das

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82 Vgl. Art. 11 Abs. 4 i. V. m. 9 Abs. 2 Satz 3 BayStFoG. 83 Um die (finanzielle) Verantwortung der Aufsichtsratsmitglieder nicht über eine Versicherung völlig leerlaufen zu lassen, empfiehlt Ziff. 3.8. des Corporate Governance Codex v. 26.5.2010, einen Selbstbehalt von mindestens 10 % des Schadens bis mindestens zur Höhe des Eineinhalbfachen der jährlichen Vergütung eines Aufsichtsratsmitgliedes. 84 So auch Lutter/Hommelhoff, 16. Aufl., § 52 GmbHG Rz. 43 zum fakultativen Aufsichtsrat einer GmbH. 85 Zum Aktienrecht Habersack in MünchKomm. AktG, 3. Aufl. 2008, § 116 AktG Rz. 28; Hüffer, 8. Aufl. 2008, § 116 AktG Rz. 3; zurückhaltender Mertens in KölnKomm. AktG, 2. Aufl., § 116 AktG Rz. 8. Siehe auch Wulf (Fn. 36), S. 96.

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notwendige Fachwissen hat sich das Ausschussmitglied nach dem Grundsatz der Selbstverantwortung erforderlichenfalls anzueignen. Es haftet sonst aus Übernahmeverschulden.86 Die gesteigerten Sorgfaltsanforderungen in seinem eigenen „Fachbereich“ werden durch eine Entlastung in anderen Aufgabenbereichen kompensiert, wenn diese von anderen Aufsichtsratsausschüssen oder -mitgliedern wahrgenommen werden. Die übrigen Aufsichtsratsmitglieder werden durch die Delegation einer Aufgabe gleichwohl nicht völlig entlastet. Es bleibt bei der Gesamtverantwortung des Aufsichtsrates als Kollegialorgan für die Erledigung der Organaufgaben. So tritt zwar ihre Sachverantwortung zurück, jedoch tritt eine Organisations- bzw. Überwachungsverantwortung an ihre Stelle. Mit anderen Worten haften die sonstigen Aufsichtsratsmitglieder jedenfalls für die ordnungsgemäße Auswahl und Überwachung der Ausschussmitglieder.87 Kein Aufsichtsratsmitglied darf sich blind auf das Handeln eines anderen verlassen. Ein Prüfungsausschuss als Überwacher ist selbst zu überwachen. Wird hingegen nur ein beratender Ausschuss eingerichtet, der lediglich eine Beschlussempfehlung an den Aufsichtsrat abgibt,88 lassen sich diese aktienrechtlichen Grundsätze nicht unbesehen übertragen. Die Aufgabe wird hier nicht delegiert, sondern nur zur Vorbereitung übertragen. Der Aufsichtsrat muss weiterhin die Letztverantwortung für die Entscheidung übernehmen. Es ist fraglich, ob in dieser Konstellation die primäre Verantwortung auf den Schultern der Ausschussmitglieder ruht. Sicherlich haben diese besondere Sorgfaltspflichten zu beachten, wenn sie aufgrund besonderer Sachkenntnisse in einem vorberatenden Ausschuss tätig werden. Der Aufsichtsrat als Kollegialorgan dürfte jedoch verpflichtet bleiben, die Beschlussvorlage seines beratenden Ausschusses inhaltlich zu überprüfen. Seine Sachverantwortung mag für besondere Detailfragen zurücktreten, nicht aber für die grundlegenden Entscheidungen, die für die Beurteilung der Lage und Entwicklung sowie für die Leitung des Unternehmens von wesentlicher Bedeutung sind. Im Ergebnis sind an die Aufsichtsräte, die einen Ausschusssitz übernehmen, gesteigerte Sorgfaltsanforderungen zu stellen. Droht somit grundsätzlich eine strengere Haftung, so wird dies einerseits kompensiert, wenn an die Aufgabenerfüllung der Ausschussmitglieder in anderen Bereichen (außerhalb des Ausschusses) geringere Sorgfaltsanforderungen gestellt werden, und andererseits relativiert, indem nur beratende Ausschüsse eingerichtet werden und der Aufsichtsrats als Kollegialorgan in der Erfüllungsverantwortung bleibt. Kein Mitglied darf sich in die Passivität flüchten. Regelmäßig dürfte daher eine gesamtschuldnerische Haftung aller Aufsichtsratsmitglieder eintreten. Die gesteigerten Sorgfaltspflichten sind damit allenfalls eine Frage des Gesamtschuldner-

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86 Habersack in MünchKomm. AktG, 3. Aufl. 2008, § 116 AktG Rz. 26; Hüffer, 8. Aufl. 2008, § 116 AktG Rz. 3; Lutter/Krieger (Fn. 24), § 12 Rz. 849. 87 So schon zum Aktienrecht RGZ 93, 338. 340. Ferner Habersack in MünchKomm. AktG, 3. Aufl. 2008, § 116 AktG Rz. 26; Hüffer, 8. Aufl. 2008, § 116 AktG Rz. 3; Püttner (Fn. 49), S. 137, 148 f. Ebenso Völter (Fn. 30), S. 112. 88 So etwa der Prüfungsausschuss der Bayerischen Staatsforsten, vgl. Ziff. 3.1. und 3.2. Geschäftsordnung für den Prüfungsausschuss der Bayerischen Staatsforsten AöR.

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ausgleichs nach den Verursachungsanteilen im Innenverhältnis (vgl. § 426 BGB).89 c) Vorsitzender von Aufsichts- bzw. Verwaltungsrat Den Vorsitzenden des Aufsichts- bzw. Verwaltungsrats treffen besondere Sorgfaltspflichten. Er haftet zwar nicht schon aufgrund seiner Stellung verschärft. In einer Normalsituation ist er zunächst nur primus inter pares – der Erste unter Gleichen. Gesteigerten Sorgfaltspflichten unterliegt er allerdings dort, wo ihm Gesetz, Satzung und/oder Geschäftsordnung besondere Aufgaben oder Kompetenzen zuweisen: Neben Fragen der Organisation90 und Mitteilungen an die Öffentlichkeit91 hat er insbesondere ein eigenständiges Auskunftsrecht gegenüber dem Vorstand.92 Im Falle der Bayerischen Staatsforsten gibt im Rahmen von Kollegialentscheidungen des Aufsichtsrates seine Stimme bei Stimmengleichheit den Ausschlag.93 Nur wenn der Aufsichtsratsvorsitzende in Ausübung bzw. durch Nichtausübung dieser Sonderbefugnisse seine besonderen Sorgfaltspflichten verletzt, haftet er auch gesondert. Spürbar stärker ist seine Pflichtenstellung in Risikosituationen ausgeprägt. So ist der Vorstandsvorsitzende etwa verpflichtet, ihn bei wichtigen Ereignissen, die für die Beurteilung der Lage und Entwicklung sowie für die Leitung des Unternehmens von wesentlicher Bedeutung sind, unverzüglich zu unterrichten. Dem korrespondiert ein Auskunftsrecht. Der Vorsitzende des Aufsichtsrats bzw. Verwaltungsrats hat sein Aufsichtsorgan spätestens auf der nächsten Sitzung in Kenntnis zu setzen und erforderlichenfalls eine außerordentliche Sitzung einzuberufen.94 In dringenden Fällen räumen ihm Satzung und Geschäftsordnung im Einvernehmen mit seinem stellvertretenden Vorsitzenden sogar eine „Notgeschäftsführungskompetenz“ ein, wenn eine Beschlussfassung des Aufsichtsorgans nicht mehr abgewartet werden kann. Er hat seine Entscheidung unter Darlegung von Grund und Dringlichkeit unverzüglich dem Aufsichtsorgan bekannt zu geben.95

__________ 89 Siehe zum Ganzen auch Bulla/Schmidt (Fn. 57), S. 18 ff. 90 Z. B. Einberufung, Tagesordnung und Leitung der Sitzungen, Beschlussfassung durch schriftliches oder elektronisches Umlaufverfahren etc., Zeichnung der Niederschrift, vgl. § 12 Abs. 1, 2, 5 und 12 Satzung Bayerische Staatsforsten. Ähnlich auch § 10 Satzung BayernLB. 91 § 4 Abs. 2 der Geschäftsordnung für den Aufsichtsrat des Unternehmens Bayerische Staatsforsten. 92 Vgl. § 9 Abs. 3 Satzung Bayerische Staatsforsten und § 13 Abs. 3 Satzung BayernLB. 93 § 12 Abs. 4 Satz 2 Satzung Bayerische Staatsforsten. Bei der Beschlussfassung des Verwaltungsrats der BayernLB gilt hingegen bei Stimmengleichheit ein Antrag als abgelehnt, § 10 Abs. 4 Satz 2 Satzung BayernLB. 94 § 5 Abs. 4 der Geschäftsordnung für den Aufsichtsrat des Unternehmens „Bayerische Staatsforsten“ und § 13 Abs. 3 Satzung BayernLB, die damit den Empfehlungen in Ziff. 5.2. des Deutschen Corporate Governance Kodex v. 26.5.2010 folgen. 95 § 12 Abs. 6 Satzung Bayerische Staatsforsten, § 1 Abs. 6 der Geschäftsordnung für den Aufsichtsrat des Unternehmens „Bayerische Staatsforsten“ und § 10 Abs. 5 Satzung BayernLB.

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Im Ergebnis treffen den Aufsichtsratsvorsitzenden in Krisensituationen besondere Sorgfaltspflichten, die auch eine besondere bzw. verschärfte Haftung rechtfertigen können. Ihm ist daher anzuraten, die Ausübung seiner Informationsbefugnisse und Notbeschlusskompetenzen bzw. die Gründe für ihre Nichtausübung sorgsam zu dokumentieren. 5. Keine Weisungsgebundenheit der Mitglieder des Aufsichts- oder Verwaltungsrats Abschließend ist ein verbreitetes (Selbst-)Verständnis der Stellung als Aufsichts- bzw. Verwaltungsratsmitglied zu korrigieren. Beide sind unabhängige und weisungsfreie Mitglieder des Organs Aufsichtsrat bzw. Verwaltungsrat. Auch von den Ministerien entsandte Beamte sind nicht an die Weisungen ihres Dienstherrn gebunden. Dem Aktienrecht ist ein solches Weisungsrecht fremd. Der Aufsichtsrat einer AG wurde vom Gesetzgeber gezielt als selbständiges und eigenverantwortliches Kontrollorgan gegenüber dem geschäftsführenden Vorstand geschaffen (vgl. §§ 116, 93 AktG). Nach einem Grundsatzurteil des BGH zu einer Gemeinde als Aktionärin einer AG haben „Entsandte Aufsichtsratsmitglieder […] dieselben Pflichten wie die gewählten Aufsichtsratsmitglieder. Als Angehörige eines Gesellschaftsorgans haben sie den Belangen der Gesellschaft den Vorzug vor denen des Entsendungsberechtigten zu geben und die Interessen der Gesellschaft wahrzunehmen, ohne an Weisungen des Entsendungsberechtigten gebunden zu sein.“96

Das Aufsichtsratsmitglied ist ausschließlich dem Gesellschaftsinteresse verpflichtet und hat die Interessen der Gesellschaft vor die Interessen des Entsendungsberechtigten zu stellen. Eine Weisungsgebundenheit und der Einfluss von partikularen Drittinteressen sind damit unvereinbar. Im Ergebnis ist das Aufsichtsratsmitglied einer AG zu einer eigenverantwortlichen Mandatswahrnehmung verpflichtet. Es ist nicht weisungsgebunden.97 Diese aktienrechtlichen Grundsätze beanspruchen grundsätzlich auch für die Aufsichtsorgane von Anstalten des öffentlichen Rechts Geltung. Eine abweichende Sonderregelung kann ausschließlich in den jeweiligen Errichtungsgesetzen getroffen werden. Der Grundsatz „Bundesrecht bricht Landesrecht“ aus Art. 31 GG steht dem nicht entgegen, da das Aktienrecht allein aufgrund des Anwendungsbefehls des Landesgesetzgebers bzw. im Wege der Rechtsfort-

__________ 96 BGHZ 36, 296 = NJW 1962, 864, 866; BGHZ 69, 334 = NJW 1978, 104. So schon RG, JW 32, 2279; RGZ 165, 68; RGZ 165, 79. 97 Dass das AktG die Unabhängigkeit von Aufsichtsratsmitgliedern ungeschrieben voraussetzt, lässt sich auch aus der Existenz der §§ 394, 395 AktG rückschließen, die die Verschwiegenheitspflicht der Aufsichtsratsmitglieder gegenüber einer entsendenden Gebietskörperschaft regeln. So auch Hüffer, 9. Aufl. 2010, § 394 AktG Rz. 27 ff.; Lutter, ZIP 2007, 1991 f.; Lutter/Grunewald, WM 1984, 385, 396; Schmidt, ZGR 1996, 345, 353 f.; im Ergebnis wohl auch Habersack in MünchKomm. AktG, 3. Aufl. 2008, § 116 AktG Rz. 13; a. A. noch Ipsen, JZ 1955, 593, 597; Stober, NJW 1984, 449, 455.

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Reiner Schmidt und Simon Bulla

bildung zur Geltung gelangt. Eine Satzungsregelung dürfte hingegen nicht genügen, um das aktienrechtliche Vorbild eines unabhängigen Aufsichtsorgans auszuhebeln. Wurde in den Errichtungsgesetzen keine Weisungsgebundenheit der entsandten Mitglieder des Aufsichts- oder Verwaltungsrates einer Anstalt des öffentlichen Rechts geregelt, nehmen auch die entsandten Beamten der Ministerien nicht als Beamte, also nicht im Rahmen ihres dienstrechtlichen Treue- und Pflichtenverhältnisses, sondern als Teil des unabhängigen Organes Aufsichtsrat ihre Aufgaben wahr. Sie sind nur den Interessen der Anstalt des öffentlichen Rechts verpflichtet und für ihr Handeln persönlich verantwortlich.98

V. Ausblick Die Grundfrage, die sich neuerdings insbesondere angesichts des Verhaltens der Verwaltungsräte der Bayerischen Landesbank beim Kauf der HGAA stellte, hat Peter Hommelhoff bereits im Jahr 1995 in aller Deutlichkeit aufgeworfen.99 Es sei, so sagt er unter Bezugnahme auf Hermann Josef Abs, leichter, ein Schwein am eingeseiften Schwanz zu packen, als einen Aufsichtsrat in Haft zu nehmen. Die Therapie könne in diesem durchnormierten Umfeld aber schon aus verfassungsrechtlichen Gründen wohl kaum in der Verschärfung der Haftung für vermutetes Verschulden liegen.100 Die Einführung einer objektiven Einstandshaftung käme wohl kaum in Betracht. Die fehlende Inhaftnahme pflichtvergessener Aufsichtsratsmitglieder wurzele keineswegs im gesetzlichen Haftungstatbestand, sondern „im Respekt der Richter vor unternehmerischem Ermessen, sofern diese überhaupt mit Schadensersatzklagen gegen Vorstands- oder Aufsichtsratsmitglieder befaßt werden“.101 Auch von betriebswirtschaftlichen „Grundsätzen ordnungsgemäßer Aufsichtsratsüberwachung“ sei wenig zu erhoffen, weil angesichts eines sich ständig zuziehenden Geflechts von Verhaltensanforderungen, die Bereitschaft zur Übernahme von solchen Ämtern leiden würde. Dem ist nichts hinzuzufügen. Einmal mehr ruht in unserem Staat die größere Hoffnung auf der Rechtsprechung.

__________ 98 Selbst wenn man von einer Weisungsgebundenheit der entsandten Mitglieder des Aufsichtsrats ausgehen wollte, würden die entsandten Beamten nicht von ihrer Haftung befreit. Sie wären für ihre dienstlichen Handlungen voll und persönlich verantwortlich sowie beamtenrechtlich verpflichtet, gegen eine rechtswidrige, da das Unternehmen schädigende, Weisung zu remonstrieren (§ 36 Abs. 1 und 2 BeamtStG). Führen sie wissentlich oder grob fahrlässig eine rechtswidrige Weisung ohne Remonstration aus, wären sie ihrem Dienstherren schadensersatzverpflichtet (§ 48 BeamtStG). 99 Hommelhoff in Picot, Corporate Governance, 1995, S. 1 ff. 100 Zu der aus unserer Sicht notwendigen Beseitigung der Haftungsprivilegierung bei der BayernLB nimmt Hommelhoff nicht Stellung. 101 Hommelhoff (Fn. 99), S. 12.

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Die nachwirkenden Pflichten des ausgeschiedenen Geschäftsführers Inhaltsübersicht I. Der Hintergrund II. Mitwirkungspflichten beim Übergang der Unternehmensleitung 1. Pflicht zur Einweisung 2. Rechenschaftspflicht und Rückgewähr 3. Die Rückgabe von Unterlagen jedweder Art 4. Herausgabe von Bestechungszahlungen 5. Niederlegung von Ämtern und Organstellungen im Konzern III. Loyalitätspflichten des ausgeschiedenen Geschäftsführers 1. Die Ausgangslage 2. Die allgemeine nachvertragliche Loyalitätspflicht

3. Das nachvertragliche Wettbewerbsverbot des Geschäftsführers 4. Keine Übernahme von Geschäftschancen? 5. Fortbestehen der Verschwiegenheitspflicht IV. Fortwirkende Organhaftung 1. Die Zuständigkeit zur Geltendmachung der Ansprüche 2. Umkehr der Beweislast auch bei ausgeschiedenen Geschäftsführern? 3. Zugang zu Unterlagen der Gesellschaft V. D&O-Versicherung für ausgeschiedene Geschäftsführer

I. Der Hintergrund Mit dem Ausscheiden des Geschäftsführers aus seiner Organstellung und mit der Kündigung und Beendigung des Anstellungsvertrags enden noch nicht seine Rechte und Pflichten. Aber sie werden teils an die geänderten Umstände angepasst und teils entstehen neue Rechte und Pflichten, die aus den geänderten Umständen abzuleiten sind. Sie ergeben sich als nachwirkende Rechte und Pflichten aus der Organstellung. Und sie ergeben sich aus dem Anstellungsverhältnis. Manches davon ist diskutiert und durch die Rechtsprechung entschieden. Nicht alles überzeugt. Und manches ist ungeklärt. Die Zusammenhänge werden dabei nicht selten auseinandergerissen. Erst die Gesamtschau ergibt aber ein zutreffendes Bild. Allerdings werden im Folgenden nur die Pflichten des ausgeschiedenen Geschäftsführers näher beleuchtet.1 Um konkret zu werden: Was muss ein ausgeschiedener Geschäftsführer tun, um den Übergang in der Unternehmensleitung sicherzustellen? Wie weit rei-

__________ 1 Zu anderen Fragestellungen wie etwa die Zuständigkeit für den Abschluss von Beraterverträgen mit ausgeschiedenen Geschäftsführern Leinekugel/Heusel, GmbHR 2012, 309.

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chen seine nachwirkenden Loyalitätspflichten? Darf er Geschäftschancen der Gesellschaft, in einem Zeitpunkt, zu dem er von der Bürde des Amtes bereits befreit ist, breitflächig und schrankenlos an sich ziehen? Bestehen die Haftungsansprüche wegen verletzter Pflichten nach seinem Ausscheiden mit allen Konsequenzen etwa der Beweislastumkehr fort? Welche Rechte hat der Geschäftsführer, um sich gegen vermeintliche Haftungsansprüche wehren zu können? Und deckt die D&O-Versicherung auch Haftungsansprüche gegen ausgeschiedene Organmitglieder, wenn sie ihre Pflichten noch während der Amtszeit verletzt haben? Die Fragen sind Legion. Die folgenden Überlegungen sind Peter Hommelhoff gewidmet, der die Entwicklung des GmbH-Rechts in den letzten Jahrzehnten nachhaltig geprägt, für praxiszugewandte Lösungen gestritten und dabei gerade auch die großen Zusammenhänge im Blick gehabt hat.

II. Mitwirkungspflichten beim Übergang der Unternehmensleitung 1. Pflicht zur Einweisung Mit der Abberufung, mit der Amtsniederlegung oder mit der schlichten NichtWiederbestellung enden zwar die Pflichten des Geschäftsführers zur Unternehmensleitung. Es bleibt aber die Pflicht, für einen ordnungsgemäßen Übergang zu sorgen. Dazu gehört, dass der neue Geschäftsführer einzuweisen ist. Die für die künftige Unternehmensleitung notwendigen Informationen sind weiterzugeben.2 Die bestehenden Kundenverbindungen sind offenzulegen, die Bankenverbindungen sind zu nennen. In der Regel ist die Adressenkartei zu übergeben. Zu gemeinsamen Kundenbesuchen, um bestehende Verbindungen überzuleiten, ist der ausgeschieden Geschäftsführer zwar in der Regel nicht verpflichtet. Anders mag dies aber bei Großkunden („key accounts“) sein. Gerade bei kleinen und mittleren Unternehmen muss der ausscheidende Geschäftsführer auch angeben, mit welchen Computerprogrammen gearbeitet wurde, welche Dateien bestehen, an welcher Stelle abgelegt wurde, welche Bankenverbindungen im In- und Ausland bestehen und mit welchen Risiken zu rechnen ist. Bestimmte nachwirkende Pflichten sind an die Person gebunden und daher persönlich zu erfüllen. Dazu gehört etwa die Anfertigung von Arbeitszeugnissen für ausscheidende Mitarbeiter, die nur der bisherige Geschäftsführer kennt. Und nach § 101 Abs. 1 Satz 2 InsO gelten die § 97 Abs. 1 und § 98 InsO auch für Organmitglieder, die nicht früher als zwei Jahre vor dem Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens ausgeschieden sind. Das bedeutet, dass auch ausgeschiedene Geschäftsführer noch zwei Jahre nach der Aufgabe ihres Amtes mit Auskunfts- und Mitwirkungspflichten belastet sind.

__________ 2 OLG Hamm, NZG 2001, 37, 74; Uwe H. Schneider in Scholz, 10. Aufl. 2007, § 35 GmbHG Rz. 243a.

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Das alles kann mit erheblicher Arbeit verbunden sein. Und das rechtfertigt je nach Größenordnung einen Aufwendungsersatz oder sogar eine besondere Vergütung. 2. Rechenschaftspflicht und Rückgewähr Zu den nachvertraglichen Pflichten gehören zweifelsfrei auch die Pflichten, Auskunft über alle zurückliegenden Vorgänge und Rechenschaft hierüber zu geben, §§ 666, 675 BGB entsprechend.3 Für die Gesellschaft empfangene Zahlungen sind unverzüglich weiterzuleiten. Zurückzugeben sind auch alle zur Wahrnehmung der Organtätigkeit überlassenen Gegenstände, wie etwa das Dienstfahrzeug, das Handy, das Faxgerät u. ä. Dafür kann im Anstellungsvertrag auch eine bestimmte Frist vorgegeben sein. Zurück zu übertragen ist auch die Dienstwohnung, allerdings nur mit der Maßgabe, dass dem ausgeschiedenen Organmitglied angemessene Zeit verbleibt, um eine andere Wohnung zu finden und umzuziehen. Nur bei einer fristlosen Kündigung hat die Gesellschaft Anspruch auf sofortige Herausgabe aller überlassenen Gegenstände,4 einschließlich der Wohnung. Zweifelhaft ist, ob der ausgeschiedene Geschäftsführer auch verpflichtet ist, bislang den Gesellschaftern nicht bekannte Verfehlungen offenzulegen. Zu denken ist dabei an Bestechungszahlungen, das Anlegen schwarzer Kassen, verbotene Zahlungen an einzelne Gesellschafter, u. a. m. Teilweise wird dies abgelehnt. Die Offenbarungspflicht finde ihre Grenze „in der Selbstbezichtigung, wenn es sich um die Aufdeckung von strafrechtlichen Verfehlungen handelt, die mit dem Gegenstand des Vertrags in keinem unmittelbaren Zusammenhang stehen“.5 Ein solcher Zusammenhang besteht bei Bestechungszahlungen, verdeckten Gewinnausschüttungen usw. Die Rechenschaftspflicht dient gerade dazu, alle Vorgänge der Vergangenheit, ob rechtmäßig oder nicht, aufzuarbeiten, jedenfalls dann, wenn ein solcher Zusammenhang mit den Organaufgaben besteht. Ist gegen den ausgeschiedenen Geschäftsführer ein Ermittlungsverfahren eingeleitet, so können nur er und der neue Geschäftsführer gemeinsam einen Wirtschaftsprüfer oder einen Steuerberater, die während seiner Amtszeit für die Gesellschaft tätig waren, von der Schweigepflicht befreien;6 denn die Verschwiegenheit ist der Gesellschaft vertraglich geschuldet. Und diese wird nun durch den neuen Geschäftsführer vertreten. In das Vertrauen miteinbezogen war jedoch auch der ausgeschiedene Geschäftsführer.

__________ 3 Oppenländer/Trölitzsch, Praxishandbuch der GmbH-Geschäftsführung, 2. Aufl. 2011, S. 179. 4 OLG Düsseldorf, GmbHR 2000, 278, 282. 5 BGH, GmbHR 1954, 75; Beiner, Der Vorstandsvertrag, 2005, S. 212; OLG Düsseldorf, GmbHR 2000, 666; Haas, DStR 2001, 717. 6 A.A. OLG Nürnberg, ZIP 2010, 386; zum Streitstand Daniel M. Krause in FS Dahs, 2005, S. 349.

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3. Die Rückgabe von Unterlagen jedweder Art In der Regel hat der Geschäftsführer bei seinem Ausscheiden jede Menge geschäftliche Unterlagen in seinem Besitz, nämlich Protokolle von Sitzungen, Marktanalysen, Berichte, Aktennotizen, usw. Soweit diese Unterlagen für den Fortgang des Unternehmens wichtig sind, sind sie unverzüglich ohne Aufforderung an den Nachfolger oder einen sonstigen Vertreter der Gesellschaft herauszugeben.7 Bei den anderen Unterlagen, also den Unterlagen, die für die weitere Unternehmensleitung nicht erforderlich sind, wird teilweise die Ansicht vertreten, sie seien erst auf Aufforderung durch die Gesellschaft herauszugeben. Nach anderer Ansicht bedarf es einer solchen Aufforderung nicht. Der ersten Ansicht ist zuzustimmen; denn dabei handelt es sich entweder um völlig veraltetes Material, um Material, das sich in doppelter Ausfertigung bereits bei der Gesellschaft befindet oder um wertlose Informationen auch aus jüngerer Zeit. Hieran kann die Gesellschaft kein Interesse haben. Wenn aber der ausgeschiedene Geschäftsführer Unterlagen zurückbehält, so sind diese sorgfältig geschützt vor Zugriffen Dritter aufzubewahren, oder bei Wertlosigkeit zu vernichten. Zurückzugeben sind auch persönliche Aufzeichnungen, die der Geschäftsführer während seiner Amtszeit in dienstlicher Eigenschaft gefertigt hat. Auch steht dem ausgeschiedenen Geschäftsführer kein Zurückbehaltungsrecht an Unterlagen zu, die er etwa zur Abwehr einer künftigen Organhaftungsklage gesammelt hat.8 Ja, er ist nicht einmal berechtigt, Kopien, die er zu diesem Zweck von bestimmten Geschäftsvorgängen angefertigt hat, zurückzubehalten. Lässt sich der Verbleib von Unterlagen nicht klären, so hat der ausgeschiedene Geschäftsführer eine entsprechende Versicherung abzugeben. 4. Herausgabe von Bestechungszahlungen Hat der Geschäftsführer während seiner Amtstätigkeit Bestechungszahlungen erhalten, so hat er diese an die Gesellschaft herauszugeben, § 667 BGB.9 Diese Pflicht zur Herausgabe besteht auch nach seinem Ausscheiden fort. Als unzulässige Zahlungen sind auch Vorteilsgewährungen anzusehen, die erst nach seinem Ausscheiden gewährt werden. Gemeint sind damit nicht etwa Geschenke oder Anerkennungen von geringem Wert, sondern Vorteilsgewährungen, die im gesellschaftlichen Verkehr der Höhe nach unüblich sind. 5. Niederlegung von Ämtern und Organstellungen im Konzern Aufzugeben sind durch den ausgeschieden Geschäftsführer alle Mitgliedschaften und Ämter, die mit der Organstellung verknüpft sind.10 Dazu gehören etwa

__________

7 BGH, GmbHR 1992, 301 (Disketten). 8 BGH, WM 1968, 1325. 9 BGH, NJW 2001, 2476, 2477; Altmeppen in Roth/Altmeppen, 6. Aufl. 2009, § 43 GmbHG Rz. 102. 10 Uwe H. Schneider in Scholz, 10. Aufl. 2007, § 35 GmbHG Rz. 57.

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Mitgliedschaften in Verbandsgremien, die nur nach Niederlegung des Amtes durch den Vorgänger mit dem Nachfolger besetzt werden können. Zweifelhaft ist die Niederlegung von Organstellungen im Konzern vor allem in Aufsichtsräten bei Tochtergesellschaften. Solche Überkreuzverflechtungen dienen der Konzernleitung und der Konzernüberwachung. Zu bedenken ist zwar, dass die Bestellung bei den Tochter- und Enkelgesellschaften durch das jeweilig zuständige Organ erfolgte. Der ausgeschiedene Geschäftsführer hat seine Position aber nur aufgrund seiner Tätigkeit bei der Holding erhalten. Das spricht dafür, dass er zur Aufgabe aller Konzernpositionen im Verhältnis zur Holding verpflichtet ist. Um Streit zu vermeiden, sollten die damit zusammenhängenden Fragen von Anfang an im Anstellungsvertrag oder spätestens in der Aufhebungsvereinbarung geregelt werden.

III. Loyalitätspflichten des ausgeschiedenen Geschäftsführers 1. Die Ausgangslage Neben der Pflicht zur Unternehmensleitung obliegen dem tätigen Geschäftsführer Loyalitätspflichten. Das bedeutet insbesondere, dass der Geschäftsführer die Gesellschaft in jeder Hinsicht zu fördern hat und nicht durch sein Verhalten schädigen, Wettbewerb machen, in sonstiger Weise Informationen oder gar Geschäftschancen ausnutzen darf. Im Einzelnen sind diese Loyalitätspflichten in Rechtsprechung und Lehre11 konkretisiert worden. Berücksichtigt wurde dabei, dass der tätige Geschäftsführer aufgrund seiner Tätigkeit die geschäftlichen Möglichkeiten der Gesellschaft kennt und diese nicht zum Nachteil der Gesellschaft nutzen darf. 2. Die allgemeine nachvertragliche Loyalitätspflicht Auch nach seinem Ausscheiden obliegen dem Geschäftsführer nachwirkende Loyalitätspflichten. Sie gehen aber deutlich weniger weit als die allgemeine Loyalitätspflicht noch aktiver Geschäftsführer. So entfällt zwar die allgemeine Förderpflicht. Wohl aber hat sich ein ausgeschiedener Geschäftsführer, um ein Beispiel zu nennen, eine gewisse Zurückhaltung aufzuerlegen, wenn er sich in der Öffentlichkeit über seinen früheren Dienstherrn äußert.12 3. Das nachvertragliche Wettbewerbsverbot des Geschäftsführers Die Überlegungen zu den nachvertraglichen Pflichten des ausgeschiedenen Geschäftsführers konzentrieren sich in der Rechtsprechung und Lehre auf das nachvertragliche Wettbewerbsverbot.13 Einigkeit besteht, dass der aus seinem

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11 Zum Ganzen: Uwe H. Schneider in Scholz, 10. Aufl. 2007, § 43 GmbHG, Rz. 151 ff. 12 Zurückhaltend: Haas/Ziemons in Michalski, 2. Aufl. 2010, § 43 GmbHG Rz. 104. 13 Kleindiek in Lutter/Hommelhoff, 17. Aufl. 2009, Anh. zu § 6 GmbHG Rz. 25; Uwe H. Schneider in Scholz, 10. Aufl. 2007, § 43 GmbHG Rz. 173; Altmeppen in Roth/ Altmeppen, 6. Aufl. 2009, § 6 GmbHG Rz. 80; Kamanabrou, ZGR 2002, 898; Thüsing, NZG 2004, 9; Menke, NJW 2009, 636.

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Amt ausgeschiedene Geschäftsführer einem Wettbewerbsverbot nach Beendigung des Anstellungsvertrags nur unterliegt, wenn es besonders vereinbart wurde. Zweifelhaft ist die Rechtslage für die Zeit nach dem Verlust der Organstellung, aber vor Beendigung des Anstellungsvertrags. Für ein Fortbestehen des Wettbewerbsverbots spricht, dass der Geschäftsführer aufgrund des noch bestehenden Anstellungsvertrags seine volle Arbeitskraft und Loyalität der Gesellschaft schuldet. Das nachvertragliche Wettbewerbsverbot kann schon bei Abschluss des Anstellungsvertrags, aber auch erst beim Ausscheiden des Geschäftsführers vereinbart werden. Für die Ausgestaltung sind insbesondere durch die Rechtsprechung enge Grenzen gesetzt. In einer Entscheidung des II. Zivilsenats des BGH vom 26.3.198414 vertrat der Senat die Ansicht, die §§ 74 ff. HGB seien für das nachvertragliche Wettbewerbsverbot nicht anwendbar. Etwas vorsichtiger heißt es später in einer Entscheidung desselben Senats vom 17.2.1992,15 sie seien nicht generell unanwendbar. Einigkeit besteht, dass das nachvertragliche Wettbewerbsverbot jedenfalls das Fortkommen des ausgeschiedenen Geschäftsführers nicht unbillig behindern darf. Voraussetzung ist, dass es den Interessen des Unternehmens dient.16 Auch muss es nach Ort, Zeit und Gegenstand begrenzt und angemessen sein.17 Ein zwei Jahre überdauerndes Wettbewerbsverbot ist nicht zulässig. Ist ein solches Wettbewerbsverbot vereinbart, ist nach h. M.18 eine Karenzentschädigung nicht geschuldet. Dem ist für den beherrschenden GesellschafterGeschäftsführer zuzustimmen, nicht aber für den Fremdgeschäftsführer und den abhängigen Gesellschafter-Geschäftsführer.19 Es entspricht dem Rechtsgedanken der §§ 74 ff. HGB, dass sie nicht nur den Interessen des Handlungsgehilfen, sondern auch den Interessen des Unternehmens dienen. Deren Anwendung ist auch beim Geschäftsführer in Einzelfällen zu prüfen.20 Exemplarisch ist die analoge Anwendung von § 75a HGB. Hiernach kann die Gesellschaft den Geschäftsführer jederzeit aus dem nachvertraglichen Wettbewerbsverbot entlassen. Soweit die §§ 74 ff. HGB dem Interesse des Mitarbeiters dienen, verlangt ihr Schutzzweck aber auch die Anwendung beim Fremdgeschäftsführer und beim abhängigen Gesellschafter-Geschäftsführer. Und dazu gehört, dass nach § 74a HGB eine Karenzentschädigung geschuldet wird. Die besonderen Kenntnisse des Geschäftsführers verlangen von der Gesellschaft, im eigenen Interesse ein nachvertragliches Wettbewerbsver-

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BGH, GmbHR 1984, 234. BGH, NJW 1992, 1892, 1893; krit. Heidenhain, NZG 2002, 605. OLG Düsseldorf, GmbHR 1999, 120, 121. OLG Düsseldorf, GmbHR 1998, 180, 181; für die AG: Fleischer in Spindler/Stilz, 2. Aufl. 2010, § 88 AktG Rz. 93 ff. 18 Anstelle vieler: Kleindiek in Lutter/Hommelhoff, 17. Aufl. 2009, Anh. zu § 6 GmbHG Rz. 25; a. A. Altmeppen in Roth/Altmeppen, 6. Aufl. 2009, § 6 GmbHG Rz. 81. 19 BGH, GmbHR 1992, 263; Kleindiek in Lutter/Hommelhoff, 17. Aufl. 2009, Anh. zu § 6 GmbHG Rz. 25. 20 A. A. Altmeppen in Roth/Altmeppen, 6. Aufl. 2009, § 6 GmbHG Rz. 80.

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bot vorzusehen. Aber die betroffenen Geschäftsführer werden hierdurch massiv belastet. Sie sind ihrerseits sowohl abhängig und bedürfen einer Karenzentschädigung jedenfalls dann, wenn keine höhere Abfindung gewährt wird. Diese ist gegebenenfalls anzurechnen. Wenn die Gesellschaft nicht bezahlen will, kann sie jederzeit auf die Durchsetzung des Wettbewerbsverbots verzichten.21 4. Keine Übernahme von Geschäftschancen? Geschäftsführer im Amt dürfen keine Geschäftschancen, die der Gesellschaft gebühren, an sich ziehen und auf eigene Rechnung nutzen.22 Für die Zeit nach dem Ausscheiden des Geschäftsführers ist zu unterscheiden: Hat sich die Geschäftschance vor dem Ausscheiden entwickelt, so darf er sie auch nach seinem Ausscheiden nicht nutzen. In einer Entscheidung des II. Zivilsenats des BGH vom 11.10.197623 heißt es dazu, der ausgeschiedene Geschäftsführer habe zwar die Geschäftstätigkeit der GmbH nicht mehr zu fördern. Er sei auch nicht etwa generell gehalten, durch eigene geschäftliche Zurückhaltung wirtschaftliche Nachteile der GmbH zu vermeiden. „Seine Handlungsfreiheit geht aber trotz Beendigung seines Dienstverhältnisses nicht so weit, dass er Verträge, die die GmbH während seiner Amtszeit abgeschlossen hatte, an sich nehmen dürfte.“ Und in einer Entscheidung des II. Zivilsenats des BGH vom 23.9.198524 heißt es: „Der Geschäftsführer ist rechtlich nicht gehindert, sein Dienstverhältnis zu kündigen …; er darf diesen Wechsel nur nicht unter Mitnahme einer Geschäftschance vollziehen, die für die GmbH zu nutzen er als Geschäftsführer verpflichtet ist.“ Entscheidend ist damit, zu welcher Zeit sich die Geschäftschance für die Gesellschaft konkretisiert hat, nämlich vor oder nach dem Ausscheiden des Geschäftsführers. Das macht guten Sinn. Das heißt aber auch, dass der ausgeschiedene Geschäftsführer nicht verpflichtet ist, Geschäftschancen, die sich erst nach seinem Ausscheiden entwickelt haben, nicht wahrzunehmen. Die gesellschaftsrechtliche Förderpflicht des ausgeschiedenen Geschäftsführers endet mit seinem Ausscheiden.25 Nicht geklärt ist, ob das nachvertragliche Verbot zur Nutzung von Geschäftschancen, die sich während der Amtzeit entwickelt haben, nur auf solche

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21 BGH, NJW 1992, 1892. 22 Uwe H. Schneider in Scholz, 10. Aufl. 2007, § 43 GmbHG Rz. 201 ff.; Paefgen in Ulmer/Habersack/Winter, 2006, § 43 GmbHG Rz. 45 f.; Altmeppen in Roth/ Altmeppen, 6. Aufl. 2009, § 43 GmbHG Rz. 30; Merkt, ZHR 159 (1995), 423, 429 ff., jeweils m. w. N. 23 BGH, GmbHR 1977, 43; BGH, ZIP 1985, 1484; BGH, ZIP, 1989, 1986 (KG); OLG Frankfurt, GmbHR 1998, 378; OLG Oldenburg, NZG 2000, 1038, 1039; Altmeppen in Roth/Altmeppen, 6. Aufl. 2009, § 43 GmbHG Rz. 32; Uwe H. Schneider in Scholz, 10. Aufl. 2007, § 43 GmbHG Rz. 220; für die AG: Fleischer in Spindler/Stilz, 2. Aufl. 2010, § 93 AktG Rz. 138; zu allgemein: Raiser/Veil, Recht der Kapitalgesellschaften, 5. Aufl. 2010, S. 461. 24 BGH, ZIP 1985, 1484, 1485. 25 Uwe H. Schneider in Scholz, 10. Aufl. 2007, § 43 GmbHG Rz. 173.

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Chancen erstreckt, die dem ausgeschieden Geschäftsführer schon während seiner Amtszeit bekannt geworden sind.26 Dem ist nicht zu folgen. Zu denken ist an das Angebot an den Mitgeschäftsführer, ein Unternehmen zu erwerben. Erwirbt der ausgeschiedene Geschäftsführer das Unternehmen nach seiner Amtszeit, verletzt er seine nachwirkenden Amtspflichten, auch wenn er das Angebot nicht kannte; denn die Geschäftschance steht dem Unternehmen auch dann zu, wenn sie sich schon während der Amtszeit konkretisiert hat, der ausscheidende Geschäftsführer aber keine Kenntnis von ihr hatte. Weil aber im Einzelfall zweifelhaft sein kann, ob eine Geschäftschance schon während der Amtszeit hinreichend konkret war, kann im Anstellungsvertrag das Verbot Geschäftschancen zu nutzen, auch auf die Zeit nach dem Ausscheiden aus dem Amt für bestimmte Zeit, nämlich in analoger Anwendung von § 74a Abs. 1 Satz 3 HGB auf zwei Jahre ausgedehnt werden. 5. Fortbestehen der Verschwiegenheitspflicht Zu den nachwirkenden Loyalitätspflichten gehören auch die nachwirkenden Verschwiegenheitspflichten. Alle vertraulichen Informationen, die dem ausgeschiedenen Geschäftsführer während seiner Amtszeit zugegangen sind, hat er auch nach seinem Ausscheiden vertraulich zu behandeln.27 Ihre Verletzung ist nach § 85 GmbHG strafbar. Anders dürfte dies sein, wenn es sich um strafbares Verhalten, also etwa die Verletzung von Vorschriften des Außenwirtschaftsrechts handelt. In diesem Fall darf der ausgeschiedene Geschäftsführer etwa die Unternehmensleitung der Holding oder sogar die Staatsanwaltschaft informieren.

IV. Fortwirkende Organhaftung Hat der Geschäftsführer während seiner Amtszeit seine Pflichten verletzt, so haftet er auf Schadensersatz. Dieser Schadensersatzanspruch besteht auch nach seinem Ausscheiden fort.28 Es ist geradezu typisch, dass nicht die Geschäftsführer noch während ihrer Amtszeit sondern erst nach ihrem Ausscheiden in Anspruch genommen werden. Im Folgenden soll drei Fragen nachgegangen werden, nämlich: Welches Organ ist nach dem Ausscheiden des Geschäftsführers für die Geltendmachung zu-

__________ 26 So OLG Frankfurt, GmbHR 1998, 376, 379; Haas/Ziemons in Michalski, 2. Aufl. 2010, § 43 GmbHG Rz. 121; Klöhn in Bork/Schäfer, 2010, § 43 GmbHG Rz. 43. 27 BGHZ 91, 1, 6; Tiedemann in Scholz, 10. Aufl. 2010, § 85 GmbHG Rz. 4; Zöllner/ Noack in Baumbach/Hueck, 19. Aufl. 2010, § 35 GmbHG Rz. 40; Haas in Michalski, 2. Aufl. 2010, § 43 GmbHG Rz. 136; Paefgen in Ulmer/Habersack/Winter, 2006, § 43 GmbHG Rz. 81; Oppenländer/Trölitzsch, Handbuch der GmbH-Geschäftsführung, 2. Aufl. 2011, S. 179. 28 Für eine Verkürzung der Verjährungsfrist bei Organhaftungsansprüchen nach dem Ausscheiden aus dem Amt: Baums, ZHR 174 (2010), 593, 611.

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ständig? Sind die Vorschriften über die Beweislastumkehr noch anwendbar? Und schließlich: Erstreckt sich die D&O-Versicherung auch auf die Schadensersatzansprüche, die gegen den ausgeschiedenen Geschäftsführer geltend gemacht werden? 1. Die Zuständigkeit zur Geltendmachung der Ansprüche Wird der Geschäftsführer während seiner Amtszeit wegen Verletzung seiner Organpflichten in Anspruch genommen, so entscheiden darüber die Gesellschafter. Der Zustimmungsbeschluss ist materielle Voraussetzung für die Durchsetzung. Die Gesellschafter sollen „die Vor- und Nachteile abwägen“,29 sie sollen abwägen, welche Folgen sich aus einer Organhaftungsklage für die Gesellschaft ergeben, ob Angelegenheiten der Gesellschaft an die Öffentlichkeit gelangen, welche Folgen dies für die Reputation des Unternehmens hat. Zuständig für diese Abwägungen sind die Gesellschafter. Zugleich haben die Gesellschafter die Vertretung der Gesellschaft gegenüber dem Geschäftsführer festzulegen, insbesondere die Vertretung im Prozess, § 46 Nr. 8 GmbHG. Ob dies auch für die Durchsetzung von Ansprüchen gegen ausgeschiedene Geschäftsführer gilt, ist streitig. Teilweise wird die Ansicht vertreten, ein Gesellschafterbeschluss sei nicht erforderlich30 und zur Geltendmachung seien die verbliebenen Geschäftsführer zuständig.31 Das überzeugt nicht; denn die normativen Gründe für einen Gesellschafterbeschluss als materielle Voraussetzung der Durchsetzung gelten auch für den ausgeschiedenen Geschäftsführer. Die inneren Angelegenheiten der Gesellschaft sollen nicht in die Öffentlichkeit getragen und dort ausgebreitet werden. Und weiter: Würde die Entscheidungsbefugnis und die Vertretungsbefugnis der Gesellschaft hiervon abweichen, wenn es um Organhaftungsansprüche gegen ausgeschiedene Geschäftsführer geht, wären hierfür die verbliebenen Geschäftsführer, und nicht die Gesellschafter zuständig, so hätte dies zur Folge, dass es beim Ausscheiden eines Geschäftsführers zu einem Wechsel in der Vertretung käme. Mit dieser Begründung geht man auch bei der Aktiengesellschaft davon aus, dass für die Durchsetzung von Organhaftungsansprüchen gegen Mitglieder des Vorstands der Aufsichtsrat zuständig bleibt, auch wenn das Vorstandsmitglied ausgeschieden ist.32

__________ 29 Zöllner in Baumbach/Hueck, 19. Aufl. 2007, § 46 GmbHG Rz. 57; Bayer in Lutter/ Hommelhoff, 17. Aufl. 2009, § 46 GmbHG Rz. 35. 30 K. Schmidt in Scholz, 10. Aufl. 2007, § 46 GmbHG Rz. 167. 31 OLG Brandenburg, NZG 1998, 466; Zöllner in Baumbach/Hueck, 19. Aufl. 2010, § 46 GmbHG Rz. 67; Roth in Roth/Altmeppen, 6. Aufl. 2009, § 46 GmbHG Rz. 57. 32 Hüffer, 9. Aufl. 2010, § 147 AktG Rz. 2.

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2. Umkehr der Beweislast auch bei ausgeschiedenen Geschäftsführern? Nach § 93 Abs. 2 Satz 2 AktG analog trifft das aktive Organmitglied die teilweise Umkehr der Beweislast.33 Die Gesellschaft hat nur darzulegen und zu beweisen, dass ihr durch ein möglicherweise pflichtwidriges Verhalten des Organmitglieds Schaden entstanden ist. Dagegen hat das Vorstandsmitglied oder der Geschäftsführer darzulegen und zu beweisen, dass er bei der Erfüllung seiner Pflichten mit der Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsführers gehandelt hat, dass ihn kein Verschulden trifft, oder dass der Schaden auch bei pflichtgemäßem Verhalten entstanden wäre.34 Begründet wird die Beweislastumkehr damit, dass die Gesellschaft keinen Zugriff auf die zur Begründung der Pflichtwidrigkeit erforderlichen Unterlagen habe. Das mag zutreffen, wenn das Organmitglied noch im Amt ist. Es trifft aber nicht mehr zu, wenn das Organmitglied ausgeschieden ist. Wie bereits gezeigt, ist nämlich das Organmitglied bei seinem Ausscheiden verpflichtet, alle seine Unterlagen, Protokolle, Berichte, Analysen usw. an die Gesellschaft zurückzugeben, §§ 675, 666 f. BGB. Das gilt in gleicher Weise für vertrauliche wie für sonstige Unterlagen. Das ausgeschiedene Organmitglied hat auch kein Zurückbehaltungsrecht, wenn ihm in abstrakter Form, aber ohne konkreten Anlass Schadensersatzansprüche drohen. Spricht das nicht dafür, dass die Beweislastumkehr, die in § 93 AktG für aktive Organmitglieder vorgesehen ist, für ausgeschiedene Organmitglieder nicht zur Anwendung kommt? Hüffer35 und andere36 überlegen daher im Wege der teleologischen Reduktion die Beweislastumkehr auf die Fälle zu beschränken, in denen das Organmitglied noch im Amt ist. Das klingt gut. Herrschende Meinung ist das aber nicht. Der II. Zivilsenat des BGH37 und die herrschende Lehre38 vertreten im Gegenteil die Ansicht, dass die Beweislastumkehr auch für ausgeschiedene Organmitglieder anzuwenden ist. Ja, sie sei selbst anwendbar, wenn das Organmitglied verstorben sei und nun der Anspruch gegen die Erben geltend gemacht wird!39 Eine teleologische Reduktion von § 93 Abs. 2 Satz 2 AktG sei nicht gerechtfertigt.

__________ 33 BGHZ 152, 280; BGH, NZG 2008, 314, 315; Altmeppen in Roth/Altmeppen, § 43 GmbHG Rz. 104; Kurzwelly in Krieger/Uwe H. Schneider, Handbuch Managerhaftung, 2. Aufl. 2010, S. 339; Bayer, GmbHR 2011, 751, 753. 34 BGHZ 152, 280; Goette, ZGR 1995, 648. 35 Hüffer, 9. Aufl. 2010, § 93 AktG Rz. 17. 36 Rieger in FS Peltzer, 2001, S. 339, 351; Bürgers/Israel in Bürgers/Körber, 2008, § 93 AktG Rz. 29. 37 BGHZ 152, 280, 285 = GmbHR 2003, 113. 38 Uwe H. Schneider in Scholz, 10. Aufl. 2007, § 43 GmbHG Rz. 242; Kurzwelly in Krieger/Uwe H. Schneider, Handbuch Managerhaftung, 2. Aufl. 2010, S. 337, 343. 39 Kurzwelly in Krieger/Uwe H. Schneider, Handbuch Managerhaftung, 2. Aufl. 2010, S. 343; a. A. die h. M. anstelle anderer: Spindler in MünchKomm. AktG, 3. Aufl. 2008, § 93 Rz. 170.

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Die nachwirkenden Pflichten des ausgeschiedenen Geschäftsführers

3. Zugang zu Unterlagen der Gesellschaft Für die Ansicht der Rechtsprechung spricht auch, dass das ausgeschiedene Organmitglied umfassenden Zugang zu Unterlagen der Gesellschaft hat.40 In Anwendung von § 810 BGB kann es verlangen, dass die Gesellschaft die in ihrem Besitz befindlichen Unterlagen zugänglich macht und ihm Einsicht in die Bücher und Schriften gewährt, soweit das für seine Verteidigung erforderlich ist. Außerdem hat das ausgeschiedene Organmitglied aufgrund nachvertraglicher Treupflicht ein entsprechendes Informationsrecht. Verweigert die Gesellschaft Einsicht und Information, kann sie sich auf die Beweislastumkehr nicht berufen. Über Umfang und Grenzen dieser Rechte im Einzelnen wird allerdings gestritten. Die Umstände, auf die die angeblichen Ansprüche der Gesellschaft gestützt werden, können Jahre zurückliegen. Da kann es für den ausgeschiedenen Geschäftsführer äußerst schwierig sein, die zu seiner Entlastung notwendigen Papiere, die einschlägigen Protokolle, die ausgetauschten E-Mails usw. konkret zu bestimmen. Der Grundsatz lautet aber: Der in Anspruch genommene Geschäftsführer hat Anspruch auf alle Unterlagen immer vorausgesetzt, dass daraus für die Verteidigung etwas entnommen werden kann. Im Zweifel bleibt es dem Geschäftsführer überlassen anzugeben, was er als notwendig, erforderlich und geeignet ansieht. Nur wenn das Vorlageverlangen evident missbräuchlich ist, kann die Gesellschaft die Vorlage verweigern. Das heißt umgekehrt, die Gesellschaft kann die Herausgabe nicht mit der Begründung verweigern, sie sei für die Verteidigung durch den ausgeschiedenen Geschäftsführer nicht erforderlich. Unter Umständen muss die Gesellschaft allerdings damit rechnen, dass sich aus den Unterlagen ein rechtswidriges Verhalten des Unternehmens oder seiner Mitarbeiter ergibt z. B. die Verletzung eines Exportverbots. Die Gesellschaft kann jedoch nicht mit dem Hinweis die Herausgabe ablehnen, damit könnten Dinge ans Tageslicht kommen, die der Gesellschaft Schaden zufügen könnten, die Aufsicht bekäme damit Material in die Hand, die zu Geldbussen führen könnten und Geschäftsverbindungen würden abgebrochen. Das sind keine zulässigen Einwendungen. Der Anspruch auf Vorlage besteht fort. Zugleich treten bei einer Verweigerung die allgemeinen Rechtsfolgen ein; denn die Vorlage- und Informationspflichten sind im Zusammenhang mit der prozessualen sekundären Darlegungs- und Beweislast zu sehen. Kennt die beweispflichtige Partei nicht die Tatsachen, die zu ihrer Verteidigung erforderlich sind, liegen diese aber beim Prozessgegner, so kann es diesem zumutbar sein, diese an die beweispflichtige Partei weiter zu geben. Tut sie dies nicht, gelten die bestrittenen Tatsachen als zugestanden. Das ausgeschiedene Organmitglied kann zur Durchsetzung seiner Ansprüche verlangen, dass ihm alle angeforderten Unterlagen in einem Datenraum zugänglich gemacht werden. Nicht verlangen kann es allerdings die Herausgabe von Originalunterlagen. Möglich sein müssen dem Organmitglied aber die An-

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40 Zum Folgenden ausführlich: Krieger in FS Uwe H. Schneider, 2011, S. 717.

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fertigung von Kopien. Dabei sind der Phantasie keine Grenzen gesetzt. In einem kürzlich geführten Haftungsprozess soll der Insolvenzverwalter für die Aufsicht im Datenraum 300 Euro pro Stunde verlangt haben. Die Idee ist gut. Nur leider besteht ein solcher Anspruch nicht. Der Vorlageanspruch erstreckt sich auch auf Unterlagen, die nach dem Ausscheiden des Organmitglieds angefertigt wurden aber nur Aufschluss darüber geben sollen, wie sich der haftungsbegründende Sachverhalt entwickelt hat. Dagegen gibt es keinen Anspruch auf Herausgabe von nachträglichen Bewertungen, soweit diese erst nach dem Aussteigen des Geschäftsführers entstanden sind. Zu denken ist an Bewertungen des zurückliegenden Sachverhalts durch Anwälte, Wirtschaftsprüfer usw. Was gilt für Mitarbeiterbefragungen? Zwar kann der ausgeschiedene Geschäftsführer nicht selbst in das Unternehmen gehen, um Mitarbeiter zu befragen.41 Wurden aber im Unternehmen nach dem Ausscheiden des Geschäftsführers Mitarbeiterbefragungen vorgenommen, so hat die Gesellschaft auf Verlangen des ausgeschiedenen Geschäftsführers die Protokolle vorzulegen42 und über das Ergebnis der Befragung zu berichten. Zwar handelt es sich um neue Dokumente. Sie beziehen sich aber auf alte Informationen, sprich Informationen, die sich auf die Zeit beziehen, als der Geschäftsführer noch im Amt war. Und wann ist der Anspruch fällig? Der Anspruch auf Vorlage und Information wird nicht erst zum Zeitpunkt der Klageerhebung, sondern schon in dem Zeitpunkt fällig, in dem die Gesellschaft sich eines Anspruchs berühmt. Auch in den Vorverhandlungen über die Organhaftung muss sich der ausgeschiedene Geschäftsführer verteidigen können.

V. D&O-Versicherung für ausgeschiedene Geschäftsführer Für ausgeschiedene Geschäftsführer stellen sich zwei Fragen, nämlich, greift die D&O-Versicherung auch dann noch, wenn zwar die Pflichtverletzung während der Amtszeit erfolgte, die Meldung hierüber aber erst nach seinem Ausscheiden. Und zum anderen stellt sich die Frage, ob die D&O-Versicherung auch Pflichtverletzungen erfasst, die erst nach dem Ausscheiden erfolgten. Zunächst sollte man sich nochmals vergegenwärtigen, dass die D&O-Versicherung in der Regel nicht dem „Schadensereignisprinzip“43 unterliegt, sondern dem „Anspruchserhebungsprinzip“.44 Das Schadensereignisprinzip geht davon aus, dass es lediglich darauf ankommt, dass der Geschäftsführer zum Zeitpunkt der Pflichtverletzung und der Schadensentstehung versichert war. So ist

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41 Krieger in FS Uwe H. Schneider, 2011, S. 717, 728. 42 A. A. Krieger in FS Uwe H. Schneider, 2011, S. 727. 43 Zu kurz daher: Hoffmann/Liebs, Der GmbH-Geschäftsführer, 3. Aufl. 2009, Rz. 7019: „Versicherungsschutz wird gewährt, dass die versichernde Person, der Geschäftsführer, wegen eines Vermögensschadens in Anspruch genommen wird …“. 44 Sieg in Krieger/Uwe H. Schneider, Handbuch Managerhaftung, 2. Aufl. 2010, S. 411, 423; Schramm, Das Anspruchserhebungsprinzip, 2009; Steinkühler/Kassing, VersR 2009, 607.

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Die nachwirkenden Pflichten des ausgeschiedenen Geschäftsführers

das aber in der Vertragspraxis nicht. Vielmehr gilt in der Regel das „Anspruchserhebungsprinzip“. Der Versicherungsfall tritt hiernach nicht bereits mit der Pflichtverletzung, sondern erst mit der Geltendmachung des Anspruchs ein. Das bedeutet, dass auch die Geltendmachung der Ansprüche durch die geschädigte Gesellschaft noch zum Zeitpunkt erfolgen muss, in dem Versicherungsschutz besteht. Der Versicherungsschutz erlischt aber für den Geschäftsführer, wenn der Versicherungsvertrag befristet ist oder nicht verlängert wird, die Pflichtverletzung zwar erfolgt, als noch Versicherungsschutz bestand, aber erst in der Folgezeit Ansprüche durch die Gesellschaft erhoben werden. Das ist bitter. Und es ist besonders bitter für ausgeschiedene Organmitglieder. Sie haben nämlich keinen Einfluss mehr auf die Verlängerung der Versicherungsverträge. Gegebenenfalls ist der Schrecken groß, wenn dann Jahre später Ansprüche erhoben werden. Allerdings werden im Versicherungsvertrag vielfach Nachmeldefristen vereinbart. In diesem Fall sind auch solche Ansprüche versichert, die innerhalb der Nachmeldefrist geltend gemacht werden. Wenn aber die Nachmeldefrist für die D&O-Versicherung kürzer ist als die Frist für die Verjährung der Schadensersatzansprüche, entsteht eine Lücke im Versicherungsschutz. Das bedeutet, dass die Nachmeldefrist an die Verjährungsfrist angepasst werden muss.

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Der Anspruch auf Haftungsbeschränkung im Europäischen Gesellschaftsrecht Inhaltsübersicht I. Die Doppelnatur der Haftungsbeschränkung II. Haftungsbeschränkung und Binnenmarktkonzept III. Die Haftungsbeschränkung – kein Grundsatz ohne Ausnahme IV. Diskriminierungsverbot, Beschränkungsverbot und Institutsgarantie 1. Diskriminierung a) Offene Diskriminierung b) Faktische Diskriminierung – das Urteil Idryma Typou 2. Beschränkung a) Fragestellung

b) Marktzutritt oder Marktregeln? c) Typenzwang, Rechtsformwahl und Institutsgarantie 3. Rechtsformwahl und Institutsgarantie im Europäischen Gesellschaftsrecht 4. Die Bedeutung der Richtlinien auf dem Gebiet des Europäischen Gesellschaftsrechts für die Haftungsbeschränkung V. Die Rechtfertigung von inländischen Haftungsregeln im Vergleich mit der Anwendung von Haftungsregeln auf Auslandsgesellschaften VI. Schluss

I. Die Doppelnatur der Haftungsbeschränkung Die historische Bedeutung des Prinzips der Haftungsbeschränkung juristischer Personen für die Entwicklung der Wirtschaft und des Wohlstandes ist allgemein anerkannt.1 Die rechtliche Möglichkeit für Investoren, einem Unternehmen Geld- oder Sachmittel zur Verfügung zu stellen, ohne für die Schulden der Gesellschaft persönlich einstehen zu müssen, hat nicht nur in großen Aktiengesellschaften, sondern auch in vielfältigen kleinen und mittleren Gesellschaften die produktive Zusammenführung von Arbeit und Kapital nachhaltig gefördert. Die gesetzliche Regelung haftungsbeschränkter Rechtsformen – der AG, der GmbH, der Genossenschaft und ihrer Verwandten in ausländischen Rechtsordnungen – bietet den Wirtschaftssubjekten enabling law im besten Sinne: ein rechtliches Instrument für die Organisation von Unternehmen: von der kleinen start-up limited bis zum multinationalen Konzern. Die Fachdiskussion und Gerichtspraxis zum Europäischen Gesellschaftsrecht haben das Prinzip der Haftungsbeschränkung in der Vergangenheit weniger als

__________ 1 J. Meyer, Haftungsbeschränkung im Recht der Handelsgesellschaften, 2000, S. 13 ff. (geschichtliche Entwicklung) und S. 951 ff. (Funktion); Steffek, Gläubigerschutz im Recht der Kapitalgesellschaft, 2011, S. 772 ff.; aus der Sicht des Europäischen Gesellschaftsrechts: Grundmann, Europäisches Gesellschaftsrecht, 2. Aufl. 2011, § 9 Rz. 286 ff.; Teichmann, Binnenmarktkonformes Gesellschaftsrecht, 2006, S. 475 ff.

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Gestaltungsinstrument und mehr als Gefährdungspotential begriffen. Dies beginnt bei der Gesetzgebung der Europäischen Organe auf dem Gebiet des Gesellschaftsrechts, namentlich dem Erlass von Richtlinien nach Art. 50 Abs. 2 lit. g AEUV. Bereits die Zielsetzung der Ermächtigungsgrundlage, „soweit erforderlich, die Schutzbestimmungen (zu) koordinieren, die in den Mitgliedstaaten den Gesellschaften im Sinne des Art. 54 Abs. 2 im Interesse der Gesellschafter sowie Dritter vorgeschrieben sind, um diese Bestimmungen gleichwertig zu gestalten“ macht deutlich, dass die hier vorgesehene Angleichung der nationalen Gesellschaftsrechte nicht darauf angelegt ist, unternehmerische Handlungsspielräume zu eröffnen, sondern einen (Mindest-)Schutz für Minderheitsgesellschafter, Gläubiger, Arbeitnehmer und andere Dritte gegenüber Unternehmen und ihren Geschäftsleitern und Anteilseignern zu garantieren.2 Vor diesem Hintergrund werden zentrale Rechtsakte der Europäischen Union auf dem Gebiet der Gesellschaftsrechtsangleichung damit gerechtfertigt, dass die Ansprüche der Gläubiger in haftungsbeschränkten Gesellschaften gefährdet seien. Dies legitimiert die Angleichungsvorgaben der Publizitäts-RL zur Gründung, Vertretung und Offenlegung bei GmbH und AG3 ebenso wie den Inhalt der Bilanzrichtlinie4 oder den Kapitalschutz bei der AG.5 Auch für die Harmonisierung der nationalen Rechte zu Umwandlungsvorgängen durch die Verschmelzungs-RL6 und die Spaltungs-RL7 wird der Zusammenhang von Gläubigerschutz und Angleichungsbedarf prononciert hergestellt. Letztlich ist auch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs in den Bann des Gläubigerschutzes als zentraler Maxime der Regelung haftungsbeschränkter Gesellschaften geraten. Die großen Kontroversen zu den Urteilen Centros,8 Überseering9 und Inspire Art10 kreisten um die Frage, in welchem Umfang der nationale Gesetzgeber ausländischen Gesellschaften die primäre Sitzverlegung verweigern oder deren Wechsel ins Inland mit beschränkenden Auflagen versehen darf, um das bei inländischen Gesellschaftsformen übliche Gläubigerschutzniveau sicherzustellen.11 Auch wenn das Zugangsrecht haftungsbeschränkter ausländischer Rechtsformen zum inländischen Markt heute nicht mehr bestritten wird, wird weiterhin intensiv diskutiert, in welchem Umfang nationale Gläubigerschutzkonzepte des Gesellschafts- oder Insolvenz-

__________ 2 Lutter/Bayer/Schmidt, Europäisches Kapitalmarkt- und Unternehmensrecht, 5. Aufl. 2012, § 2 Rz. 6 ff.; Habersack/Verse, Europäisches Gesellschaftsrecht, 4. Aufl. 2011, § 3 Rz. 43 ff.; Schön, ZGR 1995, S. 1 ff., 13 ff.; ders., ZHR 160 (1996), S. 221 ff., 223 ff. 3 RL 2009/101/EG v. 16.9.2009, ABl. EU v. 1.10.2009, L 258/11 (konsolidierte Fassung), 2. Erwägungsgrund. 4 RL 78/660/EWG v. 25.7.1978, ABl. EG v. 14.8.1978, L 222/11, 2. Erwägungsgrund. 5 RL 77/91/EWG v. 13.12.1976, ABl. EG v. 31.1.1977, L 26/1, 2. Erwägungsgrund. 6 RL 2011/35/EU v. 5.4.2011, ABl. EU v. 29.4.2011, L 110/1 (konsolidierte Fassung), 7. Erwägungsgrund. 7 RL 82/891/EWG v. 17.12.1982, ABl. EG v. 31.12.1982, L 378/47, 8. Erwägungsgrund. 8 EuGH v. 9.3.1999 – Rs. C-212/97 (Centros), EuGHE 1999, S. I-1459 ff. 9 EuGH v. 5.11.2002 – Rs. C-208/00 (Überseering), EuGHE 2002, S. I-9919 ff. 10 EuGH v. 30.9.2003 – Rs. C-167/01 (Inspire Art), EuGHE 2003, S. I-10155 ff. 11 Ausführlicher Bericht zum Meinungsstand bei Lutter/Bayer/Schmidt (Fn. 2), § 6 Rz. 13 ff.; Habersack/Verse (Fn. 2), § 3 Rz. 16 ff.

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Der Anspruch auf Haftungsbeschränkung im Europäischen Gesellschaftsrecht

rechts auf diese Auslandsgesellschaften Anwendung finden können.12 Dass diesen Maßnahmen ein genuines „Allgemeininteresse“ zugrunde liegt, wird dabei im Kern nicht bestritten, kontrovers diskutiert werden in der Regel nur die Geeignetheit, Erforderlichkeit und Diskriminierungsfreiheit der jeweils gewählten Regelungsansätze. Demgegenüber hat der Gedanke, das Prinzip der Haftungsbeschränkung als positiven Baustein einer europäischen Gesellschaftsrechtsordnung zu begreifen, in der bisherigen Gesetzgebung und Fachdiskussion nur wenig Raum gefunden. Eine Ausnahme bildet in erster Linie die Einpersonengesellschaft-Richtlinie aus dem Jahre 1989,13 die für Alleininhaber kleiner und mittlerer Unternehmen den Zugang zu einer haftungsbeschränkten Rechtsform in den Mitgliedstaaten gewährleistet. In einem weiteren Schritt muss auch die Schaffung supranationaler Rechtsformen – SE, SPE, SCE – als europäisch begründete Erweiterung des Arsenals haftungsbeschränkter Rechtsformen begriffen werden – ein Anliegen, das Peter Hommelhoff mit Nachdruck vorangetrieben hat.14 Schließlich hat die „Reflection Group“ zum Europäischen Gesellschaftsrecht in ihrem 2011 vorgelegten Bericht angeregt, europaweit die Einpersonengesellschaft als Konzernglied zu etablieren.15 Einen deutlichen Schritt nach vorne hat vor einiger Zeit der Europäische Gerichtshof unternommen, der in dem Urteil Idryma Typou vom 21.10.201016 entschieden hat, dass die Grundfreiheiten einem nationalen Gesetzgeber untersagen können, einen Aktionär mit persönlicher Haftung für bestimmte Schulden der Gesellschaft17 zu belegen. In ähnlicher Weise ist früher bereits im deutschen Schrifttum (im Rahmen der Diskussion um die Haftung im qualifizierten faktischen Konzern) vorgeschlagen worden, aus der europäischen Niederlassungsfreiheit einen Anspruch auf Haftungsbeschränkung herzulei-

__________ 12 Grundlegend Ulmer, JZ 1999, 665 ff.; ders., NJW 2004, 1201 ff., 1204 ff.; Eidenmüller, JZ 2004, 24 ff., 27 ff.; s. auch den Hinweis bei BGH, NZG 2011, 1195 ff., 1198 mit Anm. Schall, NJW 2011, 3745 ff. 13 RL 2009/102/EG v. 16.9.2009, ABl. EU v. 1.10.2009, L 258/20 (konsolidierte Fassung); näher Habersack/Verse (Fn. 2), § 10; Lutter/Bayer/Schmidt (Fn. 2), § 29. 14 Hommelhoff, Das europäische Gesellschaftsrecht am Beginn des 21. Jahrhunderts, in Hatje (Hrsg.), Das Binnenmarktrecht als Daueraufgabe, EuR-Beiheft 1/2002, S. 147 ff., 152; ders., GesRZ 2008, 337 ff., 348; ders., ZHR 173 (2009), 255 ff.; s. auch MüllerGraff, EWS 2009, 489 ff., 500. 15 European Commission, Internal Market and Services, Report of the Reflection Group on the Future of EU Company Law, 5th April 2011, Tz. 4.2. 16 EuGH v. 21.10.2010 – Rs. C-81/09 (Idryma Typou), NZG 2011, 183 ff.; Schlussanträge der Generalanwältin Trstenjak v. 2.6.2010 – Rs. C-81/09 (Idryma Typou); s. dazu Bayer/Schmidt, BB 2012, 3 ff., 9 f.; Eckert, GesRZ 2011, 176 f.; Kindler, Rechtsboard v. 25.1.2011 (http://blog.handelsblatt.com/rechtsboard/); Möslein, NZG 2011, 174 f.; Rüffler, GES 2011, 99 ff.; J. Schmidt, EWiR 2010, 693 f.; Papadopoulos, CMLR 2012, 401 ff. 17 Zur problematischen Vorfrage, wann eine Haftungsnorm den Gesellschafter originär trifft oder eine Mit- oder Durchgriffshaftung für Schulden der Gesellschaft anordnet s. GA Trstenjak (Fn. 16), Rz. 41–48.

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ten.18 Das neue Judikat des Gerichtshofs gibt Anlass für den Versuch, diesen europäisch begründeten Anspruch auf Bereitstellung haftungsbeschränkter Rechtsformen erneut aufzugreifen und systematisch zu entfalten.

II. Haftungsbeschränkung und Binnenmarktkonzept Den konzeptionellen Ausgangspunkt sowohl der Grundfreiheiten als auch der Richtlinien und Verordnungen auf dem Gebiet des Gesellschaftsrechts bietet der Binnenmarkt, d. h. der Raum, innerhalb dessen sich nach dem Willen der Schöpfer der Europäischen Union im freien Verkehr von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital eine effiziente Allokation der verfügbaren Ressourcen bilden soll. Dieser freie Verkehr stellt Anforderungen an die Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten und das sie überwölbende Unionsrecht.19 Er verlangt rechtliche Instrumente, die den Wirtschaftssubjekten der Europäischen Union den Austausch von Gütern und die Zusammenführung von Produktionsfaktoren ermöglichen.20 Dazu gehört nicht lediglich die punktuelle Lieferung oder Leistung am offenen Markt, sondern auch die Bildung von Unternehmen, d. h. die Organisation von Arbeit und Kapital auf dauerhafter Grundlage.21 Unternehmen zeichnen sich typischerweise durch eine Trennung der laufenden Geschäftsführung von der Bereitstellung der finanziellen Mittel aus. Die Möglichkeit, Unternehmen zu gründen und dabei die Rolle des Managements von der Rolle der Geldgeber zu separieren, rechnet daher zu den wesentlichen materiellen Voraussetzungen eines funktionierenden Binnenmarkts. Die Europäischen Verträge haben diesem Anliegen vor allem mit der Ausgestaltung von zwei Grundfreiheiten Rechnung getragen: der Niederlassungsfreiheit und der Kapitalverkehrsfreiheit. Die primäre Niederlassungsfreiheit umfasst nach Art. 49 Abs. 2 AEUV nicht nur die Aufnahme und Ausübung selbstständiger Erwerbstätigkeiten durch natürliche Personen, sondern auch die Gründung und Leitung von Unternehmen, insbesondere von Gesellschaften im Sinne des Art. 54 Abs. 2. Diese „Gründerfreiheit“ bildet daher ein zentrales Element der Niederlassungsfreiheit.22 Hinzu tritt nach Art. 49 Abs. 1 Satz 2 AEUV das Recht auf grenzüberschreitende sekundäre Niederlassung für bestehende Unternehmen, und zwar

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18 Steindorff, EG-Vertrag und Privatrecht, 1996, S. 260 ff.; Schön, RabelsZ 64 (2000), 1 ff., 14 f., 19 ff.; ders., EWS 2000, 281 ff., 286 f. 19 Zum Privatrecht allgemein: Körber, Grundfreiheiten und Privatrecht, 2004, S. 29 ff.; Bachmann, AcP 210 (2010), 424 ff., 430 f.; zum Gesellschaftsrecht: Teichmann (Fn. 1), S. 54–59; ders., ZGR 2011, 639 ff., 646 ff.; Mülbert/Schmolke, ZVglR 100 (2001), 235 ff., 237–240; Schön, ECFR 2006, 122 ff., 124 ff.; s. auch Sjäfell, Towards a Sustainable European Company Law, 2009, S. 167 ff. 20 Grundlegend Steindorff (Fn. 18), S. 46. 21 Schön, ECFR 2006, 122, 124 ff.; ders. in FS Priester, 2007, S. 737 ff. 22 Everling, Das Niederlassungsrecht im Gemeinsamen Markt, 1963, S. 15; Schön (Fn. 21), S. 737 ff.; Lutter/Bayer/Schmidt (Fn. 2), § 4 Rz. 3; Möslein, NZG 2011, 174, 175; a. A. Körber (Fn. 19), S. 283; Teichmann, ZGR 2011, 639, 661 f.; s. jüngst die Anerkennung der originären Niederlassungsfreiheit der Gründer in den Schlussanträgen des GA Niiskänen v. 15.12.2011 in der Rs. C-378/10 (VALE), Rz. 48–50.

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in den alternativen Formen der Zweigniederlassung, der Tochtergesellschaft und der Agentur.23 Sowohl im Rahmen der primären Niederlassungsfreiheit als auch bei Ausübung der sekundären Niederlassungsfreiheit ist der Marktbürger daher in gleicher Weise zur eigenen Trägerschaft von Unternehmen und zur Beteiligung an unternehmerisch tätigen Gesellschaften berechtigt. Für bestehende Gesellschaften, denen ihrerseits nach Art. 54 Abs. 1 AEUV die freie grenzüberschreitende Niederlassung zusteht, bedeutet dies, dass auch die Konzernbildung i. S. einer Aufteilung von unternehmerischen Funktionen auf mehrere selbständige oder unselbständige Gesellschaften vom Schutz des Binnenmarktes umfasst wird.24 Die Kapitalverkehrsfreiheit ist in Art. 63 Abs. 1 AEUV umfassend geschützt, aber nicht inhaltlich näher ausgestaltet. Nach allgemeiner Meinung wird der sachliche Tatbestand des Kapitalverkehrs jedoch beispielhaft durch den Katalog im Annex zur Kapitalverkehrs-RL aus dem Jahre 1988 ausformuliert.25 Danach ist z. B. die Beteiligung an einer Kapitalgesellschaft als Aktionär von Art. 63 Abs. 1 AEUV erfasst. Dies zwingt (nicht zuletzt wegen des unterschiedlichen räumlichen Anwendungsbereichs) zu einer Abgrenzung zwischen der in Art. 49 Abs. 2 AEUV geschützten „Gründung und Leitung“ von Gesellschaften und der in Art. 63 Abs. 1 AEUV geschützten Kapitalanlage in Aktien und anderen Gesellschaftsanteilen. Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs ist dieser Unterschied darin zu sehen, dass Gesellschafter, die einen „bestimmenden Einfluss“ auf das Unternehmen besitzen, dem Art. 49 AEUV zu subsumieren sind,26 während Portfolio-Beteiligte ohne substanziellen Einfluss, bei denen die Kapitalanlage im Vordergrund steht, nach Art. 63 Abs. 1 AEUV beurteilt werden.27 Auch wenn sich der bisherigen Judikatur keine eindeutige quantitative Abgrenzung nach Stimmrechtsmacht oder Kapitalquote entnehmen lässt,28 kann festgehalten werden, dass der Gerichtshof in der Gesamtschau der beiden Grundfreiheiten sowohl das Leitbild des „UnternehmerGesellschafters“ als auch das Leitbild des „Anleger-Gesellschafters“ in vollem Umfang dem Schutz der Grundfreiheiten unterstellt.29 Damit wird dem Inhaber von Kapital kraft europäischen Rechts eine umfassende Auswahl von Investitionsformen angeboten: die Gründung eines eigenen Unternehmens, die Beteiligung an einer Gesellschaft mit „bestimmendem Einfluss“ sowie der Erwerb von Portfolio-Anteilen. Die (grenzüberschreitende) Organisationsfreiheit ist in diesem Regelungsgefüge des AEUV zu Niederlassung und Kapitalverkehr daher anerkannt. Weiter reicht

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23 Friese, Rechtsformwahlfreiheit im Europäischen Steuerrecht, 2010; Schön, EWS 2000, 281, 283 ff. 24 Lutter/Bayer/Schmidt, (Fn. 2), § 4 Rz. 11 f. 25 RL 88/361/EG v. 24.6.1988, ABl. EWG L 178/5 (aufgehoben durch den Vertrag von Amsterdam). 26 EuGH v. 21.10.2010 (Fn. 16), Rz. 47. 27 EuGH v. 21.10.2010 (Fn. 16), Rz. 48 m. w. N. 28 Näher: Lutter/Bayer/Schmidt (Fn. 2), § 15 Rz. 3 ff.; Rickford in FS Hopt, Bd. 2, 2010, S. 1187–1224. 29 Möslein, Grenzen unternehmerischer Leitungsmacht im marktoffenen Verband, 2007, S. 204 ff.; Schön, RabelsZ 64 (2001), 1, 9–12.

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die Frage, ob und inwieweit aus der Organisationsfreiheit zugleich ein Anspruch auf Haftungsbeschränkung folgt. Ihr sind die nachfolgenden Überlegungen gewidmet.

III. Die Haftungsbeschränkung – kein Grundsatz ohne Ausnahme Bevor die in den vorstehenden Erwägungen angelegte Problematik einer Einwirkung des Binnenmarktes in Gestalt der Grundfreiheiten auf Tatbestände der Gesellschafterhaftung im nationalen Gesellschaftsrecht entfaltet werden kann, soll knapp eine Thematik aufgegriffen werden, die in den Schlussanträgen der Generalanwältin Trstenjak30 in der Rechtssache Idryma Typou eine erhebliche Rolle spielt und auch im Urteil des Gerichtshofs31 Erwähnung findet: die Frage nach der Existenz eines „allgemeinen Rechtsgrundsatzes“ im Europäischen Gesellschaftsrecht, auf dessen Grundlage ein Haftungsdurchgriff bei Kapitalgesellschaften generell ausgeschlossen sei. Die Ausführlichkeit der Betrachtung zu einem solchen Grundsatz im Verfahren Idryma Typou muss schon deshalb erstaunen, weil die Generalanwältin Trstenjak sich erst ein Jahr zuvor im Verfahren Audiolux vehement gegen die Akzeptanz „allgemeiner Rechtsgrundsätze“ im Europäischen Gesellschaftsrechts ausgesprochen hatte.32 Sie verblüfft auch deshalb, weil sich weder im Sekundärrecht der Europäischen Union noch in der vergleichenden Gesamtschau der Gesellschaftsrechte der Mitgliedstaaten Anhaltspunkte für den rigiden Standpunkt finden, dass bei haftungsbeschränkten Rechtsformen wie der GmbH oder der AG „ausnahmslos“ eine wie auch immer ausgestaltete Einstandspflicht der Gesellschafter ausgeschlossen sei.33 Diese Frage stellen heißt sie verneinen. Auch die Publizitäts-RL setzt die Haftungsbeschränkung zwar tatbestandlich voraus, regelt aber in ihrem Normprogramm nur eine begrenzte Angleichung der Schutzbestimmungen für den Rechtsverkehr, ohne auch nur andeutungsweise einen „ausnahmslosen“ Grundsatz der Haftungsbeschränkung zu dekretieren.34 Bedeutsam ist demgegenüber die Frage, ob das Europäische Gesellschaftsrecht als Regeltatbestand die Haftungsbeschränkung fordert und unter welchen Voraussetzungen der nationale Gesetzgeber eine Einstandspflicht der Gesellschafter für die Schulden der Gesellschaft anordnen darf. Dies lässt sich allerdings

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30 GA Trstenjak (Fn. 16), Rz. 33–34, 38–40. 31 EuGH v. 21.10.2010 (Fn. 16), Rz. 42–43. 32 EuGH v. 15.10.2009 – Rs. C-101/08 (Audiolux), ZIP 2009, 2241 ff. mit Schlussanträgen GA Trstenjak v. 30.6.2009, ZIP 2009, 1613 ff. und dazu Basedow in FS Hopt, Bd. 1, 2010, S. 27 ff. sowie Schön in FS Hopt, Bd. 2, 2010, S. 1343 ff. 33 So auch das Ergebnis der Generalanwältin, des Gerichtshofs und der gesamten Literatur (Lutter/Bayer/Schmidt (Fn. 2), S. 9; Grundmann (Fn. 1), § 9 Rz. 288; Habersack/Verse (Fn. 2), § 10 Rz. 13 Fn. 39; Lutter/Bayer/Schmidt (Fn. 2), § 8 Rz. 34 f.; Möslein, NZG 2011, 174 f.; Papadopoulos, CMLR 2012, 401, 406 ff.; Steffek (Fn. 1), S. 771). 34 EuGH v. 21.10.2010 (Fn. 16), Rz. 33–41; Schlussanträge GA Trstenjak (Fn. 16), Rz. 31–32; Habersack/Verse (Fn. 2), § 5 Rz. 10 Fn. 20; Kindler (Fn. 16); Rüffler, GES 2011, 99 ff.

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nicht mit einem Blick auf das europäische Sekundärrecht oder durch einen Rechtsvergleich zwischen den Gesellschaftsrechten in Europa beantworten, sondern nur durch eine Würdigung der materiellen Vorgaben der Grundfreiheiten.

IV. Diskriminierungsverbot, Beschränkungsverbot und Institutsgarantie Es ist bereits dargelegt worden, dass der sachliche Anwendungsbereich der Niederlassungsfreiheit und der Kapitalverkehrsfreiheit auch die unternehmerische Beteiligung an einer Kapitalgesellschaft sowie die Portfolio-Anlage von Kapital in Aktien erfasst. Die weitergehende Frage geht nun dahin, ob das europäische Primärrecht dabei zugleich im Grundsatz garantiert, dass der Gesellschafter für die Schulden der Beteiligungsgesellschaft nicht persönlich haftet. Dafür müssen drei verschiedene Komponenten der Grundfreiheiten differenziert gewürdigt werden: Diskriminierungsverbot, Beschränkungsverbot und Institutsgarantie. 1. Diskriminierung a) Offene Diskriminierung In einem ersten Schritt ist zu berücksichtigen, dass die Grundfreiheiten nach dem ursprünglichen Willen der Schöpfer der Europäischen Verträge als Diskriminierungsverbote ausgestaltet sind. Sie untersagen dem nationalen Gesetzgeber, grenzüberschreitende wirtschaftliche Tätigkeiten im Vergleich zu inländischen wirtschaftlichen Tätigkeiten rechtlich zu benachteiligen. Dies hat z. B. zur Folge, dass ausländische Aktionäre bei den Regeln über die Finanzverfassung der Aktiengesellschaft keinen schärferen Sanktionen ausgesetzt werden dürfen als inländische Gesellschafter. In gleicher Weise dürfen ausländische Gesellschaften bei inländischer Wirtschaftstätigkeit nicht diskriminiert, d. h. sie müssen in ihrer Rechtsfähigkeit und damit ihrer haftungsabschirmenden Wirkung anerkannt werden.35 Diese explizite Dimension der Grundfreiheiten führt aber dann nicht weiter, wenn das nationale Recht (wie dies für inländische Rechtsformen regelmäßig der Fall ist) gleichmäßig für inländische und grenzüberschreitende Sachverhalte (z. B. für inländische und ausländische Gesellschafter) eine weit reichende persönliche Haftung anordnet. b) Faktische Diskriminierung – das Urteil Idryma Typou Eine erste Erweiterung des Anwendungsbereichs der Grundfreiheiten liegt nach ständiger Rechtsprechung darin, dass äußerlich diskriminierungsfreie Regeln beanstandet werden können, wenn sie faktisch für ausländische Wirtschafts-

__________ 35 EuGH (Fn. 8–10).

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subjekte höhere Belastungswirkungen zeitigen als für inländische Wirtschaftssubjekte.36 In dem genannten Fall Idryma Typou hat der Gerichtshof das Konzept der „faktischen Diskriminierung“ aufgegriffen, um die beanstandete Haftungsregel des griechischen Presserechts zu Fall zu bringen: Das griechische Pressegesetz sah vor, dass Aktionäre einer Kapitalgesellschaft, die in Griechenland ein Medienunternehmen betreibt, für bestimmte Verstöße des Unternehmens oder seiner Mitarbeiter gegen presserechtliche Pflichten persönlich haften. Voraussetzung ist, dass die Beteiligungsquote des Gesellschafters 2,5 % übersteigt. Eine explizite Differenzierung zwischen ausländischen und inländischen Beteiligten enthielt das Gesetz nicht. Dennoch bejahte der Gerichtshof den Tatbestand der Diskriminierung.37 Er wies auf den Zusammenhang zwischen dem Haftungstatbestand für Gesellschafter und deren Einfluss auf das Geschehen im Unternehmen hin. Die Haftungsnorm sei darauf angelegt, die Gesellschafter zur aktiven Kontrolle der laufenden Geschäftstätigkeit zu veranlassen. Für Inhaber von Kleinbeteiligungen sei dies nur durch Zusammenschluss mit anderen Aktionären möglich. Ein solcher Zusammenschluss zur Ausübung von Kontrollrechten sei allerdings inländischen Beteiligten erheblich leichter möglich als ausländischen Investoren. Diese würden durch die Haftungsnorm daher in besonderer Weise vom Erwerb von Anteilen an griechischen Medienunternehmen abgeschreckt.

Die Würdigung der Entscheidungsgründe des Urteils Idryma Typou muss daher vorsichtig ausfallen: Einerseits betont der Gerichtshof die Bedeutung der Haftungsbeschränkung für die Investitionsentscheidung im Rahmen des freien Kapitalverkehrs sowie die abschreckende Wirkung der griechischen Durchgriffsnorm. Insoweit eröffnet er den Grundfreiheiten ein breites Anwendungsfeld auf dem Gebiet nationaler gesellschaftsrechtlicher Haftungsnormen. Andererseits konzentriert er die ratio decidendi seiner Entscheidung letztlich auf die besondere presserechtliche Steuerungsfunktion des beanstandeten nationalen Gesetzes und dessen (behauptete) faktische Benachteiligungswirkung. Die – aus der Sicht von Praxis und Wissenschaft zum Gesellschaftsrecht deutlich bedeutsamere – Frage nach der unionsrechtlichen Kontrolldichte bei allgemeinen Durchgriffs- und Haftungsregeln bleibt weitgehend offen. Schaut man näher hin, so bestehen allerdings Zweifel, ob der vom Gerichtshof für Kleinaktionäre konkret in den Vordergrund gestellte Vorwurf der faktischen Diskriminierung den Kern der Problematik trifft.38 Wie der Gerichtshof betont, zielt der binnenmarktrechtliche Schutz des freien Kapitalverkehrs gerade auf „Portfolioinvestitionen (…), d. h. auf den Erwerb von Wertpapieren auf dem Kapitalmarkt allein in der Absicht einer Geldanlage, ohne auf die Verwaltung und Kontrolle des Unternehmens Einfluss nehmen zu wollen“. Das Bild des „Anleger-Gesellschafters“, der seine Anlagen innerhalb der Europäischen Union diversifizieren möchte, prägt das Verständnis dieser Grundfreiheit.39 Vor diesem Hintergrund ergibt sich die substanziell abschreckende Wirkung

__________ 36 Zur faktischen Diskriminierung im Privatrecht s. Bachmann, AcP 210 (2010), 424 ff., 442 f.; Körber (Fn. 19), S. 98 ff. 37 EuGH v. 21.10.2010 (Fn. 16), Rz. 57–61; anders GA Trstenjak (Fn. 16), Rz. 69. 38 Zweifel auch bei Kindler (Fn. 16). 39 EuGH v. 21.10.2010 (Fn. 16), Rz. 48, 69.

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einer zustandsbezogenen Durchgriffshaftung für ausländische Investoren ganz unabhängig davon, ob inländische Investoren faktisch eher in der Lage sind, Koalitionen einzugehen. Denn der mit einer solchen kollektiven Steuerung des Unternehmens verbundene Aufwand kann jeden Anleger vom Anteilserwerb abschrecken. Daher hätte man die Frage nach den europarechtlichen Grenzen nationaler Haftungsnormen unabhängig von dem Vorwurf faktischer Ungleichbehandlung in den Vordergrund stellen müssen. Man gewinnt den Eindruck, dass der Gerichtshof sich dieser Grundfrage durch ein feinsinniges distinguishing hat entziehen wollen.40 Schließlich hilft diese konkrete Argumentation zur faktischen Diskriminierung nicht weiter, wenn der im nationalen Recht angelegte Durchgriff „unternehmerische“ Gesellschafter, z. B. die Inhaber wesentlicher Beteiligungen oder gar den Alleingesellschafter einer Kapitalgesellschaft, in die Pflicht nimmt. Denn der Gerichtshof konzentriert seine Urteilsgründe explizit auf die praktischen Schwierigkeiten von Kleinaktionären, im Konzert mit ihresgleichen Einfluss auf die unternehmerische Tätigkeit des jeweiligen Presseunternehmens zu gewinnen. Eine verallgemeinerungsfähige Aussage ist dem Urteil daher auch für „Unternehmer-Gesellschafter“ nicht zu entnehmen. 2. Beschränkung a) Fragestellung Eine zusätzliche Dimension der Grundfreiheiten hat der Gerichtshof bereits vor nahezu zwei Jahrzehnten durch die Interpretation der Niederlassungsfreiheit als „Beschränkungsverbot“ eingeführt. Nach dieser Judikatur können auch nicht-diskriminierende Vorschriften des nationalen Rechts der Kontrolle am Maßstab der Niederlassungsfreiheit unterworfen werden, wenn sie sich für die Ausübung der Grundfreiheit als hinderlich erweisen und die grenzüberschreitende Aktivität „weniger attraktiv“ erscheinen lassen.41 Vor diesem Hintergrund ist bereits vor dem Urteil Idryma Typou vertreten worden, dass gesellschaftsrechtliche Normen des nationalen Rechts, welche die Teilhaber einer Gesellschaft generell oder in bestimmten Fällen mit persönlicher Haftung belegen, sich als (diskriminierungsfreie) „Beschränkung“ der grenzüberschreitenden Investition darstellen können.42 Diese Position muss sich allerdings mit zwei wesentlichen Gegenargumenten auseinandersetzen.

__________ 40 Rüffler, GES 2011, 99, 102. 41 Ausführlich zu den Auswirkungen dieser Judikatur auf das Privatrecht Körber (Fn. 19), S. 303 ff., und auf das Gesellschaftsrecht Haberer, Zwingendes Kapitalgesellschaftsrecht, 2009, S. 300 ff.; Teichmann, ZGR 2011, 639, 649 ff. 42 S. neben den in Fn. 18 genannten Autoren Müller-Graff, EWS 2009, 489, 495 ff.; Ringe, Beiträge für Hopt, 2008, S. 217 ff.; Schall in FS Meilicke, 2010, S. 651–668.

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b) Marktzutritt oder Marktregeln? Eine erste Argumentationslinie gegen die Kontrolle von gesellschaftsrechtlichen Haftungsregeln am Maßstab der Grundfreiheiten gründet sich auf die Keck-Rechtsprechung zur Warenverkehrsfreiheit.43 In mehreren Grundsatzurteilen hatte der Gerichtshof ausgeführt, dass der inhaltlichen Ausweitung der Verbotswirkung von Grundfreiheiten auf nicht diskriminierende nationale Maßnahmen eine Rückführung der Kontrolldichte korrespondieren müsse: Bloße „Verkaufsmodalitäten“ des nationalen Rechts könnten lediglich dann europarechtlich überprüft werden, wenn sie ausländische Anbieter diskriminieren würden. Daraus ist der Schluss gezogen worden, dass die einzelnen Grundfreiheiten (Niederlassungsfreiheit, Kapitalverkehrsfreiheit) in ihrer Funktion als allgemeine Beschränkungsverbote ausschließlich gegen solche nationalen Normen ins Feld geführt werden können, die den „Marktzutritt“ ausländischer Wirtschaftssubjekte behindern. Demgegenüber seien Normen, die lediglich den allgemeinen Rechtsrahmen für die Teilnahme am inländischen Markt bereit stellen, im Grundsatz als kontrollfrei zu erachten.44 Vor diesem Hintergrund hat sich eine Diskussion zu der Frage entwickelt, ob nationale gesellschaftsrechtliche Haftungsnormen eher in Analogie zu den „Verkaufsmodalitäten“ von der Grundfreiheitenkontrolle auszunehmen sind oder doch eine hohe Relevanz für den „Marktzutritt“ besitzen.45 In Idryma Typou hat Generalanwältin Trstenjak dem Gerichtshof vorgeschlagen, nationale Haftungsregeln im erstgenannten Sinne als bloße „Standortbedingungen“ zu qualifizieren, die lediglich der Prüfung auf offene oder verdeckte Diskriminierungen zugänglich seien.46 Wie bereits erwähnt, hat sich der Gerichtshof der Frage nach der Übertragung der Keck-Grundsätze auf die Kapitalverkehrsund Niederlassungsfreiheit durch den Hinweis auf den „faktisch diskriminierenden“ Charakter der griechischen Haftungsnorm entzogen.47 Allerdings hat der Gerichtshof für die Ausgestaltung von Herrschaftsrechten durch gesellschaftsrechtliche Einzelregelungen in seinen Urteilen zu den „Goldenen Aktien“ bereits dargelegt, dass sie den Marktzutritt von ausländischen Investoren behindern können.48 Auch für Haftungsregeln sprechen aus der Sicht des Binnenmarkts die besseren Gründe für eine Zuordnung zum kontrollbedürftigen Bereich des „Markt-

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43 Eckert, GesRZ 2011, 176 f.; Kindler (Fn. 16); Rüffler, GES 2011, 99, 101 f. 44 S. auch Everling in Gedächtnisschrift Knobbe-Keuk, 1997, S. 607 ff.; Roth in Gedächtnisschrift Knobbe-Keuk, 1997, S. 729 ff. 45 Allgemein zur Anwendung der „Keck-Rechtsprechung“ im Privat- und Gesellschaftsrecht s. Bachmann, AcP 210 (2010), 424, 452 f.; Haberer (Fn. 41), S. 309 ff.; Habersack/Verse (Fn. 2), § 3 Rz. 5 ff.; Körber (Fn. 19), S. 305; Lutter/Bayer/Schmidt (Fn. 2), § 15 Rz. 31; Spindler, RIW 2003, 850 ff., 854; Teichmann, ZGR 2011, 639, 653 ff.; ders. (Fn. 1), S. 116 f.; a. A. Schall (Fn. 42), S. 655 ff.; Eidenmüller/Rehm, ZGR 2004, 159 ff., 167 f. zur Anwendung nationaler Haftungsregeln auf Auslandsgesellschaften. 46 GA Trstenjak (Fn. 16), Rz. 74–77, 116–117. 47 J. Schmidt, EWiR 2010, 693, 694. 48 Ausführliche Würdigung der Rechtsprechung zu den „Goldenen Aktien“ bei: Haberer (Fn. 41), S. 301 ff.; Lutter/Bayer/Schmidt (Fn. 2), § 15 Rz. 9 ff.; Ringe (Fn. 42), S. 217 ff.; Teichmann, ZGR 2011, 639, 654; s. auch Papadopoulos, CMLR 2012, 401, 409.

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zutritts“. Zwar betreffen diese Haftungsregeln formal nicht die Gründung eines Unternehmens oder den Rechtsakt eines Beteiligungserwerbs als solchen. Sie entfalten ihre Wirkung vielmehr erst im Rahmen der laufenden Geschäftstätigkeit der Beteiligungsgesellschaft.49 Dennoch können sie bereits im Vorfeld einen erheblichen Einfluss auf die Entscheidung von Marktbürgern entfalten, sich grenzüberschreitend an einer Gesellschaft zu beteiligen.50 Nicht ohne Grund hat der Gerichtshof in Idryma Typou sogar für die sehr spezielle presserechtliche Durchgriffshaftung des griechischen Rechts die substanzielle Abschreckungswirkung einer solchen Haftungsnorm gegenüber Portfolio-Anlegern konstatiert und daraus den Schluss gezogen, dass diese Norm „ihren Zugang zum Markt für Beteiligungen an Gesellschaften beeinträchtigt“.51 Das Ergebnis sei geradezu „die Negation des freien Kapitalverkehrs“.52 Auch für unternehmerisch beteiligte Gesellschafter besitzt der Ausschluss persönlicher Haftung zentrale Bedeutung für den Eintritt in einen Markt. Dies lässt sich schon daran erkennen, dass der europäische Gesetzgeber im 4. Erwägungsgrund zur Einpersonengesellschafts-RL die europaweite Garantie einer haftungsbeschränkten Rechtsform gerade im Hinblick auf kapitalmarktferne Unternehmen in den Vordergrund gestellt hat: „Es ist notwendig, den Einzelunternehmern in der gesamten Gemeinschaft das rechtliche Instrument einer Gesellschaft mit Haftungsbeschränkung zu bieten, unbeschadet der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten, die diesem Einzelunternehmer in Ausnahmefällen eine Haftung für die Verpflichtungen des Unternehmens auferlegen.“

Dabei hatte die Kommission in erster Linie die Erleichterung grenzüberschreitender Entfaltung für kleine und mittelständische Gesellschaften im Blick. Doch zeigen ihre Erwägungen auch für andere Konstellationen – Konzerntöchter, Portfolioanlagen u.v.m. – die Relevanz der Haftungsbeschränkung im europäischen Rechtsverkehr.53 Der Zugang zu einer haftungsbeschränkten Rechtsform im Zielstaat erleichtert substanziell den grenzüberschreitenden Marktzutritt in der Europäischen Union. Dies korrespondiert der oben geschilderten ökonomischen Annahme, dass nicht nur die Allokation von Personen und Gütern, sondern auch die Wahl der passenden Organisationsform zu den zentralen Instrumenten des Binnenmarkts gehört. Dabei gehört zu den organisatorischen Elementen der selbständigen Gesellschaft auch die Option einer beschränkten Haftung, weil diese nicht nur ganz wesentlich für die Allokation von unternehmerischen Risiken ist, sondern zugleich die Trennung von wirtschaftlicher Zuordnung und Geschäftsleitung stabilisiert. Eine gesellschaftsrechtliche Durchgriffsnorm kann daher

__________ 49 Teichmann, ZGR 2011, 639, 672 f.; s. auch Bitter, Jahrbuch Junger Zivilrechtswissenschaftler, 2004, S. 299–333, S. 316 ff., der nach den Lebensphasen des Unternehmens differenzieren möchte (Kapitalaufbringungsrecht beschränkt den Marktzutritt, Insolvenzverschleppungshaftung nicht). 50 Habersack/Verse (Fn. 2), § 3 Rz. 8; Müller-Graff, EWS 2009, 489, 497. 51 EuGH v. 21.10.2010 (Fn. 16), Rz. 56. 52 EuGH v. 21.10.2010 (Fn. 16), Rz. 69; s. auch die Schlussanträge (Fn. 16), Rz. 72. 53 Grundmann (Fn. 1), § 9 Rz. 287.

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sowohl Kleinaktionäre als auch unternehmerisch engagierte Gesellschafter massiv von der Beteiligung an bestimmten Unternehmen abschrecken. Man wird daher nicht annehmen können, dass gesellschaftsrechtliche Haftungsregeln als bloße „Verkaufsmodalitäten“ oder „Standortbedingungen“ außerhalb des Kontrollbereichs des Beschränkungsverbots im Rahmen von Art. 49 AEUV und Art. 63 Abs. 1 AEUV stehen. c) Typenzwang, Rechtsformwahl und Institutsgarantie aa) Das Problem Die Kontrolle gesellschaftsrechtlicher Haftungsregeln am Maßstab des Beschränkungsverbots ist jedoch auch aus einem anderen Grunde problematisch. Dieser liegt in dem Umstand, dass eine solche Haftungsregelung regelmäßig nicht – wie die für die Judikatur des Gerichtshofs paradigmatischen Fälle der Anordnung einer Registrierungsgebühr oder einer Zulassungsprüfung – äußerlich an den Tatbestand der Niederlassung anschließt. Sie bildet vielmehr einen integralen Bestandteil der Regeln über die jeweils gewählte nationale Rechtsform. Die nähere Ausgestaltung dieser Rechtsform wiederum unterliegt im Ausgangspunkt dem Ermessen des nationalen Gesetzgebers, der den Wirtschaftssubjekten eine bestimmte Anzahl Rechtsformen zur Verfügung stellt und für diesen numerus clausus einen inhaltlichen Typenzwang vorgibt.54 Dieser Typenzwang ist auch durch die Richtlinien der Europäischen Gesetzgebungsorgane nicht eingeschränkt worden.55 Dafür ein Beispiel: Wenn nach § 161 Abs. 1 HGB bei der Kommanditgesellschaft mindestens ein Gesellschafter unbeschränkt für die Gesellschaftsschulden haften muss, so gehört diese Regel zum überkommenen Regelungstypus „Kommanditgesellschaft“ (der in den anderen Mitgliedstaaten der EU seine Entsprechung findet). Darauf sind die Haftungsregeln für die Kommanditisten sowie die Regeln über Geschäftsführung, Handelsregistereintrag, Rechtsnachfolge etc. inhaltlich abgestimmt. Vor dem Hintergrund dieser Grundentscheidung des nationalen Gesellschaftsrechts erscheint es unsinnig, die unbeschränkte Haftung des Komplementärs als „Beschränkung“ der an sich gegebenen Niederlassungsfreiheit des Hauptgesellschafters zu deuten. Die tiefer liegende Frage geht somit dahin, ob es dem nationalen Gesetzgeber im Binnenmarkt vor der Folie der Grundfreiheiten frei steht, welche Rechtsformen er den Wirtschaftssubjekten zur Verfügung stellt. Anders gewendet: Besteht unionsrechtlich die Verpflichtung, haftungsbeschränkte Rechtsformen einzuführen? Dieser Problematik korrespondiert auf der Ebene des nationalen Verfassungsrechts die Frage, ob Art. 9 GG oder Art. 14 GG einen Anspruch auf Bereitstellung einer hinreichenden Vielfalt an Rechtsformen für gemeinsame unternehmerische Tätigkeit begründen. Sie wird heute für das deutsche Ver-

__________ 54 S. allgemein Mülbert, ZHR 159 (1995), 2 ff., 31 f.; zum Gesellschaftsrecht Schön, ZHR 160 (1996), 221, 246 ff. 55 GA Trstenjak (Fn. 16), Rz. 26–27; Mülbert/Nienhaus, RabelsZ 65 (2001), 513 ff., 533 ff.

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fassungsrecht positiv beantwortet.56 Selbst für die Europäische Menschenrechtskonvention wird inzwischen eine solche Anspruchslage diskutiert.57 Im Kontext des europäischen Binnenmarktes liegt eine positive Antwort noch ein Stück näher, gehört doch die Organisationsfreiheit für Unternehmen zu den Kernanliegen der optimalen Ressourcenallokation auf dem Gebiet der Europäischen Union. Sie bedarf allerdings einer Vertiefung in mehreren Stufen. bb) Freie Körperschaftsbildung, Numerus Clausus und freie Rechtsformwahl Eine radikale Position würde darauf abzielen, jedem Marktbürger innerhalb der Europäischen Union die freie Wahl der für seine jeweiligen wirtschaftlichen Aktivitäten geeignetsten Rechtsform zu gewähren. Diese Forderung liefe darauf hinaus, das bisher in keinem Mitgliedstaat der Europäischen Union auf nationaler Ebene verwirklichte Postulat der freien Körperschaftsbildung58 durchzusetzen. Die in der Niederlassungsfreiheit und in der Kapitalverkehrsfreiheit verankerte rechtliche Organisationsfreiheit im Binnenmarkt würde damit auf die Spitze getrieben. Das europäische Recht enthält jedoch keinen Hinweis, dass eine solche freie Körperschaftsbildung verlangt werden kann. Dem steht schon die primärrechtliche Aussage entgegen, dass auf europäischer Ebene Richtlinien zur Angleichung der Schutzvorschriften für Gesellschafter und Dritte geschaffen werden können. Das europäische Recht befürwortet daher keinen schrankenlosen Gestaltungsspielraum der Unternehmen, sondern respektiert das Bedürfnis nach einer staatlichen Abwägung von Unternehmensfreiheit und Drittschutz. In gleicher Weise akzeptiert der Europäische Gerichtshof bei der Anwendung der Grundfreiheiten, dass der nationale Gesetzgeber schutzwürdigen „Allgemeininteressen“ durch zwingendes Recht den Vorrang gegenüber dem Gestaltungswillen von Unternehmen und ihren Gesellschaftern einräumen kann. Diesem Schutz dienen auch der numerus clausus sowie der Typenzwang im nationalen Gesellschaftsrecht.59 Dennoch begründet die Ablehnung des Prinzips freier Körperschaftsbildung kein schrankenloses Ermessen der Mitgliedstaaten der Europäischen Union bei der Festlegung der auf ihrem Territorium zugelassenen Rechtstypen. Sie sind durchaus nicht in der Lage, den numerus clausus ihrer eigenen Rechtsordnung als zwingenden Rechtsrahmen für wirtschaftliche Aktivitäten auf ihrem Staatsgebiet ohne Rücksicht auf den Binnenmarkt durchzusetzen. Die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zur Niederlassungsfreiheit von Gesellschaften – namentlich in den Urteilen in Centros, Überseering und Inspire

__________ 56 BVerfGE 50, 290 ff., 354; BVerfG, NJW 2001, 1618 f.; zuletzt zur Anwalts-GmbH & Co. KG BVerfG, NZG 2012, 343 ff.; Mülbert in FS Hopt, Bd. 2, 2010, S. 1039 ff.; Schön in FS Ulmer, 2003, S. 1359 ff., 1364 ff.; monographisch Schoppe, Aktieneigentum, 2011, S. 28 ff. 57 Fleischer, ZHR 174 (2010), 385 ff., 397 f. 58 K. Schmidt, Gesellschaftsrecht, 4. Aufl. 2002, § 5 II. 59 Haberer (Fn. 41).

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Art – erlaubt den Wirtschaftssubjekten eines Mitgliedstaats, sich zumindest jeder von einem anderen Mitgliedstaat „angebotenen“ Rechtsform zu bedienen, auch wenn keine wirtschaftliche Verbindung zum gewählten Gründungsstaat angestrebt oder hergestellt wird.60 Es reicht aus, dass die gewählte Gesellschaftsform nach den Vorgaben des Gründungsstaats ins Leben gerufen wird. Damit ist das Prinzip europäischer Rechtsformwahlfreiheit statuiert. Auch wenn in jedem einzelnen Mitgliedstaat für das Gesellschaftsrecht numerus clausus und Typenzwang fortbestehen, erweitert sich die Palette der wählbaren Rechtsformen durch den europaweiten Zugriff auf sämtliche verfügbaren Rechtsformen der Mitgliedstaaten der Europäischen Union (und des Europäischen Wirtschaftsraums). Wenn der Marktbürger zwar keinen Anspruch darauf besitzt, Rechtsformen zu wählen, die von keinem der mitgliedstaatlichen Gesetzgeber angeboten werden, aber dennoch von der nationalen Rechtsordnung die Anerkennung der Wahl einer ausländischen Rechtsform verlangen kann, so gelangt man in einem weiteren Schritt zu der Frage, ob das nationale Recht Rechtsformen zur Verfügung stellen muss, die bisher nur das ausländische Recht kennt. Beispielhaft ist die Situation einer deutschen Anwaltsgesellschaft, die als Personengesellschaft eine voll haftungsbeschränkte Rechtsform anstrebt. Hier besteht gegenwärtig die Wahl zwischen der inländischen Partnerschaftsgesellschaft, die allerdings für Verbindlichkeiten aus Mandatsverhältnissen den verantwortlichen Berufsträger in die (nach § 8 Abs. 2, 3 PartGG volle oder begrenzte) persönliche Haftung nimmt, und der britischen limited liability partnership, die sämtlichen Berufsträgern die persönliche Haftung erspart.61 Für sonstige Verbindlichkeiten (Löhne, Mieten, Zinsen) haften die Teilhaber einer deutschen Partnerschaftsgesellschaft – anders als die Partner einer limited liability partnership – ohnehin unbeschränkt (§ 8 Abs. 1 PartGG). Können die an Haftungsbeschränkung interessierten deutschen Anwälte vor diesem Hintergrund vom deutschen Staat die Anerkennung und Eintragung einer „deutschrechtlichen“ LLP verlangen oder – was dem inhaltlich gleichkäme – einer persönlichen Haftung nach § 8 PartGG den Vorwurf der Europarechtswidrigkeit entgegenhalten? Und müsste der deutsche Gesetzgeber sich darauf einlassen, diesen Vorwurf mit Rücksicht auf ein schutzwürdiges Allgemeininteresse und dessen verhältnismäßige Durchsetzung zu entkräften? Müsste er darlegen, dass im deutschen Recht eine Rechtsform mit guten Gründen abgelehnt wird, die in anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Union weitgehend beanstandungsfrei existiert? Oder könnte der deutsche Gesetzgeber schlicht mitteilen, dass er kraft Europarechts zwar gezwungen ist, ausländische Rechtsformen zum Verkehr in Deutschland zuzulassen, seinen eigenen Rechtsformkatalog aber nicht erweitern muss?

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60 Ausführlich Weller, Europäische Rechtswahlfreiheit und Gesellschafterhaftung, 2004; einschränkend in jüngerer Zeit: Roth, Vorgaben der Niederlassungsfreiheit für Gesellschaften, 2010; Teichmann, ZGR 2011, 639, 669. 61 Zum Wettbewerb s. Siems, ZVerglRWiss 107 (2008), 60 ff.; s. nunmehr den „Entwurf eines Gesetzes zur Einführung einer Partnerschaftsgesellschaft mit beschränkter Berufshaftung“ des BMJ v. 15.2.2012.

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3. Rechtsformwahl und Institutsgarantie im Europäischen Gesellschaftsrecht Aus der Sicht der Dogmatik des Binnenmarktes ist damit die Frage aufgeworfen, ob die Grundfreiheiten neben ihrer abwehrrechtlichen Dimension als Diskriminierungs- und Beschränkungsverbote auch als „Institutsgarantie“ für eine hinreichende Auswahl an Rechtsformen interpretiert werden können. Dies korrespondiert der für das allgemeine Privatrecht im Schrifttum bereits akzeptierten Forderung gegen die Mitgliedstaaten auf Schaffung einer binnenmarktkonformen „rechtlichen Infrastruktur“.62 Für die Antwort auf diese Frage bedarf es einer Betrachtung der konkreten Grundfreiheitsregeln des AEUV. Schaut man näher hin, so ergeben sich Anhaltspunkte für die Annahme, dass der nationale Gesetzgeber den Wirtschaftssubjekten eine begrenzte Vielfalt von Rechtsformen anbieten muss und sein Gestaltungsermessen bei der Bereitstellung eines numerus clausus der Rechtsformen beschränkt ist. Im Bereich der Niederlassungsfreiheit wird in Art. 49 Abs. 1 Satz 2 AEUV bewusst zwischen der Gründung von Zweigniederlassungen und der Gründung von Tochtergesellschaften differenziert. Damit wird für Zweitniederlassungen die Alternative zwischen unselbständigen und selbständigen Einrichtungen betont.63 Der Gerichtshof formuliert dazu in ständiger Rechtsprechung, dass „Art. 43 Abs. 1 Satz 2 EG den Wirtschaftsteilnehmern ausdrücklich die Möglichkeit lässt, die geeignete Rechtsform für die Ausübung ihrer Tätigkeiten in einem anderen Mitgliedstaat frei zu wählen […]“.64 Ähnliches lässt sich aus dem in Art. 49 Abs. 2 AEUV formulierten Recht auf „Gründung und Leitung“ von Unternehmen nach Art. 54 Abs. 2 AEUV belegen. Im Bereich der Kapitalverkehrsfreiheit hat der Gerichtshof nunmehr in der Rechtssache Idryma Typou betont, dass der freie Kapitalverkehr „[…] auf Portfolioinvestitionen abzielt, d. h. auf den Erwerb von Wertpapieren auf dem Kapitalmarkt allein in der Absicht einer Geldanlage, ohne auf die Verwaltung und Kontrolle des Unternehmens Einfluss nehmen zu wollen“65. Der bloße Anlage-Gesellschafter ohne Einfluss, aber mit beschränkter Haftung, wird zum Leitbild des Art. 63 Abs. 1 AEUV erklärt. Insgesamt gewährleisten die Niederlassungsfreiheit und die Kapitalverkehrsfreiheit daher einen grundsätzlichen Anspruch auf Bereitstellung unterschiedlicher Rechtsformen für wirtschaftliche Aktivitäten: das Einzelunternehmen, die unternehmerische Beteiligung an einer Gesellschaft (z. B. eine wesentliche Beteiligung an einer GmbH) sowie die Portfolioinvestition in ein fremdes Unternehmen (z. B. als Aktionär). Man kann die Grundfreiheiten daher nicht nur

__________ 62 Grundlegend Steindorff (Fn. 18), S. 45 f.; s. auch Bachmann, AcP 210 (2010), 424, 431; Körber (Fn. 19), S. 433 ff. 63 Lutter/Bayer/Schmidt (Fn. 2), § 4 Rz. 3; Möslein (Fn. 29), S. 204 ff.; Schall (Fn. 42), S. 653 f.; Schön, EWS 2000, S. 281, 283 ff.; früher schon Meyer-Marsilius, Das Niederlassungsrecht in der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, 1960, S. 43; aus steuerlicher Sicht ausführlich Friese (Fn. 23). 64 EuGH v. 4.6.2009 – Verb. Rs. C-439/07 und C-499/07 (KBC Bank), Rz. 77; EuGH v. 29.4.2004 – Rs.C-171/02 (Kommission v. Portugal), Rz. 41–43. 65 EuGH v. 21.10.2010 (Fn. 16), Rz. 69.

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als staatsgerichtete Verbotsnormen, sondern muss sie zugleich als Anspruchsnormen gegen den Niederlassungsstaat i. S. einer „Institutsgarantie“ verstehen. Die Grundfreiheit gewährleistet weiterhin für diese Niederlassung den freien Zugriff auf ausländische Rechtsformen. Das ist der Kern der „freien Wahl“, dass der niederlassungswillige ausländische Marktbürger frei entscheiden kann, ob er im Ausland eine Gesellschaft gründet (und mit dieser eine Zweigniederlassung im Inland betreibt) oder auf eine Gesellschaftsform inländischen Rechts zugreift.66 Für unser Thema lautet die weiter reichende Frage allerdings, ob die genannte „Institutsgarantie“, d. h. die Verpflichtung zur Bereitstellung einer begrenzten Anzahl von Rechtsformen, zugleich eine Verpflichtung zur Bereitstellung haftungsbeschränkter Rechtsformen impliziert. Für den „Anlage-Gesellschafter“, der danach strebt, diversifizierte Kapitalinvestitionen ohne gesellschaftsrechtlichen Einfluss zu tätigen, ergibt sich der Anspruch auf Haftungsbeschränkung aus der weit reichenden Abschreckungswirkung persönlicher Haftung. Eine nationale Haftungsregelung, die dem Aktionär unterstellt und zumutet, im Tätigkeitsbereich des Unternehmens Sachkunde und Einfluss zu besitzen, ist nach Ansicht des Gerichtshofs in Idryma Typou geradezu die „Negation des freien Kapitalverkehrs“. Aber auch für den „Unternehmer-Gesellschafter“ lässt sich sagen, dass die traditionelle Kombination aus Kapitalbeteiligung, Haftungsbeschränkung und Unternehmensleitung den organisatorischen Gestaltungsspielraum für unternehmerisches Handeln wesentlich prägt. Die wesentliche rechtliche und wirtschaftliche Konsequenz der Wahlfreiheit nach Art. 49 Abs. 1 Satz 2 AEUV liegt in der selbständigen Rechtsfähigkeit und damit der grundsätzlichen Haftungsbeschränkung von Tochtergesellschaften.67 In einer wenig beachteten Passage seiner Schlussanträge in der Rechtssache Centros hat Generalanwalt La Pergola dazu ausgeführt: „Die Tochtergesellschaft ist rechtlich unabhängig von der sie beherrschenden Muttergesellschaft […]. Die Tochtergesellschaft kann […] selbst Verträge schließen, falls nicht gegebenenfalls die Muttergesellschaft beim Vertragsschluss als Vertragspartner auftritt […]. Die Tochtergesellschaft hat […] eigenes Vermögen, das für die von ihr begründeten Schulden haftet. Zwischen Muttergesellschaft und Gläubiger schiebt sich der ‚Schirm‘ der Tochtergesellschaft mit eigener Rechtspersönlichkeit.“68

Damit wird hinreichend berücksichtigt, dass aus der Sicht des Binnenmarkts und dessen Ziels einer optimalen Allokation und Organisation von Ressourcen nicht die formale Qualifikation einer unternehmerischen Einheit als „rechtsfähig“ oder „juristische Person“ essentiell ist, sondern die Möglichkeit, die Produktionsfaktoren Kapital und Arbeit zusammenzuführen, ohne den Kapitalgeber mit Aufsichtspflichten und Haftungsrisiken zu versehen. Eine Rechtsordnung, die unternehmerischen Einfluss generell mit persönlicher Haftung

__________ 66 GA La Pergola, Schlussanträge v. 16.7.1998 – Rs. C-212/97 (Centros), EuGHE 1998, S. I-6725 ff., Rz. 31; Schön in FS Lutter, 2000, S. 685 ff., 689 ff. 67 S. auch die Schlussanträge von GA Trstenjak (Fn. 16), Rz. 33. 68 GA La Pergola (Fn. 66), Rz. 15.

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Der Anspruch auf Haftungsbeschränkung im Europäischen Gesellschaftsrecht

verknüpfen würde, genügte demgegenüber nicht dem europäischen Anspruch an eine substanzielle Rechtsformvielfalt für unternehmerische Organisation im europäischen Binnenmarkt. Dies bedeutet aus der Sicht des Marktbürgers, dass ihm gegen einen Staat zwar kein Anspruch auf eine beliebig gestaltbare Rechtsform zusteht, sondern lediglich ein Anspruch auf eine bestimmte Anzahl von Gesellschaftstypen. Diese Typen müssen mit unterschiedlichen Eigenschaften, namentlich Kontroll- und Haftungsregeln, ausgestaltet und dem Bürger zur Auswahl angeboten werden. Die sich daraus ergebende Wahlfreiheit für den Unternehmer oder Anleger stellt den Staat im Gegenzug von der Verpflichtung frei, sämtliche Rechtsformen mit denselben Vorzügen auszustatten. Dies lässt sich erneut am Beispiel der Rechtsanwalts-Gesellschaft darlegen: Wenn der deutsche Gesetzgeber sowohl die Anwalts-GmbH als auch die Anwalts-AG als haftungsbeschränkte Rechtsform für rechtsberatende Tätigkeit bereit stellt, dann stellt es keine Beeinträchtigung der Niederlassungsfreiheit dar, wenn es in den ebenfalls angebotenen Rechtsformen der Gesellschaft bürgerlichen Rechts oder der Partnerschaftsgesellschaft eine begrenzte persönliche Haftung gibt. Wenn ein Gesetzgeber jedoch – wie dies bis in die 80er Jahre hinein in Deutschland der Fall war – Anwaltsgesellschaften prinzipiell die Haftungsbeschränkung verweigert, greift er in ihre Niederlassungsfreiheit ein und muss diese Beeinträchtigung durch die Berufung auf Allgemeininteressen unter Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes rechtfertigen. Das bedeutet auch, dass der deutsche Gesetzgeber gegenwärtig nicht kraft Europarechts verpflichtet ist, eine „deutschrechtliche“ LLP einzuführen. Es bleibt den Betroffenen neben den (haftungsbeschränkten) deutschen Rechtsformen die Möglichkeit, sich im Rahmen der europäischen Rechtswahlfreiheit als britische limited liability partnership zu organisieren. 4. Die Bedeutung der Richtlinien auf dem Gebiet des Europäischen Gesellschaftsrechts für die Haftungsbeschränkung Der nationale Gesetzgeber kann sich somit gegenüber dem europarechtlich begründeten „Anspruch auf Haftungsbeschränkung“ weitgehend damit entlasten, dass er jedenfalls eine Rechtsform für Unternehmer-Gesellschafter und für Anlage-Gesellschafter bereit stellt. Bei der Frage, ob und welche weiteren Unternehmensformen angeboten werden, ist er dann frei – soweit er nicht offene oder verdeckte Diskriminierungen zu Lasten ausländischer Gesellschafter anordnet. Bei den „garantierten“ Rechtsformen hingegen müssen Durchbrechungen der jeweiligen Haftungstrennung durch ein Allgemeininteresse gerechtfertigt und am Maßstab des Verhältnismäßigkeitsprinzips bewertet werden. Das führt zu der Frage, welche nationalen Gesellschaftsformen in diesem Sinne als „garantierte“ Rechtsformen mit Haftungsbeschränkung angesehen werden können. Die Antwort geben die Richtlinien der Europäischen Union auf dem Gebiet des Gesellschaftsrechts. Diese legen der Rechtsangleichung ganz überwiegend eine begrenzte Liste von Rechtsformen (regelmäßig die AG und die 1053

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GmbH sowie deren ausländische Pendants) zu Grunde und ordnen mit Rücksicht auf die dort vorhandene beschränkte Haftung die Angleichung bestimmter Schutzmechanismen an. Damit kann das Verhältnis von Primärrecht und Sekundärrecht zur Frage der Haftungsbeschränkung differenziert dargestellt werden. Mit dem Europäischen Gerichtshof ist anzuerkennen (wie oben ausgeführt), dass die Publizitäts-RL (sowie die übrigen schutzorientierten Richtlinien, z. B. die Kapital-RL oder die Bilanz-RL) nicht zugunsten der Gesellschafter einer Kapitalgesellschaft die Haftungstrennung zwischen Gesellschaft und Gesellschafter anordnen (und schon gar nicht als ausnahmslose Regel bestimmen).69 Indem sie diese Haftungstrennung jedoch voraussetzen, identifizieren sie auf europäischer Ebene diejenigen Rechtsformen, mit deren Hilfe der nationale Gesetzgeber seiner in den Grundfreiheiten niedergelegten Verpflichtung zur Schaffung solcher Rechtsformen nachkommt. Für diese Rechtsformen ist der europäische Gesetzgeber dann befugt, einen harmonisierten Mindestschutz von Gesellschaftern, Gläubigern und anderen Dritten anzuordnen. Der Anspruch auf Haftungsbeschränkung entspringt daher dem Primärrecht, das Gegengewicht bilden die Richtlinien bzw. in den nicht harmonisierten Bereichen das nationale Recht (soweit es diskriminierungsfrei anerkannte Allgemeininteressen in geeigneter, erforderlicher und verhältnismäßiger Weise verfolgt). Daher gilt aus deutscher Sicht: Mit Hilfe der AG und der GmbH erfüllt der deutsche Gesetzgeber den in Art. 49, Art. 63 Abs. 1 AEUV angelegten Anspruch des Marktbürgers auf Bereitstellung haftungsbeschränkter Rechtsformen. Bei den übrigen Rechtsformen des deutschen Rechts, namentlich den Personengesellschaften, besteht hingegen kein europarechtliches Gebot zur Haftungstrennung zwischen Gesellschaft und Gesellschafter. Ebenso wenig besteht ein Anspruch darauf, dass zusätzliche Rechtsformen – z. B. die limited liability partnership – in das deutsche Recht eingeführt werden. Wenn der deutsche Gesetzgeber (oder die deutsche Rechtsprechung) diesen grundsätzlichen Anspruch auf Haftungsbeschränkung bei der GmbH und der AG allerdings durch allgemeine oder spezielle Haftungsnormen in Frage stellen, bedarf dies entweder einer Grundlage in einem Angleichungsakt der Europäischen Union oder einer Legitimation kraft eines anerkannten Allgemeininteresses.

V. Die Rechtfertigung von inländischen Haftungsregeln im Vergleich mit der Anwendung von Haftungsregeln auf Auslandsgesellschaften Nach diesen Ausführungen bedarf die Durchbrechung der Haftungstrennung in der GmbH und in der AG im Einzelfall der Rechtfertigung. Dies gilt aus deutscher Sicht für so unterschiedliche Tatbestände wie die Haftung für existenzvernichtende Eingriffe, für die Rückgewähr von Einlagen oder für konzern-

__________ 69 S. Abschnitt III.

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leitende Maßnahmen nach § 317 AktG.70 Hinzu kommen Tatbestände wie die Verhaftung von Gesellschafterdarlehen (§ 39 Abs. 1 Nr. 5 InsO) oder von wesentlichen Betriebsgrundlagen im Eigentum wesentliche beteiligter Gesellschafter (vgl. § 74 AO für betrieblich veranlasste Steuern). Im Rahmen dieser Abhandlung ist es nicht möglich, einzelne Haftungstatbestände konkret zu subsumieren. Es empfiehlt sich allerdings, die Maßstäbe zu formulieren, an denen nationale Haftungsnormen gemessen werden können und müssen. Dabei kann der Vergleich mit der Anwendung solcher Haftungsregeln auf ausländische Gesellschaften helfen, für die seit der Centros-Entscheidung des Gerichtshofs bereits eine umfangreiche Aufarbeitung stattgefunden hat. Im Ausgangspunkt steht dabei außer Frage, dass Gläubigerschutz sowohl bei Inlands- als auch bei Auslandsgesellschaften ein anerkanntes Allgemeininteresse repräsentiert.71 Doch zeigt sich ein maßgeblicher Unterschied darin, dass ausländische Gesellschaftsformen typischerweise bereits aus ihrem Heimatrecht ein eigenes Bündel an Schutznormen für Minderheitsgesellschafter, Gläubiger und andere Personen „mitbringen“. Die Anwendung deutscher Haftungsregeln auf Auslandsgesellschaften führt daher im Regelfall zu einer Kumulation von Anforderungen, deren Rechtfertigung stärker in Frage gestellt werden muss als die einfache Anwendung des Regelregimes auf inländische Gesellschaften.72 Daraus ergeben sich die folgenden Schlussfolgerungen: – Der mitgliedstaatliche Gesetzgeber ist bei der Auswahl des eigenen Systems zum Schutz der Gläubiger im Grundsatz frei.73 Das bedeutet, dass ein Staat bei der Konturierung der eigenen Rechtsregeln Instrumente zum Einsatz bringen darf, die gegenüber Auslandsgesellschaften nicht zur Anwendung kommen dürfen. Beispielhaft sind die Regelungen zum Mindestkapital. Während der Gerichtshof seit Centros in ständiger Rechtsprechung judiziert, dass das Fehlen von Mindestkapitalregeln bei einer ausländischen Kapitalgesellschaft (außerhalb des Anwendungsbereichs der Kapital-RL) nicht zum Anlass für weitergehende inländische Schutzmaßnahmen genommen werden darf,74 ist ein inländischer Gesetzgeber frei, für die nach eigenem Recht gegründeten Gesellschaften ein solches System zu etablieren und durch Regeln über Kapitalaufbringung und -erhaltung zu sichern. Ein anderes Beispiel bieten die differenzierten Regeln des deutschen Konzernrechts. Auch wenn in den meisten Mitgliedstaaten der Europäischen Union der Schutz der Gläubiger konzernangehöriger Gesellschaften nach allgemeinem

__________ 70 Dabei lässt sich dem Europäischen Recht keine Differenzierung nach der Regelungstechnik entnehmen (anders Rüffler, GES 2011, 99, 102 f.), der den Grundfreiheiten nur Wirkung gegenüber einer Außenhaftung der Gesellschafter zuerkennt. 71 Müller-Graff, EWS 2009, 489, 497. 72 Eidenmüller, JZ 2004, 24, 27 ff.; Eidenmüller/Rehm, ZGR 2004, 159, 173 ff.; Lutter/ Bayer/Schmidt (Fn. 2), § 15 Rz. 32; s. auch Bitter (Fn. 49), S. 324 ff. (kein volles Herkunftslandprinzip). 73 Steindorff (Fn. 18), S. 88 ff. 74 S. Fn. 8–10.

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Gesellschaftsrecht beurteilt wird, hindert dies nicht die Institutionalisierung spezieller konzernrechtlicher Haftungsregeln im deutschen Kapitalgesellschaftsrecht. Dieses grundsätzliche Gestaltungsermessen des nationalen Gesetzgebers korrespondiert dem Gedanken eines gemäßigten Wettbewerbs der Regelgeber in der Europäischen Union.75 – Der mitgliedstaatliche Gesetzgeber muss die Steuerungswirkungen seiner Haftungsregeln auf ihre Eignung, Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit prüfen. Für diese Kontrolle am Maßstab der Grundfreiheiten ist der Fall Idryma Typou beispielgebend. Im Hinblick auf das Ziel des griechischen Gesetzes, nämlich die Gesellschafter von Presseunternehmen zur Überwachung der Publikationstätigkeit anzuhalten, erwies sich die persönliche Haftung von Kleinbeteiligten als ungeeignet oder jedenfalls als unverhältnismäßig. Die Problematik lässt sich dahin verallgemeinern, ob eine generelle Durchgriffshaftung bei Kapitalgesellschaften für deliktische Verbindlichkeiten mit der Niederlassungsfreiheit bzw. der Kapitalverkehrsfreiheit vereinbar wäre. Im US-Schrifttum wird dies erwogen, um die Risiken aus gefahrbringenden Unternehmensaktivitäten angemessen zwischen Deliktsopfern und Kapitalgebern zu verteilen.76 Aus der Sicht der Niederlassungsfreiheit wäre eine solche allgemeine Deliktshaftung von Teilhabern jedenfalls dann abzulehnen, wenn diese Haftung gesamtschuldnerisch angelegt und damit hochgradig abschreckend wäre. Ob auch eine teilschuldnerische Haftung wegen der damit verbundenen Abschreckungseffekte gegen die Grundfreiheiten verstoßen würde, bedürfte näherer Prüfung. Akzeptiert werden könnte in jedem Fall eine deliktische Gesellschafterhaftung, die sich auf eigenes Fehlverhalten der Gesellschafter stützen lässt. – Problematisch sind vor allem Haftungsregeln, die nicht an individuelles Verhalten der haftenden Personen anknüpfen, sondern an das Handeln dritter Personen oder an einen bloßen Zustand. Vor diesem Hintergrund ist bereits früher betont worden, dass eine Vermutungsregel, auf deren Grundlage der Inhaber einer Mehrheitsbeteiligung an einer GmbH im Zweifel für deren Verbindlichkeiten im Insolvenzfall einstehen muss, mit der Niederlassungsfreiheit nicht vereinbar wäre.77 Gleiches würde für eine Insolvenzverschleppungshaftung von Gesellschaftern gelten, die keinen Einfluss auf die Geschäftsführung nehmen. Schließlich ist die Legitimität von § 74 AO zweifelhaft, der für betriebliche Schulden einen generellen Zugriff auf die dem Gesellschafter gehörenden wesentlichen Betriebsgrundlagen einer Kapitalgesellschaft anordnet (und damit insbesondere bei einer Betriebsaufspaltung die privatautonome Trennung der Vermögenssphären aufhebt). Wenn man dies als Maßnahme gegen die missbräuchliche Aufspaltung der Haftungssubstanz des Unternehmens versteht, wird man dem Gesellschafter zumindest

__________ 75 Schön, ZHR 160 (1996), 221, 248. 76 Nachweise bei: Kraakman et al., The Anatomy of Corporate Law, 2. Aufl. 2009, S. 120 f. 77 S. Fn. 18.

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die Chance zur Widerlegung der Missbrauchsvermutung geben müssen.78 Wenn man § 74 AO als objektive Haftung des „Betriebs als solchen“ versteht, erscheint nicht kohärent, dass diese nur solche wesentlichen Betriebsgrundlagen in die Haftung einschließt, die im Eigentum eines wesentlich beteiligten Gesellschafters stehen.

VI. Schluss Der Fall Idryma Typou hat erstmals die Bedeutung der Grundfreiheiten des Binnenmarkts für die gesellschaftsrechtlichen Haftungsregeln der nationalen Rechte in den Mitgliedstaaten verdeutlicht. Nicht nur die Anwendung von inländischen Haftungsnormen auf Auslandsgesellschaften, sondern auch die Konstruktion des mitgliedstaatlichen Rechts als solche steht auf dem Prüfstand, wenn und soweit der Anspruch des europäischen Wirtschaftsbürgers auf die Verfügbarkeit haftungsbeschränkter Rechtsformen gefährdet ist. Die europäischen Richtlinien machen deutlich, dass die Mitgliedstaaten diesen Anspruch auf Haftungsbeschränkung durch die AG, die GmbH und ihre europäischen Verwandten erfüllen. Dann sind sie allerdings gehindert, Einstandspflichten der Gesellschafter für Gesellschaftsschulden einzuordnen, wenn das Regelwerk sich als ungeeignet, nicht erforderlich, nicht verhältnismäßig oder als diskriminierend erweist. Dabei muss dem nationalen Gesetzgeber im Hinblick auf die nach dem eigenen Recht gegründeten Gesellschaften ein größeres Ermessen zukommen als im Hinblick auf nach ausländischem Recht gegründete Gesellschaften. Eine deliktische Haftung ohne Zurechnungszusammenhang, eine bloße Zustandshaftung oder weit reichende Vermutungswirkungen verletzen die Niederlassungsfreiheit oder die Kapitalverkehrsfreiheit im Europäischen Binnenmarkt. Der Anspruch auf Haftungsbeschränkung im Europäischen Gesellschaftsrecht bildet daher einen wichtigen Baustein der Organisationsfreiheit im Binnenmarkt. Er gründet sich auf die Verantwortung der mitgliedstaatlichen Gesetzgeber zur Schaffung einer dem Binnenmarkt angemessenen privatrechtlichen Infrastruktur.

__________ 78 Zum Rechtsmissbrauch im Europäischen Gesellschaftsrecht s. Fleischer, JZ 2003, 865 ff.; Ringe in de la Feria/Vogenauer (Hrsg.), Prohibition of Abuse of Law, 2011, S. 107 ff.; Schön in FS Wiedemann, 2002, S. 1271 ff.

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Gesetzliche Beschränkungen der Vertretungsmacht von Kapitalgesellschaftsorganvertretern im Europäischen Recht Inhaltsübersicht I. Einführung II. Der differenzierende Regelungsansatz der Publizitätsrichtlinie III. Gesetzliche Beschränkungen in der Praxis des Europäischen Gesellschaftsrechts 1. Schwer auszumessende Grauzone 2. Zustimmungsvorbehalte zugunsten der Gesellschafterversammlung im polnischen Recht

3. Geschäftsführer ohne Vertretungsmacht bei der rumänischen GmbH IV. Diskussion 1. Die polnischen Zustimmungsvorbehalte 2. Die entmachteten rumänischen Geschäftsführer V. Resümee

I. Einführung Als im Jahre 1968 die erste gesellschaftsrechtliche Richtlinie der EWG1 verabschiedet wurde, für die sich in Deutschland schnell die Kennzeichnung „Publizitätsrichtlinie“ einbürgerte, da wurde dies von Marcus Lutter – rückblickend völlig zu Recht – als Beginn eines neuen Abschnittes in der Entwicklung und Ausgestaltung der Europäischen Wirtschaftsunion gewürdigt.2 Zu den besonders wichtigen Änderungen gegenüber den in Europa bis dahin verbreitet geltenden Rechtsregeln zählte nach Ansicht Lutters Art. 10 der Richtlinie.3 In den folgenden Jahren und Jahrzehnten hat sich das rechtswissenschaftliche Schrifttum immer wieder mit dieser Vorschrift beschäftigt. Da der Kerngehalt der Norm in Deutschland einer bereits seit langer Zeit gepflegten Übung entsprach, interessierte man sich in erster Linie für deren Einschränkungen. Insoweit konzentrierte sich die Aufmerksamkeit auf spezielle Konstellationen wie den Missbrauch der Vertretungsmacht oder das In-sich-Geschäft,4

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1 Erste Richtlinie 68/151/EWG des Rates zur Koordinierung der Schutzbestimmungen, die in den Mitgliedstaaten den Gesellschaften im Sinne des Artikels 58 Absatz 2 des Vertrags im Interesse der Gesellschafter sowie Dritter vorgeschrieben sind, um diese Bestimmungen gleichwertig zu gestalten, ABl. L 65, S. 8. Im Jahr 2009 ist die mehrfach geänderte (alte) Publizitätsrichtlinie „aus Gründen der Klarheit und der Übersichtlichkeit“ redaktionell überarbeitet und neu kodifiziert worden (Richtlinie 2009/101/EG, ABl. L 258, S. 11). Nachfolgend werden die Artikelbezeichnungen der neuen Publizitätsrichtlinie verwendet. 2 Lutter, EuR 1969, 1. 3 Lutter, EuR 1969, 1, 6. 4 Vgl. etwa Auer, GesRZ 2000, 138 ff.; Fleischer in FS Ulrich Huber, 2006, S. 719 ff.; Meilicke, RIW 1996, 713 ff.; Schmid, AG 1998, 127 ff.; Schwab, ZGR 2000, 446 ff.

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über die auch bereits der Europäische Gerichtshof zu entscheiden hatte.5 Demgegenüber hat die in Art. 10 Abs. 1 Satz 1 der Richtlinie enthaltene Ausnahmeregel für gesetzliche Beschränkungen der Vertretungsmacht, um die es im Folgenden gehen soll, bisher deutlich weniger Beachtung gefunden. Da das Europäische Gesellschaftsrecht stets ein wichtiges Feld des wissenschaftlichen Wirkens von Peter Hommelhoff gebildet hat,6 darf der Beitrag auf das Interesse des Jubilars hoffen.

II. Der differenzierende Regelungsansatz der Publizitätsrichtlinie Die in Art. 10 der Publizitätsrichtlinie enthaltenen Bestimmungen werden zumeist als Sieg des Grundsatzes von der unbeschränkten und unbeschränkbaren Vertretungsmacht gefeiert,7 der das deutsche Gesellschaftsrecht seit der Verabschiedung des Allgemeinen Deutschen Handelsgesetzbuches von 1861 kennzeichnet.8 Dass sich dieser Grundsatz gegenüber dem sog. Spezialitätsprinzip der romanischen Rechtsordnungen, aber auch gegenüber der angloamerikanischen ultra vires-Doktrin gemeinschaftsweit hat durchsetzen können,9 ist in erster Linie darauf zurückzuführen, dass die strikte Ausrichtung auf den Schutz des Rechtsverkehrs, die mit ihm verbunden ist,10 am besten den Integrationsbedürfnissen entspricht:11 Europaweit dürfen Dritte bei geschäftlichen Kontakten mit Kapitalgesellschaften grundsätzlich darauf vertrauen, dass die zur Vertretung berechtigten Organmitglieder die Gesellschaft wirksam verpflichten können. Die Dritten müssen sich lediglich über die Person der vertretungsberechtigten Organmitglieder informieren, was unschwer möglich und seit jeher auch bei rechtsgeschäftlichen Kontakten innerhalb eines Mitgliedstaats erforderlich ist. Dagegen brauchen sie sich nicht für die Regelungen der einzelnen Satzung über den Unternehmensgegenstand und die Zuständigkeit der verschiedenen Gesellschaftsorgane interessieren. Diese sehr weitreichende Rechtssicherheit konnte erzielt werden, ohne dass die Bestimmungen über die innere Organisation der Kapitalgesellschaften angeglichen werden mussten.

__________ 5 EuGH v. 16.12.1997 – Rs. C-104/96 („Rabobank“), EuZW 1998, 92. 6 Aus Platzgründen wird hier auf das Schriftenverzeichnis im Anhang der Festschrift verwiesen. 7 So bereits Ankele, GmbHR 1969, 52, 53; Einmahl, AG 1969, 167, 169; Lutter, EuR 1969, 1, 4; vgl. zudem Grundmann, Europäisches Gesellschaftsrecht, 2. Aufl. 2011, S. 117; Hommelhoff, AcP 192 (1992), 71, 81; Schwarz, Europäisches Gesellschaftsrecht, 2000, S. 220. 8 Zur geschichtlichen Dimension s. nur Fleischer (Fn. 4), S. 720. 9 Zu den „Konkurrenzmodellen“ etwa Boden, Die Vertretungsmacht der Verwaltungsorgane in den Kapitalgesellschaften der EWG-Staaten und Artikel 9 der Ersten Richtlinie des Rates vom 9. März 1968, 1970, S. 2 ff.; Fleischer (Fn. 4), S. 721 ff.; Zimmer, Internationales Gesellschaftsrecht, 1996, S. 241 ff. 10 Der Schutz der Gesellschaft und der Gesellschafter hat nach tradierter deutscher Ansicht insoweit hinter den Schutz des Rechtsverkehrs zurückzutreten, vgl. nur die Begründung zum AktG-Regierungsentwurf bei Kropff, AktG, 1965, S. 103. 11 So bereits Lutter/Pfrommer, GmbHR 1966, 201, 209; ferner Fleischer (Fn. 4), S. 723; Grundmann (Fn. 7), S. 117, Rz. 213.

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Allerdings normiert Art. 10 Abs. 1 Satz 1 Publizitätsrichtlinie eine Ausnahme von der allgemeinen Regel, die vom Schrifttum zumeist nur mit wenigen Sätzen erläutert wird: Gemäß dieser Vorschrift greife der Grundsatz der unbeschränkten Vertretungsmacht dann nicht ein, wenn die Handlungen der Organe einer Gesellschaft die Befugnisse überschritten, die nach dem Gesetz derartigen Organen zugewiesen seien oder zugewiesen werden könnten. Die Vertretungsbefugnis sei demnach nur im Rahmen der gesetzlichen Zuständigkeitsordnung unbeschränkt. Ein kompetenzwidriges Organhandeln, das den Zuständigkeitsbereich eines anderen Organs verletze, brauche sich die Gesellschaft daher nicht entgegenhalten zu lassen.12 Hier kommt es also zu einer Ungleichbehandlung von gesellschaftsvertraglichen und gesetzlichen Beschränkungen. Diese Ungleichbehandlung wird als letztendliche Konsequenz der Tatsache angesehen, dass die Bemühungen um eine Harmonisierung der unterschiedlichen mitgliedsstaatlichen Regelungen über die innere Organisation und Struktur der Gesellschaften (insb. das Projekt einer 5. Richtlinie) gescheitert sind.13 Da es mithin in den verschiedenen Mitgliedstaaten zulässigerweise abweichende Kompetenzregelungen gebe, müsse sich der Dritte zunächst Gewissheit darüber verschaffen, dass die Zuständigkeit für die Vertretung im konkreten Fall bei dem handelnden Organ liege.14 Hierfür habe er aber nicht zu überprüfen, welche Zuständigkeit dem Organ in der konkreten Gesellschaft zukomme. Er müsse lediglich in das Gesetz schauen und ermitteln, welche Kompetenzen das Organ überhaupt haben könne.15 Ein solcher Blick in das Gesetz bzw. auf die gesetzliche Kompetenzverteilung sei nicht nur im nationalen, sondern auch im grenzüberschreitenden Verkehr zumutbar.16 In gewisser Weise ist dieser Blick ins nationale Gesetz, der dem Rechtsverkehr zugemutet wird, also der „Preis“ für die nicht erfolgte Angleichung der entsprechenden mitgliedsstaatlichen Regeln. Doch schien dieser Preis im Jahr 1969 nicht sonderlich hoch zu sein: Die in den sechs Gründungsmitgliedstaaten bekannten gesetzlichen Ausnahmen, in denen die wirksame Vertretung der Gesellschaft an die Zustimmung der Gesellschafterversammlung oder des Aufsichtsrats gebunden wurde, waren zwar nicht völlig deckungsgleich, stimmten aber in ihrem Kernbereich (insb. Fusionen, Übertragung des gesamten Vermögens, Veräußerung oder Verpachtung des Unternehmens u. Ä.) weitgehend überein;17 der gewöhnliche Geschäftsverkehr war praktisch nicht betroffen.18 Unterdessen ist allerdings aus der Gemeinschaft der 6 eine Union der 27 geworden und gerade die Gesellschaftsrechte der ostmittel- und südosteuro-

__________ 12 So Habersack/Verse, Europäisches Gesellschaftsrecht, 4. Aufl. 2011, § 5 Rz. 34; vgl. auch Fischer-Zernin, Der Rechtsangleichungserfolg der Ersten gesellschaftsrechtlichen Richtlinie der EWG, 1986, S. 239 f., 315; Kindler in FS Marcus Lutter, 2000, S. 483, 485. 13 Habersack/Verse (Fn. 12), § 5 Rz. 34. 14 Habersack/Verse (Fn. 12), § 5 Rz. 34; Schwarz, ZHR 166 (2002), 625, 629. 15 Fischer-Zernin (Fn. 12), S. 315 f.; Grundmann (Fn. 7), S. 118. 16 Vgl. etwa Auer, GesRZ 2000, 138, 145; Fleischer, NZG 2005, 529; Meilicke, RIW 1996, 713, 716. 17 Hierzu Boden (Fn. 9), S. 217 ff., insb. 219 f., 274. 18 Fischer-Zernin (Fn. 12), S. 268 f., 314.

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päischen Beitrittsstaaten sind im Westen weitgehend unbekannt. Im Folgenden sollen daher einige aus diesem Fundus stammende Regelungen vorgestellt und auf ihre Vereinbarkeit mit Art. 10 der Publizitätsrichtlinie hin überprüft werden.19

III. Gesetzliche Beschränkungen in der Praxis des Europäischen Gesellschaftsrechts 1. Schwer auszumessende Grauzone Bei der näheren Beschäftigung mit der Problematik stößt man schnell auf eine „Grauzone“, in der trotz eingehender Auseinandersetzung mit Rechtsprechung und Schrifttum des jeweiligen Mitgliedstaates nicht sicher ermittelt werden kann, ob Verstöße gegen gesetzliche Regelungen, welche die Kompetenz von Gesellschaftsorganen berühren, ins Außenverhältnis durchschlagen sollen oder nicht. So findet sich z. B. in § 28 Abs. 2 des ungarischen Gesetzes über die Wirtschaftsgesellschaften20 eine Regelung, wonach durch den Gesellschaftsvertrag oder einen Beschluss der Gesellschafterversammlung die Ausübung der Arbeitgeberrechte beim Vorhandensein mehrerer „leitender Repräsentanten“ (gemeint sind Geschäftsführer oder Vorstände) auf einen dieser Repräsentanten oder auf einen Angestellten der Gesellschaft übertragen werden kann. Hieran anknüpfend ordnet § 74 Abs. 2 und 3 des Arbeitsgesetzbuches21 mit zwingendem Geltungsanspruch an, dass – falls die Arbeitgeberbefugnis nicht von dem dazu berechtigten Organ bzw. der dazu berechtigten Person ausgeübt werde – das Vorgehen grundsätzlich „ungültig“ sei; etwas anderes gelte lediglich, wenn der Arbeitnehmer aus den Umständen heraus begründet auf eine Berechtigung der handelnden Person habe schließen können. Das gesellschaftsrechtliche Schrifttum Ungarns gibt den Wortlaut dieser Regelungen wieder, ohne sich näher mit deren Wirkungen zu beschäftigen;22 die arbeitsrechtliche Literatur hält die „Ungültigkeit“ hoch, ohne auch nur einen Versuch zu unternehmen, den Kreis der erfassten Maßnahmen genauer zu bestimmen.23 Bei diesen und anderen Fragen herrscht mithin eine erhebliche Rechtsunsicherheit.

__________ 19 Keinesfalls soll mit dieser Ausrichtung der Untersuchung unterstellt werden, mögliche Verstöße gegen die Vorgaben der Richtlinie seien nur in den Beitrittsstaaten anzutreffen. Zweifel an der konkreten Umsetzung in den alten Mitgliedstaaten äußert z. B. Lutter, Europäisches Unternehmensrecht, 4. Aufl. 1996, S. 102 f. 20 Gesetz Nr. IV/2006 über die Wirtschaftsgesellschaften (GWiG) verabschiedet am 19.12.2005, verkündet am 4.1.2006 im Magyar Közlöny 1/2006, S. 24. 21 Gesetz Nr. XXII/1992 verabschiedet am 30.5.1992, verkündet am 4.5.1992 im Magyar Közlöny 45/1992, S. 1613. 22 S. nur Kisfaludi in Großkommentar zum GWiG, 2008, S. 417 Rz. 1469, wo hierzu im Wesentlichen lediglich betont wird, dass der Geschäftsführer die Arbeitgeberrechte nur dann ausübe, wenn der Gesellschaftsvertrag nichts anderes verfüge. 23 Vgl. etwa Breznay, A munka törvénykönyve 2010 (Das Arbeitsgesetzbuch 2010), KompKonzult, 2010, S. 134.

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2. Zustimmungsvorbehalte zugunsten der Gesellschafterversammlung im polnischen Recht Das polnische Kapitalgesellschaftsrecht, das seit dem Jahr 2000 im Gesetzbuch über die Handelsgesellschaften (Kodeks spó»ek handlowych = KSH)24 geregelt ist, kennt einige – dem deutschen Recht unbekannte – Zustimmungsvorbehalte zugunsten der Gesellschafterversammlung. Hierbei handelt es sich überwiegend um tradierte Institute des polnischen Rechts, die bereits im Handelsgesetzbuch aus dem Jahre 193425 enthalten gewesen sind.26 Demgegenüber dürfte die Vorschrift des Art. 17 KSH schon mit Blick auf die Publizitätsrichtlinie getroffen worden sein. Diese Regelung befindet sich im Allgemeinen Teil des Gesetzbuches, im Abschnitt für die Kapitalgesellschaften, und gilt daher in gleicher Weise für die Gesellschaft mit beschränkter Haftung (Spó»ka z ograniczona3 odpowiedzialnos´cia3 = Sp. z o.o.) wie für die Aktiengesellschaft (Spó»ka akcyjna = SA). Art. 17 § 1 KSH beschäftigt sich mit den Fällen, in denen das Gesetz für die Vornahme eines Rechtsgeschäfts durch die Gesellschaft einen Beschluss der Gesellschafter- bzw. Hauptversammlung oder des Aufsichtsrats verlangt: Werde ein solches Rechtsgeschäft ohne den erforderlichen Beschluss vorgenommen, so sei es nichtig. Allerdings kann die Zustimmung gemäß Art. 17 Abs. 2 KSH auch noch rückwirkend innerhalb einer Frist von 2 Monaten nach Abgabe der Erklärung durch die Gesellschaft erteilt werden. In Art. 17 § 3 KSH geht es dagegen um Zustimmungsvorbehalte, die (lediglich) vom Gesellschaftsvertrag bzw. in der Satzung geregelt werden. Ausdrücklich wird bestimmt, dass das Fehlen der Zustimmung des zuständigen Organs keine Nichtigkeit des fraglichen Geschäfts bewirke. Die Zustimmung der Gesellschafterversammlung einer Sp. z o.o. bzw. der Hauptversammlung einer SA ist zunächst erforderlich für die Veräußerung und Verpachtung des Unternehmens der Gesellschaft oder eines organisierten Teils davon sowie für die Bestellung von beschränkt dinglichen Rechten an demselben (Art. 228 Ziffer 3 und Art. 393 Ziffer 3 KSH).27 Ferner verlangt das Gesetz eine Zustimmung der Gesellschafter- bzw. Hauptversammlung für den Erwerb und die Veräußerung von Immobilien, des Erbnießbrauchs oder eines Anteils an einer Immobilie (Art. 228 Ziffer 4 und Art. 393 Ziffer 4 KSH).28 Schließlich ist hier noch auf eine Beschränkung einzugehen, die sich lediglich im Recht der Sp. z o.o. findet: Nach Art. 230 KSH ist für die Verfügung über

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24 Ustawa Kodeks spó»ek handlowych z dnia 15 wrzes´nia 2000 r. [15.9.2000], Dz. U. Nr. 94 Pos. 1037. 25 Rozporza3dzenie Prezydenta Rzeczypospolitej z dnia 27 czerwca 1934 r. – Kodeks Handlowy [Verordnung des Staatspräsidenten vom 27.6.1934 – Handelsgesetzbuch], Dz. U. R. P. Nr. 57 Pos. 502. 26 Zur Entwicklung des polnischen Gesellschaftsrechts im Verlauf des 20. Jahrhunderts s. nur J. Schubel, Gestaltungsfreiheit und Gestaltungsgrenzen im polnischen Vertragskonzernrecht, 2010, S. 7 ff. 27 Entsprechende Regelungen hatten bereits Art. 221 Ziffer 3 und Art. 388 Ziffer 3 des polnischen HGB von 1934 enthalten. 28 Auch diese Beschränkungen finden sich bereits im HGB-1934, vgl. Art. 221 Ziffer 4 und Art. 388 Ziffer 4 HGB, wobei die letztere Bestimmung allerdings lediglich bei der Veräußerung von Fabrikgrundstücken eine Zustimmung forderte.

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ein Recht oder das Eingehen einer Verpflichtung zu einer Leistung, deren Wert doppelt so hoch ist wie der Wert des Stammkapitals, ein Beschluss der Gesellschafter erforderlich.29 Fast alle diese gesetzlichen Vorschriften regeln explizit, dass die jeweilige Beschränkung der Vertretungsbefugnis des Vorstandes30 durch den Gesellschaftsvertrag bzw. die Satzung abbedungen werden kann. Lediglich bei Art. 228 Ziffer 3 KSH (Veräußerung und Verpachtung des Unternehmens einer Sp. z o.o.) fehlt ein derartiger Hinweis. Folgerichtig vertritt das polnische rechtswissenschaftliche Schrifttum die Ansicht, auf diesen Zustimmungsvorbehalt könne nicht durch eine gesellschaftsvertragliche Regelung verzichtet werden.31 Ausdrücklich bestimmt Art. 230 Satz 2 KSH (Rechtsgeschäft über doppelten Stammkapitalswert), dass auf diese Beschränkung Art. 17 § 1 KSH nicht zur Anwendung kommt. Selbst wenn gegen den gesetzlichen Zustimmungsvorhalt des Art. 230 Satz 1 verstoßen wird, schlägt also ein solcher Verstoß nicht ins Außenverhältnis durch, wird die Wirksamkeit des verbotswidrig abgeschlossenen Rechtsgeschäfts nicht beeinträchtigt. Die Vorschrift des Art. 230 Satz 2 KSH ist Ende 2003 von der ersten größeren Novelle zum KSH,32 mit der die Bestimmungen des Gesetzbuches nochmals an das Gemeinschaftsrecht angepasst werden sollten, eingefügt worden.33 Möglicherweise hatte der polnische Gesetzgeber Bedenken hinsichtlich der Richtlinienkonformität der Regelung des Art. 230 (Satz 1) i. V. m. Art. 17 § 1 KSH. Bei den übrigen erwähnten Beschränkungen bestanden dagegen anscheinend keine derartigen Bedenken. Jedenfalls sah man keine Veranlassung, auch bei ihnen ausdrücklich zu bestimmen, dass Art. 17 § 1 KSH nicht zur Anwendung kommt. Vor diesem Hintergrund ist es an sich nur konsequent, wenn das polnische gesellschaftsrechtliche Schrifttum auf dem Standpunkt steht, dass Verstöße gegen Art. 228 Ziffer 3 und 4 sowie Art. 393 Ziffer 3 und 4 KSH gemäß Art. 17 § 1 KSH ins Außenverhältnis durchschlagen.34 Praktische Bedeutung hat dies vor allem für

__________ 29 In Art. 222 HGB-1934 findet sich eine – auf dem ersten Blick vergleichbare – Vorschrift, die schon bei geringen Beträgen eingreift (ein Fünftel des Stammkapitals), aber auf den Zeitraum von zwei Jahren nach der Registrierung begrenzt ist. 30 Die Sp. z o.o. hat wie die SA einen Vorstand und keine Geschäftsführer. 31 Vgl. Litwin´ska-Werner, Kodeks spó»ek handlowych. Komentarz [Gesetzbuch der Handelsgesellschaften. Kommentar], 3. Aufl. Warszawa 2007, Art. 228 Rz. 1; Szajkowski/Tarska/Szumañski in So»tysin´ski, Szajkowski, Szuman´ski, Szwaja, Kodeks spó»ek handlowych. Komentarz. Tom II [Gesetzbuch der Handelsgesellschaften. Kommentar. Band 2], 2. Aufl. Warszawa 2005, Art. 228 Rz. 3. 32 Gesetz v. 12.12.2003, Dz. U. Nr. 229 Pos. 2276. 33 Vgl. Lewandowski/Kwasnicki, WiRO 2004, 234, 237. 34 Vgl. u. a. Litwin´ska-Werner, KSH-Kommentar, (Fn. 31), Art. 17 Rz. 1 ff.; Strze3pka/ Zielin´ska in Strze3pka (Hrsg.), Kodeks spó»ek handlowych, 4. Aufl. Warszawa 2009, Art. 17 Rz. 2; Szuman´ski in So»tysin´ski, Szajkowski, Szuman´ski, Szwaja, Tarska, Kodeks spó»ek handlowych. Komentarz. Tom I [Gesetzbuch der Handelsgesellschaften. Kommentar. Band 1], 2. Aufl. Warszawa 2006, Art. 17 Rz. 27. Umstritten ist allerdings, ob ein Rechtsgeschäft, für welches im Voraus keine Zustimmung erteilt wurde, tatsächlich nichtig ist; so u. a. Szuman´ski (a. a. O.), Art. 17 Rz. 29; für eine schwebende Unwirksamkeit dagegen u. a. Radwan´ski, System prawa prywatnego, Prawo cywilne – cze3s´c´ ogólna, Tom 2 [System des Privatrechts, Zivilrecht – Allge-

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Gesetzliche Beschränkungen der Vertretungsmacht

Immobiliengeschäfte, wo verbotswidrige (und daher nichtige) Geschäfte relativ häufig auch die Gerichte beschäftigen.35 3. Geschäftsführer ohne Vertretungsmacht bei der rumänischen GmbH Im gesellschaftsrechtlichen Schrifttum Rumäniens wird bei der Gesellschaft mit beschränkter Haftung (Societate cu r|spundere limitat| = S.R.L.)36 verbreitet zwischen Geschäftsführern mit Vertretungsmacht und solchen, die über keine Vertretungsmacht verfügen, unterschieden.37 Grundlage dieser Differenzierung bildet die Mandatstheorie: Noch immer wird von vielen rumänischen Autoren der Geschäftsführer als bloßer Mandatar der Gesellschaft betrachtet.38 Im rumänischen Recht kann nun das Handelsmandat mit oder ohne eine Vertretungsbefugnis ausgestattet sein.39 Soweit sich das rumänische Schrifttum in der Vergangenheit überhaupt eingehender mit dieser Problematik beschäftigte, wurde zudem mitunter die Ansicht vertreten, die Vertretungsbefugnis werde den S.R.L.-Geschäftsführern nicht „gesetzlich verliehen“, sondern erst der einzelnen Person durch die Gründungsurkunde (Art. 7 lit. e und Art. 70 I des Gesetzes über die Handelsgesellschaften = HGG) oder durch den Bestellungsbeschluss (Art. 77 Abs. 1 i. V. m. Art. 197 Abs. 3 HGG) ausdrücklich zugewiesen.40 Art. 197 Abs. 3 HGG verweist ferner auf Art. 75 HGG, wonach das Vertretungsrecht jedem Geschäftsführer zukommen soll, es sei denn, dass die Gründungsurkunde etwas anderes vorsieht. Diesem Verweis lässt sich nach Ansicht des rumänischen Schrifttums entnehmen, dass die Gründungsurkun-

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meiner Teil, Band 2], Warszawa 2002, S. 236 f., Rz. 32. Die Vertreter der beiden Meinungen sind sich aber darin einig, dass das Rechtsgeschäft durch eine nachträgliche Genehmigung wirksam wird bzw. geheilt werden kann. S. nur die Urteile des polnischen Obersten Gerichts v. 21.2.2008 – III CZP 137/2007, Monitor Prawniczy 2008 Nr. 17, 927, und v. 6.2.2009 – IV CSK 271/2008, System Informacji Prawnej LEX, LEX Nr. 529733. Zur Stellung des S.L.R.-Geschäftsführers ausführlich Dobrin, Die Binnenordnung der GmbH im deutschen, ungarischen und rumänischen Recht, Dissertation Heidelberg, 2011, S. 127 ff. Vgl. C|rpenaru in C|rpenaru/David/Predoiu/Piperea, Societ|Ûile comerciale [Die Handelsgesellschaften], 2009, Art. 70 Rz. 1, Art. 72 Rz. 2; Cãrpenaru, Dreptul societ|Ûilor comerciale [Das Recht der Handelsgesellschaften], 2002, S. 236; Gheorghe, Societ|Ûi comerciale. VoinÛa asociaÛilor Õi voinÛa social| [Der Gesellschafts- und der Gesellschafterwille], 2003, S. 94; Vonica, Dreptul societ|Ûilor comerciale [Das Recht der Handelsgesellschaften], 2000, S. 125; David/Baias, Dreptul 8/1992, 13, 20; RoÕu, RDC 4/2001, 80, 86 f. Zur Auswirkungen der Mandatstheorie auf das Vertretungsrecht s. nur Boden (Fn. 9), S. 5 ff.; Fleischer (Fn. 4), S. 722; Schwarz (Fn. 7), S. 216 f. Seit dem 1.10.2011 ergibt sich dies aus Art. 2011 des neuen rumänischen BGB. Bis dahin ist das Mandat in den Artt. 402 bis 412 des (nun weitgehend aufgehobenen) rumänischen HGB geregelt gewesen. So noch C|rpenaru in C|rpenaru/David/Predoiu/Piperea, SocietãÛile comerciale [Die Handelsgesellschaften], 2002, S. 183; anders jetzt C|rpenaru in C|rpenaru/David/ Predoiu/Piperea, Handelsgesellschaften-2009, (Fn. 37), Art. 70 Rz. 2.

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de oder ein Gesellschafterbeschluss einige Geschäftsführer von der Vertretung mit Wirkung auch für das Außenverhältnis ausschließen kann.41

IV. Diskussion Bei den referierten Vorschriften handelt es sich aus Sicht des deutschen Rechts überwiegend um ungewöhnliche Regelungen. Sie gehören aber nicht ins Kuriositätenkabinett, sondern können in der Praxis des Binnenmarktes ohne Weiteres Bedeutung erlangen, zumal sie häufig auch den Bereich der gewöhnlichen Geschäftsführung berühren. Nachfolgend sind diese Bestimmungen daher auf ihre Richtlinienkonformität hin zu überprüfen. 1. Die polnischen Zustimmungsvorbehalte Ohne jeden Zweifel richtlinienkonform ist auf der einen Seite die Regelung des Art. 230 KSH, weil hier explizit bestimmt wird, dass Art. 17 § 1 KSH nicht zur Anwendung kommt, die Beschränkung mithin nicht ins Außenverhältnis durchschlägt. Die Zuordnung einer konkreten Kompetenz an ein Gesellschaftsorgan wird von Art. 10 Publizitätsrichtlinie in keinem Falle ausgeschlossen, mag sie auch noch so ungewöhnlich und überraschend sein, solange dieser Kompetenzzuordnung lediglich Innenwirkung beigemessen wird.42 Unproblematisch ist auf der anderen Seite aber auch die Regelung des Art. 228 Ziffer 3 i. V. m. Art. 17 § 1 KSH (Veräußerung oder Verpachtung des Unternehmens oder eines organisierten Teils davon bei der Sp. z o.o.). Für die rechtswirksame Durchführung dieser Transaktion ist immer die Zustimmung der Gesellschafterversammlung erforderlich. Auch mit einer expliziten Satzungsregelung kann die Durchführung einer derartigen Angelegenheit nicht in die ausschließliche Zuständigkeit des Vorstandes gestellt werden. Bei der Veräußerung oder Verpachtung des Unternehmens handelt es sich mithin um eine Maßnahme, welche die Befugnisse überschreitet, die gemäß KSH dem Vorstand einer Sp. z o.o. zugewiesen sind oder zugewiesen werden können. Die Voraussetzungen der in Art. 10 Abs. 1 Satz 1 Publizitätsrichtlinie enthaltenen Ausnahme sind also erfüllt. Die drei verbleibenden Fälle (Art. 393 Ziffer 3 KSH: Veräußerung und Verpachtung des Unternehmens bei der SA und Artt. 228 Ziffer 4, 393 Ziffer 4 KSH: Erwerb und Veräußerung von Immobilien bei Sp. z o.o. und SA) sind jeweils dadurch gekennzeichnet, dass das Gesetz einerseits insoweit die Regelkompetenz bei der Gesellschafter- bzw. Hauptversammlung verankert, es andererseits aber dem Satzungsgeber gestattet, die Entscheidungszuständigkeit für diese Angelegenheiten von den Gesellschafterversammlungen auf den Vor-

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41 C|rpenaru in C|rpenaru/David/Predoiu/Piperea, Handelsgesellschaften-2009, (Fn. 37), Art. 72 Rz. 2 ff.; C|rpenaru, Recht der Handelsgesellschaften, (Fn. 37), S. 236; Gheorghe, Gesellschafterwille (Fn. 37), S. 94; Vonica, Recht der Handelsgesellschaften, (Fn. 37), S. 125; David/Baias, Dreptul 8/1992, 13, 20; RoÕu, RDC 4/2001, 80, 86 f. A. A. Dobrin (Fn. 36), S. 128 f. 42 Vgl. Fischer-Zernin (Fn. 12), S. 300; Schwarz, ZHR 166 (2002), 625, 648, Anm. 78.

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Gesetzliche Beschränkungen der Vertretungsmacht

stand zu verlagern. Für die Beurteilung der Richtlinienkonformität kommt es nun darauf an, dass in Art. 10 Abs. 1 Satz 1 der Richtlinie auf die Befugnisse des Vertretungsorgans abgestellt wird, „die nach dem Gesetz diesen Organen zugewiesen sind oder zugewiesen werden können“. Nach dieser Vorschrift soll das Organ also nicht nur in dem Bereich Vertretungsmacht haben, für den ihm das Gesetz selbst Befugnisse zuweist, sondern auch darüber hinaus auf all den Feldern, auf denen das Gesetz die Kompetenz einem anderen Organ zuordnet, aber es erlaubt, dass die Satzung oder ein Beschluss eine Zuständigkeitsverlagerung zugunsten des Vertretungsorgans vornimmt.43 Darauf, dass bei der einzelnen Gesellschaft eine solche Zuständigkeitsverlagerung stattgefunden hat, kommt es nicht an. Auch wenn die Satzung es bei der gesetzlichen Regelzuständigkeit belassen hat, wird dem Dritten gegenüber so getan, als hätten die Gesellschafter die Geschäftsführer bzw. Vorstände entsprechend ermächtigt. Den Umfang der Vertretungsmacht bestimmt also gemäß Art. 10 Abs. 1 Satz 1 Publizitätsrichtlinie immer der nach dem mitgliedsstaatlichen Gesetz maximal mögliche Kompetenzkreis des Organs.44 Der Richtliniengeber hat sich also keinesfalls darauf beschränkt, gesetzliche Beschränkungen der Vertretungsmacht in den Mitgliedstaaten bloß zur Kenntnis zu nehmen. Man hatte im Blick, dass auch jene Rechtsordnungen, welche das Vertretungsorgan nicht schon kraft Gesetzes mit einem weiten Kreis an Entscheidungskompetenzen ausstatten, es doch den Gesellschaftern freistellen, ihm derartige Kompetenzen durch die Satzung einzuräumen.45 Indem auf diesen weitestmöglichen Kreis abgestellt worden ist, erreichte man einen wesentlichen Angleichungsfortschritt, weil nun europaweit zwar kein völlig einheitlicher, aber doch ein durchgehend sehr weiter Umfang der Vertretungsmacht ausschlaggebend ist. Ohne harmonisierende Eingriffe in das einzelstaatliche Organisationsrecht konnte den praktischen Bedürfnissen des Binnenmarktes weitgehend Rechnung getragen werden.46 Außerdem ließ sich auf diese Weise auch am Grundsatz festhalten, dass der Dritte nicht anhand der konkreten Satzung die Zuständigkeiten der einzelnen Organe zu überprüfen habe,47 sondern nur das Gesetz kennen müsse. Will der Dritte aber tatsächlich mit Hilfe des Gesetzes Sicherheit erlangen, so reicht ein Blick auf die gesetzliche Regelzuständigkeit nicht aus; er muss sich zudem einen Überblick über die Gestaltungsmöglichkeiten verschaffen. Die Art. 228 Ziffer 4 und 393 Ziffer 3 und 4 KSH regeln Maßnahmen, die grundsätzlich eine Zustimmung der Gesellschafter- bzw. Hauptversammlung

__________ 43 Boden (Fn. 9), S. 247. 44 So zu Recht Schwab, ZGR 2000, 449, vgl. auch Auer, GesRZ 2000, 138, 145; Boden (Fn. 9), S. 247; Fischer-Zernin (Fn. 12), S. 267. 45 Einmahl, AG 1969, 167, 169. 46 Einmahl, AG 1969, 167, 169. 47 Zu Recht ist darauf hingewiesen worden, dass es letztlich eine Frage der Gesetzgebungstechnik sei, ob der Gesetzgeber den Satzungsgeber ermächtige, dem Vertretungsorgan interne Beschränkungen aufzuerlegen, oder selbst derartige Schranken vorsehe und dann die Satzung zu deren Beseitigung berechtige; vgl. Meilicke, RIW 1996, 713, 717.

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erfordern, es sei denn, dass die Satzung hierauf verzichtet. Gemäß Art. 10 Abs. 1 Satz 1 Publizitätsrichtlinie hat Letzteres zur Folge, dass die Durchführung all dieser Angelegenheiten von der Vertretungsmacht der Vorstände abgedeckt ist. Wenn man in der polnischen Praxis die bei der einzelnen Gesellschaft erforderliche, aber fehlende Zustimmung der Gesellschafter- bzw. Hauptversammlung auf der Grundlage von Art. 17 § 1 KSH ins Außenverhältnis durchschlagen lässt, so verstößt dies in allen drei Fallgruppen gegen die Vorgaben der Richtlinie. Diese Fälle veranschaulichen gut, dass gesetzliche Regelungen, welche die Kompetenzverteilung in einem weiten Ausmaß in die Hand der Satzungsgeber legen, damit auch für eine weite (unbeschränkbare) Vertretungsmacht der Geschäftsführer bzw. Vorstände sorgen.48 Erweiterungen der entsprechenden Gestaltungsfreiräume der Satzungsgeber vergrößern immer auch den Bereich der unbeschränkbaren Vertretungsmacht: Nach Art. 388 Ziffer 3 und 4 des polnischen HGB von 1934 handelte es bei der Veräußerung und Verpachtung des Unternehmens sowie bei der Veräußerung der Fabrikgrundstücke der Gesellschaft um zwingende Hauptversammlungszuständigkeiten.49 Hätte der polnische Gesetzgeber diese Regelung unverändert ins KSH übernommen, so wäre die Vertretungsmacht aller SA-Vorstände insoweit (absolut richtlinienkonform) beschränkt worden. Indem er mit der Vorschrift des Art. 393 Ziffer 3 und 4 KSH für diese Angelegenheiten eine abweichende Satzungsregelung ermöglichte, wurde die Vertretungsmacht sämtlicher SA-Vorstände erweitert, selbst wenn keine einzige Gesellschaft von dieser Gestaltungsoption Gebrauch gemacht haben sollte. 2. Die entmachteten rumänischen Geschäftsführer Obwohl das deutsche GmbH-Recht generell ein hohes Maß an Gestaltungsfreiheit gewährt, kann nach einhelliger Ansicht des rechtswissenschaftlichen Schrifttums kein Geschäftsführer vollständig von der Vertretung der Gesellschaft ausgeschlossen werden,50 das Gleiche gilt auch für die Vorstandsmitglieder einer Aktiengesellschaft.51 Zur Begründung dieses Verbots beruft man sich allerdings nicht auf die Publizitätsrichtlinie; vorgebracht wird stattdessen, dem einzelnen Vorstand würde durch den Ausschluss von der Vertretung die Stellung eines verantwortlichen Organmitgliedes genommen werden.52 So ist

__________ 48 Vgl. Schwarz (Fn. 7), S. 220. 49 So Dziurzyn´ski in Dziurzyn´ski, Fenichel, Honzatko, Kodeks handlowy. Komentarz [Handelsgesetzbuch. Kommentar], Kraków 1936, Nachdruck ºódz´ 1995, Art. 388 Rz. 3; Szwaja in So»tysin´ski, Szajkowski, Szwaja, Kodeks handlowy. Komentarz. Tom II [Handelsgesetzbuch. Kommentar. Band 2], 2. Aufl. Warszawa 1998, Art. 388 Rz. 20. 50 Vgl. nur Kleindiek in Lutter/Hommelhoff, 17. Aufl. 2009, § 35 GmbHG Rz. 36; Paefgen in Ulmer, Großkomm. GmbHG, 2006, § 35 GmbHG Rz. 81; Zöllner/Noack in Baumbach/Hueck, 19. Aufl. 2010, § 35 GmbHG Rz. 108. 51 Etwa Seibt in Schmidt/Lutter, 2. Aufl. 2010, § 78 AktG Rz. 24; Spindler in MünchKomm. AktG, 3. Aufl. 2008, § 78 AktG Rz. 34. 52 S. Fleischer in Spindler/Stilz, 2. Aufl. 2010, § 78 AktG Rz. 36.

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denn auch diese Ansicht bereits lange vor der Verabschiedung der europäischen Harmonisierungsmaßnahme vertreten worden.53 Will man den Standpunkt der Richtlinie zu derartigen Gestaltungen ausmessen, so ist der Blick nicht auf Art. 10 Abs. 1, sondern auf Abs. 3 dieser Vorschrift zu richten. Während sich Art. 10 Abs. 1 und 2 mit der sachlichen bzw. inhaltlichen Reichweite der organschaftlichen Vertretungsmacht beschäftigt, geht es bei Abs. 3 um die Frage, inwieweit durch Gesetzes- oder Satzungsbestimmungen angeordnet werden kann, dass die wirksame Vertretung der Gesellschaft das gemeinsame Auftreten mehrerer oder aller Organmitglieder voraussetzt. Kämen auf diese Problematik Art. 10 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 zur Anwendung, so könnte wohl europaweit jeweils ein einzelner Geschäftsführer bzw. ein einzelnes Vorstandsmitglied die Gesellschaft wirksam verpflichten: In den Rechtsordnungen, in denen die Einzelvertretung die gesetzliche Regel bildet, wäre eine von der Satzung festgelegte Gesamtvertretung eine Beschränkung, die gemäß Art. 10 Abs. 2 Dritten nie entgegengesetzt werden könnte. Stellt dagegen die Gesamtvertretung die gesetzliche Regel dar, von der dann die Satzung der einzelnen Gesellschaft abweichen kann, so käme es gemäß Art. 10 Abs. 1 Satz 1 auf die weitestmögliche Ausdehnung der Vertretungsberechtigung an, mithin auf die Einzelvertretung, unabhängig davon, ob die einzelne Gesellschaft von dieser Gestaltungsmöglichkeit überhaupt Gebrauch gemacht hat. Etwas anderes würde nur dort gelten, wo der Gesetzgeber die Gesamtvertretung zwingend vorgegeben hätte.54 Das ist aber bei Erlass der Richtlinie in den damaligen sechs Mitgliedstaaten nirgends der Fall gewesen55 und eine solche Regelung dürfte auch heute in der Union der 27 nicht anzutreffen sein. Um die damit drohende faktische Beseitigung aller Varianten der Gesamtvertretung zu vermeiden, wurde die Sonderregelung des Art. 10 Abs. 3 der Richtlinie getroffen, welche den Mitgliedstaaten und den Satzungsgebern bei dieser Problematik größere Gestaltungsfreiheit als bei der sachlichen Reichweite der organschaftlichen Vertretungsmacht einräumt, ohne dass es darauf ankommt, ob im jeweiligen Mitgliedstaat die Einzel- oder die Gesamtvertretung den gesetzlichen Regelfall bildet.56 Um sich über diesen Aspekt der Vertretungsberechtigung bei der einzelnen Gesellschaft Gewissheit zu verschaffen, muss der Dritte mithin deren Register konsultieren, doch ist dies hier vergleichsweise unproblematisch handhabbar.57 Die letzte Überlegung scheint für die europarechtliche Zulässigkeit der rumänischen Regelung zu sprechen, denn mit einem Blick in das Register kann sich der Dritte ohne Weiteres darüber informieren, dass der betroffene Geschäftsführer weder allein, noch gemeinsam mit anderen Personen zur Vertretung der Gesellschaft berechtigt ist. Der vollständige Entzug der Vertretungsmacht

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53 Vgl. etwa Schmidt/Meyer-Landrut in Großkomm. AktG, 2. Aufl. 1961, § 71 AktG Anm. 7. 54 Vgl. Einmahl, AG 1969, 167, 171. 55 Zu den damaligen Regelungen in den Mitgliedstaaten für die GmbH s. nur Boden (Fn. 9), S. 62, 91, 134 ff., 170 f.; Lutter/Pfrommer, GmbHR 1966, 201, 205 f., 209. 56 Vgl. Einmahl, AG 1969, 167, 171 f.; auch Habersack/Verse (Fn. 12), § 5 Rz. 36. 57 Ebenso Grundmann (Fn. 7), S. 120.

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wäre mithin nur eine weitere Variante zur Ausfüllung der von Art. 10 Abs. 3 gewährten Gestaltungsfreiheit. Bei genauer Betrachtung entstehen jedoch Zweifel an der Zulässigkeit einer solchen Regelung: Die Vorschrift des Art. 10 Abs. 3 der Richtlinie sollte den Kapitalgesellschaften die in allen Mitgliedstaaten verbreitete Möglichkeit bewahren, sich dadurch vor einem Missbrauch der Vertretungsmacht schützen zu können, dass die Wirksamkeit der im Namen der Gesellschaft abgegebenen rechtsgeschäftlichen Erklärungen von der Mitwirkung mehrerer Mitglieder ihres Vertretungsorgans abhängig gemacht wird.58 Zur Gewährleistung eines entsprechenden Schutzes der Gesellschaft ist es dagegen nicht erforderlich, einen Geschäftsführer völlig von der Vertretung der Gesellschaft ausschließen zu können: Ist das Misstrauen gegen eine einzelne Person so groß, dass man sich überhaupt nicht von ihr vertreten lassen möchte, so sind die Gesellschafter in den allermeisten Fällen völlig frei in der Entscheidung, den Betreffenden gar nicht erst zum Geschäftsführer zu bestellen bzw. einen bereits bestellten organschaftlichen Vertreter abzuberufen. Selbst spezielle Konstellationen, in denen eine bestimmte Person aus besonderen Gründen Mitglied des Geschäftsleitungsorgans werden, nicht aber die Gesellschaft verpflichten können soll,59 lassen sich unproblematisch im Rahmen der von Art. 10 Abs. 3 ausdrücklich erwähnten Kategorien Einzel- und Gesamtvertretung bewältigen: Zur weitgehenden Ausschaltung eines solchen Geschäftsführers kann die Satzung anordnen, dass ihm eine Vertretung der Gesellschaft nur gemeinsam mit anderen Geschäftsführern möglich ist, während diese gleichzeitig auch alleinvertretungsberechtigt sein können.60 Die besseren Argumente dürften deshalb dafür sprechen, dass der völlige Ausschluss eines S.R.L.-Geschäftsführers von der Vertretung der Gesellschaft gegen die Vorgaben der Publizitätsrichtlinie verstößt.61

V. Resümee Versucht man die Ergebnisse dieser kleinen Untersuchung im Gesamtzusammenhang zu bewerten, so entsteht ein zwiespältiges Bild: Einerseits lässt sich festhalten, dass die Bestimmungen der Publizitätsrichtlinie zur Behandlung von gesetzlichen Beschränkungen der Vertretungsmacht einen Regelungsmechanismus enthalten, dessen Wirkweise von der Erweiterung der Gemein-

__________ 58 Vgl. nur Einmahl, AG 1969, 167, 172. 59 Zu den Motiven für die Einrichtung derartiger „Zölibats-Geschäftsführer-Posten“ s. Ulmer in FS Eberhard Schwark, 2009, S. 271; ferner Kleindiek (Fn. 50), § 37 Rz. 39. 60 Vgl. nur Paefgen (Fn. 50), § 35 Rz. 80; Raiser/Veil, Recht der Kapitalgesellschaften, 5. Aufl. 2010, § 32 Rz. 28; Uwe H. Schneider in Scholz, 10. Aufl. 2007, § 35 GmbHG Rz. 68; Zöllner/Noack (Fn. 50), § 35 Rz. 107. 61 Allerdings gab es zur Zeit der Verabschiedung der Richtlinie auch im italienischen und französischen Aktienrecht Regelungen, wonach zur Vertretung der Gesellschaft nur einzelne speziell beauftragte Personen befugt waren, vgl. Einmahl, AG 1969, 167, 171. Dabei wurde aber ganz überwiegend vom Gesetz die Vertretung der Gesellschaft nicht deren Leitungsorgan insgesamt zugeordnet, sondern dem jeweiligen Vorsitzenden bzw. speziellen Delegierten. Insoweit lässt sich die Situation mit der des Organs GmbH-Geschäftsführer nicht vergleichen.

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schaft in den letzten Jahrzehnten grundsätzlich nicht berührt worden ist. Man hat mit Hilfe relativ einfacher Vorschriften einen wesentlichen Angleichungserfolg erzielen können und dies ohne aufwendige Harmonisierung der unterschiedlichen mitgliedsstaatlichen Regelungen über die innere Organisation und Struktur der Gesellschaften. Auf diese Weise konnte dem Rechtsverkehr auf dem europäischen Binnenmarkt auch bezüglich gesetzlicher Beschränkungen der Vertretungsmacht ein weitreichender Schutz gewährleistet werden. Dabei beließ die Verankerung der Sonderregel des Art. 10 Abs. 3 den Gesellschaften die Möglichkeit, sich durch eine Vereinbarung unterschiedlicher Varianten der Gesamtvertretung vor Missbrauchshandlungen zu schützen. Anderseits hat die Analyse jedoch auf Anwendungsprobleme aufmerksam gemacht und Folgefragen aufgeworfen; hier ist auf verschiedenen Ebenen abzuschichten: 1. Schon die auf einige Stichproben beschränkte Untersuchung hat relativ klare Verstöße gegen Art. 10 Abs. 1 Satz 1 der Richtlinie belegen können. Dies scheint darauf hinzudeuten, dass die Durchsetzung dieser Regelung nicht im Fokus der Kommission steht. Die fehlende Beachtung ist zu bedauern, weil ein konsequenteres Hinwirken auf die Durchsetzung der Richtlinienvorgaben vermutlich für ein größeres Problembewusstsein bei den mitgliedsstaatlichen Gesetzgebern sorgen würde und auch die Gerichte sowie das rechtswissenschaftliche Schrifttum sensibilisieren könnte. Insoweit geht es nicht nur um die Verhinderung klarer Richtlinienverstöße, sondern ebenso darum, in der Grauzone, innerhalb derer die Rechtsfolgen von Kompetenzverletzungen überaus unsicher sind, für Klarheit zu sorgen. Da diese Punkte durchaus auch den gewöhnlichen Geschäftsbetrieb berühren, dürfte der Rechtsverkehr auf dem Europäischen Binnenmarkt von diesen Unsicherheiten tatsächlich betroffen sein. 2. Sieht man von diesen Problemen bei der praktischen Umsetzung des Art. 10 Abs. 1 Satz 1 zugrunde liegenden Regelungskonzepts einmal ab, so stellt sich auf einer zweiten Ebene die Frage, inwieweit es den Mitgliedstaaten erlaubt ist, bei der Fortbildung ihres Kapitalgesellschaftsrechts den Kreis gesetzlicher Beschränkungen der Vertretungsmacht auszudehnen. Hierbei handelt es sich um eine Problematik, die im Prinzip bereits bei der Verabschiedung der Richtlinie vorhanden gewesen ist, die aber in einer wesentlich erweiterten Gemeinschaft erkennbar gesteigerte Brisanz gewonnen hat. Könnte also beispielsweise der polnische Gesetzgeber die beschriebenen Richtlinienverstöße beseitigen, indem bei den Vertretungsbeschränkungen der Art. 228 Ziffer 4 und 393 Ziffer 3 und 4 KSH die Möglichkeit einer abweichenden Satzungsregelung abgeschafft wird? So das Schrifttum diese Problematik streift, vermag es überwiegend keine Bindung der mitgliedsstaatlichen Gesetzgeber auszumachen: Hervorgehoben wird, dass – da sich die gesetzlichen Beschränkungen der Vertretungsbefugnis nach mitgliedsstaatlichem Recht richteten – Umsetzungsdefizite insoweit nicht vorstellbar seien,62 oder dass die Richtlinie die gesetzliche Zuständigkeitsordnung in den Mitgliedstaaten akzeptiere, weshalb ihr auch

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62 So Kindler (Fn. 12), S. 493.

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nicht die Vorgabe entnommen werden könne, nationale Vorschriften, welche die Zuständigkeit des Vertretungsorgans einschränkten, restriktiv auszulegen und nicht im Wege der Analogie auszudehnen.63 Diese Argumentation greift jedoch zu kurz. Richtig ist, dass der gemeinschaftliche Richtliniengeber mit Art. 10 Abs. 1 Satz 1 eine Lösung finden konnte, die dem Rechtsverkehr auf dem Binnenmarkt den nötigen Schutz gewährt, ohne dass hierfür eine Harmonisierung der Vorschriften über die innere Organisation der Kapitalgesellschaften erforderlich gewesen wäre. Hieraus lässt sich jedoch mitnichten ein Recht der Mitgliedstaaten schlussfolgern, durch eine erhebliche Ausdehnung gesetzlicher Kompetenzbeschränkungen den einmal erzielten Angleichungserfolg wieder in Frage zu stellen, und auch das Scheitern der Strukturrichtlinie kann die nationalen Gesetzgeber nicht berechtigen, beliebige Breschen in den Schutz der Publizitätsrichtlinie zu schlagen.64 So ist den Mitgliedstaaten gewiss nicht jede Fortbildung ihres Kapitalgesellschaftsrechts verwehrt, mit der die wirksame Vornahme bestimmter Maßnahmen durch das Vertretungsorgan an die Zustimmung eines anderen Organs geknüpft wird. Es sollte jedoch darauf abkommen, ob sich eine konkrete neu geschaffene Kompetenzbegrenzung sinnvoll in das Gesamtsystem gesetzlicher Beschränkungen einordnen lässt, wobei auch zu berücksichtigen ist, inwieweit vergleichbare Regelungen bei der Verabschiedung der Richtlinie bekannt und verbreitet gewesen sind.65 Unter diesen Gesichtspunkten erscheint die Erstreckung des Zustimmungserfordernisses bei Gesamtvermögensübertragungen auf die GmbH relativ unproblematisch,66 da derartige Beschränkungen in fast allen mitgliedsstaatlichen Rechtsordnungen anzutreffen sein dürften.67 Anders wäre dagegen eine pauschale Erfassung sämtlicher Immobiliengeschäfte zu bewerten.68 3. Auf einer dritten Ebene stellt sich dann die sehr grundsätzliche Frage, ob das zur Rechtfertigung der Ungleichbehandlung von gesellschaftsvertraglichen und gesetzlichen Beschränkungen vorgebrachte Argument, ein Blick auf die gesetzliche Kompetenzverteilung sei Dritten nicht nur im nationalen, sondern auch im grenzüberschreitenden Verkehr zumutbar, überhaupt noch überzeugt. Erhebliche Zweifel weckt schon allein der Anstieg der relevanten mitgliedsstaatlichen Gesellschaftsrechtsordnungen, welche die Binnenmarktakteure demnach zu überblicken haben, von 6 auf 27. Noch schwerer wiegt jedoch die Tatsache, dass die fast 70 Gesellschaftsrechtsformen, die in Art. 1 der Publizitätsrichtlinie aufgezählt werden, unterdessen eine kaum beschränkte gemein-

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63 So Habersack/Verse (Fn. 12), § 5 Rz. 34. 64 Berührt wäre in erster Linie das Effektivitätsprinzip; vgl. hierzu nur Ruffert in Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 4. Aufl. 2011, Art. 1 AEUV Rz. 22. 65 Vgl. hierzu den Überblick bei Boden (Fn. 9), S. 211 ff. 66 A. A. Bredthauer, NZG 2008, 816 ff. 67 Zur Verbreitung einer solchen Beschränkung in den mitgliedsstaatlichen Rechtsordnungen vor der Verabschiedung der Publizitätsrichtlinie s. Boden (Fn. 9), S. 16, 56 f., 90, 130 ff., 168 f., 219 f. 68 Hier wurde beim Erlass der Richtlinie eine strikte Anbindung an einen Gesellschafterbeschluss lediglich von einer Mindermeinung des italienischen Schrifttums gefordert; vgl. Boden (Fn. 9), S. 220.

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Gesetzliche Beschränkungen der Vertretungsmacht

schaftsweite Mobilität genießen. Unter dem Schutz der Niederlassungsfreiheit, deren Durchsetzung auch die Publizitätsrichtlinie dient, entfaltet heute eine große Zahl von Gesellschaften wirtschaftliche Aktivitäten überwiegend außerhalb der jeweiligen Gründungsrechtsordnung. Dass das intensivere Tätigwerden von Gesellschaften außerhalb ihres Rechtsgebiets im Hinblick auf die Vertretungsbeschränkungen zu Problemen führen kann, ist dem Internationalen Gesellschaftsrecht selbstverständlich bekannt. So gibt es denn auch schon seit längerer Zeit Bemühungen zum Erlass von Regeln, welche den Rechtsverkehr insoweit vor Überraschungen schützen sollen. Bereits beim Erlass der Publizitätsrichtlinie wurde an derartigen Vorschriften gearbeitet.69 1972 legte dann der Deutsche Rat für internationales Privatrecht einen entsprechenden Vorschlag vor,70 der im Jahr 2006 nochmals erneuert worden ist.71 Hiernach soll eine Gesellschaft, die außerhalb ihres Gründungsstaates durch persönlich anwesende Organvertreter Rechtsgeschäfte abschließt, sich nicht auf Beschränkungen der Vertretungsmacht ihrer Organvertreter berufen können, die nach dem Recht des Vornahmeortes für eine vergleichbare Gesellschaftsform nicht bestehen. Vorgeschlagen wurde mithin die Schaffung einer Sonderanknüpfung, wobei man eine Lösung aufgriff, welche sich nach Ansicht der h. M. auch bereits jetzt durch eine analoge Anwendung von Art. 12 EGBGB realisieren lässt.72 Vor diesem Hintergrund erscheint es dann nur konsequent, dass der Anfang 2008 veröffentlichte Referentenentwurf für ein Gesetz zum Internationalen Privatrecht der Gesellschaften, Vereine und juristischen Personen des Privatrechts den Vorschlag des Deutschen Rates für Internationales Privatrecht übernommen hat.73 An dieser Stelle ist es nicht möglich, den Entwurf eingehend zu würdigen. Aufmerksam zu machen ist aber darauf, dass die Umsetzung der vorgeschlagenen Regeln bei den gesetzlichen Beschränkungen der Vertretungsmacht gegen das Gemeinschaftsrecht verstoßen würde: Übersehen worden ist nämlich, dass es hier nicht auf eine Vereinbarkeit mit dem Primärrecht, also insb. mit den Art. 49 ff. AEUV ankommt,74 sondern dass im Anwendungsbereich der Publizitätsrichtlinie Art. 10 Abs. 1 Satz 1 die Frage abschließend entscheidet, inwieweit gesetzliche Beschränkungen den Vertragspartnern entgegengehalten wer-

__________ 69 Vgl. Einmahl, AG 1969, 167. 70 S. hierzu nur Zimmer (Fn. 9), S. 253. 71 Ausführlich Behrens in Sonnenberger (Hrsg.), Vorschläge und Berichte zur Reform des europäischen und deutschen internationalen Gesellschaftsrechts, 2007, S. 401, 434 ff. 72 Vgl. nur Eidenmüller in Eidenmüller (Hrsg.), Ausländische Kapitalgesellschaften im deutschen Recht, 2004, § 4 Rz. 6; Leible in Hirte/Bücker (Hrsg.) Grenzüberschreitende Gesellschaften, 2. Aufl. 2006, § 11 Rz. 48 ff. (S. 404 ff.); Zimmer (Fn. 9), S. 247 ff. Sympathisierend auch BGH, NJW 1998, 2452, 2453. 73 Der Entwurf kann abgerufen werden unter www.bmj.bund.de. Zur Regelung des Art. 12 Abs. 2 RefE-EGBGB s. Bollacher, RIW 2008, 200, 203; Franz, BB 2009, 1250, 1257 ff.; Leible in Michalski, GmbHG, 2. Aufl. 2010, Syst. Darst. 2, Rz. 17 f.; Schneider, BB 2008, 566, 574. 74 Vgl. nur die Erörterung der Gemeinschaftsrechtskonformität bei Behrens (Fn. 71), S. 439 f.

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den können.75 Ein weitergehender Schutz des Rechtsverkehrs lässt sich hier daher nur durch eine strengere bzw. engere Auslegung der Ausnahme des Art. 10 Abs. 1 Satz 1 erzielen, was sich grundsätzlich mit der erweiterten Mobilität der Gesellschaftsformen auf dem Binnenmarkt begründen ließe. Erwogen werden könnte insb., nur Verstöße gegen solche gesetzlichen Beschränkungen ins Außenverhältnis durchschlagen zu lassen, die bereits 1968 den Kernbereich der Ausnahme gebildet haben und sich auch heute noch in gleicher oder ähnlicher Form in fast allen mitgliedsstaatlichen Rechtsordnungen auffinden lassen. Eine solche strikte Anwendung der Norm könnte dann dort, wo dies im Einzelfall erforderlich erscheint, unter Rückgriff auf die Figur des Missbrauchs der Vertretungsmacht korrigiert werden.76 Deren Voraussetzungen dürften zumindest tendenziell schneller erfüllt sein, wenn sich Organvertreter im Geltungsbereich der Heimatrechtsordnung über gesetzliche Beschränkungen ihrer Vertretungsmacht hinwegsetzen.

__________ 75 Dass der Schutz des EU-Rechtsverkehrs im Hinblick auf die organschaftliche Vertretungsmacht durch die Publizitätsrichtlinie abschließend ist, wird eher selten hervorgehoben, vgl. etwa Leible (Fn. 73), Rz. 127; Rehm in Eidenmüller (Hrsg.), Ausländische Kapitalgesellschaften im deutschen Recht, 2004, § 5 Rz. 5. 76 Zur Anwendung der Missbrauchsregelung auf Verstöße gegen gesetzliche Beschränkungen s. Grundmann (Fn. 7), S. 120.

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Die Einlage des stillen Gesellschafters als bilanzrechtliches Eigenkapital des Inhabers des Handelsgewerbes Inhaltsübersicht I. Einleitung II. Abgrenzung Eigenkapital und Fremdkapital 1. Abhängigkeit von der gesellschaftsrechtlichen Struktur 2. Elemente des Eigenkapitals 3. Die Einlage des stillen Gesellschafters als Eigenkapital a) Erfolgsabhängigkeit der Vergütung einschließlich Verlustteilnahme b) Nachrangigkeit c) Längerfristigkeit der Kapitalüberlassung III. Die unternehmensspezifischen Anforderungen an die jeweils als Eigenkapital auszuweisenden Posten 1. Die Aktiengesellschaft a) Das Eigenkapital der Aktiengesellschaft

b) Anwendung auf die Einlage des stillen Gesellschafters 2. Die Gesellschaft mit beschränkter Haftung a) Das Eigenkapital der Gesellschaft mit beschränkter Haftung b) Anwendung auf die Einlage des stillen Gesellschafters 3. Die Personenhandelsgesellschaft a) Das Eigenkapital der Personenhandelsgesellschaft b) Anwendung auf die Einlage des stillen Gesellschafters 4. Der Einzelkaufmann a) Das Eigenkapital des Einzelkaufmanns b) Anwendung auf die Einlage des stillen Gesellschafters IV. Ergebnisse

I. Einleitung Peter Hommelhoff, dem diese Zeilen auf Grund jahrzehntelanger freundschaftlich-kollegialer Begegnungen gewidmet sind, hat sich immer wieder im Grenzgebiet zwischen Gesellschafts- und Bilanzrecht bewegt.1 So mag ihn auch die Frage interessieren, ob die Einlage eines stillen Gesellschafters in der Bilanz des Inhabers des Handelsgewerbes als Eigen- oder Fremdkapital auszuweisen ist und wovon das ggf. abhängt. Als tauglicher Partner eines stillen Gesellschafters kommt der Inhaber eines beliebigen Handelsgewerbes in Betracht.2

__________ 1 Vgl. nur seine umfassende Kommentierung des § 289 HGB im Großkomm. HGB, 4. Aufl. 2002, und die des § 29 GmbHG in Lutter/Hommelhoff, GmbHG, 17. Aufl. 2009. 2 Gehrlein in Ebenroth/Boujong/Joost/Strohn, 2. Aufl. 2008, § 230 HGB Rz. 5 ff.; von Gerkan/Mock in Röhricht/Graf von Westphalen, 3. Aufl. 2008, § 230 HGB Rz. 22 f.; K. Schmidt in MünchKomm. HGB, 3. Aufl. 2012, § 230 HGB Rz. 19 f.;

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Es kann sich also um einen Einzelkaufmann, um eine Personenhandelsgesellschaft und um eine Kapitalgesellschaft einschließlich der eingetragenen Genossenschaft handeln. Deren unterschiedliche Eigenkapitalstruktur wird bei der entsprechenden Qualifizierung der Einlage des stillen Gesellschafters zu beachten sein. Im folgenden sollen zunächst die Maßstäbe entwickelt werden, nach denen die Zuordnung von Passivposten zum Eigen- und zum Fremdkapital in der Bilanz vorzunehmen ist und welche Merkmale insoweit die Einlage des stillen Gesellschafters aufweist (II). Die sich daraus ergebenden Regeln sind anschließend auf die wichtigsten Handelsgewerbe mit stiller Beteiligung anzuwenden (III).

II. Abgrenzung Eigenkapital und Fremdkapital 1. Abhängigkeit von der gesellschaftsrechtlichen Struktur Zur Bestimmung der Merkmale, die zur Qualifikation von Passivposten als Eigenkapital führen, ist von den Eigenschaften derjenigen Posten auszugehen, die nach gesicherter Erkenntnis Eigenkapital eines Unternehmens abbilden. Dafür ist nach deutschem Recht nach den jeweiligen Rechtsformen zu unterscheiden.3 So sind das Grundkapital der AG, das Stammkapital der GmbH, das Eigenkapital der Personenhandelsgesellschaften sowie das Eigenkapital des Einzelkaufmanns entsprechend der jeweiligen Struktur dieser Unternehmensformen unterschiedlich ausgestaltet, so daß eine einheitliche Beurteilung nicht in Betracht kommt. An dieser Differenzierung ist denn auch das International Accounting Standards Board gescheitert, als es in IAS 32 (2003)4 rechtsformübergreifend die Kriterien für die Annahme von Eigenkapital festlegen wollte. Es bestimmte nämlich in paragraph 18 (b), daß kündbare Finanzinstrumente, bei denen der Emittent nach der Kündigung flüssige Mittel oder andere Vermögenswerte an den Inhaber auszukehren hat, als finanzielle Verbindlichkeit und nicht als Eigenkapital auszuweisen sind. Das hätte bedeutet, daß Personenhandelsgesellschaften deutschen Rechts Eigenkapital nicht hätten ausweisen können.5 Eben-

__________ Schubert in Oetker, 2. Aufl. 2011, § 230 HGB Rz. 10 ff.; Blaurock, Handbuch Stille Gesellschaft, 7. Aufl. 2010, Rz. 5.2 ff.; ausführlich mit zahlreichen Einzelfällen Bezzenberger/Keul in Münchener Handbuch des Gesellschaftsrechts, Bd. 2, 3. Aufl. 2009, StG § 75 Rz. 1 ff. 3 Im Ansatz ebenso Pöschke, Eigenkapital mittelständischer Gesellschaften nach IAS/ IFRS, 2009, S. 13 ff.; Thiele, Das Eigenkapital im handelsrechtlichen Jahresabschluß, 1989, S. 115 ff.; ähnlich Kleindiek, ZHR 175 (2011), 247, 274; speziell für die Beurteilung der Einlage des stillen Gesellschafters Polzer in Münchener Handbuch des Gesellschaftsrechts, Bd. 2, 3. Aufl. 2009, StG § 84 Rz. 14; Hense, Die stille Gesellschaft im handelsrechtlichen Jahresabschluß, 1990, S. 191, 198 f. 4 Übernommen in EU-Recht durch Verordnung (EG) Nr. 2237/2004 der Kommission v. 29.12.2004, ABl. EU 2004 Nr. L 393, S. 1 ff. 5 IDW RS HFA 9, 2.8.1 (Tz. 49 ff.), WPg 2006, 537, 543 f.; Hennrichs, WPg 2006, 1253, 1256; Schubert, WM 2006, 1033 ff. Dieses Ergebnis billigend Rückle, IRZ 2008, 227, 228 ff.

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so wären die Geschäftsguthaben der Genossen einer eingetragenen Genossenschaft wegen der Regelung in den §§ 65, 73 GenG Fremdkapital.6 Selbst für die GmbH hätten sich Probleme beim Eigenkapitalausweis ergeben.7 Im Jahre 2008 hat das International Accounting Standards Board durch IAS 32 (2008)8 für Finanzinstrumente mit paragraphs 16A bis 16D eine begrenzte Ausnahmeregelung geschaffen, die für Personenhandelsgesellschaften deutschen Rechts einen Ausweis von Eigenkapital ermöglicht, wenn bestimmte Bedingungen für den Fall der Kündigung (IAS 32.16A, 16B) oder der Liquidation (IAS 32. 16C, 16D) erfüllt sind.9 Auch diese Spezialregelungen knüpfen nicht an die jeweilige Rechtsform an. Das ist zwar für ein Gremium, das weltweite Rechnungslegungsregeln aufstellen will, verständlich, weil für jeweils passende Regelungen rechtsvergleichende Untersuchungen angestellt werden müßten. Wohl aber wird damit die Erfüllung der dem International Accounting Standards Board in der Satzung des International Accounting Standards Committee Foundation10 gestellten Aufgabe gefährdet, im öffentlichen Interesse Rechnungslegungsstandards zu entwickeln, die eine qualitativ hochstehende, transparente und vergleichbare Information in Abschlüssen und anderen Finanzberichten geben. Vor allem die Anforderungen an die Qualität und an die Transparenz setzen voraus, daß auch berücksichtigt wird, auf welche gesellschaftsrechtlichen Regeln die bilanzrechtlichen Normen treffen. 2. Elemente des Eigenkapitals Im Zusammenhang mit der Frage, unter welchen Voraussetzungen Genußrechte als Eigenkapital der emittierenden Kapitalgesellschaft auszuweisen sind, hat das Institut der Wirtschaftsprüfer drei Kriterien genannt, die kumulativ erfüllt sein müssen, damit eine auf Grund einer schuldrechtlichen Vereinbarung gewährte Kapitalüberlassung zu bilanziellem Eigenkapital führt. Es sind dies die

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6 Hennrichs, WPg 2006, 1253, 1256. 7 IDW RS HFA 9, 2.8.2 (Tz. 59), WPg 2006, 537, 544; Hennrichs, WPg 2006, 1253, 1256. 8 Übernommen in EU-Recht durch Verordnung (EG) Nr. 53/2009 der Kommission v. 21.1.2009, ABl. EU 2009 Nr. L 17, S. 23 ff. 9 Einzelheiten: Rechnungslegungs Interpretations Committee (RIC), RIC 3 Rz. 5 ff.; Clemens in Beck’sches IFRS-Handbuch, 3. Aufl. 2009, § 12 Rz. 94 ff.; Förschle/ Hoffmann in Beck’scher Bilanz-Kommentar, 8. Aufl. 2012, § 247 HGB Rz. 167; Lüdenbach in Lüdenbach/Hoffmann, IFRS Kommentar, 10. Aufl. 2012, § 20 Rz. 27 ff.; Mentz in MünchKomm. Bilanzrecht, Bd. 1, IAS 32 Rz. 157 ff.; Pawelzik in Heuser/ Theile, IFRS-Handbuch, 5. Aufl. 2012, Rz. 2832 ff.; Baetge/Winkeljohann/Haenelt, DB 2008, 1518 ff.; Hennrichs, WPg 2009, 1066, 1068 ff.; Hennrichs/Pöschke, HdJ III/1 (Oktober 2009), Rz. 142 ff.; Kleindiek, ZHR 175 (2011), 247, 256 ff.; Petersen/ Zwirner, DStR 2008, 1060, 1062 ff.; M. Schmidt, BB 2008, 434 ff.; Weidenhammer, PiR 2008, 213 ff. 10 IASC Foundation Constitution (revised March 2010), Tz. 2 lit. (a): „The objectives of the IFRS Foundation are: (a) to develop, in the public interest, a single set of high quality, understandable, enforceable and globally accepted financial reporting standards based upon clearly articulated principles. The standards should require high quality, transparent and comparable information in financial statements and other financial reporting to help investors, other participants in the world’s capital markets and other users of financial information make economic decisions.“

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Erfolgsabhängigkeit der Vergütung einschließlich der Teilnahme am Verlust bis zur Höhe des Kapitalbetrages, die Nachrangigkeit gegenüber anderen Gläubigern sowie die Längerfristigkeit der Kapitalüberlassung.11 Dem hat sich das Schrifttum weitgehend angeschlossen.12 Diese Maßstäbe sind im Ausgangspunkt auch für Beurteilung anderer Fälle von Kapitalüberlassungen heranzuziehen, wobei aber jeweils zu prüfen ist, in welchem Maße die einzelnen Kriterien von der rechtsformabhängigen Eigenkapitalstruktur tatsächlich gefordert werden. Dabei ist Voraussetzung für die Annahme der Längerfristigkeit der Kapitalüberlassung, daß der Gesellschafter nicht einseitig die Gesellschaft verlassen und seine Einlage herausverlangen kann. Die Möglichkeit kollektiver Entscheidungen, die z. B. zu einer Kapitalherabsetzung oder gar zur Liquidation der Gesellschaft und damit zur Freigabe des eingesetzten Kapitals führen, stehen der Annahme der Längerfristigkeit der Kapitalüberlassung nicht entgegen. Eine „ewige“ Kapitalüberlassung kann nicht gefordert werden;13 nachhaltige Kapitalüberlassung genügt.14 Ist dagegen der einseitige Abzug von Kapital zulässig, kann die Längerfristigkeit jedenfalls nicht uneingeschränkt bejaht werden. Auf dieser Grundlage soll zunächst für die stille Gesellschaft gezeigt werden, inwieweit sie Eigenkapitalelemente kraft Gesetzes verwirklicht und durch zusätzliche vertragliche Vereinbarungen verwirklichen kann. Das Ergebnis dieser Untersuchung ist anschließend mit den sich für die einzelnen Unternehmensformen bestehenden Anforderungen an das jeweilige Eigenkapital in Beziehung zu setzen. 3. Die Einlage des stillen Gesellschafters als Eigenkapital Die herrschende Meinung15 erörtert die Frage, ob die Einlage des stillen Gesellschafters Eigenkapital im Unternehmen des Inhabers des Handelsgewerbes sein kann, in der Weise, daß sie auf die oben II 2 erwähnten Elemente der Erfolgsabhängigkeit der Vergütung einschließlich der Verlustteilnahme bis zur

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11 IDW HFA 1/1994, 2.1.1, WPg 1994, 419, 420. 12 Mit abweichender Terminologie Hense (Fn. 3), S. 191. Für Genußrechte: Adler/ Düring/Schmaltz, Rechnungslegung und Prüfung der Unternehmen, Teilband 5, 6. Aufl. 1997, § 266 HGB Rz. 195; Dusemond/Heusinger-Lange/Knop in Küting/ Pfitzer/Weber, Handbuch der Rechnungslegung. Einzelabschluss, § 266 HGB Rz. 171 (EL 9, Dez. 2010); Kozikowski/Schubert in Beck’scher Bilanz-Kommentar, 8. Aufl. 2012, § 247 HGB Rz. 228; Küting/Kessler in Küting/Pfitzer/Weber, Handbuch der Rechnungslegung. Einzelabschluss, § 272 HGB Rz. 232 (EL 11, April 2011); Marx/ Dallmann in Baetge/Kirsch/Thiele, Bilanzrecht. Kommentar, § 266 HGB Rz. 183 (EL 26, Aug. 2009); Welf Müller in Großkomm. GmbHG, 2006, Anh. § 29 Rz. 38; Heymann in Beck’sches Handbuch Rechnungslegung, B 231 Rz. 6 (EL 36, Juni 2011); Krieger in Münchener Handbuch des Gesellschaftsrechts, Bd. 4, 3. Aufl. 2007, § 63 Rz. 64; Singhof, HdJ III/2 Rz. 175 f. (Juni 2008); Emmerich/Naumann, WPg 1994, 677, 680 ff.; Schaber/Kuhn/Eichhorn, BB 2004, 315, 316 f. 13 Hense (Fn. 3), S. 198 f.; Thiele (Fn. 3), S. 130; Lutter, DB 1993, 2441, 2444; ähnlich Welf Müller, FS Budde, 1995, 445, 457. 14 Pöschke (Fn. 3), S. 32 f. 15 Adler/Düring/Schmaltz, Rechnungslegung und Prüfung der Unternehmen, Teilband 6, 6. Aufl. 1998, § 246 HGB Rz. 91; Ballwieser in MünchKomm. HGB, 2. Aufl. 2008, § 246 HGB Rz. 85; Kleindiek in Großkomm. HGB, 4. Aufl. 2002, § 247 HGB Rz. 36.

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Höhe des Kapitalbetrages, der Nachrangigkeit gegenüber den Gläubigern des Inhabers und der Längerfristigkeit der Kapitalüberlassung abstellt, ohne nach der Rechtsform des Inhabers des Handelsgewerbes zu differenzieren. Läßt man sich zunächst auf diesen Versuch ein, so ergibt sich folgendes: a) Erfolgsabhängigkeit der Vergütung einschließlich Verlustteilnahme Die Erfolgsabhängigkeit der Vergütung ist bereits im § 231 HGB angelegt. Die Verlustbeteiligung kann zwar nach § 231 Abs. 2 HGB ausgeschlossen werden. Wenn eine solche Regelung aber nicht getroffen wird, nimmt der stille Gesellschafter nach § 232 Abs. 2 HGB bis zum Betrage seiner eingezahlten oder rückständigen Einlage am Verlust teil. b) Nachrangigkeit Die Nachrangigkeit in der Insolvenz und in der Liquidation gegenüber allen Gläubigern, die Fremdkapital gewährt haben, ist ohne Weiteres durch entsprechende Vertragsgestaltung zu verwirklichen.16 Diese Vereinbarung muß sich allerdings auf das Verhältnis des stillen Gesellschafters zu den übrigen Gläubigern des Inhabers des Handelsgewerbes beschränken.17 Die üblichen, auch als Nachrangabreden bezeichneten Klauseln, die sich auf das Vorhandensein eines Bilanzgewinns, eines künftigen Jahresüberschusses, einer künftigen Eigenkapitalzuführung oder auf einen Liquidationsüberschuß beziehen,18 würden im Ergebnis dazu führen, daß der Auseinandersetzungsanspruch des stillen Gesellschafters bei Auflösung der Gesellschaft über die vereinbarte Verlustbeteiligung hinaus mit weiterer Verlusttragungspflicht belastet wäre. Hierin läge eine nach § 723 Abs. 3 BGB unzulässige Beschränkung des Kündigungsrechts des stillen Gesellschafters,19 wie im Schrifttum bisweilen verkannt wird.20 c) Längerfristigkeit der Kapitalüberlassung Problematisch ist aber das weitere Merkmal, nämlich die Längerfristigkeit der Kapitalüberlassung, auf das allerdings bisweilen21 ohne Erläuterung verzichtet

__________ 16 Zur Möglichkeit, Nachrangigkeit zu vereinbaren BGH v. 1.3.1982 – II ZR 23/81, BGHZ 83, 341, 345; ferner BGH v. 21.7.2003 – II ZR 109/02, BGHZ 156, 38, 44; von Gerkan/Mock (Fn. 2), § 236 Rz. 16; Polzer (Fn. 3), StG § 84 Rz. 14; Hense (Fn. 3), S. 71 ff. 17 So im Fall BGH v. 1.3.1982 – II ZR 23/81, BGHZ 83, 341, 345. 18 Dazu Schulze-Osterloh, WPg 1996, 97, 100. 19 Zu dieser Reichweite des § 723 Abs. 3 BGB: Schubert (Fn. 2), § 234 HGB Rz. 12; Gehrlein (Fn. 2), § 234 HGB Rz. 25; von Gerkan/Mock (Fn. 2), § 234 HGB Rz. 5; Blaurock (Fn. 2), Rz. 15.23; Polzer (Fn. 3), StG § 91 Rz. 6 f.; mit Einschränkungen K. Schmidt (Fn. 2), § 234 HGB Rz. 47. Vgl. auch unten II 3 c. 20 So von Hense (Fn. 3), S. 227 f. (stille Gesellschaft mit einer GmbH), 243 (stille Gesellschaft mit einer AG) und ihm folgend für stille Gesellschaft mit einer GmbH Polzer (Fn. 3), StG § 84 Rz. 14. 21 So von Knorr/Seidler in Haufe HGB Bilanz Kommentar, 2. Aufl. 2010, § 272 HGB Rz. 378.

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wird. Hinsichtlich der Längerfristigkeit ergeben sich erhebliche Schranken aus den für die stille Gesellschaft zwingend geltenden Kündigungsvorschriften.22 Nach § 234 Abs. 1 Satz 2 HGB i. V. m. § 723 BGB kann die für eine bestimmte Zeit geschlossene Gesellschaft jederzeit aus wichtigem Grund gekündigt werden. Diese Bestimmung ist nach § 723 Abs. 3 BGB unabdingbar.23 Ist die Gesellschaft für unbestimmte Zeit geschlossen, gelten nach § 234 Abs. 1 Satz 1 HGB die Vorschriften der §§ 132 und 134 HGB über die Kündigung der OHG. Hier tritt neben die immer bestehende Möglichkeit der außerordentlichen Kündigung aus wichtigem Grund zusätzlich die ordentliche Kündigung, für die in § 132 HGB hinsichtlich der Frist und des Termins Einschränkungen bestehen, die vertraglich aber nicht so weit ausgedehnt werden können, daß dies einem Ausschluß der ordentlichen Kündigung gleichkommt.24 Die Kündigung führt zur Auflösung der stillen Gesellschaft mit der Folge, daß der stille Gesellschafter nach Maßgabe des § 235 HGB abzufinden ist.25 Im Falle einer Gesellschaft mit mehreren stillen Gesellschaftern scheidet der kündigende Gesellschafter in der Regel analog § 131 Abs. 3 Nr. 3 HGB aus der Gesellschaft aus und wird ebenfalls nach § 235 HGB abgefunden.26 Einer Nachhaftung entsprechend § 160 HGB unterliegt der stille Gesellschafter, da er ohnehin nicht haftet, nicht. Darüber hinaus ist zu bedenken, daß nach § 234 Abs. 1 Satz 1 HGB auch § 135 HGB anwendbar ist. Unter den in dieser Vorschrift genannten Voraussetzungen kann der Gläubiger eines stillen Gesellschafters, der innerhalb der letzten sechs Monate eine Zwangsvollstreckung in dessen bewegliches Vermögen ohne Erfolg versucht hat, die Gesellschaft sechs Monate vor dem Ende des Geschäftsjahrs zu diesem Zeitpunkt kündigen,27 ohne Rücksicht darauf, ob die Gesellschaft für bestimmte oder unbestimmte Zeit eingegangen ist.28 Diese Regelungen sind zwingend und gelten daher nicht nur für die gesetzestypische stille Gesellschaft. Es gibt also entgegen mancher Annahme im Schrifttum29 keine unkündbare stille Gesellschaft.30

__________ 22 Auf diese verweist Kleindiek (Fn. 15), § 247 HGB Rz. 36, ohne allerdings die sich daraus ergebenden Rechtsfolgen zu beschreiben. 23 K. Schmidt (Fn. 2), § 234 HGB Rz. 50; Schubert (Fn. 2), § 234 HGB Rz. 19; Blaurock (Fn. 2), Rz. 13.114, 15.33; Polzer (Fn. 3), StG § 91 Rz. 10. 24 Schubert (Fn. 2), § 234 HGB Rz. 12; Gehrlein (Fn. 2), § 234 HGB Rz. 25; von Gerkan/ Mock (Fn. 2), § 234 HGB Rz. 5; Blaurock (Fn. 2), Rz. 15.23; Polzer (Fn. 3), StG § 91 Rz. 6 f.; Singhof in Singhof/Seiler/Schlitt, Mittelbare Gesellschaftsbeteiligungen, 2004, Teil 1, Rz. 215; mit Einschränkungen K. Schmidt (Fn. 2), § 234 HGB Rz. 47. 25 Gehrlein (Fn. 2), § 234 HGB Rz. 3; K. Schmidt (Fn. 2), § 234 HGB Rz. 18; Bezzenberger/Keul (Fn. 2), StG § 92 Rz. 1 ff. 26 K. Schmidt (Fn. 2), § 234 HGB Rz. 19; ähnlich Bezzenberger/Keul (Fn. 2), StG § 92 Rz. 30 ff. 27 Gehrlein (Fn. 2), § 234 HGB Rz. 31; K. Schmidt (Fn. 2), § 234 HGB Rz. 51; Polzer (Fn. 3), StG § 91 Rz. 17. 28 Blaurock (Fn. 2), Rz. 15.39; Singhof (Fn. 24), Teil 1, Rz. 223. 29 Adler/Düring/Schmaltz (Fn. 15), § 246 HGB Rz. 91; Ballwieser (Fn. 15), § 246 HGB Rz. 85; Schwaiger in Beck’sches Handbuch der GmbH, 4. Aufl. 2009, § 7 Rz. 100. 30 So im Hinblick auf § 234 Abs. 1 Satz 2 HGB i. V. m. § 723 BGB Blaurock (Fn. 2), Rz. 13.114.

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Folglich kann für die Frage der Längerfristigkeit der Kapitalüberlassung – entgegen teilweise vertretener Auffassung31 – nicht auf die in den Vorschriften der §§ 10 Abs. 5 Nrn. 3 und 4 KWG und 53c Abs. 3a Nrn. 3 und 4 VAG über die Kapitalausstattung der Kreditinstitute und Versicherungsunternehmen genannten Fristen zurückgegriffen werden, wie das für die Qualifikation von Genußrechtskapital als Eigenkapital32 verbreitet geschieht. Die darin vorausgesetzte Kapitalüberlassung für die Dauer von mindestens fünf Jahren und eine auf den Abschlußstichtag bezogene Mindestrestlaufzeit von zwei Jahren lassen sich für die stille Gesellschaft nicht gewährleisten. Dieses Ergebnis ist zu den Regeln über das Eigenkapital der als Inhaber des Handelsgewerbes in Betracht kommenden Unternehmensformen in Beziehung zu setzen, wobei sich die nachstehenden Ausführungen auf die wichtigsten, nämlich die AG, die GmbH, die Personenhandelsgesellschaften und den Einzelkaufmann beschränken.

III. Die unternehmensspezifischen Anforderungen an die jeweils als Eigenkapital auszuweisenden Posten 1. Die Aktiengesellschaft a) Das Eigenkapital der Aktiengesellschaft Das bilanzielle Eigenkapital der AG setzt sich nach § 266 Abs. 3 A HGB aus dem Grundkapital (genannt gezeichnetes Kapital), der Kapitalrücklage, den Gewinnrücklagen, dem Gewinn- oder Verlustvortrag und dem Jahresüberschuß oder Jahresfehlbetrag zusammen. Die beiden zuletzt genannten Posten können nach § 268 Abs. 1 HGB unter den dort genannten Voraussetzungen zu dem Posten Bilanzgewinn oder Bilanzverlust zusammengefaßt sein. Das Grundkapital der AG erfüllt die drei Kriterien der Erfolgsabhängigkeit, der Nachrangigkeit und der Längerfristigkeit der Kapitalüberlassung ohne Weiteres. Die Aktionäre sind nach Maßgabe der §§ 58 bis 60 AktG am Gewinn der Gesellschaft beteiligt. Ein Verlust mindert zwar nicht die Beteiligung, wirkt sich aber in der Liquidation der Gesellschaft in der Weise aus, daß er den bei der Schlußverteilung nach § 271 AktG den Aktionären zustehenden Anteil am Vermögen der Gesellschaft mindert. Die Nachrangigkeit gegenüber den anderen Gläubigern ist insofern gegeben, als im Falle der Auseinandersetzung auf

__________

31 Küting/Reuter in Küting/Pfitzer/Weber, Handbuch der Rechnungslegung. Einzelabschluss, § 272 Rz. 251 (EL 11, April 2011); Geuenich, DStR 1998, 57, 58; Küting/ Kessler, BB 1994, 2103, 2114; hinsichtlich der Vereinbarung einer Mindestdauer von fünf Jahren Heymann (Fn. 12), Rz. 15 (EL 36, Juni 2011); ähnlich (längerfristiger Ausschluß der Kündigung wird als möglich unterstellt), Kozikowski/Schubert (Fn. 12), § 247 HGB Rz. 233; Singhof, HdJ III/2 Rz. 185 (Juni 2008). 32 Küting/Kessler (Fn. 1078), § 272 HGB Rz. 235 f. (EL 11, April 2011); Singhof, HdJ III/2 Rz. 176 (Juni 2008); Küting/Kessler, BB 1994, 2103, 2112 f.; Wengel, DStR 2001, 1316, 1321. – A. M. IDW Stellungnahme HFA 1/1994, Tz. 2.1.1 vor a), WPg 1994, 419, 420; Adler/Düring/Schmaltz (Fn. 12), § 266 HGB Rz. 193; Emmerich/Naumann, WPg 1994, 677, 680 f.

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Grund einer Liquidation nach § 271 Abs. 1 AktG das Vermögen der Gesellschaft erst nach der Erfüllung der Verbindlichkeiten der Gesellschaft an die Aktionäre verteilt werden darf. Auch von der Längerfristigkeit der Kapitalüberlassung ist auszugehen, weil der einzelne Aktionär während des Bestehens der Gesellschaft nicht das Recht hat, unter Rückzahlung seiner Einlage aus ihr auszuscheiden. Vor Auflösung der Gesellschaft darf nach § 57 Abs. 3 AktG an die Aktionäre nur der Bilanzgewinn verteilt werden. Der Aktionär kann die Stellung als Gesellschafter nur durch Abtretung seiner Aktie aufgeben, doch bleibt in diesem Fall seine Einlage der Gesellschaft erhalten. Dasselbe gilt für die weiteren in § 266 Abs. 3 A HGB aufgeführten Posten des Eigenkapitals: Die Kapitalrücklage ist, soweit sie auf den Regelungen des § 272 Abs. 2 Nrn. 1 bis 3 HGB beruht, nach Maßgabe des § 150 AktG gebunden und kann daher nicht an die Aktionäre ausgeschüttet werden. Dagegen kann die Kapitalrücklage nach § 272 Abs. 2 Nr. 4 HGB in Bilanzgewinn umgebucht und demgemäß an die Aktionäre ausgeschüttet werden.33 Allerdings setzt das entsprechende Bilanzierungs- und Ausschüttungsentscheidungen voraus, ein einseitiges Zugriffsrecht hat der Aktionär insoweit nicht. Die Gewinnrücklagen unterliegen ebenfalls einer unterschiedlichen Bindung. Die gesetzliche Rücklage ist nach Maßgabe des § 150 AktG gebunden.34 Die Rücklage für Anteile an einem herrschenden oder mehrheitlich beteiligten Unternehmen ist solange aufrechtzuerhalten, wie die Anteile im Vermögen der Gesellschaft vorhanden sind, und zwar in Höhe des Betrages, mit dem sie ausgewiesen sind.35 Die Verwendung der satzungsmäßigen Rücklagen richtet sich nach der sie betreffenden Satzungsbestimmung; fehlt es an einer solchen Bestimmung, entscheidet das zur Feststellung des Jahresabschlusses berufene Organ.36 Die anderen Gewinnrücklagen können nur durch eine entsprechende Bilanzierungsentscheidung aufgelöst werden. In allen Fällen dieser Art hat der Aktionär kein einseitiges Zugriffsrecht auf diese Bestandteile des Eigenkapitals. Schließlich ist die Entscheidung über den Gewinn- oder Verlustvortrag sowie über den Jahresüberschuß oder -fehlbetrag Teil der Ergebnisverwendung. In dieser Hinsicht ist der einzelne Aktionär von der Willensbildung in der Hauptversammlung abhängig. Insgesamt erfüllen bei der AG sämtliche der in § 266 Abs. 3 A HGB genannten Bestandteile des bilanziellen Eigenkapitals die drei herausgestellten Elemente. Der Aktionär kann nicht einseitig aus der Gesellschaft ausscheiden und damit

__________ 33 I. E. ebenso, ohne aber das einzuschlagende Verfahren anzugeben: Adler/Düring/ Schmaltz (Fn. 12), § 272 HGB Rz. 79; Förschle/Hoffmann in Beck’scher BilanzKommentar, 8. Aufl. 2012, § 272 HGB Rz. 205; Thiele in Baetge/Kirsch/Thiele, Bilanzrecht. Kommentar, § 272 HGB Rz. 129 (Grundwerk, Sept 2002); Singhof, HdJ III/2 Rz. 125 (Juni 2008). 34 Singhof, HdJ III/2 Rz. 135 (Juni 2008). 35 Förschle/Hoffmann (Fn. 33), § 272 HGB Rz. 307. 36 Singhof, HdJ III/2 Rz. 145 (Juni 2008).

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weder auf das Grundkapital noch auf die Kapitalrücklage und die Gewinnrücklagen zugreifen. Dasselbe gilt für den positiven Saldo der zum Bilanzgewinn zusammengefaßten Bestandteile des Gewinn- oder Verlustvortrages und des Jahresüberschusses oder Jahresfehlbetrages. Im Falle der Liquidation wird sein Anspruch auf Beteiligung am Liquidationserlös gemäß § 271 Abs. 1 AktG erst nach Befriedigung aller Gesellschaftsgläubiger erfüllt. b) Anwendung auf die Einlage des stillen Gesellschafters Bezieht man diese Anforderungen auf die Einlage des stillen Gesellschafters, ist festzustellen, daß sie zwar die Merkmale der Erfolgsabhängigkeit einschließlich der Verlustteilnahme (oben II 3 a) und der Nachrangigkeit (oben II 3 b) mit entsprechenden vertraglichen Vereinbarungen erfüllen kann, nicht aber das Merkmal der Längerfristigkeit der Kapitalüberlassung (oben II 3 c). Insbesondere das Kündigungsrecht der Gesellschaftergläubiger nach § 234 Abs. 1 Satz 1 HGB i. V. m. § 135 HGB macht die Dauer der Kapitalüberlassung von der Entscheidung eines Dritten abhängig, so daß die Dauerhaftigkeit der Kapitalüberlassung – anders als beim Kapital der AG – nicht zu sichern ist. Dieser Umstand wird im Schrifttum bisweilen übersehen.37 Die Einlage des stillen Gesellschafters kann also kein Bestandteil des Eigenkapitals der AG sein. 2. Die Gesellschaft mit beschränkter Haftung a) Das Eigenkapital der Gesellschaft mit beschränkter Haftung Das Eigenkapital der GmbH stimmt mit dem der AG überein. Allerdings braucht die Gesellschaft, sofern sie nicht eine Unternehmergesellschaft ist (vgl. § 5a Abs. 3 GmbHG), keine gesetzliche Rücklage zu bilden. Ein wichtiger Unterschied zur AG besteht aber, der geeignet sein kann, die Qualifikation der Gesellschaftereinlagen als Eigenkapital zu bezweifeln. Der GmbH-Gesellschafter kann nämlich – anders als der Aktionär – aus wichtigem Grund aus der Gesellschaft ausscheiden.38 Außerdem kann der Gesellschaftsvertrag den Gesellschaftern ein einseitiges Austrittsrecht, das nicht von einem wichtigen Grund abhängt, einräumen.39 In solchen Fällen wird der Austritt allerdings nur wirksam, wenn das Abfindungsguthaben des Gesellschafters aus dem Teil des Gesellschaftsvermögens beglichen werden kann, das nicht im

__________ 37 So von Hense (Fn. 3), S. 241 ff. 38 BGH v. 16.12.1991 – II ZR 58/91, BGHZ 116, 359, 369; Hueck/Fastrich in Baumbach/Hueck, 19. Aufl. 2010, § 34 GmbHG Anh. Rz. 18 ff.; Lutter in Lutter/Hommelhoff, 17. Aufl. 2009, § 34 GmbHG Rz. 71; Sosnitza in Michalski, 2. Aufl. 2010, Anh. § 34 GmbHG Rz. 45; Strohn in MünchKomm. GmbHG, 2010, § 34 GmbHG Rz. 102, 178; Ulmer in Großkomm. GmbHG, 2006, Anh. § 34 GmbHG Rz. 46 ff.; H. Winter/ Seibt in Scholz, 10. Aufl. 2006, Anh. § 34 GmbHG Rz. 7 ff. 39 Hueck/Fastrich (Fn. 38), § 34 GmbHG Anh. Rz. 27; Lutter (Fn. 38), § 34 GmbHG Rz. 71; Sosnitza (Fn. 38), Anh. § 34 GmbHG Rz. 67; Strohn (Fn. 38), § 34 GmbHG Rz. 194; Ulmer (Fn. 38), Anh. § 34 GmbHG Rz. 67; H. Winter/Seibt (Fn. 38), Anh. § 34 GmbHG Rz. 19.

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Sinne des § 30 GmbHG zur Erhaltung des Stammkapitals erforderlich ist.40 Das bedeutet, bezogen auf die Eigenkapitalposten, daß zwar das Stammkapital nicht einseitig von einem Gesellschafter anteilig zurückgeführt werden kann, daß dies aber wohl möglich ist, soweit es sich um das Vermögen handelt, das durch die offenen Rücklagen gedeckt ist. Darüber hinaus wird es von einem Teil des Schrifttums41 sogar für möglich gehalten, daß der Privatgläubiger eines Gesellschafters im Rahmen der Zwangsvollstreckung in dessen Geschäftsanteil die Gesellschaft entsprechend § 135 HGB mit der Folge des Ausscheidens des Gesellschafters kündigen kann, sofern sich die in § 857 Abs. 5 ZPO vorgesehene Veräußerung als undurchführbar erweist. Die insoweit bestehenden Möglichkeiten des einseitigen Zugriffs des GmbHGesellschafters auf das durch offene Rücklagen gedeckte Gesellschaftsvermögen führen nun aber nicht dazu, daß diese offenen Rücklagen nicht als Eigenkapital angesehen werden. Vielmehr ist zu erkennen, daß es Eigenkapital der GmbH gibt, dessen Bindung in der beschriebenen Weise gelockert ist. Es kommt hinzu, daß bei der Ein-Mann-GmbH der Gesellschafter in seinem Zugriff auf das Gesellschaftsvermögen nur durch die Schranke des § 30 GmbHG gebunden ist. Auf das darüber hinaus vorhandene Vermögen, also auf die offenen Rücklagen, kann er zugreifen, ohne von der Mitwirkung anderer Gesellschafter abhängig zu sein. Allerdings ergeben sich hier im Falle mißbräuchlicher Schädigung des im Gläubigerinteresse zweckgebundenen Gesellschaftsvermögens mittelbare Schranken, die der BGH42 als Innenhaftung des Gesellschafters nunmehr aus § 826 BGB herleitet. Der Gesellschafter darf außerhalb der durch § 30 GmbHG gezogenen Grenzen der Gesellschaft keine Mittel entziehen, welche sie aus der Sicht eines ordentlichen Geschäftsmanns demnächst zur Erfüllung ihrer Verbindlichkeiten benötigen wird.43 Hierin liegt im Ergebnis eine gewisse Kapitalbindung.44 Trotz dieser beschriebenen Zugriffsmöglichkeiten des Allein-Gesellschafters einer GmbH werden auch bei ihr die offenen Rücklagen als Eigenkapital behandelt.

__________ 40 Hueck/Fastrich (Fn. 38), § 34 GmbHG Anh. Rz. 25; Sosnitza (Fn. 38), Anh. § 34 GmbHG Rz. 57; Ulmer (Fn. 38), Anh. § 34 GmbHG Rz. 59; H. Winter/Seibt (Fn. 38), Anh. § 34 GmbHG Rz. 17. 41 Strohn (Fn. 38), § 34 GmbHG Rz. 193; Ulmer (Fn. 38), Anh. § 34 GmbHG Rz. 50. – A. M. H. Winter/Seibt (Fn. 38), Anh. § 34 GmbHG Rz. 7 a. E.; wohl auch Sosnitza (Fn. 38), Anh. § 34 GmbHG Rz. 48. 42 BGH v. 16.7.2007 – II ZR 3/04, BGHZ 173, 246, 255 ff. – TRIHOTEL. 43 BGH (Fn. 42), BGHZ 173, 246, 256; Röhricht, ZIP 2005, 505, 514; ebenso als Grundlage einer Außenhaftung des Gesellschafters Caspar in Großkomm. GmbHG, 2008, Anh. § 77 GmbHG Rz. 111. 44 A. M. wohl Pöschke (Fn. 3), S. 33.

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b) Anwendung auf die Einlage des stillen Gesellschafters Vergleicht man diesen Befund mit der Rechtsstellung des stillen Gesellschafters einer GmbH hinsichtlich seiner Einlage, so ist zu beachten, daß dieser der sich aus § 30 GmbHG ergebenden Schranke in aller Regel nicht unterliegt. Im Falle der Auflösung der stillen Gesellschaft mit einer GmbH, die gegebenenfalls auch von einem Gesellschaftergläubiger herbeigeführt werden kann, ist der stille Gesellschafter nicht gehindert, sein Auseinandersetzungsguthaben auch dann geltend zu machen, wenn dadurch das zur Erhaltung des Stammkapitals erforderliche Vermögen angegriffen wird. Würde eine solche Beschränkung der Geltendmachung des Auseinandersetzungsguthabens vereinbart werden, so würde der stille Gesellschafter dazu veranlaßt werden, über die ihn treffende Verlustbeteiligung hinaus weitere Verlustbestandteile zu tragen. Darin läge eine nach § 723 Abs. 3 BGB unzulässige Beschränkung seiner Kündigungsmöglichkeiten (oben II 3 b). Die demgegenüber zulässige Vereinbarung des Nachrangs des Auseinandersetzungsguthabens in der Insolvenz und in der Liquidation (oben II 3 b) widerspricht dieser Aussage nicht. Eine solche Abrede betrifft das Verhältnis des stillen Gesellschafters zu anderen Gläubigern der Gesellschaft und mindert im Verhältnis zu der GmbH die Höhe seines Auseinandersetzungsguthabens nicht. Die Einlage des stillen Gesellschafters in das Handelsgewerbe einer GmbH unterliegt also grundsätzlich geringeren Bindungen als das zur Erhaltung des Stammkapitals erforderliche Vermögen der GmbH. Sie hat demgemäß nicht die Qualität von Eigenkapital der GmbH und darf daher nicht als solches in der Bilanz der GmbH ausgewiesen werden. Es bleibt nur der Ausweis als Verbindlichkeit. Eine Ausnahme ist nach der Rechtsprechung des BGH45 und der herrschenden Meinung im Schrifttum46 allerdings zu machen, wenn der stille Gesellschafter mit Hilfe seiner vermögensmäßigen Beteiligung und seines Einflusses auf die Geschäftsführung der GmbH weitgehend einem GmbH-Gesellschafter gleichsteht. Sie unterliegt dann in analoger Anwendung der sich aus § 30 GmbHG ergebenden Bindung. Auch die Eigenkapitalelemente der Verlustteilnahme (oben II 3 a) und der Nachrangigkeit (oben II 3 b) können vertraglich wie bei einer GmbH ausgestaltet sein. Die Einlage des stillen Gesellschafters ist unter dieser Voraussetzung Bestandteil des Eigenkapitals der GmbH. Daraus folgt ein entsprechender Ausweis in deren Jahresabschluß.

__________ 45 BGH v. 7.11.1988 – II ZR 46/88, BGHZ 106, 7, 9 ff.; BGH v. 13.2.2006 – II ZR 62/04, GmbHR 2006, 531, 532 mit krit. Komm. Tillmann, S. 533 ff. = ZIP 2006, 703, 705. Zur Anwendbarkeit der §§ 32a, b GmbHG a. F. auf einen atypischen stillen Gesellschafter OLG Hamburg v. 13.10.1989 – 11 U 108/89, ZIP 1990, 791 ff. 46 Ekkenga in MünchKomm. GmbHG, 2010, § 30 GmbHG Rz. 165; Habersack in Großkomm. GmbHG, 2006, § 30 GmbHG Rz. 68; Heidinger in Michalski, 2. Aufl. 2010, § 30 GmbHG Rz. 120; Hommelhoff in Lutter/Hommelhoff, 17. Aufl. 2009, § 30 GmbHG Rz. 18; Hueck/Fastrich (Fn. 38), § 30 GmbHG Rz. 28; Pentz in Rowedder/ Schmidt-Leithoff, 4. Aufl. 2002, § 30 GmbHG Rz. 27; H. P. Westermann in Scholz, 10. Aufl. 2006, § 30 GmbHG Rz. 60 a. E.; Hense (Fn. 3), S. 234 ff.; Gehrlein, BB 2006, 1018; wohl auch Altmeppen in Roth/Altmeppen, 6. Aufl. 2009, § 30 GmbHG Rz. 70.

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3. Die Personenhandelsgesellschaft a) Das Eigenkapital der Personenhandelsgesellschaft Das Eigenkapital der Personenhandelsgesellschaft wird aus den Einlagen der Gesellschafter gebildet. Diese sind Zuführungen der Gesellschafter zum Gesellschaftsvermögen, die auf Grund gesellschaftsrechtlicher Verpflichtung (als Beitrag) erbracht werden.47 Sie erfüllen die Merkmale von Eigenkapital insoweit, als Rückzahlungsansprüche der Gesellschafter nur in der Liquidation und in der Insolvenz geltend gemacht werden können, und zwar erst nach Befriedigung aller Gläubiger.48 Auf eine Beteiligung am Verlust, wie generell für die Annahme von Eigenkapital gefordert (oben II 2), kann es entgegen herrschender Ansicht49 für die Qualifikation von Einlagen in Personenhandelsgesellschaften als Eigenkapital nicht ankommen, weil diese anerkanntermaßen im Gesellschaftsvertrag ausgeschlossen werden kann, ohne daß dadurch die Rechtsstellung des Gesellschafters als solche beeinträchtigt wird.50 Die von mir vertretene gegenteilige Ansicht51 hat sich nicht durchgesetzt. Folglich muß auch die Einlage eines solchen von der Verlusttragung verschonten Gesellschafters als Eigenkapital angesehen werden. Die Maßgeblichkeit der Verlusttragungspflicht kann in diesen Fällen nicht damit aufrechterhalten werden, daß man in der Nachrangigkeit des Auseinandersetzungsanspruchs des Gesellschafters in der Liquidation und in der Insolvenz gegenüber den übrigen Gläubigern eine Form der Verlusttragung sieht.52 Zwar dürfte in aller Regel das

__________ 47 von Gerkan/Haas in Röhricht/Graf von Westphalen, 3. Aufl. 2008, § 105 HGB Rz. 73; Schäfer in Großkomm. HGB, 5. Aufl. 2009, § 105 HGB Rz. 18; K. Schmidt in MünchKomm. HGB, 3. Aufl. 2011, § 105 HGB Rz. 177; Weitemeyer in Oetker, 2. Aufl. 2011, § 105 HGB Rz. 43; Wertenbruch in Ebenroth/Boujong/Joost/Strohn, 2. Aufl. 2008, § 105 HGB Rz. 135; K. Schmidt, Gesellschaftsrecht, 4. Aufl. 2002, § 20 II 3, S. 572 ff.; Sieker, Eigenkapital und Fremdkapital der Personengesellschaft, 1991, S. 7 f.; ähnlich Huber, Vermögensanteil, Kapitalanteil und Gesellschaftsanteil an Personalgesellschaften des Handelsrechts, 1970, § 9 I, S. 191 ff. 48 Sieker (Fn. 47), S. 25 ff. 49 BFH v. 3.11.1993 – II R 96/91, BFHE 172, 523, 528 = BStBl. II 1994, 88, 90; BFH v. 27.6.1996 – IV R 80/95, BFHE 181, 148, 150 = BStBl. II 1997, 36, 37; BFH v. 4.12.2006 – VIII B 61/06, BFH/NV 2007, 451; BFH v. 15.5.2008 – IV R 46/05, BFHE 221, 162, 166 = BStBl. II 2008, 812, 814; OLG Köln v. 11.1.2000 – 22 U 139/99, NZG 2000, 979, 980 = ZIP 2000, 1726, 1727; IDW RS HFA 7 Tz. 13, WPg Supplement 1/2012, 73, 75; Förschle/Hoffmann (Fn. 33), § 247 HGB Rz. 160; von Gerkan/Haas (Fn. 47), § 120 HGB Rz. 17; Priester in MünchKomm. HGB, 3. Aufl. 2011, § 120 HGB Rz. 29; Förschle/Kropp/Siemers in Budde/Förschle/Winkeljohann, Sonderbilanzen, 4. Aufl. 2008, C Rz. 127; Huber (Fn. 47), S. 248 ff.; ders., ZGR 1988, 1, 70 f.; Hennrichs/Pöschke, HdJ III/1 Rz. 20 ff. (Oktober 2009); ähnlich auch Baums, ZHR 175 (2011), 160, 174 mit Fn. 28. 50 BGH v. 6.4.1987 – II ZR 101/86, NJW 1987, 3124, 3125 = ZIP 1987, 909, 910 f.; Ehricke in Ebenroth/Boujong/Joost/Strohn, 2. Aufl. 2008, § 121 HGB Rz. 19; von Gerkan/Haas (Fn. 47), § 121 HGB Rz. 8; Priester (Fn. 49), § 121 HGB Rz. 47; Schäfer (Fn. 47), § 105 HGB Rz. 22; Ulmer in MünchKomm. BGB, 5. Aufl. 2009, § 705 BGB Rz. 148; Weitemeyer (Fn. 47), § 121 HGB Rz. 28; Hense (Fn. 3), S. 210; wohl auch Sieker (Fn. 47), S. 29 ff. 51 Der gemeinsame Zweck der Personengesellschaften, 1973, S. 25 ff., 31 f. 52 So aber Hennrichs/Pöschke, HdJ III/1 Rz. 22 (Oktober 2009).

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Ausmaß der Nachrangigkeit von der Höhe der aufgelaufenen Verluste abhängen, doch kann die damit verbundene Einbuße des Gesellschafters mit seiner denkbaren Verlusttragungspflicht nicht identisch sein. Die Nachrangigkeit betrifft das Außenverhältnis gegenüber den Gesellschaftsgläubigern, die Verlusttragung das Innenverhältnis der Gesellschafter. Außen- und Innenverhältnis sind im Gesellschaftsrecht zu unterscheiden. Die nachteiligen Folgen einer Vermengung kann man an Hand der Regelung des § 15a EStG besichtigen, wo interne Verlusttragung und Haftung im Außenverhältnis nicht sachgerecht unterschieden werden.53 Auch die Längerfristigkeit der Kapitalüberlassung ist kein entscheidendes Kriterium für die Abgrenzung von Eigen- und Fremdkapital in der Personenhandelsgesellschaft. Hiergegen sprechen bereits die Möglichkeiten der Gesellschafter, Gesellschaftsvermögen durch Entnahmen in ihr Privatvermögen zu überführen.54 In dieselbe Richtung weisen die Kündigungsrechte der Gesellschafter einer offenen Handelsgesellschaft,55 deren Ausübung nach § 131 Abs. 3 Nr. 3 HGB zum Ausscheiden des Gesellschafters führt, wenn der Gesellschaftsvertrag keine abweichende Regelung enthält.56 Im einzelnen gilt folgendes: Die ordentliche Kündigung ist nach § 132 HGB nur bei einer auf unbestimmte Zeit eingegangenen Gesellschaft57 mit den in dieser Vorschrift genannten Modalitäten zulässig. Dieses Kündigungsrecht kann nach § 723 Abs. 3 BGB i. V. m. § 105 Abs. 3 HGB nicht ausgeschlossen werden.58 Es darf auch nicht in einer Weise erschwert werden, die einem Ausschluß gleichkommt.59 Eine außerordentliche Kündigung aus wichtigem Grund ist gesetzlich nicht vorgesehen; an ihre Stelle tritt die Auflösungsklage nach § 133 HGB.60 Wohl aber kann im Gesellschaftsvertrag vereinbart werden, daß der einzelne Gesellschafter aus wichtigem Grund die Kündigung erklärt und daraufhin aus der Gesellschaft ausscheidet.61 Darüber hinaus wird man ein solches Austrittsrecht aus wichtigem Grund auch ohne gesellschaftsvertragliche Regelung aus allgemeinem Verbandsrecht abzuleiten haben.62

__________ 53 Schulze-Osterloh in Herrmann/Heuer/Raupach, EStG und KStG, § 15a EStG Rz. 221 a. E. (EL 141, Sept. 1983); krit. auch Lüdemann in Herrmann/Heuer/Raupach, EStG und KStG, § 15a EStG Rz. 39 (EL 249, Dezember 2011). 54 Hense (Fn. 3), S. 207. 55 Zur Rechtslage vor der Handelsrechtsreform 1998 Hense (Fn. 3), S. 207 ff. 56 K. Schmidt (Fn. 47), § 132 HGB Rz. 22 f., 38. Beschränkt auf das ordentliche Kündigungsrecht Lorz in Ebenroth/Boujong/Joost/Strohn, 2. Aufl. 2008, § 132 HGB Rz. 2. 57 Lorz (Fn. 56), § 132 HGB Rz. 4; K. Schmidt (Fn. 47), § 132 HGB Rz. 6. 58 Lorz (Fn. 56), § 132 HGB Rz. 18; Schäfer (Fn. 47), § 132 HGB Rz. 29; K. Schmidt (Fn. 47), § 132 HGB Rz. 30. 59 Lorz (Fn. 56), § 132 HGB Rz. 24 ff.; Schäfer (Fn. 47), § 132 HGB Rz. 32; weitergehend K. Schmidt (Fn. 47), § 132 HGB Rz. 31. 60 Schäfer (Fn. 47), § 131 Rz. 99. 61 Lorz (Fn. 56), § 133 HGB Rz. 48; Schäfer (Fn. 47), § 131 HGB Rz. 99, § 133 HGB Rz. 72, 74; K. Schmidt (Fn. 47), § 133 HGB Rz. 6. 62 K. Schmidt (Fn. 47), § 132 HGB Rz. 37 f.; Wiedemann, Gesellschaftsrecht II, 2004, § 3 III 5 d aa, S. 274, § 8 IV 2 d, S. 748; i. E. ebenso OLG Celle v. 10.11.2010 – 9 U 65/10, NZG 2011, 261, 262; von Gerkan/Haas (Fn. 47), § 131 HGB Rz. 34; Hopt in Baumbach/Hopt, 35. Aufl. 2012, § 133 HGB Rz. 1; Piehler/Schulte in Münchener

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Ferner kann nach § 135 HGB der Gläubiger eines Gesellschafters, der innerhalb der letzten sechs Monate eine Zwangsvollstreckung in dessen bewegliches Vermögen erfolglos versucht hat, unter den in dieser Vorschrift genannten weiteren Voraussetzungen die Gesellschaft sechs Monate vor dem Ende des Geschäftsjahrs zu diesem Zeitpunkt kündigen, ohne Rücksicht darauf, ob die Gesellschaft für bestimmte oder unbestimmte Zeit eingegangen ist. Diese Kündigung führt nach § 131 Abs. 3 Nr. 4 HGB dazu, daß der Gesellschafter aus der Gesellschaft ausscheidet. Diese Regeln gelten nach § 161 Abs. 2 HGB auch für die Kommanditgesellschaft. Die Auflösung der Gesellschaft führt nach den §§ 145 ff. HGB zur Liquidation der Gesellschaft und damit zur Beendigung der Kapitalüberlassung durch die Gesellschafter, wobei die Befriedigung der Gläubiger nach den §§ 149, 155 Abs. 1 HGB Vorrang hat. Der ausscheidende Gesellschafter hat nach § 738 Abs. 1 Satz 2 BGB i. V. m. § 105 Abs. 3 HGB Anspruch auf ein Auseinandersetzungsguthaben, das so berechnet wird, als sei die Gesellschaft aufgelöst worden.63 Dazu gehört nach § 734 BGB auch der Anspruch auf Rückerstattung der Einlage. Der einzelne Gesellschafter und – im Falle der Zwangsvollstreckung – sein Gläubiger haben danach die Möglichkeit, die Einlage oder den Betrag, der nach dem Abzug von Verlustanteilen verblieben ist, einseitig aus der Gesellschaft abzuziehen. Von einer längerfristigen Kapitalbindung kann daher für die Personenhandelsgesellschaft keine Rede sein. Auch ist – wie erläutert – die Verlusttragungspflicht für die Einlage des Gesellschafters nicht konstitutiv. Dennoch werden die Einlagen der Gesellschafter als Eigenkapital der Personenhandelsgesellschaft behandelt, und zwar deshalb, weil der Rückzahlungsanspruch des Gesellschafters im Falle der Auseinandersetzung gegenüber den Ansprüchen der Gesellschaftsgläubiger nachrangig ist. b) Anwendung auf die Einlage des stillen Gesellschafters Setzt man diesen Befund zu der Rechtslage in Beziehung, die in hinsichtlich der dargestellten Elemente für die Einlage des stillen Gesellschafters besteht, so ist festzustellen, daß diese und die Einlage des Gesellschafters einer Personenhandelsgesellschaft in allen wesentlichen Elementen miteinander übereinstimmen: Die Verlusttragung ist nicht zwingend geboten;64 von einer Längerfristigkeit der Kapitalüberlassung kann keine Rede sein. Hinsichtlich des Anspruchs auf Rückzahlung der Einlage im Fall der Auseinandersetzung besteht für die Personenhandelsgesellschaft kraft Gesetzes ein Nachrang im Verhältnis

__________ Handbuch des Gesellschaftsrechts, Bd. 1, 3. Aufl. 2009, § 74 Rz. 25; Stodolkowitz, NZG 2011, 1327, 1328 ff. – A. M. Kamanabrou in Oetker, 2. Aufl. 2011, § 131 Rz. 33; Lorz (Fn. 56), § 133 Rz. 3; Schäfer (Fn. 47), § 133 HGB Rz. 3 f. 63 Ulmer/Schäfer in MünchKomm. BGB, 5. Aufl. 2009, § 738 BGB Rz. 37. 64 Hense (Fn. 3), S. 210 f.

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Die Einlage des stillen Gesellschafters als bilanzrechtliches Eigenkapital

zu den Gesellschaftsgläubigern; für die stille Gesellschaft kann eine entsprechende Nachrangregelung (oben II 3 b) getroffen werden.65 Unter der Voraussetzung einer solchen Regelung hat die Einlage des stillen Gesellschafters die Qualität der Einlage in das Vermögen der Personenhandelsgesellschaft. Sie ist also in deren Jahresabschluß entsprechend auszuweisen, allerdings zur Klarstellung als stille Einlage zu bezeichnen. 4. Der Einzelkaufmann a) Das Eigenkapital des Einzelkaufmanns Für das Eigenkapital des Einzelkaufmanns bestehen keine besonderen Regelungen. Es ist die Differenz zwischen den Aktivposten einerseits und den Verbindlichkeiten einschließlich der Rückstellungen und sonstiger Passivposten, wie Rechnungsabgrenzungsposten und erhaltener Anzahlungen, andererseits. Sämtliche dem Unternehmen vom Kaufmann zugeführte Mittel sind, soweit sie in dieser Differenz enthalten sind, Eigenkapital.66 Diese Position ist dadurch gekennzeichnet, daß sie zwingend durch Verluste gemindert wird. Das Element der Nachrangigkeit im Verhältnis zu den Ansprüchen der Gläubiger spielt keine Rolle, weil der Kaufmann im Rahmen seines Unternehmens keine Ansprüche aus dem Eigenkapital hat. Die Längerfristigkeit ist ebenfalls kein Merkmal seines Eigenkapitals, da er jederzeit Vermögensbestandteile aus seinem Unternehmen abziehen kann. b) Anwendung auf die Einlage des stillen Gesellschafters Damit erlangt die Einlage eines stillen Gesellschafters in das Handelsgewerbe des Einzelkaufmanns die Qualität von Eigenkapital, wenn der stille Gesellschafter, wie in § 231 HGB vorausgesetzt, am Verlust beteiligt ist.67 Ferner muß vereinbart sein, daß sein Anspruch auf das Auseinandersetzungsguthaben nach § 235 HGB gegenüber den Ansprüchen der übrigen Gläubiger in der Auseinandersetzung und in der Insolvenz nachrangig ist (oben II 3 b).68 Auf die Längerfristigkeit der Kapitalüberlassung kommt es nicht an. Unter diesen Voraussetzungen ist die Einlage des stillen Gesellschafters im Jahresabschluß des einzelkaufmännischen Inhabers des Handelsgewerbes als Eigenkapital auszuweisen. Sie ist allerdings zur Klarstellung als stille Einlage zu bezeichnen.

__________ 65 66 67 68

Ähnlich (bezogen auf die Insolvenz) Hense (Fn. 3), S. 220. Thiele (Fn. 3), S. 165. Hense (Fn. 3), S. 202 f. Weitergehende Anforderungen (Einschränkungen von Kündigungsmöglichkeiten in der Krise) bei Hense (Fn. 3), S. 203 ff.

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IV. Ergebnisse Die Einlage eines stillen Gesellschafters in das Vermögen des Inhabers eines Handelsgewerbes ist bilanzielles Eigenkapital des Inhabers, wenn sie hinsichtlich der Elemente der Erfolgsabhängigkeit der Vergütung einschließlich der Teilnahme am Verlust bis zur Höhe des Kapitalbetrages, der Nachrangigkeit gegenüber anderen Gläubigern des Inhabers sowie der Dauer der Kapitalüberlassung den Positionen gleicht, die in Abhängigkeit von der Rechtsform des Handelsgewerbes als dessen Eigenkapital angesehen werden. Daraus folgt, daß eine einheitliche Beurteilung für alle Rechtsformen nicht möglich ist, vielmehr gilt: 1. Die Einlage des stillen Gesellschafters einer AG kann nicht zu deren Eigenkapital gehören, weil die nach dem Recht der stillen Gesellschaft zwingend bestehenden Kündigungsrechte dem für das Eigenkapital der AG wesentliche Element der Dauerhaftigkeit der Kapitalüberlassung entgegenstehen. 2. Die Einlage des stillen Gesellschafters einer GmbH kann im Regelfall nicht zu deren Eigenkapital gehören, weil sich eine der Vorschrift des § 30 GmbHG entsprechende Kapitalbindung nicht verwirklichen läßt. Nur ausnahmsweise, wenn nämlich der stille Gesellschafter mit Hilfe seiner vermögensmäßigen Beteiligung und seines Einflusses auf die Geschäftsführung der GmbH weitgehend einem GmbH-Gesellschafter gleichsteht und zugleich die Eigenkapitalelemente der Verlustteilnahme und der Nachrangigkeit verwirklicht sind, ist § 30 GmbHG analog anzuwenden, mit der Folge, daß die Einlage des stillen Gesellschafters Bestandteil des Eigenkapitals der GmbH ist. 3. Die Einlage des stillen Gesellschafters einer Personenhandelsgesellschaft gleicht hinsichtlich der Elemente der Verlusttragung und der Längerfristigkeit der Kapitalüberlassung den Einlagen der Gesellschafter der Personenhandelsgesellschaft. Der bei dieser kraft Gesetzes bestehende Nachrang der Auseinandersetzungsansprüche im Verhältnis zu den Gesellschaftsgläubigern kann für die stille Gesellschaft vereinbart werden. Unter dieser Voraussetzung gleicht die Einlage des stillen Gesellschafters den Einlagen der Gesellschafter. Sie ist im Jahresabschluß der Personenhandelsgesellschaft entsprechend auszuweisen, allerdings zur Klarstellung als stille Einlage zu bezeichnen. 4. Die Einlage des stillen Gesellschafters eines Einzelkaufmanns gehört zu dessen Eigenkapital, wenn der stille Gesellschafter, wie in § 231 HGB vorausgesetzt, am Verlust beteiligt ist und sein Anspruch auf das Auseinandersetzungsguthaben nach § 235 HGB gegenüber den Ansprüchen der übrigen Gläubiger in der Auseinandersetzung und in der Insolvenz nachrangig ist. Unter diesen Voraussetzungen ist die Einlage des stillen Gesellschafters im Jahresabschluß des einzelkaufmännischen Inhabers des Handelsgewerbes als Eigenkapital auszuweisen, allerdings zur Klarstellung als stille Einlage zu bezeichnen.

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Die Handelndenhaftung in der Gesellschaft bürgerlichen Rechts Inhaltsübersicht I. Die mahnenden Worte des Jubilars wider die Akzessorietätstheorie II. Die Akzessorietätslehre im Widerspruch zum geschriebenen Recht 1. Der Konflikt mit § 123 Abs. 2 HGB 2. Der Konflikt mit § 176 HGB a) Zur Normstruktur des § 176 HGB b) Versuche einer rechtsethischen Rechtfertigung 3. Die Rechtstatsachenblindheit der Akzessorietätstheorie 4. § 54 Satz 2 BGB: Handelnden- plus Mitgliederhaftung? a) Die Unausweichlichkeit der persönlichen Haftung auf dem Boden der Akzessorietätstheorie

b) Das Verhältnis von Handelndenund Mitgliederhaftung 5. Zwischenergebnis III. Rückkehr zur reinen Doppelverpflichtungslehre? IV. Die Suche nach einer vermittelnden Lösung 1. Haftungsbeschränkung: Sicherer Hafen für die Anteilseigner 2. Handelndenhaftung: Sicherer Hafen für die Gläubiger 3. Die Übertragung der Handelndenhaftung in die GbR 4. Ergänzende Anwendung der Doppelverpflichtungslehre V. Zusammenfassung

I. Die mahnenden Worte des Jubilars wider die Akzessorietätstheorie In einem 1998 veröffentlichten Beitrag1 hat der Jubilar eindringlich davor gewarnt, das in § 128 HGB verankerte Prinzip der unbeschränkten persönlichen Haftung der Gesellschafter für sämtliche Verbindlichkeiten der Gesellschaft auf die GbR zu übertragen. Der Gesetzgeber habe in § 123 HGB den Eintritt in das für die Gesellschafter gefährliche Außenrecht der OHG bewußt davon abhängig gemacht, daß die Gesellschaft entweder im Handelsregister eingetragen oder ihre Geschäfte aufgenommen habe. § 123 HGB erfülle auf diese Weise eine „Tor-Funktion“; Gesellschafter, die dieses Tor nicht durchschritten hätten, müßten die Folgen der §§ 125 ff. HGB, insbesondere die strenge Haftung nach § 128 HGB, nicht fürchten.2 Das strenge Haftungsregime sei selbst für Mitglieder vollkaufmännischer Gesellschaften nur deshalb akzeptabel, weil die Möglichkeit bestehe, sich in der Rechtsform der Kommanditgesellschaft zu organisieren und damit für die meisten Gesellschafter das Haftungsrisiko zu begrenzen.3 Gerade Kleingewerbetreibenden werde diese Möglichkeit der Be-

__________ 1 Hommelhoff, ZIP 1998, 8 ff. 2 Hommelhoff, ZIP 1998, 8, 12, 14; ähnlich Peifer, NZG 2001, 296, 298. 3 Hommelhoff, ZIP 1998, 8, 13.

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grenzung verwehrt, wenn sie sich in der Rechtsform einer Personengesellschaft zusammenschlössen. Denn dann bleibe nur die Organisationsform der GbR. Diese aber kenne nicht die Möglichkeit, daß einzelne Gesellschafter sich nur mit begrenzter Haftung beteiligten. Folglich werde den Gesellschaftern durch die analoge Anwendung des § 128 HGB unausweichlich die strenge Außenhaftung aufgezwungen.4 Heute wissen wir, daß die Überlegungen des Jubilars vor dem BGH kein Gehör fanden: Der BGH verwarf zunächst den Auftritt einer Gesellschaft bürgerlichen Rechts als „GbR mbH“ im Rechtsverkehr als unzulässig5 und äußerte dabei unter anderen die Besorgnis, daß durch einen solchen Zusatz eine im Gesetz nicht vorgesehene Gesellschaftsform entstehe.6 Wenig später schloß er sich ausdrücklich der Akzessorietätstheorie an.7 Tragend dafür war der Gedanke, daß eine Beschränkung der persönlichen Haftung nur in den dafür vorgesehenen Rechtsformen (z. B. AG, GmbH) möglich sei. Die GbR verfüge, anders als etwa AG oder GmbH, über kein garantiertes Haftkapital.8 Auf diese Weise verdankt die Akzessorietät ihre Übernahme durch den BGH einer Negativauslese: Denn das andere seinerzeit diskutierte Haftungsmodell, wonach ein Gesellschafter für Verbindlichkeiten der Gesellschaft bürgerlichen Rechts nur dann persönlich einzustehen habe, wenn in seiner Person ein eigener Verpflichtungstatbestand gegeben sei (sog. Doppelverpflichtungslehre),9 hätte faktisch eine solche Begrenzung der persönlichen Gesellschafterhaftung außerhalb der haftungsbeschränkten Rechtsformen ermöglicht. Die Vorstellung einer solchen Haftungsbeschränkung wird im jüngeren Schrifttum mit der Begründung zurückgewiesen, eine Mehrzahl von Personen, die sich im Rechts- und Wirtschaftsverkehr betätige, müsse schon deshalb eine unbeschränkte persönliche Haftung gewärtigen, weil die gleiche Tätigkeit bei einer Einzelperson ebenfalls zwingend eine solche Haftung zur Folge habe: Von einem Haftungsrisiko, das den einzelnen bei seiner individuellen Unternehmung treffe, könne eine Personenmehrheit nicht verschont bleiben.10 Das Anliegen dieses Beitrags ist ein doppeltes: Zum einen gilt es zu zeigen, daß der BGH gut beraten gewesen wäre, die mahnenden Worte des Jubilars aufzugreifen. Die Akzessorietätstheorie ist nämlich rechtsmethodisch nicht

__________ 4 5 6 7

Hommelhoff, ZIP 1998, 8, 15. BGHZ 142, 315, 318 ff. BGHZ 142, 315, 322. BGHZ 146, 341, 358; seither ständige Rechtsprechung, zuletzt BGH, BB 2011, 1295, 1296; BGH, DZWiR 2012, 74, 76; Casper, JZ 2002, 1112 f.; Dauner-Lieb, DStR 1998, 2014, 2018 ff.; Lindacher, JuS 1982, 36, 39 f.; Meyer, ZGR 2008, 702, 714 f.; Mülbert, AcP 199 (1999), 38, 69 ff.; Reiff, Die Haftungsverfassung unternehmenstragender Verbände, 1996, S. 220 ff., 288 ff., 302 ff., 327 ff.; ders., ZIP 1999, 517, 520 ff.; K. Schmidt, NJW 2001, 993, 998; ders., GmbHR 2002, 341, 342; Timm, NJW 1995, 3209, 3215 f.; Ulmer, ZIP 1999, 554, 559; Wiedemann, WM 1994, Beil. 4, S. 4, 17 f. 8 BGHZ 154, 370, 373; BGH, BB 2011, 1295, 1297. 9 Für diese Lehre noch BGHZ 74, 240, 242; 79, 374, 377; 117, 168, 176; BGH, NJW 1998, 2754, 2755. Aus dem Schrifttum statt vieler Habersack, JuS 1993, 1, 2 f.; Hommelhoff, JR 1979, 505, 506. 10 Meyer, ZGR 2008, 702, 717 ff.; ähnlich bereits Mülbert, AcP 199 (1999), 38, 89.

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haltbar (unten II.). Zum anderen ist zu fragen, ob die Suche nach Alternativen wirklich zwingend bei der Doppelverpflichtungslehre stehenbleiben muß (unten III.) oder ob nicht ein vermittelndes Haftungsmodell denkbar erscheint (unten IV.).

II. Die Akzessorietätslehre im Widerspruch zum geschriebenen Recht 1. Der Konflikt mit § 123 Abs. 2 HGB Die aus § 123 Abs. 2 HGB gespeiste Argumentation des Jubilars gegen die Akzessorietätstheorie ist von anderer Seite aufgegriffen und vertieft worden: Aus den Gesetzesmaterialien läßt sich nämlich belegen, daß der Gesetzgeber das Außenrecht der OHG als besonders streng einstuft.11 Wenn also § 128 HGB in der kleingewerbetreibenden oder vermögensverwaltenden Gesellschaft vor Eintragung nicht gelten soll, weil sie besonders streng erscheint, so muß das Haftungsrisiko von Gesellschaftern einer GbR davon deutlich nach unten abweichen.12 Im jüngeren Schrifttum wird – die Akzessorietätstheorie zugrunde legend – zum Schutz der GbR-Gesellschafter immerhin postuliert, daß auch die Außengesellschaft bürgerlichen Rechts erst mit Geschäftsbeginn zur Entstehung gelange.13 Aber damit wird die in § 123 Abs. 2 HGB angelegte Unterscheidung zwischen vollkaufmännischen Gesellschaften einerseits und kleingewerbetreibenden bzw. vermögensverwaltenden Gesellschaften andererseits eingeebnet: Der Geschäftsbeginn reicht eben nur bei vollkaufmännischen OHG hin, um das scharfe Außenrecht der §§ 125 ff. HGB zur Anwendung zu bringen. Sollte sich die entsprechende Anwendung des § 123 Abs. 2 HGB unter den Vertretern der Akzessorietätslehre durchsetzen, so würde der Jubilar eindrucksvoll in seiner Kritik bestätigt: Die Hürde, die das Gesetz bewußt errichtet, um Gesellschafter bei einer nicht vollkaufmännischen Unternehmung vor den scharfen Haftungsfolgen zu schützen, würde in unzulässiger Weise niedergerissen. Es muß mithin dabei bleiben, daß kleingewerbetreibende und vermögensverwaltende Personengesellschaften ausschließlich durch Eintragung zur OHG werden und die §§ 125 ff. HGB erst ab diesem Zeitpunkt anwendbar sind. Die Akzessorietätstheorie ist folglich insgesamt außerstande, § 123 HGB schlüssig zu erklären. 2. Der Konflikt mit § 176 HGB Daneben vermag die Akzessorietätstheorie nicht mit § 176 HGB umzugehen. Denn jene Theorie führt im Ergebnis dazu, daß die Kommanditisten einer kleingewerbetreibenden oder vermögensverwaltenden KG vor Eintragung schärfer haften als die einer vollkaufmännischen KG (unten a). Jeglicher Versuch, diesem Ergebnis zu entrinnen oder es rechtsethisch zu rechtfertigen, muß scheitern (unten b).

__________

11 Näher Canaris, ZGR 2004, 69, 78 f. 12 Canaris, ZGR 2004, 69, 78, 82, 100. 13 Schäfer in FS Uwe H. Schneider, 2011, S. 1085, 1093 f.

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a) Zur Normstruktur des § 176 HGB § 176 HGB regelt den Fall, daß eine KG vor ihrer Eintragung ihre Geschäfte aufnimmt. Die Vorschrift enthält damit für die KG das Pendant zu § 123 Abs. 2 HGB. Im Rahmen des § 176 HGB sind zwei Fälle auseinanderzuhalten: § 176 Abs. 1 Satz 1 HGB benennt den Fall der vollkaufmännischen KG. Deren Kommanditisten haften vor Eintragung wie Komplementäre, es sei denn, daß ihre Beteiligung als Kommanditist dem Gläubiger bekannt war. Die Kommanditisten haben damit die Möglichkeit, durch einseitige Information der Gläubiger die unbeschränkte persönliche Haftung zu vermeiden. § 176 Abs. 1 Satz 2 HGB betrifft dagegen den Fall der kleingewerbetreibenden oder vermögensverwaltenden KG. Für diese Gesellschaften gilt § 176 Abs. 1 Satz 1 HGB nicht. Auf den ersten Blick scheint es, als wolle das Gesetz dem Rechtsanwender mitteilen: Kommanditisten einer kleingewerbetreibenden KG (im Folgenden: Kann-KG) haften vor Eintragung nicht wie Komplementäre. Folgt man aber nun der Akzessorietätstheorie, so wird dieser Normbefehl in sein Gegenteil verkehrt: Die Kann-KG ist vor ihrer Eintragung eine Gesellschaft bürgerlichen Rechts. Ihre Kommanditisten haften folglich auf dem Boden der Akzessorietätstheorie ohnehin schon wie Komplementäre – und zwar ohne die Möglichkeit, diese Haftung durch einseitige Information der Gläubiger zu vermeiden; denn für die Kann-KG gilt auch § 176 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 2 HGB nicht. Es scheint also, daß ausgerechnet in der kleingewerbetreibenden oder vermögensverwaltenden KG vor Eintragung schärfer gehaftet wird als in der vollkaufmännischen KG.14 In der Tat haben die Vertreter der Akzessorietätstheorie dieses Problem erkannt und scheinen die Konsequenzen bewußt hinzunehmen: § 176 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 1 HGB enthalte lediglich die Klarstellung, daß ohne Eintragung der Grundsatz der unbeschränkten Vermögenshaftung gelte.15 § 176 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 2 HGB sei daher als Haftungsprivileg für Kommanditisten einer vollkaufmännischen KG zu deuten.16 Indes – ein solches Ergebnis muß erstaunlich anmuten. Und in der Tat haben die Befürworter der Akzessorietätstheorie keine Einigung darüber erzielt, wie mit dem vorstehend beschriebenen Befund umzugehen sei: b) Versuche einer rechtsethischen Rechtfertigung Einige jener Befürworter nehmen eben dies Ergebnis ausdrücklich hin: Die Möglichkeit der Haftungsbeschränkung werde nur denjenigen Gesellschaften zuteil, die bereit seien, sich auch im Übrigen dem Handelsrecht zu unterstellen, insbesondere der Buchführungs- und Bilanzierungspflicht aus §§ 238 ff. HGB und dem scharfen Vertragsrecht der §§ 343 ff. HGB. Die Ist-KG unterfalle

__________ 14 So in der Tat Kindler, JuS 2006, 865, 868. 15 So besonders deutlich Dauner-Lieb in FS Lutter, 2000, S. 835, 845; Flume, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, Bd. 1/1, 1977, § 16 V 5, S. 333; Jacobs, DB 2005, 2227, 2233; Mülbert, AcP 199 (1999), 38, 98. 16 Clauss/Fleckner, WM 2003, 1790, 1800; Jacobs, DB 2005, 2227, 2230; Mülbert, AcP 199 (1999), 38, 98; K. Schmidt, GmbHR 2002, 341 f.

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diesen Regeln ipso iure, die Kann-KG dagegen erst mit der Eintragung. Deshalb sei es auch in der Sache gerechtfertigt, die Gesellschafter der Kann-KG bis zu deren Eintragung ausnahmslos nach § 128 HGB haften zu lassen und ihnen gerade nicht zu gestatten, die Haftungsbeschränkung der Kommanditisten den hierüber informierten Gläubigern bereits vorher entgegenzuhalten.17 Diese Beweisführung erscheint auf den ersten Blick bestechend, kann indes bei näherem Zusehen nicht überzeugen. Dies zeigt sich, wenn man die Teleologie des § 176 Abs. 1 HGB näher betrachtet. Denn wie an anderer Stelle zu zeigen versucht wurde,18 ist § 176 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 2 HGB nicht etwa gezielt darauf angelegt, dem Kommanditisten eine Haftungsbeschränkung durch GläubigerInformation zu ermöglichen. Denn diese Vorschrift ist nicht aus der Sicht des Kommanditisten, sondern aus der Sicht des Gläubigers gedacht: Dieser verhält sich widersprüchlich, wenn er mit der Gesellschaft vor deren Eintragung kontrahiert, obwohl er weiß, daß einzelne Gesellschafter nur beschränkt haften sollen, hernach aber die Kommanditisten an der unbeschränkten Haftung vor Eintragung festhält.19 Die daraus resultierende Möglichkeit, durch einseitige Mitteilung an die Gläubiger die unbeschränkte Haftung zu vermeiden, ist folglich nicht Primärziel des § 176 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 2 HGB, sondern bloßer Rechtsreflex. Daß § 176 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 2 HGB der Zweck einer Haftungsbegrenzung durch Information eigen sei, läßt sich auf diese Weise nicht begründen. Dann aber kann es sich bei dieser Vorschrift nicht um ein gesetzliches Haftungsprivileg handeln. Vielmehr ist und bleibt es ein Wertungswiderspruch, daß in der kleingewerbetreibenden oder vermögensverwaltenden KG vor Eintragung schärfer gehaftet werden soll als bei der vollkaufmännischen KG. Um diesen Wertungswiderspruch auszuräumen, schlagen andere Befürworter der Akzessorietätstheorie vor, § 176 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 2 HGB auf erstere entsprechend anzuwenden.20 Diese Überlegung zielt nicht darauf, die Diskrepanz in der Außenhaftung zu rechtfertigen, sondern ihr zu entrinnen. Die entsprechende Anwendung des § 176 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 2 HGB auf die Kann-KG hat sich indes mit Recht nicht durchgesetzt: § 176 Abs. 1 Satz 2 HGB würde auf diese Weise jeglicher eigenständigen Aussage beraubt.21 An alledem zeigt sich: Die Akzessorietätstheorie vermag § 176 HGB nicht systemkonform in ihr Haftungsmodell zu integrieren. Rechtsmethodisch folgt daraus: Für die Analogie zu § 128 HGB im Rahmen der GbR fehlt es an einer planwidrigen

__________ 17 In diesem Sinne Reiff, ZIP 1999, 1329, 1331. Ebenso, aber beschränkt auf den Fall, daß die Eintragung als KG nicht betrieben wird, Schön, DB 1998, 1169, 1176 f. 18 Mattheus/Schwab, ZGR 2008, 65, 77, 85 f. 19 In diesem Sinne auch Crezelius, BB 1983, 5, 9; Wiedemann, Gesellschaftsrecht II, 2004, § 9 III 7 b (S. 823). 20 Mülbert, AcP 199 (1999), 38, 96 ff.; K. Schmidt, GmbHR 2002, 341, 347; Wagner, NJW 2001, 1110, 1112; unter der Voraussetzung, daß die Eintragung als KG beantragt ist, auch Dauner-Lieb (Fn. 15), S. 835, 839, 846. 21 Vgl. Armbrüster, ZGR 2005, 34, 60: „Reduktion auf Null“. Ablehnend auch Jacobs, DB 2005, 2227, 2232; Mattheus/Schwab, ZGR 2008, 65, 77 f.

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Regelungslücke,22 weil sie ausdrücklichen gesetzlichen Wertungen widerspricht. 3. Die Rechtstatsachenblindheit der Akzessorietätstheorie Der BGH hatte die Doppelverpflichtungslehre früher maßgeblich mit dem Argument gestützt, die GbR sei in ihren praktischen Erscheinungsformen zu vielgestaltig, als daß sie pauschal dem Haftungsregime des § 128 HGB unterworfen werden könne.23 Die Defizite der Akzessorietätstheorie in diesem Punkt traten bereits kurz nach ihrer Übernahme durch den BGH offen zutage und zwangen ihre Befürworter zu Korrekturen: Teilhaber von Bauherrengemeinschaften sollen, wie es der BGH schon früher formuliert hatte, als er noch der Doppelverpflichtungslehre anhing,24 für Gesellschaftsschulden nur nach dem Verhältnis ihrer designierten Eigentumsanteile haften.25 Die persönliche Haftung von Anlagegesellschaftern in geschlossenen Immobilienfonds für die Verbindlichkeiten der Fondsgesellschaft soll durch AGB abbedungen werden können.26 Gesellschafter gemeinnütziger GbR sollen ebenfalls in weitem Umfang von der Haftung für Gesellschaftsschulden verschont werden27 – ähnlich wie die Mitglieder eines nichtrechtsfähigen Idealvereins.28 Will man die Gesellschafter in solchen – praktisch keinesfalls seltenen – Konstellationen vor der unbeschränkten persönlichen Haftung schützen, so bleiben nur zwei Wege: Entweder man wendet § 128 HGB auf solche Gesellschaften bereits im Ansatz nicht an29 und provoziert dadurch die Notwendigkeit, abhängig vom Einzelfall zu entscheiden, ob die Interessenlage in der betreffenden Gesellschaft mit dem in § 128 HGB geregelten Fall des persönlich haften-

__________ 22 Im Ergebnis (aber ohne den Rückgriff auf § 176 HGB) ebenso Beuthien, NZG 2011, 481, 487; Hadding in Soergel, 12. Aufl. 2007, § 714 BGB Rz. 11, 32a. 23 BGHZ 74, 240, 243; ebenso OLG Hamm, WM 1985, 644 f. 24 BGHZ 75, 26, 28 f.; BGH, NJW 1980, 992, 994; WM 1989, 377, 378. 25 BGHZ 150, 1, 6; ebenso Timm/Schöne in Bamberger/Roth, 2. Aufl. 2008, § 714 BGB Rz. 43; Grobe, WM 2011, 2078, 2079 f.; Hasenkamp, BB 2004, 230, 236; Reiff, ZGR 2003, 550, 558 ff., 573; Schäfer in FS Nobbe, 2009, S. 909, 924 f.; Ulmer, ZIP 2003, 1113, 1119; unter Verwahrung gegen die Akzessorietätstheorie auch Canaris, ZGR 2004, 69, 101 f. 26 BGHZ 150, 1, 5 f.; BGH, BB 2011, 1295, 1296; ebenso Armbrüster, ZGR 2005, 34, 34, 45 f.; Hasenkamp, BB 2004, 230, 235 f.; Klimke, WM 2010, 492; Ulmer, ZIP 2003, 1113, 1119; unter Verwahrung gegen die Akzessorietätstheorie auch Canaris, ZGR 2004, 69, 100 f.; gegen die Haftung der Anlagegesellschafter für das Finanzierungsdarlehen auch Westermann, ZGR 2001, 289, 295. Für unbeschränkte persönliche Haftung der Anlagegesellschafter aber Reiff, ZGR 2003, 550, 564 f., 575; Wössner, ZIP 2003, 1235, 1237. 27 Timm/Schöne (Fn. 25), § 714 BGB Rz. 44; Casper, JZ 2002, 1112, 1114; Grobe, WM 2011, 2078, 2080; Hasenkamp, BB 2004, 230, 236 f.; Reiff, ZGR 2003, 550, 567 ff., 572 f.; Schäfer (Fn. 25), S. 909, 925; Ulmer, ZIP 2003, 1113, 1119; Wössner, ZIP 2003, 1235, 1237; unter Verwahrung gegen die Akzessorietätstheorie auch Canaris, ZGR 2004, 69, 100 f.; skeptisch Dauner-Lieb, DStR 2001, 359, 360. 28 Zur Haftungsverfassung des nichtrechtsfähigen Vereins näher unten 4. 29 So ausdrücklich Reiff, ZGR 2003, 550, 566 ff.; wohl auch Wössner, ZIP 2003, 1235, 1238 f.

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den Gesellschafters einer vollkaufmännischen OHG vergleichbar ist. Oder man befürwortet um eines einheitlichen Haftungsregimes willen die unterschiedslose Anwendung des § 128 HGB30 und postuliert ggf. stillschweigende Haftungsausschlüsse zugunsten der privilegierten Gesellschafter.31 Soweit die Anhänger der Akzessorietätstheorie den letzteren Weg gehen, gelangen sie zu indiskutablen Ergebnissen: Als auffällig inkonsistent erweist sich zunächst die Begründung, mit deren Hilfe auf dem Boden der Akzessorietätstheorie die Haftung derjenigen Gesellschafter, die hiervon verschont werden sollen, geleugnet wird. Die Anhänger jener Theorie hatten der Doppelverpflichtungslehre ursprünglich vorgeworfen, sie arbeite mit fingierten Willenserklärungen, um die von ihr für grundsätzlich angemessen erachtete Mitverpflichtung der Gesellschafter für rechtsgeschäftlich begründete Gesellschaftsschulden rechtskonstruktiv zu begründen.32 Nunmehr zeigt sich, daß es um die Überzeugungskraft der Akzessorietätstheorie in diesem Punkt in keiner Weise besser bestellt ist: Wenn ihre Anhänger aus der Interessenlage auf stillschweigende Haftungsbeschränkungen schließen, setzen sie sich gleichfalls dem Vorwurf aus, entsprechende Willenserklärungen der Beteiligten zu fingieren. Gänzlich untragbare Ergebnisse muß die Akzessorietätstheorie schließlich einräumen, wenn es um die Mithaftung der Gesellschafter für andere als rechtsgeschäftlich begründete Gesellschaftsschulden geht. Die Konstruktion stillschweigender Haftungsausschlüsse kann die Gesellschafter nämlich nur vor der Haftung für vertragliche, nicht aber vor der Haftung für gesetzliche Verbindlichkeiten schützen. Freilich sind bis in die jüngste Zeit diejenigen Stimmen im Schrifttum nicht verstummt, welche § 128 HGB bereits in seinem direkten Geltungsbereich, also in der OHG und KG, nicht auf gesetzliche Verbindlichkeiten anwenden wollen.33 Der BGH ist dem nicht gefolgt;34 er hat darüber hinaus klargestellt, daß er auch in der GbR die Haftung der Gesellschafter für gesetzliche Gesellschaftsverbindlichkeiten für angemessen hält.35

__________ 30 So namentlich Casper, JZ 2002, 1112, 1113; bezüglich geschlossener Immobilienfonds auch Grobe, WM 2011, 2078, 2083 f. 31 So z. B. Ulmer, ZIP 2003, 1113, 1119 für Bauherrengemeinschaften. 32 Dauner-Lieb, DStR 1999, 1992, 1995; Elsing, BB 2003, 909, 911; Schäfer, ZIP 2003, 1225; Ulmer, ZIP 1999, 554; ders., ZIP 2001, 585, 590; Wiedemann, WM 1994, Beil. 4, S. 18. 33 Altmeppen, NJW 1996, 1017, 1019, 1021 ff.; ders., NJW 2003, 1553 ff.; Armbrüster, ZGR 2005, 34, 56 ff.; Baumann, JZ 2001, 895, 901; Flume (Fn. 15), § 16 IV 6 (S. 343 f.); Knobbe-Keuk in FS Stimpel, 1985, S. 187, 202 f.; Schäfer, ZIP 2003, 1225, 1227 ff. 34 Für Erstreckung der Haftung nach § 128 HGB auf gesetzliche Verbindlichkeiten BGHZ 82, 209, 215; Kindler, JuS 2006, 856, 867; Habersack in Großkomm. HGB, Bd. 2, 4. Aufl. 2004, § 128 HGB Rz. 10. 35 BGHZ 154, 88, 94 f. (für Verbindlichkeiten aus Delikt); BGHZ 154, 370, 372 ff. (für Leistungskondiktion); BGH, VersR 2009, 81, 82; ebenso Gesmann-Nuissl, WM 2001, 973, 978; Habersack, BB 2001, 477, 481; Hadding, ZGR 2001, 712, 725 f., 735 f.; Reiff, ZGR 2003, 550, 552 f.; Ulmer, ZIP 2003, 1113, 1114 f.; grundsätzlich ebenso Schöpflin, DStR 2003, 1349 ff., der aber vor allem für vorsätzlich begangene Delikte Ausnahmen zulassen will. Speziell für Steuerschulden wird eine Haftung alle Gesell-

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Legt man dies zugrunde, so haften die Anlagegesellschafter geschlossener Immobilienfonds für die Kosten der Abraumbeseitigung, falls ein zum Fondsvermögen gehöriges Grundstück mit Altlasten kontaminiert ist und die Behörde die Beseitigung dieses Zustands verlangt. Des Weiteren haften sie für nicht beglichene Steuerschulden der Gesellschaft (soweit diese selbst Steuersubjekt ist, z. B. gemäß § 5 Abs. 1 Satz 3 GewStG bei der Gewerbesteuer,36 gemäß § 13a Abs. 1 Nr. 1 i. V. m. § 2 Abs. 1 Satz 1 UStG bei der Umsatzsteuer37 und bei der Grunderwerbsteuer38), etwa wenn die Initiatoren die Mittel, welche für die Bedienung jener Schulden vorgesehen waren, auf Schwarzkonten im Ausland verschoben haben und selbst spurlos verschwunden sind. Und schließlich haften sie für Schäden, die Dritten aus mangelhafter Unterhaltung der Fondsobjekte erwachsen (§ 836 Abs. 1 BGB). Solche Fälle werden sich namentlich bei unrentablen oder gar in Betrugsabsicht aufgelegten Fonds ereignen. Der Anleger ist also offenbar noch nicht genug damit gestraft, daß er auf dubiose Initiatoren hereingefallen ist und seine Einlage verloren hat – nein, er muß auch noch die Haftung für alle Fondsschulden übernehmen. Solche evident ungerechten Ergebnisse zwingen zu der Konsequenz, daß die für eine Analogie zu § 128 HGB erforderliche Vergleichbarkeit der Interessenlage sich in bedeutsamen Fällen nicht darstellen läßt. Das schützenswerte Bedürfnis der Anlagegesellschafter, für die Verbindlichkeiten der Fondsschulden nicht in vollem Umfang einstehen zu müssen, läßt sich nicht leugnen, namentlich nicht mit der Begründung, der Fonds sei auf wirtschaftliche Betätigung ausgerichtet und die Anleger gelangten in den Genuß von Gewinnbeteiligung und Steuervorteilen:39 Geschlossene Immobilienfonds fungieren – insoweit ansatzweise vergleichbar einer Aktiengesellschaft – als Kapitalsammelbecken für Unternehmungen mit einem hohen Investitionsvolumen, die durch drei Eigenheiten gekennzeichnet sind: Erstens kann ein Einzelner eine solche Unternehmung angesichts des hohen Investitionsvolumens40 mit seinem Vermögen typischerweise nicht finanzieren. Zweitens verträgt die Struktur der Gesellschaft nicht die Beteiligung aller Gesellschafter an der Geschäftsführung; letztere muß vielmehr durch ein professionelles Management geleistet werden. Wohl auch deshalb sind drittens die Anlagegesellschafter untereinander anonym.41 Der wirtschaftliche Vorteil, den der einzelne Anlagegesellschafter maximal erzielen kann, steht für den Gläubiger erkennbar außer Verhältnis

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36 37 38 39 40 41

schafter befürwortet von K. Schmidt, NJW 2001, 993, 998. Gegen eine Haftung des GbR-Gesellschafters für gesetzliche Verbindlichkeiten aber Baumann, JZ 2001, 895, 900: Haftung nur des jeweils handelnden Gesellschafters; ablehnend auch Canaris, ZGR 2004, 69, 112 f. Näher dazu Selder in Glanegger/Güroff, 7. Aufl. 2009, § 5 GewStG Rz. 6. Zur Unternehmereigenschaft von Gesellschaften näher Korn in Bunjes, 10. Aufl. 2011, § 2 UStG Rz. 15 ff. Zur Steuersubjektsqualität von Personengesellschaften bei dieser Steuerart näher Pahlke in Pahlke/Franz, 4. Aufl. 2010, § 1 GrEStG Rz. 42; s. ferner § 1 Abs. 2 a i. V. m. § 13 Nr. 6 GrEStG. So aber Grobe, WM 2078, 2083 f. Darauf weist zu Recht Schäfer (Fn. 25), S. 909, 920 hin. Auf diesen Punkt weisen mit Recht Stenzel/Beckmann, BB 2011, 2507, 2508 hin.

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zum Haftungsrisiko, das bei einer umfassenden persönlichen Einstandspflicht für alle Fondsschulden bestünde. Die Akzessorietätstheorie kann in solchen Fällen überhaupt nur dann noch bestehen, wenn für Fälle der vorstehend beschriebenen Art eine Haftungsbegrenzung postuliert wird, die nicht in Abhängigkeit vom vertraglichen Konsens mit dem Gläubiger, sondern kraft Gesetzes eingreift. In der Tat wird im Schrifttum einer solchen institutionellen Haftungsbeschränkung das Wort geredet.42 Das Gesetz weiß indes von einer gesetzlichen Haftungsbeschränkung kraft atypischer Realstruktur des Verbandes nichts. Eine solche Beschränkung müßte daher durch einen weiteren Akt der Rechtsfortbildung begründet werden – nämlich durch eine teleologische Reduktion des zuvor per Analogie erst erweiterten § 128 HGB. Es wird indes zu zeigen sein, daß außerhalb einer staatlichen Registrierung eine institutionelle Haftungsbeschränkung de lege lata nicht bestehen kann.43 Und wenn dann auch noch vorgeschlagen wird, die Anleger eines geschlossenen Immobilienfonds in der Rechtsform der GbR kraft Gesetzes in einer Kommanditisten vergleichbaren Weise haften zu lassen,44 hat man faktisch eine „Kommanditgesellschaft bürgerlichen Rechts“ erfunden45 und damit eben jenen Zustand herbeigeführt, den man mit der Absage an die „GbR mbH“ beseitigen wollte: Man hat eine neue, im Gesetz nicht vorgesehene Gesellschaftsform geschaffen.46 Wie unsicher die vorstehend wiedergegebenen Aufweichungen der Akzessorietätstheorie dogmatisch fundamentiert sind, zeigt sich auch an der unterschiedlichen Behandlung von Bauherrengemeinschaften einerseits und geschlossenen Immobilienfonds durch den BGH: Bei ersteren soll die Begrenzung der Haftung offenbar kraft Gesetzes (also institutionell?), bei letzteren indes nur im Falle einer vertraglichen Vereinbarung eingreifen. Dem BGH ist es also bis heute nicht gelungen, ein widerspruchsfreies Konzept für die Haftungsverfassung atypischer GbR vorzulegen.47 4. § 54 Satz 2 BGB: Handelnden- plus Mitgliederhaftung? Zu Systembrüchen muß die Akzessorietätstheorie des Weiteren im nichtrechtsfähigen Verein führen. Dieser wird nämlich nach § 54 Satz 1 BGB wie eine Gesellschaft bürgerlichen Rechts behandelt. Die Analogie zu § 128 HGB würde eine persönliche Einstandspflicht nach sich ziehen (unten a), die neben der Handelndenhaftung nach § 54 Satz 2 BGB zu einer unangemessenen Haftungskumulation führen würde (unten b).

__________ 42 Timm/Schöne (Fn. 25), § 714 BGB Rz. 42; Jacobs, Die institutionelle Haftungsbeschränkung bei atypischen Erscheinungsformen der Außen-GbR, 2007, S. 181 ff.; Schäfer (Fn. 25), S. 909, 915 ff. 43 Unten IV. 1.; s. auch schon Brand, AcP 208 (2008), 490, 496 ff. 44 Jacobs (Fn. 42), S. 190 ff.; Schäfer (Fn. 25), S. 909, 921 f.; ders., NZG 2010, 241, 245; Timm/Schöne (Fn. 25), § 714 BGB Rz. 45. 45 Dazu auch noch unten III. 46 Im Ergebnis ablehnend auch Grobe, WM 2011, 2078, 2082. 47 Kritisch mit Recht Schäfer (Fn. 25), S. 909, 917; Stenzel/Beckmann, BB 2011, 2507, 2510.

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a) Die Unausweichlichkeit der persönlichen Haftung auf dem Boden der Akzessorietätstheorie Führt man die Akzessorietätstheorie konsequent zu Ende, so muß dies, wenn man den Verweis in § 54 Satz 1 BGB auf das Recht der GbR ernst nimmt, im nichtrechtsfähigen Verein zur unbeschränkten persönlichen Haftung aller Mitglieder führen. Allerdings scheuen zahlreiche Vertreter der Akzessorietätstheorie für den nicht eingetragenen Idealverein eben diese Konsequenz. Sie verweisen darauf, es sei anerkannt, daß die Mitglieder eines solchen Vereins nicht für dessen Schulden einzustehen hätten.48 Für eine unbeschränkte persönliche Haftung sei mit Blick auf die Gläubigerinteresen keine Notwendigkeit ersichtlich.49 Die unbeschränkte Haftung analog § 128 HGB passe nicht auf den körperschaftlich verfaßten nichtrechtsfähigen Idealverein.50 In der Tat hat die Rechtsprechung eine solche Haftung verneint.51 Der BGH hat diese Ansicht sogar nach dem Wechsel zur Akzessorietätstheorie aufrechterhalten, und zwar ohne überhaupt die Frage zu stellen, ob sich durch das geänderte Verständnis von der Haftungsverfassung der GbR etwas an derjenigen des nichtrechtsfähigen Vereins geändert haben könnte.52 Andere halten die persönliche Haftung der Mitglieder für zwar nicht wünschenswert, aber schwer vermeidbar.53 In neuerer Zeit wird sogar mit beachtlichen Gründen vertreten, daß institutionelle Haftungsprivilegien für den nichtrechtsfähigen Idealverein weder begründbar noch auch nur rechtsethisch gerechtfertigt seien.54 In der Tat erscheint eine persönliche Haftung der Mitglieder eines nichtrechtsfähigen Vereins auf dem Boden der Akzessorietätstheorie unausweichlich, wenn man sich die argumentativen Prämissen jener Theorie noch einmal vor Augen führt. Diese lauten: (1.) Es gibt im privaten Verbandsrecht außerhalb der dafür vorgesehenen Rechtsformen keine Beschränkung der persönlichen Haftung. (2.) Es gibt außerhalb jener Rechtsformen nicht einmal die Möglichkeit, durch einseitige Information der Gläubiger über den fehlenden Willen zur unbeschränkten Haftung eine Begrenzung der Einstandspflicht herbeizuführen. Überträgt man dies auf den nichtrechtsfähigen Verein, so bedeutet dies: (1.) Ein solcher Verein stellt keine für die Beschränkung der Haftung vorgesehene Rechtsform dar. (2.) Deshalb kann eine solche Haftungsbeschränkung namentlich nicht mit der Begründung postuliert werden, der Gläubiger, der mit einem Verein kontrahiere, wisse ohne Rücksicht auf die vorhandene oder fehlende Registrierung um den fehlenden persönlichen Einstandswillen der Mitglie-

__________ 48 Reiff, ZGR 2003, 550, 567; Ulmer, ZIP 2003, 1113, 1119. 49 Casper, JZ 2002, 1112, 1114. 50 In diesem Sinne – ohne dem Grunde nach zur Akzessorietätstheorie Stellung zu beziehen – Weick in Staudinger, 2005, § 54 BGB Rz. 51. 51 RGZ 63, 62, 64 ff.; BGHZ 50, 326, 329; BGH, NJW 1979, 2304, 2306; ebenso Ellenberger in Palandt, 71. Aufl. 2012, § 54 BGB Rz. 12; Hadding in Soergel, 13. Aufl. 2000, § 54 BGB Rz. 24; Weick (Fn. 50), § 54 BGB Rz. 51. 52 BGH, NJW-RR 2003, 1265. 53 Westermann, NZG 2001, 289, 295. 54 Abel, Die Haftung beim nicht rechtsfähigen Verein, 2005, S. 161 ff.; Brand, AcP 208 (2008), 490 ff.; Meyer, ZGR 2008, 702 ff.

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der.55 Es erschiene kaum folgerichtig, zwar mit Rücksicht auf die Analogie zu § 128 HGB den Rechtsformzusatz „GbR mbH“ als unzulässig und für die Außenhaftung unbeachtlich zu verwerfen, den Auftritt im Rechtsverkehr als nicht eingetragener Verein aber mit der Folge einer Haftungsbeschränkung zuzulassen. Um nicht mißverstanden zu werden: Die Verschonung der Mitglieder eines nichtrechtsfähigen Vereins von der persönlichen Haftung läßt sich als legitimes Anliegen durchaus diskutieren. Sie läßt sich aber nicht begründen, wenn man für die Haftungsverfassung der GbR der Akzessorietätstheorie folgt. b) Das Verhältnis von Handelnden- und Mitgliederhaftung Wenn man aber auch die Mitglieder eines nichtrechtsfähigen Vereins analog § 128 HGB für dessen Verbindlichkeiten haften läßt, kann man den vertraglichen Gläubiger eines solchen Vereins nur beglückwünschen. Denn ihm steht neben den Vereinsmitgliedern ein weiterer Schuldner zur Verfügung, nämlich derjenige, der im Namen des Vereins ein Rechtsgeschäft vorgenommen hat, also der sog. „Handelnde“. Es fragt sich, ob eine solche Kumulation der Haftung des Handelnden (nach § 54 Satz 2 BGB) und eine Haftung der Mitglieder (nach § 128 HGB analog) gesetzlich gewollt sein kann. Diese Frage könnte bejaht werden, wenn man in der Vor-GmbH bei Scheitern der Eintragung eine unbeschränkte Außenhaftung der Gesellschafter annähme56 – diese träte dann nämlich ebenfalls neben die Handelndenhaftung nach § 11 Abs. 2 GmbHG. Diesen Weg ist der BGH indes nicht gegangen. Er konstruiert die Verlustdeckungshaftung vielmehr als Innenhaftung und läßt die Gesellschafter für die aufgelaufenen Verluste auch nicht als Gesamtschuldner, sondern lediglich anteilig nach dem Modell des § 24 GmbHG haften.57 Zu einer Kumulation von Handelnden- und Mitgliederhaftung kommt es damit nur sehr eingeschränkt. Folgt man also dem BGH sowohl mit seinem Innenhaftungsmodell für die VorGmbH als auch mit der Akzessorietätstheorie für die GbR, so ergibt sich die merkwürdige Konsequenz, daß im nichtrechtsfähigen Idealverein schärfer gehaftet wird als in der Vor-GmbH. 5. Zwischenergebnis Bereits der Jubilar hatte in seinem eingangs erwähnten Beitrag vermerkt, daß es kaum überzeugen kann, die Gesellschafter einer GbR auf die Organisationsalternative der GmbH zu verweisen, wenn sie die persönliche Haftung vermeiden wollen.58 Die These, eine Beschränkung der persönlichen Haftung gebe es nur in den dafür vorgesehenen Rechtsformen, erschöpft sich in einem geset-

__________ 55 So aber RGZ 63, 62, 63. 56 Dafür statt vieler Bayer in Lutter/Hommelhoff, 17. Aufl. 2009, § 11 GmbHG Rz. 17 ff.; K. Schmidt in Scholz, 10. Aufl. 2006, § 11 GmbHG Rz. 79 ff. 57 BGHZ 134, 333, 339 ff. 58 Im einzelnen Hommelhoff, ZIP 1998, 8, 10.

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zesfernen Glaubensbekenntnis.59 Die Akzessorietätstheorie kann mit §§ 123, 176 HGB überhaupt nicht und mit § 54 Satz 2 BGB allenfalls bedingt umgehen. Sie muß daher als mißglückte Rechtsfortbildung verworfen werden.

III. Rückkehr zur reinen Doppelverpflichtungslehre? Mit der Absage an die Akzessorietätstheorie ist indes nicht zwingend ein Plädoyer für die Rückkehr zur Doppelverpflichtungslehre verbunden. Denn der Fall, der den BGH dazu veranlaßte, das Rechtsprinzip der unbeschränkten Vermögenshaftung zu postulieren und den Siegeszug der Akzessorietätstheorie einzuleiten, führte durchaus markant die Defizite der Doppelverpflichtungslehre zutage: Eine Gesellschaft bürgerlichen Rechts war im Rechtsverkehr mit dem Namenszusatz „mit beschränkter Haftung“ aufgetreten. Damit war für den Rechtsverkehr hinreichend deutlich erkennbar, daß die Gesellschafter, die bei Vertragsschluß für die Gesellschaft auftraten, keine Vertretungsmacht für eine persönliche Verpflichtung der Mitgesellschafter innehatten. Auf dem Boden der Doppelverpflichtungslehre schied damit eine Haftung der Gesellschafter für rechtsgeschäftliche Verbindlichkeiten aus. Diese Form der Haftungsbeschränkung hat der BGH völlig zu Recht nicht toleriert: Wollte man allein auf die Tatsache, daß der Gläubiger bei Vertragsschluß den Namenszusatz „GbR mbH“ widerspruchslos hingenommen hat, den Ausschluß persönlicher Haftung der Gesellschafter gründen, so käme dies der Anerkennung einer neuen, vom Gesetz nicht vorgesehenen Gesellschaftsform gleich.60 Die GbR mbH könnte nicht einmal dann als Rechtsform Anerkennung finden, wenn man, wie es vereinzelt vorgeschlagen wurde,61 etliche Regeln des GmbHRechts bis hin zu den Kapitalersatzregeln analog auf sie anwendete; denn stets würde es an der in § 5 Abs. 1 GmbHG niedergelegten Seriositätsschwelle in Gestalt eines Mindestnennkapitals fehlen, die der Gesetzgeber für den Zugang zur GmbH zur unerläßlichen Voraussetzung erhoben hat. Aus ähnlichen Gründen ist auch die Namensbezeichnung „Kommanditgesellschaft bürgerlichen Rechts“ für sich gesehen nicht geeignet, zugunsten auch nur eines Gesellschafters eine Beschränkung der persönlichen Haftung für Gesellschaftsschulden herbeizuführen;62 ebensowenig ein Auftreten der Gesellschaft als KG in Gründung.63 Die Doppelverpflichtungslehre in ihrer Reinform ist daher ebensowenig wie die Akzessorietätstheorie geeignet, die Haftungsverfassung in der GbR adäquat zu erklären. Es überrascht nicht, daß ausgerechnet ein Fall, in dem die Geschäftsbezeichnung „GbR mbH“ verwendet wurde, den BGH dazu

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59 Jene These wird daher mit Recht bestritten von Canaris, ZGR 2004, 69, 91 ff. und Heckelmann in FS Quack, 1991, S. 243, 255; skeptisch auch Ulmer, ZIP 1999, 554, 556. 60 BGHZ 142, 315, 322; ebenso Armbrüster, ZGR 2005, 34, 37: Baumann, JZ 2001, 895, 902 f.; Clauss/Fleckner, WM 2003, 1790, 1793; Dauner-Lieb, DStR 1999, 1992, 1994; im Ergebnis gegen die Anerkennung einer „GbR mbH“ auch Elsing, BB 2003, 909, 914; K. Schmidt, GmbHR 2002, 341, 342. 61 Vgl. ausführlich Wolf, WM 2000, 704, 707 ff. 62 Dauner-Lieb (Fn. 15), S. 835, 847; K. Schmidt, GmbHR 2002, 341, 344. 63 Wagner, NJW 2001, 1110, 1111.

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bewogen hat, seine Rechtsprechung bezüglich der Haftungsverfassung der Gesellschaft bürgerlichen Rechts zu überdenken: Hard cases make bad law.

IV. Die Suche nach einer vermittelnden Lösung Die Haftungsverfassung der GbR bewegt sich mithin zwischen zwei Eckpunkten: Einerseits muß sie deutlich weniger streng sein als die der OHG; andererseits ist das Bestreben des Gesetzgebers unverkennbar, den Zugang zur rechtssicheren Steuerung der Haftung im Sinne einer gegen jedermann wirkenden Haftungsbeschränkung nur über die Wahl registerpflichtiger Gesellschaftsformen zu eröffnen. Der Figur einer „GbR mbH“ oder einer „Kommanditgesellschaft bürgerlichen Rechts“ war die Idee zugrunde gelegen, die Gesellschafter einer GbR könnten durch eine Art „Individualpublizität“ ihre Haftung beschränken.64 Diese Idee hat sich mit Recht nicht durchsetzen können65 – eben weil sich das Gesetz für eine solche Beschränkung nicht mit bloßer Gläubigerinformation zufriedengibt. Vor diesem Hintergrund soll hier ein abweichendes Haftungsmodell vorgeschlagen werden: Für die Verbindlichkeiten der GbR haften den Gläubigern zunächst die Handelnden. Methodische Grundlage dieser These ist eine Gesamtanalogie zu §§ 54 Satz 2 BGB, 11 Abs. 2 GmbHG, 41 Abs. 1 Satz 2 AktG. Daneben haften diejenigen Gesellschafter den Gläubigern, in deren Person selbständig ein Haftungstatbestand verwirklicht worden ist. Ansätze für die Idee, die Handelndenhaftung in der GbR zur Geltung zu bringen, sind im Schrifttum durchaus vorzufinden. So wird auf dem Boden der Akzessorietätstheorie vorgeschlagen, § 54 Satz 2 auf die gemeinnützige GbR (wo die Analogie zu § 128 HGB versage) anzuwenden;66 andernorts wird die Vorschrift sogar generell auf die GbR angewandt67 und sogar der Auftritt einer GbR als „GbR mbH“ im Rechtsverkehr für möglich gehalten, wenn entsprechend § 54 Satz 2 BGB die Handelnden auf jeden Fall persönlich haften.68 Andernorts wird die Analogie zu §§ 54 Satz 2 BGB, 11 Abs. 2 GmbHG mit der Begründung verworfen, anders als Verein und GmbH sei der GbR die Haftungsbeschränkung nicht immanent; letztere müsse daher durch die Instrumente der Rechts-

__________ 64 So das Konzept von Mülbert, AcP 199 (1999), 38, 96 ff., das aber auf einer Ausdehnung des § 176 Abs. 1 Satz 1 HGB auf nicht vollkaufmännische Personengesellschaften beruht; zur Unhaltbarkeit dieses Ansatzes oben II 1 b bei Fn. 21. 65 Ablehnend Armbrüster, ZGR 2005, 34, 43 f.; Clauss/Fleckner, WM 2003, 1790, 1793; Reiff, ZIP 1999, 1329, 1330 ff.; Ulmer, ZIP 1999, 554, 560. 66 Jacobs (Fn. 42), S. 144 ff.; Schäfer (Fn. 25), S. 909, 925; Ulmer, ZIP 2003, 1113, 1119; Timm/Schöne (Fn. 25), § 714 BGB Rz. 44; ablehnend Brand, AcP 208 (2008), 490, 513; Canaris, ZGR 2004, 60, 105. 67 Bergmann in jurisPK BGB, 2. Aufl. 2005, § 54 BGB Rz. 81 (der freilich die Akzessorietätstheorie befürwortet und folglich daneben eine Haftung der Gesellschafter annimmt, ebenda Rz. 82). Die generelle Anwendung des § 54 Satz 2 BGB auf die GbR wird ferner erwogen bei Ulmer, ZIP 1999, 509, 514. 68 Beuthien, NZG 2011, 481, 488.

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geschäftslehre herbeigeführt werden.69 Damit soll offenbar die Vergleichbarkeit der Interessenlage geleugnet werden. Im Folgenden soll indes gezeigt werden, daß die Grundidee der Handelndenhaftung ungeachtet rechtsformspezifischer Unterschiede im Detail auch für die GbR paßt. 1. Haftungsbeschränkung: Sicherer Hafen für die Anteilseigner Ein Rechtssatz des Inhalts, daß eine Beschränkung der persönlichen Haftung der Gesellschafter für Gesellschaftsverbindlichkeiten nur in den dafür vorgesehenen Rechtsformen möglich sei, hat sich, wie gezeigt, anhand des Gesetzes nicht verifizieren lassen. Wohl aber erscheint die folgende Annahme gerechtfertigt: Die rechtliche Gewißheit, nicht bzw. (bei der KG) nur der Höhe nach begrenzt für Verbindlichkeiten der Gesellschaft in Anspruch genommen werden zu können, gibt es nur in den gesetzlich anerkannten Rechtsformen und auch dies erst im Zeitpunkt der Registrierung.70 Vorher erscheint eine Begrenzung der Haftung zwar denkbar, doch kann sich der Gesellschafter nicht darauf verlassen, daß sie im Außenverhältnis tatsächlich durchgreift. Besonders deutlich tritt dies bei GmbH und AG zutage: Diese bestehen vor ihrer Eintragung als solche nicht (§ 11 Abs. 1 GmbHG; § 41 Abs. 1 Satz 1 AktG). Die Haftung der Gesellschafter ist bis heute streitig.71 Erst die Eintragung schützt die Anteilseigner rechtsgewiß vor der persönlichen Haftung. Im Bereich der KG beruht, wie andernorts zu zeigen versucht wurde,72 § 176 HGB auf dem Gedanken, daß die Eintragung der Gesellschaft die Schleuse in den sicheren Hafen der Haftungsbeschränkung bildet. Vorher kann es zwar bei der vollkaufmännischen KG gelingen, die Gläubiger vor Begründung der Verbindlichkeit über den Kommanditistenstatus einzelner Gesellschafter zu unterrichten; ob es aber gelingt, ist nicht gewiß. Für die freiberufliche Partnerschaftsgesellschaft ist schließlich auf § 8 Abs. 2 PartGG zu verweisen: Danach haftet bei fehlerhafter Bearbeitung eines Auftrags nur derjenige Berufsträger persönlich, der mit der Bearbeitung des Auftrags betraut war. Ein solches Ergebnis wäre gewiß auf dem Boden der Doppelverpflichtungslehre auch in der GbR erreichbar – aber nur, wenn derjenige Gesellschafter, der das Mandat akquiriert hat, bei Vertragsschluß deutlich gemacht hat, daß die übrigen Sozien nicht persönlich für die Verbindlichkeiten aus dem Mandatsverhältnis einstehen. Versäumt er dies, werden die übrigen Sozien gegen ihren Willen persönlich mitverpflichtet.73 Die Sicherheit, von der Haftung für Pflichtverletzungen aus Mandaten verschont zu bleiben, mit denen man persönlich nichts zu tun hatte, haben die Sozien folglich nur dann, wenn sie sich für die Rechtsform der Partnerschaftsgesellschaft entscheiden

__________ 69 Heckelmann (Fn. 59), S. 243, 256. Zweifelnd auch Schwark in FS Heinsius, 1991, S. 753, 757. 70 Vergleichbare Überlegungen wie im folgenden bei Brand, AcP 208 (2008), 490, 500 ff. 71 Zur Haftungsverfassung der Vor-GmbH bereits oben II 3 b; zu derjenigen der Vor-AG statt vieler Drygala in K. Schmidt/Lutter, 2. Aufl. 2010, § 41 AktG Rz. 8 ff. 72 Mattheus/Schwab, ZGR 2008, 65, 75 ff. 73 Vgl. nur BGHZ 56, 355 ff.

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und eine entsprechende Eintragung im Partnerschaftsregister erreichen. Auf die Freiberufler-GbR ist § 8 Abs. 2 PartGG nicht entsprechend anwendbar;74 die Vorschrift verkörpert vielmehr den speziellen rechtsformtypischen Vorteil der Partnerschaftsgesellschaft und soll diese im Vergleich zur GbR attraktiver machen. 2. Handelndenhaftung: Sicherer Hafen für die Gläubiger Der Befund, daß erst die Registrierung für die Mitglieder eines Verbandes eine verläßliche Steuerung des Haftungsrisikos ermöglicht, findet seine Spiegelung in der Perspektive der Gläubiger. Denn auch sie sind vor der Registrierung einer Ungewißheit ausgesetzt: Sie haben es mit einem Verband zu tun, über dessen Vertretungsverhältnisse sie sich an keiner Stelle zuverlässig vergewissern können und der auch die Hürde der staatlichen Gründungsprüfung noch nicht überwunden hat. Ebenso wie die Registrierung für die Verbandsmitglieder den sicheren Hafen der Haftungsbeschränkung bzw. -steuerung verheißt, sichert die Handelndenhaftung den Gläubigern einen persönlichen Schuldner. Zu Recht wird nämlich der Handelndenhaftung heute ganz überwiegend eine Ausgleichs- und Sicherungsfunktion beigemessen: Der Gläubiger erhält durch die Einstandspflicht des Handelnden eine zusätzliche Sicherheit zum Ausgleich dafür, daß die Prüfung der Eintragungsvoraussetzungen durch das Handelsregister nicht abgeschlossen ist bzw. (beim nichtrechtsfähigen Verein) eine solche Prüfung durch das Vereinsregister gar nicht erst angestrebt wird.75 3. Die Übertragung der Handelndenhaftung in die GbR Wenn aber die Handelndenhaftung darauf abzielt, den Gläubigern eine ergänzende Sicherheit und einen Ausgleich für die fehlende Registrierkontrolle und -publizität zu bieten, paßt sie als Haftungsmodell ebenso für die GbR. Die Handelndenhaftung könnte dort wie folgt aussehen: (1) Für die Verbindlichkeiten einer rechtsfähigen GbR haben stets in jedem Fall diejenigen Gesellschafter persönlich einzustehen, die für die Gesellschaft handeln. (2) Die Handelndenhaftung erfaßt nicht bloß rechtsgeschäftliche, sondern ebenso gesetzliche Verbindlichkeiten. (3) Als Handelnde haften nicht bloß diejenigen, welche die Entstehung der jeweiligen Verbindlichkeit veranlaßt haben, sondern vielmehr ohne Rück-

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74 Zutreffend Armbrüster, ZGR 2005, 34, 55; Mülbert, AcP 199 (1999), 38, 95 f.; Römermann, BB 2003, 1084, 1086; Ulmer, ZIP 2003, 1113, 1118 f.; für vertragliche Sekundärhaftung nur des handelnden Sozius nach Wertung des § 425 Abs. 2 BGB aber Baumann, JZ 2001, 895, 901. 75 Vgl. statt vieler für § 54 Satz 2 BGB OLG Frankfurt, NZG 2002, 1071; Schwarz/ Schöpflin in Bamberger/Roth, 2. Aufl. 2007, § 54 BGB Rz. 38; Eckardt in NomosKomm. BGB, 2. Aufl. 2011, § 54 BGB Rz. 21; besonders prononciert Bergmann (Fn. 67), § 54 BGB Rz. 68 ff.; für § 11 Abs. 2 GmbHG BGHZ 80, 182, 184; 91, 148, 152. Ausführliche Diskussion bei Schwab, NZG 2012, 481, 482 f.

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sicht auf eine solche Beteiligung sämtliche geschäftsführenden Gesellschafter. (4) Die von der Geschäftsführung ausgeschlossenen Gesellschafter haben für Gesellschaftsschulden nur insoweit einzustehen, als der haftungsbegründende Tatbestand auch in ihrer Person verwirklicht ist. Bei rechtsgeschäftlichen Verbindlichkeiten darf der Gläubiger regelmäßig erwarten, daß die vertragschließenden Gesellschafter die Verbindlichkeit nicht nur im Namen der Gesellschaft, sondern ebenso im Namen ihrer Mitgesellschafter eingehen und daß letztere eine entsprechende Vollmacht erteilt haben. Ein solches Modell verheißt interessengerechte Ergebnisse. Es erklärt zwanglos, warum für Verbindlichkeiten geschlossener Immobilienfonds die Fondsinitiatoren, nicht aber die Anlagegesellschafter persönlich haften. Das gilt für gesetzliche Verbindlichkeiten ohne weiteres sowie für rechtsgeschäftliche Verbindlichkeiten selbst dann, wenn die Initiatoren bei Vertragsschluß nicht ausdrücklich klargestellt haben, daß sie nicht auch die Anlagegesellschafter persönlich vertreten; denn der Rechtsverkehr erwartet eine solche Haftung der Anlagegesellschafter vernünftigerweise auch ohnedies nicht. Des Weiteren gelingt es mit diesem Modell, die Mitglieder des nichtrechtsfähigen Idealvereins von der persönlichen Haftung zu verschonen; denn diese werden regelmäßig nicht geschäftsführend tätig. Vor allem die Thesen (2) und (3) bedürfen indes näherer Betrachtung. Denn sie setzen voraus, daß die Handelndenhaftung schon im direkten Anwendungsbereich der §§ 54 Satz 2 BGB, 11 Abs. 2 GmbHG, 41 Abs. 1 Satz 2 AktG in wesentlichen Punkten abweichend von der bisher h. L. gehandhabt wird. Denn nach bisher ganz überwiegender Meinung ist die Handelndenhaftung sachlich ausschließlich auf rechtsgeschäftliche und allenfalls noch auf mit diesen artverwandte Verbindlichkeiten76 und persönlich auf jene Personen beschränkt, die selbst bei der Begründung der Verbindlichkeit, und sei es auch nur mittelbar, mitgewirkt haben.77 Andernorts wurde indes zu zeigen versucht, daß weder die eine noch die andere Einschränkung überzeugt:78 Gerade die gesetzlichen Gläubiger des nichtrechtsfähigen Vereins bzw. der Vorgesellschaft sind besonders schutzbedürftig, weil sie sich, anders als vertragliche Gläubiger, den Verein bzw. die Vorgesellschaft nicht als Vertragspartner ausgesucht haben. Man könnte in diesen Fällen nur dann von der Handelndenhaftung absehen, wenn bei gesetzlichen Verbindlichkeiten ohnehin neben dem Verband durchgängig

__________ 76 Im einzelnen für § 54 Satz 2 BGB Hadding (Fn. 51), § 54 BGB Rz. 27; Weick (Fn. 50), § 54 BGB Rz. 64; für § 11 Abs. 2 GmbHG Bayer (Fn. 56), § 11 GmbHG Rz. 27; Merkt in: MünchKomm. GmbHG, 2010, § 11 GmbHG Rz. 131; für § 41 Abs. 2 Satz 2 AktG Pentz in MünchKomm. AktG, 3. Aufl. 2008, § 41 AktG Rz. 137; Drygala (Fn. 71), § 41 AktG Rz. 25; ausführlichere Nachweise bei Schwab, NZG 2012, 481 f. 77 Für § 54 Satz 2 BGB: Schwarz/Schöpflin (Fn. 75), § 54 BGB Rz. 40; Ellenberger (Fn. 51), § 54 BGB Rz. 13. Für § 11 Abs. 2 GmbHG BGHZ 53, 206, 208; 53, 210, 212; OLG Hamburg, WM 1986, 738, 739. Für § 41 AktG Hüffer, 9. Aufl. 2010, § 41 AktG Rz. 20; Pentz (Fn. 76), § 41 AktG Rz. 138. Einzelheiten sind in diesem Zusammenhang streitig; vgl. näher Schwab, NZG 2012, 481, 482. 78 Zum Folgenden Schwab, NZG 2012, 481, 483 ff.

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Die Handelndenhaftung in der Gesellschaft bürgerlichen Rechts

derjenige auch persönlich haften würde, der durch sein Handeln die Verbindlichkeit begründet hat. Dies trifft aber bei weitem nicht auf alle gesetzlichen Verbindlichkeiten zu. Gewiß: Wenn jemand in Ausführung seines Organhandelns einen anderen durch unerlaubtes aktives Tun schädigt, ist er auch persönlich für den Schaden verantwortlich, ohne daß es der Handelndenhaftung bedürfte; seine Haftung würde selbst dann nicht entfallen, wenn der Verband im Zeitpunkt der schädigenden Handlung bereits registriert gewesen wäre. Schon bei deliktischer Schädigung durch Unterlassen tritt aber nach vorzugswürdiger Ansicht eine Exklusivhaftung des Verbandes ein, ohne daß das Organ des Verbandes hierfür auch persönlich verantwortlich gemacht werden könnte.79 In jedem Fall muß, wenn man die Handelndenhaftung für gesetzliche Verbindlichkeiten ablehnt, die Suche nach einem persönlich haftenden Schuldner in folgenden Fällen versagen: bei der Produkt- bzw. Halterhaftung, weil Hersteller bzw. Halter allein der Verein bzw. die Vorgesellschaft sind; bei der Eingriffskondiktion und der Herausgabepflicht aus angemaßter Eigengeschäftsführung, weil allein der Verein bzw. die Vorgesellschaft „etwas erlangt“ hat; und schließlich bei Ansprüchen aus §§ 990, 987 BGB, weil allein der Verein bzw. die Vorgesellschaft „Besitzer“ ist. Gerade weil zahlreiche gesetzliche Verbindlichkeiten ohne einen konkreten Verursacher auskommen, kann die Handelndenhaftung auch nicht auf jene Personen beschränkt sein, welche die Verbindlichkeit begründet haben; haftbar sind vielmehr alle Mitglieder des Vorstands bzw. der Geschäftsführung. Erstreckt sich aber die Handelndenhaftung schon bei denjenigen Rechtsformen, für welche sie gesetzlich vorgesehen ist, auf gesetzliche Verbindlichkeiten und trifft sie alle Mitglieder des Geschäftsführungsorgans, so sollte man nicht zögern, die gleiche Handhabung in der rechtsfähigen GbR zu befürworten. Die entsprechende Anwendung der §§ 54 Satz 2 BGB, 11 Abs. 2 GmbHG, 41 Abs. 1 Satz 2 AktG auf gesetzliche Verbindlichkeiten ist ebenso wie die darauf aufbauende Auslegung des „Handelnden“-Begriffs auf die GbR zu übertragen.80 Auf diese Weise gelingt es zugleich, eine Haftungslücke zu schließen, die vor allem die reine Doppelverpflichtungslehre nach sich ziehen würde:81 Der Gläubiger hat nach dem hier vertretenen Konzept selbst bei gesetzlichen Verbindlichkeiten, für die kein Gesellschafter in seiner Person einen Haftungstatbestand erfüllt, neben der Gesellschaft als solcher mindestens einen persönlichen Schuldner. 4. Ergänzende Anwendung der Doppelverpflichtungslehre Die nicht geschäftsführenden Gesellschafter der GbR sind zwar nicht „Handelnde“, tragen aber dennoch ein Haftungsrisiko. Sie haben stets dann für die

__________ 79 Kleindiek, Deliktshaftung und juristische Person, 1997, S. 202 ff., 240 ff., 355 ff., 445 f., 452 ff. 80 Für unbeschränkte persönliche Haftung der Gesellschafter einer GbR gerade mit Blick auf die Gefährdungshaftung auch Reiff, ZIP 1999, 517, 526; ders., ZGR 2003, 550, 553 f. 81 Mit Recht gerügt von Mülbert, AcP 199 (1999), 38, 87.

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Verbindlichkeiten der Gesellschaft einzustehen, wenn sie in ihrer Person den Haftungstatbestand verwirklichen. Dies erscheint namentlich bei rechtsgeschäftlich begründeten Verbindlichkeiten naheliegend. Gerade weil nämlich die GbR über keinen gesicherten Haftungsfonds verfügt, erwartet der Rechtsverkehr die Bereitschaft sämtlicher Gesellschafter, für die Verbindlichkeiten der Gesellschaft einzustehen. Falls bei Vertragsschluß also nicht ausdrücklich das Gegenteil bekundet wird, kommt nicht nur ein Vertrag zwischen der GbR und deren Vertragspartner zustande; vielmehr erklären die vertretungsberechtigten Gesellschafter zugleich im Namen derjenigen Mitgesellschafter, die nicht ohnehin schon als Handelnde haften, den Beitritt zur Verbindlichkeit der Gesellschaft aus diesem Vertrag. Die Vollmacht hierzu erteilen die übrigen Gesellschafter konkludent dadurch, daß sie der Geschäftsaufnahme zustimmen. Sollte eine solche Vollmacht ausnahmsweise im Innenverhältnis nicht erteilt worden, dies aber dem Gläubiger verborgen geblieben sein, so haftet der betreffende Gesellschafter gleichwohl für die Gesellschaftsschuld mit. Dazu bedarf es nicht der Konstruktion einer Duldungs- oder Anscheinsvollmacht. Vielmehr gibt ein Gesellschafter, der sich damit einverstanden erklärt, daß seine Gesellschaft als solche nach außen hin auftritt und Verträge schließt, i. S. des § 171 Abs. 1 BGB öffentlich bekannt, daß er die vertretungsberechtigten Gesellschafter bevollmächtigt hat, auch in seinem Namen den Beitritt zur Gesellschaftsschuld zu erklären. Die Vollmacht bleibt in diesem Falle bis zu einem gleichwertigen Widerruf bestehen (§ 171 Abs. 2 BGB). Indem hier für nicht geschäftsführende Gesellschafter die Doppelverpflichtungslehre aufrechterhalten wird, bleibt Raum für die Annahme, daß jene Gesellschafter dort nicht für Gesellschaftsschulden haften, wo dies mit der Interessenlage unvereinbar wäre: Kein vernünftiger Gläubiger erwartet von den Anlagegesellschaftern eines geschlossenen Immobilienfonds oder von nicht geschäftsführenden Gesellschaftern einer gemeinnützigen GbR die unbeschränkte persönliche Haftung für Verbindlichkeiten der Gesellschaft. Deshalb erklären diejenigen Gesellschafter, welche namens der Gesellschaft mit Dritten kontrahieren, auch nicht gleichzeitig konkludent die Mithaftung eben dieser Gesellschafter. Mit dem gleichen Gedankengang läßt sich die bloß anteilige Haftung der Mitglieder einer Bauherrengemeinschaft begründen. Schließlich ergibt sich sogar ein tragfähiges Haftungsmodell für nichtsrechtsfähige Idealvereine und gemeinnützige GbR: Die Mitglieder haften selbst dann, wenn sie der Aufnahme der Vereinstätigkeit zugestimmt haben, nicht persönlich. Dazu bedarf es keiner ausdrücklichen Verlautbarung ihres fehlenden Haftungswillens nach außen.82 Vielmehr ist in solchen Fällen mit der Zustimmung zum Beginn der Vereinstätigkeit gerade keine konkludente Mitteilung an den Rechtsverkehr des Inhalts verbunden, daß der Vorstand sie auch persönlich verpflichten darf. Der Gläubiger darf und muß sich ausschließlich an die Handelnden halten.

__________ 82 So aber Brand, AcP 208 (2008), 490, 509 ff.

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Die Handelndenhaftung in der Gesellschaft bürgerlichen Rechts

V. Zusammenfassung 1. Die Haftungsverfassung der Gesellschaft bürgerlichen Rechts läßt sich weder mittels der Akzessorietäts- noch mit der reinen Doppelverpflichtungslehre befriedigend erklären. Die Akzessorietätstheorie mit ihrer Analogie zu § 128 HGB verstößt gegen das Gesetz, weil sie §§ 123 Abs. 2, 176 HGB überhaupt nicht und § 54 Satz 2 BGB nur bedingt in ihr System integrieren kann. Die Doppelverpflichtungslehre verleitet in ihrer Reinform zu Mißbräuchen wie etwa dem Rechtsformzusatz „GbR mbH“ und läßt die Etablierung einer gesetzlich nicht vorgesehenen Gesellschaftsrechtsform befürchten. 2. Daher wurde vorstehend versucht, eine vermittelnde Lösung zu erarbeiten: Analog §§ 54 Satz 2 BGB, 11 Abs. 2 GmbHG, 41 Abs. 1 Satz 2 AktG haften die geschäftsführenden Gesellschafter immer persönlich für die Verbindlichkeiten der GbR, und zwar ohne Rücksicht darauf, wer von ihnen bzw. ob überhaupt jemand von ihnen an der Begründung der Verbindlichkeit beteiligt war. Diese Handelndenhaftung erfaßt sowohl rechtsgeschäftliche als auch gesetzliche Verbindlichkeiten. Die übrigen Gesellschafter haften, sofern in ihrer Person ein eigener Haftungstatbestand erfüllt ist.

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Was ist Corporate Governance und warum beschäftigt sie die Gesetzgebung so intensiv? Inhaltsübersicht I. Einführung 1. Corporate Governance 2. Die gesellschaftliche Bedeutung börsennotierter Gesellschaften 3. Der Prinzipal-Agent-Konflikt II. Warum beschäftigten wir uns seit 20 Jahren so intensiv mit Corporate Governance? 1. Historische Entwicklung – von der Deutschland AG zur Gesellschaft mit breitem Streubesitz 2. Kontrolldefizit 3. Die Legitimation von Eingriffen in das Corporate Governance System 4. Politische Zielsetzungen für Corporate Governance-Eingriffe

III. Gesetzliche Steuerungsinstrumente 1. Staatliche Aufsicht 2. Private Kontrolle durch Aktionäre 3. Anreizsysteme 4. Kontrolle durch Kapitalmärkte und Medien und das Strafrecht 5. Kontrolle durch den Aufsichtsrat IV. Stärkung des Aufsichtsrats und Mitbestimmung V. Der Aufsichtsrat als Agent VI. Stakeholder Opportunism VII. Ausweitung der Corporate Governance-Debatte: Die Pflichten der Eigentümer und ihrer Helfer VIII. Schlussbetrachtung

I. Einführung 1. Corporate Governance Unter Corporate Governance versteht man die Gesamtheit der rechtlichen und faktischen Regeln zur Führung und Kontrolle von Großunternehmen, insbesondere börsennotierten Gesellschaften. 2. Die gesellschaftliche Bedeutung börsennotierter Gesellschaften Dass Corporate Governance-Fragen soviel politische Aufmerksamkeit erfahren, liegt unter anderem natürlich an dem Umstand, dass die großen Unternehmen eine ganz erhebliche gesellschaftliche Bedeutung in einer Wirtschaftsnation haben. Jede ihrer Bewegungen wird in den Medien sehr viel stärker beobachtet und diskutiert als die Aktivität der vielen, vielen für unsere Wirtschaft in der Summe bedeutsameren kleinen und mittelständischen Unternehmen. 3. Der Prinzipal-Agent-Konflikt Das starke Interesse der Politik an der Corporate Governance hat aber auch noch einen regelungstechnischen Grund. Das Gesellschaftsrecht bietet eine 1111

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große Palette von Gesellschaftsformen. Für fast jedes Bedürfnis der Wirtschaft ist das Angebot eines passenden Rechtsrahmens vorhanden – für das Gewerbe reicht das Angebot vom Einzelkaufmann über die Personenhandelsgesellschaften und die GmbH bis hin zur Publikumsgesellschaft; für die Freien Berufe gibt es anstelle der Personenhandelsgesellschaften die Partnerschaftsgesellschaft (und bald sogar eine Partnerschaftsgesellschaft mit beschränkter Berufshaftung; PartGmbB). Das sollte eigentlich genügen. Die Wirtschaftsakteure benötigen einen Rechtsrahmen, um ihr unternehmerisches Glück versuchen zu können, und mehr braucht das Gesetz im Grunde nicht zu tun. Die ökonomische Legitimation hierfür und für das Privateigentum an Produktivmitteln insgesamt besteht darin, dass wir der festen Überzeugung sind, dass die Unternehmer, die ihr Vermögen und ihr Geld ins Risiko setzen, (in der Summe) die optimalen Allokationsentscheidungen zum Einsatz knapper Kapitalressourcen treffen und die optimale Kontrolle über die eingesetzten Mittel ausüben werden. Dies ist grundlegendes Axiom unseres Wirtschaftssystems. Es leuchtet bei inhabergeführten Einzelunternehmen und bei der GmbH auch unmittelbar ein. Bei börsennotierten Gesellschaften, insbesondere wenn die Aktien sich im breiten Streubesitz befinden, stimmt diese theoretische Grundlage nicht mehr ganz. Die Eigentümer sind hier fern und vereinzelt, die Geschäfte der Gesellschaft führt ein angestellter Vorstand. Dies führt zu dem bekannten PrinzipalAgent-Konflikt. Dieser besteht darin, dass der Prinzipal (hier also die Aktionäre) nicht willens oder nicht in der Lage ist, den Agenten (hier also den Vorstand), der im Interesse des Prinzipals handeln soll, angemessen zu überwachen, und dass deshalb der Agent beginnt, in seinem eigenen Interesse zu handeln. Das ist im Grunde genau dasselbe, was Klaus Tolksdorf als Vorsitzender Richter am Bundesgerichtshof im Mannesmann-Prozess gemeint hat, als er sagte: „Die Angeklagten (Vorstände) waren eben nur Gutsverwalter, nicht Gutsherren“. In dieser Situation der Publikumsgesellschaft mit Streubesitz haben wir ein Kontrolldefizit. Dieses ist der Ausgangspunkt und auch heute noch das zentrale Thema der Gesetzgebung und der Diskussion im Bereich der Corporate Governance und wesentlicher sachlicher Grund für die häufigen legislatorischen Eingriffe.

II. Warum beschäftigten wir uns seit 20 Jahren so intensiv mit Corporate Governance? Publikumsgesellschaften gibt es schon sehr lange. Warum hat die Corporate Governance Diskussion in Deutschland gerade seit ca. 20 Jahren so eine Bedeutung gewonnen? 1. Historische Entwicklung – von der Deutschland AG zur Gesellschaft mit breitem Streubesitz Die herkömmlichen Kontrollmechanismen in Deutschland im Hausbankensystem und der sog. Deutschland AG mit starker industrieller Verflechtung beruhten auf der Kontrolle durch Großaktionäre und Kreditgeber. Der Auf1112

Warum Corporate Governance – und wie?

sichtsrat spielte in diesem System eine weniger ausgeprägte Rolle. Auch die Kontrolle durch den überschaubaren privaten Aktienbesitz und die wenigen ausländischen institutionellen Investoren war von geringer Bedeutung. Seit den achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts hat Deutschland eine deutliche Öffnung zu den internationalen Kapitalmärkten vollzogen. Ausländische Investoren halten heute einen großen Teil der Aktien deutscher börsennotierter Gesellschaften, bei vielen sogar schon über 50 %, und sie erwarten die ihnen bekannten Regelungsstandards und Regelungsmuster. Unter anderem aus diesem Grunde wurde in Deutschland vor etwa 10 Jahren der Deutsche Corporate Governance Kodex eingeführt.1 Corporate Governance Kodices sind insbesondere in den Case-Law-Systemen internationaler Standard, der nun auch von Deutschland erwartet wurde, obwohl wir ein Statue-Law-System haben, das die Rahmenbedingungen unserer Corporate Governance in hoher Regelungsdichte positivrechtlich bereit hält. Hinzu kommt, dass die „Deutschland AG“ in den 80er und 90er Jahren des letzten Jahrhunderts aufgebrochen wurde und wir heute deutlich mehr Aktiengesellschaften im Streubesitz, d. h. ohne einen kontrollierenden Shareholder, haben als früher. 2. Kontrolldefizit Die geschilderte Entwicklung führt zu einem Defizit bei der Kontrolle der genannten Großunternehmen, einem Kontrollvakuum. Der Eigentümer kann oder will die Kontrolltätigkeit nicht ausüben, die eigentlich eine wichtige Voraussetzung des Systems des Privateigentums an Produktivmitteln ist. Und dieses Defizit erst legitimiert den Gesetzgeber steuernd in die Detailfragen der Corporate Governance einzugreifen. 3. Die Legitimation von Eingriffen in das Corporate Governance System Der Gesetzgeber, der nicht nur die Rahmenbedingungen für die Unternehmen schafft (enabling function des Rechts), sondern in die Betätigungsfreiheit der Wirtschaft steuernd eingreift (regulatory function des Rechts), steht bei den steuernden Maßnahmen immer unter Begründungszwang. Ein solches Eingreifen kann damit legitimiert werden, dass die Eigentümerkontrolle gestört ist und nicht funktioniert, dass ein Corporate Governance-Defizit besteht, ein Systemfehler also, der nach der lenkenden Hand des Gesetzgebers ruft. Dies bedarf aber des plausiblen Nachweises. Ein gutes Beispiel für diese Problematik ist die in der 17. Wahlperiode machtvoll erhobene Forderung nach einer gesetzlichen zwingenden Frauenquote für Aufsichtsräte und Vorstände. Dieser erhebliche Eingriff in die Freiheit der Eigentümer wird politisch meist als Corporate Governance-Maßnahme dargestellt. Um eine solche Einordnung zu rechtfertigen, muss man aber zweierlei darlegen können: Zum ersten, dass ein höherer Frauenanteil im ökonomischen Interesse des Unternehmens wäre,

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1 Vgl. zum Stand des Kodex Bericht der Regierungskommission Deutscher Corporate Governance Kodex an die Bundesregierung, November 2010, http://www.corporategovernance-code.de/ger/download/16122010/Governance_Bericht_Nov_2010.pdf.

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also einen Beitrag zur langfristigen positiven Entwicklung des Unternehmens und seiner Ertragskraft leisten würde. Und zweitens wird man ein Corporate Governance-Versagen belegen müssen, welches dazu führe, dass die Unternehmensorgane nicht von selbst das tun, was dem Unternehmen nutzt. Jedenfalls bei börsennotierten Unternehmen, so könnte man argumentieren, liege ein solches Corporate Governance-Defizit hinsichtlich Suche und Wahlvorschlag der Kandidaten vor, weil männliche Aufsichtsräte und Vorstände in ihrem persönlichen Netzwerk eben nur ihnen ähnliche Männer finden. Offen bleibt, ob sie damit tatsächlich zum Nachteil ihres konkreten Unternehmens handeln. Lässt sich eins von beiden jedoch nicht nachweisen, so lässt sich die gesetzliche Frauenquote nicht mit Corporate Governance-Argumenten legitimieren. Man könnte die ganze Maßnahme dann freilich auf allgemeine gleichstellungspolitische Ziele stützen, sollte dies aber offenlegen. 4. Politische Zielsetzungen für Corporate Governance-Eingriffe Natürlich sind gesetzgeberische Maßnahmen im Bereich der Corporate Governance stets skandalgetrieben, also Reaktionen auf Firmenkrisen. Sie werden dann jeweils mit den hierbei zutage getretenen Corporate Governance-Defiziten begründet. Es fließen aber natürlich auch allgemeine politische Gestaltungsziele mit ein. In den 90er Jahren des letzten Jahrhunderts versuchte man anfangs den Shareholder-Value-Gedanken zu fördern – politisch war dies allerdings keine Maßnahme zur Bereicherung von Aktionären, sondern zur Umerziehung der Vorstände, mehr auf Ertragskraft, denn auf Umsatzwachstum zu setzen. Der Shareholder-Value ist seit dem Platzen der New-Economy-Blase im Jahr 2001 zum Tabu-Begriff geworden. Wohl weil Wachstum ein möglicher Ausweg zur Überwindung der Staatsschuldenkrise ist, denkt man heute in andere Richtung: Die OECD möchte in ihrem Arbeitsprogramm 2013–2014 die Corporate Governance als Mittel zur Erzeugung von Wachstum (Value Creation and Economic Growth) einsetzen: „How do corporate governance arrangements influence the dynamic incentives among resource providers to maximize their contribution to the corporate process of innovation and value creation?“ Und als Lehre aus der Finanzkrise 2008 hat der Deutsche Gesetzgeber mit dem Vorstandsvergütungsangemessenheitsgesetz (VorstAG2) versucht, das Management auf eine langfristige Perspektive zu lenken. Dies sind legitime politische Ziele, denen kaum einer widersprechen mag. Man sollte sich aber bewusst sein: Die Corporate Governance-Regeln dürfen nicht zur Projektionsfläche sich wandelnder politischer Richtigkeitsvorstellungen werden. Man wird jeweils erklären müssen, weshalb die Unternehmen und ihre Organe, deren natürliches Streben es ja ist, positive Erträge zu erwirtschaften, nicht von selbst in der Lage sind, das Unternehmensinteresse zu verfolgen. Warum bedarf es der bevormundenden Hand des Gesetzgebers?

__________ 2 Gesetz v. 31.7.2009, BGBl. I 2009, 2509; Geltung ab 5.8.2009.

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III. Gesetzliche Steuerungsinstrumente Einen klaren Auftrag zum Handeln hat der Gesetzgeber jedenfalls da, wo die Kontrollmechanismen versagen, wo Einfluss und Risiko auseinanderfallen und Interessenkonflikte zu opportunistischem Verhalten führen. Wie kann der Gesetzgeber durch Gestaltung des Corporate Governance-Rahmens für eine optimale Kontrolle des Managements sorgen? Es gibt da eine ganze Reihe von Ansätzen, die im Folgenden beispielhaft aufgeführt sein sollen. 1. Staatliche Aufsicht Man könnte z. B. an die staatliche Aufsicht denken. Im Bereich der regulierten Unternehmen (Versicherungen und Banken) haben wir die BaFin. Diese übt aber keine allgemeine Geschäftsführungskontrolle aus, was ihr auch gar nicht möglich wäre. Noch viel weniger wäre dies im Bereich der Realwirtschaft möglich. Deshalb ist ein allgemeines Aktienamt zur Geschäftsführungskontrolle in Deutschland zu verwerfen. 2. Private Kontrolle durch Aktionäre Der Gesetzgeber kann aber auch die private Kontrolle vitalisieren durch entsprechende gesetzliche Rahmenregelungen. Er kann die Minderheitenrechte stärken, Aktionärsklagen erleichtern, insbesondere Anfechtungsklagen und Haftungsklagen. Hiervon hat der deutsche Aktienrechtsgesetzgeber vielfach Gebrauch gemacht, vor allem von dem Minderheitenrecht Anfechtungsklage. Er hat dadurch aber ein Geschäftsmodell für räuberische Aktionäre geschaffen. Dies ist bis zu einem gewissen Grade hinnehmbar. Schmarotzertum kann in der Gesetzgebung bewusst eingesetzt werden und, wie auch die Natur es uns vormacht, sinnvoll sein. Das Geschäftsmodell der erpresserischen Aktionäre hat in Deutschland allerdings so überhand genommen, dass man dadurch entstandene volkswirtschaftliche Reibungsverluste und Kosten nicht mehr tolerieren konnte. Der Gesetzgeber musste daher in mehreren Schritten dieses Geschäftsmodell wieder zurückdrehen, was ihm zuletzt mit dem ARUG3 gelungen zu sein scheint. 3. Anreizsysteme Der Gesetzgeber kann aber auch an den Anreizsystemen ansetzen, also insbesondere an der Vergütung der Organe und dadurch das Management in die gewünschte Richtung zu lenken versuchen. Er hat dies zuletzt mit dem erwähnten Vorstandsvergütungsangemessenheitsgesetz, VorstAG, von 2009 getan. Er hat damals versucht das Agieren der Vorstände von kurzfristigem auf eher nachhaltiges und langfristiges Handeln umzustellen, was jedenfalls in Teilen gelungen zu sein scheint.

__________ 3 Gesetz v. 30.7.2009, BGBl. I 2009, 2479 (Nr. 50); Geltung ab 1.9.2009.

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4. Kontrolle durch Kapitalmärkte und Medien und das Strafrecht Der Gesetzgeber kann auch versuchen, die Kontrolle durch Kapitalmärkte und Medien zu mobilisieren. Dies tut er üblicherweise durch erhöhte Transparenzund Offenlegungsvorschriften. Auch hat der Gesetzgeber Strafvorschriften z. B. im Kapitalmarktrecht etabliert, so etwa beim Insiderrecht. 5. Kontrolle durch den Aufsichtsrat Es gibt aber auch noch einen institutionellen Ansatz. Hier haben wir eine deutsche Besonderheit, nämlich den Aufsichtsrat. Der Aufsichtsrat ist historisch ein Aktionärsausschuss und genau dazu gedacht, den Prinzipal-AgentKonflikt zu überwinden und anstelle der zulässigerweise passiven4 und fernen Eigentümer den Vorstand zu überwachen und zu kontrollieren. Ja, der Aufsichtsrat ist sogar erst die Legitimation dafür, dass der Anleger selbst passiv sein kann, indem er zwar nicht die Allokations-, aber die Kontrollaufgabe im dualistischen System an den Aufsichtsrat delegiert. Diese wichtige systembedingte Funktion des Aufsichtsrats ist durch die Mitbestimmung etwas aus dem Blick geraten. Die Mitbestimmung denkt den Aufsichtsrat mehr als eine Art politisches oder mediatives Gremium, wie einen Gemeinderat, indem sich möglichst alle Interessengruppen des Unternehmens gespiegelt wiederfinden sollen. In dem Streben nach besserer Kontrolle des Managements betrafen viele Gesetzesänderungen der letzten Jahrzehnte konsequenterweise die Stärkung des Aufsichtsrats. Dieser sollte vom Honoratiorengremium zu einem professionellen Kontrollgremium gewandelt werden und dadurch die schwindende Kontrolle durch Großaktionäre und Banken ausgleichen. Hierzu wurde unter anderem die Zahl der zulässigen Mandate pro Person beschränkt, die Information des Aufsichtsrats durch den Vorstand verstärkt und die Haftungsandrohung gegen Aufsichtsräte erhöht. Im Ergebnis hat das funktioniert. Es dürfte heute allgemeine Meinung sein, dass die deutschen Aufsichtsräte sehr viel professioneller arbeiten als noch vor 20 oder 30 Jahren, als dies – wie oben ausgeführt – wegen des anderen Systemumfelds gar nicht im gleichen Maße erforderlich war wie heute, und dass die Aufsichtsräte in Deutschland heute eine viel qualifiziertere Arbeit leisten und unabhängiger vom Vorstand sind als früher. Deutliches Anzeichen dafür ist die gesunkene Verweildauer der Vorstände. Vorstände werden heute sehr viel schneller ausgetauscht als früher, was die Unabhängigkeit des Aufsichtsrats vom Vorstand belegt – und das ist der entscheidende Maßstab der Unabhängigkeit. Die Unabhängigkeit vom Eigentümer ist aufgrund der Aufgabe als „Aktionärsausschuss“ nicht das Ziel. Insgesamt ist hier sehr viel erreicht worden.

__________ 4 Hommelhoff, Aktionärs-Aktivismus im dualistischen System? – ein Zuruf im EU Corporate Governance-Diskurs, in Liber amicorum für Martin Winter, 2011, S. 255, 258.

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IV. Stärkung des Aufsichtsrats und Mitbestimmung Allerdings muss man sich darüber im Klaren sein: Die Aufwertung des Aufsichtsrats hat zu einer Machtverschiebung vom Vorstand zum Aufsichtsrat geführt. Jede Machtverschiebung zum Aufsichtsrat hin führt aber zugleich zu einer Stärkung der deutschen Mitbestimmung. Das wusste man und hat es billigend in Kauf genommen. Weitere nicht völlig konsistente Instrumente können ebenfalls zu einer Stärkung der Mitbestimmung führen: Die CoolingOff-Periode in § 100 Abs. 2 Nr. 4 AktG kann zu einem Kompetenzverlust der Anteilseignerbank führen. Eine zwingende Frauenquote könnte in dieselbe Richtung führen, wenn der kleine Personalpool zu Kompromissen zwingt und in der Not Kandidatinnen aus ganz anderen Karrieren oder ohne jede Bindung an die Aktionärsinteressen gewählt werden. Dabei sei nur erinnert, dass die Schwächung der Aufsichtsräte in den 60er und 70er Jahren des letzten Jahrhunderts sehr viel damit zu tun hatte, dass man die Mitbestimmung dadurch unterlaufen wollte, indem der Aufsichtsrat von Informationen ferngehalten oder gewissermaßen ausgehungert wurde.

V. Der Aufsichtsrat als Agent Freilich haben all diese Bemühungen zur Vitalisierung und Stärkung des Aufsichtsrats ein grundsätzliches Problem: Auch der Aufsichtsrat ist ein Agent (wenn nicht gerade ein Eigentümer selbst im Aufsichtsrat sitzt, der eigenes Vermögen im Risiko hat). Dies führt dazu, dass Agenten über Agenten wachen, was offensichtlich eine unbefriedigende Situation ist. Aufsichtsratmitglieder und aktive Vorstände gehören meist dem gleichen oder ähnlichen sozialen Milieu an, sie stammen aus dem sogenannten „Old-boys-network“. Der Vorstand nimmt nicht selten auch Einfluss auf die Auswahl der Aufsichtsratsmitglieder und sorgt informell dafür, dass die ihm genehmen Personen dort sitzen. Man hat in der letzten Zeit gehofft, durch mehr Diversität, insbesondere die Förderung von Frauen in Aufsichtsräten, ein Aufbrechen des „Oldboys-network“ zu erreichen. Das leuchtet zunächst begrifflich absolut ein. Über kurz oder lang könnte sich freilich ein neues Netzwerk bilden, nämlich ein „Old-girls-network“. Im Ergebnis bleibt die Kontrolle des Topmanagements durch den mit Agenten besetzten Aufsichtsrat in der börsennotierten Aktiengesellschaft mit breitem Streubesitz ein Problem der Corporate Governance, an dem man sich auch künftig abarbeiten wird.

VI. Stakeholder Opportunism Die hier beschriebene Auffassung des Principal Agent Konflikts als Ursache und Kernproblem der Corporate Governance-Debatte gibt die traditionelle Sichtweise wieder. Diese verengt unbestreitbar die Diskussion auf das Verhältnis Aktionäre/Management. Dies ist eine Vereinfachung in zweierlei Hinsicht: Erstens sind die Aktionäre keine homogene Gruppe, sondern gibt es innerhalb des Aktionariats sehr unterschiedliche Interessen (z. B. zwischen 1117

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langfristig- und kurzfristig orientierten Aktionären, zwischen Großaktionären und Minderheitsaktionären). Es kann erhebliches opportunistisches Verhalten innerhalb der Eigentümer auftreten. Ferner blendet diese klassische Betrachtungsweise natürlich die übrigen Stakeholder aus, die nicht nur zugunsten der Shareholder benachteiligt werden, sondern die ihrerseits Einfluss nehmen können, um sich ungerechtfertigte Vorteile zu Lasten anderer zu verschaffen. Solche Stakeholder sind bekanntlich die Gläubiger, die Arbeitnehmer, die Kunden, die Lieferanten, die politische Gemeinde, in der das Unternehmen eingebettet ist. Wollte man all diese Interessen in die Corporate GovernanceBetrachtung einbringen, hätte man mit komplexen dreidimensionalen Strukturen wie einem DNA-Modell zu hantieren. Der traditionelle Ansatz zur Komplexitätsreduzierung ist: man definiert ein langfristiges Aktionärsinteresse, das auf das „nachhaltige“ Wachstum und Wohlergehen des Unternehmens und seiner Ertragskraft gerichtet ist. Alle genannten Stakeholderinteressen müssen dann vom Management berücksichtigt werden, ohne deren Beachtung nur kurzfristige Erfolge möglich wären, aber kein langfristiges Wohlergehen des Unternehmens. Mit dem Kunstgriff dieser Fokussierung auf einen idealisierten Shareholder wird das Aktionärsinteresse homogenisiert und mit dem sog. Unternehmensinteresse zur Deckung gebracht.

VII. Ausweitung der Corporate Governance-Debatte: Die Pflichten der Eigentümer und ihrer Helfer Geht man von dem idealen Aktionär und seinen Interessen aus, so scheint das System wieder stimmig und sind auch die Stakeholder eingefangen. Tatsächlich aber verhalten sich die realen Aktionäre nicht durchweg so, wie (politisch) gewünscht, und fallen Anspruch und Wirklichkeit auseinander. Die „Heuschreckendebatte“, vor allem aber die Folgediskussion zur Finanzkrise haben das zur Sprache gebracht. Das Grünbuch der EU-Kommission zur Corporate Governance5 (wie schon sein Vorläufer, das Grünbuch zu den Financial Institutions6) befasst sich recht ausführlich mit den Eigentümern und formuliert folgenden alarmierenden Satz: „Too many shareholders do not act as „responsible owners“, but merely as investors with a short-term strategy. Institutional investors manage a diversified portfolio and therefore often hold only a small part of a company’s equity.“ Das ist eine gravierende Kritik am Verhalten der Investoren, die ganz offensichtlich die ihnen zugedachte Eigentümerrolle nicht erfüllen, die systemgegebene Kontrollfunktion nicht zur Zufriedenheit wahrnehmen und sogar negativen Druck auf das Management ausüben. Wendet sich der Fokus der Corporate Governance-Diskussion nun diesen zu? Während die Aufmerksamkeit der letzten Jahrzehnte vorwiegend den Pflichten des Vorstands, des Aufsichtsrats und des Abschlussprüfers als Hilfsorgan des Aufsichtsrats gegolten – und bei den Aktionären wesentlich deren Rechte behandelt hat (etwa indem man die grenzüberschreitende Stimmrechtsausübung

__________ 5 Grünbuch, Europäischer Corporate Governance-Rahmen, KOM (2011) 164. 6 Corporate Governance in Finanzinstituten und Vergütungspolitik – KOM (2010) 284.

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erleichtert, die missbräuchliche Ausnutzung von Klagerechten zurückgefahren, die Kontrolle durch Haftungsklagen gestärkt hat), könnte sich der Blick nun mehr den Pflichten der Eigentümer und ihrer Hilfspersonen zuwenden. Hommelhoff wendet hiergegen scharf ein: „Gesetzgeberisches Leitbild im deutschen Aktienrecht ist allerdings der inaktive Aktionär, der allein mit seiner Einlage zum Zweck und Erfolg der Aktiengesellschaft beiträgt.“7 Das Ansinnen der Kommission stellt nicht nur das traditionelle Dogma des Rechts auf Passivität der Eigentümer der Aktiengesellschaft als Kapitalsammelbecken in Frage, sondern für den Fall dauerhaften Versagens der Eigentümer das ganze System des Privateigentums an Produktivmitteln. Die Kommission denkt nun darüber nach, wie die Aktionäre und deren Hilfspersonen (Vermögensverwalter, Fondsmanager, Proxy Advisors etc.) dazu angehalten werden können, sich für eine langfristige Entwicklung der Unternehmen zu interessieren und wie sie zu einer proaktiveren Haltung in Corporate Governance Fragen bewegt werden können.8 Das Wunschbild der EU-Kommission ist offenbar das des informierten, verantwortungsbewussten, engagierten und langfristig orientierten Aktionärs. Dies ist eine klare politische Zielvorstellung, die man ähnlich auf OECD-Ebene wie auch der Ebene nationaler Politik findet. Diesem Wunschbild würden bei unbefangener Betrachtung wohl auch alle beipflichten. Die Fragen der Kommission im Grünbuch „Europäischer Corporate Governance Rahmen“ richten sich besonders auf drei Aspekte und zwar (I.) die Aktivierung der institutionellen Anleger im Allgemeinen (Frage 13 des Grünbuchs), (II.) die Problematik der Vermögensverwalter im Besonderen (Fragen 14–15), sowie (III.) die Regulierung der Stimmrechtsberater (Fragen 18–19). Man darf gespannt sein, welche Schlüsse aus den Antworten gezogen werden und in welche Richtung sich die Corporate Governance Debatte künftig entwickelt. Geht es dabei überhaupt um eine Frage der Corporate Governance? Im Sinne der eingangs eingeführten Definition: „… die Gesamtheit der rechtlichen und faktischen Regeln zur Führung und Kontrolle von Großunternehmen, insbesondere börsennotierten Gesellschaften.“ wird man das bejahen müssen: Der Aktionär ist aus dem übergeordneten Blick des Gesetzgebers ein systembedingtes, ja zentrales Element der Führung und Kontrolle von Unternehmen; auch im dualistischen System wird die Eigentümeraufgabe nicht komplett auf den Aufsichtsrat delegiert.

VIII. Schlussbetrachtung Wir haben in den letzten 20 Jahren bei der Deutschen Corporate Governance an sehr vielen Schrauben gedreht. Wir dürfen konstatieren, dass das Regelwerk

__________ 7 Hommelhoff, Aktionärs-Aktivismus im dualistischen System? – ein Zuruf im EU Corporate Governance-Diskurs, in Liber amicorum für Martin Winter, 2011, S. 255, 258. 8 Grünbuch, Europäischer Corporate Governance-Rahmen, KOM (2011) 164, S. 3 f.

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zur Kontrolle und Leitung der Aktiengesellschaften sehr viel enger geknüpft, vor allem aber die Kontrolle durch die Aufsichtsräte unserer Publikumsgesellschaften sehr viel besser und professioneller geworden ist. Die Corporate Governance in Deutschland befindet sich heute auf Augenhöhe mit führenden Industrienationen der Welt. Gleichwohl hören wir immer wieder den Ruf nach Änderungen im bestehenden System, und seien es auch nur Details. Dem muss man nachgehen, aber da, wo ein Eingriff nicht mit Corporate Governance Defiziten begründet werden kann, widerstehen. Auch die Finanzkrise 2008 hat den Ruf nach Änderungen provoziert. Aber die Ursachen, die zur Finanzkrise geführt haben, lagen weniger im Kernbereich der deutschen Corporate Governance; es waren auch sehr viele politische Gründe darunter. Die Deutschen Publikumsgesellschaften sind relativ gut durch die Krise gekommen. Der Gesetzgeber hat deshalb behutsam reagiert. Für börsennotierte Gesellschaften, insbesondere aber die Kreditinstitute gab es eine Verlängerung der Verjährungsfrist für die Organhaftung, um die Managementfehler in Ruhe aufarbeiten zu können.9 Das VorstAG hat versucht, mehr Langfristigkeit in das Agieren der Vorstände zu bringen – das zu kurzfristige und nicht auf das langfristige Überleben und Wohlergehen der Unternehmen ausgerichtete Managerverhalten war sicherlich ein Corporate Governance-Defizit, das mit zu der Krise beigetragen hat.10 Im Übrigen sind im allgemeinen Gesellschaftsrecht aber zu Recht Überreaktionen bewusst vermieden worden. Mit dem Deutschen Corporate Governance Kodex haben wir auch ein Instrument, mit dem Überregulierungen im Gesetz erfolgreich abgewehrt werden konnten, mit dem somit ein Puffer gegen Regelungseuphorie gelegt worden ist. Ein dringender Änderungsbedarf ist bis auf einige Details derzeit nicht mehr erkennbar. In der 17. Wahlperiode sind daher keine großen Corporate Governance Reformen geplant und wenn man ehrlich ist, haben wir mit der Staatsschuldenkrise derzeit auch andere und größere Sorgen. Es zeichnet sich aber eine Ausweitung der herkömmlichen auf Aufsichtsrat und Vorstand konzentrierten Corporate Governance Debatte ab: Die Eigentümerseite wird in den Blick genommen. Während man sich bisher im Wesentlichen mit den Rechten der Eigentümer befasst hatte, beginnt man nun nach ihren Pflichten zu fragen. Erfüllen sie die Erwartungen, die mit dem System des Eigentums an Produktivmitteln verbunden sind? Die Politik wünscht sich den idealen Aktionär, dieser soll verantwortungsbewusst, wohlinformiert, engagiert und langfristig orientiert sein. Dies steht möglicherweise im Widerspruch zu unserer Vorstellung von der zulässigen Passivität des Kapitalgebers, dessen Kontrollaktivitäten nicht ganz, aber weitgehend vom Aufsichtsrat übernommen werden. Man wird solche Zielvorstellungen also stimmig in unser

__________ 9 Restrukturierungsgesetz v. 9.12.2010, BGBl. I 2010, 1900. 10 Für Kreditinstitute sind verständlicherweise weit detailliertere Regulierungen vorgenommen worden, s. z. B. die Instituts-Vergütungsverordnung v. 6.10.2010, BGBl. I 2010, 1374 und Gesetz über die aufsichtsrechtlichen Anforderungen an die Vergütungssysteme von Instituten und Versicherungsunternehmen v. 21.7.2010, BGBl. I 2010, 950.

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System einpassen müssen, in dem die Eigentümer wichtige Teile ihrer Kontrollaufgabe an den Aufsichtsrat delegiert haben. Zudem liegt in solchen Überlegungen eine Idealisierung. Man kann nicht alle Aktionäre zu Mustereigentümern machen. Aber wahrscheinlich würde es genügen, wenn eine hinreichend große Zahl von Eigentümern sich angemessen kümmern würde. Ob bürokratische Auflagen, Berichtspflichten und mehr Papier eine Besserung bringen, erscheint zweifelhaft. Auch wenn Transparenzpflichten immer ein probater politischer Kompromiss zu sein scheinen,11 so sollte man doch ehrlich fragen: Werden diese Daten überhaupt zur Kenntnis genommen? Interessiert sich jemand für sie? Oder sind sie nur ein aliquid fieri videatur? Investoren sind ökonomisch getrieben – eine Antwort müsste daher wohl in erster Linie durch Veränderung der ökonomischen Anreize gefunden werden.

__________ 11 A compromise is an agreement between two men to do what they both agree is wrong (Edward Cecil).

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Zur Mitbestimmung bei der SE & Co. KG Inhaltsübersicht I. Einleitung II. Gründung Europäischer Aktiengesellschaften, die nicht der Mitbestimmung unterliegen III. Erwerb der Aktien einer Vorrats-SE durch die Kommanditisten einer KG IV. Aufnahme einer von den Kommanditisten beherrschten arbeitnehmerlosen Vorrats-SE als Komplementärin in

eine KG, mit in der Regel mehr als 2.000 Arbeitnehmern 1. Strukturelle Änderung 2. Wirtschaftliche Neugründung 3. Analogie zu § 4 Abs. 1 MitbestG 4. Missbrauchsverbot V. Strukturunterschiede zwischen GmbH & Co. KG und SE & Co. KG VI. Das soziale Klima VII. Zusammenfassung

I. Einleitung Unternehmen in der Rechtsform einer AG, einer KGaA, einer GmbH oder einer Genossenschaft, die in der Regel mehr als 2.000 Arbeitnehmer beschäftigen, sind nach Maßgabe des Mitbestimmungsgesetzes mitbestimmungspflichtig (§ 1 Abs. 1 MitbestG). Ist ein Unternehmen der genannten Rechtsformen persönlich haftender Gesellschafter einer KG und hat die Mehrheit der Kommanditisten dieser Kommanditgesellschaft, berechnet nach der Mehrheit der Anteile oder der Stimmen, die Mehrheit der Anteile oder der Stimmen in dem Unternehmen des persönlich haftenden Gesellschafters inne, so gelten für die Anwendung des MitbestG auf den persönlich haftenden Gesellschafter die Arbeitnehmer der KG als Arbeitnehmer des persönlich haftenden Gesellschafters, sofern nicht der persönlich haftende Gesellschafter einen eigenen Geschäftsbetrieb, mit in der Regel mehr als 500 Arbeitnehmern, hat (§ 4 Abs. 1 Satz MitbestG). Eine SE gehört nicht zum Kreis der in § 1 Abs. 1 MitbestG genannten Rechtsformen. § 4 Abs. 1 Satz 1 MitbestG findet auf sie daher keine unmittelbare Anwendung. Dies legt die Frage nahe, ob und, wenn ja, unter welchen Voraussetzungen bei einer KG mit in der Regel mehr als 2.000 Arbeitnehmern die Mitbestimmung nach dem Mitbestimmungsgesetz dadurch vermieden werden kann, dass statt eines Unternehmens in einer der in § 1 Abs. 1 MitbestG genannten Rechtsformen ein nicht originär mitbestimmungspflichtiges Unternehmen in der Rechtsform einer SE – also namentlich eine arbeitnehmerlose SE – zum persönlich haftenden Gesellschafter bestellt wird. Dieser Frage soll im Folgenden nachgegangen werden. 1123

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II. Gründung Europäischer Aktiengesellschaften, die nicht der Mitbestimmung unterliegen 1. Eine SE kann originär nur durch Verschmelzung, durch Gründung einer Holding-Gesellschaft, durch Gründung einer gemeinsamen Tochtergesellschaft oder durch formwechselnde Umwandlung entstehen. Die jeweiligen Gründungspartner müssen eine im Gesetz näher bezeichnete Rechtsform haben. Mindestens zwei von ihnen müssen dem Recht verschiedener Mitgliedsstaaten der EU unterliegen (Art. 2 SE-VO). Sekundär kann eine SE durch Gründung als Tochtergesellschaft einer bestehenden SE entstehen (Art. 3 SE-VO).1 Nach Art. 12 Abs. 2 SE-VO darf eine SE erst dann ins Register eingetragen werden und damit erst dann zur Entstehung gelangen, wenn eine Vereinbarung über die Beteiligung der Arbeitnehmer gemäß Art. 4 der SE-RL geschlossen wurde oder vom besonderen Verhandlungsgremium ein Beschluss gefasst wurde, keine Verhandlungen über die Arbeitnehmerbeteiligung aufzunehmen oder, bereits aufgenommene Verhandlungen abzubrechen, oder die nach den SE-RL bestehende Verhandlungsfrist ergebnislos abgelaufen ist.2 2. Nach heute ganz herrschender Meinung ist es möglich, arbeitnehmerlose Gesellschaften in der Rechtsform der SE mit Sitz in Deutschland zu gründen. Arbeitnehmerlose Gesellschaften werden zumeist als Vorratsgesellschaften gegründet. Die Nachfrage nach solchen ist groß, sei es, weil den Interessenten die Gründungsvoraussetzungen fehlen, sei es, weil sie sich nicht selbst der Mühe einer Gründung unterziehen wollen, oder sei es nur, weil sie rasch eine solche Gesellschaft benötigen. Die Gründung kann auf jedem der fünf Gründungswege erfolgen, geschieht aber in den meisten Fällen im Wege der Gründung einer Tochtergesellschaft. Die Gründung setzt eine Konstellation voraus, bei der kein besonderes Verhandlungsgremium nach §§ 4 ff. SEBG zu bilden ist und bei der es deshalb für die Organe der beteiligten Unternehmen an einem Partner fehlt, mit dem gemäß §§ 11 ff. SEBG eine Vereinbarung über die Beteiligung der Arbeitnehmer in der neuen SE ausgehandelt werden könnte. Eine solche Konstellation ist nach § 5 SEBG dann gegeben, wenn in den beteiligten Gesellschaften, betroffenen Tochtergesellschaften und betroffenen Betrieben zusammen weniger als 10 Arbeitnehmer beschäftigt sind. § 12 Abs. 2 SE-VO steht der Eintragung der SE nicht entgegen, obgleich die Eintragungsvoraussetzung „abgeschlossene Vereinbarung über die Beteiligung der Arbeitnehmer“ nicht erfüllt ist. Die Vorschrift ist im Wege einer teleologischen Reduktion dahin auszulegen, dass die Eintragung der SE nur dann vom Abschluss einer Vereinbarung über die Arbeitnehmerbeteiligung abhängt, wenn eine solche Vereinbarung nach Lage der Dinge auch geschlossen werden kann.3

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1 Hommelhoff, Einige Bemerkungen zur Organisationsverfassung der Europäischen Aktiengesellschaft, AG 2001, 279. 2 Oetker in Lutter/Hommelhoff, Die Europäische Gesellschaft, 2005, S. 277 ff. 3 OLG Düsseldorf, DNotZ 2009, 699 mit Kommentierung Giedinghagen/Rubner, EWiR 2009, 489; AG München, ZIP 2006, 1300; Schäfer in MünchKomm. AktG, 2. Aufl. 2006, Art. 16 SE-VO Rz. 13; Casper in Spindler/Stilz, AktG, 2. Aufl. 2010, Art. 12 SE-VO Rz. 7; Jannott/Frodermann, Handbuch der Europäischen Aktiengesellschaft,

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III. Erwerb der Aktien einer Vorrats-SE durch die Kommanditisten einer KG Der Erwerb der Aktien einer Vorrats-SE durch die Kommanditisten einer KG kann für sich allein nicht dazu führen, dass ein besonderes Verhandlungsgremium zu bilden ist und Verhandlungen über eine Beteiligung der Arbeitnehmer aufzunehmen sind. Ist bei einer SE eine Mitbestimmungsregelung einmal wirksam geworden, bleibt sie – von wenigen Ausnahmen abgesehen – in Kraft, auch wenn sich die maßgebenden Verhältnisse später ändern, etwa die Zahl der Arbeitnehmer bestimmte Schwellenwerte über- oder unterschreitet. Dies gilt auch für eine arbeitnehmerlose Vorrats-SE, die mitbestimmungsfrei ist. Man spricht von der Zementierung der Mitbestimmungsregelung.4 Der Erwerb der Aktien einer mitbestimmungsfreien Vorrats-SE durch die Kommanditisten einer KG ist für sich allein kein Ereignis, das an der Mitbestimmungsfreiheit der SE etwas ändern könnte. An der wirtschaftlichen Ausrichtung der SE und an ihrer Struktur ändert sich durch den bloßen Erwerb nichts.

IV. Aufnahme einer von den Kommanditisten beherrschten arbeitnehmerlosen Vorrats-SE als Komplementärin in eine KG, mit in der Regel mehr als 2.000 Arbeitnehmern Wird eine von den Kommanditisten beherrschte arbeitnehmerlose Vorrats-SE als Komplementärin in eine KG, mit in der Regel mehr als 2.000 Arbeitnehmern, aufgenommen, ändert sich ihr Satzungszweck grundlegend. Aus einer schlafenden Gesellschaft wird eine Gesellschaft mit unternehmerischen Aufgaben. Kann dies Anlass für eine neue Mitbestimmungsregelung sein? Für die Antwort gibt es verschiedene Ansatzpunkte.

__________ 2005, Einleitung Rz. 27 und Kapitel 13 Rz. 210 ff.; Casper/Schäfer, Die Vorrats-SE – Zulässigkeit und wirtschaftliche Neugründung, ZIP 2007, 653; Forst, Die Beteiligung der Arbeitnehmer in der Vorrats-SE, NZG 2009, 687; ders., Beteiligung der Arbeitnehmer in der Vorrats-SE, RdA 2010, 55; Schreiner, Zulässigkeit und wirtschaftliche Neugründung einer Vorrats-SE, Dissertation Universität Mannheim, 2008; Schubert, Die Arbeitnehmerbeteiligung bei der Europäischen Gesellschaft ohne Arbeitnehmer, ZESAR 2006, 340; Spitzbart, Die Europäische Aktiengesellschaft, RNotZ 2006, 369, 414; a. A. LG Hamburg, ZIP 2005, 2019; Blanke, Europäische Aktiengesellschaft ohne Arbeitnehmerbeteiligung, ZIP 2006, 789. 4 Ege/Grzimek/Schwarzfischer, Der Zementierungseffekt bei der Mitbestimmung bei Gründung einer SE und grenzüberschreitenden Verschmelzung, DB 2011, 1205; Wollburg/Banerjea, Die Reichweite der Mitbestimmung in der Europäischen Gesellschaft, ZIP 2005, 277, 282; Feldhaus/Vanscheidt, „Strukturelle Änderungen“ der Europäischen Aktiengesellschaft im Lichte von Unternehmenstransaktionen, BB 2008, 2246, 2247; Götze/Winzer/Arnold, Unternehmerische Mitbestimmung – Gestaltungsoption und Vermeidungsstrategien, ZIP 2009, 245, 251; Rieble, Schutz vor paritätischer Unternehmensmitbestimmung, BB 2006, 2018, 2020.

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1. Strukturelle Änderung „Sind strukturelle Änderungen der SE geplant, die geeignet sind, Beteiligungsrechte der Arbeitnehmer zu mindern, finden auf Veranlassung der Leitung der SE oder des SE-Betriebsrats Verhandlungen über die Beteiligungsrechte der Arbeitnehmer der SE statt“ (§ 18 Abs. 3 Satz 1 SEBG). Was „strukturelle Änderungen“ sind, wird im Schrifttum lebhaft diskutiert.5 Rieble spricht von einer „dunklen Vorschrift“6. Eine solche ist es in der Tat. Im Rahmen unserer Untersuchung wählt man den Ansatz am besten bei dem eingeschobenen Nebensatz „… die geeignet sind, Beteiligungsrechte der Arbeitnehmer zu mindern“. Durch die Aufnahme der SE in die KG als Komplementärin werden keine Beteiligungsrechte der Arbeitnehmer der SE gemindert, denn die SE hat keine Arbeitnehmer. Gemindert werden können allerdings die Beteiligungsrechte der Arbeitnehmer der KG. Denn wird etwa die SE anstelle einer AG oder einer GmbH Komplementärin, verlieren die Arbeitnehmer der KG ihre bisherigen, auf § 4 Abs. 1 MitbestG beruhenden Mitbestimmungsrechte. Der Wortlaut von § 18 Abs. 3 Satz 1 SEBG sagt nicht ausdrücklich, ob es nur auf die Minderung der Beteiligungsrechte der Arbeitnehmer der SE ankommt oder ob auch die Minderung der Beteiligungsrechte von Arbeitnehmern anderer Gesellschaften relevant ist. Es spricht viel dafür, dass es nur auf die Arbeitnehmerrechte bei der SE selbst ankommt, denn das Ziel von § 18 Abs. 3 SEBG ist es, allein für die Arbeitnehmer der SE eine neue Mitbestimmungsregelung zu finden. Das Recht der SE bietet keinen Raum, Arbeitnehmer anderer Gesellschaften bei der SE Mitbestimmungsrechte ausüben zu lassen. Die Vorschrift des § 4 Abs. 1 MitbestG, die unter gewissen Voraussetzung die Arbeitnehmer der KG der Komplementärin zurechnet, ist eine eng auszulegende Spezialvorschrift.7 Im Rahmen von § 18 Abs. 3 SEBG kann eine solche Zurechnung nicht erfolgen. Will man dem allem nicht folgen und im Eintritt der Vorrats-SE in die KG doch eine zur Minderung der Beteiligungsrechte der Arbeitnehmer geeignete strukturelle Änderung sehen, müssten „auf Veranlassung der Leitung der SE oder des SE-Betriebsrats“ Verhandlungen über die Beteiligungsrechte der Ar-

__________ 5 Nagel, Strukturelle Änderungen in der SE und Beteiligungsvereinbarung, ZIP 2011, 2047 ff.; Wollburg/Banerjea (Fn. 4), ZIP 2005, 277, 278; Casper/Schäfer (Fn. 3), ZIP 2007, 653, 658 f.; Seibt, Arbeitnehmerlose Societas Europea, ZIP 2005, 2248, 2250; Jacobs in MünchKomm. AktG, 2. Aufl. 2006, § 18 SEBG Rz. 11 ff.; Jannott/Frodermann, Handbuch der Europäischen Aktiengesellschaft, 2005, Kapitel 13 Rz. 190 ff.; Schubert, Die Arbeitnehmerbeteiligung bei der Europäischen Gesellschaft ohne Arbeitnehmer, ZESAR 2006, 340, 343 ff.; Feldhaus/Vanscheidt (Fn. 4), BB 2008, 2246; Ege/Grzimek/Schwarzfischer, Der Zementierungseffekt bei der Mitbestimmung bei Gründung einer SE und grenzüberschreitender Verschmelzung, DB 2011, 1205, 1209; Drinhausen/Keinath, Verwendung der SE zur Vermeidung von Arbeitnehmermitbestimmung – Abgrenzung zulässiger Gestaltungen von Missbrauch gemäß § 43 SEBG, BB 2011, 2699 ff. 6 Rieble (Fn. 4), BB 2006, 2018, 2022. 7 Walter Sigle, Zur Mitbestimmung bei der Kapitalgesellschaft & Co. KG – Altes und Neues, in FS Peltzer, 2001, S. 539, m. w. N.

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beitnehmer stattfinden. Einen Betriebsrat kann die SE nicht haben, weil sie keine Arbeitnehmer hat. Es könnte also allein die Leitung der SE den Antrag stellen. Dass diese dies tun würde, ist unwahrscheinlich. Als Verhandlungspartner käme mangels Betriebsrat nur ein neu zu bildendes Verhandlungsgremium in Betracht (§ 18 Abs. 2 Satz 2 SEBG). Kann aber ein solches überhaupt gebildet werden? Möglich wäre es mangels eigener Arbeitnehmer der SE allenfalls dann, wenn zu den Aktionären der SE eine oder mehrere Gesellschaften gehörten, die zusammen über 10 oder mehr Mitarbeiter verfügen, und wenn man diese Arbeitnehmer als berechtigt ansehen würde, das Gremium zu bilden. Hiergegen sprechen jedoch gewichtige Gründe.8 Die Arbeitnehmer der an der Gründung der SE beteiligten Gesellschaften sind zur Mitwirkung bei der Bildung des besonderen Verhandlungsgremiums ersichtlich nur deshalb berufen, weil die SE zur Zeit der Bildung des Gremiums noch nicht existent ist. Die Vereinbarung über die Beteiligung der Arbeitnehmer gehört dort, wo eine ausreichende Zahl von Arbeitnehmern vorhanden ist, zu den Gründungsvoraussetzungen. Ist die SE rechtswirksam errichtet, können und müssen deren Arbeitnehmer ihre Arbeitnehmerrechte selbst wahrnehmen. Für die Einflussnahme Dritter ist kein Raum mehr. Wollte man es anders sehen, würde sich die Frage stellen, ob nur Arbeitnehmer solcher Gesellschaften wahlberechtigt sind, die schon bei der Gründung der SE beteiligt waren, und wenn nicht, ob die Gesellschaften eine zur Gründung einer SE berechtigende Rechtsform haben müssen. Beide Fragen wären zu verneinen. Die erste deshalb, weil den Gründungsgesellschaften und ihren Arbeitnehmern nach der Veräußerung von Aktien ohne gesetzliche Grundlage keine Sonderrechte bei der nunmehr selbständigen SE zustehen können. Die zweite, weil kein Grund ersichtlich ist, den Arbeitnehmern der beteiligten Gesellschaften je nach Rechtsform unterschiedliche Einflussrechte zuzubilligen. 2. Wirtschaftliche Neugründung Der BGH hat in seinem Urteil vom 9.12.20029 entschieden, dass bei der Aktivierung einer Vorrats-GmbH die Gründungsvorschriften entsprechend anzuwenden sind. Danach haben insbesondere die Geschäftsführer bei der Anmeldung der notwendigen Satzungsänderung in analoger Anwendung der §§ 9c und 8 Abs. 2 GmbHG zu versichern, dass die Mindestkapitalausstattung zu ihrer freien Verfügung steht.10 Es ist die Frage aufgeworfen worden, ob die vom BGH entwickelten – und inzwischen herrschende Meinung gewordenen –11 Grundsätze auch anzuwenden

__________ 8 S. auch Forst, Beteiligung der Arbeitnehmer in der Vorrats-SE, RdA 2010, 55, 57. 9 BGHZ 153, 158. 10 Dazu im Einzelnen Altmeppen, Zur Mantelverwendung in der GmbH – Zugleich Besprechung von BGH, NZG 2003, 145; Bayer in Lutter/Hommelhoff, 17. Aufl. 2009, § 3 GmbHG Rz. 8 ff. 11 Heidinger, Die wirtschaftliche Neugründung, ZGR 2005, 101; Roth in Roth/Altmeppen, 6. Aufl. 2009, § 3 GmbHG Rz. 12 ff.; Hueck/Fastrich in Baumbach/Hueck, 19. Aufl. 2010, § 3 GmbHG Rz. 13 ff., je m. w. N.

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sind, wenn es um die Mitarbeiterbeteiligung einer aktivierten Vorrats-SE geht. Schubert vertritt die Auffassung, im Falle der wirtschaftlichen Neugründung seien die Auffangbestimmungen der §§ 22, 35 ff. SEBG anzuwenden, wonach die Arbeitnehmer der SE einen in § 34 Abs. 2 SEBG näher bestimmten Teil des Aufsichts- oder Verwaltungsorgans zu wählen haben.12 Demgegenüber geben Casper/Schäfer einer analogen Anwendung des § 18 Abs. 3 SEBG den Vorzug, also der Regelung, die bei strukturellen Änderungen gilt.13 Folgt man Casper/Schäfer, kann es zu keiner Mitbestimmungsregelung kommen, wenn eine arbeitnehmerlose SE als Komplementärin einer KG aktiviert wird. Das haben die Ausführungen unter 1. gezeigt. Macht man sich die Auffassung von Schubert zu eigen, ist das Ergebnis bei der arbeitnehmerlosen SE zwingend dasselbe, es sei denn, es wären der SE als Komplementärin der KG die Arbeitnehmer der KG zuzurechnen – so wie dies bei einer der in § 1 MitbestG aufgeführten Gesellschaften der Fall ist, wenn sie Komplementärin einer KG ist. An eine solche Zurechnung ist deshalb zu denken, weil sich nach § 35 Abs. 2 Satz 2 SEBG die Zahl der Arbeitnehmervertreter im Aufsichts- oder Verwaltungsorgan der SE nach dem höchsten Anteil an Arbeitnehmervertretern bemessen soll, der in den Organen der beteiligten Gesellschaften vor der Eintragung der SE bestanden hat. Man könnte argumentieren, maßgebender Zeitpunkt sei im Falle der wirtschaftlichen Neugründung nicht der Tag der Gründung der Vorrats-SE, sondern der ihrer Aktivierung. Besteht die Aktivierung darin, dass die SE in einer KG eine gemäß § 4 MitbestG voll mitbestimmte GmbH als Komplementärin ersetzt, hieße dies, dass bei der KG die Mitbestimmung der Arbeitnehmer entfällt. Daraus könnte die Folgerung gezogen werden, dass der SE die Arbeitnehmer der KG gleichfalls zugerechnet werden müssen. So reizvoll der Gedanke ist, muss er letztlich doch verworfen werden. Die Societas Europaea (SE) ist eine europäische Gesellschaftsform. Sie hat ihre Grundlage in einer Verordnung des Rats der Europäischen Union.14 Die Bundesrepublik Deutschland hat in dem von der Verordnung gezogenen Rahmen Ausführungsgesetze erlassen. Die Verordnung und die Ausführungsgesetze enthalten detaillierte Bestimmungen, inwieweit die Arbeitnehmer anderer Gesellschaften zur Regelung der Mitbestimmung bei einer SE beizutragen haben. Auch wenn – wie sich gezeigt hat – dabei die eine oder andere Frage offen geblieben ist, ist im Regelungswerk doch kein Ansatz zu finden, wonach einer arbeitnehmerlosen SE die Arbeitnehmer einer KG, an der sie beteiligt ist und deren Geschäfte sie führt, zuzurechnen sein könnten. Zudem haben nach dem Regelungswerk der SE Arbeitnehmer anderer Gesellschaften allenfalls über das besondere Verhandlungsgremium beim Abschluss einer Vereinbarung mitzuwirken (§ 12 Abs. 2 SEBG), nicht jedoch in einem Aufsichts- oder Verwaltungsorgan der SE.

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12 Schubert (Fn. 3), ZESAR 2006, 340, 348. 13 Casper/Schäfer (Fn. 3), ZIP 2007, 653 695 f.; ebenso Forst, Beteiligung der Arbeitnehmer in der Vorrats-SE, RdA 2010, 55, 57. 14 Vgl. hierzu Hommelhoff (Fn. 1), AG 2001, 279 f.

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3. Analogie zu § 4 Abs. 1 MitbestG Die zuletzt behandelte Frage, ob die Arbeitnehmer der KG aufgrund der Auffangbestimmung in § 35 Abs. 2 Satz 2 SEBG der SE zuzurechnen sind, ist eine andere als die, ob die Arbeitnehmer der KG in analoger Anwendung des § 4 Abs. 1 MitbestG für die Anwendung des Mitbestimmungsgesetzes als Arbeitnehmer der SE gelten. Auch diese Frage ist indessen zu verneinen. Es ist heute einheitliche Meinung, dass der in § 1 MitbestG gezogene Kreis für die vom Mitbestimmungsgesetz erfassten Unternehmen abschließend gezogen ist.15 Der BGH hat dazu ausgeführt, es könne nicht Aufgabe der Gerichte sein, den auf politischem Wege gefundenen Mitbestimmungskompromiss durch eine – wie immer geartete – Rechtsfortbildung zu korrigieren.16 Gleiches gilt für § 4 Abs. 1 MitbestG, soweit dort auf die Auflistung in § 1 Abs. 1 MitbestG Bezug genommen ist.17 Dementsprechend ist allgemein anerkannt, dass etwa rechtsfähige Stiftungen und ausländische Kapitalgesellschaften als Komplementäre einer KG nicht der Mitbestimmung nach dem Mitbestimmungsgesetz unterfallen.18 Danach ist ausgeschlossen, dass eine SE als Komplementärin einer KG auf dem Wege einer Analogie zu § 4 Abs. 1 MitbestG mitbestimmungspflichtig werden kann. 4. Missbrauchsverbot Nach § 43 SEBG darf eine SE nicht dazu missbraucht werden, den Arbeitnehmern Beteiligungsrechte zu entziehen oder vorzuenthalten. Die Bestimmung steht im Kontext mit ErwG 18 SE-RL und § 1 Abs. 1 und 3 SEBG.19 In diesen Bestimmungen wird übereinstimmend und expressis verbis die Sicherung der erworbenen Rechte der Arbeitnehmer als ein besonderes Ziel der Gesetzgebung hervorgehoben. Damit liegt die Frage nahe, ob ein Missbrauch vorliegt, wenn eine arbeitnehmerlose, mitbestimmungsfreie SE als Komplementärin in eine KG mit in der Regel mehr als 2.000 Arbeitnehmern aufgenommen wird. Die KG wäre fraglos mitbestimmungsfrei, wenn nur natürliche Personen zu persönlich haftenden Gesellschaftern berufen würden. Doch dagegen bestehen in vielen Gesellschaften Vorbehalte, vor allem weil in der KG nur Gesellschafter die Geschäfte zu führen haben, weil Geschäftsführer die persönliche Haftung scheuen und weil es beim Ausscheiden persönlich haftender Gesellschafter oft zu schwer lösbaren

__________ 15 Oetker in Müller-Glöge/Preis/Schmidt, Erfurter Kommentar zum Arbeitsrecht, 9. Aufl. 2009, § 1 MitbestG Rz. 2. 16 BGHZ 134, 400. 17 Ulmer/Habersack in Ulmer/Habersack/Henssler, Mitbestimmungsrecht, 2. Aufl. 2006, § 1 MitbestG Rz. 31, § 4 Rz. 7; Walter Sigle (Fn. 7) in FS Peltzer, 2001, S. 542, je m. w. N. 18 Ulmer/Habersack (Fn. 17), § 4 MitbestG Rz. 7 m. w. N. 19 Rehberg, Die missbräuchliche Verkürzung der unternehmerischen Mitbestimmung durch die Societas Europaea, ZGR 2005, 859.

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Nachfolgeproblemen kommt. Die Aufnahme einer Kapitalgesellschaft als persönlich haftende Gesellschafterin lässt einen Großteil dieser Vorbehalte entfallen, ohne dass damit die Vorteile aufgegeben würden, die die Rechtsform der Personengesellschaft gegenüber der reinen Kapitalgesellschaft vor allem in steuerlicher Hinsicht bietet. Bei Kommanditgesellschaften mit in der Regel mehr als 2.000 Arbeitnehmern ist die Kehrseite die Unterwerfung der Komplementärin unter die Mitbestimmung nach dem Mitbestimmungsgesetz, vorausgesetzt allerdings, dass es sich bei ihr um eine AG, eine KGaA, eine GmbH oder einer Genossenschaft handelt (§ 4 Abs. 1 MitbestG). Wie bereits dargelegt, kann eine arbeitnehmerlose SE als Komplementärin einer KG nicht nach dem Mitbestimmungsgesetz mitbestimmungspflichtig werden, weil dies die abschließende Auflistung der dem Mitbestimmungsgesetz unterworfenen Unternehmen in § 1 MitbestG nicht zulässt. Wollte man danach in der Übernahme der Komplementärstellung bei der KG durch eine SE einen Missbrauch sehen, falls die KG mehr als 2.000 Arbeitnehmer beschäftigt und die weiteren Voraussetzungen des § 4 Abs. 1 MitbestG gegeben sind, wäre dies für eine solche SE gleichbedeutend mit dem Verbot, die Komplementärstellung zu übernehmen. Einem solchen kann die SE durch die Missbrauchsklausel aber auf keinen Fall unterworfen sein, zumal es bei der KG eine ganze Reihe sonstiger Möglichkeiten gibt, mit Hilfe anderer haftungsbeschränkter Unternehmen – wie etwa rechtsfähige Stiftungen und ausländische Gesellschaften – die Mitbestimmung nach dem Mitbestimmungsgesetz zu vermeiden.

V. Strukturunterschiede zwischen GmbH & Co. KG und SE & Co. KG Wer für die Haftungsbeschränkung einer KG der Rechtsform der SE & Co. KG den Vorzug vor der üblicheren Rechtsform der GmbH & Co. KG geben will, muss sich über die Strukturunterschiede beider Rechtsformen im Klaren sein. In der Rechtsform der GmbH & Co. KG haben die Gesellschafter der GmbH – auch der gemäß § 4 Abs. 1 MitbestG mitbestimmten – ein weitreichendes Weisungsrecht in Geschäftsführungsangelegenheiten.20 Das Weisungsrecht greift auch, wenn der mitbestimmte Aufsichtsrat der GmbH im Rahmen seiner Zuständigkeit die Zustimmung zu einem Geschäft verweigert. Strittig ist allein, ob die Gesellschafter der GmbH ein „Nein“ des Aufsichtsrats mit einfacher Mehrheit oder nur mit einer Dreiviertelmehrheit überwinden können. Die überwiegende Meinung im Schrifttum lässt die einfache Mehrheit genügen.21 Anders als die Gesellschafter der GmbH haben die Kommanditisten nach dem Gesetz kein Weisungsrecht der geschäftsführenden GmbH gegenüber. Für laufende Geschäftsführungsangelegenheiten kann ein solches auch

__________ 20 Zöllner/Noack in Baumbach/Hueck, 19. Aufl. 2010, § 37 GmbHG Rz. 20; Ulmer/ Habersack (Fn. 17), § 30 MitbestG Rz. 19, § 25 Rz. 64 ff.; Kleindiek in Lutter/ Hommelhoff, 17. Aufl. 2009, § 37 GmbHG Rz. 17. 21 Zum Meinungsstreit Ulmer/Habersack (Fn. 17), § 30 MitbestG Rz. 19.

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Zur Mitbestimmung bei der SE & Co. KG

nicht im Gesellschaftsvertrag vereinbart werden, weil dadurch das Mitbestimmungsrecht der Arbeitnehmer ausgehebelt würde.22 Ganz anders bei der SE & Co. KG. Die Aktionäre der SE haben gegenüber den Organen kein Weisungsrecht. Sie haben – im dualistischen wie im monistischen System – nur ausnahmsweise in Geschäftsführungsangelegenheiten zu entscheiden.23 Hingegen können den Kommanditisten der SE & Co. KG im Gesellschaftsvertrag nahezu unbegrenzt Rechte in Geschäftsführungsangelegenheiten eingeräumt werden.24 Die Mitbestimmungsregelungen, die bei der GmbH & Co. KG entsprechende Vereinbarungen entgegen stehen, gelten hier nicht und können deshalb solche Vereinbarungen auch nicht hindern.

VI. Das soziale Klima Es sind vor allem mittelständische Unternehmen, die in der Rechtsform der KG organisiert sind. Die Geschäftsführung liegt hier überwiegend in der Hand von Gesellschaftern, und unter den Gesellschaftern bestehen häufig familiäre Bindungen. Das Verhältnis zu den Arbeitnehmern ist persönlicher als bei den großen Kapitalgesellschaften. Auch heute noch hat es oft patriarchalische Züge. Die Gesellschafter fühlen eine Fürsorgepflicht für ihre Arbeitnehmer, aber sie wollen sich nicht von ihnen dreinreden lassen. Die Scheu vor der Mitbestimmung ist bei den Gesellschaftern groß. Man hat Angst, von jenen abhängig zu werden, die bei einem in Lohn und Brot stehen, und man fürchtet, dass durch die Mitbestimmung im Unternehmen alles viel komplizierter wird. Andererseits zeigt die Erfahrung, dass das Klima in den Aufsichtgremien mitbestimmter mittelständischer Unternehmen häufig sehr entspannt ist – oft entspannter als zwischen Unternehmensleitungen und Betriebsräten. Beide Seiten wissen – bei aller Verschiedenheit der Interessen – um die Bedeutung des sozialen Friedens. Auch die Vertreter der Gewerkschaften pflegen dem Rechnung zu tragen. Die Arbeitnehmer wissen um ihre Rechte, und die Gewerkschaften sorgen mit dafür, dass diese Rechte respektiert und gewahrt werden. Die Arbeitnehmer und die Gewerkschaften werden hellhörig, wenn ein Unternehmen Wege sucht, Arbeitnehmerrechte, die bei einer üblichen Rechtsformwahl entstünden, nicht entstehen zu lassen, oder bereits entstandene Rechte durch eine Änderung der Rechtsform auszuräumen. So etwa, wenn kurz vor dem Erreichen des Schwellenwerts, von in der Regel 2.000 Arbeitnehmern, die Komplementärin in der Rechtsform einer GmbH ausgetauscht wird gegen eine solche in der Rechtsform der SE oder wenn ein solcher Austausch gar bei einer bereits mitbestimmten GmbH & Co. KG erfolgt. Solche Maßnahmen können das soziale

__________

22 Mutter in Münchener Handbuch des Gesellschaftsrechts, Bd. 2, 3. Aufl. 2009, § 53 Rz. 31; Ulmer/Habersack (Fn. 17), § 4 MitbestG Rz. 30. 23 Hommelhoff (Fn. 1), AG 2001, 279, 283 f.; Teichmann in Lutter/Hommelhoff, Die Europäische Gesellschaft, S. 195 ff. 24 Hopt in Baumbach/Hopt, 34. Aufl. 2010, § 164 HGB Rz. 7 mit Hinweis insbesondere auf BGH, BB 1976, 526 und BGHZ 45, 204.

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Klima empfindlich stören – mit nachhaltigen Auswirkungen. Es ist daher sehr zu überlegen, ob man sich, um die Arbeitnehmermitbestimmung zu vermeiden, für die Rechtsform der SE & Co. KG entscheiden will.

VII. Zusammenfassung 1. Es ist möglich, eine arbeitnehmerlose, nicht mitbestimmte Vorratsgesellschaft in der Rechtsform der SE zu gründen. 2. Der Erwerb der Aktien einer solchen Vorrats-SE durch die Kommanditisten einer KG ändert nichts an der Mitbestimmungsfreiheit der SE. 3. Die arbeitnehmerlose, mitbestimmungsfreie SE bleibt auch mitbestimmungsfrei, wenn sie Komplementärin einer KG, mit in der Regel mehr als 2.000 Arbeitnehmern, wird. 4. Zwischen einer GmbH & Co. KG und einer SE & Co. KG gibt es, was die Einflussrechte der Gesellschafter angeht, erhebliche Strukturunterschiede. 5. Wer die Rechtsform der SE & Co. wählen will, um Mitbestimmungsrechte der Arbeitnehmer zu vermeiden, muss die Auswirkungen auf das soziale Klima bedenken.

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Corporate Social Responsibility in der AG – Mythos oder Realität? Inhaltsübersicht I. Einleitung II. Corporate Social Responsibility Ansätze III. Corporate Social Responsibility und Organpflichten

V. Corporate Social Responsibility als Wettbewerbsfaktor und unlauterer Wettbewerb VI. CSR als neuer „social governance Kodex“?

IV. Unternehmenserklärung, Wirtschaftsprüfung und Corporate Social Responsibility

I. Einleitung Die soziale Verantwortung der AG hat das deutsche Recht seit mehr als einem Jahrhundert beschäftigt. Bekannteste und nach wie vor heftig umstrittene Ausprägung ist die deutsche fast-paritätische Mitbestimmung. Aber auch die Diskussionen um den Konflikt zwischen Shareholder-Value-Orientierung der Unternehmensleitung einerseits1 und einem mehr auf die Einbeziehung von Stakeholder-Interessen ausgerichtetem Unternehmensinteresse2 als Leitlinie für die Pflichten der Organe andererseits sind gut in Erinnerung und durchziehen bis heute immer wieder die aktienrechtlichen Debatten, an denen auch der Jubilar lebhaften Anteil nahm. Die Diskussion hat durch die internationale Bewegung der Corporate Social Responsibility als Teil der Unternehmenspolitik einen neuen Impuls erhalten, was sich in entsprechenden Tätigkeitsberichten, darauf bezogenen Prüfungen und Auditierungen bis hin zu werbewirksamen Gütesiegeln niederschlägt. Dementsprechend wird zunächst ein Blick auf den derzeitigen Stand der internationalen Corporate Social Responsibility (CSR) Bewegung geworfen und was hierunter weitgehend verstanden wird (II.), um sonach die klassisch gesellschafsrechtlichen Fragen der Auswirkungen der CSR auf die Organpflichten zu stellen (III.). Weniger behandelt sind bislang das Ausmaß und die Prüfung der Einhaltung von CSR-Erklärungen im Anhang zur Bilanz (IV.). Dagegen wird

__________ 1 Verfechter einer Shareholder-Value-Orientierung etwa Mülbert in diversen Publikationen, Mülbert in FS Röhricht, 2005, S. 421, 424 ff.; Mülbert, ZGR 1997, 129 ff. 2 S. zur ausufernden Diskussion zusammenfassend Fleischer in Spindler/Stilz, 2. Aufl. 2010, § 76 AktG Rz. 29 ff.; Spindler in MünchKomm. AktG, 3. Aufl. 2008, § 76 AktG Rz. 76 ff. m. w. N.

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das „soft law“ der CSR-Erklärung zum „Tiger“, wenn es um die Irreführung der Kunden geht, womit Sanktionen durch den unlauteren Wettbewerb angesprochen sind (V.). Schließlich gilt es nach den Möglichkeiten zu fragen, CSR als eine Art sozialen Governance Kodex heranzuziehen, der harte institutionelle Regelungen überflüssig machen könnte (VI.).

II. Corporate Social Responsibility Ansätze Über Corporate Social Responsibility wird auf fast allen politischen Ebenen diskutiert, sowohl der UN-Ebene in Gestalt des UN-Sonderbeauftragten Ruggie,3 der Ebene der OECD4 als auch der EU, die in der Generaldirektion Unternehmen und Industrie eine eigene Plattform für Corporate Responsibility eingeführt hat.5 Auch die Wirtschaftsverbände haben auf Initiative der Europäischen Kommission ein europäisches Netzwerk zur Corporate Social Responsibility gebildet,6 was auf nationaler Ebene sein Pendant etwa als gemeinsame Initiative von BDI, BDA, DIHK und ZDH findet.7 Corporate Social Responsibility selbst ist dabei ein schillernden Begriff, der grosso modo „nur“ die soziale Verantwortung des Unternehmens zum Ausdruck bringen soll, sei es für die Einhaltung der Menschenrechte, sei es für den Umwelt- oder den Arbeitsschutz; kurioserweise wird selbst das Zahlen von Steuern offenbar als Teil der Corporate Social Responsibility verstanden.8 Soweit es hierbei um die Einhaltung der jeweiligen nationalen Gesetze geht, in deren Jurisdiktion das jeweilige Unternehmen seinen Tätigkeiten nachgeht, handelt es sich ähnlich wie bei dem Modebegriff der „Compliance“ um eine bare Selbstverständlichkeit, nämlich dass juristische Personen und Organisationen so wie jedes Individuum an Recht und Gesetz gebunden sind. Corporate Social Responsibility geht indes darüber hinaus, indem freiwillige Verbesserungen und ethische Selbstverpflichtungen sowie Maßnahmen der Unternehmen im Hinblick auf die angesprochenen Gebiete der Menschenrechte oder des sozialen Umfelds angesprochen werden. Dementsprechend definiert auch die EU-Kommission die CSR als „ein Konzept, das den Unternehmen als Grundlage dient, um auf freiwilliger Basis soziale und ökologische Belange in ihre Unternehmenstätigkeit und in die Beziehungen zu den Stakeholdern zu

__________ 3 S. dazu die ausführliche Webseite des UN-Sonderbeauftragten Ruggie http://www. business-humanrights.org/SpecialRepPortal/Home. 4 S. dazu vor allem die OECD Guidelines for Multinational Enterprises, 2008, abzurufen unter: http://www.oecd.org/dataoecd/56/36/1922428.pdf. 5 S. dazu http://ec.europa.eu/enterprise/policies/sustainable-business/corporate-socialresponsibility/index_en.htm. 6 Für die europäische Ebene CSR Europe (The european business network for CSR) http://www.csreurope.org als Vereinigung von zahlreichen multinationalen Unternehmen und Verbänden. 7 S. dazu die Plattform von CSR Germany http://www.csrgermany.de/www/csr_cms_ relaunch.nsf/id/home-de; ferner www.econsense.de. 8 S. etwa Punkt X der OECD Guidelines (Fn. 4).

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integrieren“, denn soziales Handeln kann sich in der bloßen Gesetzeseinhaltung nicht erschöpfen.9 Auch der UN-Sonderbeauftragte Ruggie geht von einer ähnlichen Definition aus, indem für CSR nicht allein die Befolgung der Gesetze ausreiche, sondern die Beachtung der Menschenrechte vorrangig sei, unabhängig von sozialen, regionalen oder kulturellen Unterschieden.10 Den von Ruggie erarbeiteten Dokumenten ging bereits die Initiative der UN „Global Compact“ aus dem Jahre 1999 voraus, die das Ziel verfolgte, die Unternehmen zur gesellschaftlichen Verantwortung zu bewegen, ohne dass jedoch Empfehlungen ausgesprochen wurden. Demnach sollten die Unternehmen sich selbstverpflichtend bereiterklären, die aufgestellten Grundsätze der sozialen Verantwortung zu befolgen.11 Ziel des „Global Compact“ ist es, ein weltweites Netzwerk zu schaffen, Dialoge zwischen den Organisationen bzw. der UN zu ermöglichen, damit den gegenseitigen Erfahrungs- und Meinungsaustausch zu fördern, um die Prinzipien des Global Compact in die Geschäftspraktiken der Unternehmen zu integrieren.12 Die Prinzipien lauten: 1) Achtung der Menschenrechte, 2) Sicherstellung, dass sich Unternehmen an Menschenrechtsverletzungen nicht mitschuldig machen, 3) Wahrung der Vereinigungsfreiheit, 4) Beseitigung der Zwangsarbeit, 5) Abschaffung der Kinderarbeit, 6) Beseitigung der Diskriminierung bei Anstellung und Beschäftigung von Arbeitnehmern, 7) Vorbeugung von Umweltproblemen, 8) Erzeugung des Verantwortungsbewusstseins für die Umwelt, 9) Förderung der Entwicklung und Verbreitung umweltfreundlicher Technologien, 10) Korruptionsbekämpfung.13 Unmittelbar daran knüpfen die von dem UN-Sonderbeauftragten Ruggie erarbeiteten und von der UN angenommenen, als explizite, aber unverbindliche Empfehlungen formulierten Maßnahmen für den Bereich der Menschenrechte an.14 Allgemein sollen Unternehmen, abhängig von ihrer Größe und ihren Möglichkeiten, alles dafür

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9 Grünbuch der EU-Kommission, Europäische Rahmenbedingungen für die soziale Verantwortung der Unternehmen v. 18.7.2001 KOM (2001) 366 endg., Rz. 20 f.; Mitteilung der EU-Kommission, Umsetzung der Partnerschaft für Wachstum und Beschäftigung, S. 1. 10 John Ruggie, Promotion of all Human Rights, Civil, Political, Economic, Social and Cultural Rights, including the Right to Development, A/HRC/11/13, S. 13 abrufbar unter: http://www2.ohchr.org/english/bodies/hrcouncil/docs/11session/A.HRC.11. 13.pdf; John Ruggie, Guiding Principles on Business and Human Rights: Implementing the United Nations „Protect, Respect and Remedy“ Framework, A/HRC/17/31, S. 13 abrufbar unter: http://www2.ohchr.org/english/bodies/hrcouncil/docs/17session/ A.HRC.17.31_en.pdf. 11 Global Compact, Gesellschaftliches Engagement von Unternehmen in der Weltwirtschaft, S. 4 abrufbar unter: http://www.unglobalcompact.org/docs/languages/german/ de-gc-flyer-05.pdf. 12 Global Compact (Fn. 11), S. 5. 13 Global Compact (Fn. 11), S. 6. 14 Memo of John Ruggie, The UN Protect, Respect and Remedy Framework for Business and Human rights: Relationship to UN Global Compact Commitments, 2010, abrufbar unter: http://www.unglobalcompact.org/docs/issues_doc/human_rights/ Resources/UNGC_SRSGBHR_Note.pdf?utm_medium=email&utm_source=Monthly Bulletin&utm_content=413454678&utm_campaign=UNGlobalCompactBulletinJune 2010subscribers&utm_term=DownloadNote.

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tun, damit im Rahmen ihrer gesamten Tätigkeit Menschenrechtsverletzungen bestenfalls vermieden werden, oder bei bereits eingetretenen Verletzungen diese rückgängig gemacht bzw. durch Schadensersatzzahlungen kompensiert werden, unabhängig davon, ob diese beabsichtigt waren oder nicht.15 Allgemein gültige Standards oder Leitlinien, die konkrete subsumtionsfähige Tatbestände anböten, lassen sich hier indes kaum finden. Eine gewisse Ausnahme stellen die Normungen der ISO 26000 dar, die international auf Grundlage des Multi-Stake-Holder-Ansatzes erarbeitet und unverändert in die deutsche Norm übernommen wurden.16 In Übereinstimmung mit der allgemeinen Definition der CSR geht auch die DIN ISO 26000 davon aus, dass sich die Übernahme gesellschaftlicher Verantwortung nicht in der reinen Gesetzestreue erschöpft, sondern vielmehr von den Unternehmen den Willen erfordert, soziale und umweltbezogene Überlegungen in ihre Entscheidungsfindung einzubeziehen, um damit zur nachhaltigen Entwicklung beizutragen.17 Zur Erreichung des Ziels der nachhaltigen Entwicklung legt die Norm den Unternehmen nicht abschließend aufgezählte Grundsätze nahe: 1) Rechenschaftspflichten über die Auswirkungen ihrer Entscheidung auf die Gesellschaft, Wirtschaft, Umwelt (Nr. 4.2), 2) Transparenzpflichten in Bezug auf ihre Entscheidungen und Aktivitäten, die die Umwelt und Gesellschaft beeinflussen (Nr. 4.3), 3) Ethisches Verhalten (Nr. 4.4), 4) Achtung der Interessen der Stakeholder (Nr. 4.5), 5) Achtung der Rechtsstaatlichkeit (Nr. 4.6), 6) Achtung internationaler Verhaltensstandards (Nr. 4.7), 7) Achtung der Menschenrechte (Nr. 4.8), 8) Gesellschaftlich verantwortlicher Umgang mit Arbeitnehmern (einschließlich Subunternehmen) (Nr. 6.4), 9) Verantwortung für die Umwelt (Nr. 6.5), 10) Faire Betriebs- und Geschäftspraktiken (Nr. 6.6), 11) Einbindung und Beiträge zur Entwicklung der von ihr betroffenen sozialen Gruppen (Nr. 6.8). Ferner legt die Norm den Unternehmen durch eine beispielhafte Aufzählung Maßnahmen nahe, die zur Erreichung der nachhaltigen Entwicklung beitragen sollen. Die wichtigste Vorgabe an die Unternehmen ist getreu dem prozessorientierten Ansatz der Qualitätsmanagementsysteme wie schon die DIN ISO 9000 die organisatorische Etablierung von Strukturen, Prozessen und Systemen, die die Beachtung der o. g. Grundsätze bei der Entscheidungsfindung ermöglichen und fördern sollen (Nr. 6.2). Hierzu zählen u. a.: 1) Entwicklung von Strategien, die die Selbstverpflichtung der Unternehmen widerspiegeln, 2) Rechenschaftspflicht der Organisationsleitung über die Einhaltung der Selbstverpflichtung, 3) Schaffung monetärer und nicht-monetärer Anreize, die auf Einhaltung sozialer Verantwortung abzielt (Mitarbeiterebene eingeschlossen), 4) Effiziente Nutzung finanzieller und natürlicher Ressourcen, 5) Schaffung fairer Chancen für unterrepräsentierte Gruppen, leitende Stellungen im Unternehmen zu besetzen, 6) Aufbau eines dialogorientierten Kommunikationsprozesses mit allen Stakeholdern, 7) Einräumung ausgewogener Entschei-

__________ 15 John Ruggie (Fn. 10), S. 13 ff. 16 DIN ISO 26000:2011-01, Leitfaden zur gesellschaftlichen Verantwortung, S. 5. 17 DIN ISO 26000:2011-01 (Fn. 16), S. 14 u. 20.

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dungsbefugnis an Personen, die für das Unternehmen handeln, 8) Verfolgung und Sicherstellung der sozialverantwortlichen Umsetzung der Entscheidungen, 9) Regelmäßige Überprüfung der geschaffenen Prozesse. Diese Vorgaben sollen Unternehmen als Leitfaden zur Erreichung der Nachhaltigkeit dienen, doch stellen sie keine Anforderungen an die Unternehmen hinsichtlich ihrer Konformität mit dieser Norm dar. Für eine ISO-Norm ungewöhnlich, soll die ISO 26000 demnach auch weder für eine Zertifizierung bestimmt noch geeignet dafür sein.18 Generell kann zwischen interner und externer Corporate Social Responsibility unterschieden werden: Externe CSR betrifft die Vergabe von Spenden oder das Sponsoring entsprechender Aktivitäten, die interne CSR die Steuerung von unternehmensinternen Entscheidungen unter besonderer Berücksichtigung von CSR-Faktoren, wie Menschenrechten, Gleichberechtigung, ökologischen oder tierschutzrechtlichen Aspekten usw.19 Investitionen in CSR-Maßnahmen werden aus ökonomischer Sicht in aller Regel mit der Schaffung oder Aufrechterhaltung „weicher“ Erfolgsziele begründet, insbesondere der Stärkung der Unternehmensreputation als „good player“, was wiederum (erhoffte) positive Auswirkungen hinsichtlich der Wahrnehmung des Unternehmens bei Kunden oder bei der Vergabe von Aufträgen der öffentlichen Hand bis hin zur Kapitalbeschaffung aufgrund entsprechender Auswahlkriterien von Kapitalgebern haben kann.20 CSR-Maßnahmen im Bereich des Umweltmanagements führten darüber hinaus nachweislich zu Kosteneinsparungen im Produktionsprozess durch einen umweltbewussten Energie- und verringerten Materialeinsatz.21

III. Corporate Social Responsibility und Organpflichten Die Frage, ob und in welchem Ausmaß Gesellschaften der Verantwortung im Sinne des CSR-Gedankens nachgehen dürfen und können, liegt auf der Hand. Ausgangspunkt aller Überlegungen ist die Ausformulierung des Gesellschaftsinteresses als von den jeweiligen Gesellschaftern und ihren persönlichen Vorstellungen abstrahiertes Eigeninteresse der juristischen Person. Diese auf den ersten Blick eigenartig anmutende Konstruktion, die die juristische Person nicht als reines Konstrukt ihrer Gesellschafter versteht, sondern ihr – je nach Ausgestaltung durchaus auch nur rudimentäre – selbständige Interessen trotz ihres Fiktionscharakters zuspricht, reflektiert letztlich nur die ökonomische

__________ 18 DIN ISO 26000:2011-01 (Fn. 16), S. 20. 19 Zur Unterscheidung s. schon das Grünbuch der EU-Kommission (Fn. 9), Rz. 27 ff., 42 ff.; dem folgend Hüttemann in FS Schaumburg, 2009, S. 405, 408 f., 410 f.; Hüttemann, AG 2009, 774, 775; Mülbert, AG 2009, 766, 768. 20 Zum Motivationsbündel auch Mülbert, AG 2009, 766, 768; Hansen/Schrader, DBW 2005, 373, 383 ff. 21 Schaltegger/Herzig/Kleiber/Klinke/Müller, Nachhaltigkeitsmanagement in Unternehmen, S. 39 ff. abrufbar unter: http://www2.leuphana.de/umanagement/csm/ content/nama/downloads/pdf-dateien/publikationen-download/studie_2007_download version.pdf; Aigner/Hopkins/Johansson, American Journal of Agricultural Economics, Vol. 85 (2003), 1126, 1130; Hansen/Schrader, DBW 2005, 373, 384 m. w. N.

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Erkenntnis, dass die Gesellschaft als Zweckverband einen „nexus of contracts“ darstellt, an dessen Bestand nicht nur die Gesellschafter, sondern eben auch Gläubiger, Arbeitnehmer etc. ein Interesse haben. Selbst bei einer Einpersonen-GmbH gibt es daher noch Eigeninteressen der Gesellschaft,22 insbesondere im Hinblick auf ihre Existenzsicherung etwa für Gläubiger (ohne dass die Freiheit zur Liquidation beschränkt wäre).23 Mit der Anerkennung eines Gesellschaftsinteresses, das die Handlungen und Einflussnahmen von Gesellschaftern beschränkt, ist indes noch nichts darüber ausgesagt, ob und inwieweit das Gesellschaftsinteresse auch CSR umfasst. Dabei kann es von vornherein nicht darum gehen, ob jenseits gesetzlicher Vorgaben außerhalb des Gesellschaftsrechts eine Pflicht zur Wahrnehmung der sozialen Verantwortung der juristischen Person besteht, sondern vielmehr darum, ob die Organe berechtigt sind, auch andere Interessen als die ihrer Gesellschafter ins Kalkül einzubeziehen. Daher geht in diesem Zusammenhang die Kritik, dass Art. 14 Abs. 2 GG nur ein Gestaltungs- und Regelungsauftrag an den Gesetzgeber sei und nicht Privatpersonen zu sozialen Maßnahmen verpflichtet,24 fehl, da nicht eine unmittelbar aus der Verfassung abzuleitende Pflicht in Rede steht, sondern die Rechtfertigung entsprechender Maßnahmen. Darüber hinaus soll Art. 14 Abs. 2 GG auch nicht als „Gestaltungsauftrag“ sondern allenfalls als „Regelungsauftrag“ an die Gerichte verstanden werden können, da sonst die einfache Bindung der Gerichte nach Art. 20 Abs. 3 GG an die Gesetze aufgehoben sei.25 Einmal davon abgesehen, dass die klare Trennung zwischen Gestaltung und Regelung in praxi keineswegs einfach ist und auch im Rahmen von Art. 20 Abs. 3 GG den einfachen Gerichten durchaus ein Spielraum zur verfassungskonformen Rechtsfortbildung eingeräumt wird,26 geht es in erster Linie darum, die Wertung des Art. 14 Abs. 2 GG im Rahmen der Auslegung einfachen Gesetzesrechts heranzuziehen. Genau hiervon geht auch die – selbst von der Gegenauffassung zitierte – verfassungsgerichtliche Rechtsprechung aus, die wie selbstverständlich Art. 14 Abs. 2 GG in die Interpretation auslegungsbedürftiger Gesetzesbegriffe heranzieht.27 In diesem Rahmen herrscht nach wie vor ein – allerdings kaum ergiebiger – Streit darüber, ob § 70 AktG 1937, der explizit die Berücksichtigung des Gemeinwohls und der Interessen der Gefolgschaft vom Vorstand forderte, auf-

__________ 22 Anders Altmeppen, NJW 2009, 3757, 3758 f.; Altmeppen in FS Uwe H. Schneider, 2011, S. 1, 7 f.; dagegen und m. w. N. Spindler, ZIP 2011, 689, 690. 23 Charakteristisch die Diskussion um die Haftung aus existenzvernichtenden Eingriff, BGHZ 151, 181, 186 ff., auch wenn sie inzwischen in § 826 BGB wieder „angekommen“ ist, BGHZ 173, 246, 252 ff., zum Ganzen ausführlich m. w. N. Liebscher in MünchKomm. GmbHG, 2010, § 13 GmbHG Anh. Rz. 503 ff. 24 So Mülbert, AG 2009, 766, 769 unter Verweis auf BVerfGE 56, 249, 260. 25 So explizit Mülbert, AG 2009, 766, 770. 26 BVerfGE 42, 143, 148; BVerfGE 89, 214, 229. 27 BVerfGE 55, 249, 258, indem das Gericht betont, dass „die Auslegung und die Anwendung einer Norm durch die Gerichte sich innerhalb der Grenzen zu vollziehen hat, die dem Gesetzgeber durch Art. 14 Abs. 1 und Abs. 2 bei der inhaltlichen Ausgestaltung der Eigentümerbefugnis gezogen sind“; bestätigt durch BVerfGE 68, 361, 372.

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grund der Streichung im AktG 1965 fortgilt. Zwar scheint die Aufhebung des § 70 AktG 1937 dafür zu streiten, dass der Gesetzgeber derartige Rücksichtnahmen aufheben wollte.28 Richtig ist, dass der Rechtsausschuss § 70 AktG 1937 nicht als eigenständige Rechtsquelle fortgelten lassen wollte, um zu verhindern, dass damit eine weitergehende Bedeutung verbunden würde.29 Doch lässt die Auffassung, die sich auf die entsprechenden Passagen des Rechtsausschusses beruft, außer Acht, aus welchem Grund der Rechtsausschuss meinte, auf eine Fortgeltung verzichten zu können; denn er hielt ebenso fest, dass jede AG neben dem Gewinninteresse auch gesamtwirtschaftliche Aspekte, sowie Belange der Allgemeinheit zu berücksichtigen habe, eine ausdrückliche Nennung dieser Rücksichtnahmen sei allein deswegen nicht erforderlich, weil dieses Gebot bereits aus § 396 Abs. 1 AktG folge. Auch die Interessen der Gefolgschaft bleiben nach dem Wegfall des § 70 AktG 1937 nicht unberücksichtigt, vielmehr sei die Beachtung des Wohls der Arbeitnehmer für einen sozialen Rechtstaat selbstverständlich und ergebe sich darüber hinaus aus einer Vielzahl von Rechtsvorschriften.30 Deswegen ist nicht davon auszugehen, dass der Gesetzgeber von 1965 auch die weitere Geltung des Gedankens des § 70 AktG 1935 mit der Streichung der Norm aufgeben wollte. Hält man sich das Konzept von CSR vor Augen, fallen sofort die Parallelen zur Konzeption des Unternehmensinteresses auf, das die verschiedenen Interessen der „Stakeholder“ aufnimmt. Allerdings ist hier im Laufe der Zeit eine gewisse Ernüchterung eingetreten, da das Unternehmensinteresse selbst aufgrund der Vielzahl von Zielen kaum zu konturieren ist und die Gefahr einer „carte blanche“ für den Vorstand nahe liegt, um jedwede Maßnahme zu rechtfertigen.31 Zwar kann man nicht einfach darauf verweisen, dass es unterschiedliche Formen der Mitbestimmung gebe und zudem Maßnahmen des Vorstands nach § 111 Abs. 4 Satz 3 AktG der Hauptversammlung zur Entscheidung vorgelegt werden können.32 Denn zum einen schließen die verschiedenen Intensitäten der Mitbestimmung nicht aus, dass auch die Arbeitnehmerinteressen in unterschiedlichem Maße vom Vorstand zu berücksichtigen sind, ganz abgesehen davon, dass mit dem Arbeitsdirektor nach dem MitbestG bereits eine Institutionalisierung auch auf Vorstandsebene existiert. Zum anderen besagt die Vorlagemöglichkeit an die Hauptversammlung nichts über deren Ermessensspielraum; auch hier dürfen Rechtfertigung und Pflicht nicht miteinander vermengt werden – andernfalls müsste ein Hauptversammlungsbeschluss im Rahmen von § 111 Abs. 4 Satz 3 AktG, der „arbeitnehmerfreundlich“ etwa ausfällt, zur Anfechtbarkeit und Schadensersatzansprüchen gegen die Mehrheit führen. Letztlich dürfte es sich aber auch hier eher um eine Scheindebatte handeln, denn die Vertreter einer reinen Ausrichtung auf das Gesellschaftsinteresse,

__________ 28 29 30 31

So wiederholt Mülbert, AG 2009, 766, 771; Mülbert, ZGR 1997, 129, 147 ff. Kropff, Textausgabe des AktG v. 6.9.1965, Begr. RegE, zu § 76 S. 97 f. Kropff (Fn. 29), § 76 S. 98. Insoweit zutr. die Kritik von Mülbert, AG 2009, 766, 771; Mülbert, ZGR 1997, 129, 143 ff.; skeptisch auch Fleischer (Fn. 2), § 76 AktG Rz. 34. 32 So Mülbert, AG 2009, 766, 771 f.; zuvor schon Mülbert, ZGR 1997, 129, 150 ff.

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besser: den Shareholder-Value33 müssen angesichts langfristiger, imperfekter Verträge ebenso wie weicher Faktoren, die eine immanente Rolle in der Mitarbeiterführung ebenso wie in der Kundenperzeption spielen, einräumen, dass diese ebenso vom Vorstand einzubeziehen sind wie vermeintlich „harte“ Faktoren. Die auf den ersten Blick gegebene Berechenbarkeit und Operationalisierbarkeit von Renditeinteressen wird bei genauerer Analyse erheblich aufgeweicht; der vermeintlich exakte „Shareholder-Value“34 im Sinne einer Investitions- und Finanzierungstheorie verliert schnell an Präzision, wenn schon bloß mittelfristige Perspektiven eingeführt werden, erst recht die Absicherung von operational schwer erfassbaren weichen Faktoren.35 Auch dürfen die Erträge der CSR-Maßnahme nicht allein bilanziell verstanden werden, da auch positive Anreizwirkungen für künftige Mitarbeiter36 oder die Verbesserung der Zusammenarbeit mit örtlichen Behörden37 ebenfalls als dem Unternehmen zufließende Vorteile zu qualifizieren sind. Gerade die von allen akzeptierte Basis des Gesellschaftsinteresses als langfristiger Rentabilitätssicherung38 ist für sich gesehen wenig aussagekräftig, da sie keine belastbaren Prognosen oder Feststellungen über die „richtige“ Investitionsentscheidung zulässt. Daher führt auch der Verweis auf § 87 Abs. 1 AktG und das neu eingeführte Kriterium der „Nachhaltigkeit“ bei der Unternehmensentwicklung wenig weiter,39 da es genauso wenig einen sichereren Halt bietet wie das langfristige Rentabilitätsinteresse. Welche Ergebnisse demgegenüber kurzfristige Shareholder-ValueOrientierungen zur Folgen hatten, muss nach der Finanzmarktkrise nicht mehr erwähnt werden. Für die Frage, welche Nähe die Maßnahme zur Rentabilität der Gesellschaft aufweist, fällt auch ins Gewicht, welchen Stellenwert ethische Kriterien oder die Berücksichtigung von Menschenrechten haben. Selbst die Vertreter strenger ökonomischer Kalküle dürften wohl kaum für die Zulässigkeit von extrem kostengünstiger Kinderarbeit im Ausland bzw. die Unzulässigkeit der Aufnahme solcher Kriterien im Rahmen der Auswahl von Zulieferern plädieren, auch wenn der mittelbare Effekt solcher ethischer Maßnahmen unter Umständen kaum oder später sichtbar oder nur schwer zu ermitteln sein würde.40

__________ 33 So noch deutlicher Mülbert, ZGR 1997, 129, 156 ff. 34 So noch explizit von Mülbert, ZGR 1997, 156 ff. vertreten. 35 Dazu bereits auch aus ökonomischer Sicht ausführlich R. H. Schmidt/Spindler in FS Kübler, 1997, S. 515, 523 ff. 36 BGHSt 50, 331, 337 – Mannesmann. 37 Fleischer, AG 2001, 171, 176. 38 Begr. RegE BT-Drucks. 15/5092, S. 11; Spindler in MünchKomm. AktG, 3. Aufl. 2008, § 93 AktG Rz. 45 m. w. N. 39 So aber Deipenbrock, Sustainable Development, the Interest(s) of the Company and the Role of the Board from the Perspective of a German Aktiengesellschaft, University of Oslo Faculty of Law Legal Studies Research Paper Series No. 2010-02, S. 23 ff., abrufbar unter http://ssrn.com/abstract=1712784. 40 Die Zulässigkeit solcher Arbeit nach der jeweiligen Rechtsordnung unterstellt. Dass die entsprechenden Guidelines der UN (s. oben Fn. 10) und auch der EU-Kommission derartige Lieferbeziehungen von vornherein inkriminieren, dürfte jedenfalls für die Vertreter einer strikten Trennung von öffentlichem Recht und Privatrecht nur eine geringe Rolle spielen.

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Bei Lichte reduziert sich damit das Verbot (und damit auch der Streit) um CSR-Maßnahmen auf solche, die in evidentem Maße nichts mehr mit einem selbst weitgefassten Unternehmensziel bzw. -zweck zu tun haben. Jegliche Mitarbeitermaßnahmen aber dürften schon ausscheiden, da sie immer zu einer Verbesserung des Arbeitsklimas führen können. Zutreffend ist aber die Forderung nach einer angemessenen Informationsgrundlage;41 Investitionen ins Blaue hinein sind nie erlaubt, auch nicht, wenn es sich um ethische Fragen handelt. Dem folgt auch weitgehend die strafrechtliche Beurteilung im Rahmen von § 266 StGB, da kein exakter rechnerischer Vorteil für das Unternehmen erforderlich ist, wohl aber ein Bezug zur wirtschaftlichen Tätigkeit und deren Förderung.42 Selbstverständlich ist ferner, dass die Grenze des Ermessens bei sachwidrigen Auswahlentscheidungen von CSR-Maßnahmen, infolge etwaiger Interessenkonflikte, überschritten wird.43 Die Einführung einer CSR-Klausel in der Satzung soll zwar zulässig sein, da sie Element des Gesellschaftszwecks sei.44 Ungeklärt ist jedoch nach wie vor die hierfür erforderliche Mehrheit, wenn die Satzung diesbezüglich nachträglich geändert wird: Zunächst liegt es nahe, auf § 179 Abs. 2 AktG abzustellen und die für Satzungsänderungen übliche Mehrheit von mindestens drei Viertel des bei der Beschlussfassung vertretenen Grundkapitals ausreichen zu lassen.45 Auch für die Änderung des Unternehmensgegenstandes genügt nach § 179 Abs. 2 AktG diese Mehrheit. Allerdings trifft das AktG für die Änderung des Gesellschaftszwecks selbst gerade keine Sonderregelung, so dass das allgemein geltende verbandsrechtliche Prinzip aus § 33 Abs. 1 Satz 2 BGB zur Anwendung gelangt. Auch die Schwere des Eingriffs in die Rechte eines Aktionärs und die dadurch bedingte mögliche Unzumutbarkeit seines Verbleibs in einer Gesellschaft, deren Zweck von seinen Vorstellungen abweicht, spricht für das Erfordernis eines einstimmigen Beschlusses nach § 33 Abs. 1 Satz 2 BGB analog.46 Anders als beim Unternehmensgegenstand, der lediglich das Mittel zur Erreichung des Gesellschaftszwecks darstellt,47 ist die Ausrichtung einer AG hinsichtlich ihres Verbandszwecks von grundlegender Bedeutung, insbesondere wenn sie ihre Erwerbsausrichtung modifizieren sollte. Auch der Einwand, dass es für eine Publikumsgesellschaft nicht praktikabel sei, die Einstimmigkeit zu fordern, überzeugt nicht, da es jeder Aktiengesellschaft ent-

__________

41 Mülbert, AG 2009, 766, 773. 42 Statt vieler Ransiek, AG 2009, 782, 784 f. m. w. N., unter Hinweis auf BGHSt 47, 187, 194 ff. 43 Fleischer, AG 2001, 171, 178; Spindler in MünchKomm. AktG, 3. Aufl. 2008, § 93 AktG Rz. 54 ff. m. w. N. 44 Mülbert, AG 2009, 766, 772; Zöllner in KölnKomm. AktG, 2. Aufl. 1994, § 179 AktG Rz. 114; Holzborn in Spindler/Stilz, 2. Aufl. 2010, § 179 AktG Rz. 59; Stein in MünchKomm. AktG, 3. Aufl. 2011, § 179 AktG Rz. 131; anders Säcker, BB 2009, 282, 283, Fn. 8. 45 Wiedemann in Großkomm. AktG, 4. Aufl. 2006, § 179 AktG Rz. 56; Timm, Die Aktiengesellschaft als Konzernspitze, 1980, S. 31 ff.; wohl auch KG, NZG 2005, 88, 89. 46 Mülbert, AG 2009, 766, 772; Stein (Fn. 44), § 179 AktG Rz. 132; Holzborn (Fn. 44), § 179 AktG Rz. 60; Seibt in K. Schmidt/Lutter, 2. Aufl. 2010, § 179 AktG Rz. 10; Zöllner (Fn. 44), § 179 AktG Rz. 113. 47 Stein (Fn. 44), § 179 AktG Rz. 101 u. 129; Holzborn (Fn. 44), § 179 AktG Rz. 58.

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sprechend § 40 BGB frei steht, in ihrer Satzung abweichende Mehrheiten zu bestimmen.48 Für externes CSR, insbesondere Spenden und Sponsoring, sollen detaillierte Klauseln möglich sein, um den Vorstand zu binden, nicht dagegen für die interne CSR, da es sich hier um den Leitungsbereich des Vorstands handele.49 Dies erstaunt allerdings gerade im Hinblick auf die je nach Lage des Unternehmens erforderlichen Investitionen in weiche Faktoren auch außerhalb der eigentlichen Mitarbeiterführung, etwa wenn es um die Anwendung von Menschenrechten im Rahmen der Auswahl von Zulieferern geht. Hier dem Vorstand jegliches Ermessen zu nehmen, macht ihn im besten Fall unflexibel. So sehr das Anliegen, dem Vorstand das Verschenken von Gesellschaftsvermögen unmöglich zu machen, sinnvoll erscheint, dürfte es doch im Einzelfall schwer fallen, eindeutige Kriterien zu schaffen. Zudem erscheint es wenig konsistent, gleichzeitig eine ungeschriebene Hauptversammlungszuständigkeit mit der Möglichkeit des Beschlusses anzunehmen, etwa über die Errichtung einer Umweltstiftung, auch wenn dies auf eine einmalige Maßnahme beschränkt sein mag und die Hauptversammlung nach § 58 Abs. 3 AktG auch eine altruistische Gewinnverwendung beschließen könnte.50 Entweder man fordert hier ebenfalls wegen der Erweiterung des Gesellschaftszwecks eine einstimmige Entscheidung oder derartige Entscheidungen sind unzulässig.

IV. Unternehmenserklärung, Wirtschaftsprüfung und Corporate Social Responsibility Die traditionelle Rechnungslegung behandelt Aufwendungen für CSR-Investitionen nicht anders als sonstige Kostenkategorien im Rahmen der Buchführung bzw. Rechnungslegung, so dass etwa Investitionen zur Verbesserung des Arbeitsklimas ohne Weiteres den Herstellungs- oder Vertriebskosten zuzurechnen sind, was auch für Sponsoringmaßnahmen gilt, daneben sind Spenden als sonstige betriebliche Aufwendungen ebenfalls abziehbar.51 Eine originäre Berichterstattungspflicht über die CSR-Aktivitäten wie „Informationen über Umwelt- und Arbeitnehmerbelange“ eines Unternehmens trifft nur die großen Kapitalgesellschaften nach § 289 Abs. 3 HGB im Rahmen des Lageberichts, allerdings auch nur soweit sie für das Verständnis des Geschäftsablaufs oder die Lage der Gesellschaft von Bedeutung sind. Die Begründung zum deutschen Umsetzungsgesetz der entsprechenden Bilanzrichtlinie (Art. 46 Abs. 1 b)52 führt darüber hinaus auf, dass auch alle anderen „sonstige(n) nichtfinanzielle(n)

__________ 48 Zöllner (Fn. 44), § 179 AktG Rz. 114; Seibt (Fn. 46), § 179 AktG Rz. 10; Stein (Fn. 44), § 179 AktG Rz. 132; Holzborn (Fn. 44), § 179 AktG Rz. 61. 49 Mülbert, AG 2008, 766, 772. 50 So aber Mülbert, AG 2008, 766, 774. 51 Budde in Küting/Pfitzer/Weber, Handbuch der Rechnungslegung, 5. Aufl. 2010, § 275 HGB Rz. 77 u. 142; Förschle in Beck’scher Bilanz-Komm., 7. Aufl. 2010, § 275 HGB Rz. 171; Gelhausen in IDW, WP Handbuch Bd. 1, 13. Aufl. 2006, Rz. F 440 u. F 448; Hüttemann, AG 2009, 774, 776. 52 RL 78/660/EWG des Rates v. 14.8.1978, ABl. 1978 Nr. L 222/11.

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Angaben in die Lageberichterstattung (gehören), wenn sie zur Einschätzung von Geschäftsverlauf oder Lage von Bedeutung sind oder die voraussichtliche Unternehmensentwicklung wesentlich beeinflussen können. Dazu werden regelmäßig die Entwicklung des Kundenstammes, das Humankapital, der Bereich Forschung und Entwicklung, unter Umständen auch die – z. B. durch Sponsoring oder karitative Zuwendungen seitens des Unternehmens geförderte – gesellschaftliche Reputation der Kapitalgesellschaft zählen.53 Damit wird nach wie vor der Bezug zum Geschäftserfolg bzw. zur Lage der Gesellschaft deutlich, ohne dass aber rechte Grenzen ausgemacht werden können. Die Angaben zur Lage der Gesellschaft sind durch den Abschlussprüfer unter Beachtung der Grundsätze des IDW-Prüfungsstandard54 zu überprüfen.55 Dabei muss er beurteilen, ob die durch den Lagebericht erzeugte Vorstellung von der Lage der Gesellschaft der Wirklichkeit entspricht56 und ob die prognostischen Angaben plausibel erscheinen,57 wobei der Ermessensspielraum des Vorstands bezüglich der Darstellung der Lage des Unternehmens beachtet werden muss.58 Zur Überprüfung ökologischer und sozialer Angaben verpflichtet der IDWPrüfungsstandard den Abschlussprüfer das ökologische Umfeld des Unternehmens zu analysieren, sowie das Ansehen des Unternehmens in der Öffentlichkeit in die Prüfung mit einzubeziehen. Allerdings ist kritisch anzumerken, dass angesichts fehlender allgemeingültiger Bewertungskriterien solcher „weichen“ Faktoren die Prüfung wiederum auf grobe Missstände und Abweichungen von der unternehmensinternen Realität beschränkt sein wird. Aktuell beschäftigt sich auch die EU-Kommission mit der Berichterstattung nicht-finanzieller Leitungsindikatoren: Hierzu führte sie bis Anfang Januar 2011 eine Konsultation durch. In ihrer Zusammenfassung hielt die Kommission als Ergebnis fest, dass die Mehrzahl der Befragten einheitliche Standards der Berichterstattung auf Grundlage bestehender Leitlinien (wie etwa die GRILeitlinien) begrüßt;59 hinsichtlich der Verpflichtung, die Berichte durch unabhängige Stellen wie den Abschlussprüfer überprüfen zu lassen, ließ sich hingegen kein einheitliches Meinungsbild ermitteln.60 Davon zu trennen ist die freiwillige Berichterstattung, die zahlreiche Unternehmen heute praktizieren. Einheitliche Leitlinien über Form und Inhalt existieren hierfür bislang nicht, wenngleich zahlreiche Organisationen versuchen,

__________ 53 54 55 56 57 58 59

60

Begr RegE BT-Drucks. 15/3419, S. 31. IDW PS 350, WPg 20/2006, 1293. Förschle/Almeling in Beck’scher Bilanz-Komm., 7. Aufl. 2010, § 317 HGB Rz. 51 f. IDW PS 350, WPg 20/2006, 1293, Nr. 2; Förschle/Almeling (Fn. 55), § 317 HGB Rz. 51 f.; Koss in Pelka/Niemann, Jahres- und Konzernabschluss nach Handels- und Steuerrecht, Bd. D, 13. Aufl. 2010, Rz. 27 ff. IDW PS 350, WPg 20/2006, 1293, Nr. 5.2. Wiedmann in IDW, WP Handbuch Bd. 1, 13. Aufl. 2006, Rz. R 669. Europäische Kommission, Summary Report of the Responses Received to the Public Consultation on Disclosure of Non-Financial Information by Companies, Question 6, abrufbar unter: http://ec.europa.eu/internal_market/consultations/docs/2010/nonfinancial_reporting/summary_report_en.pdf. Europäische Kommission (Fn. 59), Question 12.

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Standards für die Berichterstattung zu erarbeiten.61 So versuchen etwa die Global-Reporting-Initiative (GRI)-Leitlinien, die unter Hinzuziehung von Experten aus allen relevanten Stakeholder-Gruppen erarbeitet wurden, einen einheitlichen Rahmen für die Berichterstattung von Unternehmen über ihre ökonomische, ökologische und soziale Leistung zur Nachhaltigkeitsverbesserung zu bieten.62 Der erste Teil des Leitfadens regelt die Prinzipien der Berichterstattung, die den Unternehmen die Form der Darstellung ihrer geleisteten Maßnahmen nahelegt, um die größtmögliche Transparenz der Berichterstattung zu erreichen.63 Die Unternehmen sollen in einem weiteren Schritt mit Hilfe einer hierfür vorgesehenen Matrix64 einschätzen, welche Themen der CSR ökonomisch, ökologisch und sozial den größten Einfluss auf ihr Unternehmen und ihre Stakeholder haben. Auch soll unter Hinzuziehung regionaler und sozialer Besonderheiten berichtet werden, welchen Beitrag das Unternehmen an die Nachhaltigkeit insgesamt leistet. Der zweite Teil nennt die Angaben, die ein Nachhaltigkeitsbericht enthalten sollte: 1) Strategie und Profil des Unternehmens, 2) Angaben zur Herangehensweise des Managements an die jeweiligen Themen, 3) Leistungsindikatoren – Informationen zur Leistung des Unternehmens im Bereich der Nachhaltigkeit.65 Der GRI-Leitfaden wird durch branchenspezifische Empfehlungen ergänzt, die allerdings den GRI-Leitfaden nicht ersetzen sollen.66 Nach Fertigstellung des Berichts ist vorgesehen, dass die Unternehmen auf einer Skala von C bis A angeben, inwieweit der GRI-Berichtsrahmen bei der Berichterstellung des Unternehmens zur Anwendung kam.67 Zur Verbesserung der Glaubwürdigkeit der Berichte, haben die Unternehmen schließlich die Möglichkeit, ihre in dem Bericht gemachten Angaben durch einen externen professionellen Anbieter bestätigen zu lassen. Aus rechtspolitischer Sicht taucht zudem das bereits gesellschaftsrechtlich oben beschriebene Dilemma der mittelbar dem Unternehmenserfolg bzw. der Reputation zugutekommenden Maßnahmen und dem Misstrauen gegenüber einer eigen- und publicysüchtigen Geschäftsleitung auch im Bilanz- und Publizitätsrecht auf: Wenn schon keine materiell-rechtliche Kontrolle gegenüber einer Spenden- und Sponsoringpraxis möglich ist, sollte wenigstens der Markt anhand möglichst aufgeschlüsselter Informationen darüber entscheiden können, ob die Aktivitäten eines Unternehmens honoriert werden. Demgemäß

__________ 61 S. etwa die für zahlreiche Wirtschaftssektoren spezifisch erarbeiteten internationalen Reporting Standards der Initiative http://www.globalreporting.org/Home. 62 GRI 3 Leitfaden zur Nachhaltigkeitsberichterstattung, S. 2 f. abrufbar unter: http:// www.globalreporting.org/NR/rdonlyres/B77474D4-61E2-4493-8ED0D4AA9BEC000D/2868/G3_LeitfadenDE1.pdf. 63 GRI 3 Leitfaden zur Nachhaltigkeitsberichterstattung (Fn. 62), S. 6 ff. 64 GRI 3 Leitfaden zur Nachhaltigkeitsberichterstattung (Fn. 62), S. 8 Abb. 4. 65 GRI 3 Leitfaden zur Nachhaltigkeitsberichterstattung (Fn. 62), S. 21 ff. 66 GRI 3 Leitfaden zur Nachhaltigkeitsberichterstattung (Fn. 62), S. 4; s. etwa die „Financial Services Sector Supplement“ abrufbar unter: http://www.globalreporting. org/ReportingFramework/ReportingFrameworkDownloads/. 67 GRI-Anwendungseben abrufbar unter: http://www.globalreporting.org/NR/rdonlyres/ B77474D4-61E2-4493-8ED0-D4AA9BEC000D/2867/G3_ALDE1.pdf.

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sollte der Lagebericht nach § 289 Abs. 3 HGB Aufschlüsselungen der Spendenund Sponsoringpraxis der Unternehmen enthalten.68

V. Corporate Social Responsibility als Wettbewerbsfaktor und unlauterer Wettbewerb Anders als im Gesellschafts- und Bilanzrecht, wo der Begriff der CSR nur schwer fassbar erscheint, zeigt sich vor allem im unlauteren Wettbewerb, dass nicht jedes angebliche Handeln im altruistischen Interesse bzw. für die Allgemeinheit als Grundlage für eine entsprechende Werbung herangezogen werden kann. Ohne Werbung wäre jedoch CSR zu großen Teilen die Wirkung entzogen – auch wenn interne CSR-Maßnahmen ohne solche Mittel auskommen können, trotzdem aber mit ihnen geworben wird.69 Die über den Markt vermittelte Transparenz stellt daher ein wirksames Mittel dar, um die nur schwer fassbaren CSR-Aktivitäten eines Unternehmens zumindest einer mittelbaren Kontrolle zu unterwerfen.70 Zwar erfasst das UWG nur marktbezogenes bzw. geschäftliches Handeln; doch fehlt es gerade bei Werbemaßnahmen durch Unternehmen hieran in den seltensten Fällen, selbst wenn prima vista politische oder kulturelle Inhalte angesprochen werden. Denn die CSR-Maßnahme dient der Herstellung eines zumindest mittelbaren Bezugs zum Unternehmen, zumal sie sonst auch nur schwerlich gesellschaftsrechtlich zu rechtfertigen wäre. So hat der BGH etwa auch bei Schockwerbung mit umweltbezogenen Themen oder Menschenrechten einen Marktbezug angenommen und damit die einschlägige Werbung dem UWG unterstellt, da sie die Aufmerksamkeit auf das Unternehmen bzw. dessen Marke lenken sollte.71 Aus den gleichen Gründen stellt auch das Merkmal der Wettbewerbsabsicht keine besondere Hürde für die Anwendung des UWG dar, da stets eine Vermutung für wettbewerblich ausgerichtetes Handeln eines Unternehmens eingreift.72 Im Zuge der allgemeinen Deregulierung und Lockerung der Anforderungen im Bereich der Werbewirtschaft, nicht zuletzt auch durch verfassungsgerichtliche Entscheidungen,73 hat sich auch für die sog. image- und emotionsbezogene Werbung ein Wandel vollzogen: Während die frühere Rechtsprechung noch

__________ 68 So im Ergebnis auch Hüttemann, AG 2009, 774, 777; für Spenden s. Fleischer, AG 2001, 171, 178 f. 69 S. etwa den Fall BGH, GRUR 1991, 545 – Tageseinnahmen für Mitarbeiter. 70 So im Ansatz zu Recht Ernst, WRP 2010, 1304, 1305. 71 BGH, GRUR 2002, 360 – Benetton; BGH, GRUR 1995, 598, 599 – Ölverschmutzte Ente. 72 BGH, GRUR 2002, 1093, 1094 – Kontostandsauskunft; BGH, GRUR 2003, 800, 801 – Schachcomputerkatalog. Zur gänzlichen Aufgabe des subjektiven Tatbestandsmerkmals „Wettbewerbsabsicht“ und einem rein objektiven Verständnis der Wettbewerbshandlung s. Fezer in Fezer, 2. Aufl. 2010, § 2 UWG Rz. 151; Köhler in Köhler/ Bornkamm, 29. Aufl. 2011, § 2 UWG Rz. 46 m. w. N. 73 BVerfG, GRUR 2001, 170 – Benetton-Werbung; BVerfG, GRUR 2003, 442 – Benetton II-Werbung.

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restriktiv verfuhr und etwa Aktionen wie die Erlösspende eines Tages für ein Kinderhilfswerk oder die Einnahmen für die Mitarbeiter als nicht auf den Leistungswettbewerb bezogen ablehnte,74 betonte das BVerfG, dass auch die kommerzielle Werbung mit wertenden, meinungsbildenden Inhalten den Schutz der Meinungsfreiheit genießt.75 Das Verfassungsgericht war letztlich auch Auslöser76 des Schwenks der Rechtsprechung des BGH in der „Artenschutz“Entscheidung,77 in der ein Optiker gleichzeitig neben seinen Produkten in Anzeigen für einen Artenschutzverein warb. Der I. Zivilsenat hielt in Abkehr von der früheren Rechtsprechung den subliminen Appell an den Verbraucher, mit dem Kauf von Produkten den Artenschutz zu unterstützen, nicht mehr für eine wettbewerbswidrige emotionale Werbung, da nach § 4 Nr. 1 UWG nur noch unangemessene unsachliche Einflüsse verboten sind, die konkrete Werbung in Gestalt der Imagewerbung aber nicht diese Schwelle erreiche, selbst wenn kein unmittelbarer sachlicher Bezug zwischen Produkt (hier: Sonnenbrillen) und dem angesprochenen sozialen Wert besteht. Endgültig zurrte der BGH die neue Linie in den Entscheidungen „Regenwald“ fest, die sich mit Spenden für ein Regenwaldprojekt beim Kauf eines Kasten Biers befassten.78 Die freie Entscheidung des Verbrauchers werde nicht beeinträchtigt.79 Auch hielt das Gericht eine allgemeine Information über die Förderung der Projekte für ausreichend, eine einzelfallbezogene detaillierte Information sei nicht erforderlich, außer wenn konkrete irrige Vorstellungen hervorgerufen werden. Allerdings kann die Werbung auch falsche Vorstellungen des Käufers z. B. im Hinblick auf den Umfang des Umweltschutzes und der konkreten Investition erwecken. Übertreibungen oder zu wolkige Formulierungen sind daher weiterhin auch bei CSR-Aktivitäten nicht angebracht. Insbesondere beim Umweltschutz besteht nach Ansicht des BGH ein enormes Bedürfnis nach näherer Aufklärung, da die Verbraucher aufgrund der Komplexität der Fragen des Umweltschutzes und einem geringen Wissensstand der Materie der Gefahr einer Irreführung ausgesetzt sind.80 Ebenso wenig kann das Unternehmen versuchen, über Kinder oder Jugendliche einen Druck zum Kauf von Produkten

__________ 74 BGH, GRUR 1987, 534 – McHappy-Day; BGH, GRUR 1991, 545 – Tageseinnahmen für Mitarbeiter; s. aber auch BGH, GRUR 1995, 742 – Arbeitsplätze bei uns, für die Werbung für einheimische Produkte; zum Ganzen Lange, WRP 1999, 893 ff.; Köhler (Fn. 72), § 4 UWG Rz. 1.221; Steinbeck in Fezer, 2. Aufl. 2010, § 4 UWG Rz. 380 ff.; Heermann in MünchKomm. UWG, 2006, § 4 UWG Rz. 517 ff.; weitere Nachweise der früheren OLG-Rspr. s. Ernst, WRP 2010, 1304; Piper, GRUR 1992, 803, 807; Piper, GRUR 1993, 276, 282; Federhoff-Rink, GRUR 1992, 643, 648. 75 BVerfG, GRUR 2001, 170, 172 ff. – Benetton-Werbung; BVerfG, GRUR 2003, 442 – Benetton II-Werbung. 76 BVerfG, GRUR 2002, 455. 77 BGH, GRUR 2006, 75 – Artenschutz. 78 BGH, GRUR 2007, 247 – Regenwaldprojekt I; BGH, GRUR 2007, 251 – Regenwaldprojekt II; zum Ganzen auch Seichter, WRP 2007, 230 ff.; Birk, GRUR 2011, 196, 197; Günther, MMR 2010, 393 ff.; Schaub, GRUR 2008, 955, 956; Sosnitza in Piper/ Ohly/Sosnitza, 5. Aufl. 2010, § 4 UWG Rz. 1.128; Hasselblatt in Gloy/Loschelder/ Erdmann, Handbuch des Wettbewerbsrechts, 4. Aufl. 2010, § 48 Rz. 86. 79 BGH, GRUR 2007, 247, Tz. 21 – Regenwaldprojekt I. 80 BGH, GRUR 1996, 367 – Umweltfreundliches Bauen.

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auszuüben, wenn versprochen wird, deren Schule bei genügend gesammelten „Talern“ Sportartikel zu sponsern.81 Maßgeblich ist daher der Grad an Informationen, die Käufern mitgeteilt werden muss, um keine irreführenden Eindrücke hervorzurufen – man wird hier kaum eine fachliche Aufklärung oder ausführliche Angaben im Sinne eines Emissionsprospektes verlangen dürfen, da sonst der Charakter der Werbung verlassen und die Möglichkeiten für Konsumenten, Informationen zu verarbeiten erheblich überschätzt würde, bzw. der Unternehmensleitung kaum zuzumuten wäre, den Umfang ihrer sozialen Verantwortung bis ins kleinste Detail in einer Werbung darzulegen.82 Allerdings ist hier angesichts der modernen Kommunikationsmöglichkeiten fraglich, ob nicht zumindest ein Link oder weiterführender Hinweis angebracht werden kann, der der interessierten Öffentlichkeit eine weitere Auseinandersetzung ermöglicht.83 Beispielsweise wäre es den Unternehmen zumutbar, bei einer plakativen Werbung ihrer Mitgliedschaft im „Global Compact“ einen Verweis zu dem offiziellen Auftritt der Initiative hinzuzufügen und dem Adressaten so die Kenntnisnahme bspw. der Prinzipien zu ermöglichen. Bei reiner Imagewerbung mag zwar mangels der Verknüpfung mit einem konkreten Produkt bzw. dessen Eigenschaften eine Irreführung in der Regel ausscheiden,84 doch ergeben sich hier Überschneidungen und Forderungen nach genereller Transparenz allgemeiner Imagewerbung, da das tatsächliche Ausmaß der Aktivitäten, insbesondere in Relation zur sonstigen Umweltpolitik oder „social policy“ des Unternehmens nicht deutlich wird. So dürfte eine Imagewerbung mit Umweltaktivitäten irreführend sein, wenn das Unternehmen ansonsten in zahlreiche Umweltverfahren verwickelt ist. Dies gilt erst recht für produktbezogene Eigenschaften, die z. B. als umweltschonend herausgestellt werden, aber nur ein Produktmerkmal betreffen, während die gesamte Ökobilanz für das Produkt gegenteilig ausfällt.85 Allerdings gießt die Rechtsprechung des BGH auch Wasser in den Transparenz-Wein: Denn das Ausmaß an Transparenz und Informationen hängt davon ab, wie konkret die Hinweise des werbenden Unternehmens sind – je abstrakter diese ausfallen, desto unwahrscheinlicher ist eine Fehlvorstellung des Marktes bzw. der Verbraucher. Das führt zu einer eigenartigen Spirale der Intransparenz, die einer Kontrolle von CSR-Aktivitäten auf dem Markt nur bedingt förderlich ist.86

__________ 81 BGH, GRUR 2008, 183 – Tony Taler; darauf weist zu Recht Ernst, WRP 2010, 1310 hin. 82 Birk, GRUR 2011, 196, 203. 83 Zutr. Ernst, WRP 2010, 1304, 1311. 84 So Ernst, WRP 2010, 1304, 1311. 85 Ähnlich zu Recht Ernst, WRP 2010, 1304, 1311 f. unter Verweis auf BGH, GRUR 1996, 367 – Umweltfreundliches Bauen; Sosnitza (Fn. 78), § 4 UWG Rz. 1.133 f.; Helm (Fn. 78), § 59 Rz. 250; Michalski/Riemenschneider, BB 1994, 1157, 1162. 86 Dies kritisieren zu Recht Seichter, WRP 2007, 230, 235 ff.; Ernst, WRP 2010, 1304, 1313 f., dort auch zahlreiche konkretisierende Beispiele etwa zum Schutz der Arktis durch Hustenbonbons etc.

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VI. CSR als neuer „social governance Kodex“? Dem allgemeinen Trend folgend, Selbstverpflichtungserklärungen und Compliance-Erklärungen zu Kodices als Substitut für gesetzliche Regelungen einzuführen, könnte auch CSR als Instrument zur Ersetzung von sozial-, arbeitsoder umweltrechtlichen Regelungen herangezogen werden. Einem solchen Ansatz sollte jedoch entschieden entgegengetreten werden, da sich zum einen die Überprüfbarkeit der Einhaltung solcher Standards und damit die intersubjektive Vergleichbarkeit als äußerst schwierig gestaltet, zum anderen die CSR Ziele selbst nicht einheitlich sind, sondern oftmals CSR als prozessorientierter Ansatz verstanden wird – demnach aber ohne grundlegende materielle Standards, wie sie eben nur vom materiellen Recht geleistet werden kann. Mit anderen Worten kann ein rein management-organisatorischer Ansatz keine durch den Gesetzgeber festgelegten Eckdaten ersetzen.

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Ursula Stein

Das italienische Konzernrecht: Ein Leerstück der Gesetzgebung Inhaltsübersicht I. Die Neueröffnung der Baustelle Konzernrecht II. Regelungsgegenstände und praktische Bedeutung III. Anwendungsbereich 1. Adressatenkreis 2. Der konzernrechtliche Anknüpfungstatbestand IV. Kollisionsrechtliche Reichweite des Konzernrechts V. Die Haftung der einheitliche Leitung ausübenden Gesellschaft bei Verletzung der Grundsätze ordnungsgemäßer Unternehmensführung, Art. 2497 C.C. 1. Mängel und Widersprüchlichkeiten der Regelung

2. Der Haftungstatbestand des Art. 2497 Abs. 1 Satz 1 C.C. 3. Die Rückausnahme des Art. 2497 Abs. 1 Satz 2 C.C. 4. Die Haftungserstreckung auf Dritte, Art. 2497 Abs. 2 C.C. 5. Die Subsidiarität der Haftung, Art. 2497 Abs. 3 C.C. VI. Austrittsrecht der Minderheitsgesellschafter, Art. 2497quater C.C. VII. Finanzierungsrisiken im Konzern, Art. 2497quinquies C.C. VIII. Fazit

I. Die Neueröffnung der Baustelle Konzernrecht Seit acht Jahren gibt es in Italien ein kodifiziertes Konzernrecht, will man dem im Zuge der großen Gesellschaftsrechtsreform von 20041 in den italienischen Codice Civile eingefügten winzigen Abschnitt mit gerade einmal sieben Artikeln2 diesen Namen überhaupt zubilligen. Tatsächlich war eine umfassende Regelung des Rechts der verbundenen Unternehmen oder – um in der italienischen Diktion zu bleiben – der Unternehmensgruppe auch gar nicht beabsichtigt.3 Vielmehr hat der italienische Gesetzgeber lediglich einige Eckpfeiler für

__________ 1 Gesetzesdekret Nr. 6 zur Reform des Kapitalgesellschaftsrechts v. 17.1.2003, in Kraft seit 1.1.2004. 2 Artt. 2497 – 2497septies C.C.; mit Recht bezeichnet Oelkers, Die Haftung des Leitungsorgans der italienischen Società per azioni, in Kalss (Hrsg.), Die Vorstandshaftung in 15 europäischen Ländern, S. 565, das Konzernrecht als ein „aus Versatzstücken bestehendes Normengefüge“. 3 Vgl. nur Rordorf, I gruppi nella recente riforma del diritto societario, Le società 2004, 538, 539; Pennisi, Il diritto di recesso nelle società soggette ad attività di direzione e coordinamento: alcune considerazioni, RDS 2009, 35; Montalenti, Direzione e coordinamento nei gruppi societari: principi e problemi, Riv. soc. 2007, 317.

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die Errichtung eines Konzernrechts eingerammt. Damit hat er aber immerhin erstmals den Konzern als solchen in den Blick genommen. Zwar gab es im italienischen Recht auch schon vorher – meist infolge der Umsetzung europarechtlicher Vorgaben – vereinzelte Regelungen, die Konzernkonstellationen betrafen – etwa im Kredit-, Bilanz-, Kapitalmarkt- oder Insolvenzrecht.4 Doch fehlten bis dahin Vorschriften, die gerade die konzernspezifischen Risiken für außenstehende Gesellschafter und Gläubiger der abhängigen Gesellschaft ins Auge fassten. Und eben diese Lücke sollte das neue Konzernrecht schließen. Besonderes Gewicht legt es auf die Publizität der bestehenden Konzernverbindung und auf die Haftung der Mutter und deren Verwaltung für Gesellschafter- und Gläubigerschäden bei der Tochter. Bestimmungen über die Begründung oder Beendigung von Konzernbeziehungen findet man dort ebenso wenig wie Vorschriften über rechts- oder konzernformspezifische Schranken der Einflussnahme. Vielmehr ging der Gesetzgeber von den in der italienischen Wirtschaft vorgefundenen Verhältnissen engster Unternehmensverflechtung5 aus und suchte pragmatisch nach einem Weg, den schlimmsten Auswüchsen organisierter Verantwortungslosigkeit in der Unternehmensgruppe künftig einen Riegel vorzuschieben. Dies jedoch zum Anlass für die Schaffung eines in sich geschlossenen Konzernrechtssystems zu nehmen, was nicht einmal die perfektionistischen Deutschen wagten, wäre dem italienischen Gesetzgeber zutiefst wesensfremd. So blieb es bei einigen wenigen zentralen Vorschriften, die jedoch rechtlich und wirtschaftlich beträchtlichen Zündstoff bergen, wie dieser Beitrag zu Ehren des Jubilars, dem nichts Konzernrechtliches je fremd war, zeigen soll.

II. Regelungsgegenstände und praktische Bedeutung Mag auch die Regelungsdichte des neuen italienischen Konzernrechts gering sein, Tragweite und praktische Bedeutung seiner Vorschriften sind es keineswegs. In der Sache erfordern sie tiefgreifende Veränderungen bei der Führung und Finanzierung von Konzerngesellschaften. Denn sie erlegen den unter einheitlicher Leitung stehenden Gesellschaften umfangreiche Informations- und Publizitätspflichten auf (Artt. 2497bis und 2497ter C.C.), begründen eine unmittelbare Haftung der Konzernspitze und Dritter für Gesellschafter- und Gläubigerschäden (Art. 2497 C.C.), unterstellen die Konzernfinanzierung dem Regime der kapitalersetzenden Gesellschafterleistungen (Art. 2497quinquies C.C.) und gewähren der Minderheit in bestimmten Fällen ein Austrittsrecht bei Abfindung zum vollen Verkehrswert (Art. 2497quater C.C.). Zudem lässt

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4 Z. B. Artt. 2359 ff. C.C.; Zusammenstellung weiterer einschlägiger Vorschriften bei Strnad, Neue Konzernhaftung in Italien, RIW 2004, 255; Rordorf, Le società 2004, 538, 539. 5 Perugi, La recente evoluzione del fenomeno dei gruppi d’impresa in Italia, in Bitossi (Hrsg.), I gruppi cooperativi, 2008, S. 141 ff.; Bianchi-Bianco/Giacomelli/Pacces/ Trento, Proprietà e controllo delle imprese in Italia, 2005, S. 8; Galgano, Trattato di diritto civile, Bd. 4, I gruppi di società, 2. Aufl. 2010, S. 709; Tombari, Diritto dei gruppi di imprese, 2010, S. 2 f. mit zahlr. Nachw.

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sich der Anwendungsbereich der konzernrechtlichen Vorschriften kaum sinnvoll eingrenzen, ihre Voraussetzungen und Folgen sind nur unzulänglich bestimmt, was breiteste Interpretationsspielräume lässt und die Ergebnisse kaum vorhersehbar macht; sie gelten als leges speciales gegenüber den meisten anderen einschlägigen Publizitäts- und Haftungsnormen, was ihnen in einem eng verflochtenen Wirtschaftssystem wie dem italienischen eine nicht zu unterschätzende Bedeutung verleiht, und sie erfassen auch grenzüberschreitende Konzernverbindungen. Da Deutschland als Italiens wichtigster Handelspartner und zweitwichtigster Investor mit sämtlichen großen und zahlreichen mittelständischen Unternehmen in Italien vertreten ist und die Zahl italienischer Tochtergesellschaften deutscher Unternehmen bei weit über zweitausend liegt,6 lohnt es sich auch aus deutscher Sicht, die Entwicklung des italienischen Konzernrechts zu verfolgen.

III. Anwendungsbereich 1. Adressatenkreis Das italienische Konzernrecht ist rechtsformneutral ausgestaltet. Seine Vorschriften gelten nicht nur für Gesellschaften jedweder Rechtsform, sondern auch für sonstige Verbände und Körperschaften privaten oder öffentlichen Rechts, die einheitliche Leitung über ein Unternehmen ausüben oder ihr unterworfen sind. Erfasst werden also auch staatliche Institutionen und Gebietskörperschaften, die eigene Unternehmen betreiben oder an ihnen beteiligt sind und relevanten Einfluss auf sie nehmen.7 Eine Einschränkung hat 2009 das italienische Finanzmarktstabilisierungsgesetz8 gebracht, das den italienischen Staat von der Schadensersatzhaftung nach Art. 2497 Abs. 1 C.C. freistellt. Grundsätzlich nicht in den Anwendungsbereich des Konzernrechts fallen natürliche Personen.9 Von diesen wenigen Ausnahmen abgesehen, ist das Konzernrecht auf alle Gesellschaften, Verbände und Körperschaften privaten wie öffentlichen Rechts anwendbar, was unter dem Aspekt der Rechtssicherheit grundsätzlich positiv zu bewerten ist. Doch lässt sich bei der notwendig generalklauselartigen Fassung der wenigen Konzernrechtsnormen leicht ermessen, welch mühsames Geschäft es für die Rechtsprechung sein wird, die einzelnen Vorschriften an einen so heterogenen Adressatenkreis anzupassen.

__________ 6 Nach Auskunft der deutsch-italienischen Handelskammer in Frankfurt am Main. 7 Unstreitig, vgl. nur Montalenti, Riv. soc. 2007, 335 mit zahlr. Nachw.; Oelkers (Fn. 2), S. 566. 8 Art. 19 Abs. 6 des Gesetzesdekrets Nr. 78 v. 1.7.2009 i. V. m. Gesetz Nr. 102 v. 3.8.2009. 9 Klargestellt in Art. 2497sexies C.C. durch Gesetzesdekret Nr. 37 v. 6.2.2004; s. auch Galgano (Fn. 5), S. 759; Rordorf, Le società 2004, 540; Montalenti, Riv. soc. 2007, 322 f.; a. A. Guerrera, „Compiti“ e responsabilità del socio di controllo, RDS 2009, 518 ff., der das Konzernrecht auf natürliche Personen analog anwenden will.

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2. Der konzernrechtliche Anknüpfungstatbestand In seiner Formulierung sehr allgemein gehalten ist der zentrale Begriff, der den Anwendungsbereich der konzernrechtlichen Vorschriften eröffnet. Erforderlich sind nach Art. 2497 Abs. 1 Satz 1 C.C. „attività di direzione e coordinamento di società“.10 Man kann das direkt übersetzen mit „leitender und steuernder Einflussnahme auf eine Gesellschaft“ oder aber mit dem im deutschen Konzernrecht geläufigen Begriff der „einheitlichen Leitung“, der sich vor der Reform von 2004 nach deutschem Vorbild auch in der italienischen Rechtsprechung und Lehre als „direzione unitaria“ durchgesetzt hatte.11 Getreu dem pragmatischen Ansatz des italienischen Gesetzgebers ist also Anknüpfungspunkt der konzernrechtlichen Bestimmungen die schlichte Tatsache, dass ein Unternehmen eine Gesellschaft im Drittinteresse führt und deren unternehmerische Betätigung koordiniert. Ob diese einheitliche Leitung rein faktisch oder vertrags- oder satzungsrechtlich begründet ist,12 spielt dabei ebenso wenig eine Rolle wie die Methoden oder Instrumente der Leitung und Koordinierung.13 Definiert oder präzisiert wird der Begriff „attività di direzione e coordinamento di società“ allerdings nirgends. Das macht es schwierig, den genauen Anwendungsbereich der konzernrechtlichen Normen zu bestimmen, und führt zu beträchtlicher Unsicherheit über Pflichten und Haftung von Konzernspitzen. Angesichts der großen Bandbreite an Konzernstrukturen lässt sich eine allgemein tragfähige Beschreibung pflichten- und haftungsrelevanter Führungstypen auch nur schwer entwickeln. Soweit solche Versuche in der italienischen Lehre unternommen wurden,14 ähneln sie den Bemühungen der deutschen Konzernrechtsdoktrin um die Definition der „einheitlichen Leitung“, die ähnlich empirisch-deskriptiv argumentiert und sich an ökonomischen Modellen der Unternehmensführung im Konzern orientiert.15 Auch hier wird die Rechtsprechung ein beträchtliches Pensum an Konkretisierungsarbeit zu leisten haben.16 Immerhin hilft der italienische Gesetzgeber mit zwei widerleglichen Vermutungen für eine einheitliche Leitung,17 die einerseits an die Pflicht zur Erstellung eines Konzernabschlusses, andererseits an die Mehrheitsbeteiligung anknüpfen. Dabei verlässt er allerdings seinen eigenen pragmatischen Ansatz, der

__________ 10 Derselbe Begriff findet sich bereits in Art. 61 Abs. 4 des Gesetzesdekrets Nr. 385 v. 1.9.1993 über das Bank- und Kreditwesen. 11 Z. B. Tribunale di Milano v. 22.1.2001, Il Fallimento 2001, 1143; hierzu näher Montalenti, Riv. soc. 2007, 320 ff.; zahlr. Literaturnachw. bei Tombari (Fn. 5), S. 24 Fn. 14; auch das Gesetzesdekret Nr. 270 v. 8.7.1999 über die Zwangsverwaltung von Großunternehmen verwendet diesen Begriff in Art. 90. 12 Vgl. Art. 2497septies C.C. 13 Unstreitig, vgl. für alle Montalenti, Riv. soc. 2007, 322 m. w. N. 14 Neuestens umfänglich Tombari (Fn. 5), S. 23 ff. m. w. N. 15 S. z. B. Bayer in MünchKomm. AktG, 3. Aufl. 2008, § 18 AktG Rz. 26 ff., 34 ff.; Vetter in Schmidt/Lutter, 2008, § 18 AktG Rz. 6 ff. 16 Vgl. Tribunale di Roma v. 17.7.2007, Riv. dir. comm. 2008, 216, das einen ersten Definitionsversuch unternommen hat. 17 Art. 2497sexies C.C.

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ohne Rücksicht auf die Gründe für das Potential zu einheitlicher Leitung allein auf deren Ausübung abstellt. Die §§ 17 f. AktG können ihren Vorbildcharakter hierfür kaum verleugnen.

IV. Kollisionsrechtliche Reichweite des Konzernrechts Eine offene Frage ist die kollisionsrechtliche Reichweite des italienischen Konzernrechts. Der Gesetzgeber hat nämlich bei der Schaffung des neuen Konzernrechts dessen transnationale Dimension ignoriert und es im Übrigen auch versäumt, das Gesellschaftskollisionsrecht an die europäische Rechtsentwicklung zur grenzüberschreitenden Mobilität von Gesellschaften anzupassen.18 Inwieweit ausländische Konzerngesellschaften vom Anwendungsbereich des italienischen Konzernrechts erfasst werden, lässt sich auch nicht generell entscheiden, weil Adressaten und Inhalte der einzelnen Vorschriften zu unterschiedlich sind. Soviel lässt sich immerhin mit einiger Gewissheit sagen: Soweit das Gesetz Konzerngesellschaften spezifische Pflichten auferlegt, wie die Publizitäts- und Begründungspflichten der Artt. 2497bis und 2497ter C.C., erfasst es jedenfalls sämtliche Gesellschaften italienischer Rechtsform, gleichgültig, ob die Konzernspitze ein italienisches oder ausländisches Unternehmen ist. Da der Gesetzgeber den Adressatenkreis des Konzernrechts aber bewusst in keiner Weise begrenzt hat, wird man es entgegen der in der italienischen Lehre vertretenen Ansicht19 kaum bezweifeln können, dass die Publizitätsvorschriften, soweit sie keine Handelsregistereintragung voraussetzen, auch für Gesellschaften ausländischer Rechtsform gelten, die ihren tatsächlichen Verwaltungssitz in Italien haben. Dafür spricht nicht zuletzt Art. 25 Abs. 1 Satz 2 des italienischen IPRGesetzes,20 der ausländische Gesellschaften italienischem Recht unterwirft, sofern sich ihr Verwaltungssitz oder der Schwerpunkt ihrer unternehmerischen Aktivität in Italien befindet. Dass diese Vorschrift angesichts der EuGH-Rechtsprechung zur Niederlassungsfreiheit21 auf zugewanderte europäische Auslandsgesellschaften generell keine Anwendung mehr finden könne, wie in der Lehre behauptet wird,22 überzeugt nicht. Denn gerade die konzernrechtlichen Vorschriften qualifiziert die italienische Rechtsprechung jedenfalls in ihrer

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18 Zur Kritik im Einzelnen Tombari (Fn. 5), S. 85; Portale, La riforma delle società di capitali tra diritto comunitario e diritto internazionale privato, in Europa e diritto privato, 2005, S. 125 ff. 19 So etwa Munari, Riforma del diritto societario italiano, diritto internazionale privato e diritto comunitario: prime riflessioni, Riv. dir. int. priv. proc. 2003, 48; Ballarino, Problemi di diritto internazionale privato dopo la riforma, in Il nuovo diritto delle società, Liber amicorum G. F. Campobasso, diretto da Abbadessa e Portale, 2006, S. 174; Tombari (Fn. 5), S. 87 f. 20 Gesetz Nr. 218 v. 31.5.1995. 21 Hierzu ausf. Kindler in MünchKomm. BGB, 5. Aufl. 2010, IntGesR Rz. 110 ff. 22 Z. B. Portale (Fn. 18), S. 133; Carbone, La riforma societaria tra conflitti di leggi e principi di diritto comunitario, Dir. com. int. 2003, 92, 97; Benedettelli, „Mercato“ comunitario delle regole e riforma del diritto societario italiano, Riv. soc. 2003, 699 ff.

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gläubigerschützenden Komponente als deliktische Verkehrspflichten und deliktische Haftungstatbestände,23 deren Geltung als Teil der allgemeinen Rechtsordnung nicht vom Gesellschaftsstatut abhängt. In Bezug auf die Haftung der Konzernspitze gegenüber Minderheit und Gläubigern der Tochter besteht im italienischen Schrifttum inzwischen weitgehend Einigkeit, dass die Haftungstatbestände des Art. 2497 C.C. auch herrschende Unternehmen ausländischer Rechtsform erfassen,24 und zwar unabhängig von der umstrittenen Qualifizierung der Konzernhaftung als vertraglich oder deliktisch.25 Im letzteren Fall ist nach Art. 62 des italienischen IPR-Gesetzes26 der Ort der unerlaubten Handlung, also der rechtswidrigen Ausübung einheitlicher Leitung über die italienische Tochter und damit italienisches Recht maßgeblich, im ersteren Fall findet nach Art. 25 Abs. 2 Buchst. h) des italienischen IPR-Gesetzes die lex societatis der unter Verletzung der Grundsätze ordnungsgemäßer Unternehmensführung geleiteten Tochter, also wiederum italienisches Recht, Anwendung. Dagegen bleibt die kollisionsrechtliche Anwendbarkeit des Art. 2497quater C.C., der den Minderheitsgesellschaftern der Tochter ein konzernbedingtes Austrittsrecht gibt, notwendig auf Gesellschaften italienischer Rechtsform beschränkt, weil nur das Gesellschaftsstatut über Gesellschafterrechte bestimmen kann.27 Auch bei der anfangs außerordentlich streitigen Frage, welchem Statut die Unternehmensfinanzierung im Konzern bei Finanzierungsleistungen ausländischer Mütter an italienische Konzerngesellschaften unterliegt,28 hat sich der Meinungsbildungsprozess im italienischen Schrifttum inzwischen auf die lex societatis zubewegt, die man heute wohl allgemein für maßgeblich hält.29 Demnach findet Art. 2497quinquies C.C., der Finanzierungen durch Mutteroder Schwestergesellschaften den GmbH-rechtlichen Eigenkapitalersatzregeln unterstellt, allein auf Tochtergesellschaften italienischer Rechtsform Anwendung. Die Folgen der Qualifizierung als Eigenkapitalersatz, nämlich Rangrück-

__________ 23 Z. B. Corte d’Appello di Milano v. 17.7.2008, Il fallimento 2009, 169 ff.; Tribunale di Roma v. 17.7.2007, Riv. dir. comm. 2008, 216 f.; Tribunale di Napoli v. 26.5.2008, Il fallimento 2008, 1435 ff.; Galgano (Fn. 5), S. 767 ff., 770; die überwiegende Lehre freilich neigt ihrer Qualifikation als vertragliche Pflichten zu, s. nur Tombari (Fn. 5), S. 36 mit zahlr. Nachw. 24 Z. B. Ballarino (Fn. 19), S. 171; Portale (Fn. 18), S. 141; Tombari (Fn. 5), S. 86; Munari, Riv. dir. int. priv. proc. 2003, 49; Galgano (Fn. 5), S. 769. 25 Näher dazu Galgano (Fn. 5), S. 767 ff.; Tombari (Fn. 5), S. 86 f.; Rordorf, Le società 2004, 545; Di Majo, La responsabilità per l’attività di direzione e coordinamento nei gruppi di società; Giur. Comm. 2009, 541 ff.; Cagnasso, La qualificazione della responsabilità per la violazione dei principi di corretta gestione nei confronti dei creditori della società eterodiretta, Il fallimento 2008, 1438 ff., 1441; Guerrera, RDS 2009, 510 ff. 26 Gesetz Nr. 218 v. 31.5.1995. 27 So ausdrücklich auch Art. 25 Abs. 2 Buchst. g) des italienischen IPRG (Fn. 26). 28 Übersicht über die möglichen kollisionsrechtlichen Anknüpfungen und die Entwicklung des Meinungsstandes bei Tombari (Fn. 5), S. 88 ff. mit zahlr. Nachw. 29 Vgl. Portale (Fn. 18), S. 144; Tombari (Fn. 5), S. 90 f., jeweils mit Nachw.

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tritt und Rückerstattungspflicht, gelten dann aber unterschiedslos für Finanzierungsleistungen italienischer wie ausländischer Konzerngesellschaften.

V. Die Haftung der einheitliche Leitung ausübenden Gesellschaft bei Verletzung der Grundsätze ordnungsgemäßer Unternehmensführung, Art. 2497 C.C. 1. Mängel und Widersprüchlichkeiten der Regelung Das Kernstück des italienischen Konzernrechts, nämlich die unmittelbare Haftung der Muttergesellschaft gegenüber den außenstehenden Gesellschaftern und den Gläubigern der Tochter für pflichtwidrige Unternehmensführung in Art. 2497 C.C., ist zugleich die am gründlichsten misslungene Vorschrift. Denn sie arbeitet, wie im Zusammenhang mit dem konzernrechtlichen Anknüpfungstatbestand zuvor schon erläutert, mit nirgends definierten generalklauselartigen Begriffen, die kaum mehr als leere Worthülsen sind und deshalb jeder Interpretation Raum geben; sie stellt hohe – vermutlich zu hohe – Anforderungen an Darlegungs- und Beweislast des Geschädigten, als dass sie effizient sein könnte; sie enthält eine in ihrer Uferlosigkeit allgemein als unsinnig bewertete Haftungserstreckung auf Helfer und Nutznießer der pflichtwidrigen Unternehmensleitung; und sie hebt schließlich ihre voraussichtlich ohnehin bescheidene Wirksamkeit durch eine vom Gesetzgeber in letzter Minute in die Vorschrift eingefügte Subsidiaritätsregelung im Ergebnis schlicht wieder auf.30 Vor dieser Art von Konzernleitungshaftung müssen sich Mütter italienischer Tochtergesellschaften sicherlich nicht fürchten. Für die Tochter jedoch hat die Vorschrift ein praktisch nicht steuerbares, kaum kalkulierbares, unter Umständen aber existenzgefährdendes Haftungsrisiko geschaffen. 2. Der Haftungstatbestand des Art. 2497 Abs. 1 Satz 1 C.C. Der Haftungstatbestand des Art. 2497 Abs. 1 C.C. setzt voraus, dass die einheitliche Leitung ausübende Gesellschaft oder Körperschaft eine andere Gesellschaft im eigenen oder fremden unternehmerischen Interesse führt, und zwar unter Verletzung der Grundsätze ordnungsgemäßer Unternehmensführung. In der italienischen Doktrin wird letzteres bejaht, wenn die Einbindung der Gesellschaft in den Konzern es ihr verwehrt, als eigenständiges „profit center“ zu agieren, und sei es auch nur in dem ihr von der Konzernzugehörigkeit gesteckten Rahmen.31

__________ 30 Eine eindrucksvolle, jedoch bei weitem nicht vollständige Übersicht über die Probleme, die der neue Haftungstatbestand aufwirft, gibt Montalenti, Riv. soc. 2007, 319 f. 31 Vgl. Angelici, La riforma delle società di capitali, 2. Aufl. 2006, S. 204; Galgano, Direzione e coordinamento di società, 2005, S. 106 ff.; Salafia, La responsabilità della holding verso i soci di minoranza delle controllate, Le società 2004, 9 f.

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Hat der Kläger diese Voraussetzungen bewiesen – was jenseits der gesetzlichen Vermutungen einheitlicher Leitung in Anbetracht der vielen unpräzisen Begriffe nicht ganz einfach sein wird – dann haftet die einheitliche Leitung ausübende Gesellschaft einerseits den Minderheitsgesellschaftern für denjenigen Schaden, den sie der Ertragskraft der Tochter und dadurch dem Wert der Beteiligung zugefügt hat, andererseits den Gläubigern für den durch die Verletzung der Unversehrtheit des Gesellschaftsvermögens erlittenen Schaden. Dass der Minderheit oder den Gläubigern ein solcher Schaden tatsächlich entstanden ist und durch die pflichtwidrige Führung der Tochter verursacht wurde, hat ebenfalls der Kläger zu beweisen.32 Eine Beweiserleichterung oder gar eine Kausalitätsvermutung zwischen der pflichtwidrigen Unternehmensführung im Drittinteresse und dem Minderheits- oder Gläubigerschaden sieht das Gesetz nicht vor. Allerdings machen die sehr weitreichenden Publizitäts- und Begründungspflichten der Artt. 2497bis und 2497ter C.C., sofern sie denn eingehalten werden, die Tatsache und die konkreten Auswirkungen der einheitlichen Leitung in hohem Maße transparent33 und erleichtern dadurch die Identifizierung schädlicher Einflussnahmen auf die Konzerngesellschaften beträchtlich. Man wird deshalb davon ausgehen können, dass die größere Informationsdichte die tatbestandlichen Schwächen der Haftungsnorm in gewissem Maße kompensiert. 3. Die Rückausnahme des Art. 2497 Abs. 1 Satz 2 C.C. Deutlich an Biss verliert die Konzernhaftung durch die Vorschrift des Art. 2497 Abs. 1 Satz 2 C.C., die der einheitliche Leitung ausübenden Konzernspitze die Möglichkeit der Haftungsbefreiung eröffnet. Die Haftung tritt nämlich nicht ein, wenn eine Gesamtbetrachtung der Auswirkungen der einheitlichen Leitung zu dem Ergebnis führt, dass ein Schaden letztlich nicht entstanden ist oder zumindest ausgeglichen wurde. Die „Exkulpation“ setzt also nicht den Nachweis des konkreten Ausgleichs zugefügter Nachteile voraus, sondern erfordert eine Gesamtbewertung der positiven und negativen Effekte der einheit-

__________ 32 Galgano (Fn. 5), S. 780; Ventoruzzo, Experiments in Comparative Corporate Law: The Recent Italian Reform and the Dubious Virtues of a Market for Rules in the Absence of Effective Regulatory Competition, ECFR 2005, 207, 252. 33 Nach Art. 2497bis C.C. muss die einheitlicher Leitung unterstehende Gesellschaft diese Tatsache und genaue Einzelheiten der Konzernverbindung nicht nur in einer eigens dafür geschaffenen Abteilung des Unternehmensregisters publizieren, sondern auch im Schriftverkehr kundtun; außerdem obliegen ihr umfangreiche bilanzielle Publizitätspflichten. Sämtliche Pflichten sind auch gegenüber Dritten schadensersatzbewehrt. Nach Art. 2497ter C.C. müssen alle Entscheidungen der Geschäftsführungsorgane der Tochter, die vom herrschenden Unternehmen beeinflusst wurden, präzise begründet und die sie tragenden Erwägungen und Interessen genauestens dargelegt werden. Im Lagebericht ist hierüber zu berichten; ausf. Cariello, La pubblicità del gruppo (art. 2497bis c.c.): La trasparenza dell’attività di direzione e coordinamento tra staticità e dinamismo, RDS 2009, 466 ff.

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lichen Leitung für die Konzerngesellschaft.34 Da dieser Nachweis kaum misslingen kann, wenn sich die Konzernspitze auf das so gut wie unwiderlegliche Argument „mehr Nutzen als Schaden“ durch die Einbindung in den Konzern beruft, dürfte die in Art. 2497 Abs. 1 Satz 2 C.C. vorgesehene Entlastungsmöglichkeit den Haftungstatbestand des Satz 1 weitgehend entwerten. Im Übrigen hat der italienische Gesetzgeber übersehen, dass eine für die rechtswidrig fremdgesteuerte Gesellschaft am Ende insgesamt positive oder zumindest nicht negative Gesamtbilanz ihrer Konzerneinbindung noch nicht bedeutet, dass auch Minderheit oder Gläubiger keinen Schaden erlitten hätten, zumal der zeitliche Rahmen der erforderlichen Gesamtbewertung völlig ungewiss ist.35 Denn was nützt etwa Gläubigern die Begleichung ihrer offenen Forderungen nach geraumer Zeit, wenn sie wegen zwischenzeitlicher Illiquidität der Konzerngesellschaft in die Insolvenz gehen mussten? Auch hier wird die Rechtsprechung also gefordert sein, den viel zu pauschal formulierten Ausnahmetatbestand des Art. 2497 Abs. 1 Satz 2 C.C. auf seinen sinnvollen Kerngehalt zu reduzieren. 4. Die Haftungserstreckung auf Dritte, Art. 2497 Abs. 2 C.C. In ihrer Formulierung ebenfalls viel zu weit geraten ist Abs. 2 des Art. 2497 C.C., der jeden – auch natürliche Personen – in die Haftung einbezieht, der an der Schädigung mitgewirkt oder auch nur wissentlich aus ihr Nutzen gezogen hat. Von der Haftung erfasst werden also nicht nur aktiv an der rechtswidrigen, schadenstiftenden Unternehmensführung Mitwirkende, wie etwa Organmitglieder, Hausbanken, der sich einmischende Mehrheitsaktionär oder die den Konzern steuernde Gebietskörperschaft, sondern auch passive Nutznießer, sofern sie von der schädlichen Führung der Konzerngesellschaft bewusst profitiert haben,36 etwa begünstigte Schwestergesellschaften oder an konzerninternen Finanztransaktionen gut verdienende Banken. Abgesehen von der Systemwidrigkeit der Einbeziehung passiver Nutznießer, die auf culpa wie causa verzichtet, gehörte zu diesem Personenkreis nach dem Wortlaut der Vorschrift ohne Weiteres auch der Gigolo der Geschäftsführerin, dem sie von ihrer Prämie für die getreuliche Ausführung pflichtwidriger Weisungen die begehrte Zwanzigtausend-Euro-Uhr der traditionsreichen sächsischen Luxus-Uhrenmanufaktur A. Lange & Söhne geschenkt hat. Dass der italienische Gesetzgeber so weit

__________ 34 So etwa Angelici (Fn. 31), S. 197; Giovannini, La responsabilià per attività di direzione e coordinamento nei gruppi di società, 2007, S. 160 ff.; Tombari (Fn. 5), S. 41 f.; Rordorf, Le società 2004, 543; Di Majo, Giur. comm. 2009, 551; Strnad, RIW 2004, 256; die Frage ist allerdings streitig, zum Teil wird ein konkreter Ausgleich der einzelnen Schäden verlangt, so etwa Sacchi, Sulla responsabilità da direzione e coordinamento nella riforma delle società di capitali, Giur. comm. 2003, 661, 672 ff. 35 Dies kritisieren auch Rordorf, Le società 2004, 543, und Strnad, RIW 2004, 256. 36 Sie werden im italienischen Schrifttum plastisch als „Parasiten“ bezeichnet, etwa von Dal Soglio, Commento all’art. 2497 c.c., in Maffei Alberti (Hrsg.), Il nuovo diritto delle società, 2005, S. 2333; zum erfassten Personenkreis s. auch Rordorf, Le società 2004, 544; Corsi, Le nuove società di capitali, 2003, S. 291.

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nicht gehen wollte, steht zu vermuten. Daher wird die Rechtsprechung auch dieser Vorschrift normzweckgerechte Anwendungsgrenzen setzen müssen. 5. Die Subsidiarität der Haftung, Art. 2497 Abs. 3 C.C. Die mysteriöseste Vorschrift des gesamten Konzernrechts ist Art. 2497 Abs. 3 C.C. Wie diese Regelung, die in keinem der Vorentwürfe enthalten war, offenbar im letzten Augenblick Eingang in das Reformpaket finden konnte, gilt auch unter italienischen Kennern des Gesellschaftsrechts als rätselhaft.37 Ob den Gesetzgeber hier nur der Mut verlassen hat oder ob er bestimmten Einflüssen erlegen ist, darüber lässt sich nur spekulieren. Nicht weniger mysteriös ist der Inhalt der Norm; ihre Bedeutung gilt auch in der italienischen Literatur als obskur.38 Fast schon verzweifelt muten daher die Bemühungen des Schrifttums an, der Vorschrift einen vernünftigen Sinn abzuringen.39 Nach ihrem Wortlaut können Minderheitsgesellschafter und Gläubiger die einheitliche Leitung ausübende Gesellschaft nämlich nur dann auf Schadensersatz verklagen, wenn die geschädigte Tochter den Schaden nicht ausgeglichen hat.40 Das kann nun zweierlei bedeuten: entweder die in ihrer Selbstverständlichkeit überflüssige Klarstellung, dass die Konzernspitze nicht auf Schadensersatz in Anspruch genommen werden kann, wenn dem Anspruchsteller gar kein Schaden entstanden ist. Diese Interpretation wird immerhin erwogen,41 doch wäre

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37 Ausf. zur Diskussion des Konzernhaftungstatbestandes im Gesetzgebungsverfahren Abbadessa, La responsabilità della società capogruppo verso la società abusata: spunti di riflessione, BBTC 2008, I, 279 ff. 38 S. etwa Abbadessa, BBTC 2008, I, 279, 287 f.; Pennisi, RDS 2009, 35; Guerrera, RDS 2009, 517; Angelici (Fn. 31), S. 208 f.; Scognamiglio, Danno sociale e azione individuale nella disciplina della responsabilità da direzione e coordinamento, in Il nuovo diritto delle società, Liber amicorum G. F. Campobasso, diretto da Abbadessa e Portale, 2007, S. 953 ff. 39 Die Zahl der Beiträge zu dieser Diskussion ist mittlerweile fast unüberschaubar; Übersichten über den Meinungsstand geben etwa Tombari (Fn. 5), S. 48 ff.; Abbadessa, BBTC 2008, I, 279, 282 ff., jeweils mit Nachw.; symptomatisch für die disperate Sinnsuche sind die schlangengleich gewundenen Ausführungen im Lehrbuch von Abriani u. A., Diritto delle società, 4. Aufl. 2008, S. 355, der im Ergebnis aber resigniert. 40 Diese Vorschrift ist an die Stelle der noch im RegE v. 30.9.2002, Riv. soc. 2002, 1346 ff., enthaltenen Regelung getreten, die der geschädigten Tochter selbst einen Schadensersatzanspruch gegen die Mutter gab; ein solcher Anspruch wird der Tochter nun jedenfalls vom Konzernrecht versagt; zur Kritik daran s. Abbadessa, BBTC 2008, I, 279, 280 ff. mit zahlr. Nachw.; die italienische Doktrin geht mehrheitlich davon aus, dass der Tochter jedenfalls ein Schadensersatzanspruch aus mala gestio zusteht, z. B. Campobasso, Diritto commerciale, Bd. 2, Gesellschaftsrecht, 7. Aufl. 2009, S. 304; Guerrera, RDS 2009, 512 ff., jeweils mit zahlr. Nachw.; dezidiert a. A. Abbadessa, BBTC 2008, I, 279 ff. 41 Allerdings unter dem kaum tragfähigen Aspekt der Vermeidung einer Haftungsverdopplung von Mutter und Tochter, die freilich im Regelfall ohnehin als auf den Ersatz desselben Schadens gerichtet ausgeschlossen wäre; s. etwa Tombari (Fn. 5), S. 50; Scognamiglio (Fn. 38), S. 961 ff.; näher hierzu Abbadessa, BBTC 2008, I, 281 f. m. w. N.

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es in diesem Fall gleichgültig, wer den Schaden ausgeglichen hat, so dass es der ausdrücklichen Erwähnung des Ausgleichs durch die Tochter nicht bedürfte. Oder aber man versteht die Norm als Anordnung der Subsidiarität der Konzernhaftung der rechtswidrig leitenden Mutter im Verhältnis zur Haftung der leitungsunterworfenen Tochter, gibt also der Mutter die Einrede der Vorausklage.42 Minderheitsgesellschafter und Gläubiger müssten sich dann wegen des Ersatzes ihrer Schäden zunächst an die Tochter halten. Für eine solche Interpretation spricht jedenfalls der Wortlaut der Norm.43 Nun erscheint es aber ziemlich widersinnig, geschädigte Gesellschafter und Gläubiger vorrangig gerade an diejenige Gesellschaft zu verweisen, die selbst das erste „Opfer“ der rechtswidrigen Unternehmensleitung im Drittinteresse war und aus deren Schädigung die von Minderheitsgesellschaftern und Gläubigern erlittenen Folgeschäden letztlich herrühren. Denn es sind gerade die Schwächung der Ertragskraft der Tochter und die Verletzung der Unversehrtheit ihres Vermögens infolge der rechtswidrigen einheitlichen Leitung, auf denen Minderheits- und Gläubigerschäden beruhen müssen, damit die Konzernhaftung greift. Im Ergebnis hätte dann die Tochter ihren Gesellschaftern und Gläubigern für fremdes, notwendig auch sie selbst schädigendes Verhalten einzustehen, das sie realistischer Weise weder beeinflussen noch abwenden kann. Wenn sie die Schäden ausgleicht, ohne dass die Mutter ihr die hierfür erforderlichen Mittel zur Verfügung stellt44 – und dazu ist sie jedenfalls konzernrechtlich nicht verpflichtet –,45 verschlechtert sich ihre eigene Vermögenslage weiter, vertiefen sich also auch die Gesellschafter- und Gläubigerschäden. Die so kraftvoll als direkte Außenhaftung angelegte Konzernhaftung der Mutter liefe somit dank der obskuren Regelung des Art. 2497 Abs. 3 C.C. in Wahrheit darauf hinaus, dass die unter einheitlicher Leitung stehende Konzerngesellschaft einem existenzbedrohenden Haftungsrisiko ausgesetzt würde, sollte die Rechtsprechung die Vorschrift tatsächlich in dem vom Wortlaut nahegelegten Sinne deuten, dass erst die erfolglose Inanspruchnahme der Tochter den Weg zur Konzernhaftung der Mutter eröffnet. Dann allerdings würde die

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42 Welchen prozessualen Weg die Norm vorgibt, ob sie echtes Klagehindernis oder bloße Einrede oder lediglich Vollstreckungshindernis ist, so Galgano (Fn. 5), S. 785, und ob eine erfolglose Klage gegen die Tochter überhaupt notwendig ist, ist völlig offen und sehr streitig, s. die Übersicht über die Interpretationsmöglichkeiten nebst Interpreten bei Abbadessa, BBTC 2008, I, 286 ff.; Guerrera, RDS 2009, 517 f. 43 So etwa Galgano (Fn. 31), S. 119; nur für die Ansprüche der Gläubiger ebenso Tombari (Fn. 5), S. 50; Scognamiglio (Fn. 38), S. 954, 958. 44 Galgano (Fn. 5), S. 785 f., sieht den Sinn der Vorschrift gerade darin, dass sie die Mutter zwingt, der Tochter diese Mittel zukommen zu lassen, um die eigene Haftung zu vermeiden. 45 Die Frage ist jedoch streitig, wie hier Abbadessa, BBTC 2008, I, 288; Jorio, I gruppi, in Angelici/Ferri (Hrsg.), La riforma delle società, 2003, S. 201; Angelici (Fn. 31), S. 209; Guizzi, Partecipazioni qualificate e gruppi di società, Dir. soc. 2006, 349; a. A. z. B. Cariello, Direzione e coordinamento di società e responsabilità: spunti interpretativi iniziali per una riflessione generale, Riv. soc. 2003, 1257; Scognamiglio (Fn. 38), S. 961 ff.; Guerrera, RDS 2009, 515.

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italienische Konzernhaftung vollends zum zahnlosen Tiger und hätte sich die Verspottung als „Spaghetti-Konzernrecht“46 redlich verdient.

VI. Austrittsrecht der Minderheitsgesellschafter, Art. 2497quater C.C. Einen wirksameren Minderheitenschutz als die in ihrer praktischen Relevanz äußerst zweifelhafte Konzernhaftung der Mutter scheinen, zumindest auf den ersten Blick, die in Art. 2497quater C.C. vorgesehenen konzernbedingten Austrittsrechte der Minderheitsgesellschafter zu bieten. Auch sie gelten prinzipiell rechtsformübergreifend und treten daher neben die rechtsformspezifischen Austrittrechte der Gesellschafter. Sie eröffnen dem Gesellschafter der Tochter, dessen Investitionsrisiko sich durch die Konzernsituation erhöht, den Ausweg der Desinvestition, und zwar in drei unterschiedlichen Konstellationen: Der erste Fall47 betrifft alternativ Rechtsformänderungen der Mutter, die eine Änderung des Gesellschaftszwecks mit sich bringen, oder solche Änderungen ihres Unternehmensgegenstands, die der Mutter geschäftliche Aktivitäten erlauben, die unmittelbar und spürbar die Wirtschafts- und Vermögenslage der leitungsunterworfenen Gesellschaft verändern. Abgesehen davon, dass diese Vorschrift schon durch die Verwendung der Begriffe „Gesellschaftszweck“ und „Unternehmensgegenstand“ sämtliche Gebietskörperschaften aus ihrem Anwendungsbereich ausnimmt, es also mit der Rechtsformneutralität offenbar doch nicht so ernst meint, vermag sie nach zutreffender Auffassung so gut wie keine praktische Relevanz zu erlangen.48 Denn es ist in der Tat kaum vorstellbar, dass bloße Strukturänderungen bei der Konzernspitze auf die Wirtschaftsund Vermögenslage der einzelnen Konzerngesellschaften die vom Gesetz geforderten unmittelbaren und erheblichen – negativen, also risikoerhöhenden – Auswirkungen haben können.49 Und wenn sich solche Auswirkungen vielleicht nach Jahren zeigen, kann das Austrittsrecht nicht mehr wahrgenommen werden. Bedenkt man, dass die Vorschrift den Schutz des Minderheitsgesellschafters vor einer Verschlechterung seines Investitionsrisikos bezweckt,50 neigt man spontan zu der Annahme, dass es sich um ein gesetzgeberisches Versehen handeln muss und doch wohl nur konzernbedingte Strukturänderungen bei der Tochter selbst gemeint sein können. Nur dann nämlich ergäbe diese Regelung auch wirtschaftlich einen Sinn. Doch stützen die im Gesetzgebungsverfahren gehandelten Gründe51 die Annahme eines Versehens nicht.

__________ 46 47 48 49 50 51

So der Titel des Beitrags von Peter in FS Peter Nobel, 2005, S. 251 ff. Art. 2497quater Abs. 1 Buchst. a) C.C. Tombari (Fn. 5), S. 76 f. mit Nachw. So mit Recht Tombari (Fn. 5), S. 76 f.; Rordorf, Le società 2004, 549. Ausf. Pennisi, RDS 2009, 35, 37 f. S. hierzu Santosuosso, Gruppi di società basati sull’attività di direzione e coordinamento e diritto di recesso nelle ipotesi di trasformazione con mutamento dello scopo sociale e di modifica dell’oggetto sociale della capogruppo (Art. 2497quater, primo co., lett. a) C.C.), Studio n. 132-2009/I, approvato dalla Commissione studi d’impresa, S. 3 f.

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Das italienische Konzernrecht: Ein Leerstück der Gesetzgebung

In der zweiten Alternative52 gibt die Norm dem Minderheitsgesellschafter ein Austrittsrecht, wenn die Konzernspitze zur Schadensersatzleistung an ihn verurteilt wurde. Auch dieser Fall dürfte schon wegen der in Art. 2497 Abs. 3 C.C. angeordneten Subsidiarität der Konzernhaftung gegenüber der Haftung der Tochtergesellschaft selbst, die ja zunächst einmal leistungsunfähig, also insolvent sein muss, damit die Mutter verurteilt werden kann, so gut wie keine praktische Relevanz erlangen. Ein wichtiges Instrument des Minderheitenschutzes in Form des Konzerneingangs- und -ausgangsschutzes hält hingegen der dritte Fall des Art. 2497 in Abs. 1 Buchst. c) C.C. bereit. Danach steht dem Minderheitsgesellschafter der Tochter sowohl bei Beginn der einheitlichen Leitung als auch bei Beendigung der Konzerneinbindung ein Austrittsrecht zu, sofern sich sein Investitionsrisiko im Vergleich zum vorherigen Zustand verschlechtert und kein öffentliches Übernahmeangebot gemacht wird; kein Austrittsrecht besteht lediglich bei börsennotierten Aktiengesellschaften.53 Dieses an sich sinnvolle und wirksame Instrument des Minderheitenschutzes stößt jedoch auf beträchtliche Anwendungsschwierigkeiten. Denn der italienische Gesetzgeber hat es sich im Hinblick auf die Bedingungen und Rechtsfolgen des Austritts denkbar bequem gemacht. Statt hierfür eigene Regeln zu schaffen, verweist er auf die auch sonst für die Austrittsrechte bei der italienischen AG und GmbH geltenden Vorschriften des Codice Civile,54 und zwar „je nach Fallgestaltung und soweit mit jenen Vorschriften vereinbar“. Angesichts der nicht unerheblichen Unterschiede zwischen den aktien- und GmbH-rechtlichen Austrittsmodalitäten55 lässt diese Formulierung beträchtliche Lücken56 und eröffnet enorme Interpretationsspielräume, die das Ergebnis der Normanwendung praktisch unvorhersehbar machen.57 Welchen Nutzen im Übrigen die Verweisung auf Vorschriften des Kapitalgesellschaftsrechts samt „Bedienungsanleitung“ für andere Gesellschaftsformen haben soll, die – wie die Personengesellschaften – eigene Austrittsregeln kennen,58 bleibt das Geheimnis des Gesetzgebers. Ganz sicher jedoch birgt das Austrittsrecht des Minderheitsgesellschafters bei Beginn und Ende der Konzerneinbindung für den Erwerb oder die Veräußerung der Mehrheit an italienischen Gesellschaften oder bei Umstrukturierungen im

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52 Art. 2497quater Abs. 1 Buchst. b) C.C. 53 Nach dem Wortlaut der Vorschrift genügt es auch, dass die Aktien in regulierten Märkten gehandelt werden. 54 Bei Aktiengesellschaften etwa auf die Artt. 2437 ff. C.C.; bei GmbHs auf die Artt. 2473 ff. C.C. 55 S. dazu die Artt. 2437 ff. C.C. einerseits und die Artt. 2473 ff. C.C. andererseits, auf deren Einzelheiten aus Platzgründen nicht eingegangen werden kann. 56 Pennisi, RDS 2009, 45 f.; Tombari (Fn. 5), S. 83 f. 57 Näher hierzu und zu den kaum zu bewältigenden Schwierigkeiten bei der Anwendung dieser auf ganz andere Fälle zugeschnittenen Normen zum Zwecke des Konzerneingangs- und -ausgangsschutzes exemplarisch Pennisi, RDS 2009, 39 ff.; s. ferner Tombari (Fn. 5), S. 81 ff.; Rordorf, Le società 2004, 548; Corsi (Fn. 36), S. 293 f. 58 Für alle Personengesellschaften gelten die Artt. 2285 ff. C.C., auf die aber gerade nicht verwiesen wird.

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Konzern ein erhebliches finanzielles Risiko, weil der ausscheidende Gesellschafter nach den anwendbaren Regelungen des Kapitalgesellschaftsrechts Anspruch auf volle Kompensation des Wertes seiner Beteiligung hat.59 Geleistet werden muss die Abfindung binnen sechs Monaten seit der Austrittserklärung,60 und zwar von der Gesellschaft selbst, falls die Mutter, andere Konzerngesellschaften oder Dritte die Anteile nicht übernehmen,61 was erstere in erhebliche Liquiditätsschwierigkeiten bringen kann. Schlimmstenfalls ist sie zu einer Kapitalherabsetzung gezwungen.62 Schon heute hat dieses Austrittsrecht, so vage und ungewiss es in seinen Voraussetzungen und Modalitäten im Einzelnen auch sein mag, große praktische Bedeutung erlangt, und es ist absehbar, dass es als Verhandlungsmasse der Minderheit bei Strukturmaßnahmen im Konzern63 auch künftig eine große Rolle spielen wird.

VII. Finanzierungsrisiken im Konzern, Art. 2497quinquies C.C. Zu einer korrekten Konzernführung gehört nach der Vorstellung des italienischen Gesetzgebers auch die ordnungsgemäße Finanzierung der Konzerngesellschaften, die jedoch für die im Finanzverbund stehenden Gesellschaften bekanntlich nicht gewährleistet ist. Gleichwohl hat der Gesetzgeber darauf verzichtet, der mit der zentralen Konzernfinanzierung verbundenen Gefährdung der Minderheits- und Gläubigerinteressen mit konzernrechtseigenen Schutzmechanismen zu begegnen. Vielmehr erklärt Art. 2497quinquies C.C. in der Insolvenz der Tochter die GmbH-rechtliche Eigenkapitalersatzregelung des Art. 2467 C.C. für anwendbar, und zwar auf konzerninterne Finanzierungsleistungen sowohl der Mutter als auch sämtlicher unter ihrer einheitlichen Leitung stehender Konzerngesellschaften. Sie alle sind infolge dessen für den Fall der Insolvenz einer Konzerngesellschaft mit dem Risiko des Rangrücktritts ihrer Forderungen und der Pflicht zur Rückerstattung binnen Jahresfrist vor Insolvenzeröffnung erhaltener Tilgungsleistungen belastet. Die Verweisungstechnik des italienischen Gesetzgebers bereitet hier ebenso große Schwierigkeiten wie beim Austrittsrecht: Die anzuwendenden Normen passen nicht auf die Lage im Konzern, weil sie allein auf die S.r.l., und zwar als unverbundene Gesellschaft, zugeschnitten sind, und müssen deshalb mühsam und mit ungewissem Ausgang passend gemacht werden. So wird man zwar davon ausgehen können, dass es – wie für die unverbundene S.r.l. nach Art. 2467 Abs. 2 C.C. – auch im Konzern auf die Art der Finanzierungsleistung nicht ankommt. Doch knüpft Art. 2467 C.C. deren Qualifikation als kapital-

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59 S. Art. 2437ter C.C. für die S.p.a. und Art. 2473 Abs. 3 C.C. für die S.r.l. 60 Art. 2437quater Abs. 5 C.C. für die S.p.a. und Art. 2473 Abs. 4 C.C. für die S.r.l.: binnen 180 Tagen. 61 Art. 2437quater Abs. 5 C.C. für die S.p.a. und Art. 2473 Abs. 4 C.C. für die S.r.l. 62 Dazu im Einzelnen Pennisi, RDS 2009, 38. 63 Was durchaus auch im Sinne des Gesetzgebers ist, wie aus § 13 der Begründung selbst hervorgeht, s. Vietti/Auletta/Lo Cascio/Tombari/Zoppini (Hrsg.), La riforma del diritto societario. Lavori preparatori, testi e materiali, 2006, S. 258.

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ersetzend an die Gesellschaftereigenschaft an, die nach Art. 2497quinquies C.C. im Konzern aber gerade nicht erforderlich sein soll. Daran hat sich prompt eine sehr streitige Diskussion um die bislang gerichtlich nicht geklärte Frage entzündet, ob natürliche Personen, wie etwa der Großaktionär der Mutter, die sonst vom Konzernrecht nicht erfasst werden, als Kreditgeber nicht doch den Kapitalersatzregeln unterliegen.64 Auch sind die Maßstäbe des Art. 2467 Abs. 2 C.C., nach denen sich bei der unverbundenen S.r.l. der Kapitalersatzcharakter der Finanzierung bemisst, im Konzernrecht ungeeignet, weil sie die normale Situation der Gesellschaften im zentral finanzierten Konzern beschreiben. Das gilt für das übergroße Missverhältnis zwischen Verschuldung und Nettovermögen genauso wie für das Kriterium einer finanziellen Lage der Gesellschaft, in der ihr vernünftigerweise Eigenkapital hätte zugeführt werden müssen. Auch hier bleibt es also der Rechtsprechung überlassen, speziell konzernbezogene Maßstäbe für die Qualifizierung von Finanzierungsleistungen als kapitalersetzend zu entwickeln. Ob sie dafür den aus dem deutschen Recht geläufigen Drittvergleich heranziehen wird, wie dies das Schrifttum befürwortet,65 ist völlig offen.

VIII. Fazit Die Kodifizierung des italienischen Konzernrechts hat wesentlich mehr Probleme geschaffen als gelöst, wie die Versuche einer wissenschaftlichen Durchdringung der Materie in den vergangenen acht Jahren gezeigt haben. Der italienische Gesetzgeber hat hier eine Baustelle neu eröffnet, wo die Rechtsprechung zuvor schon solide und entwicklungsfähige Fundamente gelegt hatte. Schärfer als der Florentiner Gesellschaftsrechtler Umberto Tombari, der das neue Konzernrecht mir gegenüber „un passo indietro“, einen Schritt zurück nannte, kann man es kaum kritisieren. Die Nücken, Tücken und Lücken der konzernrechtlichen Generalklauseln und die gänzlich unzulängliche Methode luftiger Verweisungen auf tatbestandlich unpassende Vorschriften zu ihrer Ausfüllung und Ergänzung lassen die Anwendung des Konzernrechts in der Praxis zum Lotteriespiel werden. Die scheinbar so scharfe Konzernhaftung der Mutter erweist sich bei näherem Besehen als Papiertiger, der aber die ohnehin geschädigten Konzerngesellschaften in existentielle Nöte treibt. Der Minderheitenschutz durch Austrittsrechte greift nur partiell, mangels passender Verfahrensregeln womöglich auch gar nicht; vermutlich wird das Austrittsrecht nur als Drohpotential und Verhandlungsmasse taugen. Über die einheitliche Konzernfinanzierung hat der italienische Gesetzgeber das Damoklesschwert des Kapitalersatzrechts gehängt, aber ohne taugliche Vorgaben dafür, wann es fällt. Auf die Rechtsprechung wird ein großes Stück Arbeit zukommen, um auf den gesetzlichen Eckpfeilern ein funktionsfähiges Konzernrechtsgebäude zu errichten. Bei der Dauer italienischer Zivilprozesse haben wir also spannende Jahrzehnte vor uns.

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64 Hierzu etwa Angelici (Fn. 31), S. 62; Tombari (Fn. 5), S. 67; Irace, Art. 2497bis, in Sandulli e Santoro (Hrsg.), La riforma delle società, 2003, S. 341. 65 Z. B. Tombari (Fn. 5), S. 69 f.; Campobasso, I finanziamenti dei soci, 2004, S. 106.

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Compliance – moving target Inhaltsübersicht I. Einleitung II. Risikoorientierter Ansatz 1. Faktizität 2. Ursachen III. Grundsätze ordnungsgemäßer Implementierung 1. Richtlinien 2. Normative Vorgaben IV. Umfang der Implementierungsprozesse 1. Bekanntmachung und Schulung 2. Ablaufprozesse und Kontrollen V. Code of Conduct

VI. Frühwarnsystem 1. Ziele und Verschwiegenheitsgrundsatz 2. Strukturelle Voraussetzungen und Zuständigkeiten VII. Compliance als Teil des Governance Systems 1. Organisatorischer Status quo 2. Prognoseorientiertes Risikomanagement 3. Alleinstellungsgebot VIII. Künftige Risikoexposition 1. Extraterritoriale Rechtswirkung 2. Völkerrechtliche Grundsätze IX. Schlussbemerkung

I. Einleitung Art. 2 Abs. 1 GG enthält die verfassungsrechtlich statuierte Bindung aller Deutschen an Recht und Gesetz.1 Im Bürgerlichen Gesetzbuch finden sich darüber hinaus Verpflichtungen zur Einhaltung ethischer Grundsätze, nämlich die Beachtung von Treu und Glauben (§ 242 BGB) und der guten Sitten (§ 138 BGB). Explizite Forderungen an einen bestimmten Adressatenkreis, die Gesetze zu achten und einzuhalten, fanden sich lange Zeit nicht in unseren Gesetzen. Die Einhaltung von Recht und Gesetz wurde in unserem Kulturkreis bis vor wenigen Jahren als ein immanentes Gebot und nicht als eine von Fall zu Fall regelungsbedürftige Forderung angesehen.2 Erstmalig der Deutsche Corporate Governance Kodex (DCGK) enthielt schon bei seiner Bekanntmachung am 26.2.2002 eine Verpflichtung des Leitungsorgans, „für die Einhaltung der gesetzlichen Bestimmungen zu sorgen“. Diese Verpflichtung ist normativ aufgrund der zwingenden Entsprechenserklärung.3 Ob es wirklich erforderlich war,

__________ 1 Art. 2 Abs. 1 GG enthält das Grundrecht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit für jedermann. Diese allgemeine Handlungsfreiheit findet ihre Schranke an der verfassungsmäßigen Ordnung, den Rechten anderer und dem Sittengesetz, mithin an Recht und Gesetz. 2 Spindler, Compliance in der multinationalen Bankengruppe, WM 2008, 905. 3 DCGK Ziffer 4.1.3 i. V. m. § 161 Abs. 1 AktG. Nach der DCGK Präambel „stellt der DCGK wesentliche gesetzliche Vorschriften zur Leitung und Überwachung deutscher

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die Forderung nach „compliance“ dergestalt übersetzt in das deutsche Recht einzuführen, mag dahin stehen. Jedenfalls hat nun auch der Gesetzgeber mehrfach die Pflicht zur Einhaltung gesetzlicher Vorschriften postuliert (§§ 25a KWG, 64a VAG). „Compliance im Unternehmen“ steht indessen nicht nur für die Pflicht per se zur Befolgung aller gesetzlichen Regelungen, sondern für einen systematischen, organisatorischen Ansatz, d. h. für eine Institutionalisierung.4 „Compliance im Unternehmen“ muss Antworten auf die Frage ermöglichen, wie das Unternehmen sicherstellt und belegbar macht, dass alle Mitarbeiter sich gesetzes- und regelkonform verhalten und dass alle unternehmerischen Entscheidungen und Prozesse gesetzes- und regelkonform ablaufen.5 Dieses Ziel gilt unverändert weltweit. Der nachstehende Beitrag rekapituliert die nunmehr über 10 Jahre währende, also gleichsam historische Entwicklung von Compliance. Die Gliederung des Beitrags nimmt die Entwicklungsstufen des „moving target Compliance“ mit kritischen Anmerkungen auf.

II. Risikoorientierter Ansatz 1. Faktizität Die internationale Entwicklung zeigt, dass allein der Umstand, dass ein Unternehmen eine langfristig positive Entwicklung aufzuweisen hat und keine negativen Vorkommnisse festgestellt wurden, nicht mehr ausreicht, um die Gesellschafter, Überwachungsorgane und sonstige Interessierte von der Güte des Unternehmens zu überzeugen. Eine testierte unternehmerische Rechenschaftslegung ist kein alleiniges Gütesiegel. Auch zusätzliche börsenrechtliche Anforderungen an die unternehmerische Berichterstattung können das Vertrauen des Marktes nicht herstellen, nachdem die zahlreichen Unternehmenszusammenbrüche Ende des 20. Jahrhunderts offenbarten, dass gesetzwidriges Verhalten innerhalb der Unternehmen im Zusammenspiel mit eigenem Fehlverhalten oder bestenfalls einem Nicht-Wissen-Wollen der Leitungsorgane keine Seltenheit darstellen und ursächlich für große Verluste waren. Öffentlich wurden die internen Missstände selten durch den Abschlussprüferbericht, die Hauptversammlung oder andere systemimmanente Offenlegungen sondern erst durch Zahlungsunfähigkeit oder staatsanwaltliche Ermittlungen. Die entsprechende Medienberichterstattung im Zusammenhang mit Ermittlungen und Gerichtsverhandlungen ließ erkennen, dass sich die angeschuldigten Leitungsorgane nicht in einem guten Licht zeigen konnten. Bestandsgefährdend für die betroffenen Unternehmen waren die finanziellen Belastungen durch Bußgelder

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börsennotierter Gesellschaften (Unternehmen) dar“. Die Entsprechenserklärung gemäß § 161 AktG ist unabdingbar und seit 2009 (BilMoG) ist jede Abweichung auch zu begründen und zwar für die Vergangenheit ebenso wie für die Zukunft. 4 Klindt/Pelz/Theusinger, Compliance im Spiegel der Rechtsprechung, NJW 2010, 2385. 5 Schmidt, Vertrauen ist gut, Compliance ist besser!; BB 2009, 1295, 1299, Kort, Verhaltensstandardisierung durch Corporate Compliance, NZG 2008, 81, 82.

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in mehrstelligen Millionenbeträgen an nationale und ausländische Aufsichtsbehörden, Beraterhonorare, Schadensersatzzahlungen, erzwungene Restrukturierungsmassnahmen, auferlegte Wettbewerbsnachteile und den Reputationsverlust, mit Auswirkungen auf den nationalen wie auch internationalen Markt. Kosten und Reputationsverlust bleiben auch künftig die maßgeblichen Risiken. 2. Ursachen Die Ursachen der Missstände ließen sich in allen Fällen feststellen. Es ging um eine gesetzwidrige Geschäftsausübung im Allgemeinen, wobei Verstöße gegen die Rechnungslegungsvorschriften nahezu immer festzustellen waren. Darüber hinaus kann rückblickend zwischen Verstößen zum eigenen Nutzen und solchen „im Interesse des Unternehmens“ unterschieden werden. Eigennützige Verstöße erfolgten im Kontext einer ergebnisabhängigen Vergütung des Managements und durch Insiderrechtsverletzungen. Wettbewerbswidriges Verhalten, die Nichtbeachtung von Exportbeschränkungen, Bestechung von Vertragspartnern, Auslandsgeschäfte ohne erforderliche Lizenzen oder Vorteile durch das Ausnützen von Interessenkonflikten sind Beispiele für die Kategorie der Verstöße „im Interesse des Unternehmens“. Vor diesem Hintergrund wurde in der Folge eine risikoorientierte Betrachtung gefordert, wobei die Risikobestimmung anfangs oft ausschließlich auf einer juristischen Bewertung beruhte. Juristen benannten die Rechtsgebiete mit den größten finanziellen Auswirkungen im Fall von Verstößen. Branchen- und unternehmensunabhängig ergab sich ein Risikokatalog, über den ein globaler Konsens bestand; Wettbewerbs- und Kartellrecht, Korruption und Bestechung, Geldwäsche und Terrorismusfinanzierung, Außenwirtschaftsrestriktionen, Datenschutz und Datensicherheit, Insiderhandel sowie Interessenkonflikte.

III. Grundsätze ordnungsgemäßer Implementierung 1. Richtlinien Als eine der ersten Maßnahmen nach der Risikoanalyse erstellten die meisten Unternehmen einen sogenannten Notfallplan, der geschäftsbereichsübergreifend den Umgang mit Ausnahmesituationen regelte, wie sie sich aus den erfahrenen Missständen ergeben hatten und interne ebenso wie externe Maßnahmen umfasste. Daneben gingen die Rechtsabteilungen daran, Richtlinien zu formulieren, die einerseits den Mitarbeitern fachliche Informationen zu den erkannten Risikothemen vermitteln und andererseits Handlungsanweisung sein mussten.6 Viele Compliance-Verantwortliche beschränkten sich jahrelang auf das Verfassen

__________ 6 Mengel in Hauschka, Corporate Compliance, 2. Aufl. 2010, § 12 Implementierung und Durchsetzung von Compliance-Systemen, Rz. 2.

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von Richtlinien, verkennend, dass auch eine gut und klar formulierte Zusammenfassung komplexer juristischer Sachverhalte, die von allen Mitarbeitern gelesen und verstanden worden ist, nicht automatisch dazu führt, dass Verstöße vermieden werden. Was Richtlinienimplementierung heißt und welche Maßnahmen umfasst sein müssen, war zumindest den Rechtsabteilungen, die in der Regel die Complianceaufgaben erledigten, nicht klar. Das Verfassen von Richtlinien allein reicht nicht, um das Ziel eines gesetzes- und regelkonformen Verhaltens in allen Bereichen eines Unternehmens zu erreichen. Es bedarf unterstützender Prozesse und Kontrollen, ob die Richtlinienvorgaben auch von allen Mitarbeitern eingehalten werden.7 2. Normative Vorgaben Die internationalen, börsennotierten Unternehmen wurden schon durch die einschlägige Forderung des 2002 in Kraft getretenen US-amerikanischen SarbanesOxley Act über die Notwendigkeit einer „internal control structure“ belehrt.8 Das galt nicht nur bezüglich der unternehmerischen Rechenschaftslegung, denn der Sarbanes-Oxley Act bezog sich auch auf die Unternehmensorganisation und auf Maßnahmen zur Verhinderung krimineller Handlungen.9 Dass der deutsche Gesetzgeber zunächst kaum Handlungsbedarf sah, mag in dem dualistischen System des deutschen Aktienrechts begründet sein, welches die Überwachung des Unternehmens einem von der Unternehmensführung getrennten Gesellschaftsorgan zuweist und zudem Aufgaben und Pflichten aller Gesellschaftsorgane normativ vorgibt.10 Regelungen erfolgten wiederum erst durch die DCGK Kommission, die im Jahr 2007 zutreffend und mit Sinn für eine notwendige Systematik, die Ziffer 4.3.1 DCGK dahingehend ergänzte, dass der Vorstand auch „für die Einhaltung der unternehmensinternen Richtlinien zu sorgen hat“, nicht nur für die Einhaltung der gesetzlichen Bestimmungen.11 Die Rechtsprechung unterstrich mit der Begründung einer Garantenstellung des Compliance Beauftragten dessen organisatorische Aufgabe im Unternehmen.12 Zeitgleich hat das UmsetzungsG zur EU Finanzmarktrichtlinie vom 16.7.2007 zu der Neufassung von § 25a KWG geführt mit der Verpflichtung, die Einhaltung der zu beachtenden gesetzlichen Bestimmungen zu gewährleisten, womit deutlich eine Aufforderung zum Handeln ausgesprochen

__________ 7 Schmidt (Fn. 5), BB 2009, 1295, 1296. 8 Sabanes-Oxley Act Title IV, section 404 fordert eine adäquate Kontrollstruktur, deren Effektivität vom Unternehmen zu bestätigen und folglich vorher zu überprüfen ist. 9 Sabanes-Oxley Act Title III, section 301 beinhaltet die Verpflichtung zur Einrichtung einer Whistleblowing-Ansprechstelle. 10 Eibelshäuser, Corporate Compliance – Ist eine globale Uniformität möglich?, Der Konzern 2007, 735. 11 DCGK Ziffer 4.1.3 in der Fassung v. 26.2.2002. 12 BGHSt 54, 44 nimmt, anknüpfend an die Beauftragten-Rechtsprechung, eine Garantenstellung kraft vertraglicher Übernahme an. Lampert in Hauschka, Corporate Compliance, 2. Aufl. 2010, § 9 Compliance-Organisation, Rz. 37.

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ist.13 Auch intensivierten die Aufsichtsbehörden ihre Aktivitäten. So hat die UK-Finanzaufsicht (FSA) im Jahr 2009 einem ihrer Aufsicht unterstellten Unternehmen nach einer Routinekontrolle, also ohne akuten Anlass, ein Bußgeld von GBP 5,25 Mio auferlegt, weil das Unternehmen zwar Richtlinien erlassen und die Mitarbeiter darüber informiert hatte, aber „failed to take reasonable care to establish and maintain effective systems and controls to counter the risk“.14 Ein vergleichbares Vergehen kostete 2011 schon GBP 9,85 Mio, wobei dem Unternehmen ein 30 %iger Discount wegen bereitwilliger Kooperation mit der FSA angerechnet wurde.15 Welche Voraussetzungen eine ComplianceOrganisation erfüllen soll, haben zuletzt die Wirtschaftsprüfer mit dem IDW Prüfungsstandard ‚Grundsätze ordnungsgemäßer Prüfung von ComplianceManagement-Systemen‘ bestimmt, welcher am 1.4.2011 verabschiedet wurde.16 Die vom IDW definierten Grundelemente eines Compliance-Management-Systems sind in mehrfacher Hinsicht kommentierungsbedürftig, was im Rahmen dieses Beitrags unterbleiben muss, jedoch zeigt die Auflistung zu Gegenstand, Ziel und Umfang der Prüfung ein klares Bild dessen, was zu einer Implementierung „to counter the risk of non-compliance“ gehört.

IV. Umfang der Implementierungsprozesse 1. Bekanntmachung und Schulung Zur Implementierung von Richtlinien gehört eine Bekanntmachung, die allen durch die Richtlinie adressierten Mitarbeiter avisiert, dass es eine neue Richtlinie gibt, und die Mitarbeiter in die Lage versetzt, jederzeit, auch künftig, an geeigneter Stelle vom Inhalt der Richtlinie Kenntnis zu nehmen. Das gilt auch bei inhaltlichen Änderungen schon bestehender Richtlinien. Das heißt, es muss allgemein zugänglich hinterlegt sein, welche Richtlinien es zu welchen Themen gibt, welches die jeweils aktuelle Fassung und wer der Adressatenkreis ist. Letztendlich muss auch gewährleistet sein, dass die Richtlinie in regelmäßigen Abständen aktualisiert wird.17

__________ 13 Finanzmarkt-Richtlinie-UmsetzungsG v. 16.7.2007, BGBl. I 2007, 1330 v. 19.7.2007. 2011 wird die Pflicht zum Handeln für Wertpapierhandelsunternehmen zu einer Anzeigepflicht, dass sie nur Compliance Beauftragte einsetzen, die die maßgeblichen Anforderungen erfüllen (§ 42d Abs. 1 Ziffer 3, Abs. 2 Ziffer 3 WHG). 14 FSA/PN/004/2009 v. 8.1.2009 Entscheid gegen AON Limited unter www.fsa.gov.uk/ pages/library/communication/PR/2009. 15 FSA/PN/066/2011 v. 21.7.2011 gegen Willis Limited unter www.fsa.gov.uk/pages/ library/communication/PR/2011. FSA kommentiert die Entscheidung wie folgt: „The action we have taken against Willis Limited shows that we believe that it is vital for firms not only to put in place appropriate anti-bribery and corruption systems and controls, but also to ensure that those systems and controls are adequately implemented and monitored.“ 16 IDW PS 980, in Kraft getreten am 1.4.2011, IDW FN 04/2011; IDW PS 980 konkretisiert den Inhalt einer freiwilligen Prüfung. Es bleibt abzuwarten, ob diese noch freiwillige Prüfung im Kontext der Entsprechenserklärung (§ 161 AktG) in die gesetzliche Abschlussprüfung integriert wird. 17 Lampert in Hauschka (Fn. 12), § 9 Rz. 34.

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Darüber hinaus müssen die Mitarbeiter geschult werden, denn die Kenntnisnahme allein ist noch keine Schulung. Schulungen zu den verschiedenen Richtlinienthemen sind in regelmäßigen Abständen zu wiederholen, wobei ein 2-Jahres-Rhythmus als ausreichend erachtet wird, aber auch nicht erheblich überschritten werden sollte.18 Webbased Trainings haben, sofern sie eingekauft und nicht speziell für ein Unternehmen entwickelt wurden, zwar häufig nur einen begrenzten Lernwert, sind aber für das Unternehmen zum Nachweis, dass alle Mitarbeiter ein Training absolviert haben, sehr geeignet; ein Nachweis, der von den Überwachungsorganen Aufsichtsrat, Abschlussprüfer und Aufsichtsbehörde erkennbar als ausreichend goutiert wird. 2. Ablaufprozesse und Kontrollen Neben Bekanntmachung und Schulung gilt es, Prozesse zur Umsetzung der Vorgaben im Business zu definieren und zu implementieren.19 Als Beispiel für einen solchen Prozess ist das „name screening“ im Kontext der Geldwäscheund Terrorfinanzierungsprävention zu nennen, welches vorrangig Banken und Versicherer durchführen müssen. Derartige Identifikationsprozesse erfolgen in der Regel automatisiert mittels eines komplexen, IT basierten Prozesses. Ein weiteres Beispiel sind die ebenfalls IT gestützten Verschlüsselungen und Data Leak Prevention Prozesse zur Gewährleistung von Datensicherheit unter gleichzeitiger Wahrung der Datenschutzgesetze, und ferner das Whistleblowing Verfahren, auf das noch eingegangen wird (Ziffer VI). Derartige Prozesse sind zu kontrollieren, um sicherzustellen, dass die Mitarbeiter die ablauforientierten ebenso wie die inhaltlichen Vorgaben einhalten. Umsetzung und Kontrollen sind wiederum zu dokumentieren.20 Hier zeigt sich die Interdependenz zwischen Compliance, Risk Management und Interner Revision als sogenannten Assurance Funktionen, die oft auch als „second line of defense“ im Unternehmen bezeichnet werden. Die den genannten Funktionen obliegenden Kontrollen sind nicht identisch, gleichwohl aber Teil der Kontrollpflichten des Leitungsorgans.21

V. Code of Conduct Das Konzept, welches hinter der Steuerung22 unternehmensspezifischer Risiken steht, muss allen Mitabeitern bekannt sein. Inhalt und Zweck muss vom Lei-

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18 Lampert in Hauschka (Fn. 12), § 9 Rz. 31. 19 Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft e.V. (GDV), Compliance im Erst- und Rückversicherungsunternehmen, Leitfaden für die Praxis, 2009, S. 17 Ziff. 4.b). 20 Lampert in Hauschka (Fn. 12), § 9 Rz. 34. 21 §§ 91 Abs. 2 AktG, 289 Abs. 5 HGB, Eibelshäuser, Unternehmensüberwachung als Element der Corporate Governance, Diss. 2011, S. 91. 22 Zur Unterscheidung zwischen Compliance spezifischer Präventionsaufgaben, Risikofrüherkennungssystemen (§ 91 Abs. 2 AktG) und Risikomanagement, welches vom Prüfungsausschuss zu überwachen ist (§ 107 Abs. 3 Satz 2 AktG) unter „Prognoseorientiertes RM“ in diesem Beitrag.

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tungsorgan erklärt und publiziert werden. Dessen Bekenntnis zur Einhaltung der Gesetze, aufsichtsrechtlicher und branchenspezifischer Vorschriften wird als „tone at the top“ bezeichnet, der in einem Code of Conduct seine schriftliche Ausgestaltung findet. Die deutschen DAX-Unternehmen verfügen mehrheitlich über einen Code of Conduct, der in der Regel auch veröffentlicht ist.23 Idealerweise vermittelt der Code of Conduct die Werte und Orientierungen, die der Unternehmensführung zugrunde liegen, damit sich die Mitarbeiter daran orientieren können, sich mit dem Unternehmen und seinen Zielen identifizieren und so ihre Leistungsbereitschaft maximieren.24 Eine bloße Wiederholung ohnehin bestehender arbeitsrechtlicher, gesellschaftsrechtlicher oder sonstiger spezialgesetzlicher Pflichten ist nicht zielführend,25 ebenso wenig wie die Wiedergabe subjektiver Moralvorstellungen des Managements.26 Inhalte des Code of Conduct sollten das Bekenntnis zur Beachtung der Gesetze sein, die eigene Vorbildfunktion des Leitungsorgans und eine nachhaltige Umsetzung dieser Selbstverpflichtung neben ethischen Verpflichtungen, seien dies die Einhaltung von Umweltschutzmaßnahmen bei der Produktfertigung, den Erhalt und die Förderung der Artenvielfalt, die Absage an Kinderarbeit, die Ablehnung fragwürdiger Beschäftigungspraktiken, eine redliche, transparente Kundenorientierung oder ein soziales, humanitäres Engagement seitens des Unternehmens, z. B. in der Dritten Welt. Die Verankerung von Compliance im Unternehmen sollte explizit erwähnt sein. Ein Bekenntnis zu „diversity“, d. h. eine annähernd gleiche Besetzung der Stellen mit weiblichen und männlichen Mitarbeitern in allen Unternehmenshierarchien, einschließlich Vorstand und Aufsichtsrat, ist ein Versprechen, das die Reputation eines Unternehmens auch als Arbeitgeber zu stärken vermag.27 Für deutsche Konzerngesellschaften mit Tochtergesellschaften in den USA ist das Bekenntnis, jeglicher Diskriminierung entgegenzuwirken, unverzichtbar, da die U.S. Equal Employment Oppor-

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23 RiLi 2009/138/EG v. 25.11.2009 betreffend die Aufnahme und Ausübung der Versicherungs- und Rückversicherungstätigkeit (Solvabilität II), ABl. L 335/1 v. 17.12.2009, Art. 41 Abs. 3 RiLi Solvabilität II fordert (ab 1.1.2013) von Versicherungsunternehmen schriftliche Leitlinien zum Governance System, zu Zielen, Verantwortung und Prozessen. Durch einzelne fachspezifische Richtlinien ist dieser Forderung möglicherweise nicht Genüge getan, so dass ein CoC verpflichtend wird. 24 Breuker, ASA/SVV Schweizer Versicherungsverband, Newsletter Prävention und Gesundheitsförderung, 2011, Heft 1, S. 9. 25 Hauschka/Greeve, Compliance in der Korruptionsbekämpfung – was müssen, was können die Unternehmen tun?, BB 2007, 165, 167 fordern ein Commitment des Vorstands zu korruptionsafinen Bereichen wie Barzahlung, Spesen, Geschenke, Auftragsvergabe an Dritte, ohne allerdings das Wie und Wo für dieses Commitment zu nennen. 26 LAG Düsseldorf, NZA-RR 2006, 81 erklärte die Verhaltensrichtlinie von Wal-Mart für unwirksam, die es Mitarbeitern verbot, außerhalb der Arbeit mit einem Kollegen auszugehen oder eine Liebesbeziehung zu beginnen, wenn dies die Arbeitsbedingungen beeinflussen konnten. 27 DCGK Ziffer 5.1.2 fordert vom Aufsichtsrat explizit Diversity bei der Zusammensetzung des Vorstands und ein Bemühen um eine angemessene Berücksichtigung von Frauen. DCGK Ziffer 5.4.1 wiederholt die Forderung für die Zusammensetzung des Aufsichtsrats. Weber-Rey/Handt, Vielfalt/Diversity im Kodex – Selbstverpflichtung, Bemühenspflicht und Transparenz, NZG 2011, 1, 5.

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tunity Commission zu einer konzernweiten Durchgriffshaftung berechtigt sein kann.28 Im Code of Conduct ist stets auch anzusprechen, dass Mitarbeiter, die einen Verstoß gegen die Grundsätze des Code of Conduct, ein strafrechtlich relevantes Verhalten von Kollegen oder einen sonstigen Missstand im Unternehmen bemerken, diesen Sachverhalt melden sollen. Eine vertrauliche Behandlung derartiger Meldungen und der Schutz der meldenden Mitarbeiter, solange diese in gutem Glauben gehandelt haben, müssen zugesichert sein. Das Unternehmensinteresse, intern und frühzeitig Kenntnis von Sachverhalten zu erlangen, die ein Eingreifen erfordern, ist zu nennen. Ein Code of Conduct ist nicht zwingend. Er kann aber die Unternehmensidentität ebenso wie die Identifikation mit dem Unternehmen stärken, wenn die Leitungsorgane die formulierten Werte erkennbar bei ihren eigenen Entscheidungen berücksichtigen, beispielhaft agieren und ein entsprechendes Verhalten des Managements und der Mitarbeiter stets unterstützen und hervorheben.

VI. Frühwarnsystem 1. Ziele und Verschwiegenheitsgrundsatz „Whistleblowing“ ist in allen Sprachen ein Wort mit negativer Konnotation. Dennoch hat sich der Begriff weltweit als Synonym für ein unternehmensinternes, Compliance zugeordnetes, Frühwarnsystem durchgesetzt. Es geht um einen präventiven Prozess mit dem Ziel, dass Mitarbeiter veranlasst werden, im Unternehmen beobachtetes Fehlverhalten intern zu melden.29 Der Einwand, dass Whistleblowing nichts anderes sei als Denunziation,30 verhinderte die allgemeine Akzeptanz nicht, denn Sinn und Zweck aus der Sicht der Unternehmen ist es, Fehlverhalten und Missstände frühzeitig und vor allem intern zu erfahren. Es ist gelungen, diese Positiva zu vermitteln. Wenn zuerst die Medien oder Aufsichtbehörden über bestehende oder vermeintliche Missstände informiert werden, und das Unternehmen von dieser Seite konfrontiert wird, ergibt sich ein Zugzwang. Eigene Untersuchungen und Maßnahmen müssen dann zeitlich und inhaltlich einer öffentlichen Erwartungshaltung gerecht werden, die sich nicht immer mit den Unternehmensinteressen und einer als angemessen erachteten Lösung deckt. Ob das Whistleblowing-System

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28 Dux, Corporate Compliance – inwieweit ist eine globale Uniformität möglich am Beispiel der Prävention und Repression von sexueller Belästigung am Arbeitsplatz in USA und Deutschland, RIW 2008, 456, 457 mit Hinweis auf den zugrundeliegenden Title VII des Civil Rights Act 1964. Anti-Diskriminierungsrichtlinien sind zur Exkulpation unverzichtbar, bedürfen in der Regel aber der Zustimmung des Betriebsrats. 29 Rodewald/Unger, Kommunikation und Krisenmanagement im Gefüge der Corporate Compliance-Organisation, BB 2007, 1629, 1630 – nicht zu verwechseln mit der arbeitsrechtlich geschuldeten, wenn auch umstrittenen, allgemeinen Hinweis- und Auskunftspflicht des Arbeitnehmers gegenüber dem Arbeitgeber (§§ 666, 675 BGB, 888 Abs. 1 ZPO). 30 Rodewald/Unger (Fn. 29), BB 2007, 1630.

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intern oder extern, zentral oder dezentral installiert und gemanagt wird, hängt allein von unternehmensspezifischen Faktoren ab. Unabdingbar für ein effizientes Funktionieren ist, dass der Grundsatz der Verschwiegenheit postuliert ist und strikt eingehalten wird, was geschützte Meldewege voraussetzt. In erster Linie gilt es, die Identität des Meldenden und des Betroffenen zu schützen, weshalb auch jeder Verstoß gegen das Verschwiegenheitsgebot bei der Bearbeitung gemeldeter Sachverhalte sanktioniert werden muss. Es darf nie vergessen werden, dass jede Meldung über einen Missstand zunächst nichts ist als eine Behauptung desjenigen, der meldet. Erst entsprechende Untersuchungen und eine Verifizierung zeigen, ob die Behauptung begründet oder unbegründet ist und, ob der behauptete Sachverhalt ein Missstand ist, der Maßnahmen auslösen muss. Der Schutz der beteiligten Mitarbeiter ist deshalb nicht nur moralisch geboten, sondern eine rechtliche Verpflichtung gemäß den arbeitsrechtlichen Fürsorgepflichten, datenschutzrechtlichen Vorschriften sowie dem Diskriminierungs- und Verleumdungsverbot. Dass die Meldungen der Mitarbeiter über Missstände freiwillig und nach bestem Wissen zugunsten des Unternehmens erfolgen, erhöht die Arbeitgeberpflichten. Leider gibt es weltweit zahlreiche Beispiele, dass Unternehmen die Vorteile aus der Nutzung eines Whistleblowing-Systems in Anspruch nahmen, aber nicht bereit waren, auch die Pflichten zu tragen. Wenn Mitarbeiter die Gerichte zur Wiederherstellung ihres Leumunds bemühen mussten, waren diese Prozesse nicht nur Auslöser für Haftungsfolgen, sondern auch für einen Reputationsverlust des Unternehmens aufgrund des medialen, öffentlichen Interesses.31 Die überwiegend negativen Medienverlautbarungen führen unvermeidlich zu einem kompletten Vertrauensverlust im eigenen Haus mit der Folge, dass das interne Frühwarnsystem für längere Zeit außer Kraft gesetzt ist. Aus Sicht des Unternehmens ist ferner zu bedenken, dass Meldungen in der Mehrzahl von nicht involvierten Mitarbeitern erfolgen und die strafrechtliche Verwertbarkeit interner Meldungen von nicht tangierten Mitarbeitern gegen „Delinquenten“ zumindest fraglich, wenn nicht zu verneinen ist.32 Schwierig sind Fälle, in denen Fehlverhalten eines oder mehrerer Mitglieder des Leitungsorgans gemeldet wird. Keine Abteilung, sei es Compliance, Personal, Recht, Risk, Werkschutz oder Security und insbesondere kein einzelner Mitarbeiter ist so unabhängig, ohne weiteres Untersuchungen gegen Mitglieder des Leistungsorgans aufzunehmen. Das gilt insbesondere in Rechtsordnungen, die keinen gesetzlichen Kündigungsschutz kennen. Andererseits darf es

__________ 31 Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) v. 21.7.2011 – 28274/08 – Heinisch v. Germany, Schutz des Whistleblowers gegen Kündigung. 32 Böhm, Strafrechtliche Verwertbarkeit der Auskünfte von Arbeitnehmern bei unternehmensinternen Untersuchungen, WM 2009, 1923 weist darauf hin, dass BVerfG (WM 1981, 398) die Notwendigkeit eines Beweisverwertungsverbots bei erzwungenen Auskünften bejaht hat und dieses direkt aus der Beeinträchtigung des Persönlichkeitsrechts des Auskunft Gebenden ableitet. Der Entscheidung lag kein Whistleblowing-Fall zugrunde. Eine Parallele könnte sich aber dann ergeben, wenn der den Missstand meldende Arbeitnehmer zu Präzisierungen gedrängt wird, um ein strafrechtliches Vorgehen seitens des Arbeitgebers zu ermöglich.

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gerade in diesen Fällen kein Zögern geben, will die Unternehmensführung nicht die Grundwerte von Compliance und die Compliance Struktur insgesamt gefährden.33 2. Strukturelle Voraussetzungen und Zuständigkeiten Dieser Interessenkonflikt ist vermeidbar unter der Voraussetzung, dass das Whistleblowing-System als Ablaufprozess strukturiert ist, Zuständigkeiten ebenso wie Berichtslinien definiert und bindend sind und eine schriftliche Dokumentation für jeden einzelnen Fall gefordert ist. In der Praxis hat es sich als sinnvoll erwiesen, eine multifunktional zusammengesetzte, aber kleine Gruppe von 4–6 Personen zu bestimmen, die mit entsprechender juristischer Expertise34 für die Untersuchungen bis zur Verifizierung des Sachverhalts zuständig ist. Die Maßnahmen zur Beseitigung des Missstands einschließlich eventueller Sanktionen sollten nicht dieser Gruppe obliegen, sondern durch die Personalabteilung und den operativ Verantwortlichen innerhalb der Unternehmenshierarchie entschieden werden. Berichtspflichten und Eskalationsstufen müssen vorab bestimmt sein. Subjektivität bei der Untersuchung von gemeldetem Fehlverhalten oder Missständen ist auszuschließen, es darf keine von-Fall-zu-Fall Entscheidungen geben, will das Unternehmen nicht seine Glaubwürdigkeit und Reputation aufs Spiel setzen.35 In international tätigen Unternehmen ist eine Kalibrierung von Maßnahmen und Sanktionen aufgrund der kulturellen Unterschiede zugegebenermaßen schwierig, es muss aber erkennbar Bemühungen für eine Gleichbehandlung geben, zumindest wenn in anderen Zusammenhängen stets der „one firm“ Gedanke betont wird. In welchem Umfang eine Kommunikation über Whistleblowingfälle innerhalb des Unternehmens erfolgt, ist eine Frage der Unternehmenskultur. Es gibt Unternehmen, die die Anzahl der Whistleblowingfälle nebst einem kurzen, anonymisierten Sachverhalt sogar im Geschäftsbericht erwähnen.36 Im Übrigen gibt es viele Abstufungen in der internen Kommunikation. Nicht zielgerecht ist ein Verschweigen oder gar eine Statement, dass Whistleblowingfälle unter Verschluss bleiben. Dadurch wird das Vertrauen der Mitarbeiter, durch eine Meldung einen positiven Beitrag für das Unternehmen zu leisten, untergraben. Ein aktiv gehandhabtes Frühwarnsystem ist eine unverzichtbare Facette einer effektiven Risikoprävention.

__________ 33 Rodewald/Unger (Fn. 29), BB 2007, 1632. 34 de Wolf, Kollidierende Pflichten: zwischen Schutz von E-Mails und ‚Compliance‘ im Unternehmen, NZA 2010, 1206. 35 Rodewald/Unger (Fn. 29), BB 2007, 1632. 36 Novartis AG Geschäftsbericht 2007, S. 81, 96–98 (insbesondere S. 97); Novartis AG Geschäftsbericht 2010, S. 67, 80, 95; Volkswagen AG Geschäftsbericht 2010, S. 131.

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VII. Compliance als Teil des Governance Systems 1. Organisatorischer Status quo Es ist festzustellen, dass Compliance in jedem Unternehmen anders und sehr unternehmensindividuell institutionalisiert ist. In der Regel besteht eine Anbindung an Recht oder andere Abteilungen, selten ist Compliance als eigener Bereich direkt im Vorstand vertreten.37 Diese weitgehende Organisationsfreiheit der Leitungsorgane besteht, weil die Positionierung von Compliance im Unternehmen nicht gesetzlich bestimmt ist und es auch an verbindlichen, branchenspezifischen Regelungen fehlt.38 Für Versicherungsunternehmen wird sich die Lage in Kürze ändern. Die Richtlinie Solvabilität II verlangt die Einrichtung einer „Compliance-Funktion“ und nennt diese ausdrücklich neben der Risikomanagement-Funktion, der Internen Revisions-Funktion und der Versicherungsmathematischen Funktion, welche zusammen das aufsichtsrechtliche Governance Systems eines Versicherungsunternehmens darstellen.39 Folglich muss künftig die Compliance-Funktion eigenständig und unabhängig neben den anderen genannten Funktionen bestehen. Wenn also Compliance als Teilbereich des Risikomanagement oder der Internen Revision organisiert ist, sind für Versicherungsunternehmen organisatorische Änderungen per 1.1.2013 zwingend, andernfalls sind die Grundsätze der Corporate Governance nicht mehr gewahrt.40 Dass diese Entwicklung Folgen auch für Unternehmen anderer Branchen haben wird, ist wahrscheinlich.41 Die in Bezug auf eine Funktionstrennung schon jetzt differenzierte Sichtweise des deutschen Gesetzgebers zeigt sich darin, dass in den vergangenen Jahren mehrfach durch eine Erweiterung der Risikomanagementpflichten auf Leitungs- und Überwachungsebene sowie durch eine konzeptionell abgestimmte Risikoberichterstattung durch den Vorstand, den Aufsichtsrat und

__________ 37 Auch Daimler AG hat mit der Ernennung von Christine Hohmann-Dennhardt kein reines Compliance Ressort geschaffen. Das Vorstandsressort heißt ‚Recht und Integrität‘ und setzt die Handhabung der vergangenen Jahre fort, dass Recht und Compliance in einer Hand liegen, vgl. Juve 2011/01. Anders Volkswagen AG, die Recht und Compliance trennen, um Compliance mit Risk und Governance zusammenzuschließen, Juve 2011/02. 38 Mindestanforderungen an das Risikomanagement (MARisk) VA der Bafin v. 15.12.2010 enthält trotz jährlicher Fortschreibung keine Aussage zu Compliance, Bafin Rundschreiben 11/2010 (BA); Bürkle in Hauschka (Fn. 12), § 8 ComplianceBeauftragte, Rz. 2, 12. 39 RiLi Solvabilität II (Fn. 19), Art. 13 Nr. 9, Art. 46 Abs. 1. Ferner sind von der European Insurance and Occupational Pensions Authority (EIOPA) weitere, normative Vorgaben zu erwarten. 40 Bürkle, Vorgaben der RiLi Solvabilität II für Compliance in Versicherungsunternehmen, in Looschelders/Michael (Hrsg.), Düsseldorfer Schriften zum Versicherungsrecht, Bd. 7, 2011, S. 10. 41 Dreher, Die Vorstandsverantwortung im Geflecht von Risikomanagement, Compliance und interner Revision, in FS Hüffer, 2010, S. 169, 175.

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den Abschlussprüfer das Alleinstellungsmerkmal eines unternehmerischen Risikomanagements betont worden ist.42 2. Prognoseorientiertes Risikomanagement Es ist Aufgabe des Leitungsorgans sicherzustellen, dass die Zuständigkeiten für Risiko-Prävention, Risiko-Management und Risiko-Kontrolle abgegrenzt sind,43 unabhängig vom rein pragmatischen Aspekt, dass Doppelspurigkeiten in Unternehmen zu Kompetenz- und Managementproblemen führen und auch aus finanziellen Gründen zu vermeiden sind. Inhaltlich obliegt dem Risikomanagement demnach die Analyse, Bewertung und Information über existente und bekannte Risiken und deren künftige Entwicklung sowie über prognostizierte Risiken, die sich aus der Ausrichtung des Unternehmens ergeben mit dem Ziel eine Bestandsgefährdung zu vermeiden. Die Risikobewertung erfolgt mit Blick auf die Finanzlage des Unternehmens und die bilanziellen Auswirkungen nach betriebswirtschaftlichen Determinanten.44 Diese Aufgabendefinition ist bindend. Aufgabe der Internen Revision sind demgegenüber Kontrollen. Ebenso wie der Abschlussprüfer45 prüft die Interne Revision die Einhaltung von Vorschriften, Systeme, Prozesse und Entscheidungen zu dem Zweck, noch unbekannte Risiken benennen sowie gegebenenfalls die Bewertung bekannter Risiken korrigieren zu können. Die Aufgaben der Compliance-Funktion ergeben sich bei dieser Blickweise aus einer Negativabgrenzung, denn die dem Risikomanagement und der Revision aufgrund gesellschaftsrechtlicher Regelungen zugewiesenen Aufgaben können nicht auch Compliance obliegen. Aufgabe von Compliance ist die Risikoprävention, wie in den vorangegangenen Kapiteln dargestellt. Zur Risikoprävention gehört die Erkennung normativer Vorgaben, die Entscheidung, welche Bereiche regelungsbedürftig sind, die Implementierung von Maßnahmen einschließlich deren Überwachung und ein Früherkennungssystem. Die Compliance eigene Risikoprävention ist ein aliud gegenüber den Aufgaben von Risikomanagement und Revision.46 Bei aller notwenigen Abgrenzung und Unterscheidung der drei Governance Funktionen ist eine Zusammenarbeit von

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42 Vgl. §§ 91 Abs. 2, 100 Abs. 5, 90 Abs. 3 i. V. m. 111 Abs. 2, 107 Abs. 3 und 4 AktG, §§ 289 Abs. 1 Satz 4, 289 Abs. 5, 322 Abs. 2, 322 Abs. 6, 317 Abs. 4 HGB. 43 DCGK Ziffer 3.4 Abs. 2 indiziert ebenfalls die Erforderlichkeit einer Aufgabentrennung, indem die Berichterstattung des Vorstands an den Aufsichtsrat unter dem Aspekt ‚Risikolage‘ ausdrücklich sowohl das Risikomanagement als auch Compliance umfassen muss. Die RL Solvabilität II beinhaltet dieselbe Unterscheidung. 44 Schmalenbach-Gesellschaft, Arbeitskreis Externe und Interne Überwachung der Unternehmung (AKEIÜ), Aktuelle Herausforderungen im Risikomanagement. Innovation und Leitlinien, DB 2010, 1245, 1246. 45 IDW Prüfungsstandard 340. 46 AKEIÜ, Compliance: 10 Thesen für die Unternehmenspraxis, DB 2010, 1509; Spindler, Compliance in der multinationalen Bankengruppe, WM 2008, 905, 907; Dreher, Die Vorstandsverantwortung im Geflecht von Risikomanagement, Compliance und interner Revision, in FS Hüffer, 2010, S. 163, 174; Kort, Verhaltensstandardisierung durch Corporate Compliance, NZG 2008, 81; Preusche in Hauschka (Fn. 12), § 37 Versicherungswirtschaft, Rz. 12.

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Risikomanagement, Compliance und Revision indessen unverzichtbar.47 Die Aktivitäten müssen koordiniert werden, um die verschiedenen Risikoerkenntnisse auszutauschen, die Ergebnisse zusammenzufassen und dadurch den Unternehmensorganen fundierte, gesicherte Auswertungen liefern zu können, die nachhaltig eine Risikoberichterstattung mit einem hohen Aussagegehalt garantieren. 3. Alleinstellungsgebot Für die Positionierung von Compliance im Unternehmen verbleibt die Alternative zwischen einer eigenständigen Funktion oder einer Kombination mit der Rechtsabteilung.48 Compliance sollte in jedem Fall dem Leitungsorgan, d. h. dem Gesamtvorstand unterstellt sein,49 zumindest aber dem Vorstandsvorsitzenden und nicht einem Bereichsvorstand oder dem Prüfungsausschuss, bei welchem ein Interessenkonflikt nicht auszuschließen ist.50 Innerhalb der hierarchischen Struktur im Unternehmen muss sichergestellt sein, dass Compliance eigenverantwortlich und unabhängig mit anderen Unternehmensbereichen interagieren kann, d. h. sowohl Leistungen wie auch Offenlegung von anderen Unternehmensbereichen fordern darf. Allein auf dieser Basis kann Compliance seine Pflichten gegenüber dem Leitungsorgan erfüllen. Die Beauftragung Externer mit Complianceaufgaben hat sich in der Praxis nicht bewährt51 und könnte künftig als Verstoß gegen Governance Regeln zu werten sein.

VIII. Künftige Risikoexposition 1. Extraterritoriale Rechtswirkung Risikoprävention erfordert den Blick in die Zukunft. Für Compliance geht es weniger um die Eintrittswahrscheinlichkeit und die finanzielle Bewertung von Worst-Case-Szenarien. Diese Risk Assessments obliegen in der Regel dem Risikomanagement im Unternehmen. Es geht vielmehr um die künftigen Auswirkungen von legislativen Entwicklungen, gegenwärtigen und sich abzeichnenden. Derzeit bergen ausländische Rechtsetzungen mit extraterritorialer Wirkung ein hohes Risikopotential für die Unternehmen. Primär sind USamerikanische Rechtsetzungsakte zu nennen. Eine umfassende Darstellung kann im Rahmen dieses Beitrags nicht erfolgen, beispielhaft werden an dieser Stelle die Folgen des Alien Tort Claims Act (ATCA), Aussenwirtschaftsrestrik-

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47 Bürkle in Hauschka (Fn. 12), § 8 Compliance-Beauftragte, Rz. 52, 54. 48 Bürkle in Hauschka (Fn. 12), § 8 Rz. 36; Bürkle (Fn. 40), Vorgaben der RiLi Solvency II, S. 11. 49 Lampert in Hauschka (Fn. 12), § 9 Rz. 14; Bürkle in Hauschka (Fn. 12), § 8 Rz. 31. 50 Eibelshäuser (Fn. 10), Der Konzern 2007, 735, 742; Preußner, Risikomanagement und Compliance in der aktienrechtlichen Verantwortung des Aufsichtsrats unter Berücksichtigung des Gesetzes zur Modernisierung des Bilanzrechts, NZG 2008, 574, 575. 51 Kort, Verhaltensstandardisierung durch Corporate Compliance, NZG 2008, 81, 85 mit Hinweisen auf Siemens AG, Deutsche Bahn AG.

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tionen/Sanctions und des Foreign Account Tax Compliance Act (FATCA) angesprochen. Der Alien Tort Claims Act (ATCA), ein Gesetz aus dem Jahr 1789, eröffnet US-amerikanischen Bundesgerichten die Zuständigkeit, über geltend gemachte Menschenrechtsverstöße durch ausländische Kläger gegen private, US oder ausländische, aber multinational tätige Wirtschaftsunternehmen zu urteilen. Einerseits mehren sich die Entscheidungen in jüngster Vergangenheit, andererseits lässt der U.S. Supreme Court derzeit im Rahmen des „Kiobel“-Falles die Frage klären, ob es U.S.-Gerichte überhaupt unter dem Alien Tort Statute erlaubt sein soll, solche non-US-Klagen anzunehmen.52 Außenwirtschaftsrestriktionen richten sich gegen natürliche und juristische Personen und beschränken den Handel mit Schlüsselprodukten zum Schutz nationaler ebenso wie weltweit anerkannter Handelsinteressen. Sie sind grundsätzlich nationales Recht. Die US-amerikanischen Außenwirtschaftsrestriktionen (Sanctions) des Office of Foreign Asset Control (OFAC), einer Abteilung des U.S. Treasury Departments, gelten für „US-persons“,53 umfassen neben den verbotenen Erzeugnissen auch Transaktion in US$-Währung unabhängig vom Vertragsort und sog. Facilitation, d. h. jede Unterstützung eines sanktionierten Geschäfts durch Darlehensgewährung, Versicherungsschutz54 und ähnliche Leistungen. Die Rechtslage ist unübersichtlich, da neben dem Office of Foreign Asset Control (OFAC) auch das Bureau of Industry and Security (BIS), das Directorate of Defense Trade Controls (DDTC), welches dem State Department untersteht, und andere U.S. Agencies als Ermittler tätig sind und den US amerikanischen Restriktionen zuwider handelnde Unternehmen mit Bußgeldern belegen, deren Höhe in der Regel durch einen Vergleich bestimmt wird.55 Die Anzahl der Fälle ebenso wie die Höhe der Bußgelder sind steigend. Der Foreign Account Tax Compliance Act (FATCA), ein abgestuft ab 1.1.2013 in Kraft tretendes US-Steuergesetz zur Verhinderung von Steuerflucht, fordert weltweit von allen Foreign Financial Institutions (FFI) eine Identifikationsund Meldepflicht bezüglich deren US-Kunden gegenüber der US Steuerbehörde Internal Revenue Service (IRS) neben dem Rückbehalt des auf die jeweiligen Kapitalerträge entfallenden US-Steueranteils. Die Verpflichtung aller ausländischen Banken, Lebensversicherer und anderer unter die Definition fallenden FFI, soll durch einen bilateralen Vertrag zwischen IRS und dem FFI begründet

__________ 52 2010-Kiobel v. Royal Dutch Petroleum, 2011-Doe v. Exxon Mobil Corp., 2011-Flomo v. Firestone Natural Rubber Co. 53 US-Personen sind US-Staatsangehörige, Personen mit doppelter Staatsangehörigkeit darunter US, Personen mit ständigem Aufenthaltsrecht in den USA unabhängig von deren Wohn- oder Aufenthaltsort, US-Unternehmen und deren Niederlassungen und Tochtergesellschaften im Ausland, Ausländer, solange sie sich in den USA aufhalten. 54 Art. 26 der Verordnung (EU) Nr. 961/2010 v. 25.10.2010, ABl. L 281/13 v. 27.10.2010 bzgl. Iran. 55 2006-ABN Amro Bank N.V. ($ 80 Mio), 2009-Credit Swiss AG ($ 536 Mio), 2009Lloyds TSB Bank ($ 217 Mio), 2010-RSB Royal Bank of Scotland nach der Akquisition von ABN ($ 500 Mio), 2010-Barclays Bank PLC ($ 176 Mio), 2011-JP Morgan Chase ($ 88 Mio).

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werden. Kommt ein Vertrag mit einem FFI nicht zustande, wird auf dessen in den USA erzielte finanzielle Zuflüsse eine 30 %ige US-Steuer erhoben. Das Konstrukt zur Umsetzung von FATCA, nämlich ein Vertrag zwischen IRS und einem FFI, stößt in mehrfacher Hinsicht auf rechtliche, insbesondere datenschutzrechtliche Vorbehalte. Positiv ist deshalb ein von der Europäischen Kommission begleiteter government-to-government Ansatz, der in einigen, wenigen europäischen Ländern die FFI entlasten und einen Informations- und Datenaustausch ausschließlich auf der Basis bilateraler Vereinbarungen zwischen Steuerbehörden zulassen wird.56 2. Völkerrechtliche Grundsätze Das kontinentaleuropäische Rechtsempfinden ist bei dieser Art extraterritorialer Rechtsetzung gestört. Völkerrechtliche Grundsätze sind nicht eingehalten,57 sowohl mit Blick auf die Rechtsetzung als auch auf die Rechtsdurchsetzung. Dessen ungeachtet sind die betroffenen Unternehmen in hohem Maß exponiert, wegen Verstößen in Anspruch genommen zu werden mit belastenden finanziellen Folgen, die in gleichem Maß bestehen, wenn eine gerichtliche Auseinandersetzung angestrebt wird. Compliance ist gefordert, die extraterritoriale Rechtsetzung zu (er-)kennen, die Auswirkungen aufzuzeigen und präventiv alle erforderlichen Massnahmen zur Verhinderung von Verstößen umzusetzen, wobei das Leitungsorgan sich seiner Gesamtverantwortung nicht entziehen kann. Die Entscheidung z. B. über den Abschluss eines Vertrags mit der US-Steuerbehörde in Sachen FATCA muss das Leitungsorgan treffen.

IX. Schlussbemerkung Die Aufgaben von Compliance, ebenso wie die der anderen Governance-Funktionen, lassen sich bestens in ein Umfeld einfügen, in dem der einzelne Mitarbeiter seine Tätigkeit in den Grenzen einer Arbeitsplatzbeschreibung ausübt und seine Verantwortung allein gegenüber dem direkten Vorgesetzten besteht. In einem derart vordefinierten Rahmen sind Berichtspflichten und Kontrollen überschaubar. Werden dagegen Mitarbeiter bei der Erfüllung ihrer Aufgaben am Grundsatz der Eigenverantwortlichkeit gemessen, ist das erzielte Ergebnis der für die Mitarbeiterbeurteilung bestimmende Faktor. Die Verpflichtung, sich alle erforderlichen Kenntnisse zur Erfüllung der gestellten Aufgaben zu verschaffen, liegt auf der Seite des Mitarbeiters. Dieser in Deutschland verbreitete und motivierende Ansatz führt aber auf Seiten des Unternehmens zu einem

__________ 56 Die USA haben dieser Regelung zugestimmt. Die gemeinsame Erklärung vom 8.2.2012 gilt für Deutschland, Frankreich, Vereinigtes Königreich, Italien sowie Spanien und sieht einen reziproken Austausch von Steuerdaten mit den USA vor. Entsprechende Gesetze auf nationaler Ebene stehen noch aus. 57 Das Territorialitätsprinzip bejaht allenfalls den Einfluss der Konzerngesellschaft auf ausländische Tochtergesellschaften. Das Personalitätsprinzip erlaubt Regelungen nur gegen eigene Staatsangehörige im Ausland, das Universalitätsprinzip lässt die Regelung extraterritorialer Sachverhalte nur in Fällen eines universalen Interesses zu.

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Nachweisproblem, da die Eigeninitiative nur am guten Arbeitsergebnis ablesbar und dieses per se ebenso wenig wie unternehmerische Prosperität gegenwärtig ausreichend ist, um interne und externe Stakeholder sowie Shareholder zu überzeugen. Compliance fördert ebenso wie die anderen Governance Funktionen ein kontrolllastiges Arbeitsumfeld, in dem administrative Belastungen in Form von Berichtspflichten und Dokumentationen ständig zunehmen. Kritik an diesem Zustand ist gleichwohl unangebracht, da die internationalen Entwicklungen im Hinblick auf die Risikoexposition für die Richtigkeit immer weitergehender Absicherung sprechen.

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Eberhard Stilz

Freigabeverfahren und Beschlussmängelrecht Zur Evaluation des Freigabeverfahrens nach dem ARUG und zur Weiterentwicklung des Beschlussmängelrechts

Inhaltsübersicht I. Einleitung II. Das neue Freigabeverfahren in der Praxis 1. Die Neuregelung 2. Statistik der Freigabeverfahren nach dem ARUG a) Klagerücknahme und Erledigung des Freigabeverfahrens b) Befasste Gerichte und Einhaltung der Entscheidungsfrist c) Erfolg der Anträge d) Gründe des Erfolgs oder Misserfolgs 3. Entschiedene Rechtsfragen a) Bedeutung einer späten Antragstellung b) Berücksichtigung des Sachvortrags von Antragsgegnern mit geringem Aktienbesitz c) Zusammenrechnung von Anteilen und Bezugspunkt des anteiligen Betrags d) Nachweiserfordernis bei unstreitigem Aktienbesitz

e) Wann wiegt ein Rechtsverstoß besonders schwer? f) Analoge Anwendung für die GmbH? 4. Zwischenbefund III. Gibt es überzeugendere Regelungsmodelle? 1. Einleitung 2. Der Vorschlag von Hirte a) Problemanalyse b) Freigabe zur Eintragung c) Anordnung der Bestandskraft 3. Bewertung des Vorschlags a) Bestandskraft versus Nichtigkeit b) Diversifizierung der Mangelfolgen IV. Ergebnis 1. Gegen die Zerfaserung des Beschlussmängelrechts 2. Schonender Umgang mit der knappen Ressource Justiz

I. Einleitung Als der Jubilar vor über 20 Jahren dazu aufforderte, zuerst „das System der Beschlusskontrolle für den Bereich der Strukturbeschlüsse von Grund auf neu zu durchdenken“ und sodann „das System der Gesellschafterklagen ganz allgemein“,1 mochte er schon ahnen, dass es damit nicht rasch vorangehen würde. Wichtige Anregungen dafür hatte er der Diskussion indessen auf den Weg gegeben, insbesondere den Hinweis, die Gerichte sollten aus dem Apfel die faule Stelle herausschneiden können, ohne ihn gleich wegwerfen zu müssen; es solle also auch ein Beschlussmangel nur festgestellt werden können, ohne den Be-

__________

1 Hommelhoff, ZGR 1990, 447, 450 f.

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schluss deshalb gleich für nichtig zu erklären.2 Hommelhoff hat es dabei nicht belassen, sondern zugleich die Idee einer Vorbehalts-Registrierung auf Beschluss des Prozessgerichts weiter untersucht und ausgeformt.3 Der Idee der Vorbehaltseintragung war eine rasante Entwicklung beschieden, vom Unbedenklichkeitsverfahren über das Freigabeverfahren bis hin zum Bestandskraftverfahren des ARUG4.5 Der Aufforderung, das System der Gesellschafterklagen insgesamt neu zu durchdenken, haben sich zusammenhängend im Jahr 2000 die Abteilung Wirtschaftsrecht des 63. DJT6 und später der Arbeitskreis Beschlussmängelrecht7 angenommen.8 Der Rechtsausschuss des Deutschen Bundestags hat das Bundesministerium der Justiz aufgefordert, bis Ende 2011 eine rechtstatsächliche Untersuchung darüber durchzuführen, ob die Verfahrensbehandlung bei den Oberlandesgerichten zu einer Verbesserung oder Verschlechterung geführt hat.9 Es ist zu hoffen, dass diese Untersuchung dazu beitragen wird, das Freigabeverfahren und mit ihm das aktienrechtliche Beschlussmängelrecht insgesamt auf den Prüfstand zu stellen. Die Partei, welcher die derzeitige Bundesministerin der Justiz angehört, hatte jedenfalls das Gesetzgebungsverfahren zum ARUG mit der Forderung begleitet, es sei zu prüfen, „ob nicht eine grundlegendere Reform des aktienrechtlichen Beschlussmängelrechts eine zukunftsweisendere und zukunftstauglichere Reform beinhaltet“.10 Die Forderung nach einer Grundsatzreform hat der 67. DJT (2008) in seinen Beschlüssen mit großer Mehrheit bekräftigt.11 Auch Hirte ist der Auffassung, das ARUG könne nur ein

__________ 2 Hommelhoff, ZGR 1990, 447, 457 f. 3 Hommelhoff, ZGR 1990, 447, 461 ff. im Anschluss an Hirte, BB 1988, 1469 und Kiem, Vollzug der Verschmelzung trotz anhängiger Anfechtungsklage?, 1990, passim; vgl. auch Hommelhoff, ZGR 1993, 452, 468 ff. 4 Gesetz zur Umsetzung der Aktionärsrechterichtlinie v. 30.7.2009, BGBl. I 2009, 2479; vgl. dazu z. B. Seibert, ZIP 2008, 906; Drinhausen/Keinath, BB 2009, 64; Seibert/ Florstedt, ZIP 2008, 2145; Koch/Wackerbeck, ZIP 2009, 1603; Kläsener/Wasse, AG 2010, 202; Nikoleyczik/Butenschön, NZG 2010, 218; Saß/Ogorek, NZG 2010, 337; Lorenz/Pospiech, BB 2010, 2515. 5 Vgl. Habersack/Stilz, ZGR 2010, 710, 715 ff. 6 Vgl. nur Baums, Gutachten F, in Verhandlungen des 63. DJT, Band I: Gutachten, 2000, S. F 169 ff.; K. Schmidt, ebd., Band II/1, S. O 11 ff.; Marsch-Barner, ebd., Band II/1, S. O 55 ff. 7 AK Beschlussmängelrecht, AG 2008, 617 ff. 8 Weitere verdienstvolle Untersuchungen befassen sich vorrangig mit dem Freigabeverfahren, vgl. nur Baums/Drinhausen, ILF, Working Papers Series No. 10, 10/2007 und Hirte in FS Meilicke, 2010, S. 201. 9 Begründung des Rechtsausschusses zu Nr. 39, BT-Drucks.16/13098, S. 41. 10 Beschluss des Bundesfachausschusses Innen und Recht der FDP v. 14.11.2008; ähnlich Seibert/Florstedt, ZIP 2008, 2145, 2151 f.; Seibert in FS Uwe H. Schneider, 2011, S. 1211, 1226. 11 Verhandlungen des 67. DJT (2008), Abteilung Wirtschaftsrecht, Band II/1, N Ziff. 73 ff., Beschlüsse Nr. 1, 2 und 14 ff.; in diese Richtung z. B. auch Hüffer, 9. Aufl. 2010, § 246a AktG Rz. 2 f.; Hüffer in MünchKomm. AktG, 3. Aufl. 2011, § 246a AktG Rz. 27, 29; Würthwein in Spindler/Stilz, 2. Aufl. 2010, § 241 AktG Rz. 17 ff.; Förster, AG 2011, 362, 372 f.

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Freigabeverfahren und Beschlussmängelrecht

Zwischenschritt sein; er legt ausdifferenzierte Anregungen für eine erneute Reform des Freigabeverfahrens vor.12 Der Beitrag möchte die Diskussion um eine solche weitergreifende Reform fortführen (III), zuvor aber den aktuellen13 Stand der Umsetzung des ARUG in der Rechtsprechung zusammenfassen (II).

II. Das neue Freigabeverfahren in der Praxis 1. Die Neuregelung Der Gesetzgeber hat es mit dem ARUG bekanntlich geschafft, die bis dahin unnötig verschiedenartig ausgestalteten Freigabeverfahren im Aktien- und im Umwandlungsrecht zu vereinheitlichen. Zudem ordnet er nunmehr die Freigabe an, wenn der Kläger nicht binnen Wochenfrist urkundlich eine Beteiligung im Nennwert von 1.000 Euro nachweist. Beides hat weitreichende Praxisfolgen. Für die gerichtliche Praxis von noch größerer, unmittelbar Bedeutung war aber die Schaffung der Eingangszuständigkeit des Oberlandesgerichts. Die Wende von der noch im Regierungsentwurf vorgesehenen abschließenden Zuständigkeit des Landgerichts für das neue Freigabeverfahren hin zum Oberlandesgericht ist dem Rechtsausschuss des Deutschen Bundestags zu verdanken;14 sie soll nun evaluiert werden.15 2. Statistik der Freigabeverfahren nach dem ARUG Die bisher bekannt gewordenen Freigabeverfahren geben Grund zu einem positiven Befund: a) Klagerücknahme und Erledigung des Freigabeverfahrens Bezeichnend ist, dass die erste Entscheidung unter Geltung des ARUG eine reine Kostenentscheidung war. Der am Tag nach Inkrafttreten des ARUG, also am 2.9.2009, bei dem OLG Stuttgart eingegangene Freigabeantrag wurde sofort zugestellt mit der Aufforderung, binnen der Wochenfrist von § 246a Abs. 2 Nr. 2 AktG den nun notwendigen urkundlichen Nachweis des Aktienbesitzes „von mindestens 1.000 Euro“ zu erbringen. In der Folge wurden alle Beschlussmängelklagen zurück genommen und das Freigabeverfahren übereinstimmend für erledigt erklärt. Das OLG Stuttgart hatte am 19.10.200916 nur noch über die Kosten zu entscheiden. Es konnte aber gleichzeitig klarstellen, dass sich

__________ 12 Hirte in FS Meilicke, 2010, S. 201 ff., zum Reformbedarf explizit S. 202 ff. 13 Redaktionsschluss 31.10.2011. 14 Zum Gesetzgebungsverfahren im Einzelnen Seibert in FS Uwe H. Schneider, 2011, S. 1211 ff. 15 Vgl. Begründung des Rechtsausschusses zu Nr. 39, BT-Drucks.16/13098, S. 41. 16 OLG Stuttgart, AG 2010, 89 = NZG 2010, 27.

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das Quorum auf das Grundkapital bezieht und verfassungsrechtlich unbedenklich ist.17 b) Befasste Gerichte und Einhaltung der Entscheidungsfrist Über Freigabeanträge hatten aus der Zahl der 24 deutschen Oberlandesgerichte, soweit ersichtlich, bisher lediglich acht Gerichte Entscheidungen zu erlassen, nämlich die Oberlandesgerichte Frankfurt, Hamburg, Hamm, München, Nürnberg, Saarbrücken und Stuttgart sowie das Kammergericht. Wie bisher das Landgericht soll nun auch das Oberlandesgericht binnen drei Monaten entscheiden, § 246a Abs. 3 Satz 6 AktG. In den mir zugänglichen 18 entschiedenen Fällen wurde, soweit aufgrund veröffentlichter Daten nachvollziehbar,18 die Frist dreimal nicht eingehalten. In zwei Fällen handelte es sich um eine Überschreitung um wenige Tage,19 in einem anderen Fall um etwa zwei Monate.20 Da diese Fristüberschreitungen wesentlich mit der Übergangsphase zusammenhängen, kann man aus solchen Zahlen kein Versagen der Neuregelung ableiten. c) Erfolg der Anträge In der Sache hatten die Freigabeanträge ganz überwiegend Erfolg. Lediglich in drei Fällen wurde der Antrag zurückgewiesen.21 Zu den erfolgreichen Anträgen zähle ich dabei allerdings auch die Entscheidungen, in welchen der Antrag teilweise zurückgewiesen wurde.22 Im Fall des OLG Frankfurt hatte sich der Antrag auch auf Beschlüsse bezogen, die gar nicht angefochten waren; die Anfechtungskläger hatten diese Beschlüsse in ihren Anträgen nicht erfasst, sondern nur in der Klagebegründung die Auffassung vertreten, auch diese Beschlüsse seien nichtig. In beiden Fällen wurde der Freigabeantrag zudem auch gegen Kläger gerichtet, die nicht den freizugebenden Beschluss angefochten hatten, deren Klagen sich vielmehr gegen andere Beschlüsse richteten. Die Unzulässigkeit des Freigabeantrags war in beiden Fällen offensichtlich, so dass davon auszugehen ist, dass sich solche Anträge nicht wiederholen. d) Gründe des Erfolgs oder Misserfolgs Interessant sind die Gründe für den Erfolg oder Misserfolg der Anträge. Sieht man von Hilfsbegründungen ab, hatten die Anträge in drei Fällen Erfolg, weil

__________ 17 Verfassungswidrigkeit nimmt allerdings Schwab in K. Schmidt/Lutter, 2. Aufl. 2010, § 246a AktG Rz. 7 f., an. 18 Den Beschlüssen des OLG Hamm v. 16.5.2011, AG 2011, 624, und v. 6.6.2011, NZG 2011, 1031, lässt sich die Fristwahrung nicht eindeutig, aber mit einiger Wahrscheinlichkeit entnehmen. 19 OLG Hamburg, AG 2010, 215; KG, AG 2010, 497. 20 OLG Frankfurt, AG 2010, 596. 21 OLG München, AG 2010, 170; KG, AG 2010, 494; OLG München, AG 2010, 842. 22 OLG Hamburg, AG 2010, 215; OLG Frankfurt, AG 2010, 596.

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die Klagen für offensichtlich unbegründet gehalten wurden,23 und in acht Fällen, weil das Quorum nicht erreicht wurde;24 in vier Fällen war die Interessenabwägung maßgebend.25 Abgelehnt wurde die Freigabe in zwei Fällen wegen besonders schwerer Rechtsverstöße26 und in einem Fall wegen verspäteter Antragstellung.27 3. Entschiedene Rechtsfragen In kurzer Zeit hat die gerichtliche Praxis in diesen Verfahren bereits eine Reihe von Fragen, die die Neufassung aufwirft, identifiziert und überwiegend geklärt. a) Bedeutung einer späten Antragstellung Das OLG München hat in seiner Entscheidung vom 4.11.2009 („Naturkost“)28 eine Freigabe daran scheitern lassen, dass der Freigabeantrag zu spät gestellt worden sei. In jenem Fall hatte die Hauptversammlung am 2. März stattgefunden, die erste Anfechtungsklage wurde am 15. April erhoben und der Freigabeantrag ging am 1.9.2009, also mit Inkrafttreten des ARUG, beim Oberlandesgericht ein. Das OLG München ist der Auffassung, bei einem Antragsteller, der sich mehr als drei Monate Zeit lasse, könne nicht von einem Interesse an einer alsbaldigen Eintragung ausgegangen werden. Damit stellt es praeter legem eine materiellrechtliche Antragsfrist auf. Dem sind das KG29 und das OLG Frankfurt30 mit zutreffenden Gründen entgegengetreten.31 b) Berücksichtigung des Sachvortrags von Antragsgegnern mit geringem Aktienbesitz Die eben zitierte Entscheidung des OLG München32 neigt in einem obiter dictum der Berücksichtigung auch von Sachvortrag der am Freigabeverfahren nicht beteiligten Kläger zu, selbst wenn diese das Beteiligungsquorum nicht erfüllen. Sie befasst sich zur Begründung sehr eingehend mit dem Streitgegen-

__________ 23 KG, AG 2010, 166; OLG München, AG 2010, 715; OLG Hamm, AG 2011, 136. 24 OLG Hamburg, AG 2010, 214 und 215; OLG Frankfurt, AG 2010, 596; OLG Frankfurt, AG 2010, 508 (teilweise); OLG Nürnberg, ZIP 2010, 2498; KG, ZIP 2011, 172; OLG Hamm, NZG 2011, 1031; vgl. auch den Fall des OLG Stuttgart, AG 2010, 89 = NZG 2010, 27. 25 KG, AG 2010, 497; OLG Frankfurt, AG 2010, 508 (teilweise); OLG Saarbrücken, AG 2011, 343; OLG Hamm, AG 2011, 624. 26 KG, AG 2010, 494; OLG München, AG 2010, 842. 27 OLG München, AG 2010, 170. 28 OLG München, AG 2010, 170; vgl. Kläsener/Wasse, AG 2010, 202. 29 KG, AG 2010, 497. 30 OLG Frankfurt, AG 2010, 508 = NZG 2010, 824, juris Rz. 41. 31 Hirte in FS Meilicke, 2010, S. 201, 211 stimmt allerdings dem OLG München, AG 2010, 170, zu. 32 OLG München, AG 2010, 170.

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stand der Anfechtungsklage. Der BGH gehe für Beschlussmängelklagen von einem eingliedrigen Streitgegenstandsbegriff aus, so dass der Streitgegenstand alle einem HV-Beschluss anhaftende Mängel erfasse. Das spreche dafür, auch im Freigabeverfahren den angegriffenen Beschluss der Hauptversammlung umfassend zu prüfen. Diese Prämisse dürfte indessen nicht zutreffen. Das OLG München folgt hier einem Urteil des BGH vom 22.7.2002.33 Der BGH hatte sich damals überraschend dem von Zöllner34 gegen die ganz herrschende Meinung in Rechtsprechung und Literatur vertretenen Streitgegenstandsbegriff für die Anfechtungsklage angeschlossen.35 Von diesem dogmatisch wenig durchdachten Fehltritt ist der BGH aber rasch und in mehreren Entscheidungen wieder abgerückt.36 Was im Freigabeverfahren zu berücksichtigen ist, wird vom Streitgegenstand der relevanten Hauptsacheverfahren begrenzt. Es kommt also auf diejenigen Anfechtungsgründe an, welche von den Klägern vorgebracht wurden, die den Mindestanteilsbesitz nachgewiesen haben.37 Zu beachten ist allerdings, dass die Anfechtungsgründe auch nach den heute gängigen, sehr ambivalenten Formeln zum Streitgegenstand nicht leicht abzugrenzen sind.38 c) Zusammenrechnung von Anteilen und Bezugspunkt des anteiligen Betrags Das OLG Hamburg39 und das OLG Frankfurt40 haben zutreffend entschieden, dass die Anteile auch notwendiger Streitgenossen zur Erreichung des Quorums nicht zusammengerechnet werden können. Das ist ebenso eindeutig41 wie von der Entscheidung des OLG Stuttgart42 an klar war, dass sich der in § 246a Abs. 2 AktG genannte Betrag auf den Nennbetrag bzw. bei Stückaktien auf den auf sie entfallenden Anteil am Grundkapital bezieht.

__________ 33 BGHZ 152, 1. 34 Zöllner in KölnKomm. AktG, 1. Aufl., § 246 AktG Rz. 47 ff.; ebenso Zöllner in Baumbach/Hueck, 19. Aufl. 2010, Anh. § 47 GmbHG Rz. 156 f., 166 f. 35 Vgl. hierzu Bork, NZG 2002, 1094; Bub, AG 2002, 679; Wagner, DStR 2003, 468; v. Falkenhausen/Kocher, ZIP 2003, 426. 36 S. z. B. BGH, AG 2005, 395; AG 2005, 613; AG 2009, 285; AG 2010, 748; vgl. Stilz in Liber amicorum Martin Winter, 2011, S. 671, 673 f. 37 Hüffer, 9. Aufl. 2010, § 246a AktG Rz. 20; Göz in Bürgers/Körber, 2. Aufl. 2011, § 246a AktG Rz. 4. 38 Dazu im Einzelnen Stilz in Liber amicorum Martin Winter, 2011, S. 671, 680 ff. 39 OLG Hamburg, AG 2010, 515, juris Rz. 8. 40 OLG Frankfurt, AG 2010, 508 und AG 2010, 596. 41 Hüffer, 9. Aufl. 2010, § 246a AktG Rz. 20; Drinhausen/Keinath, BB 2008, 2078, 2081; Kläsener/Wasse, AG 2010, 202, 203; a. A. Heidel, Aktienrecht, 3. Aufl. 2011, § 246a AktG Rz. 17i. 42 OLG Stuttgart, AG 2010, 89 = NZG 2010, 27.

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d) Nachweiserfordernis bei unstreitigem Aktienbesitz In dieser Frage stehen sich die Auffassungen des OLG Frankfurt43 und des OLG Nürnberg44 auf der einen Seite sowie die des KG45 und des OLG Hamm46 auf der anderen Seite gegenüber. Die erstgenannten Gerichte halten den urkundlichen Nachweis des hinreichenden Aktienbesitzes für entbehrlich, wenn dieser Umstand unstreitig ist. Das OLG Frankfurt hält eine solche Auslegung sogar verfassungsrechtlich für geboten. Dem haben sich das KG und zuletzt das OLG Hamm entgegengestellt; sie verlangen den Nachweis auch bei Unstreitigkeit und selbst dann, wenn es sich um vinkulierte Namensaktien handelt; im Fall des OLG Hamm waren die beiden Parteien sogar wohl die einzigen Aktionäre der Gesellschaft. Konsequent lässt es das OLG Hamm auch nicht ausreichen, wenn der Antragsteller selbst den hinreichenden Aktienbesitz im Freigabeantrag vorgetragen hat.47 Für die Frage, ob der Aktienbesitz unstreitig ist, stellt das OLG Nürnberg48 auf den Sach- und Streitstand im Freigabeverfahren ab. Was im Anfechtungsprozess unstreitig ist, sei ohne Belang, weil es sich um selbständige Verfahren vor unterschiedlichen Gerichten handele.49 Dies ist nach der Konstruktion des geltenden Rechts folgerichtig.50 Aber auch bei der Frage der Nachweisnotwendigkeit kann man über die eindeutige Fassung der neuen Bestimmungen nicht hinweg gehen. Das Fehlen eines fristgerechten urkundlichen Nachweises ist als formaler Freigabegrund ausgestaltet, mit der Frage der Beweisbedürftigkeit (Unstreitigkeit) hat das nichts zu tun. Das ist für die Antragsgegner auch nicht unbillig, weil sich jeder, der Anfechtungsklage einreicht, darauf einrichten kann. e) Wann wiegt ein Rechtsverstoß besonders schwer? Die Antwort darauf ist jedenfalls nicht besonders einfach. Einstweilen orientieren sich die Gerichte vor allem an der Gesetzesbegründung, die als Beispiel die Geheimversammlung, den absichtlichen Rechtsverstoß und die fehlende Beurkundung aufzählt. Allerdings knüpft der Gesetzeswortlaut nicht an ein subjektives Moment an, auf missbräuchliche Beschlüsse lässt sich der Anwendungsbereich deshalb nicht beschränken. Demgegenüber hielte ich die gelegentlich verwendete Gleichsetzung mit „gravierenden“ Verstößen für unzulänglich; das würde dem schweren Rechtsverstoß entsprechen, das Gesetz verlangt aber eine besondere Schwere. Treffend hat der Rechtsausschuss dies damit

__________ 43 44 45 46 47

OLG Frankfurt, AG 2010, 508, juris Rz. 34. OLG Nürnberg, ZIP 2010, 2498. KG, ZIP 2011, 172. OLG Hamm, NZG 2011, 1031 = GWR 2011, 418 (Lieder). Zustimmend auch insoweit Lieder, GWR 2011, 418; vgl. auch Reichard, NZG 2011, 292; Wilsing/Saß, DB 2011, 919, 923; Göz in Bürgers/Körber, 2. Aufl. 2011, § 246a AktG Rz. 4. 48 OLG Nürnberg, ZIP 2010, 2498. 49 Insoweit zustimmend Reichard, NZG 2011, 292, 293 f. 50 Vgl. auch Englisch in Hölters, 2011, § 246a AktG Rz. 28.

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umschrieben, dass die Eintragung aufgrund des Rechtsfehlers für die Rechtsordnung „unerträglich“ sein müsse; es muss um die Verletzung elementarer Aktionärsrechte gehen.51 Nach der Neufassung gilt erst recht, dass dies nicht in jedem Fall schon aus dem Vorliegen eines Nichtigkeitsgrundes folgt.52 Eine gute Illustration für unerträgliche Mängel in diesem Sinne sind die beiden Fälle, in denen die Freigabe wegen besonders schwerer Verstöße verweigert wurde. Im Fall des KG53 hatte der Beschluss ein eigenkapitalersetzendes, nicht werthaltiges Darlehen zum Gegenstand einer wahlweisen Sacheinlage gemacht. Im Fall des OLG München54 wurde der Mehrheitsaktionär unberechtigt ausgeschlossen und sodann eine Kapitalerhöhung beschlossen. f) Analoge Anwendung für die GmbH? Eine GmbH hatte beim KG einen Antrag entsprechend § 246a AktG gestellt, nachdem ein Beschluss über die Stammeinlagen einer Gesellschaft angefochten und die Eintragung in das Handelsregister deshalb abgelehnt worden war. Das KG hat den Antrag als unzulässig zurückgewiesen, weil eine analoge Anwendung von § 246a AktG auf Beschlüsse einer GmbH nicht in Betracht komme.55 Die Analogiefähigkeit wird dagegen von starken Stimmen in der Literatur jedenfalls im Grundsatz bejaht.56 Dafür spricht zwar, dass Rechtsprechung und Lehre schon vielfach an das Aktienrecht angelehnte Lösungen für die GmbH entwickelt haben. Ob das aber auch für die folgenschwere Einführung dieses ohnedies nicht friktionsfrei auf die GmbH übertragbaren Rechtsbehelfs gelten kann, ist mindestens zweifelhaft.57 Dies gilt erst recht vor dem Hintergrund der schwerwiegenden Bedenken, die gegen das heute geltende exzessive Freigaberecht schon für die AG geäußert werden.58 4. Zwischenbefund Schon diese kursorische Untersuchung zeigt, dass das ARUG die Freigabeverfahren deutlich beschleunigt hat. Die Verfahrensdauer dürfte sich in fast allen Fällen mindestens halbiert haben; die Fristvorgabe des Gesetzgebers ist nicht illusorisch. Dem entspricht ein geringerer Gesamtaufwand der Gerichte und damit ein besserer Umgang mit der knappen Ressource Justiz.

__________

51 BT-Drucks. 16/13098, S. 61; vgl. im Einzelnen Seibert in FS Uwe H. Schneider, 2011, S. 1211, 1219; Seibert, ZIP 2008, 906, 910; OLG Saarbrücken, AG 2011, 343, juris Rz. 49. 52 H. M., z. B. Dörr in Spindler/Stilz, 2. Aufl. 2010, § 246a AktG Rz. 28; Göz in Bürgers/ Körber, 2. Aufl. 2011, § 246a AktG Rz. 4; Verse, NZG 2009, 1127, 1130; vgl. auch OLG Hamm, AG 2011, 624, juris Rz. 99; a. A. Schwab in K. Schmidt/Lutter, 2. Aufl. 2010, § 246a AktG Rz. 16. 53 KG, AG 2010, 494. 54 OLG München, AG 2010, 842. 55 KG, Beschl. v. 23.6.2011 – 23 AktG 1/11, ZIP 2011, 1474 = NZG 2011, 1068. 56 Raiser in FS Hüffer, 2010, S. 789, 802 f.; Fleischer, DB 2011, 2132, je m. w. N. 57 Gegen die Analogiefähigkeit insoweit auch Englisch in Hölters, 2011, § 246a AktG Rz. 3. 58 Dazu unten III.; so auch Fleischer, DB 2011, 2132, 2136 f.

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Sieht man das Gewicht der Fälle und die Vielzahl der zu klärenden Rechtsfragen, lässt sich wohl auch behaupten, dass es in der Sache richtig war, die Zuständigkeit den Oberlandesgerichten zu übertragen. Weiterhin leuchtet es aber nicht ein, zwar die – wesentliche – Entscheidung über die Bestandskraft eines Hauptversammlungsbeschlusses ausschließlich und abschließend den Oberlandesgerichten anzuvertrauen, für das – leider – eher nachrangig gewordene Verfahren um die Nichtigkeit dieses Beschlusses aber an der vorgeschalteten Instanz des Landgerichts festzuhalten.

III. Gibt es überzeugendere Regelungsmodelle? 1. Einleitung Die Reform des Freigabeverfahrens durch das ARUG war danach ohne Zweifel effizient. Dies gilt erst recht, falls der Eindruck nicht trügt, dass jedenfalls vorderhand auch die Zahl der Beschlussmängelklagen bei eintragungspflichtigen Beschlüssen zurückgegangen ist.59 Gerade der gerichtliche Praktiker, dem aus der (Bundes-)Gesetzgebung regelmäßig eher zusätzliche Aufgaben erwachsen, ohne dass der (Landes-)Haushalt dafür zusätzliche Ressourcen zur Verfügung stellt, sollte dies uneingeschränkt begrüßen. Indessen würde die unter systematischen und rechtsgrundsätzlichen Gesichtspunkten gegen das gesetzliche Regelungsmodell vorgebrachte Kritik60 auch dann schwer wiegen, wenn es nicht in systematischer Hinsicht überzeugendere Regelungsalternativen gäbe, von denen nicht weniger Effizienz zu erwarten ist und die zudem über den Regelungsbereich von § 246a AktG hinausgehen. Ein solches Regelungsmodell hatte der Arbeitskreis Beschlussmängelrecht vorgelegt.61 Dem setzt Hirte62 nun ein neues Modell für ein getrenntes Freigabe- und Bestandskraftverfahren entgegen. Damit soll sich die weitere Untersuchung beschäftigen. 2. Der Vorschlag von Hirte Kern des Modells von Hirte ist die Trennung zwischen der Freigabe zur Eintragung in das Handelsregister und der Bestandskraft des eingetragenen Beschlusses. Dies gelingt durch die Aufteilung der Regelung in eine Bestimmung zur Freigabe der Eintragung, § 246a E, und eine Bestimmung, welche die Voraussetzungen dauerhafter Bestandskraft regelt, § 246b E.

__________ 59 Umso mehr finden sich allerdings Klagen gegen Entlastungsbeschlüsse sowie wegen Sonderprüfung und Auskunftserzwingung. 60 Vgl. nur Hemeling, ZHR 2008, 379; J. Vetter, AG 2008, 177; Habersack/Stilz, ZGR 2010, 710 ff.; Hirte in FS Meilicke, 2010, S. 201 ff., je m. w. N. 61 AK Beschlussmängelrecht, AG 2008, 617 ff. 62 Hirte in FS Meilicke, 2010, S. 201 ff., im Anschluss an die von ihm betreute Dissertation von Sauerbruch, Das Freigabeverfahren gemäß § 246a Aktiengesetz – Eine rechtsökonomische Untersuchung, 2008.

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Eberhard Stilz

a) Problemanalyse Der Vorschlag gründet auf einer Problemanalyse, der man nur zustimmen kann. Die Zuerkennung endgültiger Bestandskraft im Eilverfahren (durch eine gerichtliche Instanz) und nachfolgend die Entscheidung über die Nichtigkeit des Beschlusses (von Anfang an) im mehrinstanzlichen Hauptsacheverfahren grenzt an eine widersinnige Zumutung, auch für die zur Entscheidung berufenen Richter.63 In Wirklichkeit handelt es sich um einen Eingriff in das materielle Anfechtungsrecht durch die Hintertür, zudem um ein faktisches Quorum für Anfechtungsklagen – allerdings nicht für alle, sondern gerade für eintragungspflichtige und damit in der Regel besonders wichtige Beschlüsse.64 Die Problematik wird auch anhand der oben zitierten Freigabeentscheidung des OLG Frankfurt vom 23.2.201065 deutlich. Das OLG hatte mit diesem Beschluss die dauernde Bestandskraft von Hauptversammlungsbeschlüssen über die Schaffung neuen genehmigten Kapitals bewirkt. Die Freigabe gründet bezüglich eines Antragsgegners auf § 246a Abs. 2 Nr. 2 AktG n. F., also darauf, dass der Kläger nicht über den erforderlichen Mindestbesitz an Aktien verfügte. Bezüglich einer anderen Antragsgegnerin lässt das OLG Frankfurt diese Frage dahinstehen und stützt sich auf eine detaillierte Würdigung der Anfechtungsgründe, die jedenfalls nicht besonders schwer wögen. Im Folgejahr hatte derselbe Senat den Beschlussmängelstreit zu entscheiden. Anders als erstinstanzlich das Landgericht erklärte er nun die fraglichen Beschlüsse für nichtig, weil einige der im Freigabeverfahren geprüften Mängel zwar „überhaupt keinen Gesetzes- oder Satzungsverstoß“ begründeten, andere aber doch zur Anfechtbarkeit führten.66 Das OLG hätte nach dem Gesetzesbefehl die endgültige Bestandskraft selbst dann erteilen müssen, wenn es schon im Freigabeverfahren besonders schwere Mängel festgestellt hätte; die spätere Feststellung der Nichtigkeit von Anfang an hätte auch dann an der umfassenden Bestandskraft der Beschlüsse nichts geändert.67 b) Freigabe zur Eintragung Die Voraussetzungen für eine Freigabe der Eintragung beschreibt der Vorschlag von Hirte entsprechend der Lösung des geltenden Rechts. Allerdings ist ein Satzungsvorbehalt vorgesehen. Bei nicht börsennotierten Gesellschaften soll der Antrag nur zulässig sein, wenn die Satzung es vorsieht, bei börsennotierten

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63 Habersack/Stilz, ZGR 2010, 710, 717 ff.; vgl. Schwab in K. Schmidt/Lutter, 2. Aufl. 2010, § 246a AktG Rz. 4 ff., 22 sowie die Fundamentalkritik schon zum UMAG von Zöllner in FS Westermann, 2008, S. 1631, 1642 f., 1647, zustimmend zitiert von Heidel, Aktienrecht, 3. Aufl. 2011, § 246a AktG Rz. 1a. 64 So schon AK Beschlussmängelrecht‚ AG 2008, 617, 619; Hirte in FS Meilicke, 2010, S. 201 ff., 206, 210, 212; vgl. auch Schwab in K. Schmidt/Lutter, 2. Aufl. 2010, § 246a AktG Rz. 14; Heidel, Aktienrecht, 3. Aufl. 2011, § 246a AktG Rz. 1b, 2; zu Vorschlägen de lege ferenda schon Winter in FS Ulmer, 2003, S. 699, 716. 65 OLG Frankfurt, AG 2010, 596. 66 OLG Frankfurt, Beschl. v. 5.7.2011 – 5 U 104/10, AG 2011, R259. 67 Für Schwab in K. Schmidt/Lutter, 2. Aufl. 2010, § 246a AktG Rz. 4 ff., 22, folgt u. a. daraus die Verfassungswidrigkeit des Gesetzes.

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Freigabeverfahren und Beschlussmängelrecht

Gesellschaften kann die Satzung den Rechtsbehelf umgekehrt ausschließen. Eine solche Öffnung dürfte wenig genutzt werden, weil sich Mehrheiten kaum von vornherein der Möglichkeit eines Freigabeantrags begeben werden. Auch die Verfahrensregelung in Abs. 3 entspricht weitgehend dem geltenden Recht.68 Das Gebot, den Beschluss schon nach vier Wochen zu erlassen (Abs. 3 Satz 6), geht aber zu weit und passt nicht dazu, dass nur in dringenden Fällen von einer mündlichen Verhandlung abgesehen werden kann (Abs. 3 Satz 2). Bei solcher Eile wären alle Fälle dringend und eine mündliche Verhandlung, nach welcher dem Gericht noch Zeit für die Absetzung der Entscheidung bleiben muss, wäre ohnedies kaum zustande zu bringen. Für die Antragserwiderung blieben nur wenige Tage Zeit, für eine Replik in der Regel gar keine. Wesentlich verändert ist aber die Beschlussfolge. Das gilt schon für die Erstreckung der Schadensersatzpflicht auf alle Aktionäre, die gegen den Beschluss gestimmt hatten (Abs. 4 Satz 1 E); indessen wird ein nennenswerter Schaden dadurch nicht leichter nachweisbar,69 verflüchtigt sich angesichts der eingeschränkten Freigabewirkung eher vollends. Wesentlich ist dagegen die mit Satz 2 von Abs. 4 intendierte Zulassung einer Löschung der Eintragung, allerdings nur mit Wirkung ex nunc.70 c) Anordnung der Bestandskraft Entscheidend und neu ist die Regelung der Bestandskraft in § 246b E. Ausgenommen ist von vornherein der Unternehmensvertrag, weil die Beendigung ex nunc unproblematisch möglich sei.71 Ohne eine Bestandskraftregelung und ohne Korrektur der Beschlussmängelfolgen im materiellen Recht würde der Beschluss aber mit Wirkung ex tunc entfallen. Zuständig sein soll das Prozessgericht, gegen dessen Entscheidung die sofortige Beschwerde stattfindet. Damit kehrt der Vorschlag insoweit zur Rechtslage vor dem ARUG zurück, verzichtet also auf die durch die Neuregelung bewirkte erhebliche Beschleunigung und kostet Rechtsprechungsressourcen. Völlig neu ist die in dem Entwurf vorgestellte Regelung der Beschlussvoraussetzungen: (1) Der erste Bestandskraftgrund findet sich in § 246b Abs. 2 Satz 1 E. Er knüpft zwar wie das geltende Recht an die Unzulässigkeit oder offensichtliche Unbegründetheit der Klage an, fordert aber kumulativ, die dauerhafte Bestandskraft dürfe die Interessen der „am Rechtsstreit nicht beteiligten Aktionäre, zukünftiger Aktionäre oder der Öffentlichkeit“ nicht erheblich verletzen. Dass damit, wörtlich genommen, die Interessen der klagenden Aktionäre irrelevant wären, dürfte nicht intendiert sein. Entscheidend ist aber, dass es – wohl zudem – auf die Interessen aller anderen Aktionäre ankommen soll. Das ist insoweit nicht

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68 Die Übernahme auch der Bestandskraftregelung in Abs. 3 Satz 5 Halbs. 2 E dürfte auf einem Versehen beruhen; Abs. 3 Satz 5 E sollte insgesamt entfallen. 69 Vgl. Spindler, NZG 2005, 825, 830; Veil, AG 2005, 567, 572 f. 70 Näher dazu unten 3.b). 71 Hirte in FS Meilicke, 2010, S. 201 ff.; 219.

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recht schlüssig, als die (große) Mehrheit der Aktionäre dem Beschluss zugestimmt hat, also gerade an dessen Bestandskraft interessiert sein dürfte. Erst recht erschließt sich nicht, welche Interessen von am Unternehmen nicht beteiligten potentiellen Aktionären oder gar der anonymen Öffentlichkeit rechtlich berührt sein können und wie das Gericht diese festzustellen vermag. Dahinter stehen könnte die Erwägung, dass zwar die erhobene Klage unzulässig oder unbegründet sein kann, aber bei umfassender Prüfung dennoch (andere) Mängel des Beschlusses bestehen könnten. Eine solche von Amts wegen anzustellende, umfassende Beschlusskontrolle wäre aber nicht nur systemfremd, sondern mindestens in dem beschleunigten Bestandskraftverfahren auch nicht zu leisten. (2) Recht kompliziert fällt die in § 246b Abs. 2 Satz 2 E als alternative Beschlussvoraussetzung aufgeführte Interessenabwägung aus. Danach muss das „Bestandskraftinteresse“ das „Kassationsinteresse“ der durch die Rechtsverletzung benachteiligten Aktionäre wesentlich überwiegen. Zur Gesamtkonzeption passt es zwar, nicht nur auf die Antragsgegner abzustellen. Es stellt sich allerdings die Frage, wie der Kreis der über die opponierenden Aktionäre hinaus (so die Schadensersatzregelungen in §§ 246a Abs. 4 E und 246b Abs. 4 E) durch die Rechtsverletzung benachteiligten Aktionäre abgegrenzt und wie, da sie nicht am Verfahren beteiligt sind, deren gar nicht geltend gemachtes Kassationsinteresse festgestellt werden soll. Ohnehin muss davon ausgegangen werden, dass die – in der Regel sehr große – Mehrheit der Aktionäre, die dem Beschluss zugestimmt hat, kein Kassations-, sondern ein Bestandskraftinteresse hat. Schon im Ansatz schwierig ist sodann die ausdifferenzierte Regelung eines erhöhten Kassationsinteresses in Abs. 4 Satz 3 E, weil für das Ausmaß der „Erhöhung“ ein Maßstab fehlt. Auch die Regelbeispiele für die Erhöhung in Ziff. 2 (Benachteiligung ohne angemessenen Ausgleich), Ziff. 4 (freiwillige Schadensersatzverpflichtung mit ausreichender Sicherheitsleistung) und Ziff. 5 (Interessenverletzung Außenstehender) dürften praktisch schwer quantifiziert umzusetzen sein. 3. Bewertung des Vorschlags a) Bestandskraft versus Nichtigkeit Das von Hirte ausformulierte Regelungsmodell imponiert mit der Intention, den Widerspruch zwischen Bestandskraft und Nichtigkeit zurückzudrängen. Es stellt an die Bestandskraft erheblich höhere Anforderungen als das geltende Recht und dürfte, würde es Gesetz, das Phänomen der nichtigen, aber dennoch dauerhaft bestandskräftigen Beschlüsse wesentlich minimieren. Hier setzt natürlich auch die grundsätzliche Kritik an. So, wie die geltende Regelung als Eingriff in das materielle Beschlussmängelrecht durch die Hintertür gelten kann,72 könnte man diese Lösung auch als Abschaffung des Freigabeverfahrens durch die Hintertür bezeichnen. Denn das als Unbedenklich-

__________ 72 Vgl. bei Fn. 64.

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Freigabeverfahren und Beschlussmängelrecht

keitsverfahren entstandene und nun als Freigabeverfahren bezeichnete beschleunigte Verfahren hat sich längst zum Bestandskraftverfahren entwickelt.73 Die Möglichkeit, eine rasche Eintragung im Handelsregister zu erwirken, ist für ein Unternehmen kaum von großem Interesse, wenn es sich auf den Fortbestand der Eintragung und insbesondere auf den dauerhaften Fortbestand des Beschlusses als rechtlicher Grundlage seiner Umsetzung nicht verlassen könnte. Nicht die formelle registerrechtliche Lage ist entscheidend, schon gar nicht, wenn sie alsbald wieder genommen werden kann, sondern die materielle Wirkung des Beschlusses. Vorzeitige Bestandskraft würden nach dem vorgeschlagenen Verfahren aber nur wenige Beschlüsse erhalten, zudem erst in einem wieder über zwei Instanzen gestreckten Verfahren, also deutlich später als nach dem geltenden Recht. Dabei erscheint es im Übrigen als nicht plausibel, auch den Verfahrensgang zwischen Freigabe- und Bestandskraftverfahren zu trennen, zumal das eine auf das andere verweist. b) Diversifizierung der Mangelfolgen In die richtige Richtung weist der Vorschlag zudem mit dem Versuch, bei den Mangelfolgen zu differenzieren. Die Schwarz-Weiß-Lösung des geltenden Rechts greift mit der Anordnung der Nichtigkeit von Anfang an als einziger möglicher Folge eines relevanten Beschlussmangels ersichtlich zu weit; die dadurch veranlassten Versuche zur Eindämmung der Mangelfolgen sind nicht nur dogmatisch zweifelhaft, sondern vermögen auch das Problem nicht wirklich zu lösen.74 Hirte greift deshalb den Vorschlag auf, in bestimmten Fällen nur eine ex nunc wirkende Nichtigkeitsfolge vorzusehen.75 Ist ein Beschluss aufgrund einer Freigabeentscheidung eingetragen, erweist sich die Klage aber als begründet, soll die Beseitigung der Eintragung nicht rückwirkend möglich sein (§ 246a Abs. 4 Satz 2 E). Die vorgesehene Regelungstechnik mag man kritisch sehen. So fehlt der Bestimmung die Anknüpfung. Weil Abs. 4 Satz 2 des geltenden Rechts gestrichen ist, hängt die Formulierung „Die Beseitigung dieser Wirkung“ in der Luft. Der Vorschlag könnte aber auch in der Sache inkonsistent sein. Denn die Trennung zwischen Eintragung und Bestandskraftentscheidung würde ohne weitere Regelung dazu führen, dass mit dem Erfolg eines Beschlussmängelprozesses die Eintragung, der nicht auch eine Bestandskraft zuerkannt ist, falsch wird und wieder zu löschen wäre. Fragen der Rückwirkung und der fehlerhaften Gesellschaft würden sich dabei nicht stellen.

__________ 73 Habersack/Stilz, ZGR 2010, 715 ff., 716, 718. 74 Vgl. Habersack/Stilz, ZGR 2010, 715 ff., 728; zutreffend bereits Hommelhoff, ZGR 1990, 447, 455 ff.; aus der Rechtsprechung z. B. KG, NZG 2009, 1389 mit Anm. Florstedt. 75 Hirte in FS Meilicke, 2010, S. 201 ff., 218 f. unter Bezugnahme auf AK Beschlussmängelrecht, AG 2008, 617, 621.

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Andererseits ist nicht ersichtlich, welche Folgen die rückwirkend bestehen bleibende Eintragung eines gleichzeitig von Anfang an nichtigen und nicht für bestandskräftig erklärten Beschlusses hätte. Ergeht auf der Grundlage des Vorschlags ein Freigabe-, aber kein Bestandskraftbeschluss, würde bzw. bliebe der Beschluss der Hauptversammlung bei Klageerfolg unverändert materiell von Anfang an nichtig; die vorübergehende Aufrechterhaltung der Eintragung wird dann wenig bewirken. Ist aber auch eine Bestandskraftentscheidung nach § 246b E ergangen, müsste diese ohnedies so ausgestaltet werden, dass sie auch Grundlage einer fortdauernden Eintragung ist. Die materielle Bestandskraft des Beschlusses bei gleichzeitig mit dem Erfolg der Klage einhergehender Pflicht zur Löschung der Eintragung, sei es auch nur mit Wirkung ex nunc, kann nicht beabsichtigt sein.

IV. Ergebnis 1. Gegen die Zerfaserung des Beschlussmängelrechts Die Anmerkungen zu dem in der Analyse und im Ansatz zu begrüßenden Vorschlag von Hirte sollen illustrieren, dass Versuche, der Problematik alleine über den Weg des Freigabeverfahrens Herr zu werden, nicht überzeugen können. Das hatte den Arbeitskreis Beschlussmängelrecht nach eingehender Diskussion dazu bewogen, bei den Beschlussmängelfolgen selbst anzusetzen.76 Die Gründe dafür sind vielfach dargelegt worden und sollen hier nicht wiederholt werden.77 Die Zerfaserung des Beschlussmängelrechts durch weitere Ausdifferenzierung eines gesonderten Eilverfahrens über die Bestandskraft von Beschlüssen ist weder systematisch überzeugend noch im Sinne der gesetzgeberischen Absicht erforderlich. Die Weiterentwicklung durch das ARUG gibt wegen ihrer praktischen Effizienz den zeitlichen Spielraum zu einer grundsätzlichen Reform, der es gelingen kann, die Lösung wieder vom Kopf auf die Füße, also von den Manipulationen an der Eintragung und Bestandskraft von Beschlüssen wieder auf den Boden des Beschlussmängelrechts selbst zu stellen.78 Das hat auch der Jubilar schon weitschauend früh angemahnt. Seine Aufforderung, Wissenschaft, Rechtsprechung und Gesetzgeber mögen sich auf ein umfassendes System der Gesellschafterklagen einigen, in das die Kontrolle von Strukturbeschlüssen wieder bruchlos eingepasst wird,79 harrt indes weiter der Umsetzung. Diese ist heute dringender denn je einzufordern, denn auch

__________ 76 AK Beschlussmängelrecht, AG 2008, 617, 622 ff. 77 Zuletzt Habersack/Stilz, ZGR 2010, 710; vgl. auch Habersack, AG 2009, 1, 12; Habersack, BB 2011, Heft 1 Erste Seite (Beilage). 78 Dabei geht es keineswegs um einen „Schönheitspreis“; vgl. aber Seibert in FS Uwe H. Schneider, 2011, S. 1211, 1226. 79 Hommelhoff, ZGR 1990, 447, 450 f.

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Freigabeverfahren und Beschlussmängelrecht

Hommelhoff hatte nicht absehen können, wie tief die Brüche im Zuge einer Gesetzgebung nach dem Motto „more of the same“80 werden würden. Es wird nicht verwundern, wenn der Verfasser dazu erneut auf den Anstoß durch den Arbeitskreis Beschlussmängelrecht verweist. Soweit ersichtlich, sind grundsätzliche Mängel dieses im Zusammenwirken von Wissenschaftlern und Praktikern entwickelten Vorschlags nicht aufgezeigt worden. Kritik an Details, wie etwa an dem in § C Abs. 3 Nr. 2 des Entwurfs vorgesehenen Rügegeld, sollten den Blick auf den grundsätzlichen Ansatz nicht verstellen. 2. Schonender Umgang mit der knappen Ressource Justiz Dem Richter sei schließlich noch eine Bemerkung zur Rolle der Justiz gestattet. Es kann nicht bestritten werden, dass die Dauer der Beschlussmängelstreitigkeiten bis zu einem rechtskräftigen Abschluss ein wesentlicher Grund der Unzufriedenheit von Unternehmen ist, die auf rasches Handeln angelegt sind und dauerhaft belastbare Grundlagen für dieses Handeln benötigen.81 Auch wenn nicht jedes einzelne Beschlussmängelverfahren mit größter Beschleunigung geführt wird, scheinen mir aber doch – gemessen an der sachlichen Schwierigkeit der Verfahren, der Zahl der Beteiligten und der Gesamtbelastung der Spruchkörper – für jede Instanz eher anspruchsvoll kurze Verfahrenslaufzeiten zu dominieren. Die Kritik der „Langsamkeit der staatlichen Justiz“82 dürfte deshalb nicht weiterführen und sie überzeugt erst recht nicht, wenn gleichzeitig an unnötig langen Instanzenwegen festgehalten wird. Im Ergebnis nicht hilfreich ist in diesem Zusammenhang leider auch die – an sich sehr lobenswerte – Forderung nach einer besseren Ausstattung der Gerichte. „Verursacher“ der Belastung der Justiz infolge der Bundesgesetzgebung ist zwar der Bund, der indessen zur Ausstattung der Instanzgerichte nichts beitragen kann und es schon in seinem eigenen Zuständigkeitsbereich, bei den Bundesgerichten, nicht eben schafft, vorbildhaft kurze Verfahrenslaufzeiten zu gewährleisten. Doch selbst, wenn es gelänge, die Landesregierungen und -parlamente zu adressieren, wäre wenig zu gewinnen. Würden diese, statt Stellen gerade im Justizbereich abzubauen, zusätzliche Justizstellen ausweisen, wäre keineswegs ausgemacht, dass diese Stellen am Ende tatsächlich zu einer Stärkung der gesellschaftsrechtlichen Spruchkörper beitrügen. Die Präsidien der Gerichte hätten vielmehr den Bedarf in so vielen „Baustellen“ abzuwägen,83 dass die Zuweisung zusätzlicher Ressourcen auch an das Zivilrecht oder speziell an das Wirtschaftsrecht nicht naheliegen müsste.

__________ 80 Nach Paul Watzlawick, Anleitung zum Unglücklichsein, München 1983, eine der typischen Unglücksstrategien. 81 Vgl. nur J. Vetter, AG 2008, 177, 178 f., 181 ff. 82 So Hirte in FS Meilicke, 2010, S. 201 ff., 220; der Kritik entgegentretend Schwab in K. Schmidt/Lutter, 2. Aufl. 2010, § 246a AktG Rz. 33. 83 Vom Strafrecht (Stichworte: Wirtschaftsstrafrecht, Jugendstrafrecht, organisierte Kriminalität) über die sensiblen Gebiete des Familienrechts oder des Betreuungsrechts bis hin etwa zum Insolvenzrecht.

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Was bleibt, ist der Appell, von Seiten des Gesetzgebers mit der in jedem Fall begrenzten Ressource Justiz sorgsamer umzugehen. Keineswegs nur, aber auch auf dem Gebiet des Wirtschaftsrechts hat die faktische und rechtliche Entwicklung unseres Zusammenlebens in den letzten beiden Jahrzehnten der Justiz umfangreiche zusätzliche Aufgaben eingetragen. Waren etwa Spruchverfahren bis dahin fast unbekannt, haben sie inzwischen nennenswerte absolute Zahlen, vor allem aber eine erschreckende Komplexität erreicht. Auch die Freigabeverfahren sind hinzugekommen. Weit mehr noch schlagen die Massenverfahren des Anlegerschutzes und des Kapitalmarktrechts zu Buche. Wenn dies alles unvermeidlich ist, dann gilt das aber keineswegs in jedem Fall für die Instanzenwege. Die in letzter Minute im Rechtsausschuss des Bundestags erreichte Konzentration der Freigabeverfahren bei den Oberlandesgerichten war deshalb ein wichtiger Fortschritt. Sie kann allerdings auch nur ein erster Schritt sein. Wer für Beschlussmängelklagen an zwei Tatsacheninstanzen festhält, sollte nicht die Verfahrensdauer beklagen. So wenig auf die Berufungsinstanz im Allgemeinen verzichtet werden kann,84 so wenig ist sie für den Rechtsschutz der Unternehmen wie auch der klagenden Aktionäre im Beschlussmängelverfahren von Nöten. In aller Regel stehen nicht Tat-, sondern Rechtsfragen im Vordergrund, zudem oft Rechtsfragen von einiger Schwierigkeit oder weitreichender Bedeutung. Deshalb endeten bis zum Inkrafttreten des ARUG nicht nur Freigabeverfahren, sondern auch Beschlussmängelklagen in aller Regel frühestens in der Berufungsinstanz, wenn man von unfreiwilligen verfahrensbeendenden Absprachen absieht. Soweit seither Beschlussmängelklagen nach einer Bestandskraftentscheidung des Oberlandesgerichts zurückgenommen werden, spricht das lediglich für die überschießende Wirkung dieses Verfahrens. Dringend erforderlich bleibt es deshalb, die Ressourcen der Justiz auf diesem Gebiet weiter zu bündeln und Beschlussmängelstreitigkeiten – in der Hauptsache wie im Bestandskraftverfahren –, ebenso aber auch Spruchverfahren, einheitlich den Oberlandesgerichten als Eingangsinstanz zuzuweisen.85

__________ 84 Stilz in FS Geiß, 2000, S. 187 ff. 85 So auch Hüffer in MünchKomm. AktG, 3. Aufl. 2011, § 246a AktG Rz. 3.

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Recht der Verschmelzung, Spaltung und Umwandlung einer Handelsgesellschaft in Polen unter der besonderen Berücksichtigung der letzten Änderungen Systemanmerkungen

Inhaltsübersicht 1. Grundsätze der rechtlichen Regulierung der Verschmelzung, Spaltung und Umwandlung von Handelsgesellschaften im Gesetzbuch für Handelsgesellschaften vom 15.9.2000

3. Die KSH-Novellen vom 5.12.2008 und vom 19.8.2011, die einer Liberalisierung der Vorschriften des Verschmelzungs- und Spaltungsverfahrens dienen

2. Regelung der grenzüberschreitenden Gesellschaftsverschmelzung (Art. 516(1)–Art. 516(19) KSH) im Rahmen der KSH-Novelle vom 15.4.2008

4. Neue Umwandlungsformen in die Handelsgesellschaften nach dem Gesetz vom 25.3.2011 5. Schlussfolgerungen

1. Grundsätze der rechtlichen Regulierung der Verschmelzung, Spaltung und Umwandlung von Handelsgesellschaften im Gesetzbuch für Handelsgesellschaften vom 15.9.2000 Das seit dem 1.1.2001 im polnischen Recht geltende Gesetzbuch für Handelsgesellschaften vom 15.12.2000 (KSH) regelt komplex die Fragen der Verschmelzung, Spaltung und Umwandlung von Handelsgesellschaften. Diese Problematik wird in der polnischen Doktrin als „Umstrukturierung“ des Gesellschaftsunternehmens bezeichnet.1 Die oben erwähnte Regelung umfasst das ganze vierte Buch des KSH (Art. 491–584(13) KSH), dessen Titel „Verschmelzung, Spaltung und Umwandlung von Gesellschaften“ lautet. Es ist eine neue legislatorische Lösung im Vergleich zum früher geltenden Handelsgesetzbuch vom 27.6.1934, das die Spaltung von Handelsgesellschaften überhaupt nicht geregelt und nur die Verschmelzung von Gesellschaften gleicher Rechtsform zugelassen hat (d. h. die Verschmelzung einer Gesellschaft mit beschränkter Haftung nur mit einer anderen Gesellschaft mit beschränkter Haftung oder einer

__________ 1 Der Begriff „Umstrukturierung des Gesellschaftsunternehmens“ als Gesamtbezeichnung für Verschmelzung, Spaltung und Umwandlung einer Gesellschaft wurde in der Begründung des KSH-Entwurfs verwendet (Sejm-Drucksache Nr. 1687, S. 51). Vgl. auch A. Witosz, Restrukturyzacja spó»ek handlowych, Bydgoszcz-Katowice 2005, ders. in ºa3czenie sie3, podzia» i przekszta»cenie spó»ek handlowych, Biblioteka Prawa Spó»ek Band 4, hrsg. von A. Kidyba, Warszawa 2007, S. 13–15, A. Szuman´ski in Pyzio», Szuman´ski, Weiss, Prawo spó»ek, Bydgoszcz-Kraków 2006, S. 818–820.

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Andrzej Szuman´ski

Aktiengesellschaft mit einer anderen Aktiengesellschaft), des Weiteren die Umwandlung einer Gesellschaft mit beschränkter Haftung (= sp. z o.o.) in eine Aktiengesellschaft (= S.A.) und umgekehrt ermöglichte. Die insoweit getroffenen Änderungen im neuen Gesetzbuch für Handelsgesellschaften vom 2000 hatten zwei Gründe. Zum einen sollte das polnische Recht an das europäische Recht angepasst werden, d. h., es sollte die Sechste Richtlinie des Rates vom 17.12.1982 betreffend die Spaltung von Aktiengesellschaften (82/891/EWG)2 berücksichtigt werden und die Regelungen der Dritten Richtlinie des Rates vom 8.10.1978 betreffend die Verschmelzung von Aktiengesellschaften (78/855/EWG)3 über das sog. „Verschmelzungsverfahren“ umgesetzt werden. Zum anderen ging es aber auch darum, die Bedürfnisse der polnischen Unternehmer zu berücksichtigen, die einen breiteren Katalog der Umstrukturierungsformen (z. B. die Möglichkeit der Verschmelzung einer sp. z o.o. mit einer S.A. oder sogar mit einer Personenhandelsgesellschaft, ferner die Umwandlung einer Personenhandelsgesellschaft in eine Kapitalgesellschaft usw.) gefordert haben. Zumal in der polnischen Doktrin und der Rechtsprechung allgemein der Grundsatz eines Numerus clausus der rechtlichen Formen für die Umstrukturierung eines Gesellschaftsunternehmens, d. h. dessen Verschmelzung, Spaltung und Umwandlung, anerkannt wird. Die Notwendigkeit einer neuen Regelung dieser Problematik bildete eines der wichtigsten Argumente für die Ersetzung des Handelsgesetzbuches von 1934 durch das Gesetzbuch für Handelsgesellschaften vom 15.12.2000.4 Dem Gesetzbuch für Handelsgesellschaften liegt das Konzept eines breiten persönlichen Anwendungsbereichs der Umstrukturierungsformen zugrunde. Es wurde nämlich die Verschmelzung von verschiedenen Typen der Kapitalgesellschaften zugelassen (d. h. von einer Aktiengesellschaft mit einer sp. z o.o.) sowie die Verschmelzung von einer Personenhandelsgesellschaft mit einer Kapitalgesellschaft, wobei die übernehmende oder die neu zu bildende Gesellschaft nur eine Kapitalgesellschaft sein kann (Art. 491 § 1–2 KSH). Die Gesellschaftsspaltung wurde zwar auf die Spaltung einer Kapitalgesellschaft begrenzt (Art. 528 § 1–2 KSH), dafür wurden aber alle möglichen Formen der Spaltung vorgesehen, d. h. die Spaltung durch eine Übertragung des Vermögens auf bestehende Rechtsträger, durch eine Bildung von neuen Gesellschaften sowie durch eine Kombination der beiden ersten Möglichkeiten (im Verkehr sind diese Varianten auch als „Aufspaltung“ bekannt – Art. 529 § 1 Pkt. 1–3 KSH), schließlich eine Spaltung durch Absonderung. Die letzte Spaltung setzt voraus, dass die geteilte Gesellschaft nicht aufgelöst wird, sondern lediglich ein Teil ihres Vermögens auf eine andere bestehende oder neu gebildete Gesellschaft übertragen wird. Die oben erwähnten Einschränkungen der Beteiligungsfähigkeit stoßen auf Kritik mancher Vertreter der polnischen Doktrin.5 Schließlich wur-

__________ 2 3 4 5

ABl. L 378/47 v. 31.12.1982. ABl. L 295/36 v. 20.10.1978. Vgl. die Begründung des KSH-Entwurfs (Fn. 1), S. 51. M. As»anowicz, Z problematyki przekszta»cania, »a3czenia oraz podzia»u spó»ek osobowych, Przegla3d Prawa Handlowego 2000, Nr. 8, S. 32–33, T. Siemia3tkowski, R. Potrzeszcz, ºa3czenie, podzia» i przekszta»cenie spó»ek, PPH 2001, Nr. 11, S. 21.

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Verschmelzung, Spaltung und Umwandlung einer Handelsgesellschaft in Polen

den im Fall der Umwandlung einer Handelsgesellschaft alle möglichen Varianten zugelassen (Art. 551 § 1 KSH), also sowohl eine formwechselnde Umwandlung einer Personenhandelsgesellschaft in eine Kapitalgesellschaft (Art. 571– 574 KSH) und einer Kapital- in eine Personenhandelsgesellschaft (Art. 575–576 KSH), wie auch die Umwandlung einer Kapitalgesellschaft in einen anderen Typ der Kapitalgesellschaft (Art. 577–580 KSH) oder einer Personenhandelsgesellschaft in eine Personenhandelsgesellschaft anderer Art (Art. 581–584 KSH). Darüber hinaus wurde im KSH auch die Umwandlung einer Zivilgesellschaft in eine Handelsgesellschaft geregelt (Art. 551 § 2 KSH), womit man sich prima facie außerhalb des Regelungsgegenstands des KSH begab (dazu noch unten). Jedoch wurde im ursprünglichen Wortlaut des Gesetzbuches die Theorie der Rechtsfiktion angenommen, wonach die umgewandelte Zivilgesellschaft faktisch eine offene Handelsgesellschaft (spó»ka jawna) sei. Daher wurde eine Pflicht vorgesehen, sog. „große“ Zivilgesellschaften (die in jedem von zwei aufeinander folgenden Jahren einen Umsatz von mindestens 400.000 Euro erreicht haben – vgl. Art. 26 § 4 KSH a. F.) umzuwandeln, d. h. sie in das Landesgerichtsregister als offene Handelsgesellschaften „umzuregistrieren“ (vgl. Art. 626–627 KSH a. F., nun außer Kraft). Dies schloss eine freiwillige Umwandlung einer Zivilgesellschaft in eine andere als die offene Handelsgesellschaft nicht aus, wofür die Vorschriften über die Umwandlung einer offenen Handelsgesellschaft in eine andere Handelsgesellschaft (eine Personen- oder eine Kapitalhandelsgesellschaft) nach der Theorie der Rechtsfiktion entsprechend Anwendung fanden (vgl. Art. 551 § 3 KSH in der ursprünglichen Fassung). Es wurde nämlich vorausgesetzt, dass die freiwillige Umwandlung einer sog. „kleinen“ Zivilgesellschaft, die kein Handelsgewerbe im größeren Ausmaß betreibt (Art. 26 § 4 KSH a. F.), jeglicher wirtschaftlicher Bedeutung entbehrt. Die oben erwähnte Fiktionstheorie hat hingegen erlaubt, bei der Umwandlung einer Zivilgesellschaft in eine Handelsgesellschaft das Kontinuitätsprinzip anzuwenden, das seinen Niederschlag in Art. 553 § 1 KSH fand („Der umgewandelten Gesellschaft stehen alle Rechte und Pflichten der der Umwandlung unterzogenen Gesellschaft zu“). Der oben beschriebene Rechtsstand wurde zum 15.1.2004 abgeändert, als die Novelle des KSH vom 12.12.20036 in Kraft trat. Es wurde damals auf die Fiktionstheorie verzichtet, nach welcher gemäß Art. 26 § 5 S. 2 KSH einer Zivilgesellschaft, die in eine offene Handelsgesellschaft umgewandelt wurde, „alle Rechte und Pflichten, die das Gemeinschaftsvermögen der Gesellschafter darstellen, zustehen“ sollten. Dies führte nämlich zu Unklarheiten, ob dieser Regelung tatsächlich das für die Umwandlung typische Kontinuitätsprinzip zugrunde lag (Art. 553 § 1 KSH), oder ob es eine Universalsukzession war, weil nach dem Wortlaut von Art. 26 § 5 S. 2 KSH ein Rechtsvorgänger (d. h. das als Rechtsträger betrachtete Gemeinschaftsvermögen der Gesellschafter der Zivilgesellschaft) sowie ein Rechtsnachfolger (d. h. die offene Handelsgesellschaft) unterschieden wurden. Die gleiche rechtliche Lösung gilt auch bei der Umwandlung einer Zivilgesellschaft in eine andere Handelsgesellschaft als die

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6 Gbl. Nr. 229, Pos. 2276.

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offene Handelsgesellschaft (Art. 551 § 3 in fine KSH). Dieser Rechtsstand bleibt geltendes Recht und hat zur Folge, dass sich die Regelung über die Umwandlung einer Zivilgesellschaft in eine offene Handelsgesellschaft in den Vorschriften über eine offene Handelsgesellschaft befindet (Art. 26 § 4–6 KSH), dagegen die Umwandlung einer Zivilgesellschaft in eine andere Handelsgesellschaft von den Vorschriften über die Umwandlung geregelt wird (Art. 551 § 23 KSH). Die Pflicht, eine große Zivilgesellschaft in eine offene Handelsgesellschaft umzuwandeln, wurde hingegen erst zum 8.1.2009 abgeschafft, als mit der Novelle des KSH vom 23.10.2008 die Art. 626–627 KSH außer Kraft gesetzt wurden. Abgesehen von der oben erwähnten Umwandlung einer Zivilgesellschaft in eine Handelsgesellschaft, hat sich der polnische Gesetzgeber bei der Regelung der Verschmelzung, Spaltung und Umwandlung von Gesellschaften im vierten Buch des KSH, dagegen entschieden, die Teilnahme von „Nicht-Gesellschaften“ an diesen Prozessen zu regeln. Es wird hier also keine Verschmelzung einer Genossenschaft mit einer Handelsgesellschaft, keine Umwandlung einer Genossenschaft in eine Handelsgesellschaft usw. geregelt. Eine solche Regelung war nämlich angesichts von Art. 1 § 1 KSH ausgeschlossen, der den sachlichen Anwendungsbereich des KSH bestimmt: „Das Gesetz regelt Gründung, Organisation, Funktionsweise, Auflösung, Verschmelzung, Spaltung und Umwandlung von Handelsgesellschaften“. Indem sich der polnische Gesetzgeber entschlossen hat, die Umstrukturierung von Gesellschaften im KSH zu regeln, hat er zugleich – gemäß Art. 1 § 1 KSH – eine Lösung ausgeschlossen, die es im deutschen Recht gibt, nämlich die Regelung dieser Problematik in einem gesonderten Gesetz, dem Umwandlungsgesetz vom 1994.7 Diese Lösung ermöglicht auch anderen Rechtssubjekten als Gesellschaften eine Teilnahme an Umstrukturierungsprozessen, z. B. Verschmelzung einer „Nicht-Gesellschaft“ mit einer Gesellschaft oder Umwandlung einer „Nicht-Gesellschaft“ in eine Gesellschaft und umgekehrt. Die Annahme einer solchen legislatorischen Lösung bedeutet zwar nicht, dass eine rechtliche Regelung der Teilnahme von „Nicht-Gesellschaften“ an den Umstrukturierungsprozessen einer Gesellschaft generell ausgeschlossen wäre. Aus Systemgründen sollte aber eine solche Regelung in einem anderen Regelungswerk als dem Gesetzbuch für Handelsgesellschaften stattfinden, d. h. in dem jeweiligen Gesetz, das eine bestimmte „Nicht-Gesellschaft“ (z. B. Genossenschaft, Einpersonen-Unternehmer, der Wirtschaftsaktivitäten führt) regelt. Das Problem der Umwandlung einer „Nicht-Gesellschaft“ in eine Handelsgesellschaft wurde 2010 durch zwei besondere Gesetzregelungen aufgegriffen, worauf an einer späteren Stelle dieses Beitrags zurückzukommen sein wird (siehe Pkt. 4, These 17–20). Im KSH wird auch geregelt, wann eine Gesellschaft an der Verschmelzung, Spaltung und Umwandlung einer Handelsgesellschaft nicht teilnehmen darf.

__________ 7 Umwandlungsgesetz v. 28.10.1994, BGBl. I 1994, 3210, Lutter, Umwandlungsgesetz, Kommentar, 4. Aufl. 2009.

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Art. 491 § 3, 528 § 3 und 551 § 4 KSH bestimmen, dass weder eine Gesellschaft in Abwicklung, welche die Vermögensverteilung begonnen hat, noch eine Gesellschaft in Konkurs verschmolzen, geteilt oder umgewandelt werden kann. Auf Grundlage dieser Vorschriften wird in der Doktrin die These formuliert, dass auch andere, im Gesetz nicht ausdrücklich geregelte Konstellationen der Verschmelzung, Spaltung oder Umwandlung zulässig sind. Beispiele dafür sind: die Verschmelzung einer Vorgesellschaft oder einer Gesellschaft in schlechter finanzieller Situation (sog. „Gesellschaft mit Unterbilanz“), die Übernahme einer herrschenden Gesellschaft durch eine abhängige Gesellschaft (sog. up stream merger), die gleichzeitige Übernahme einer Gesellschaftsgruppe oder die Verschmelzung von Gesellschaften mit nicht voll eingezahlten Stammkapital.8 Da die oben erwähnten Rechtsvorschriften eine Ausnahme darstellen, wird für die Zulässigkeit solcher Konstellationen unter Berufung auf den Grundsatz „exceptiones non sunt extendendae“ (und zwar so lange andere Rechtsvorschriften dieses nicht ausdrücklich verbieten) plädiert. Als der polnische Gesetzgeber im Jahre 2000 das polnische Recht an das Europäische Gesellschaftsrecht anpassen wollte, hätte er sich mit einer Berücksichtigung der europäischen Regelungen zur Verschmelzung und Spaltung von Aktiengesellschaften begnügen können (vgl. die These 1 oben). Er hat sich aber anders entschieden und gleichzeitig auch die Verschmelzung von verschiedenen Kapitalgesellschaftsformen (Art. 498–516 KSH), die Verschmelzung von einer Kapitalgesellschaft mit einer Personenhandelsgesellschaft (Art. 517–527 KSH) sowie die Spaltung einer Kapitalgesellschaft, also auch einer sp. z o.o. (Art. 528–550 KSH) geregelt und zwar nach dem „europäischen“ Regelungsmuster des sog. Verschmelzungs- und Spaltungsverfahrens. Dieses Verfahren wird in drei aufeinander folgende Phasen unterteilt: die Planungsphase (die auch „Managerphase“ genannt wird), die Beschlussphase, in der die Beschlüsse über die Verschmelzung oder Spaltung gefasst werden und die daher auch „Eigentümerphase“ genannt wird, und die Registrierungs- und Bekanntmachungsphase, also die Phase einer Autorisierung durch die Staatsorgane. Da von der Praxis erwartet wurde, dass nicht nur die Verschmelzung oder Spaltung von Aktiengesellschaften geregelt werden würde, wäre es nicht rational gewesen, bei den nicht vom Gemeinschaftsrecht erfassten Konstellationen andere Regelungsmodelle auszuwählen als bei der Verschmelzung oder Spaltung von Aktiengesellschaften, die durch europäische Richtlinien bestimmt werden. Aus diesem Grund wurde im polnischen Recht die Verschmelzung oder Spaltung von verschiedenen Gesellschaftsformen nach dem gleichen Grundmuster geregelt. So sind die rechtlichen und faktischen Handlungen, die im Rahmen eines Verschmelzungs- oder Spaltungsverfahrens durchgeführt werden müssen, grundsätzlich vergleichbar, wenn auch einige rechtsformspezifische Unterschiede bestehen (z. B. eine Haftung der Gesellschafter einer Personenhandelsgesellschaft für die Verbindlichkeiten einer durch die Kapitalgesellschaft übernommenen Gesellschaft – Art. 525 KSH).

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8 A. Szuman´ski in So»tysin´ski, Szajkowski, Szuman´ski, Szwaja, Kodeks spó»ek handlowych, Komentarz, Band 4, 2. Ausgabe, Warszawa 2009, S. 211–218, Rz. 88–104.

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Ähnlich war es im Fall der Regelung einer formwechselnden Umwandlung von Handelsgesellschaften. Obwohl diese Rechtsmaterie aus Sicht des europäischen Rechts irrelevant ist, hat sich der polnische Gesetzgeber doch entschieden, den Formwechsel nach dem europäischen Muster zu regeln, d. h. dieses Verfahren in drei Phasen (Manager-, Eigentümerphase und Phase der Autorisierung durch Staatsorgane) zu unterteilen. Daher wurde das sog. Umwandlungsverfahren in einem allgemeinen Teil geregelt, neben anderen allgemeinen Fragen, wie Umwandlungsformen (Art. 551 KSH), Umwandlungstag (Art. 552 KSH), Kontinuitätsprinzip (Art. 553 KSH) und dem Umfang, in dem die Vorschriften des KSH auf die in den Vorschriften über die Umwandlung nicht geregelten Angelegenheiten Anwendung finden. Darüber hinaus gibt es besondere Teile, die sich mit rechtsformspezifischen Fragen des Formwechsels beschäftigten (Art. 571–584 KSH, s. oben These 2). In diesen besonderen Teilen wurde u. a. geregelt: der Wechsel der Geschäftsführungsregime (von einer persönlichen Geschäftsführung durch Gesellschafter in eine Geschäftsführung durch ein Gesellschaftsorgan, also den Vorstand, oder umgekehrt), der Wechsel bei der Gesellschafterhaftung (von einer unbegrenzten in eine begrenzte) oder die Beschlussfassungsregel in verschiedenen Gesellschaftsformen (das Einstimmigkeitsprinzip oder das Prinzip einer bestimmten Mehrheit). 2. Regelung der grenzüberschreitenden Gesellschaftsverschmelzung (Art. 516(1)–Art. 516(19) KSH) im Rahmen der KSH-Novelle vom 15.4.2008 Die erste wesentliche Änderung der KSH-Vorschriften über Verschmelzung, Spaltung und formwechselnde Umwandlung (von der Novelle vom 12.12.2003 abgesehen, welche einer Präzisierung der Vorschriften diente) erfolgte in der Novelle vom 25.4.2008.9 Diese Novelle hat die Verschmelzung einer polnischen Kapitalgesellschaft (sp. z o.o., S.A. und SE mit Sitz in Polen) und einer polnischen Kommanditgesellschaft auf Aktien (die im polnischen Recht gemäß Art. 4 § 1 Pkt. 1 KSH eine Personenhandelsgesellschaft ist) mit einer ausländischen Gesellschaft eingeführt – Art. 491 § 1(1) KSH n. F. Mit der Novelle wurde in das polnische Recht die zehnte Richtlinie 2005/56/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26.10.2005 über die Verschmelzung von Kapitalgesellschaften aus verschiedenen Mitgliedstaaten10 umgesetzt. Im polnischen rechtswissenschaftlichen Schrifttum wird kritisiert, dass man sich bei der Implementierung der zehnten Richtlinie auf die Verschmelzung von polnischen Kapitalgesellschaften und Kommanditgesellschaften auf Aktien beschränkt hat und die Verschmelzung von anderen Personenhandelsgesellschaften ausgeschlossen hat.11 Die oben erwähnte Novelle erfolgte im Rahmen des KSH und zwar durch die Einführung eines neuen Unterabschnitts 2 (1) „Grenzüberschreitende Ver-

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9 Gbl. Nr. 86 Pos. 524. 10 ABl. Nr. L 310 v. 25.11.2005, S. 1. 11 K. Oplustil, M. Spyra, Fuzja transgraniczna z udzia»em polskich spó»ek kapita»owych w s´wietle prawa europejskiego i polskiego, in Europejskie Prawo Spó»ek, Band 4, Warszawa 2008, S. 278–279.

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schmelzung von Kapitalgesellschaften und Kommanditgesellschaft auf Aktien“ (Art. 516(1)–516(19) KSH). Dadurch wurde allerdings die einheitliche Systematik der Regelung über Verschmelzung, Spaltung und formwechselnde Umwandlung im Abschnitt IV des KSH auseinander gebrochen. Im sog. europäischen Gesellschaftsrecht gibt es nämlich keine Regelung der grenzüberschreitenden Spaltung oder Umwandlung. Eine solche Regelung ist auch für eine nähere Zukunft nicht geplant. Aus diesem Grund ist die Umsetzung der zehnten Richtlinie im KSH (anstatt in einem besonderen Gesetz) kritisch zu beurteilen.12 Neben dem oben aufgeführten Argument sprechen noch andere wesentliche Argumente systematischer Natur gegen die Regelung der grenzüberschreitenden Verschmelzung im Gesetzbuch für Handelsgesellschaften, die in der Zukunft aufzeigen werden, dass das Konzept der Implementierung der zehnten Richtlinie im Rahmen des KSH verfehlt war. Erstens überschreitet die zehnte Richtlinie mit der Verschmelzung einer ausländischen Genossenschaft (Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie) den persönlichen Anwendungsbereich des Gesetzbuches für Handelsgesellschaften, der durch Art. 1 § 1 KSH bestimmt wird. Art. 516(2) Pkt. 1 KSH schließt die Verschmelzungsfähigkeit einer ausländischen Genossenschaft mit einer polnischen Kapitalgesellschaft aus und zwar aus den folgenden Gründen: (a) zum einen geht es darum, den persönlichen Anwendungsbereich des KSH nicht zu verletzen; (b) zum anderen darum, polnische Genossenschaften nicht zu diskriminieren, die sich de lege lata mit polnischen Gesellschaften nicht verschmelzen dürfen. Da allerdings künftig die Verschmelzungsfähigkeit einer Genossenschaft polnischen Rechts mit einer polnischen Gesellschaft nur außerhalb des KSH geregelt werden kann (wegen des Wortlauts von Art. 1 § 1 KSH), wird es dann notwendig werden, Art. 516(2) Pkt. 1 KSH abzuschaffen, um wiederum eine Diskriminierung von ausländischen Genossenschaften zu vermeiden. Demzufolge wird Art. 3 Abs. 2 der zehnten Richtlinie nicht im Rahmen, sondern außerhalb KSH umgesetzt werden müssen. Zweitens umfasst die zehnte Richtlinie viele kollisionsrechtlichen Regelungen, was sich aus der Natur der grenzüberschneidenden Verschmelzung ergibt. Bestätigt wird dies durch das in der Richtlinie geregelte und in zwei Abschnitte geteilte Überprüfungsverfahren (Art. 10 und 11 der zehnten Richtlinie). Somit wird die Anwendung des innerstaatlichen Rechts jeder der sich verschmelzenden Gesellschaften abgegrenzt. Die kollisionsrechtliche Problematik gehört aus selbstverständlichen Gründen nicht zum sachlichen Anwendungsbereich des Gesetzbuches für Handelsgesellschaften, was die Notwendigkeit der Implementierung eines Teils der Richtlinie außerhalb KSH, innerhalb des internationalen Privatrechts, rechtfertigt. Diese Lösung führt aber dazu, dass die Umsetzung der zehnten Richtlinie inhaltlich aufgespalten wird. Diese Auf-

__________ 12 Anders M. Romanowski, A. Opalski, Nowelizacja Kodeksu spó»ek handlowych w sprawie transgranicznego »a3czenia sie3 spó»ek kapita»owych, Monitor Prawniczy 2008, Beilageheft zu Nr. 15, S. 5–9 und K. Oplustil, M. Spyra, Fuzja transgraniczna z udzia»em polskich spó»ek, S. 276–278.

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spaltung ließe sich aber vermeiden, wenn man sich für die Implementation durch ein besonderes Gesetz entschieden hätte. In der internationalen Praxis gibt es eine Tendenz, dann in einem Rechtsakt sowohl die materiell- als auch die kollisionsrechtlichen Aspekte einer Rechtsproblematik zu regeln, wenn eine dogmatische „Aufspaltung“ der beiden Rechtsaspekte die Anwendung der Regelung erschweren würde. Als Beispiel für diese Tendenz kann auf das von UNCITRAL vorbereitete Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Abtretung von Forderungen im internationalen Handel von 2001 (Resolution Nr. 56/81 und A/CN.9/489) verwiesen werden. Drittens wird die kritische Beurteilung einer solchen systematischen Lösung auch durch die Tatsache verursacht, dass zum Wesen der grenzüberschreitenden Verschmelzung das Mitbestimmungsrecht der Arbeitnehmer bei der Unternehmensleitung in der neuen, aus der grenzüberschreitenden Verschmelzung hervorgehenden, Gesellschaft gehört. Die Mitbestimmung wird im polnischen Recht in einem besonderen Gesetz vom 25.4.2008 über die Teilnahme der Arbeitnehmer in der aus der grenzüberschreitenden Verschmelzung hervorgehenden Gesellschaft13 geregelt. Es ist aber anzumerken, dass die Verfolgung gesellschaftspolitischer Vorstellungen durch den Staat auf Kosten der Unternehmer (mit Mitteln, die ihnen zusätzlich zur Besteuerung auferlegt werden) eine geringe praktische Bedeutung dieser Verschmelzungsform erwarten lässt. Diese These basiert auf dem begrenzten Interesse, mit dem in der Praxis der Mitgliedstaaten, darunter besonders in Polen, die Europäische Gesellschaft begrüßt worden ist. Daher besteht ein wesentliches Risiko, dass sich die Regelung der grenzüberschreitenden Verschmelzung im KSH negativ auf die Praxis der Verschmelzung von Gesellschaften polnisches Rechts auswirken kann. Dabei steht außer jeder Diskussion, dass die Verschmelzung von innerstaatlichen Gesellschaften eines der „beliebtesten“ Rechtsinstitute des polnischen Gesellschaftsrechts darstellt. Unbegründet ist das Argument, dass wegen des Verbots der Dekodifizierung (Desintegration) des Gesellschaftsrechts die gesellschaftsrechtlichen Richtlinien nur im Rahmen des KSH ins polnische Recht umgesetzt werden dürfen.14 Dagegen spricht das folgende Beispiel: Bereits die dreizehnte Richtlinie 2004/25/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 21.4.2004, Übernahmeangebote betreffend15 wurde in Polen im Gesetz vom 29.7.2005, das öffentliche Angebot, die Bedingungen der Einführung von Finanzinstrumenten auf geregelten Märkten und die börsennotierten Gesellschaften betreffend,16 umgesetzt, obwohl sie Organisationsangelegenheiten einer börsennotierten Gesellschaft betrifft. Es muss auch festgestellt werden, dass die funktionelle Verbindung der Vorschriften über eine Verschmelzung von innerstaatlichen Gesellschaften mit den Vorschriften über die grenzüberschreitende Verschmel-

__________ 13 Gbl. Nr. 86 Pos. 525. 14 Siehe M. Romanowski, A. Opalski, Nowelizacja Kodeksu spó»ek handlowych w sprawie transgranicznego »a3czenia sie3, S. 5–9. 15 ABl. Nr. L 142 v. 30.4.2004, S. 12. 16 Gbl. Nr. 184, Pos. 1539.

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zung, die der Umsetzung der zehnten Richtlinie im KSH zugrunde lag, durch die Art. 516(1)–517(19) KSH nicht erreicht wurde. Als Beispiele dafür können die Regelungen der Art. 516(3) KSH (über den Verschmelzungsplan), Art. 516(4) KSH (über die Bekanntmachung des Verschmelzungsplans), Art. 516(4) KSH (über den schriftlichen Bericht des Vorstands der sich verschmelzenden Gesellschaft) sowie Art. 516(7) KSH (über die Informationsrechte der Gesellschafter der sich verschmelzenden Gesellschaften) dienen, die völlig autonom im Verhältnis zu ihnen Gegenstücken im Verschmelzungsrecht der innerstaatlichen Gesellschaften (vgl. Art. 499, 500, 501 und 505 KSH) sind. In der Tat sind diese Vorschriften besser für ein besonderes Gesetz geeignet als für eine Ergänzung der Regelung über innerstaatliche Verschmelzungen um die für die grenzüberschreitende Verschmelzung spezifischen Aspekte. Im Lichte von Art. 491 § 1(1) KSH wird der Begriff einer ausländischen Gesellschaft mit Hilfe eines Verweises direkt auf das europäische Recht, d. h. auf Art. 2 Pkt. 1 der zehnten Richtlinie geregelt, wobei diese Gesellschaft gemäß dem innerstaatlichen Recht eines EU-Mitgliedstaaten bzw. eines Staates, der Partei des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum ist, gegründet sein muss und ihren Satzungs-, Hauptverwaltungs- oder Hauptniederlassungssitz in der Gemeinschaft oder in einem Mitgliedstaat des Europäischen Wirtschaftsraums (d. h. auf Island, in Norwegen oder in Lichtenstein) zu haben hat. Es wird also gleichzeitig auf Elemente der Gründungs- und der Sitztheorie Bezug genommen. Art. 2 Pkt. 1 der zehnten Richtlinie regelt nicht selbstständig die Gesellschaftsformen eines anderen Rechtssystems, die sich an Verschmelzung mit einer nationalen Gesellschaft beteiligen können (in dem hier besprochenen Fall also mit der o. g. Gesellschaft polnischen Rechts). Diese Vorschrift verweist nämlich auf Art. 1 der Richtlinie 68/151/EWG, also auf die sog. Publizitätsrichtlinie.17 Die Letztere zählt in den nationalen Sprachen der EU-Mitgliedsstaaten die Rechtsformen auf, die im Lichte des polnischen Rechts einer sp. z o.o., einer S.A. und einer polnischen Kommanditgesellschaft auf Aktien ähnlich sind. Darüber hinaus regelt Art. 2 Pkt. 1 lit. b der zehnten Richtlinie, dass eine ausländische Gesellschaft, von der in Art. 491 § 1(1) KSH die Rede ist, eine Kapitalgesellschaft sein kann, die Rechtspersönlichkeit besitzt und über gesondertes Vermögen verfügt, das allein für die Verbindlichkeiten der Gesellschaft haftet, und die nach dem für sie maßgeblichen innerstaatlichen Recht Schutzbestimmungen im Sinne der oben erwähnten ersten Richtlinie im Interesse der Gesellschafter sowie Dritter einhalten muss. Art. 491 § 1(1) S. 2 KSH knüpft systematisch an Art. 491 § 1 in fine KSH an. Nach der letzteren Vorschrift darf sich eine Personenhandelsgesellschaft weder als eine übernehmende noch als eine neu gegründete Gesellschaft an einer Verschmelzung beteiligen. Somit kann eine polnische Kommanditgesellschaft auf Aktien, die an einer grenzüberschreitenden Verschmelzung teilnimmt,

__________ 17 Heute ist es Art. 1 der Richtlinie 2009/101/EG des Europäischen Parlaments und Rates v. 16.9.2009, ABl. Nr. L 268 v. 1.10.2009, S. 11.

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weder als übernehmender noch als neuer Rechtsträger in Erscheinung treten. Art. 491 § 1(1) KSH beantwortet aber nicht die Frage, ob die Verschmelzung einer Kapitalgesellschaft oder einer Kommanditgesellschaft auf Aktien des polnischen Rechts mit einer ausländischen zulässig sein wird, bei welcher als übernehmender oder neuer Rechtsträger eine Kommanditgesellschaft auf Aktien einer anderen Rechtsordnung erscheint, nach der es sich dabei eventuell um eine Kapitalgesellschaft handelt. Richtig ist die Stellungnahme, dass eine solche Verschmelzung zulässig ist. Dies ergibt sich daraus, dass sich Art. 491 § 1(1) S. 2 KSH in diesem Teil nur auf eine polnische Kommanditgesellschaft auf Aktien, nicht aber auf diejenige des ausländischen Rechts richten kann. 3. Die KSH-Novellen vom 5.12.2008 und vom 19.8.2011, die einer Liberalisierung der Vorschriften des Verschmelzungs- und Spaltungsverfahrens dienen Die in der Überschrift dieses Kapitels genannten KSH-Novellen dienten der Umsetzung der Vorschriften der europäischen Richtlinien in das polnische Recht. Mit der KSH-Novelle vom 5.12.2008,18 die am 28.2.2009 in Kraft getreten ist, und welche die neuen Art. 503(1), 532(1) und 516(6) § 3 KSH eingeführt hat, wurde die Richtlinie 2006/43/WE des Europäischen Parlaments und des Rates vom 17.5.200619 implementiert (diese Richtlinie hat wiederum die dritte Richtlinie betreffend die Verschmelzung von Aktiengesellschaften und die sechste Richtlinie betreffend die Spaltung von Aktiengesellschaften geändert – s. dazu oben, These 1). Die KSH-Novelle vom 19.8.2011,20 die am 27.10.2011 in Kraft getreten ist, hat eine Reihe von Vorschriften vor allem aus dem Bereich der Planungsphase im Verschmelzungsverfahren (sowohl im innerstaatlichen als auch im grenzüberschreitenden) und im Spaltungsverfahren wesentlich geändert. Diese Änderung hing zusammen mit der Einführung elektronischer Kommunikationsmittel und diente der Umsetzung der Richtlinie 2009/109/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16.9.200921 (diese Richtlinie änderte die dritte, sechste und zehnte Richtlinie). Da infolge der Änderungen in den Richtlinien die Novelle vom 19.8.2011 bereits die Vorschriften des KSH, die durch die Novelle vom 5.12.2008 eingeführt wurden, abgeändert hat („Novelle der Novelle“), kann hier auf die Besprechung der durch die Novelle vom 5.12.2008 eingeführten Vorschriften verzichtet werden. Sie besitzen nämlich nur noch eine historische Bedeutung. Hingegen wurden die weiterhin geltenden KSH-Änderungen, die sich aus der Novelle vom 19.8.2011 ergeben, in dem Sinne „symmetrisch“ durchgeführt, dass sie in systematischer Hinsicht gleiche oder ähnliche Lösungen sowohl bei der Verschmelzung von innerstaatlichen Gesellschaften und bei der grenzüberschreitenden Fusion wie auch bei der Spaltung eingeführt hat.

__________ 18 19 20 21

Gbl. 2009 Nr. 13 Pos. 69. ABl. Nr. L 157 v. 9.6.2006, S. 87. Gbl. Nr. 201 Pos. 1182. ABl. L 259 v. 2.10.2009, S. 14.

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Als Beispiel kann hier darauf hingewiesen werden, dass es nun keine Pflicht mehr gibt, den Verschmelzungs- oder Spaltungsplan in Monitor Sa3dowy i Gospodarczy (Gerichtsanzeiger) zu veröffentlichen, wenn diese Unterlagen für den Zeitraum von zumindest einem Monat vor der geplanten Gesellschafterversammlung ununterbrochen bis zur Beendigung der Versammlung auf der Internetseite der Gesellschaft zugänglich gemacht werden (Art. 500 § 2(1), 516(4) § 1 und 535 § 3 KSH). Unklar bleibt, ob eine solche Bekanntmachung auch dann wirksam ist, wenn es aus technischen Gründen Unterbrechungen in der Datenübertragung gab. Des Weiteren ist es nicht notwendig, den Verschmelzungs- und Spaltungsplan durch einen Sachverständigen prüfen zu lassen, der durch das Gericht bestellt wird. Verzichtet wurde auch auf die zwingende Erstellung des Vorstandsberichtes über die Verschmelzung bzw. Spaltung sowie auf die Pflicht des Vorstands über wesentliche Änderungen in Aktiva ihrer Gesellschaft Auskunft zu geben. Diese Erleichterungen gelten, wenn alle Gesellschafter der an der Verschmelzung oder Spaltung beteiligten Gesellschaft diesem zugestimmt haben (Art. 503(1) § 1 und 538(1) § 1 KSH). Am Rande ist anzumerken, dass bereits vorher das polnische Recht die Möglichkeit kannte, auf die Prüfung eines Verschmelzungsplans bei sog. „kleinen“ sp. z o.o. (nur natürliche Personen als Gesellschafter und in einer Zahl, die nicht zehn überschreitet, Art. 516 § 7 KSH) zu verzichten, ganz zu schweigen von den Erleichterungen bei einer Übernahme einer abhängigen Einmanngesellschaft oder einer solchen abhängigen Gesellschaft, bei der ein Gesellschafter mindestens 90 % der Anteile vertritt, durch die herrschende Gesellschaft (Art. 516 § 5–6 KSH). Schließlich ist es nicht notwendig, die mit der Verschmelzung (Spaltung) verbundenen Unterlagen in Räumlichkeiten der Gesellschaft den Gesellschaftern der an der Verschmelzung (Spaltung) teilnehmenden Gesellschaft zugänglich zu machen, wenn diese Unterlagen zu dem im KSH bestimmten Termin auf der Internetseite der Gesellschaft bekannt gegeben wurden (Art. 505 § 3(1), 540 § 3(1) KSH). Die oben beschriebenen Änderungen sind durchaus positiv zu beurteilen. Sie stellen aber nicht nur die Folge der Entstehung von elektronischen Kommunikationsmitteln dar. Eine Vereinfachung der Prüfung des Verschmelzungsund Spaltungsplans ist schon längst von der Praxis gefordert worden, die dieses Rechtsinstitut den „Engpass“ des Verschmelzungs- und Spaltungsverfahrens genannt hat. Kritisch ist dagegen aus Perspektive des polnischen Gesellschaftsrechts zu beurteilen, dass nun gemäß Art. 503(1) § 2 und 538(1) § 3 KSH die Vorschriften über die Prüfung der Sacheinlagen (Art. 311–312(1) KSH) entsprechend Anwendung finden, falls die Gesellschafter der sich verschmelzenden oder spaltenden Gesellschaften auf die Prüfung des Verschmelzungsplans bzw. des Spaltungsplans durch einen vom Gericht berufenen Sachverständigen, verzichtet haben. Dieser Verweis bedeutet eine völlig unbegründete Rückkehr zu einem Sacheinlagencharakter des Vermögens der übernommenen Gesellschaft, die ihr Vermögen in die übernehmende Gesellschaft einbringt und des Vermögens der sich teilenden Gesellschaft, das in die übernehmende oder neu gegründete Gesellschaft eingebracht wird. Dabei wurde bereits durch die polnische Doktrin und Rechtsprechung unter Geltung des Handelsgesetzbuches 1207

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von 1934 anerkannt, dass dieses Vermögen keine Sacheinlage bildet, und dies ist nun expressis verbis in Art. 497 § 2 und 532 § 1 KSH geregelt.22 4. Neue Umwandlungsformen in die Handelsgesellschaften nach dem Gesetz vom 25.3.2011 Das Gesetz vom 25.3.2011 über die Begrenzung der Verwaltungsbarrieren für Bürger und Unternehmer,23 das am 1.7.2011 in Kraft getreten ist, hat über hundert Gesetze aus verschiedenen Bereichen des Gesellschaftslebens geändert, die zu unterschiedenen Rechtsgebieten gehören und auch unterschiedliche Bedeutung für das Rechtsystem haben (Gesetze mit Gesetzbuchcharakter und Gesetze, die rechtstechnische Angelegenheiten betreffen). Zu den geänderten Gesetzen gehört auch das Gesetzbuch für Handelsgesellschaften und das Genossenschaftsgesetz vom 16.9.1982.24 In der Rechtsmaterie, die das Thema dieses Beitrages ist, hat das Gesetz vom 25.3.2011 zwei neue Umwandlungsformen eingeführt und zwar erstens die formwechselnde Umwandlung eines Einpersonenunternehmers in eine Kapitalgesellschaft (Art. 551 § 5 und 854(1)– 854(13) KSH) und zweitens den Formwechsel einer Produktionsgenossenschaft in eine Handelsgesellschaft (Art. 203e–203s des Genossenschaftsgesetzes).25 Bei den Novellen wurde in den beiden Gesetzen richtigerweise an die allgemeinen Vorschriften über die formwechselnde Umwandlung einer Handelsgesellschaft (Art. 551–570 KSH) angeknüpft, indem ein sog. Umwandlungsverfahren, unterteilt in drei Phasen, d. h. die Planungsphase, die Beschlussfassungsphase sowie die Eintragung- und Bekanntmachungsphase, geregelt worden ist. Somit kann angenommen werden, dass im polnischen Recht ein gemeinsames Grundmuster der Umwandlung einer Gesellschaft in eine andere Gesellschaft sowie einer „Nicht-Gesellschaft“ in eine Gesellschaft vorhanden ist. Allerdings erfolgte die Übernahme des Musters des Umwandlungsverfahrens aus dem KSH in manchen Fällen „schematisch“, d. h. ohne Rücksichtsnahme auf die rechtsformspezifischen und wirtschaftlichen Aspekte des sich umwandelnden Rechtsträgers, was offensichtlich zur Folge hat, dass diese Vorschriften in der Praxis überhaupt nicht durchgeführt werden können. Es geht dabei um Schaffung von Rechtsnormen, die keine Designate haben. So kann z. B. ein Verwalter des Einpersonenunternehmers, das in eine Kapitalgesellschaft umgewandelt wird, keine Haftung für ein Agieren tragen, das gegen den Gesellschaftsvertrag oder die Satzung verstößt (Art. 584(10) § 1 KSH). Ein solcher Vertrag (bzw. eine Satzung) ist nämlich hinsichtlich dieses Verwalters nicht vorhanden, zumal auch der Entwurf des Gesellschaftsvertrages der künftigen Gesellschaft keine Haftungsgrundlage darstellen kann. Eine solche Haftungsregelung

__________ 22 A. Szuman´ski in So»tysin´ski, Szajkowski, Szuman´ski, Szwaja, Kodeks spó»ek handlowych, Komentarz, Band 4, S. 310–313, Rz. 14–19. 23 Gbl. Nr. 106 Pos. 622. 24 Einheitlicher Text veröffentlicht im Gbl. v. 2003 Nr. 188 Pos. 1848 mit späteren Änderungen. 25 Siehe A. Szumañski, Nowe rodzaje przekszta»ceñ w spó»ki handlowe – uwagi systemowe, Monitor Prawa Handlowego 2011, Nr. 1, S. 2–14.

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Verschmelzung, Spaltung und Umwandlung einer Handelsgesellschaft in Polen

hinsichtlich eines Verwalters hat Sinn nur im Fall der Umwandlung einer Handelsgesellschaft in einen anderen Typ der Handelsgesellschaft (Art. 568 § 1 KSH). Die Umwandlung einer Genossenschaft wurde zu Recht in demjenigen Gesetz geregelt, das die Organisation des formwechselnden Rechtsträgers betrifft, im Genossenschaftsgesetz also. Aus systematischen Gründen ist dagegen nicht nachvollziehbar, warum sich nur Produktionsgenossenschaften in eine Handelsgesellschaft umwandeln können und nicht andere Arten von Genossenschaften (z. B. landwirtschaftliche Genossenschaften oder eine Wohnungsgenossenschaft), ganz zu schweigen ist hier von der Unschärfe des Begriffs „Arbeitsgenossenschaft“.26 Die Regelung der Umwandlung einer Produktionsgenossenschaft in eine Handelsgesellschaft (Art. 203e–Art. 203s Genossenschaftsgesetz) ist dazu durch schwerwiegende systematische Fehler gekennzeichnet. Erstens widerspricht diese Regelung dem Wesen des Kontinuitätsprinzips, indem es zulässt, dass sich an der Umwandlung auch Drittpersonen beteiligen können, also solche, die keine Mitglieder der formwechselnden Genossenschaft waren, durch die Umwandlung aber zu Gründern der umgewandelten Gesellschaft werden. Man kann durchaus den geschäftlichen Grund einer solchen Lösung verstehen, die darauf abzielt, den künftigen strategischen Investor, der für einen Kapitalzufluss beim umgewandelten Rechtsträger sorgen soll, bereits an der Umwandlung der Produktionsgenossenschaft mitwirken zu lassen. Dennoch widerspricht diese Lösung dem Wesen der Umwandlung, da es dadurch schwer zu konstruieren ist, dass es sich noch um eine Fortsetzung des umzuwandelnden Rechtsträgers handelt. Ein anderes Thema ist die eindeutige Annahme eines Sacheinlagencharakters bezüglich des Vermögens einer Genossenschaft, die in eine Handelsgesellschaft umgewandelt wird (Art. 203s § 1–2 Genossenschaftsgesetz). Abgesehen davon, dass dies ebenfalls dem Wesen einer Umwandlung widerspricht und mit dem Kontinuitätsprinzip unvereinbar ist, hat es darüber hinaus auch zur Folge, dass bei der Umwandlung einer Produktionsgenossenschaft in eine Aktiengesellschaft die Veräußerung der Aktien der umgewandelten Gesellschaft gemäß Art. 336 § 1 KSH blockiert wird. Diese Rechtsfolge wird sicherlich von den an einer Umwandlung Beteiligten wirtschaftlich nicht gewünscht. Die letzte wichtige systematische Frage betrifft die Auszahlung des Betrages an die an der Umwandlung nicht teilnehmenden Genossen. Diese Auszahlung erfolgt nicht nach dem Markt-, sondern nach dem Bilanzwert (Art. 203w § 1 Genossenschaftsgesetz). Falls die Gesellschaft über ein wertvolles Vermögen verfügt (z. B. ein Stadtgrundstück in bevorzugter Lage), verletzt diese Lösung nicht nur die Interessen der Genossen, sondern auch das Wesen des Eigentumsrechts. Art. 3 des Genossenschaftsgesetzes bestimmt dabei eindeutig, dass „das Genossenschaftsvermögen das Privateigentum ihrer Mitglieder ist“. Die Genossenschaftskreise, die im Krajowa Rada Spó»dzielcza (Genossenschaftlicher Landesrat) verbunden sind, haben bereits angekündigt, dass sie gegen diese

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26 Die polnische Bezeichnung für die Produktionsgenossenschaften lautet „spó»dzielnia pracy“. Wörtlich übersetzt heißt dies eigentlich „Arbeitsgenossenschaft“.

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Lösung eine Verfassungsklage beim Verfassungsgerichtshof einreichen werden, da ihrer Meinung nach Art. 203w § 1 des Genossenschaftsgesetzes gegen Art. 22 Abs. 1 der polnischen Verfassung (Schutz des Eigentumsrechts) verstößt. Dagegen ist die Einschränkung, dass ein Einmannunternehmen sich nur in eine Kapitalgesellschaft umwandeln kann, völlig begründet. Ein solcher Unternehmer entscheidet sich nämlich für eine Umwandlung ausschließlich aus zwei Gründen: um die mit der Führung einer Wirtschaftsaktivität verbundene persönliche Haftung zu begrenzen und um die rechtliche Kontinuität seiner Tätigkeit zu gewährleisten, also seine Firma, Verträge, Konzessionen usw. beizubehalten. Diese Möglichkeit bietet nur eine Kapitalgesellschaft, dagegen garantieren eine Kommanditgesellschaft und eine Kommanditgesellschaft auf Aktien zwar auch eine begrenzte Haftung der passiven Gesellschafter, sie können aber keine Einmanngesellschaften sein. Klärungshalber sei hier in Erinnerung gerufen, dass eine Kommanditgesellschaft auf Aktien im polnischen Recht eine Personenhandelsgesellschaft ist (Art. 1 § 2 KSH). Eine Regelung der Umwandlung eines Einmannunternehmers in eine Kapitalgesellschaft ist für den Gesetzgeber bedeutend einfacher zu gestalten gewesen als die Umwandlung einer Genossenschaft in eine Handelsgesellschaft. Es gibt dann nämlich keine Mitglieder, die einer Umwandlung widersprechen könnten, aus diesem Grund eine Erklärung über die Teilnahme in der umgewandelten Gesellschaft abgeben müssten und eventuell einen Anspruch auf Auszahlung eines Äquivalents für ihre Anteilsrechte hätten. Dagegen gibt es bei der Umwandlung eines Einmannunternehmens die Frage nach der Haftung der Person, die aus einer unbegrenzten Haftung für die Verbindlichkeiten des Unternehmens in eine begrenzte Haftung übergeht. Art. 584(13) KSH übernimmt zutreffend die Lösung von Art. 574 KSH und regelt, dass diese Person gesamtschuldnerisch mit der umgewandelten Gesellschaft für die Verbindlichkeiten des umzuwandelnden Einzelunternehmens haftet, die bei der Führung des Unternehmens vor dem Umwandlungstag entstanden sind, und zwar für drei Jahre ab dem Umwandlungstag. Die gleiche Lösung gibt es bei Übernahme einer Personenhandelsgesellschaft durch eine Kapitalgesellschaft (Art. 525 § 1 KSH). Aus systematischer Sicht ist dagegen fraglich, ob es richtig gewesen ist, die Umwandlung des Einzelunternehmens in eine Kapitalgesellschaft im Gesetzbuch für Handelsgesellschaften (Art. 584(1)–584(13) KSH), also in demjenigen Regelungswerk zu treffen, das den umgewandelten Rechtsträger regelt. Eine andere Lösung wäre es gewesen, diese Umwandlung im Gesetz vom 2.7.2004 über die Freiheit der Wirtschaftstätigkeit27 zu regeln. Dem Gesetzgeber waren diese Zweifel bewusst. Daher hat er gleichzeitig beide Gesetze geändert und neben Art. 551 § 5 KSH eine Regelung im Gesetz über die Freiheit der Wirtschaftstätigkeit eingeführt (Art. 13a), aus dem sich ebenfalls die rechtliche Zulässigkeit dieser Umwandlungsform ergibt. Die Regelung in Art. 584(1)–584(13) KSH ist nicht frei von „Pannen“, also von solchen Vorschriften, die in der Praxis nicht eingehalten werden können. Als Beispiel ist die Regelung zu nennen, nach welcher die Löschung des Einzelunternehmers gleichzeitig mit Eintra-

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27 Einheitlicher Text im Gbl. v. 2010 Nr. 220 Pos. 1447 mit späteren Änderungen.

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Verschmelzung, Spaltung und Umwandlung einer Handelsgesellschaft in Polen

gung der umgewandelten Gesellschaft zu erfolgen hat (Art. 584(1) § 1 KSH). Hiermit wird an Art. 552 KSH angeknüpft. Allerdings wäre eine solche Lösung nur bei einer Umwandlung einer Handelsgesellschaft in eine andere Handelsgesellschaft durchführbar, da die Handelsgesellschaften in das gleiche Register eingetragen werden (das Landesgerichtsregister). In dem hier geschilderten Fall aber ist ein Einzelunternehmer im Centralna Ewidencja i Informacja o Dzia»alnos´ci Gospodarczej, also in einem Register, das durch das Wirtschaftsministerium geführt wird, zu registrieren, während das Unternehmerregister (KRS) durch die Amtsgerichte (Registergerichte) geführt wird. Somit ist eine gleichzeitige Eintragung der Umwandlung und Löschung des umgewandelten Rechtsträgers praktisch unmöglich. 5. Schlussfolgerungen Die KSH-Novellen, insb. die seit dem Jahre 2008 ergangenen, haben die polnische Regelung der Verschmelzung, Spaltung und formwechselnden Umwandlung von Handelsgesellschaften wesentlich geändert. Abgesehen von der Einführung völlig neuer Rechtsinstitute, wie der grenzüberschreitenden Verschmelzung (Art. 491 § 1(1) und 516(1)–516(19) KSH), der Umwandlung eines Einzelunternehmens in eine Kapitalgesellschaft (Art. 551 § 5 und 584(1)–584(13) KSH) sowie die Umwandlung einer Produktionsgenossenschaft in eine Handelsgesellschaft (Art. 203e–203s des Genossenschaftsgesetzes), führen diese Novellen allerdings nicht zu einer Systemänderung der Verschmelzung, Spaltung und Umwandlung von Gesellschaften, sondern ergänzen bzw. präzisieren entweder die bisherigen Regelungen oder liberalisieren die in ihnen erhaltenen rechtlichen Lösungen. Ein großer Teil dieser Änderungen im Bereich des Verschmelzungs- oder Spaltungsrechts ist auf eine richtliniengestützte Rechtsangleichung zurückzuführen. Dazu gehört insb. die grenzüberschreitende Verschmelzung. Zudem stellen die Änderungen hinsichtlich der Umwandlung einer Zivilgesellschaft in eine Handelsgesellschaft (Art. 26 § 4–6 und 551 § 2–3 KSH) sowie die oben besprochene Umwandlung eines Einzelunternehmens in eine Kapitalgesellschaft und die Umwandlung einer Produktionsgenossenschaft in eine Handelsgesellschaft eine Antwort auf die Erwartungen der polnischen Unternehmer dar. Obwohl diese Erwartungen durchaus verständlich sind, muss eine Beunruhigung geäußert werden über das sinkende inhaltliche Niveau dieser Regelungen, über die Systemfehler, welche das polnische Gesellschaftsrecht verschlechtern, sowie über die legislatorischen Fehler, welche das Modell des sogenannten rationellen Gesetzgebers, das bei Rechtsauslegung gebraucht wird, in Verruf bringen und zwar durch Schaffung von undurchführbaren Rechtsnormen.

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Gesellschaften und natürliche Personen im Recht der europäischen Niederlassungsfreiheit Inhaltsübersicht I. Einführung II. Anwendungsbereich der Niederlassungsfreiheit 1. Grenzüberschreitende Niederlassung a) Problematik der Briefkastengesellschaften b) Feststellung des grenzüberschreitenden Bezugs (natürliche Personen) c) Feststellung des grenzüberschreitenden Bezugs (Gesellschaften) d) Parallel strukturierter Prüfungsaufbau 2. Zugehörigkeit zu einem EU-Mitgliedstaat: Staatsangehörigkeit oder Gründung a) Rätselhaftes aus „Cartesio“ b) Grundsatz: Zuständigkeit der Mitgliedstaaten c) Einschränkung der mitgliedstaatlichen Kompetenz durch das Unionsrecht

3. Niederlassung in einem anderen Mitgliedstaat a) Grundbegriff: Geschäftstätigkeit im Aufnahmestaat b) Natürliche Personen c) Gesellschaften III. Beschränkung der Niederlassungsfreiheit 1. Verständnis der Niederlassungsfreiheit als Beschränkungsverbot 2. Kein Erfordernis eines tatsächlichen Bezuges zum Herkunftsstaat a) Natürliche Personen b) Gesellschaften 3. Mittelbare Beschränkung durch Behinderung nahestehender Personen a) Natürliche Personen b) Gesellschaften 4. Beschränkungen durch den Herkunftsstaat a) Natürliche Personen b) Gesellschaften IV. Zusammenfassung in Thesen

I. Einführung Die rechtliche Handlungsfähigkeit von Körperschaften ist ein Phänomen, das der deutschen Rechtswissenschaft seit Jahrhunderten Kopfzerbrechen bereitet. Ob Körperschaften eher Ausdruck der „sozialen Schöpfungskraft des Menschen“1 (Otto von Gierke) oder aber rein „künstliche, durch bloße Fiction angenommene Gebilde“2 (Friedrich Carl von Savigny) sind – diese Frage holt uns im europäischen Binnenmarkt wieder ein. Denn Art. 54 AEUV statuiert die Niederlassungsfreiheit von Gesellschaften durch einen anachronistisch wirkenden Kunstgriff: Für die Anwendung des Kapitels über die Niederlassungsfreiheit stehen die Gesellschaften den natürlichen Personen gleich. Da jedermann

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1 von Gierke, Deutsches Privatrecht I, 1895, S. 483. 2 Savigny, System des heutigen römischen Rechts, Bd. 2, 1840, S. 236.

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weiß, dass eine Gesellschaft gänzlich anders agiert als eine natürliche Person, bietet die rechtlich angeordnete Gleichstellung keine Lösung, sondern umschreibt nur das Problem. Die Niederlassungsfreiheit soll sinngemäß auf Gesellschaften übertragen werden, wie das genau zu geschehen hat, bleibt Wissenschaft und Rechtsprechung überlassen. Will man den Kerngehalt der Niederlassungsfreiheit erfassen, so findet man dazu in den Schriften von Peter Hommelhoff die eingängige Formel, im vereinigten Europa sollten sich „Handel und Wandel zwischen Mailand und Mannheim nicht anders vollziehen als zwischen Heidelberg und Hamburg“.3 Und eben dies soll nach Vorstellung der Hohen Vertragsparteien des AEUV für natürliche Personen und Gesellschaften gleichermaßen gelten. Dementsprechend arbeitet auch die Rechtswissenschaft unablässig mit Analogien zur natürlichen Person. Gesellschaften „ziehen um“4, werden an der Grenze „erschlagen“5 und sind – wie manche Autoren meinen – sogar einer europäischen „Geschöpftheorie“6 unterworfen. Diese sprachliche Anlehnung an die natürliche Person ist keineswegs neu. Schließlich stellten schon die Verfasser des BGB fest, die Personifizierung von Vermögensmassen entspreche der „Vorstellungsweise des Lebens“ und diene zugleich der „Technik des Rechts“.7 Und so ist die in Art. 54 AEUV angeordneten Gleichstellung von Gesellschaften und natürlichen Personen möglicherweise gar kein rechtsdogmatischer „Betriebsunfall“, sondern eine sinnvolle Parallele, die sich dogmatisch fruchtbar machen lässt. Bislang allerdings hat man im Gesellschaftsrecht nur in Ansätzen erkannt, dass die Judikatur zur Niederlassungsfreiheit von natürlichen Personen und Gesellschaften als systematische Einheit zu betrachten ist. Welches Potenzial diese Betrachtung enthält, sollen die nachfolgenden Ausführungen verdeutlichen. Dem Jubilar, der dem Autor dereinst das Tor zu diesem faszinierenden Rechtsgebiet aufgestoßen hat, sei damit für die langjährige Förderung im Rahmen der „letzten Knechtschaft des modernen Zeitalters“ ebenso wie für die nach geglückter „Menschwerdung“ höchst ergiebige kollegiale Zusammenarbeit herzlichst gedankt.8

__________ 3 Hommelhoff, WM 1997, 2101. 4 Zur Unterscheidung von „Zuzug“ und „Wegzug“ etwa: Lutter/Bayer/J. Schmidt, Europäisches Unternehmens- und Kapitalmarktrecht, 5. Aufl. 2012, § 6 Rz. 46 ff. (S. 92 ff.), Teichmann, Binnenmarktkonformes Gesellschaftsrecht, 2006, S. 168 ff. Grundsätzliche Kritik an der Differenzierung üben Hennrichs/Pöschke/von der Laage/ Kl3avin3a, WM 2009, 2009 ff. 5 Knobbe-Keuk, ZHR 154 (1990), 325, 335. 6 Zu diesem Begriff vgl. nur Frenzel, EWS 2009, 158, 160 sowie Lutter/Bayer/J. Schmidt (Fn. 4), § 6 Rz. 16 (S. 75), m. w. N. 7 Vgl. Mugdan, Die gesammelten Materialien zum Bürgerlichen Gesetzbuch, Bd. 1, 1899, Motive zum Allgemeinen Theile, S. 395. 8 Mit den genannten Zitaten eröffnete der Jubilar seinerzeit dem Verfasser zum Beginn des Habilitationsverhältnisses dessen Charakter und Wesen in aller wünschenswerten Klarheit. Unausgesprochen, weil für den Jubilar völlig selbstverständlich, blieb der unschätzbar wichtigere Aspekt der Fürsorge und Förderung, die dem Habilitanden über die Jahre zuteilwurden.

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Niederlassungsfreiheit von Gesellschaften und natürlichen Personen

II. Anwendungsbereich der Niederlassungsfreiheit Die Unsicherheiten bei der Anwendung der Niederlassungsfreiheit auf Gesellschaften beginnen schon mit der Feststellung des grenzüberschreitenden Sachverhaltes. Es geht dabei vor allem um die sogenannten Briefkastengesellschaften, bei denen das grenzüberschreitende Element zweifelhaft erscheint. Typischerweise wollen in diesen Fällen Inländer in ihrem Heimatstaat eine Geschäftstätigkeit ausüben und sich dafür der Rechtsordnung eines anderen Staates bedienen, in dem sie keinerlei Tätigkeit entfalten. Das wirft die Frage auf, worin bei der Niederlassungsfreiheit das grenzüberschreitende Element besteht (unter 1.) und auf welche Weise dabei die Regelungsautonomie der Mitgliedstaaten und das Unionsrecht miteinander verwoben sind (unter 2.). 1. Grenzüberschreitende Niederlassung a) Problematik der Briefkastengesellschaften Auf rein innerstaatliche Sachverhalte sind die europäischen Grundfreiheiten nach vorherrschender Auffassung nicht anwendbar.9 Folglich setzt die Subsumtion eines Sachverhaltes unter die Niederlassungsfreiheit voraus, dass ein grenzüberschreitender Sachverhalt vorliegt. Bei einer im Ausland gegründeten Briefkastengesellschaft erscheint der Auslandsbezug zweifelhaft.10 Dem hat der Europäische Gerichtshof in der Centros-Entscheidung allerdings entgegen gehalten, dass hier eine nach dem Recht eines Mitgliedstaats gegründete Gesellschaft eine Zweigniederlassung in einem anderen Mitgliedstaat gründen wolle und daher die Niederlassungsfreiheit anwendbar sei.11 Das sorgte seinerzeit für große Überraschung.12 Bis heute wird dem EuGH vorgehalten, er betreibe mit dieser Rechtsprechungslinie keine Rechtsanwendung, ja nicht einmal zulässige Rechtsfortbildung mehr, sondern „Zensur des nationalen Gesellschaftsrechts aus marktliberaler Perspektive“.13 b) Feststellung des grenzüberschreitenden Bezugs (natürliche Personen) Der Vergleich mit der Niederlassungsfreiheit von natürlichen Personen offenbart indessen, dass der Gerichtshof mit Centros konsequent der vom AEUV

__________ 9 S. nur Forsthoff in Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der EU, 46. Erg. 2011, Art. 45 Rz. 54, m. w. N.; den Streitstand zusammenfassend und für moderate Erweiterung auf alle Fälle mit Binnenmarktbezug plädierend Papadileris, JuS 2011, 123 ff. 10 Exemplarisch das Vorbringen der dänischen Regierung im Fall Centros, es handele sich um eine „rein interne dänische Situation“ (EuGH – Rs. C-212/97 [Centros], Slg. 1999, I-1459, Tz. 16). In diesem Sinne auch Roth, Vorgaben der Niederlassungsfreiheit für das Kapitalgesellschaftsrecht, 2010, S. 48, mit der Forderung, es müsse ein realer wirtschaftlicher Bezug zum Registerstaat bestehen. 11 EuGH – Rs. C-212/97 (Centros), Slg. 1999, I-1459, Tz. 17. 12 S. nur die Nachweise zur Diskussion bei Lutter/Bayer/J. Schmidt (Fn. 4), § 6 Rz. 19 ff. (S. 76 ff.). 13 Roth (Fn. 10), S. 29.

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angeordneten Parallelität der beiden Grundfreiheitenträger (natürliche Personen und Gesellschaften) folgt. Bei natürlichen Personen ist der Anwendungsbereich der Niederlassungsfreiheit eröffnet, wenn sich der Staatsangehörige eines EU-Mitgliedstaats in einem anderen EU-Mitgliedstaat niederlassen will (Art. 49 AEUV). Die Grenzüberschreitung ergibt sich folglich aus der Kombination einer Rechtsfrage mit einer Tatsachenfrage: Die Staatsangehörigkeit ist rechtlich festgelegt, während die Niederlassung ein faktischer Vorgang ist. Nicht gefordert ist, dass ein Mensch real eine Grenze überschreitet. Es kann sich theoretisch auch eine Person auf die Niederlassungsfreiheit berufen, die ihr Geburtsland niemals verlassen hat. So etwa wenn deutsche Eltern in Spanien ein Kind bekommen, das dann dort aufwächst. Es hat kraft Abstammung die deutsche Staatsangehörigkeit und kann sich, wenn es in Spanien eine Erwerbstätigkeit aufnehmen will, gegenüber spanischen Behörden auf die europäische Niederlassungsfreiheit berufen.14 c) Feststellung des grenzüberschreitenden Bezugs (Gesellschaften) Ebenso ist bei der Niederlassungsfreiheit von Gesellschaften eine Rechtsfrage mit einer Tatsachenfrage zu verbinden. Die Staatsangehörigkeit der natürlichen Person wird hier funktional ersetzt durch die Gründung nach der Rechtsordnung eines bestimmten Staates. Art. 54 AEUV stellt diejenigen Gesellschaften den natürlichen Personen gleich, die „nach den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats“ gegründet worden sind und ihren satzungsmäßigen Sitz, ihre Hauptverwaltung oder ihre Hauptniederlassung im Gebiet der Europäischen Union haben. Die Gründung bestimmt also bei einer Gesellschaft ihre „Zugehörigkeit zur Rechtsordnung eines Mitgliedstaats“ – und zwar „ebenso wie die Staatsangehörigkeit bei natürlichen Personen“.15 Der Gerichtshof zieht hier, auf Basis einer systematischen Verknüpfung von Art. 49 und Art. 54 AEUV, ganz bewusst die Parallele zwischen der natürlichen Person und der Gesellschaft. Er kommt damit der Aufforderung des AEUV nach, die Gesellschaften im Bereich der Niederlassungsfreiheit den natürlichen Personen gleichzustellen.

__________ 14 Nach § 4 Abs. 1 Satz 1 Staatsangehörigkeitsgesetz erwirbt das Kind die deutsche Staatsangehörigkeit mit der Geburt, wenn ein Elternteil die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt. Auch das spanische Recht folgt dem Abstammungsprinzip. Die Geburt in Spanien führt allenfalls dann zum Erwerb der spanischen Staatsangehörigkeit, wenn ein Elternteil ebenfalls in Spanien geboren ist oder wenn die Eltern staatenlos oder unbekannt sind (vgl. Daum in Bergmann/Ferid, Internationales Ehe- und Kindschaftsrecht, 182. Lieferung, 28.12.2008, Länderbericht Spanien, S. 6). 15 St. Rspr.: EuGH – Rs. 79/85 (Segers), Slg. 1982, 2382, Tz. 13; EuGH – Rs. C-212/97 (Centros), Slg. 1999, I-1459, Tz. 20; EuGH – Rs. C-208/00 (Überseering), Slg. 2002, I-9919, Tz. 57.

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d) Parallel strukturierter Prüfungsaufbau Die Parallele von natürlichen Personen und Gesellschaften bedingt somit für Art. 49 und Art. 54 AEUV eine strukturell vergleichbare, zweistufige Prüfung des Anwendungsbereichs der Niederlassungsfreiheit. Zu prüfen ist: 1. Die rechtliche Zugehörigkeit der natürlichen Person oder Gesellschaft zu einem bestimmten Mitgliedstaat der Europäischen Union. Sie ergibt sich bei natürlichen Personen aus der Staatsangehörigkeit, bei Gesellschaften aus der Gründung nach dem Recht eines bestimmten Mitgliedstaats. 2. Die tatsächliche Niederlassung in einem anderen EU-Mitgliedstaat als demjenigen, dem die natürliche Person oder Gesellschaft rechtlich angehört – womit zugleich der grenzüberschreitende Charakter der Niederlassung feststeht. In Centros stellt der EuGH die Zugehörigkeit der Gesellschaft zum englischen Recht fest (erster Schritt) und konstatiert sodann den – von den lokalen Behörden behinderten – Versuch einer realen Niederlassung in Dänemark (zweiter Schritt). Aus der Tatsache, dass die geplante Niederlassung in einem anderen Staat als demjenigen liegt, dem die Gesellschaft rechtlich zugehörig ist, ergibt sich: Der Anwendungsbereich der Niederlassungsfreiheit ist eröffnet. 2. Zugehörigkeit zu einem EU-Mitgliedstaat: Staatsangehörigkeit oder Gründung a) Rätselhaftes aus „Cartesio“ Die Bestimmung der rechtlichen Zugehörigkeit zu einem bestimmten Mitgliedstaat ist, wie unter II.1.d. gezeigt, der erste Prüfungsschritt bei Anwendung der Niederlassungsfreiheit. Rätselhaft erscheint allerdings die Feststellung der Cartesio-Entscheidung, wonach die Anwendbarkeit der Niederlassungsfreiheit einerseits eine „Vorfrage“16 sein soll, die nur nach dem geltenden nationalen Recht beantwortet werden könne, dies aber „keinesfalls irgendeine Immunität“17 des nationalen Rechts gegenüber der Niederlassungsfreiheit impliziere. Man ist geneigt, darin einen Zirkelschluss zu sehen, der ungeklärt lässt, welche Rechtsfrage nun der anderen vor- oder nachgelagert sei. Indessen gewinnt auch dieser Aspekt der Rechtsprechung an Konsistenz, wenn man die Parallele zur natürlichen Person bedenkt. Denn ebenso wie das Gründungsrecht von Gesellschaften ist das Staatsangehörigkeitenrecht für natürliche Personen eine Domäne der Mitgliedstaaten, innerhalb derer sie ungeachtet dessen den allgemeinen Bindungen des allgemeinen Unionsrechts unterworfen bleiben.

__________ 16 EuGH – Rs. C-210/06 (Cartesio), Slg. 2008, I-9641, Tz. 109. 17 EuGH – Rs. C-210/06 (Cartesio), Slg. 2008, I-9641, Tz. 112.

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b) Grundsatz: Zuständigkeit der Mitgliedstaaten aa) Natürliche Personen Eine natürliche Person, die sich auf die Niederlassungsfreiheit berufen will, muss die Staatsangehörigkeit eines EU-Mitgliedstaats18 besitzen.19 Die Frage, welchem Mitgliedstaat sie angehört, richtet sich nach dem innerstaatlichen Recht des betreffenden Mitgliedstaates. Dieses Verständnis haben die europäischen Mitgliedstaaten in einer gemeinsamen Erklärung aus dem Jahre 1992 zum Ausdruck gebracht.20 Der Gerichtshof stimmt dem zu: Die Festlegung der Voraussetzungen für den Erwerb und den Verlust der Staatsangehörigkeit fällt in die Zuständigkeit der einzelnen Mitgliedstaaten.21 bb) Gesellschaften (1) Gründung nach dem Recht eines Mitgliedstaats Gesellschaften haben zwar keine Staatsangehörigkeit. Der AEUV überwindet diese Schwierigkeit aber, indem er in Art. 54 diejenigen Gesellschaften anspricht, die nach den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats gegründet wurden und ihren satzungsmäßigen Sitz, ihre Hauptverwaltung oder ihre Hauptniederlassung innerhalb der Europäischen Union haben. Der Gerichtshof zieht daraus für Gesellschaften den Schluss, dass „ihr satzungsmäßiger Sitz, ihre Hauptverwaltung oder ihre Hauptniederlassung, ebenso wie die Staatsangehörigkeit bei natürlichen Personen, dazu dient, ihre Zugehörigkeit zur Rechtsordnung eines Mitgliedstaats zu bestimmen“.22 Beim gegenwärtigen Stand des Unionsrechts muss diese Vorfrage, also die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Rechtsordnung, nach nationalem Recht beantwortet werden.23 Ein Mitgliedstaat kann dabei die Anknüpfung bestimmen, die eine Gesellschaft aufweisen muss, um seiner eigenen Rechtsordnung anzugehören; ebenso kann er die Anknüpfung bestimmen, von der die Aufrechterhaltung dieser Verbindung abhängt.24 Wie bei der Staatsangehörigkeit von Menschen liegt es somit auch bei Gesellschaften in der Kompetenz der Mitgliedstaaten, über die Zugehörigkeit einer Gesellschaft zu ihrer eigenen Rechtsordnung zu entscheiden. Erst nach Klärung dieser Vorfrage kann überhaupt sinnvoll untersucht werden, ob ein grenzüber-

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18 Oder eines Staates aus dem Europäischen Wirtschaftsraum (vgl. Art. 31 und Art. 34 des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum, ABl. EG 1994 Nr. L 1/3). 19 Dasselbe Kriterium gilt für die Arbeitnehmerfreizügigkeit, die zusammen mit der Niederlassungsfreiheit ein geschlossenes Konzept der Freizügigkeit von Personen bildet. Vgl. dazu Forsthoff (Fn. 9), Art. 49 Rz. 2 ff. sowie Troberg/Tiedje in von der Groeben/Schwarze, Kommentar zum EU-/EG-Vertrag, 6. Aufl. 2003, vor Art. 43 bis 48, Rz. 1 ff. 20 ABl. C 191 v. 29.7.1992, S. 98. 21 EuGH – Rs. C-369/90 (Micheletti), Slg. 1992, I-4258, Tz. 10; EuGH – Rs. C-135/08 (Rottmann), Slg. 2010, I-1449, Tz. 39. 22 Vgl. oben Fn. 15 (Hervorhebung durch Verf.). 23 EuGH – Rs. C-210/06 (Cartesio), Slg. 2008, I-9641, Tz. 109. 24 Vgl. EuGH – Rs. C-210/06 (Cartesio), Slg. 2008, I-9641, Tz. 110.

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schreitender Sachverhalt vorliegt. Denn die Grenzüberschreitung folgt erst daraus, dass die Gesellschaft in einem anderen Mitgliedstaat eine Niederlassung errichtet als demjenigen, dem sie rechtlich angehört. (2) Rechtsdogmatische Bewertung Teile der Literatur sehen diese vom EuGH gezogene Parallele zur Verleihung der Staatsangehörigkeit an natürliche Personen kritisch.25 Sie entspricht aber der Systematik des AEUV. Der EuGH konkretisiert hier das primärrechtliche Postulat der Gleichstellung von natürlichen Personen und Gesellschaften. Systematisch überzeugend ermittelt er aus der Zusammenschau von Art. 49 und Art. 54 AEUV die unter II.1.d. beschriebene parallele Prüfungsstruktur. Die Gründung der Gesellschaft nach den Vorschriften eines Mitgliedstaats ist das funktionale Äquivalent zur Staatsangehörigkeit von natürlichen Personen; nur so kann die Gesellschaft einem bestimmten EU-Mitgliedstaat zugeordnet werden. Ohne diese Zuordnung ließe sich der innerstaatliche nicht sinnvoll vom grenzüberschreitenden Sachverhalt unterscheiden. Weniger überzeugend ist allerdings die Auffassung des EuGH, Satzungssitz, Hauptverwaltung oder Hauptniederlassung seien bereits kraft europäischen Rechts die Anknüpfungspunkte für eine bestimmte nationale Rechtsordnung.26 In Art. 54 AEUV kommt es allein darauf an, dass einer dieser Anknüpfungspunkte irgendwo im Gebiet der Europäischen Union liegt.27 Das parallele Kriterium für natürliche Personen ist die Ansässigkeit im Gebiet der Union; damit werden Akteure aus Drittstaaten vom Anwendungsbereich der Grundfreiheit ausgeschlossen.28 Die Zugehörigkeit einer in der Union ansässigen Gesellschaft zu einem konkreten EU-Mitgliedstaat bestimmt Art. 54 AEUV demgegenüber allein anhand der Gründung nach den Rechtsvorschriften eben dieses Mitgliedstaats.29 Es ist eine Frage des nationalen Gründungsrechts, ob es für eine wirksame Gründung verlangt, dass der satzungsmäßige Sitz, die Hauptverwaltung oder die Hauptniederlassung im Gründungsstaat liegt. (3) Internationales Gesellschaftsrecht Die grundsätzlich bestehende Regelungsautonomie der Mitgliedstaaten erfasst auch das Internationale Gesellschaftsrecht, das bekanntlich nationales Recht ist. Wenn jeder Staat die Autonomie hat, die Zugehörigkeit einer Gesellschaft zu seiner eigenen Rechtsordnung festzulegen, kann er auch bestimmen, dass eine Gesellschaft nicht zu seiner Rechtsordnung gehört. So stand Deutschland

__________ 25 Bayer/J. Schmidt, ZHR 173 (2009), 735, 743; Lutter/Bayer/J. Schmidt (Fn. 4), § 6 Rz. 42 (S. 90); Paefgen, WM 2009, 529, 533 f.; Sethe/Winzer, WM 2009, 536, 538; Leible/Hoffmann, BB 2009, 58, 59 f.; Zimmer/Naendrup, NJW 2009, 545, 546. 26 EuGH – Rs. C-210/06 (Cartesio), Slg. 2008, I-9641, Tz. 105/106. 27 In diesem Sinne bereits: Korom/Metzinger, ECFR 2009, 125, 150; Teichmann, ZIP 2009, 393, 399 f. 28 Näher dazu Teichmann, ZGR 40 (2011), 639, 665. 29 Korom/Metzinger, ECFR 2009, 125, 150; Teichmann, ZIP 2009, 393, 399.

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im Fall Überseering völlig legitim auf dem Standpunkt, dass diese Gesellschaft mangels einer Eintragung in Deutschland keine deutsche (Kapital-)Gesellschaft sein könne.30 Die Kompetenz eines Mitgliedstaats geht allerdings nicht soweit, über die Zugehörigkeit der Gesellschaft zu anderen Mitgliedstaaten zu befinden. Ein anderer Mitgliedstaat kann durchaus auf Basis seiner Rechtsvorschriften zu dem Ergebnis kommen, dass es sich um eine ihm zugehörige Gesellschaft handelt. So war Überseering BV aus Sicht der Niederlande weiterhin eine Gesellschaft niederländischen Rechts.31 Wenn diese Gesellschaft in Deutschland eine Niederlassung errichtet, ist der Anwendungsbereich der Grundfreiheiten eröffnet, weil sich die einem Mitgliedstaat rechtlich zugeordnete Gesellschaft in einem anderen Mitgliedstaat niederlässt.32 c) Einschränkung der mitgliedstaatlichen Kompetenz durch das Unionsrecht Wenn die Mitgliedstaaten grundsätzlich für die Staatsangehörigkeit von natürlichen Personen und für die Gründung von Gesellschaften zuständig sind, muss die in Cartesio verwandte Formel erstaunen, wonach „keinesfalls irgendeine Immunität des nationalen Rechts“33 im Hinblick auf die Vorschriften über die Niederlassungsfreiheit bestehe. Auch hierzu gibt es aber eine aufschlussreiche Parallele in der Rechtsprechung zu natürlichen Personen: den Fall Rottmann. aa) Natürliche Personen: Entzug und Verleihung der Staatsangehörigkeit In der Rechtssache Rottmann wollte Deutschland einem früheren Österreicher die deutsche Staatsangehörigkeit wieder entziehen, nachdem sich herausgestellt hatte, dass er bei der Einbürgerung in Deutschland ein in Österreich laufendes Ermittlungsverfahren verschwiegen hatte.34 Die Rücknahme der deutschen Staatsangehörigkeit hätte den Betroffenen der Staatenlosigkeit preisgegeben, da eine Wiedereinbürgerung in Österreich keineswegs gesichert war. Wer staatenlos ist, verliert naturgemäß all diejenigen Rechte, die der AEUV einem Unionsbürger zubilligt. Da somit die vom Unionsrecht verliehenen und geschützten Rechte berührt waren, handelte es sich nach Auffassung des EuGH nicht mehr um eine rein nationale Angelegenheit. Er stellte vielmehr fest: Die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten für ein bestimmtes Rechtsgebiet ändere nichts daran, dass sie in Situationen, die unter das Unionsrecht fallen, dessen Vorgaben zu beachten haben.35

__________

30 Vgl. EuGH – Rs. C-208/00 (Überseering), Slg. 2002, I-9919, Tz. 9; in Betracht gekommen wäre eine Einordnung als Personengesellschaft (vgl. etwa Kindler, RIW 2000, 649 ff.), aber dies hatte der BGH in der Vorlagefrage nicht angesprochen, weshalb der EuGH sich dazu nicht äußern musste. 31 EuGH – Rs. C-208/00 (Überseering), Slg. 2002, I-9919, Tz. 63. 32 EuGH – Rs. C-208/00 (Überseering), Slg. 2002, I-9919, Tz. 71 ff. 33 EuGH – Rs. C-210/06 (Cartesio), Slg. 2008, I-9641, Tz. 112. 34 Zum Sachverhalt der Entscheidung: EuGH – Rs. C-135/08 (Rottmann), Slg. 2010, I-1449, Tz. 22 ff. 35 EuGH – Rs. C-135/08 (Rottmann), Slg. 2010, I-1449, Tz. 41.

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Der Gerichtshof nimmt daher im Fall Rottmann eine gerichtliche Kontrolle am Maßstab des Unionsrechts für sich in Anspruch.36 Zur Anwendung gelangt das bekannte unionsrechtliche Prinzip der Verhältnismäßigkeit, bezogen auf ein zu schützendes anerkanntes Allgemeininteresse. Es bestehe ein legitimes Allgemeininteresse des deutschen Staates, so der EuGH, die durch betrügerische Handlung erschlichene Einbürgerung wieder zurückzunehmen.37 Die Rücknahmeentscheidung müsse aber hinsichtlich ihrer Auswirkungen auf die unionsrechtliche Stellung des Betroffenen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit wahren.38 Dabei sei die Schwere des Verstoßes mit den Folgen abzuwägen, die eine Rücknahme für den Betroffenen und seine Familienangehörigen haben könne.39 Das nationale Gericht habe insbesondere zu erwägen, dem Betroffenen eine angemessene Frist einzuräumen, innerhalb derer er versuchen könne, seine frühere österreichische Staatsangehörigkeit wieder zu erlangen.40 Am Rande befasst sich der EuGH auch mit Österreich, das über eine eventuelle Wiedereinbürgerung zu entscheiden hätte, sofern der Betroffene dies wünschen sollte. Nach Auffassung des EuGH muss der Mitgliedstaat der ursprünglichen Staatsangehörigkeit bei seiner Entscheidung über die Wiedereinbürgerung ebenso bedenken, ob die Schwere des Verstoßes es rechtfertigt, den Betroffenen der Staatenlosigkeit preiszugeben.41 Zum Zeitpunkt des Vorabentscheidungsverfahrens waren die österreichischen Behörden allerdings mit der Frage der Wiedereinbürgerung noch gar nicht konkret befasst worden. Daher verzichtet der Gerichtshof auf weitere Ausführungen und belässt es bei dem Hinweis, er könne nicht die Vereinbarkeit einer Entscheidung mit Unionsrecht prüfen, die noch gar nicht ergangen sei. Immerhin aber wurde deutlich, dass eine möglicherweise bevorstehende Entscheidung über die Verleihung der österreichischen Staatsangehörigkeit unionsrechtlich auf ihre Verhältnismäßigkeit zu überprüfen wäre. bb) Gesellschaften: Gründung und Auflösung Die Gründung einer Gesellschaft nach den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats ist – ebenso wie die Verleihung der Staatsangehörigkeit an natürliche Personen – eine Angelegenheit des nationalen Rechts. In Cartesio spricht der Gerichtshof von einer Vorfrage, die nur nach nationalem Recht beantwortet werden kann.42 Das entspricht der Position, die er zu natürlichen Personen eingenommen hat. Zu Unrecht wurde ihm daraufhin vorgeworfen, er gebe die

__________ 36 37 38 39 40 41 42

EuGH – Rs. C-135/08 (Rottmann), Slg. 2010, I-1449, Tz. 48. EuGH – Rs. C-135/08 (Rottmann), Slg. 2010, I-1449, Tz. 51. EuGH – Rs. C-135/08 (Rottmann), Slg. 2010, I-1449, Tz. 55, 59. EuGH – Rs. C-135/08 (Rottmann), Slg. 2010, I-1449, Tz. 56. EuGH – Rs. C-135/08 (Rottmann), Slg. 2010, I-1449, Tz. 58. EuGH – Rs. C-135/08 (Rottmann), Slg. 2010, I-1449, Tz. 62. EuGH – Rs. C-210/06 (Cartesio), Slg. 2008, I-9641, Tz. 109. Auch hier zieht der EuGH ausdrücklich die Parallele zur Staatsangehörigkeit von natürlichen Personen.

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Gesellschaften der Willkür der Mitgliedstaaten preis.43 Denn wie bei natürlichen Personen gilt auch hier: Ein Mitgliedstaat muss seine Gesetzgebungszuständigkeit unter Beachtung des Unionsrechts wahrnehmen. Der Blick auf die Rottmann-Entscheidung zeigt, dass ein Mitgliedstaat mit seinen eigenen Staatsangehörigen keineswegs tun und lassen darf, was er will. Die drohende Ausbürgerung ist am Maßstab der Verhältnismäßigkeit zu messen, wenn mit ihr ein Verlust der unionsrechtlichen Freizügigkeit einhergehen würde. In Cartesio wird dieser Gedanke auf Gesellschaften übertragen: Die Mitgliedstaaten dürfen zwar die Anknüpfung festlegen, die eine Zugehörigkeit zu ihrer Rechtsordnung begründet. Sie müssen aber bei ihren Rechtsvorschriften über die Gründung und Auflösung von Gesellschaften die Vorgaben der Niederlassungsfreiheit beachten. Wenn es in Cartesio heißt,44 es bestehe keine Immunität des nationalen Rechts gegenüber der Niederlassungsfreiheit, so zeigt die Rottmann-Entscheidung, was mit dieser fehlenden Immunität des nationalen (Gesellschafts-)Rechts gemeint sein kann. Zwar bleibt es den Mitgliedstaaten unbenommen, einem Staatsbürger die einmal verliehene Staatsbürgerschaft in begründeten Einzelfällen wieder zu entziehen. Sollten aber dadurch seine unionsrechtlich verbürgten Rechte entfallen, muss ein legitimes Allgemeinwohlinteresse verfolgt und der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit beachtet werden. Für Gesellschaften bestimmt sich die Zugehörigkeit zu einem EU-Mitgliedstaat nach Maßgabe ihres Gründungsrechts. Welche Anknüpfung die Mitgliedstaaten hierbei verlangen, bleibt ihnen überlassen. Sie dürfen aber angesichts ihrer allgemeinen Bindung an die Niederlassungsfreiheit eine Gesellschaft nicht durch Auflösung und Liquidation daran hindern, sich in eine Gesellschaft nach dem nationalen Recht eines anderen Mitgliedstaats umzuwandeln.45 Das hätte nämlich für die Gesellschaft ähnlich fatale Folgen wie für eine natürliche Person die Staatenlosigkeit: Jegliche Freizügigkeit innerhalb der EU wäre dahin. Eine solche Konsequenz ist allenfalls bei gravierenden Verstößen gegen zwingende nationale Allgemeininteressen unionsrechtlich tragbar. Der Aufnahmestaat wiederum ist bei der Wahrnehmung seiner nationalen Kompetenzen ebenfalls an das Unionsrecht gebunden. Wenn der Staat Österreich für seine möglicherweise anstehende Entscheidung über die Wiedereinbürgerung von Herrn Rottmann an den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit erinnert wurde, so gilt für die „Einbürgerung“ von Gesellschaften nichts anderes. Um zu vermeiden, dass eine Gesellschaft der EU-Freizügigkeit gänzlich verlustig geht, was bei Auflösung und Liquidation naturgemäß der Fall wäre, müssen die betroffenen Mitgliedstaaten zusammenwirken und einen identitätswahrenden Formwechsel über die Grenze ermöglichen. So wurde von einigen Autoren

__________ 43 In diesem Sinne etwa Knof/Mock, ZIP 2009, 30, 32, vergleichbar Bayer/Schmidt, ZHR 173 (2009), 735, 742; Brakalova/Barth, DB 2009, 213, 217, und Frenz, Jura 2011, 678, 680, mit der Annahme, ein Staat könne den Wegzug seiner Gesellschaften mit der ‚Todesstrafe‘ belegen. 44 EuGH – Rs. C-210/06 (Cartesio), Slg. 2008, I-9641, Tz. 112. 45 EuGH – Rs. C-210/06 (Cartesio), Slg. 2008, I-9641, Tz. 112.

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schon die Cartesio-Entscheidung verstanden.46 So sieht es nunmehr auch Generalanwalt Jääskinnen in seinen Schlussanträgen zur derzeit anhängigen Rechtssache Vale.47 3. Niederlassung in einem anderen Mitgliedstaat Der zweite Schritt in dem unter II.1.d. dargelegten Prüfungsschema ist die Feststellung, dass sich die natürliche Person oder Gesellschaft in einem anderen Staat niederlassen will als demjenigen, dem sie rechtlich (kraft Staatsangehörigkeit oder Gründungsrecht) zugeordnet ist. Die Niederlassung ist als faktischer Vorgang zu verstehen: Es geht um die Aufnahme einer tatsächlichen und dauerhaften Geschäftstätigkeit im Aufnahmestaat. Dieses Verständnis gilt für natürliche Personen und Gesellschaften gleichermaßen. a) Grundbegriff: Geschäftstätigkeit im Aufnahmestaat Art. 49 AEUV definiert den Begriff der Niederlassung zwar nicht, nennt aber eine Reihe von Beispielen: Die Aufnahme und Ausübung selbstständiger Erwerbstätigkeiten, die Gründung und Leitung von Unternehmen, insbesondere von Gesellschaften. In der Rechtsprechung des EuGH findet sich eine allgemeine Definition, die der systematischen Abgrenzung zu den anderen Grundfreiheiten (insb. Arbeitnehmerfreizügigkeit und Dienstleistungsfreiheit) dient:48 Niederlassung ist die tatsächliche Ausübung einer selbstständigen wirtschaftlichen Tätigkeit mittels einer festen Einrichtung in einem anderen Mitgliedstaat auf unbestimmte Zeit.49 Durch die selbstständige Tätigkeit unterscheidet sich die Niederlassung von der Arbeitnehmerfreizügigkeit; die Dauerhaftigkeit der festen Einrichtung grenzt sie gegenüber der Dienstleistungsfreiheit ab. b) Natürliche Personen Dass der Begriff der Niederlassung eine tatsächlich vor Ort ausgeübte Erwerbstätigkeit verlangt, belegt der Factortame-Fall sehr anschaulich. Spanische Fischer hatten ihre Schiffe im britischen Schiffsregister eintragen lassen, um von den britischen Fangquoten profitieren zu können. Nach britischem Recht war die Registrierung aber nur für solche Schiffe gestattet, die vom Vereinigten Königreich aus operierten. Der EuGH hielt das für zulässig.50 Denn die bloße

__________ 46 S. nur: Lutter/Bayer/J. Schmidt (Fn. 4), § 6 Rz. 60 ff. (S. 100 ff.); Teichmann, ZIP 2009, 393, 402 ff.; in der Tendenz ebenso Nolting, NotBZ 2009, 109, 111. 47 Rs. C-378/10, Schlussanträge des Generalanwalts Niilo Jääskinnen v. 15.12.2011, insb. Tz. 72. 48 Eingehend zum Begriff der Niederlassung Teichmann, ZGR 2011, 639, 663 ff. 49 S. nur: EuGH – Rs. C-221/89 (Factortame), Slg. 1991, I-3905, Tz. 20; EuGH – Rs. C-470/04 (Almelo), Slg. 2006, I-7409 Tz. 26. 50 Das Vereinigte Königreich durfte die Registrierung davon abhängig machen, dass das betreffende Schiff vom Vereinigten Königreich aus operiert und sein Einsatz von dort geleitet und überwacht wird (EuGH – Rs. C-221/89 [Factortame], Slg. 1991, I-3905 ff., Tz. 21).

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Registrierung ohne tatsächlichen Bezug zum Territorium des Registerstaates ist keine Niederlassung und daher nicht von Art. 49 AEUV geschützt. c) Gesellschaften Die in Factortame behandelte Registrierung auf fremdem Territorium, zu dem kein tatsächlicher Bezug besteht, findet im Gesellschaftsrecht ihre Parallele in der sogenannten Briefkastengesellschaft. Versteht man die Niederlassung als tatsächliche und dauerhafte Ausübung einer selbstständigen Erwerbstätigkeit, ist die Errichtung einer Briefkastengesellschaft keine Niederlassung.51 Das überrascht nur auf den ersten Blick. Denn auf den zweiten Blick wird deutlich: Der EuGH hat bislang auch mit keinem Wort behauptet, dass die Errichtung der Briefkastengesellschaft unionsrechtlich geschützt sei. Es bleibt hier bei der Grundaussage, dass die Gründung der Gesellschaft eine Vorfrage des nationalen Rechts ist. Wenn ein Mitgliedstaat keine Briefkastengesellschaften wünscht, muss er eine solche Gründung nicht zulassen. Wenn allerdings andere Mitgliedstaaten nach ihrem nationalen Gesellschaftsrecht die Zugehörigkeit zu ihrer Rechtsordnung allein auf Basis einer Registrierung verleihen, ist das erste Merkmal für die Anwendbarkeit der Niederlassungsfreiheit erfüllt: Es besteht eine Gesellschaft, die „nach den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats“ wirksam gegründet worden ist. Will diese Gesellschaft in einem anderen Mitgliedstaat eine echte Niederlassung im Sinne des AEUV errichten, ist nach der eingangs dargelegten zweistufigen Prüfung auch das zweite Merkmal der Niederlassungsfreiheit erfüllt und der Anwendungsbereich eröffnet. Diese Hürde nimmt die typische Briefkastengesellschaft ohne jede Schwierigkeit: Sie will im Staat der Niederlassung effektiv und dauerhaft tätig werden. Wenn der Aufnahmestaat dies behindert, beschränkt er die Niederlassungsfreiheit eines Grundfreiheitenträgers, der einem anderen Mitgliedstaat angehört. Eine solche Behinderung muss den vierstufigen Rechtfertigungstest bestehen, um den es im nachfolgenden Abschnitt gehen soll.

III. Beschränkung der Niederlassungsfreiheit Auch bei der Prüfung von Beschränkungen zeigt sich die Parallelität von natürlichen Personen und Gesellschaften. Ausgehend vom Verständnis der Niederlassungsfreiheit als Beschränkungsverbot (unter 1.) ist das von einigen Autoren propagierte Erfordernis eines realen Bezuges zum Heimatstaat sowohl für natürliche Personen als auch für Gesellschaften abzulehnen (unter 2.). Bei der Frage, wie beschränkende Maßnahmen gegenüber „nahestehenden Personen“ einzuordnen sind, lässt sich wiederum die Parallele zwischen natürlichen Personen und Gesellschaften erkennen (unter 3.). Die aktuelle National Grid Indus BV-Entscheidung zeigt überdies, dass der Gerichtshof sogar in den sogenannten Wegzugsfällen – entgegen bislang weit verbreiteter Ansicht – keinen prin-

__________

51 Dazu ausführlich Teichmann, ZGR 2011, 639, 669 ff.

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zipiellen Unterschied zwischen Gesellschaften und natürlichen Personen macht (unter 4.). 1. Verständnis der Niederlassungsfreiheit als Beschränkungsverbot Die Grundfreiheiten sind ihrem Wortlaut nach in erster Linie Diskriminierungsverbote. Sie werden aber vom EuGH mittlerweile durchgängig als Beschränkungsverbote verstanden.52 Demnach sind selbst unterschiedslos auf Inund Ausländer anwendbare Maßnahmen einer Überprüfung zu unterziehen, wenn sie die Ausübung der Grundfreiheit behindern oder weniger attraktiv machen. Ein Markstein in dieser Entwicklung war die Gebhard-Entscheidung, die zur Niederlassungsfreiheit von natürlichen Personen ergangen ist.53 Dort wurde der vierstufige Test entwickelt, der seither auf jede beschränkende Maßnahme – auch bei anderen Grundfreiheiten – zur Anwendung kommt: Eine nicht-diskriminierende Beschränkung kann aus zwingenden Gründen des Allgemeininteresses gerechtfertigt sein, wenn sie zur Verwirklichung des Ziels geeignet ist und das Maß der Erforderlichen nicht überschreitet.54 Diesen Beschränkungsbegriff wendet der Gerichtshof, verbunden mit dem Gebhard’schen Vier-Stufen-Test, seit der Centros-Entscheidung auch auf die Niederlassungsfreiheit von Gesellschaften an.55 Funktional ist er darauf bezogen, natürlichen Personen und Gesellschaften den Marktzugang zu anderen Mitgliedstaaten zu eröffnen.56 Der Begriff der Beschränkung umfasst daher diejenigen „von einem Mitgliedstaat getroffenen Maßnahmen, die, obwohl sie unterschiedslos anwendbar sind, den Marktzugang von Wirtschaftsteilnehmern aus anderen Mitgliedstaaten betreffen“.57 Ist der Marktzugang gelungen, greift ein anderer Maßstab. Es gilt dann Art. 49 Abs. 2 AEUV, wonach der Niederlassungswillige die Bedingungen einhalten muss, die der Aufnahmestaat für seine eigenen Staatsangehörigen festlegt. Nach ihrem Marktzugang muss daher auch eine aus dem Ausland kommende Gesellschaft die inländischen Schutzregeln beachten. 2. Kein Erfordernis eines tatsächlichen Bezuges zum Herkunftsstaat In der Diskussion um das vermehrte Auftreten von Briefkastengesellschaften wird mitunter gefordert, diese dürften nur dann in den Genuss der Niederlas-

__________ 52 Eingehend Teichmann (Fn. 4), S. 105 ff. Weitere Nachweise bei Lutter/Bayer/ J. Schmidt (Fn. 4), § 4, S. 54 ff. 53 EuGH – Rs. C-55/94 (Gebhard), Slg. 1995, I-4186. Vgl. zur Entwicklung der Rechtsprechung Troberg/Tiedje (Fn. 19), Art. 49 Rz. 23 ff. 54 EuGH – Rs. C-55/94 (Gebhard), Slg. 1995, I-4186, Tz. 37. 55 EuGH – Rs. C-212/97 (Centros), Slg. 1999, I-1459, Tz. 34; EuGH – Rs. C-167/01 (Inspire Art), Sgl. 2003, I-10155, Tz. 133. 56 Zu den damit verbundenen Schlussfolgerungen für die Niederlassungsfreiheit von Gesellschaften ausführlich Teichmann, ZGR 2011, 639, 646 ff. 57 So zuletzt EuGH – Rs. C-565/08, EWS 2011, 195, 197 (Tz. 46), kursive Hervorhebung durch Verf.

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sungsfreiheit kommen, wenn sie im Gründungsstaat eine erkennbare Geschäftstätigkeit entfalten.58 Bislang hat sich der EuGH diesem Ansinnen verschlossen. Er folgt damit konsistent einer Linie, die er bereits für natürliche Personen vertreten hat. a) Natürliche Personen In der Rechtssache Micheletti ging es um einen italienischen Staatsangehörigen, der zugleich die argentinische Staatsbürgerschaft besaß und dem spanische Behörden das Recht versagen wollten, sich in Spanien als Zahnarzt niederzulassen.59 Herr Micheletti hatte zuvor in Argentinien gelebt und die italienische Staatsangehörigkeit allein wegen seiner Abstammung von einem italienischen Elternteil erhalten. Das spanische Recht gab hingegen bei einer doppelten Staatsangehörigkeit derjenigen den Vorzug, die dem gewöhnlichen Aufenthalt des Betroffenen (vor seiner Einreise nach Spanien) entsprach.60 Demnach war der Betroffene als Argentinier zu behandeln, der sich nicht auf die europäische Niederlassungsfreiheit berufen konnte. Der Gerichtshof verwirft das Ansinnen des spanischen Rechts, wonach die Geltendmachung der italienischen Staatsangehörigkeit von einem gewöhnlichen Aufenthalt in diesem Staat abhängen sollte. Die Staatsangehörigkeit des EU-Mitgliedstaats genügt für die Berufung auf die Niederlassungsfreiheit. Weitere Voraussetzungen sieht Art. 49 AEUV nicht vor. Es steht keinem Mitgliedstaat zu, die Verleihung der Staatsangehörigkeit durch einen anderen Mitgliedstaat in ihren Wirkungen dadurch zu beschränken, dass eine zusätzliche Voraussetzung für die Ausübung der im Vertrag vorgesehenen Grundfreiheiten verlangt wird.61 b) Gesellschaften Hätte man in Kreisen des Gesellschaftsrechts den Fall Micheletti zur Kenntnis genommen, wäre Centros keine große Überraschung mehr gewesen. Denn letztlich entscheidet der EuGH in beiden Fällen parallel. Wurde eine Gesellschaft nach den Rechtsvorschriften eines EU-Mitgliedstaats (hier: England) gegründet und ist sie somit diesem Staat rechtlich zugehörig, so ist bei der Niederlassung in einem anderen EU-Mitgliedstaat (hier: Dänemark) jedenfalls der Anwendungsbereich der Niederlassungsfreiheit eröffnet. Es steht keinem Mitgliedstaat zu, die Kriterien in Frage zu stellen, nach denen andere Mitgliedstaaten ihre Staatsangehörigkeit vergeben. Das gilt für natürliche Personen ebenso wie für die Gründung von Gesellschaften. Wenn ein Mitgliedstaat seine Staatsangehörigkeit an Personen vergibt, die nicht auf seinem Territorium

__________ 58 59 60 61

So namentlich Roth (Fn. 10), S. 48. Vgl. EuGH – Rs. C-369/90 (Micheletti), Slg. 1992, I-4258, Tz. 4. EuGH – Rs. C-369/90 (Micheletti), Slg. 1992, I-4258, Tz. 5. EuGH – Rs. C-369/90 (Micheletti), Slg. 1992, I-4258, Tz. 10.

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leben,62 ist das ebenso zu respektieren wie die Zugehörigkeit einer Gesellschaft zur Rechtsordnung eines anderen Staates zu respektieren ist, selbst wenn sie dort keine Geschäftstätigkeit entfaltet. Ein anderer Mitgliedstaat darf weder von einer natürlichen Person verlangen, dass sie im Land ihrer Staatsangehörigkeit ihren gewöhnlichen Aufenthalt hat, noch von einer Gesellschaft, dass sie im Staat ihrer Gründung eine Geschäftstätigkeit entfaltet.63 Vermeintliche Gefahren für den inländischen Rechtsverkehr sind kein Anlass, die Anwendbarkeit der Grundfreiheit generell zu verneinen, sondern sind im Rahmen der Rechtfertigung von Beschränkungen zu thematisieren.64 3. Mittelbare Beschränkung durch Behinderung nahestehender Personen Neben den unmittelbar Berechtigten kennt die Dogmatik der Grundfreiheiten auch sogenannte Korrelarberechtigte.65 Diese sind zwar nicht selbst aus der Grundfreiheit berechtigt, ihnen kommt aber die Grundfreiheit einer anderen Person mittelbar zugute. Wiederum werden Parallelen in der Behandlung von natürlichen Personen und Gesellschaften erkennbar. a) Natürliche Personen Für natürliche Personen hat der EuGH in der Rechtssache Singh entschieden, dass ihre Niederlassungsfreiheit auf Familienangehörige ausstrahlen kann. Der indische Staatsbürger Surinder Singh war mit einer englischen Staatsangehörigen verheiratet. Das Ehepaar hatte einige Jahre in Deutschland gelebt und kehrte dann in das Vereinigte Königreich zurück. Nach der Rückkehr leitete die Ehefrau ein Scheidungsverfahren ein. Die zuständigen britischen Behörden wollten den Ehemann ausweisen, noch bevor das Scheidungsverfahren endgültig abgeschlossen war. Dem EuGH wurde die Frage vorgelegt, ob der indische Staatsbürger besondere Rechte genieße, solange er noch mit einer britischen Staatsangehörigen verheiratet sei.66 Der Bezug zum europäischen Recht ergab sich daraus, dass das Ehepaar für einige Jahre in Deutschland gelebt hatte, um hier einer unselbstständigen Tätigkeit nachzugehen, und danach in das Vereinigte Königreich zurückgekehrt war, um dort eine selbstständige Erwerbstätigkeit aufzunehmen. Es errichtete

__________ 62 Zu diesen Staaten gehört auch Deutschland, das zur Kenntnisnahme der übrigen EUMitgliedstaaten in einer gesonderten Note alle von Art. 116 GG erfassten Deutschen zu Staatsangehörigen im Sinne des europäischen Rechts erklärte; vgl. Forsthoff (Fn. 9), Art. 45 Rz. 21. 63 Dies hatte der EuGH für Gesellschaften schon früh im Fall Segers entschieden, auf den sogleich unter III.3.b. näher einzugehen sein wird. 64 Zur Vorgehensweise bei der Rechtfertigungsprüfung, auf die hier nicht näher eingegangen werden kann, Teichmann (Fn. 4), S. 132 ff. sowie ders., ZGR 2011, 639, 646 ff. 65 Forsthoff (Fn. 9), Art. 45 Rz. 47 ff. 66 Vgl. den Sachverhalt in EuGH – Rs. C-370/90 (Surinder Singh), Slg. 1992, I-04265, Tz. 1 ff. Dass die Ehe später tatsächlich geschieden wurde, war für die Vorabentscheidung ohne Relevanz; denn dem EuGH war allein die Anordnung der Ausweisung bei noch bestehender Ehe vorgelegt worden (vgl. EuGH, ebda. Tz. 12).

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damit zwar eine Niederlassung in demselben Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit die niederlassungswillige Ehefrau hatte. Der Gerichtshof stellte aber auf das frühere Verlassen des Landes ab. Der Staatsangehörige eines Mitgliedstaats könnte davon abgehalten werden, sein Land zu verlassen, wenn er nicht sicher sein könne, bei seiner Rückkehr in das Heimatland wiederum in den Genuss der europäischen Freizügigkeitsrechte zu kommen.67 Die beschränkende Maßnahme betraf allerdings gar nicht die Frau, sondern ihren Ehemann. Die Freizügigkeitsrechte könnten indessen nach Auffassung des EuGH ihre volle Wirkung nicht entfalten, wenn die berechtigte Person von ihrer Ausübung durch Hindernisse abgehalten werde, die in ihrem Herkunftsland für den Ehegatten bestehen.68 Das Vereinigte Königreich hatte zwar angeführt, es bestehe die Gefahr der Gesetzesumgehung durch Scheinehen.69 Dass die konkrete Ehe nur zum Schein geschlossen worden sei, wurde allerdings nicht behauptet.70 Daher beließ es der Gerichtshof bei dem Hinweis auf seine ständige Rechtsprechung, wonach die Vergünstigungen des europäischen Rechts dem Begünstigen nicht gestatten, sich nationalen Rechtsvorschriften missbräuchlich zu entziehen, und es den Mitgliedstaaten nicht verwehrt ist, alle erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen, um einen derartigen Missbrauch zu verhindern.71 Da im konkreten Fall ein Missbrauch aber nicht erkennbar war, konnte diese Rechtfertigung nicht greifen. b) Gesellschaften Eine Gesellschaft hat zwar keine Familienangehörigen. Es gibt aber andere Personen, die ihr nahestehen, beispielsweise ihre Geschäftsführer. Eine Benachteiligung oder Behinderung dieser Personen kann sich mittelbar als Beschränkung der Niederlassungsfreiheit der Gesellschaft erweisen.72 So ging es in der Rechtssache Segers um den Geschäftsführer einer in den Niederlanden tätigen englischen Limited.73 Herrn Segers wurden Leistungen der niederländischen Krankenversicherung mit dem Argument verwehrt, er sei Geschäftsführer einer englischen Gesellschaft. Bei der englischen Gesellschaft handelte es sich um eine klassische Briefkastengesellschaft, deren Geschäftstätigkeiten ganz in den Niederlanden konzentriert waren.74 Es müsse verhindert werden, so die Argumentation der Niederlande, dass Geschäftsführer die Form einer Gesell-

__________ 67 68 69 70 71 72

73 74

EuGH – Rs. C-370/90 (Surinder Singh), Slg. 1992, I-4265, Tz. 19. EuGH – Rs. C-370/90 (Surinder Singh), Slg. 1992, I-4265, Tz. 23. EuGH – Rs. C-370/90 (Surinder Singh), Slg. 1992, I-4265, Tz. 14. Darauf weist der EuGH – Rs. C-370/90 (Surinder Singh), Slg. 1992, I-4265, Tz. 12, ausdrücklich hin. EuGH – Rs. C-370/90 (Surinder Singh), Slg. 1992, I-4265, Tz. 24. Vgl. neben der Segers-Entscheidung (sogleich bei Fn. 73) auch EuGH – Rs. C-1/93 (Halliburton), Slg. 1994, I-1151: Eine niederländische BV, die ein Grundstück erwirbt, greift erfolgreich die niederländische Regelung zur Grunderwerbsteuer an, weil sie ausländische Veräußerer diskriminiert. Die „mittelbare Auswirkung“ auf die niederländische BV genügt dem EuGH (ebda., Tz. 20). EuGH – Rs. 79/85 (Segers), Slg. 1982, 2382. Vgl. dazu den Sachverhalt in EuGH – Rs. 79/85 (Segers), Slg. 1982, 2382, Tz. 3.

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schaft ausländischen Rechts nur wählen, um die in den niederländischen Rechtsvorschriften vorgesehenen Beschränkungen für die Gründung von Gesellschaften mit beschränkter Haftung zu umgehen.75 Der EuGH stellte klar, dass der Anspruch auf Erstattung von Krankheitskosten das Recht einer natürlichen Person und nicht das einer Gesellschaft sei. Eine Diskriminierung des für sie tätigen Personals schränke aber mittelbar auch die Niederlassungsfreiheit der Gesellschaft ein.76 Dass die Gesellschaft im Vereinigten Königreich keine Tätigkeit entfalte, sei unerheblich. Denn Art. 59 EGVertrag (heute: Art. 54 AEUV) verlange nur, dass die Gesellschaft nach den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats gegründet sei und ihren satzungsmäßigen Sitz, ihre Hauptverwaltung oder ihre Hauptniederlassung innerhalb der Gemeinschaft habe.77 Die Bekämpfung eventueller Missbräuche hält der EuGH zwar im Grundsatz für legitim; allerdings sei die Verweigerung von Krankenversicherungsleistungen dafür keine geeignete Maßnahme.78 4. Beschränkungen durch den Herkunftsstaat Bei der Niederlassungsfreiheit von Gesellschaften wird üblicherweise zwischen Zuzugs- und Wegzugsfällen unterschieden.79 Die Unterscheidung richtet sich danach, von welchem Staat die Behinderung ausgeht: Die Zuzugsbeschränkung geht vom Aufnahmestaat aus, die Wegzugsbeschränkung vom Herkunftsstaat. Die EuGH-Rechtsprechung erweckte bislang den Eindruck, Gesellschaften seien nur im Zuzugsfall geschützt, im Wegzugsfall hingegen der Willkür des Wegzugsstaates ausgeliefert.80 Sollte diese Unterscheidung tatsächlich ein strukturelles Grundmuster der Niederlassungsfreiheit sein, müsste sie sich ebenso in der Rechtsprechung zu natürlichen Personen finden. Erstes Anschauungsobjekt ist insoweit die Rechtssache de Lasteyrie du Saillant, während in Bezug auf Gesellschaften die Entscheidungen Daily Mail, Cartesio und National Grid Indus BV hervorzuheben sind. a) Natürliche Personen Der französische Staatsbürger Hughes de Lasteyrie du Saillant wollte sein Heimatland verlassen und seinen ständigen Wohnsitz in Belgien nehmen, um

__________ 75 76 77 78 79

EuGH – Rs. 79/85 (Segers), Slg. 1982, 2382, Tz. 10. EuGH – Rs. 79/85 (Segers), Slg. 1982, 2382, Tz. 15. EuGH – Rs. 79/85 (Segers), Slg. 1982, 2382, Tz. 16. EuGH – Rs. 79/85 (Segers), Slg. 1982, 2382, Tz. 17. Siehe nur Lutter/Bayer/J. Schmidt (Fn. 4), § 6 Rz. 46 ff. (S. 92 ff.), Teichmann (Fn. 4), S. 168 ff. 80 Die dem EuGH unterstellte Zweiteilung in Zuzugs- und Wegzugsfälle wird daher vielfach kritisiert. S. nur: Bayer/Schmidt, ZHR 173 (2009), 735, 743; Frenzel, EWS 2009, 158 ff.; Leible/Hoffmann, BB 2009, 58 ff.; Zimmer/Naendrup, NJW 2009, 545, 546 f. Differenzierend Teichmann (Fn. 4), S. 168 ff., wonach eine Wegzugsfreiheit grundsätzlich besteht, Beschränkungen aber leichter zu rechtfertigen sind. Gänzlich gegen eine Wegzugsfreiheit bei Gesellschaften Kindler, NZG 2009, 130 ff.

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dort eine Erwerbstätigkeit auszuüben.81 Er war Inhaber von Wertpapieren, deren aktueller Wert über ihrem Anschaffungspreis lag. Das französische Steuerrecht sah vor, dass derartige noch nicht realisierte Wertsteigerungen bei einer Verlegung des Wohnsitzes ins Ausland zu versteuern waren. de Lasteyrie du Saillant machte geltend, dadurch werde seine Niederlassungsfreiheit verletzt. Zur Anwendbarkeit der Niederlassungsfreiheit führt der EuGH aus: Art. 54 AEUV (ex Art. 52 EG-Vertrag) solle zwar seinem Wortlaut nach insbesondere die Inländerbehandlung im Aufnahmestaat sichern; er verbiete es aber auch, dass der Herkunftsstaat die Niederlassung seiner Staatsangehörigen in einem anderen Mitgliedstaat behindere.82 Der wegzugswillige Staatsangehörige werde durch die französische Regelung gegenüber denjenigen benachteiligt, die ihren Wohnsitz in Frankreich beibehalten; denn er müsse Einkommen versteuern, das noch nicht realisiert sei und über das er somit noch nicht verfüge.83 Eine solche Maßnahme müsse durch zwingende Gründe des Allgemeinwohls gerechtfertigt und zur Verfolgung des Ziels geeignet und erforderlich sein.84 Das Ziel der Vermeidung von Steuerflucht akzeptiert der EuGH zwar, die konkrete Maßnahme ging aber seiner Auffassung nach über das Maß des hierzu Erforderlichen hinaus und war daher unzulässig. b) Gesellschaften Aus der Entscheidung de Lasteyrie du Saillant geht hervor, dass die Niederlassungsfreiheit auch den Herkunftsstaat bindet und dieser bei beschränkenden Maßnahmen dem üblichen Vier-Stufen-Test unterworfen wird. Entsprechend der in Art. 54 AEUV angelegten Normstruktur müssten dieselben Grundsätze gelten, wenn der Herkunftsstaat eine Gesellschaft am Wegzug hindern will. In der Daily Mail- und der Cartesio-Entscheidung ist davon nichts erkennbar, wohl aber im aktuellen Fall National Grid Indus BV. Darin liegt nur scheinbar ein Widerspruch. Denn im Lichte der unter II.1.d. ermittelten Systematik liegen die in den genannten Fällen aufgeworfenen Rechtsfragen auf unterschiedlichen Prüfungsebenen: Es ging bei Daily Mail und Cartesio um die rechtliche Zugehörigkeit zum betreffenden Mitgliedstaat, bei de Lasteyrie de Saillant und National Grid Indus BV hingegen um die Niederlassung in einem anderen Mitgliedstaat. aa) Daily Mail Der Sachverhalt der Daily Mail-Entscheidung ähnelt demjenigen der Rechtssache de Lasteyrie du Saillant.85 Die Gesellschaft Daily Mail wollte ihren Ge-

__________ 81 Vgl. zum Sachverhalt EuGH – Rs. C-9/02 (de Lasteyrie du Saillant), Slg. 2004, I-2431, Tz. 12–20. 82 EuGH – Rs. C-9/02 (de Lasteyrie du Saillant), Slg. 2004, I-2431, Tz. 42. 83 EuGH – Rs. C-9/02 (de Lasteyrie du Saillant), Slg. 2004, I-2431, Tz. 46. 84 EuGH – Rs. C-9/02 (de Lasteyrie du Saillant), Slg. 2004, I-2431, Tz. 49. 85 Vgl. zum Sachverhalt, EuGH – Rs. 81/87 (Daily Mail), Slg. 1988, 5505, Tz. 1 ff.

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schäftssitz in die Niederlande verlegen. Da der Ort der Geschäftsleitung nach britischem Recht zugleich der steuerliche Sitz war, bedurfte die Verlegung der Geschäftsleitung der Zustimmung des Finanzministeriums. Die Gesellschaft hatte Wertpapiere in ihrem Bestand, die einen erheblichen Wertzuwachs erfahren hatten. Das Finanzministerium forderte, dass zumindest ein Teil der Papiere noch vor der Sitzverlegung verkauft werden müsse. Der EuGH hob zu wohlklingenden Ausführungen über die Niederlassungsfreiheit an, nur um dann doch die Beschränkung durch die britische Finanzbehörde umstandslos zu billigen: Die Niederlassungsfreiheit verbiete dem Herkunftsstaat zwar, die Niederlassung seiner Staatsangehörigen „oder einer nach seinem Recht gegründeten, der Definition des Artikels 58 [heute: Art. 54] genügenden Gesellschaft“ zu behindern.86 Die Grundfreiheit wäre auch „sinnentleert“, wenn der Herkunftsstaat Unternehmen verbieten könnte, auszuwandern, um sich in einem anderen Mitgliedstaat niederzulassen.87 Eine Gesellschaft besitze aber „jenseits der nationalen Rechtsordnung, die ihre Gründung und ihre Existenz regelt, […] keine Realität.“88 Die Niederlassungsfreiheit gewähre daher den Gesellschaften nationalen Rechts kein Recht, den Sitz der Geschäftsleitung unter Bewahrung ihrer Eigenschaft als Gesellschaft des Mitgliedstaats ihrer Gründung in einen anderen Mitgliedstaat zu verlegen.89 Denn hinsichtlich der Anknüpfung, welche die Mitgliedstaaten für eine Gesellschaft bei ihrer Gründung und einer späteren Sitzverlegung verlangen, achte Art. 58 (heute: Art. 54) den satzungsmäßigen Sitz, die Hauptverwaltung und die Hauptniederlassung einer Gesellschaft gleich.90 bb) Cartesio Die Cartesio-Entscheidung erging 20 Jahre nach Daily Mail. In der Zwischenzeit hatte der Gerichtshof eine deutlich liberalere Linie eingeschlagen (Centros, Überseering, Inspire Art), die allerdings immer nur Beschränkungen durch den Zuzugsstaat betraf.91 Nun wollte eine ungarische Gesellschaft ihre Geschäftsleitung nach Italien verlegen und dabei ihre Eigenschaft als Gesellschaft ungarischen Rechts beibehalten. Nach ungarischem Recht hätte die Verlagerung der Geschäftsleitung ins Ausland zur Auflösung und Liquidation der Gesellschaft geführt; denn das ungarische Sachrecht verlangte, dass die Hauptverwaltung einer ungarischen Gesellschaft im Inland liegt.92

__________ 86 87 88 89 90 91

EuGH – Rs. 81/87 (Daily Mail), Slg. 1988, 5505, Tz. 16; Klammerzusatz durch Verf. EuGH – Rs. 81/87 (Daily Mail), Slg. 1988, 5505, Tz. 16. EuGH – Rs. 81/87 (Daily Mail), Slg. 1988, 5505, Tz. 19. EuGH – Rs. 81/87 (Daily Mail), Slg. 1988, 5505, Tz. 24. EuGH – Rs. 81/87 (Daily Mail), Slg. 1988, 5505, Tz. 21. Die Differenzierung macht der EuGH in der Überseering-Entscheidung deutlich (EuGH – Rs. C-208/00, Slg. 2002, I-9919, Tz. 62): Es sei darauf hinzuweisen, dass Daily Mail „die Beziehungen zwischen einer Gesellschaft und einem Mitgliedstaat, nach dessen Recht sie gegründet worden ist“, betraf; hingegen handele es sich bei Überseering um „die Anerkennung einer nach dem Recht eines Mitgliedstaats gegründeten Gesellschaft durch einen anderen Mitgliedstaat“. 92 Eingehend zu den Vorfragen des ungarischen Rechts: Korom/Metzinger, ECFR 2009, 125, 134 ff.

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Zum ersten Mal seit zwanzig Jahren stand nun wieder eine Beschränkung durch den Herkunftsstaat in Rede. Und erneut stellte der EuGH fest, dass eine Gesellschaft jenseits der nationalen Rechtsordnung, die ihre Gründung und ihre Existenz regelt, keine Realität habe.93 Ein Mitgliedstaat könne daher verlangen, dass eine Gesellschaft die von ihm gewünschte Anknüpfung an das nationale Territorium (hier: Sitz der Hauptverwaltung) beibehalte, sofern sie die Eigenschaft als Gesellschaft dieses Staates nicht verlieren wolle.94 Zwar öffnet der Gerichtshof zugleich die Tür zu einem formwechselnden Umzug der Gesellschaft.95 Doch bleibt dies deutlich hinter dem Postulat der de Lasteyrie de Saillant-Entscheidung zurück,96 wonach der Herkunftsstaat die Niederlassung seiner Staatsangehörigen in einem anderen Mitgliedstaat nicht behindern dürfe. Es scheint, als sei die Parallele der Gesellschaft zur natürlichen Person hier an ihre Grenzen gestoßen. cc) National Grid Indus BV Die Entscheidung National Grid Indus BV aus dem Jahre 2011 wirft nun ein ganz neues Licht auf die bisherige Rechtsprechung.97 Es ging um eine Gesellschaft niederländischen Rechts mit satzungsmäßigem Sitz in den Niederlanden.98 Sie verlegte im Jahre 2000 ihren tatsächlichen Verwaltungssitz in das Vereinigte Königreich. Die Anknüpfung an das niederländische Gesellschaftsrecht blieb davon unbeeinflusst, denn beide Staaten folgen der Gründungstheorie.99 Allerdings verlangte das niederländische Steuerrecht eine Schlussrechnung über latente Wertzuwächse. Auf dieser Basis sollte die niederländische BV einen nicht realisierten Wertzuwachs versteuern, den sie mit einer Forderung erlangt hatte, die in englischen Pfund Sterling valutierte. Das niederländische Gericht legte dem EuGH zunächst die klare Frage vor, ob sich die niederländische Gesellschaft gegenüber ihrem Herkunftsstaat überhaupt auf die Niederlassungsfreiheit berufen könne. Der Gerichtshof antwortet mit einem ebenso klaren „Ja“. Die Vertragsbestimmungen über die Niederlassungsfreiheit gelten nicht nur dem Aufnahmestaat. Sie verbieten ebenfalls, „dass der Herkunftsmitgliedstaat die Niederlassung seiner Staatsangehörigen oder einer nach seinem Recht gegründeten Gesellschaft in einem anderen Mitgliedstaat behindert“.100

__________ 93 94 95 96 97

EuGH – Rs. C-210/06 (Cartesio), Slg. 2008, I-9641, Tz. 104. EuGH – Rs. C-210/06 (Cartesio), Slg. 2008, I-9641, Tz. 109. Vgl. Fn. 46. Vgl. Fn. 82. Erwähnenswert ist auch die Cadbury Schweppes-Entscheidung von 2006 (Rs. C-196/04), bei der es sich gleichfalls um einen Wegzugsfall handelte (näher Teichmann, ZGR 2011, 639, 671 f.). 98 Zum Sachverhalt EuGH v. 29.11.2011 – Rs. C-371/10 (National Grid Indus BV), NZG 2012, 114 ff. 99 Vgl. EuGH – Rs. C-371/10 (National Grid Indus BV), Tz. 28, NZG 2012, 114, 115. 100 EuGH – Rs. C-371/10 (National Grid Indus BV), Tz. 35, NZG 2012, 114, 115 (Hervorhebung durch Verf.).

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Es folgt nun nicht, wie in Daily Mail und Cartesio, ein Freibrief, mit den eigenen Gesellschaften nach Gutdünken zu verfahren. Stattdessen setzt die klassische Prüfung von Beschränkungen am Maßstab des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes ein: Die Besteuerung der Wertzuwächse sei geeignet, die Gesellschaft niederländischen Rechts davon abzuhalten, ihren Sitz in einen anderen Mitgliedstaat zu verlegen.101 Es liegt also eine Beschränkung (durch den Herkunftsstaat) vor. Die Aufteilung der Besteuerungsbefugnis zwischen den Mitgliedstaaten sei ein vom Gerichtshof anerkanntes legitimes Ziel, der Herkunftsstaat müsse also nicht auf sein Recht zur Besteuerung des Wertzuwachses verzichten.102 Er könne die Steuer auch bereits zu dem Zeitpunkt festsetzen, zu dem die Gesellschaft ihren Verwaltungssitz verlegt. Unverhältnismäßig sei aber die sofortige Einziehung des Betrags, da sich bei den nicht realisierten Wertzuwächsen im Zeitraum nach der Sitzverlegung noch Wertminderungen ergeben könnten. dd) Wegzugsfreiheit für Gesellschaften (1) Verortung der Entscheidungen im zweistufigen Prüfungsmodell Wenn der EuGH in National Grid Indus BV klarstellt, dass auch der Herkunftsstaat die Niederlassung seiner Gesellschaften in einem anderen Mitgliedstaat nicht behindern darf, so liegt das exakt auf der Linie von de Lasteyrie de Saillant, bestätigt also die Parallelität von natürlicher Person und Gesellschaft im Bereich der Niederlassungsfreiheit. Allerdings stellt sich dann die Frage, wie die Cartesio-Entscheidung in dieses Konzept zu integrieren ist. Die Antwort liegt im oben (II.1.d.) dargelegten zweistufigen Prüfungsaufbau: Zu prüfen ist zunächst die rechtliche Zugehörigkeit zu einem konkreten EU-Mitgliedstaat, erst danach die Niederlassung in einem anderen EU-Mitgliedstaat. Cartesio betrifft die erste Stufe; dort stand die Zugehörigkeit der Gesellschaft zum ungarischen Recht in Frage. In National Grid Indus BV bestand ebenso wie bei Lasteyrie de Saillant über die rechtliche Zugehörigkeit zum Herkunftsland kein Streit; es ging dort allein um die zweite Stufe, nämlich die freie Niederlassung in einem anderen Mitgliedstaat als demjenigen, dem der Niederlassungswillige angehörte. (2) Keine Mitgliedstaatenautonomie auf der zweiten Prüfungsstufe (Niederlassung) Dieses dogmatische Grundraster hält der EuGH jedenfalls in der jüngeren Rechtsprechung konsequent ein. Auf der ersten Prüfungsstufe (rechtliche Zugehörigkeit zum Mitgliedstaat) besteht weitgehende nationale Regelungsautonomie. Mit Erreichen der zweiten Stufe hingegen ist der Anwendungsbereich der Niederlassungsfreiheit eröffnet; es greift nun der Rechtfertigungstest der GebhardEntscheidung. So findet sich in National Grid Indus BV der bekannte Satz, die

__________ 101 EuGH – Rs. C-371/10 (National Grid Indus BV), Tz. 37, NZG 2012, 114, 116. 102 EuGH – Rs. C-371/10 (National Grid Indus BV), Tz. 45, 46, NZG 2012, 114, 117.

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Anwendbarkeit des Art. 49 AEUV auf eine Gesellschaft sei eine Vorfrage, die – ebenso wie die Frage, ob eine natürliche Person Staatsangehöriger eines Mitgliedstaats sei – nur nach dem geltenden nationalen Recht beantwortet werden könne.103 Daran hält der EuGH also fest. Er fährt jedoch fort: „Im Ausgangsverfahren hat die Verlegung des tatsächlichen Verwaltungssitzes […] die Eigenschaft des Unternehmens als Gesellschaft nach niederländischem Recht nach dieser Rechtsordnung nicht berührt, die in Bezug auf Gesellschaften die Gründungstheorie anwendet.“104 Die in Rede stehende nationale Vorschrift betreffe überhaupt nicht die Voraussetzungen, von denen der Mitgliedstaat die Zugehörigkeit zu seiner Rechtsordnung abhängig mache. Sie beschränke sich vielmehr darauf, für die nationale Gesellschaft steuerliche Folgen an eine Sitzverlegung zwischen Mitgliedstaaten zu knüpfen, ohne dass die Sitzverlegung ihre Eigenschaft als Gesellschaft des fraglichen Mitgliedstaats berühre.105 Hinsichtlich der Frage, ob es eine Wegzugsfreiheit von Gesellschaften gibt, ist demnach die zweistufige Prüfung des Anwendungsbereichs der Niederlassungsfreiheit von elementarer Bedeutung – und wiederum zeigt sich, dass die Beurteilung von natürlichen Personen und Gesellschaften parallel läuft: Nur die erste Stufe, also die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Rechtsordnung, ist als Vorfrage dem nationalen Recht zu entnehmen. Das gilt für Gesellschaften (Cartesio) ebenso wie für natürliche Personen (Rottmann). Die zweite Stufe hingegen, also die Beschränkung der tatsächlichen Niederlassung, unterliegt dem strengen Verhältnismäßigkeitstest (siehe de Lasteyrie du Saillant und National Grid Indus BV). Von welchem Staat die Beschränkung ausgeht, ist unerheblich. Der Zuzugsstaat ist ebenso dem vierstufigen Verhältnismäßigkeitstest unterworfen wie der Wegzugsstaat. (3) Das Ende der Unterscheidung von Zuzugs- und Wegzugsfällen Die Unterscheidung von Zuzugs- und Wegzugsfällen für Gesellschaften ist demnach aufzugeben. Sie beruht auf einem terminologischen Missverständnis. In der gesellschaftsrechtlichen Literatur wurde bislang bereits der Wechsel der Rechtsordnung als „Wegzug“ qualifiziert, obwohl es sich dabei gar nicht um eine Niederlassung im Sinne des AEUV handelt. Niederlassung ist die tatsächliche Ausübung einer selbstständigen wirtschaftlichen Tätigkeit mittels einer festen Einrichtung in einem anderen Mitgliedstaat auf unbestimmte Zeit (oben II. 3. a.). Danach wird aber erst gefragt, nachdem feststeht, welchem EU-Mitgliedstaat die natürliche Person oder Gesellschaft rechtlich zuzuordnen ist. Für Irritationen sorgen allerdings diejenigen Fälle, in denen eine Gesellschaft ihren Verwaltungssitz in einen anderen Mitgliedstaat verlegt. Dieser Vorgang erfüllt an und für sich den Begriff der Niederlassung. Indessen gelangt man zur Anwendbarkeit der Art. 49 und 54 AEUV erst, nachdem auf der ersten Stufe die rechtliche Zugehörigkeit zu einem bestimmten Mitgliedstaat geklärt ist.

__________ 103 EuGH – Rs. C-371/10 (National Grid Indus BV), Tz. 26, NZG 2012, 114, 115. 104 EuGH – Rs. C-371/10 (National Grid Indus BV), Tz. 28, NZG 2012, 114, 115. 105 EuGH – Rs. C-371/10 (National Grid Indus BV), Tz. 31, NZG 2012, 114, 115.

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Wenn für die rechtliche Zugehörigkeit zu einer bestimmten Rechtsordnung nun gerade ein inländischer Verwaltungssitz gefordert ist, muss die Diskussion auf dieser Ebene geführt werden – auf der die Mitgliedstaaten grundsätzlich autonom regeln dürfen, wer zu ihnen gehört und wer nicht (vgl. oben II.2.b.). So lagen die Dinge im Fall Cartesio. Die ungarische Gesellschaft wollte ihren Verwaltungssitz nach Italien verlegen und damit eine Tatbestandsvoraussetzung aufgeben, die Voraussetzung für die Zugehörigkeit zum ungarischen Recht war. Daher war die rechtliche Diskussion im Fall Cartesio auf der ersten Prüfungsstufe angesiedelt. Im Fall National Indus Grid BV hingegen stand die Zugehörigkeit zur niederländischen Rechtsordnung außer Frage. Die Verlegung des Verwaltungssitzes in einen anderen Mitgliedstaat konnte daher auf der zweiten Stufe als Vorgang der Niederlassung geschützt werden. Allerdings – in Daily Mail hätte der EuGH ebenso entscheiden müssen. Denn nach englischem Recht ändert die Verlegung der Geschäftsleitung nichts an der Zugehörigkeit zum englischen Gesellschaftsrecht. Nur fehlte dem EuGH damals noch das Instrumentarium der Verhältnismäßigkeitsprüfung, das er erst später in Gebhard entwickelt hat. Nach dem heutigen Stand der Dogmatik hätte er die Maßnahme der britischen Finanzbehörde dem vierstufigen Verhältnismäßigkeitstest unterwerfen müssen.

IV. Zusammenfassung in Thesen 1. Im Bereich der Niederlassungsfreiheit sind Gesellschaften gemäß Art. 54 AEUV den natürlichen Personen gleichzustellen. Diese Parallele schlägt sich in einer gemeinsamen Prüfungsstruktur nieder, die zwei Schritte umfasst: Erstens ist die rechtliche Zugehörigkeit zu einem EU-Mitgliedstaat zu klären, zweitens der faktische Vorgang der Niederlassung zu untersuchen. 2. Die erste Stufe der Prüfung ist somit die Feststellung der rechtlichen Zugehörigkeit zu einem EU-Mitgliedstaat. Sie ergibt sich bei natürlichen Personen aus der Staatsangehörigkeit, bei Gesellschaften aus der Gründung nach den Rechtsvorschriften eines EU-Mitgliedstaats. Die Regeln, nach denen sich die rechtliche Zugehörigkeit bestimmt, unterliegen der Autonomie der Mitgliedstaaten; in diesem Sinne handelt es sich um eine „Vorfrage“, die nach nationalem Recht zu beantworten ist. 3. Andererseits sind den EU-Mitgliedstaaten bei der Ausgestaltung und Anwendung des nationalen Rechts gewisse unionsrechtliche Grenzen gesetzt. Nationale Maßnahmen, die zum Entzug der Staatsangehörigkeit (natürliche Personen) oder zur Auflösung (Gesellschaft) führen, entziehen zugleich die unionsrechtliche Freizügigkeit und sind daher kraft EU-Recht einer Verhältnismäßigkeitsprüfung zu unterwerfen. 4. Die zweite Stufe der rechtlichen Prüfung betrifft den Vorgang der Niederlassung. Darunter ist die tatsächliche Ausübung einer selbstständigen wirtschaftlichen Tätigkeit mittels einer festen Einrichtung auf unbestimmte Zeit zu verstehen. Ein grenzüberschreitender Sachverhalt im Sinne der Niederlassungsfreiheit liegt vor, wenn eine natürliche Person oder Gesellschaft sich in einem 1235

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anderen Mitgliedstaat niederlassen will als demjenigen, dem sie rechtlich zugehörig ist. 5. Die Parallele von natürlichen Personen und Gesellschaften setzt sich bei der Beschränkungsprüfung fort. Es gilt in beiden Fällen der Vier-Stufen-Test der Gebhard-Entscheidung. Parallel zu bewerten sind auch die Fragen, ob ein tatsächlicher Bezug zum Heimatstaat bestehen muss und inwieweit nahestehende Personen als Korrelarberechtigte mit geschützt werden. 6. Die Niederlassungsfreiheit schützt auch den Wegzug von Gesellschaften. Dabei bedarf allerdings der Begriff des „Wegzugs“ der terminologischen Klärung: Ein Wegzug liegt vor, wenn die Gesellschaft eine Niederlassung in einem anderen Mitgliedstaat als demjenigen errichten will, dem sie rechtlich angehört. Der bloße Wechsel des anwendbaren Gesellschaftsrechts ist kein Wegzug; er betrifft die rechtliche Zugehörigkeit zum Mitgliedstaat und damit diejenige Vorfrage, bei welcher die Mitgliedstaaten weitgehende Regelungsautonomie genießen. 7. Die herkömmliche Unterscheidung in Zuzugs- und Wegzugsfälle ist daher aufzugeben. Der Wegzug, verstanden als Errichtung einer Niederlassung in einem anderen Mitgliedstaat, ist unionsrechtlich geschützt. Das gilt für natürliche Personen und Gesellschaften gleichermaßen. Diesen Gleichlauf belegen die Entscheidungen de Lasteyrie du Saillant (natürliche Person) und National Grid Indus BV (Gesellschaft). Cartesio hingegen war in diesem Sinne kein Wegzugsfall, weil es dabei um den Wechsel der rechtlichen Zugehörigkeit zu einem bestimmten Mitgliedstaat ging.

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Die Kündigung von Gleichordnungsverbindungen im Konzernrecht und ihre Rechtsfolgen – unter besonderer Berücksichtigung von Stimmbindungsvereinbarungen

Inhaltsübersicht I. Hintergründe und rechtliche Ausgestaltung von Gleichordnungsverbindungen 1. Rechtliche und wirtschaftliche Motive für die Bildung von Gleichordnungskonzernen im Versicherungswesen 2. Rechtliche Ausgestaltung der Gleichordnungskonzernierung II. Voraussetzungen und Rechtsfolgen der Auflösung von Gleichordnungskonzernen 1. Rechtsnatur der Gleichordnungsverbindung

2. Kündbarkeit der Gleichordnungsabrede 3. Rechtsfolgen der Kündigung III. Schicksal von Stimmbindungsverträgen 1. Zweckfortfall oder Zweckverfehlung? 2. Ergänzende Vertragsauslegung IV. Fazit

Die praktische Bedeutung konzernrechtlicher Gleichordnungsverbindungen – insbesondere auf dem Feld der Versicherungswirtschaft – ist kein Geheimnis mehr.1 Über den Tatbestand des Gleichordnungskonzerns ist – anders als vor rund 20 Jahren – in den beiden letzten Jahrzehnten durchaus lebhaft diskutiert worden;2 die haftungsrechtlichen und kartellrechtlichen Auswirkungen der „Konzernierung auf Augenhöhe“ sind intensiv untersucht worden.3 Eine „terra

__________ * Die folgenden Ausführungen geben die Überlegungen wieder, die der Erstverfasser als Obmann eines Schiedsgerichtes den Parteien zur vergleichsweisen Beilegung des Rechtsstreits vorgetragen hat. Auf der Basis dieser Überlegungen haben die Parteien sich – ganz im Sinne der Überlegungen der vom Schiedsgericht vorgetragenen Gedanken – außergerichtlich geeinigt. 1 Emmerich/Habersack, Konzernrecht, 9. Aufl. 2008, § 4 Rz. 33; Preiner, Konzernstrukturen von Versicherungsvereinen auf Gegenseitigkeit, VersW 1992, 920; Wellkamp, Der Gleichordnungskonzern – Ein Konzern ohne Abhängigkeit?, DB 1993, 2517; Henssler, ZGR 2000, 479 ff. 2 Vgl. nur die Nachweise bei Bayer in MünchKomm. AktG, 3. Aufl. 2008, § 18 AktG Rz. 49. 3 Drygala, Der Gläubigerschutz bei der klassischen Betriebsaufspaltung, 1991; Lutter/ Drygala, Grenzen der Personalverflechtung und Haftung im Gleichordnungskonzern, ZGR 1995, 557; Paschke/Reuter, Der Gleichordnungskonzern als Zurechnungsgrund

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Wolfram Timm und Volker Messing

incognita“, als die sie Karsten Schmidt noch vor 20 Jahren beschrieben hat, ist die Gleichordnung im Konzern heute nicht mehr.4 Nicht im Zentrum des Interesses standen jedoch bislang die interessanten Rechtsfragen, die mit dem Auseinanderfallen von Gleichordnungskonzernen verbunden sind. Ein Blick in die Praxis zeigt, dass die Erkenntnis, in eine Gleichordnungsabrede eingebunden zu sein, bei vielen Unternehmen noch nicht angekommen ist oder sogar systematisch verdrängt wird, wenn die Auflösung der Gleichordnungsverbindung in Rede steht.5 Der Beitrag will die rechtlichen Grundlagen und praktischen Folgen der Kündigung von Gleichordnungsverbindungen aufzeigen und Lösungsansätze für die Praxis anbieten. Besonderes Augenmerk liegt dabei auf den Problemen, die die Übertragung von Beteiligungen auf eine Zwischenholding aufwirft, die von den Gleichordnungspartnern über Stimmrechtsbindungen kontrolliert wird. Um die wirtschaftlichen Hintergründe zu verdeutlichen, sollen zunächst die Motive für den Abschluss von Gleichordnungsverbindungen und ihre rechtliche Ausgestaltungen auf dem praktisch wohl wichtigsten Feld der Versicherungswirtschaft dargestellt werden (im Folgenden unter I.). Im Anschluss daran stellt sich die Frage, unter welchen Voraussetzungen die Gleichordnungsverbindung beendet werden kann und welche Rechtsfolgen damit verbunden sind (unter II.). Wie sich dies speziell auf Stimmrechtsbindungen auswirkt, ist Gegenstand der Schlussbetrachtung (unter III.).

I. Hintergründe und rechtliche Ausgestaltung von Gleichordnungsverbindungen 1. Rechtliche und wirtschaftliche Motive für die Bildung von Gleichordnungskonzernen im Versicherungswesen Die Gründe für die Attraktivität des Gleichordnungskonzerns gerade auf dem Feld der Versicherungswirtschaft liegen in den spezifischen versicherungsrechtlichen Vorbedingungen: Wegen des Grundsatzes der Spartentrennung gemäß § 8 Abs. 1a VAG, welcher insbesondere die Isolierung der Insolvenzgefahr auf ein Unternehmen durch Trennung der Vermögensmassen zum Ziel hat,6 sind die meisten Versicherungsgesellschaften seit jeher als Spezialversicherer tätig. Infolge der bedarfsorientierten spartenübergreifenden Nachfrage der Versicherungsnehmer entwickelten sich schon in Zeiten der „Weimarer Republik“ erste Allspartenversicherer.7 Mittlerweile sind die Grenzen der

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4 5 6 7

im Kartellrecht, ZHR 158 (1994), 390; K. Schmidt, Konzentrationsprivileg und Gleichordnungskonzern – Kartellrechtsprobleme des Gleichordnungskonzerns, FS Rittner, 1991, S. 561. K. Schmidt, Gleichordnung im Konzern: terra incognita?, ZHR 151 (1991), 417. Diese Erfahrung haben die Verfasser in einem Schiedsverfahren gemacht, in dem Prof. Dr. Timm als Obmann des Schiedsgerichts tätig war, der Mitverfasser Messing als Protokollführer des Schiedsgerichts. Müller-Wiedenborn, Versicherungsvereine auf Gegenseitigkeit im Unternehmensverbund, S. 69. Weigel in Prölss, 12. Aufl. 2005, Vor § 15 VAG Rz. 68.

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Die Kündigung von Gleichordnungsverbindungen im Konzernrecht

Märkte für Versicherungen, Bankprodukte und sonstige Finanzdienstleistungen immer mehr verschwommen. Aufgrund des Verbots versicherungsfremder Geschäfte gemäß § 7 Abs. 2 VAG und der verschiedenen aufsichtsrechtlichen Schranken lassen sich solche „Allfinanzkonzepte“ nur durch rechtlich selbständige Unternehmen unter dem Dach eines Gleichordnungskonzerns verwirklichen.8 Das Manko an dieser Konstruktion: In Gleichordnungskonzernen ergeben sich erhebliche steuerliche Nachteile daraus, dass die gleichgeordneten Versicherungsvereine nicht die Voraussetzungen einer steuerlichen Organschaft erfüllen.9 Die Begründung einer steuerlichen Organschaft scheitert zunächst daran, dass ein VVaG10 nicht finanziell eingegliedert werden kann. Die für die Annahme einer steuerlichen Organschaft notwendige finanzielle Eingliederung setzt eine gesellschaftsrechtliche Mehrheitsbeteiligung voraus, die es bei der Rechtsform der VVaG nicht geben kann.11 Denn die im Rahmen einer Aufspaltung des Gründungsstocks möglicherweise ausgegeben Anteilsscheine begründen für die Inhaber der Anteilsrechte keine mitgliedschaftlichen Verwaltungsrechte im Sinne des § 16 Abs. 1 AktG.12 Hieraus ergab sich in der Vergangenheit für Versicherungsunternehmen das Dilemma, Allsparten- und Allfinanzkonzepte zu optimieren und zugleich zwischen den aufsichtsrechtlichen und den steuerrechtlichen Beschränkungen zu lavieren. Die rechtsformbedingten Nachteile des VVaG haben eine wesentliche Rolle beim Aufbau der Konzernstrukturen gespielt. Die Lösung wurde in der Vergangenheit durch Etablierung einer einheitlichen Leitung des Allsparten- oder Allfinanzversicherers gesucht, d. h. durch eine personelle Identität der Vorstandsmitglieder der beteiligten Gesellschaften. Eine satzungsmäßige Verpflichtung zur Bestellung identischer Vorstandsmitglieder ist jedoch aus Rechtsgründen ebenso ausgeschlossen wie eine vertragliche Vereinbarung, die dies institutionell verfestigen würde.13 Eine diesbezügliche Vereinbarung oder Satzung wäre unzulässig.14 Die bindende Verpflichtung oder das kraft Gesetz gemäß § 34 Satz 2 VAG i. V. m. § 84 Abs. 1 Satz 1 AktG ausschließlich dem Aufsichtsrat des VVaG zustehende Recht, den Vorstand zu bestellen, konnte und kann nur durch rechtlich unverbindliche Goodwill-Erklärungen untermauert werden. Als flankierende Maßnahmen solcher „weichen“ Abreden zur gemeinsamen Führung und der faktisch (personen-)identischen Geschäftsführungsebene bieten sich zur weiteren Verfestigung der Verbindung die wechsel-

__________ 8 Vgl. zum Ganzen die Übersicht bei Koerfer in Semler/Stengel, 2. Aufl. 2007, Anh. zu § 119 UmwG (Bestandsübertragung, aufsichtsrechtliche Genehmigungen und Gleichordnungskonzern) Rz. 104 ff.; Müller-Wiedenborn (Fn. 6), S. 69; Görg, Der VVaGGleichordnungskonzern und seine Umstrukturierung in einen VVaG-Unterordnungskonzern, S. 28. 9 Görg (Fn. 8), S. 28; von Benachteiligungen im Bereich des Steuerrechts spricht: Gerner, Demutualisierung eines VVaG, S. 4. 10 Gemäß § 15 VAG ein Versicherungsverein auf Gegenseitigkeit. 11 Koerfer (Fn. 8), Rz. 156; Peiner/Görg, FS Horst Richter, S. 167, 272; Görg (Fn. 8), S. 28. 12 Müller-Wiedenborn (Fn. 6), S. 137; ähnlich auch Görg (Fn. 8), S. 10. 13 Vgl. Koerfer (Fn. 8), Rz. 125. 14 Koerfer (Fn. 8), Rz. 128; Brenzel, Der Versicherungsverein auf Gegenseitigkeit, S. 120.

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seitige Beteiligung an den jeweiligen Tochtergesellschaften, die wechselseitige Aufnahme bzw. Gewährung von Genussscheinkapital,15 wechselseitige Rückversicherung und die Gründung einer gemeinsamen Finanz-(Zwischen-) Holding an.16 Kennzeichen der Gleichordnungsverbindung unter Beteiligung von VVaG sind also, dass die Dauerhaftigkeit des Gleichordnungskonzerns vertraglich nicht sichergestellt werden kann und der Leitung des Gleichordnungskonzerns unter Beteiligung von VVaG enge Grenzen gesetzt sind.17 Demzufolge treten die meisten großen deutschen Versicherer nicht als Einzelunternehmen auf, sondern bilden jeweils mit einer Mehrheit von Einzelunternehmen Versicherungskonzerne oder -gruppen. Im Durchschnitt umfasst ein solcher Konzern fünf Versicherungsunternehmen, zusammengesetzt aus Schaden-, Unfall- und Rechtsschutzversicherer, Lebensversicherer, Krankenversicherer und Rückversicherer.18 In weiten Bereichen weisen diese Versicherungskonzerne Unterordnungsstrukturen auf, in einer ganzen Reihe von Fällen sind jedoch Gleichordnungsstrukturen zu erkennen. 2. Rechtliche Ausgestaltung der Gleichordnungskonzernierung Nach allgemein anerkannter Meinung kann eine Gleichordnungsbeziehung zwischen zwei oder mehr Gesellschaften bereits allein durch eine vollkommen oder teilweise personenidentische Besetzung der Gesellschaftsorgane begründet werden.19 Für den VVaG beschreibt Preiner dies plastisch wie folgt: Die auch für Gleichordnungskonzerne erforderliche einheitliche Leitung im Sinne von §§ 18 Abs. 2, 291 Abs. 2 AktG werde „überwiegend nicht durch eine gemeinsame Koordinationsstelle etwa im Sinne einer BGB-Gesellschaft ausgeübt“, sondern „die Personalidentität in den Organen von Konzernunternehmen erweist sich allgemein in den deutschen VVaG-Gruppen als ein weit verbreitetes und bewährtes Instrument der einheitlichen Leitung“. Sie sei „am stärksten verbreitet in den Vorständen, bei denen ganz überwiegend Personenidentität besteht“, aber auch „häufig anzutreffen in den Aufsichtsräten“, bei denen Personenidentität „zumindest in der Person des Aufsichtsratsvorsitzenden“ bestehe.20 In der Praxis findet die personelle Verflechtung nicht selten in beiden Organen statt. Die Wahrung der Interessen aller am Konzern beteiligten Versicherungsunternehmen soll durch die Zusammensetzung sowohl des Entscheidungs- als auch des Kontrollgremiums lückenlos gewährleistet sein. Es verwundert allerdings nicht, wenn die beteiligten Gesellschaften in diesem Zusammenhang immer wieder darauf hinweisen, dass eine vertragliche Konzernierung oder sonstige vertragliche Bindung nicht beabsichtigt gewesen sei,

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15 Zur wirtschaftlichen Verflechtung durch Beteiligung an Tochtergesellschaften und wechselseitige Genussrechtskapitalaufnahme auch Wiedenborn (Fn. 6), S. 213. 16 Vgl. Koerfer (Fn. 8), Rz. 154. 17 Ausführlich dazu Koerfer (Fn. 8), Rz. 133 f. 18 Dreher, FS E. Lorenz, 1994, S. 175, 179 f. 19 Vgl. etwa Lutter/Drygala (Fn. 3), S. 558 m. w. N. 20 Preiner (Fn. 1), S. 922.

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da dies die allseits gewünschte umsatzsteuerliche Organschaft zerstören würde.21 Dem ist jedoch entgegen zu halten, dass dieser Wunsch auf ein rechtlich unmögliches Ziel gerichtet ist: Die Einbindung eines VVaG in ein Abhängigkeits- und Beherrschungsverhältnis im Sinne von §§ 17 Abs. 1, 18 Abs. 1 AktG verbietet sich schon wegen § 82 Abs. 2 VAG. Die Negation jedweder Konzernstrukturen lässt dazu das Rechtsinstitut des faktischen Gleichordnungskonzerns außer Acht: Wer über das Konstrukt personenidentischer Vorstände jahrelang bewusst eine immer stärkere Verflechtung der beteiligten Unternehmen im operativen Bereich etabliert hat, muss sich daran konzernrechtlich festhalten lassen. Dem steht freilich die Unternehmenspraxis entgegen, dass vielfach Mehrheitsentscheidungen in der Weise zugelassen werden, dass der stärkere Vertragspartner faktisch in der Lage ist, den Konzern nach Belieben zu majorisieren. Dies ist aktienrechtlich überaus kritisch zu sehen, liegt darin doch eine (mehr oder weniger) verdeckte Beherrschung.22 Die Rechtsfolgen solcher „verdeckter Beherrschungsverträge“ – auch sog. BCA mit beherrschungsvertraglichen Elementen – sind überaus umstritten.23 Verträge, die nicht die Voraussetzungen der §§ 293 f. AktG erfüllen, sind mindestens den Schutzregeln des faktischen Konzerns unterstellt mit der Folge, dass jegliche schädigende Maßnahmen zu unterbleiben haben bzw. durch kompensatorische Maßnahmen auszugleichen sind, worauf später noch zurückzukommen sein wird.

II. Voraussetzungen und Rechtsfolgen der Auflösung von Gleichordnungskonzernen 1. Rechtsnatur der Gleichordnungsverbindung Nach nahezu einhelliger Meinung ist die Gleichordnungsverbindung als BGBGesellschaft anzusehen, für die die §§ 705 ff. BGB direkt oder analog Anwendung finden.24 So heißt es beispielsweise bei Zöllner:25 „Die beteiligten Gesellschaften können dahin übereinkommen, die Unternehmen gemeinsam zu führen. Darin liegt der Abschluss einer BGB-Gesellschaft.“ Die einheitliche

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21 Vgl. auch Emmerich/Habersack (Fn. 1), wonach die zutreffende rechtliche Behandlung des Gleichordnungskonzerns dadurch erschwert wird, „dass die Gesellschaftspraxis offenbar immer mehr zu nur noch schwer durchschaubaren, komplexen Konstruktionen bei der Gründung von Gleichordnungskonzernen übergeht, gewiss auch zu dem Zweck, das Faktum der einheitlichen Leitung der beteiligten Unternehmen den Kartellbehörden zu verbergen“. 22 Vgl. zur Problematik der „verdeckten Beherrschungsverträge“ Emmerich in Emmerich/Habersack, Aktien- und GmbH-Konzernrecht, 6. Aufl. 2010, § 291 AktG Rz. 24 ff.; Koerfer (Fn. 8), Rz. 133 ff.; aus der Rechtsprechung insb. OLG München, ZIP 2008, 1330. 23 Vgl. die Beiträge von Decher und Emmerich in FS Hüffer, 2010, S. 145 ff., 179 ff. 24 Vgl. etwa Bayer (Fn. 2), Rz. 52; Altmeppen in MünchKomm. AktG, 3. Aufl. 2008, § 291 AktG Rz. 212; Hüffer, 9. Aufl. 2010, § 18 AktG Rz. 20, jew. m. w. N.; speziell für Gleichordnungsverbindungen im Versicherungsrecht Koerfer (Fn. 8), Rz. 123. 25 Zöllner in Baumbach/Hueck, GmbHG, 19. Aufl. 2010, Schlussanhang („Die GmbH im Unternehmensverbund“) Rz. 27.

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Leitung des Konzerns könne über einen Stimmbindungsvertrag gewährleistet werden, die Etablierung eines gemeinsamen Leitungs- oder Geschäftsführungsausschusses oder die Bestellung derselben Person als Geschäftsführer („Personalunion“). Zöllner weist ausdrücklich darauf hin, dass es im konkreten Fall erforderlich sein kann „konkludente Absprachen anzunehmen“, auch wenn die Beteiligten solche Absprachen – jedenfalls nach außen – vermeiden wollen. Ähnlich formuliert Servatius: „Wird ein Gleichordnungskonzern mittels Gleichordnungsvertrages begründet, handelt es sich regelmäßig um eine GbR zweier gleich starker und gleichberechtigter Gesellschaften“.26 Dies ist unbestreitbar richtig und kann nur die Anwendung der §§ 705 ff. BGB zur Folge haben. Die §§ 293 ff. AktG jedenfalls passen nicht und können auch deshalb nicht gelten, da § 291 Abs. 2 AktG die Anwendung auf den Gleichordnungskonzern ausschließt. 2. Kündbarkeit der Gleichordnungsabrede Daraus folgt, dass die Gleichordnungsverbindung gemäß § 723 Abs. 1 Satz 1 BGB (analog) jederzeit ohne Angabe von Gründen kündbar ist. Abreden, die das Kündigungsrecht ausschließen oder beschränken, sind nichtig gemäß § 723 Abs. 3 BGB. Es ist praktisch nur schwer vorstellbar, dass die beteiligten Gesellschaften den Konzern im Sinne von § 723 Abs. 1 Satz 2 BGB auf Zeit geschlossen haben. Auch dann dürften entgegenstehende Vereinbarungen jedoch gemäß § 307 Abs. 2 Nr. 1 BGB unwirksam sein, da ein uneingeschränktes und unbefristetes Kündigungsrecht einen wesentlichen Grundgedanken des Gleichordnungskonzerns darstellt. Nach Emmerich gehört es zum Wesen der Gleichordnungsbeziehung, dass den beteiligten Unternehmen ein „ernstgemeintes Kündigungsrecht“ eingeräumt wird, sonst liegt letztlich ein Abhängigkeitsverhältnis im Sinne von §§ 17 Abs. 1, 18 Abs. 1 AktG vor.27 Ist also ein (schriftliches) Organisationsstatut abgeschlossen worden, in dem die Ausübung des Kündigungsrechts an Voraussetzungen geknüpft ist, so sind diese Einschränkungen nicht auf die Gleichordnungsabrede als solche zu beziehen, sondern – wenn überhaupt – allenfalls auf das die Zusammenarbeit regelnde Statut (§§ 306 Abs. 2, 723 Abs. 1 Satz 1 BGB).28 3. Rechtsfolgen der Kündigung In Ermangelung einer spezialgesetzlichen Regelung sind die §§ 731 ff. BGB heranzuziehen. Probleme wirft die Rückabwicklung von Beteiligungen an Tochtergesellschaften der Konzernpartner oder die Einbringung von Geschäftsanteilen in eine gemeinsamen Finanz-(Zwischen-)Holding auf. In der Diktion

__________ 26 Servatius in Beck’scher Online-Kommentar zum GmbHG, Konzernrecht, Rz. 545. 27 Emmerich/Habersack (Fn. 1), § 4 Rz. 37. 28 Vgl. die Eingangsbemerkungen: Die Dauerhaftigkeit eines Gleichordnungskonzerns unter Beteiligung von Versicherungsvereinen kann vertraglich nicht sichergestellt werden (vgl. Koerfer [Fn. 8], Rz. 138). Zwingende Organzuständigkeiten können nicht durch vertragliche Abreden ohne Kündigungsmöglichkeiten substituiert werden.

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der §§ 705 ff. BGB wird man darin Einlageleistungen im Sinne von § 706 BGB sehen müssen und im Hinblick auf ihre Rückerstattung nach den sich tatbestandlich ausschließenden Regelungen der §§ 732, 733 Abs. 2 BGB zu differenzieren und folglich zu fragen haben, ob die Einlage der Gesellschaft nur vorübergehend zur Benutzung überlassen worden ist (§ 732 BGB) oder dauerhaft in das Gesamthandsvermögen übergehen sollte (§ 733 Abs. 2 BGB).29 Abweichend von § 732 BGB sieht § 733 Abs. 2 S. 2 BGB für nicht in Geld bestehende Einlagen eine Wertersatzpflicht vor; die Rückgabe in Natur kann grundsätzlich nicht verlangt werden.30 Allerdings ist § 733 Abs. 2 Satz 2 BGB disponibel, d. h. die Parteien können abweichend vereinbaren, dass Einlagen im Falle der Auseinandersetzung auf den Inferenten zurück zu übertragen sind; in diesem Fall gilt § 732 BGB entsprechend.31 Von einer entsprechenden konkludenten Vereinbarung dürfte aufgrund der Gleichordnungsabrede regelmäßig auszugehen sein, da das Interesse der Konzernpartner erkennbar auf eine dauerhafte Übertragung der Geschäftsanteile gerichtet ist, jedenfalls wenn – wie im Regelfall – die Gleichordnungsverbindung auf unbestimmte Zeit eingegangen worden ist. Es wäre nicht interessengerecht, wenn der aus dem Konzernverbund ausscheidende Partner lediglich den Wert ersetzt bekommen würde, den die Beteiligung zum Zeitpunkt ihrer Einbringung hatte (vgl. § 733 Abs. 2 Satz 2 BGB). Daran ändert auch der Umstand nichts, dass dieser Wert häufig deutlich über den in den Übertragungsverträgen angegebenen Buchwerten liegt, die für den Ausgleichsanspruch aus § 733 Abs. 2 Satz 2 BGB nicht maßgeblich sind, da sie regelmäßig allein aus steuerlichen Gründen angegeben werden.32 Ergänzend lässt sich dies auch mit dem Prinzip nachwirkender Treuepflichten im Gesellschaftsrecht begründen. Gleichordnungskonzerne sind partnerschaftliche Zweckgemeinschaften, welche die Beteiligten dazu verpflichten, sich gegenüber dem anderen Teil loyal zu verhalten und auf dessen Interessen Rücksicht zu nehmen.33 Dass diese Treuepflichten nicht uno acto mit der Kündigung erlöschen, sondern bis zur endgültigen Abwicklung des Dauerschuldverhältnisses nachwirken, ist allgemein und über das Gesellschaftsrecht hinaus anerkannt.34 Danach sind die ehemaligen Gleichordnungspartner gehalten, alle nötigen und zumutbaren Maßnahmen zu ihrer gegenseitigen Entflechtung zu ergreifen, insbesondere auch die zur Verwirklichung der Gleichordnungsverbindung getroffenen Vermögensdispositionen wieder rückgängig zu machen, soweit dies heute noch möglich ist. Strukturkennzeichen des Gleichordnungsvertrages ist unter anderem die Pflicht zur „Respektierung der Gesellschaftsautonomie“.35 Das bedeutet, dass man bei Gleichordnungsverbindungen die Beteiligten für verpflichtet ansehen muss, soweit erforderlich in Vorkehrungen

__________ 29 30 31 32 33 34

Habermeier in Staudinger, § 733 BGB Rz. 8. Timm/Schöne in Bamberger/Roth, 3. Aufl. 2011, § 733 BGB Rz. 11. Ulmer in MünchKomm. BGB, 5. Aufl. 2009, § 732 BGB Rz. 7. Ulmer (Fn. 31), § 733 Rz. 15; Habermeier (Fn. 29), Rz. 10. Lutter/Drygala (Fn. 3), S. 566 m. w. N. Vgl. etwa Sutschet in Bamberger/Roth, 3. Aufl. 2011, § 241 BGB Rz. 99 ff.; Ernst in MünchKomm. BGB, 5. Aufl. 2007, § 280 BGB Rz. 109 ff. 35 Vgl. Zöllner (Fn. 25), Rz. 96.

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einzuwilligen, die eine Ausübung von Leitungsmacht ausschließen, beispielsweise eine entsprechende Beschränkung des Stimmrechts. Ist also – was in der Praxis leider der Regelfall zu sein scheint – in der Satzung ein entsprechender Präventivschutz bei Auflösung der Gleichordnungsverbindung nicht vorgesehen, besteht jedenfalls die gegenseitige Verpflichtung der Partner, sich im Auflösungsfall „gegenüber dem anderen Teil loyal zu verhalten und auf dessen Interessen Rücksicht zu nehmen“.36 Konkret bedeutet das: Sämtliche Beteiligungen, die bei Abschluss der Gleichordnungsvereinbarung oder später mit Blick auf ihren Fortbestand übertragen worden sind, sind im Falle der Kündigung zurückzugewähren. Ist die Übertragung auf eine rechtlich selbständige Zwischenholding erfolgt, steht dem ausscheidenden Vertragspartner ein Rückübertragungsanspruch in Höhe seines mittelbaren rechnerischen Anteils an der veräußerten Beteiligung zu. Er kann mit anderen Worten verlangen, in realiter so gestellt zu werden, wie wenn er die Gleichordnungsabrede nie abgeschlossen hätte und muss sich nicht mit einem – wie auch immer zu berechnenden – Wertersatzanspruch abspeisen lassen. Der wechselseitige Ausgleich gemäß §§ 731 Satz 1 i. V. m. 732 BGB analog führt damit letztlich zu einer vollständigen Entflechtung des Gleichordnungskonzerns. Diese rechtlich gebotene Entflechtung hat sich auf sämtliche Beteiligungen in allen Sparten des Konzerns zu erstrecken und ist nicht auf bestimmte Teilbereiche beschränkt, in einem „Allfinanzkonzept“ etwa auf den unmittelbaren Versicherungsbereich. Die Realteilung muss sich konsequent „bis nach unten verlängern“. Das deckt sich mit den Überlegungen, die das OLG Köln, welches gerade für die Fälle von Vorstands-Doppelmandaten in der Versicherungswirtschaft festgehalten hat, dass es „Sache der betreffenden Vorstandsmitglieder (sei), sich so zu verhalten, dass eine Pflichtverletzung gegenüber der jeweiligen Gesellschaft vermieden wird“.37 Dem Vorstand obliegt also eine fortlaufende Pflicht zur Nichtbenachteiligung einzelner Gesellschaften. Er muss demnach bei allen Geschäften vorausschauend die mögliche Trennung der Gesellschaften im Auge haben und hierfür Vorsorge treffen. Dies beinhaltet eine Verpflichtung des Vorstands zur „sauberen Trennung“ des Verbundes nach einer entsprechenden Kündigung und Auflösung des Verbundes. Bei der Auslegung von vertraglichen Absprachen der Beteiligten ist im Zweifel davon auszugehen, dass ein Vorstand/Geschäftsleiter sich rechtskonform verhalten will, so dass der entsprechende Grundsatz auch ohne förmliche Fixierung in die Auslegung der entsprechenden Vereinbarung „hineinzulesen“ ist. Es ist zu unterstellen, dass sich Geschäftsleiter stets so verhalten wollten, dass eine Pflichtverletzung gegenüber der jeweiligen Gesellschaft vermieden wird.38 Dass dieses Ergebnis auch konzernrechtlich richtig ist, zeigt schließlich ein Blick auf den bereits angesprochenen Gesichtspunkt verdeckter Beherrschung

__________ 36 Vgl. dazu Lutter/Drygala (Fn. 3), S. 566 m. w. N. 37 OLG Köln, ZIP 1993, 110, 114 (mit Anm. Timm). 38 In der Sache übereinstimmend Dreher (Fn. 18), S. 198.

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im Gleichordnungskonzern.39 Wenn man den Schutzgedanken des § 311 Abs. 1 AktG konsequent weiter denkt, kann dies unter dem Gesichtspunkt der schadensersatzrechtlichen Naturalrestitution nur bedeuten, dass im Falle der Kündigung erbrachte Leistungen so zurückzugewähren sind, dass der „status quo ante“ – jedenfalls im gedanklichen Ansatz – wieder hergestellt wird. Im Ergebnis bedeutet dies nichts anderes, als dass konzernrechtlich dieselben Rechtsfolgen gelten, wie sie bereits aus den §§ 731 ff. BGB entwickelt worden sind.

III. Schicksal von Stimmbindungsverträgen Die Bindung des Stimmrechts in der Hauptversammlung ist gerade für die Partner einer Gleichordnungsverbindung interessant, um ihrer im Grundsatz unverbindlichen Zusammenarbeit zumindest partiell formale Züge zu verleihen. Im Falle der (gemeinsamen) Gründung einer Aktiengesellschaft bietet es sich namentlich an, sich über die Besetzung des Aufsichtsrates zu verständigen und wechselseitig zu verpflichten, in der Hauptversammlung entsprechend den Wahlvorschlägen abzustimmen; auf diese Weise kann mittelbar auch auf die Besetzung des Vorstandes Einfluss genommen werden (§ 84 Abs. 1 AktG). Solche Wahlabreden – auch sog. Konsortial- oder Poolverträge – sind aktienrechtlich zulässig.40 Doch was geschieht mit ihnen, wenn die Gleichordnungsverbindung gelöst wird? Stimmbindungsverträge begründen nach herrschender Meinung selbständige BGB-Innengesellschaften im Sinne von §§ 705 ff. BGB und sind daher wie die Gleichordnungsverbindung jederzeit kündbar gemäß § 723 Abs. 1 Satz 1 BGB.41 Die Kündigung wirkt allerdings nur für die Zukunft und macht aus Sicht der Minderheitsaktionäre keinen Sinn, wenn das Unternehmen fortgeführt werden und nicht fortan der Mehrheitseigner uneingeschränkt seinen Einfluss geltend machen soll (vgl. § 101 Abs. 1 Satz 1 AktG). Die Abberufung von Aufsichtsräten kommt – vorbehaltlich einer abweichenden Satzungsbestimmung – nur mit qualifizierter Mehrheit in Betracht (§ 103 Abs. 1 Satz 2 AktG). Ein satzungsmäßiges Entsenderecht im Sinne von §§ 101 Abs. 2, 103 Abs. 2 Satz 1 AktG, das von einem bloßen Benennungsrecht formal strikt zu trennen ist,42 wird in der Praxis vielfach zugunsten der Stimmrechtsbindung abgelehnt, um einem Schwebezustand vorzubeugen, der durch die Abberufung entstehen könnte.

__________ 39 S. oben unter I. 2. (Fn. 22 f.). 40 Vgl. nur Semler in MünchHdb. AG, 3. Aufl. 2007, § 38 AktG Rz. 42; Schröer in MünchKomm. AktG, 2. Aufl. 2004, § 136 AktG Rz. 61, jew. m. w. N. 41 Hopt/Roth in Großkomm. AktG, 4. Aufl. 2008, § 101 AktG Rz. 26; Semler (Fn. 40), § 38 Rz. 43; Bausch, Zur Kündbarkeit langfristiger Stimmbindungsverträge, AG 2007, 651. 42 Baumann/Reiß, Satzungsändernde Vereinbarungen – Nebenverträge im Gesellschaftsrecht, ZGR 1989, 157, 187.

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1. Zweckfortfall oder Zweckverfehlung? Sieht man in dem Bestand der Gleichordnungsverbindung die Basis der Stimmrechtsbindung und insbesondere für die Zuweisung der Aufsichtsratsmandate, stellt sich die Frage, ob Zweckfortfall oder (nachträglich) Zweckverfehlung eingetreten ist. Wendet man auf diese Rechtsfigur Unmöglichkeitsrecht an,43 wären die wechselseitigen Abstimmungs- und sonstigen Verhaltenspflichten aus dem Stimmbindungsvertrag gemäß § 275 Abs. 1, 1. Alt. BGB ipso iure erloschen. Dieselbe Rechtsfolge tritt über § 726, 2. Alt. BGB ein, wenn man mit der herrschenden Meinung auf Stimmbindungsvereinbarungen generell die §§ 705 ff. BGB (entsprechend) anwendet.44 Dagegen spricht jedoch der Zweck der Stimmrechtsbindung im Gleichordnungskonzern: Im Regelfall verzichtet ein starker Partner, der die Mehrheitsbeteiligung an der Holding hält, auf die Möglichkeit, sämtliche Aufsichtsratsmandate allein zu besetzen (§ 101 Abs. 1 Satz 1 AktG) und bekundet mit der Einräumung einer ihren Anteilen entsprechenden Anzahl von Kandidaten gegenüber den kleineren Partnern seinen „Goodwill“. Diese Intention kann auch nach einem Herrschaftswechsel fortbestehen, mag für derartige „Geschenke“ auch im Falle des endgültigen Scheiterns der Zusammenarbeit regelmäßig kein Anlass mehr bestehen. 2. Ergänzende Vertragsauslegung Im Regelfall haben die Vertragspartner bei Abschluss des Stimmbindungsvertrages die Beendigung der Gleichordnungsverbindung und ihre Folgen nicht bedacht, so dass sich die Frage stellt, wie die Lücke zu schließen ist. Im Wege ergänzender Auslegung gemäß §§ 133, 157 BGB könnte der Stimmbindungsvertrag an die geänderten Mehrheitsverhältnisse anzupassen sein. Nach dem Grundgedanken der Stimmbindungsvereinbarung wird man jedoch sämtlichen Großaktionären zumindest ein „symbolisches“ Aufsichtsratsmandat zuerkennen müssen, auch wenn ihnen nach den ihnen nunmehr zustehenden Anteilen materiell keines mehr zusteht. Führt dies zu einer Pattsituation, so ist der Abschluss eines ergänzenden, neuen Stimmbindungsvertrages mit flankierenden Regeln zu erwägen. Zu denken ist insbesondere an die Zuweisung des Vorsitzes im Aufsichtsrat und die Zubilligung eines sog. Mehrstimmrechts zugunsten des Aufsichtsratsvorsitzenden. Mit dem Grundsatz der Gleichwertigkeit der Stimmen im Aufsichtsrat ist es nach einhelliger Ansicht vereinbar, wenn dem Aufsichtsratsvorsitzenden bei Stimmengleichheit zugebilligt wird, mit seiner (Mehr-)Stimme zu entscheiden.45 Zu beachten ist jedoch, dass die Zulässigkeit von Stimmbindungsverträgen in diesem Zusammenhang strittig ist. In der Literatur wird es vereinzelt für unzulässig gehalten, einem Kandidaten

__________ 43 Vgl. zum Streitstand Ernst in MünchKomm. BGB, 5. Aufl. 2007, § 275 BGB Rz. 160 f.; Löwisch/Caspers in Staudinger, Neubearbeitung 2009, § 275 BGB Rz. 30 ff. 44 Vgl. die Nachweise bei Fn. 41. 45 Hopt/Roth (Fn. 41), § 108 Rz. 52; Mertens in KölnKomm. AktG, 2. Aufl. 1996, § 108 AktG Rz. 48; Habersack in MünchKomm. AktG, 3. Aufl. 2008, § 107 AktG Rz. 66, § 108 AktG Rz. 25; Lutter/Krieger, Rechte und Pflichten des Aufsichtsrates, 5. Aufl. 2008, Rz. 730.

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eine bestimmte Stellung im Aufsichtsrat, insbesondere den Vorsitz, zuzusichern; dies verstoße gegen den Grundsatz der Wahlfreiheit des Aufsichtsrates gemäß § 107 Abs. 1 Satz 1 AktG.46 Als problematisch angesehen wird ferner, dass auch nach § 101 Abs. 2 AktG entsandten Mitgliedern des Aufsichtsrates kein Vorzugsstimmrecht eingeräumt werden könne, da dies aktienrechtlich nicht vorgesehen sei.47 Was für das dingliche Entsenderecht gelte, müsse erst recht für schuldrechtliche Vereinbarungen gelten. Ob diese Bedenken allerdings wirklich durchschlagend erscheinen, ist zwar zweifelhaft, verdeutlicht jedoch die Regelungsbedürftigkeit von Stimmbindungsverträgen in diesem Fall.

IV. Fazit Dass sie eine Gleichordnungsabrede verbindet und welche Rechtsfolgen daran geknüpft sind, ist vielen Unternehmen noch nicht in das Bewusstsein gedrungen bzw. wird konsequent von ihnen verdrängt. Man fürchtet den Gleichordnungskonzern aus steuerlichen Gründen und will bei geänderten Herrschaftsverhältnissen nichts mehr von der Gleichordnungsverbindung wissen. Es verwundert daher nicht, dass die Rechtsfolgen der Beendigung faktischer Gleichordnungskonzerne bislang auch in der Wissenschaft ein Schattendasein fristen. Um unliebsame Konsequenzen bei der Auseinandersetzung zu vermeiden, ist den Gleichordnungspartnern zu raten, ihre Verbindung vertraglich zu fixieren und die Rechtsfolgen der Beendigung zu regeln. Das gilt auch und gerade für Stimmbindungsvereinbarungen, die mit Blick auf gemeinsame Beteiligungen oder eine Zwischenholding geschlossen werden, zumal bei deren Gründung häufig nicht absehbar ist, wie (erfolgreich) sie sich am Markt entwickelt.

__________ 46 Niewiarra, Verträge zwischen Vorstand und Aktionär, BB 1998, 1961, 1964 f.; zust. Hopt/Roth (Fn. 41), § 101 Rz. 26. 47 Vgl. nur Habersack (Fn. 45), § 108 AktG Rz. 28 (allg. Meinung).

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Peter Ulmer

Die unterwanderte Schutzgemeinschaft Inhaltsübersicht I. Einführung 1. Die Schutzgemeinschaft – Typus und Zweck 2. Sonstige Konsortialabreden zwischen Gesellschaftern 3. Das Problem 4. Exkurs: Der Unterpool II. Zur Rechtsnatur von Konsortialverträgen 1. Die Schutzgemeinschaft 2. Sonstige

III. Rechtsfolgen der „Unterwanderung“ 1. Überblick 2. Kündigung aus wichtigem Grund 3. Beendigung der unterwanderten Schutzgemeinschaft wegen Unmöglichwerden des gemeinsamen Zwecks IV. Ergebnisse

I. Einführung 1. Die Schutzgemeinschaft – Typus und Zweck Schutzgemeinschaften sind vertragliche Zusammenschlüsse zwischen Aktionären oder zwischen Mitgliedern von Handelsgesellschaften anderer Rechtsform.1 Sie dienen dem Zweck, den Gründungsgesellschaftern oder ihren Rechtsnachfolgern den maßgebenden Einfluss auf das gemeinsame Unternehmen trotz Öffnung des Gesellschafterkreises für dritte Kapitalgeber zu sichern und die Gesellschaft im gemeinsamen Interesse der Mitglieder der Schutzgemeinschaft fortzuführen. Typische Instrumente zur Erreichung dieses Zwecks sind einerseits die Stimmbindungsabreden der Beteiligten zur inhaltlich übereinstimmenden, von ihnen durch Mehrheitsbeschluss festzulegenden Stimmabgabe in der Gesellschafterversammlung der Hauptgesellschaft, andererseits Verfügungsbeschränkungen für den Anteilsbesitz an der Hauptgesellschaft auf Veräußerungen innerhalb der Schutzgemeinschaft, um den Fortbestand der Beteiligungsmehrheit in den Händen ihrer Mitglieder sicherzustellen. Von einer Übertragung der verstrickten Anteile auf die Schutzgemeinschaft als Rechtsinhaberin wird in aller Regel abgesehen. Die Schutzgemeinschaft ist

__________ 1 Sie finden sich typischerweise zwischen Gesellschaftern von Familiengesellschaften in der Rechtsform der AG oder GmbH, aber auch der (GmbH & Co.) KG, vgl. nur Noack Gesellschaftervereinbarungen bei Kapitalgesellschaften, 1994, S. 3 ff., 37 ff.; Ulmer in MünchKomm. BGB, 5. Aufl. 2009, Vor § 705 BGB Rz. 68 f. sowie die Vertragsmuster von Blaum/Scholz in Hoffmann-Becking/Rawert, Beck’sches Formularbuch Bürgerliches, Handels- und Wirtschaftsrecht, 10. Aufl. 2010, S. 1577 ff. (KG) und 1582 ff. (AG), und von Lorz in Lorz/Pfisterer/Gerber, Beck’sches Formularbuch Aktienrecht, 2005, S. 261 ff. (AG).

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typischerweise eine Innengesellschaft bürgerlichen Rechts; die Beteiligungsrechte an der Hauptgesellschaft verbleiben bei den Mitgliedern der Schutzgemeinschaft. Für das Einhalten der von diesen übernommenen Verpflichtungen sorgen vielmehr Vertragsstrafenabreden im Schutzgemeinschafsvertrag; sie dienen als Sanktion sowohl gegen vertragswidriges Abstimmen in der Hauptgesellschaft als auch gegen Anteilsverfügungen an Dritte unter Verletzung der vertraglichen Verfügungsbeschränkungen. Das alles ist im Grundsatz unstreitig.2 2. Sonstige Konsortialabreden zwischen Gesellschaftern Von der „klassischen“ Schutzgemeinschaft mit den vorstehend skizzierten, typischen Merkmalen lassen sich eine Reihe sonstiger, zwischen Gesellschaftern von Handelsgesellschaften anzutreffender Poolvereinbarungen oder Konsortialabreden3 unterscheiden. Bei ihnen geht es nicht primär um den Schutz der Hauptgesellschaft gegen Dritteinfluss und um die Koordinierung der auf die Hauptgesellschaft bezogenen Gesellschafterinteressen, sondern sie verfolgen andere Zwecke. Ein weites Feld unterschiedlicher Abreden zwischen Gesellschaftern findet sich etwa mit Blick auf Konzernabsprachen verschiedener Art, mit denen zwei oder mehr wesentlich beteiligte, nicht je für sich über die Kapital- oder Stimmenmehrheit verfügende Gesellschafter Abreden über die gemeinsame Leitung der Gesellschaft (als Gemeinschaftsunternehmen) oder über ein sonstiges abgestimmtes Vorgehen ihr gegenüber treffen;4 als Konzernsachverhalte sind sie nicht Gegenstand der Untersuchung. Anzutreffen sind aber auch andere, keinen Konzernbezug aufweisende Stimmbindungsabreden und Verfügungsbeschränkungen zwischen Gesellschaftern einer Handelsgesellschaft. Sie weisen zwar äußerlich gewisse Ähnlichkeiten mit den Schutzgemeinschaften auf, beruhen jedoch auf anderen Gründen und verfolgen andere Zwecke. So können sie dazu dienen, dem Unternehmensgründer oder einem sonst maßgeblich Beteiligten zu Lebzeiten im Rahmen vorgezogener Erbfolge den Fortbestand seines Einflusses auf die Hauptgesellschaft und seiner Entscheidungskompetenzen durch Stimmbindungen und Verfügungsbeschränkungen zu Lasten der nachfolgenden Generation zu sichern. Seit der Erbschaftsteuerreform 20095 stößt man des Weiteren nicht selten auf erbschaftsteuerlich veranlasste Konsortial- oder Pool-

__________ 2 Vgl. dazu eingehend die auf Gesellschaftervereinbarungen bei Kapitalgesellschaften konzentrierte, umfassende Monographie von Noack (Fn. 1). 3 Die Terminologie ist uneinheitlich. Als Oberbegriff für Gesellschafterabreden über Stimmbindungen oder über sonstiges gemeinsames Auftreten in bzw. gegenüber der Hauptgesellschaft finden sich verbreitet die Bezeichnungen Konsortial- oder Poolvertrag (vgl. etwa Zöllner, ZHR 155 (1991), 168, Fn. 1; Noack (Fn. 1), S. 6 f., 40 f.; Ulmer (Fn. 1), Vor § 705 BGB Rz. 68). Der im Text verwendete Begriff „Schutzgemeinschaft“ stellt auf die besondere, der Abwehr des Einflusses außenstehender Gesellschafter dienende Zweckbestimmung solcher Absprachen zwischen Gesellschaftern einer (ehemaligen) Familiengesellschaft ab. 4 Vgl. dazu etwa Baumann/Reiß, ZGR 1989, 157 ff.; Noack (Fn. 1), S. 41 ff., 87 ff. 5 Erbschaftsteuerreformgesetz v. 24.12.2008, BGBl. I 2008, 3018.

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vereinbarungen in Bezug auf Beteiligungen an Kapitalgesellschaften. Durch sie vereinbaren die Vertragsschließenden unter sich Stimmbindungen und Verfügungsbeschränkungen für Anteile von insgesamt mehr als 25 %, um auf diesem Wege gemäß § 13b Abs. 1 Nr. 3 Satz 2 ErbStG in den Genuss der Steuervorteile für die Schenkung oder Vererbung anteiliger Schachtelbeteiligungen an Kapitalgesellschaften bei Weiterführung des begünstigten Betriebsvermögens zu kommen. In beiden dieser Fälle fehlt es an der für typische Schutzgemeinschaften kennzeichnenden Sicherung des gemeinschaftlichen Einflusses auf die Hauptgesellschaft als gemeinsamer Zweck aller Beteiligten. Der Zweck des Einflussvorbehalts oder der Erbschaftsteuervergünstigung kann vielmehr auch im Rahmen eines „beherrschten“ Pools, unter Beteiligung eines den Pool dominierenden (Haupt-)Gesellschafters, zum Zuge kommen.6 3. Das Problem Gegenstand der folgenden Untersuchung ist die Frage, welche Rechtsfolgen eintreten, wenn es zur „Unterwanderung“ einer klassischen, auf gemeinsamen Einfluss aller Beteiligten gegenüber der Hauptgesellschaft ausgerichteten Schutzgemeinschaft in der Weise kommt, dass einer der Vertragspartner (oder eine untereinander eng verbundene Untergruppe, vgl. nachfolgend unter 4) eine Mehrheitsbeteiligung innerhalb der Schutzgemeinschaft erlangt. Man denke an eine Schutzgemeinschaft mit mehrheitlichem, auf zahlreiche Mitglieder aufgeteiltem Aktienbesitz an der Hauptgesellschaft, deren Existenz und Stimmbündelung die Hauptgesellschaft vor der Gefahr eines beherrschenden Einflusses dritter Gesellschafter schützen soll und die den Unternehmensorganen dadurch den Rücken freihält, um im Rahmen des satzungsmäßigen Unternehmensgegenstands erfolgreich und ohne Fremdbestimmung am Marktgeschehen teilzunehmen. Erwirbt innerhalb einer solchen Schutzgemeinschaft eines ihrer Mitglieder die Mehrheit durch Ankauf von Aktienpaketen anderer Mitglieder, so erlangt es dadurch bei der Beschlussfassung betreffend die jeweilige Stimmabgabe in der Hauptgesellschaft die Möglichkeit, über das Instrument der Schutzgemeinschaft beherrschenden Einfluss auf die Hauptgesellschaft auszuüben, auch wenn es in dieser nur eine Minderheitsbeteiligung hält. Im Fall der Verfolgung eigener wirtschaftlicher Interessen erwirbt es zugleich die Stellung eines herrschenden Unternehmens in der Hauptgesellschaft (§ 17 Abs. 1 AktG).7 Sind etwa die in der Schutzgemeinschaft zusammengeschlossenen Aktionäre mit insgesamt 60 % an der AG beteiligt und erwirbt einer von ihnen in der Schutzgemeinschaft einen Anteil von 51 %, so kann er mit dieser Mehrheit über die vollen 60 % in der Hauptgesellschaft und über den damit verbundenen

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6 Vgl. für erbschaftsteuerlich veranlasste Poolabreden Wunsch, BB 2011, 2315, 2316 f. 7 Zum teleologischen, am Vorhandensein anderweitiger wirtschaftlicher Interessen orientierten Begriff des herrschenden Unternehmens i. S. von §§ 15 ff. AktG vgl. nur BGHZ 69, 334, 337; 135, 107, 113; Hüffer, 9. Aufl. 2010, § 15 AktG Rz. 7 f. (ganz h. M.). Für Konsortien oder ihre Gesellschafter ohne eigene wirtschaftliche Interessen außerhalb der Hauptgesellschaft die Stellung als herrschendes Unternehmen konsequent verneinend OLG Hamm, AG 2001, 146, 147 f., OLG Hamburg, AG 2001, 479, 481, OLG Köln, AG 2002, 89, 90 und LG Heidelberg, ZIP 1997, 1787, 1788 (SAP).

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Einfluss disponieren, obwohl ihm dort nur ein Aktienbesitz von 30,6 % (51 von 60 %) zusteht. Es ist offensichtlich, dass eine solche Entwicklung, insbesondere wenn der Mehrheitserwerber mit ihr eigene strategische Ziele verfolgt, die Gefahr begründen kann, den Zweck der Schutzgemeinschaft in sein Gegenteil zu verkehren. Die Mitglieder, die sich zur gemeinsamen Abwehr etwaiger von dritter Seite drohender Gefahren einer Mehrheitsherrschaft zusammengeschlossen und die dafür geeigneten Bindungen betreffend ihre Stimmenmacht und die Begrenzung der Verfügungsbefugnis über ihren Aktienbesitz auf sich genommen haben, sehen sich plötzlich einer gezielt herbeigeführten Majorisierung im eigenen Lager gegenüber. Sie riskieren, dass die gegen unerwünschten Dritteinfluss gerichteten Waffen der Schutzgemeinschaft entgegen dem mit ihnen verfolgten Zweck gegen sie selbst eingesetzt, ja dass diese Bindungen zu Instrumenten für die Ausübung einseitiger Herrschaft pervertiert werden. Dass damit der gemeinsame Zweck der Schutzgemeinschaft nicht nur in Frage gestellt, sondern ausgehöhlt werden kann, ist unverkennbar; anderes mag dann gelten, wenn der Mehrheitserwerb nicht gezielt, insbesondere zur Durchsetzung eigener unternehmerischer Interessen, herbeigeführt wurde, sondern das Ergebnis organischer Vermögensverlagerungen wie Erbschaft oder Schenkung ist (vgl. dazu unten III 3c). Zu prüfen ist, wie die Rechtsordnung darauf reagiert, wenn – wie meist – der Schutzgemeinschaftsvertrag keine Abhilfen für eine derartige zweckwidrige Konstellation vorsieht. Zur Beantwortung dieser Frage ist zunächst die Rechtsnatur vertraglicher Schutzgemeinschaften und ähnlicher Institute zu untersuchen (unter II). Dem schließt sich (unter III) die Prüfung der Frage an, welche Ausstiegsszenarien das geltende Recht für die Fälle derart grundlegender, die Geschäftsgrundlage tangierender Fehlentwicklungen zum Schutz der Minderheit bereit hält. 4. Exkurs: Der Unterpool Den Fällen einer durch Mehrheitserwerb eines Mitglieds unterwanderten Schutzgemeinschaft zumindest in ihren Wirkungen verwandt sind Konstellationen, in denen einander nahestehende Mitglieder einer Schutzgemeinschaft (eines Pools), die zusammengenommen über die Mehrheit im Pool verfügen, untereinander eine weitere Stimmbindungsvereinbarung (einen „Unterpool“) des Inhalts treffen, bei Abstimmungen in der Schutzgemeinschaft (im Pool) ihre Stimmen stets einheitlich entsprechend der zuvor ermittelten Mehrheitsposition im Unterpool abzugeben. Solche Absprachen haben zur Folge, dass die übrigen Mitglieder der Schutzgemeinschaft sich bei dem Beschluss über die gemeinsame Stimmabgabe in der Hauptgesellschaft einem festgefügten Mehrheitsblock gegenübersehen und keine ernsthafte Chance haben, ihrerseits Einfluss auf die Willensbildung in der Schutzgemeinschaft (im Pool) zu nehmen. Der Unterpool kann auf diesem Wege zu einem schlagkräftigen Instrument der Poolmehrheit werden, um die übrigen Mitglieder der Schutzgemeinschaft (des Pools) zu majorisieren; die funktionale Ähnlichkeit zum einseitigen Mehrheitserwerb in der Schutzgemeinschaft ist unverkennbar. 1252

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Trotz dieser zwar nicht strukturellen, wohl aber funktionalen Ähnlichkeit zwischen einseitiger und Unterpool-bedingter Majorisierung verzichtet die Abhandlung darauf, auch diese Fälle in die Untersuchung einzubeziehen. Das fällt umso leichter deshalb, weil seit mehr als zehn Jahren eine sehr sorgfältige Untersuchung der mit der Bildung eines Unterpools verbundenen Rechtsprobleme vorliegt, auf die weitgehend verwiesen werden kann.8 Zu Recht löst sie das Spannungsverhältnis zwischen den Mitgliedern von Pool und Unterpool in der Weise auf, dass zwar die Bildung des Unterpools, für sich genommen, nicht verboten ist, da sie weder gegen § 138 noch gegen § 826 BGB verstößt. Jedoch machen sich die Mitglieder des Unterpools eines Treupflichtverstoßes gegenüber ihren Vertragspartnern im Hauptpool schuldig und können von diesen auf Unterlassung verklagt werden.9 Daneben bleibt den Minderheitsgesellschaftern das Recht, den Hauptpool aus wichtigem Grund zu kündigen.10 Ein Rückgriff auf das Damoklesschwert des § 726 BGB11 kommt vor diesem Hintergrund nur dann in Betracht, wenn die durch den Unterpool verbundene Gesellschaftermehrheit sich wegen besonderer Nähe zwischen ihnen und wegen ihrer von den übrigen Mitgliedern abweichenden Interessenlage als so festgefügt erweist, dass selbst ein treupflichtgestütztes Verbot des Unterpools daran nichts ändert, sodass der gemeinsame Zweck des Hauptpools (der Schutzgemeinschaft) in keinem Fall erreicht werden kann. Auf die Ausführungen hierzu unter III 3b kann verwiesen werden.

II. Zur Rechtsnatur von Konsortialverträgen 1. Die Schutzgemeinschaft Bei der „klassischen“ Schutzgemeinschaft, bestimmt zur Erhaltung des gemeinsamen Einflusses der Mitglieder auf die Hauptgesellschaft unter Abschirmung gegenüber außenstehenden Gesellschaftern, fällt die Bestimmung ihrer Rechtsnatur nicht schwer. Es handelt sich um eine Gesellschaft bürgerlichen Rechts, typischerweise in der Ausgestaltung als Innengesellschaft ohne eigenen Anteilsbesitz an der Hauptgesellschaft.12 Vertragspartner sind die Gründer der Hauptgesellschaft bzw. die ihnen im Generationenwechsel nachfolgenden, durch Erbfolge oder Vertragsbeitritt zu Mitgliedern der Schutzgemeinschaft gewordenen Angehörigen der jeweiligen Gründerfamilien, die sich – trotz Öffnung der Hauptgesellschaft für die Beteiligung Dritter – die Kapital- und Stimmenmehrheit in der Hauptgesellschaft erhalten und dadurch die Wahrung ihrer Interessen in der Hauptgesellschaft sichern wollen.13 Die Aufrechterhaltung dieses Einflusses unter Abwehr der Gefahr einer Fremdsteuerung der Hauptgesellschaft bildet den gemeinsamen Zweck des Zusammenschlusses.

__________ 8 9 10 11 12

Odersky in FS Marcus Lutter, 2000, S. 557 ff. Odersky (Fn. 8), S. 567 f. Odersky (Fn. 8), S. 569. Darauf geht Odersky nicht ein. BGHZ 126, 226, 234 und 179, 13, 19 – Schutzgemeinschaftsvertrag I und II; Noack (Fn. 1), S. 47 ff., Ulmer (Fn. 1), Vor § 705 BGB Rz. 69. 13 Dazu statt aller Nachw. in Fn. 12.

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Die Beiträge der Mitglieder bestehen in der Stimmbindung für Abstimmungen in der Hauptgesellschaft, ferner in der Unterwerfung ihrer Anteile an der Hauptgesellschaft unter die jeweils vorgesehenen Verfügungsbeschränkungen zugunsten der Mitglieder der Schutzgemeinschaft oder deren zum Beitritt berechtigten Angehörigen sowie schließlich in der Übernahme der im Schutzgemeinschaftsvertrag vorgesehenen Vertragsstrafeversprechen. Damit sind sämtliche Tatbestandsmerkmale des § 705 BGB erfüllt. Die Qualifikation als GbR steht unabhängig von der kautelarjuristischen Ausgestaltung der jeweiligen Schutzgemeinschaft außer Zweifel. Zugleich fragt sich freilich, welche Folgen für den vorstehend skizzierten gemeinsamen Zweck die Erlangung der Mehrheitsposition eines Mitglieds der Schutzgemeinschaft im Verhältnis zu den anderen hat und wie sich diese gegen die Mehrheitsherrschaft der Schutzgemeinschaft schützen können – darauf ist (unter III) zurückzukommen. 2. Sonstige a) Unter den sonstigen Konsortialverträgen vermutlich am häufigsten anzutreffen und in ihrer Ausgestaltung und ihren Zwecken stark ausdifferenziert sind (Konzern-)Absprachen zur Begründung oder Absicherung von Unternehmensverbindungen zwischen den Vertragspartnern. Zu denken ist in erster Linie an die sog. Grundvereinbarung zwischen zwei oder mehr Muttergesellschaften zur Gründung und zum Betrieb sog. Gemeinschaftsunternehmen.14 Sie haben regelmäßig die Rechtsnatur einer (Innen-)GbR und führen jedenfalls bei paritätischer Beteiligung von zwei Muttergesellschaften dazu, dass die Mütter als solche – und nicht die GbR als bloßes Instrument zur Koordination ihrer gemeinsamen Leitung – zu herrschenden Unternehmen i. S. von § 17 Abs. 1 AktG gegenüber dem Gemeinschaftsunternehmen werden.15 Das hat bei Gemeinschaftsunternehmen in der Rechtsform der AG zur Folge, dass auf ihre Beziehungen zu den Muttergesellschaften die Vorschriften der §§ 311 bis 318 AktG Anwendung finden. Im Hinblick auf klassische Schutzgemeinschaften der hier untersuchten Art sind derartige konzernrechtliche Unternehmensverbindungen regelmäßig schon deshalb ohne Interesse, weil typischerweise weder die Schutzgemeinschaft selbst noch ihre Mitglieder als „Unternehmen“ im Sinn der §§ 15 ff. AktG mit eigenen wirtschaftlichen Interessen zu qualifizieren sind. Das Eingreifen des Rechts der verbundenen Unternehmen steht insoweit also meist nicht in Frage. b) Dem Typus klassischer Schutzgemeinschaften näherstehend, wenn auch anderen Zwecken dienend, sind Absprachen zwischen Unternehmensgründern oder maßgeblich beteiligten Gesellschaftern und ihren Nachkommen im Rah-

__________ 14 Gansweid, Gemeinsame Tochtergesellschaften im deutschen Konzern- und Wettbewerbsrecht, 1976, S. 53 ff.; Noack (Fn. 1), S. 41 f.; Ulmer (Fn. 1), Vor § 705 BGB Rz. 67; G. Wiedemann, Gemeinschaftsunternehmen im deutschen Kartellrecht, 1981, S. 86 ff. 15 Vgl. näher Windbichler in Großkomm. AktG, 4. Aufl. 1998, § 15 AktG Rz. 16, 48; Hüffer (Fn. 7), § 17 AktG Rz. 13 ff.; Bayer in MünchKomm. AktG, 3. Aufl. 2008, § 17 AktG Rz. 78 ff., 83.

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men vorweggenommener Erbfolge. In derartigen Fällen verbinden sich mit der unentgeltlichen Übertragung von Anteilen auf Familienangehörige des Schenkers nicht selten Stimmbindungen und Verfügungsbeschränkungen zu Lasten der Beschenkten, d. h. die auch bei Schutzgemeinschaften anzutreffenden, bei Schenkungen freilich meist einseitig zu Lasten der Beschenkten ausgestalteten Vertragsinstrumente. Der Zweck dieser Abreden richtet sich daher auch nicht darauf, im gemeinsamen Interesse Einfluss auf die Hauptgesellschaft zu nehmen und die gebundenen Anteile in der Verfügungsbefugnis der Gemeinschaftsmitglieder zu halten. Vielmehr will der Schenker sich auf diesem Wege seinen Einfluss auf die übertragenen Anteile vorbehalten und den Anteilserwerbern zwar den wirtschaftlichen Nutzen, nicht aber die vollen Mitgliedschaftsrechte an ihnen einräumen. Dementsprechend bilden derartige einseitige Vertragsbindungen, anders als bei Schutzgemeinschaften, typischerweise nicht die Grundlage einer (Innen-)GbR, sondern sind dem Typus der Interessenwahrungsverträge (§§ 665, 675 BGB) zuzuordnen. Die beschenkten Angehörigen haben, auch soweit Kapital und Gewinnbezugsrecht bereits auf sie übergegangen sind, hinsichtlich der mit den Anteilen verbundenen Verwaltungs- und Dispositionsbefugnisse doch nur die Stellung von Treuhändern, die zwar formal als Gesellschafter berechtigt, inhaltlich aber an die Weisungen des Schenkers als Treugeber gebunden sind. Die Herrschaftsposition des Schenkers in Bezug auf die Ausübung der auf den vertraglichen Stimmbindungen und Veräußerungsbeschränkungen beruhenden Gesellschaftsrechte ist m. a. W. vertragsimmanent; Parallelen zur „unterwanderten“ Schutzgemeinschaft lassen sich nicht feststellen. c) Wie eingangs schon erwähnt, ist durch die Erbschaftsteuerreform 2009 mit Bezug auf Gesellschaftsanteile an Kapitalgesellschaften ein weiteres Feld für Konsortialabreden eröffnet worden. Denn das Erbschaftsteuerrecht lässt seither in § 13b Abs. 1 Nr. 3 Satz 2 ErbStG die steuerbegünstigte Schenkung oder Vererbung derartige Anteile auch dann zu, wenn der für die Begünstigung erforderliche Anteilsbesitz von mehr als 25 % nicht in einer Hand vereinigt ist, sondern auf der vertraglichen Zusammenfassung der Inhaber jeweils kleineren Anteilsbesitzes durch eine Konsortialabsprache betreffend Veräußerungsbeschränkungen und Stimmbindungen beruht.16 In diesem Fall profitiert jeder der an der Absprache Beteiligten bei unentgeltlicher Übertragung oder Vererbung seiner Anteile von der Begünstigung, auch wenn sein Anteilsbesitz deutlich unter 25,1 % liegt. Die sachliche Nähe derartiger Abreden zu Schutzgemeinschaftsabreden ist offensichtlich: wie dort kommt es auch bei erbschaftsteuerlich veranlassten Konsortialverträgen auf die Vereinbarung allseitiger Stimmbindungen und Veräußerungsbeschränkungen an. Daher liegt es auch nahe, in derartigen Fällen von der Begründung einer Innen-GbR zwischen den an der Absprache Beteiligten auszugehen.17 Deutliche Unterschiede zeigen sich freilich mit Blick auf den jeweiligen Gegenstand des gemeinsamen Zwecks. Anders als bei den

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16 Näher dazu Meincke, 15. Aufl. 2009, § 13b ErbStG Rz. 8 ff. 17 So auch Wunsch, BB 2011, 2315, 2316.

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Schutzgemeinschaften mit ihrem auf Wahrung des gemeinsamen Einflusses in Bezug auf die Hauptgesellschaft gerichteten Zweck liegt er hier darin, den Beteiligten durch Zusammenfassung ihres jeweiligen Anteilsbesitzes auf mehr als 25 % den erbschaftsteuerlichen Vorteil des § 13b ErbStG zu verschaffen. Dieser Vertragszweck wird nicht dadurch gefährdet, dass einem der Beteiligten die Mehrheit im Konsortium zusteht und er auf diese Weise über den jeweiligen Einsatz der gebundenen Stimmen letztlich allein entscheiden kann. Das Vorliegen eines „beherrschten“ Konsortiums infolge der Innehabung oder des Hinzuerwerbs der Mehrheit der gebundenen Anteile seitens eines Konsorten ist daher für die gemeinsam verfolgten Erbschaftsteuerzwecke unschädlich.18 Die Konstellation gestattet freilich keinen Rückschluss auf Fälle der von einem Mitglied beherrschten, d. h. unterwanderten klassischen Schutzgemeinschaft.

III. Rechtsfolgen der „Unterwanderung“ 1. Überblick a) Wie vorstehend (unter I 3) gezeigt, wirkt sich der vertraglich nicht vorhergesehene, nach Gründung der Schutzgemeinschaft erlangte Mehrheitsbesitz eines eigene unternehmerische Interessen verfolgenden Mitglieds in der klassischen Schutzgemeinschaft zweckstörend aus. Denn der von den Beteiligten gemeinschaftlich verfolgte Zweck gebündelter, im gemeinsamen Interesse aller Mitglieder liegender Stimmabgabe in der Hauptgesellschaft, verbunden mit der Abwehr des Einflusses außenstehender Gesellschafter, lässt sich dadurch nicht mehr ungestört verfolgen. Die Schutzgemeinschaft wird, wenn die Anteilskonzentration vom Mehrheitserwerber gezielt herbeigeführt wurde und dessen eigenen unternehmerischen Interessen dient, vielmehr zum indirekten Mehrheitsbeschaffer für diesen in der Hauptgesellschaft, verbunden mit der Unterordnung der übrigen, bei Gründung der Schutzgemeinschaft gleichrangig beteiligten Mitglieder unter den Mehrheitseinfluss. Aus einem Instrument zu gemeinsamer Interessenwahrung gegenüber der Hauptgesellschaft mit gleichen Einflusschancen aller wird durch die Mehrheitserlangung eines eigene wirtschaftliche Interessen verfolgenden Mitglieds ein Über-/Unterordnungsverhältnis; der ursprünglich verfolgte Vertragszweck sieht sich zentral in Frage gestellt. Vor diesem Hintergrund fragt sich, ob und welche Rechtsbehelfe die Rechtsordnung zum Schutz der von der Änderung nachteilig Betroffenen bereitstellt. Zu prüfen ist auch, ob diese Rechtsbehelfe selbst dann eingreifen, wenn der Mehrheitserwerb nicht auf einer gezielten Unternehmensstrategie beruht, sondern sich als das Ergebnis organischer Entwicklungen vermögensrechtlicher Art innerhalb der Schutzgemeinschaft erweist. b) Die folgende Untersuchung soll sich auf Rechtsbehelfe der Minderheit innerhalb der majorisierten Schutzgemeinschaft konzentrieren, d. h. auf solche aus dem Recht der GbR, darunter insbesondere das Recht zur Kündigung aus

__________ 18 Vgl. nur Wunsch, BB 2011, 2315, 2316.

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wichtigem Grund und die Berufung auf die Beendigung der Schutzgemeinschaft wegen Unmöglichkeit der Zweckerreichung. Ausgeklammert bleiben demgegenüber Rechtsbehelfe des Aktien- oder Kapitalmarktrechts, auf die sich die von der Zweckverfehlung betroffenen Mitglieder der Schutzgemeinschaft in ihrer Eigenschaft als Aktionäre der Hauptgesellschaft berufen könnten. Das gilt nicht nur für den (indirekten) Schutz der Hauptgesellschaft und ihrer Aktionäre, der aus dem Recht der verbundenen Unternehmen (§§ 17 Abs. 1, 311 bis 318 AktG) mit Blick auf den eigene wirtschaftliche Interesse verfolgenden, in der Hauptgesellschaft dank der Mehrheitsbeschaffung durch die Schutzgemeinschaft herrschenden Aktionär folgt. Vielmehr bleibt im Folgenden auch die Pflicht kontrollierender Aktionäre einer börsennotierten AG zur Abgabe eines Übernahmeangebots bei Erwerb der Kontrollmehrheit (§§ 30 Abs. 1 und 2, 35 Abs. 1 WpÜG) außer Betracht. Denn an dem aus der Übernahmepflicht resultierenden Schutz der Minderheit wird es in Fällen der hier behandelten Art nicht selten schon deshalb fehlen, weil die in der Schutzgemeinschaft gebundenen Aktien von – typischerweise mittelständischen – Hauptgesellschaften mangels Börsenzulassung nach § 1 Abs. 1 WpÜG nicht in dessen Anwendungsbereich fallen. c) Eine letzte Vorüberlegung gilt dem Einfluss der durch die Schuldrechtsreform 2002 neu eingeführten Vorschrift des § 313 BGB betreffend die Störung der Geschäftsgrundlage, soweit es um Vertragsverhältnisse im Gesellschaftsrecht geht. Die Frage, ob und inwieweit die Vorschrift auch für Personengesellschaften Bedeutung erlangen kann, wird – soweit ersichtlich – in den Kommentaren bisher zwar nur am Rande und nicht durchweg einheitlich behandelt. Die Mehrzahl der Kommentatoren scheint sich allerdings darin einig, dass die speziellen, Störungen der Geschäftsgrundlage miterfassenden Rechtsbehelfe des Gesellschaftsrechts den Vorrang vor der Generalklausel des § 313 BGB verdienen.19 Dem ist jedenfalls mit Blick auf §§ 723 Abs. 1 Sataz 2, 726 BGB zuzustimmen. Denn das Recht zur Kündigung aus wichtigem Grund oder zur Berufung auf die Beendigung der Gesellschaft angesichts eines unmöglich gewordenen Gesellschaftszwecks sollte nicht etwa dadurch eingeschränkt werden, dass die Schuldrechtsreform das schon zuvor im Grundsatz anerkannte, wenn auch ungeschriebene Recht eines Vertragspartners kodifizierte, sich anderen Vertragspartnern gegenüber auf eine gravierende, unvorhersehbare Störung der Geschäftsgrundlage ihrer Vertragsbeziehung zu berufen. Die Vorschriften der §§ 723 Abs. 1 Satz 2, 726 BGB blieben als leges speciales davon vielmehr unberührt. Die Untersuchung kann sich daher auf die unverändert fortgeltenden §§ 723 Abs. 1 Satz 2, 726 BGB beschränken. Zu fragen ist, in welchem Verhältnis die beiden Vorschriften zueinander stehen und auf welchem der beiden Wege die von der Majorisierung betroffenen Mitglieder ggf. die Beendigung der unterwanderten Schutzgemeinschaft herbeiführen können.

__________ 19 Vgl. etwa Roth in MünchKomm. BGB, 5. Auf. 2007, § 313 BGB Rz. 117 ff., 120; Hohloch in Erman, 13. Aufl. 2011, § 313 BGB Rz. 78; nicht eindeutig Grüneberg in Palandt, 70. Aufl. 2011, § 313 BGB Rz. 14, 56.

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2. Kündigung aus wichtigem Grund Der gesetzlich vorgezeichnete Weg, sich als Gesellschafter einer GbR fristlos aus einer unzumutbar gewordenen Bindung an die GbR zu lösen, besteht nach § 723 Abs. 1 Satz 2 BGB in der Kündigung aus wichtigem Grund. Der wichtige Grund wird in § 723 Abs. 1 Satz 3 Nr. 1 BGB zwar dahin umschrieben, dass ein anderer Gesellschafter eine wesentliche Verpflichtung aus dem Gesellschaftsvertrag grob schuldhaft verletzt hat oder dass die Erfüllung einer solchen Verpflichtung unmöglich geworden ist. Hieran fehlt es – jedenfalls bei formaler Betrachtung – im Fall der Unterwanderung der Schutzgemeinschaft, da der Mehrheitsgesellschafter sich typischerweise an die vertraglich fixierten Spielregeln der Schutzgemeinschaft halten und keinen offenen Vertragsverstoß begehen wird. Jedoch ist anerkannt, dass die Aufzählung in § 723 Abs. 1 Satz 3 BGB sich auf Regelbeispiele eines wichtigen Grundes beschränkt und dass es für dessen Vorliegen entscheidend darauf ankommt, ob dem Kündigungswilligen das Fortbestehen der Mitgliedschaft in der Gesellschaft (ggf. bis zum nächsten ordentlichen Kündigungstermin) zugemutet werden kann.20 In Übereinstimmung damit hat das Zumutbarkeitskriterium als entscheidender Bezugspunkt für den wichtigen Grund inzwischen auch in die neue Generalklausel des § 314 Abs. 1 BGB betreffend die Kündigung von Dauerschuldverhältnissen aus wichtigem Grund Eingang gefunden. Bezieht man die Zumutbarkeitsfrage auf die Fälle der Unterwanderung einer klassischen Schutzgemeinschaft durch gezielten Erwerb einer Mehrheitsbeteiligung seitens eines eigene wirtschaftliche Zwecke verfolgenden Mitglieds, so kann die Antwort nicht zweifelhaft sein. Denn wer sich an einer solchen, durch den gemeinsamen Zweck aller Mitglieder gekennzeichneten Verbindung beteiligt, tut dies in der Erwartung, bei der Willensbildung in der Schutzgemeinschaft entsprechend seinem Anteilsbesitz auf die Geschicke der Hauptgesellschaft gleichrangigen Einfluss nehmen und schädliche Einwirkungen Dritter auf sie abwenden zu können. Verliert er nicht nur diese Chance, sondern muss er sich vom „Unterwanderer“ sogar gegen seinen Willen als Mehrheitsbeschaffer für Abstimmungen in der Hauptgesellschaft einsetzen lassen, so verkehrt sich der gemeinsame Vertragszweck für ihn in dessen Gegenteil; das Festhalten daran, unterstrichen durch drastische Vertragsstrafen, ist ihm nicht länger zumutbar. Ob Entsprechendes auch dann gilt, wenn der – u. U. vorübergehende – Mehrheitserwerb auf Erbschaft, Schenkung oder sonstigen Entwicklungen im Vermögensbereich beruht und die Interessenlage der Beteiligten sich nicht grundlegend verändert, ist Frage des Einzelfalls und soll hier offenbleiben. Das Vorliegen eines wichtigen Grundes in derart gezielten Unterwanderungsfällen für die davon betroffenen, zur strukturellen Minderheit in der Schutzgemeinschaft gewordenen Mitglieder steht nach allem außer Zweifel. Jedoch fragt sich, ob es zur Beendigung ihrer vertraglichen Bindung überhaupt einer Kündigung ihrerseits bedarf oder ob diese Beendigung im Hinblick auf § 726

__________ 20 Ulmer/Schäfer in MünchKomm. BGB, 5. Aufl. 2009, § 723 BGB Rz. 28.

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BGB nicht sogar de jure, wegen Unmöglichwerdens der Erreichung des Gesellschaftszwecks, eintritt. Die Frage hat Bedeutung nicht nur für die Art und Weise des Vorgehens betroffener Gesellschafter, d. h. für die etwaige Notwendigkeit, durch Kündigungserklärung selbst aktiv zu werden oder aber sich darauf beschränken zu können, unter Berufung auf § 726 BGB die automatische Beendigung der (Innen-)GbR geltend zu machen. Vielmehr führt die Kündigung seitens einzelner Mitglieder der Schutzgemeinschaft nicht selten auch zu nachteiligen Folgen für die Kündigenden selbst, da sie je nach Vertragsgestaltung in der Schutzgemeinschaft sogar damit rechnen müssen, ihren Anteilsbesitz an der Hauptgesellschaft zu verlieren und deutlich unter Wert abgefunden zu werden.21 Schon deshalb erscheint es geboten, abschließend auf die Voraussetzungen des § 726 BGB und ihr Verhältnis zum Rechtsbehelf der Kündigung aus wichtigem Grund einzugehen. 3. Beendigung der unterwanderten Schutzgemeinschaft wegen Unmöglichwerden des gemeinsamen Zwecks a) Die Besonderheit der beiden Endigungsgründe des § 726 BGB, d. h. die Erreichung des gemeinsamen Zwecks bzw. dessen Unmöglichwerden, besteht darin, dass sie ex lege zur Beendigung der Gesellschaft oder – sofern Gesamthandsvermögen vorhanden ist – zu deren Auflösung mit Abwicklungsfolge führen. Diese Wirkungen treten unabhängig davon ein, ob und auf welche Weise sich Gesellschafter auf einen der Endigungsgründe des § 726 BGB berufen; einer Kündigung oder einer ihr vergleichbaren Gestaltungserklärung Einzelner gegenüber den Mitgesellschaftern bedarf es nicht. Die Endigungsgründe wirken sich einheitlich auf alle Gesellschafter aus, auch wenn deren Interessenlage in Bezug auf die Gesellschaft unterschiedlich ist; sie lassen sich nur durch Einigung aller Gesellschafter auf einen neuen, nicht von § 726 BGB betroffenen Gesellschaftszweck überwinden. An dieser Rechtsfolge vermag auch ein Mehrheitsbeschluss unter Berufung auf eine allgemein gehaltene vertragliche Mehrheitsklausel nichts zu ändern, wenn die Klausel nicht ausnahmsweise als Vorabzustimmung zu einer bestimmten Zweckänderung zu werten ist.22 Erklären lässt sich diese für Dauerschuldverhältnisse ungewöhnlich rigide Rechtsfolge damit, dass der gemeinsame Zweck das zentrale Element einer jeden GbR und den entscheidenden Beitrittsgrund für deren Gesellschafter bildet. Das hat notwendig zur Folge, dass die Bindung der Gesellschafter endet, wenn entweder der Zweck erreicht oder seine Erreichung objektiv unmöglich geworden ist. Soweit es um das Verhältnis der automatischen Beendigung nach § 726 BGB zur kündigungsbedingten Auflösung bzw. Beendigung nach § 723 Abs. 1 Satz 2 BGB geht, folgt aus diesen besonderen Rechtsfolgen des § 726 BGB, dass die

__________ 21 BGHZ 126, 226, 238 – Schutzgemeinschaftsvertrag I. 22 Zur Problematik von Mehrheitsklauseln in Bezug auf kernbereichsrelevante Vertragsänderungen und zur Möglichkeit, sie im Sinne antizipierter Zustimmung der Minderheit zu interpretieren, vgl. Ulmer/Schäfer (Fn. 20), § 709 BGB Rz. 84 ff., 91 f. In der Begründung abweichend (Stufentheorie) jetzt BGHZ 179, 13, 19 ff. – Schutzgemeinschaftsvertrag II.

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Unmöglichkeit der Zweckverfolgung eine offenbare, dauernde und vollständige sein muss und dass an ihre Feststellung besonders hohe Anforderungen zu stellen sind, soll sie zum Wegfall der Gesellschaft führen.23 Bei Schutzgemeinschaften ist etwa an Fälle wie die Vollbeendigung der Hauptgesellschaft oder den Verlust der Sperrminorität in der Hauptgesellschaft zu denken.24 Demgegenüber reichen Störungen in der Zusammenarbeit der Gesellschafter, auch wenn sie dauerhafter Natur sind, oder Änderungen in der Interessenlage der Beteiligten, d. h. des Motivs für ihren jeweiligen Gesellschaftsbeitritt, für den Eintritt der Beendigung nicht aus.25 Insoweit bleibt den von der Änderung Betroffenen vielmehr nur die Kündigung aus wichtigem Grund. b) Bezogen auf die hier untersuchten Fälle der Unterwanderung einer Schutzgemeinschaft durch Mehrheitserwerb seitens eines eigene wirtschaftliche Zwecke verfolgenden Beteiligten sind die offenbare und dauernde Unmöglichkeit der Zweckerreichung als Voraussetzung für das Eingreifen des § 726 BGB vorbehaltlich besonderer Umstände unschwer festzustellen. Denn die Interessendiskrepanz zwischen dem als herrschendes Unternehmen in der Hauptgesellschaft zu qualifizierenden Mehrheitserwerber und den übrigen, gleichrangigen Einfluss auf die Hauptgesellschaft im Anlegerinteresse erstrebenden Mitgliedern der Schutzgemeinschaft ist hier im Grundsatz offenkundig, auch wenn sie nicht bei jeder Abstimmung zu Tage tritt. Auch ist an der Dauerhaftigkeit dieser vom Mehrheitserwerber bewusst und gezielt herbeigeführten Veränderung der Geschäftsgrundlage der Schutzgemeinschaft bei der gebotenen ex ante-Betrachtung nicht zu zweifeln. Zwar ist nicht auszuschließen, dass spätere Änderungen der wirtschaftlichen Verhältnisse beim Mehrheitserwerber oder bei der Hauptgesellschaft zur Beendigung der Unternehmensverbindung zwischen beiden und zu einer Neuordnung der Interessenlage der Beteiligten führen können. Die übrigen Mitglieder der Schutzgemeinschaft als Opfer der Unterwanderung können damit jedoch nicht rechnen. Denn an die Stelle des von allen Beteiligten gemeinsam verfolgten Zwecks der Schutzgemeinschaft ist durch die mit dem unternehmerischen Mehrheitserwerb verbundene Strukturänderung ein offenbares und dauerhaftes Über-/Unterordnungsverhältnis getreten, das für den Fortbestand der gesellschaftsrechtlichen Bindung zwischen ihnen keinen Raum lässt und dem wegen der grundlegenden Strukturänderung auch nicht unter Berufung auf die Treupflicht des Mehrheitsgesellschafters abgeholfen werden kann.26 Da die Majorisierung alle Minderheitsgesellschafter

__________ 23 Noack (Fn. 1), S. 238 f.; Ulmer/Schäfer (Fn. 20), § 726 BGB Rz. 4. 24 So zutreffend Noack (Fn. 1), S. 239. 25 BGH, WM 1970, 962 (Wegfall des wirtschaftlichen Interesses eines der beiden Gesellschafter am Gemeinschaftsunternehmen kein Fall des § 726 BGB); anders zutreffend OLG Stuttgart, BB 1983, 13 für den Sonderfall des Massenaustritts (93 % der Gesellschafter) aus einer Publikums-GbR wegen grundlegender Änderung der Interessenlage. Vgl. auch Ulmer/Schäfer (Fn. 20), § 726 BGB Rz. 6. 26 Zu prüfen bliebe freilich, ob § 726 BGB trotz Majorisierung der Schutzgemeinschaft deshalb nicht zum Zuge käme, weil (und wenn) die mit der Stimmbindung typischerweise verbundene Veräußerungsbeschränkung für die gebundenen Aktien nach wie vor ihren Sinn behielte, so wenn dadurch der Familiencharakter der Hauptgesellschaft erhalten bleiben sollte.

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in gleicher Weise trifft, ist die Beendigung der Gesellschaft nach § 726 BGB auch interessenmäßig die einzig konsequente Rechtsfolge. Sie sind zwar nicht gehindert, sich ohne den Mehrheitsgesellschafter erneut zusammenzuschließen und dadurch die Unterwanderung zu beenden.27 Sie werden sich davon aber angesichts der verlorenen Mehrheit in der Hauptgesellschaft im Zweifel nichts versprechen. Für die ursprüngliche Schutzgemeinschaft bleibt es dabei, dass sie infolge der Unterwanderung ihr Ende findet. Das gilt auch dann, wenn den Beteiligten diese Rechtsfolge nicht bewusst ist oder sie sich hierauf nicht alsbald berufen, es sei denn, dass sich im allseitigen Festhalten an der zunächst obsolet gewordenen Gemeinschaft die konkludente Einigung auf einen neuen, seinerseits erreichbaren Gesellschaftszweck sehen lässt. c) Zu bedenken bleibt die Rechtslage bei „organischem“, auf Vermögensverschiebungen innerhalb der Schutzgemeinschaft beruhendem Mehrheitserwerb eines ihrer Mitglieder oder einer eng verbundenen Untergruppe ohne Verfolgung eigener wirtschaftlicher Interessen, sei es durch Vererbung oder unentgeltliche Übertragung (Schenkung), sei es durch entgeltlichen Erwerb von Anteilen ausscheidenswilliger Mitglieder. In derartigen Fällen erscheint es schon zweifelhaft, ob die Mehrheitsposition angesichts des fehlenden wirtschaftlichen Eigeninteresses des Mehrheitsinhabers dauerhafter Natur und er nicht etwa daran interessiert ist, seinen Anteil in der Schutzgemeinschaft bei sich bietender Gelegenheit wieder unter 50 % zurückzuführen. Vor allem aber fehlt es typischerweise an dem offenbaren Unmöglichwerden des Zwecks der Schutzgemeinschaft, da die Interessenlage der Beteiligten sich durch die Anteilsverschiebung nicht notwendig ändert: der gemeinsame Zweck aller Mitglieder wird sich vielmehr nach wie vor tendenziell darauf richten, auf die Hauptgesellschaft und deren unabhängige, erfolgreiche Unternehmenstätigkeit im gemeinsamen Interesse Einfluss zu nehmen und sie gegen den Einfluss außenstehender Gesellschafter abzuschirmen.28 Solange diese Konstellation andauert, ist der Fortbestand der Schutzgemeinschaft als GbR mit objektiv realisierbarem Gesellschaftszweck nicht ernsthaft in Frage gestellt. Sollte einzelnen Mitgliedern das Verbleiben in ihr aus besonderen Gründen (persönliche Unverträglichkeit mit dem Mehrheitserwerber u. a.) unzumutbar geworden sein, sind sie nicht gehindert, von ihrem außerordentlichem Kündigungsrecht nach § 723 Abs. 1 Satz 2 BGB Gebrauch zu machen. Der Fortbestand der Schutzgemeinschaft als solcher wird dadurch angesichts der in derartigen Verträgen typischerweise enthaltenen Fortsetzungsklausel jedoch nicht in Frage gestellt.

__________ 27 Der – einfacher durchsetzbare – Ausschluss eines Gesellschafters aus wichtigem Grund ist im Recht der GbR nicht vorgesehen. Er lässt sich aber jedenfalls bei nach § 726 BGB beendeten Innengesellschaften ohne besondere Schwierigkeiten indirekt durch eine Neugründung erreichen, wenn alle übrigen Mitglieder dazu bereit sind. 28 Nach OLG Hamm, AG 2001, 146, 147 f. steht der Mehrheitsanteil (70 %) eines Gesellschafters am Konsortium dessen Wirksamkeit jedenfalls dann nicht entgegen, wenn der Gesellschafter keine eigenen wirtschaftlichen Interessen außerhalb der Hauptgesellschaft verfolgt.

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IV. Ergebnisse Eine „klassische“, den Mitgliedern durch Stimmbindung den maßgebenden Einfluss auf die Hauptgesellschaft sichernde und diese gegen Einwirkungen dritter Gesellschafter abschirmende Schutzgemeinschaft wird typischerweise wegen offenbaren und dauernden Unmöglichwerdens ihres Gesellschaftszwecks (§ 726 BGB) beendet, wenn es einem ihrer Mitglieder gelingt, in Verfolgung eigener wirtschaftlicher Interessen die Mehrheit in der Schutzgemeinschaft – und damit indirekt diejenige in der Hauptgesellschaft – zu erwerben. Eine solcher Art „unterwanderte“ Schutzgemeinschaft findet ex lege auch dann ihr Ende, wenn sich zunächst keines der Mitglieder auf das Unmöglichwerden des Gesellschaftszwecks beruft. An einem offenbaren und dauerhaften Unmöglichwerden des Gesellschaftszwecks fehlt es demgegenüber typischerweise, wenn der Mehrheitserwerb seitens eines keine eigenen wirtschaftlichen Interessen außerhalb der Hauptgesellschaft verfolgenden Mitglieds der Schutzgemeinschaft nicht auf strategischem, sondern auf „organisatorischem“, durch Vermögensverschiebungen innerhalb der Schutzgemeinschaft bedingtem Anteilserwerb an der Hauptgesellschaft wie Erbfall, Schenkung oder Anteilsübernahme beim Ausscheiden anderer Mitglieder der Schutzgemeinschaft beruht. Der Zweck gemeinsamer, im gemeinschaftlichen Interesse aller Mitglieder liegender Einflussnahme auf die Hauptgesellschaft wird dadurch nicht notwendig unmöglich. Sollte einzelnen Mitglieder wegen der Majorisierung das Verbleiben in der Schutzgemeinschaft unzumutbar werden, sind sie nicht gehindert, aus wichtigem Grund zu kündigen.

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Rüdiger Veil

Zeitenwende in der Kapitalmarktgesetzgebung Europäisierung von Recht und Aufsicht

Inhaltsübersicht I. Einführung II. Rechtssetzung im Verfahren Lamfalussy II III. Verordnungsgesetzgebung und Vollharmonisierung

IV. Europäisierungs- und Vereinheitlichungstendenzen auf der Ebene des Enforcements V. Schluss

I. Einführung Der europäische Gesetzgeber nahm sich erstmals im Jahr 1979 des Kapitalmarktrechts an. Es sollte aber 25 Jahre dauern, bis die zentralen Aspekte gemeinschaftsweit harmonisiert waren: Seit 2004 bilden die Prospekt-, Marktmissbrauchs- und Transparenzrichtlinie sowie die Richtlinie über Märkte für Finanzinstrumente (MiFID) den Rechtsrahmen für den Wertpapierhandel und die Erbringung von Wertpapierdienstleistungen in der Europäischen Union. Die Europäische Kommission erließ in der Folgezeit zu den vier Rahmenrechtsakten zahlreiche konkretisierende Rechtsakte. Ein level playing field vermochte sie jedoch nicht zu verwirklichen. Die Richtlinien schreiben lediglich eine Mindestharmonisierung vor.1 Dies nutzten vielerorts die nationalen Gesetzgeber und entschlossen sich zu einer teilweise strengeren Regulierung der Materie. Zum anderen sehen die vier Rahmenrechtsakte keine konkreten Vorgaben für die nationalen Gesetzgeber vor, wie diese die Aufsicht über die Märkte sicherzustellen haben. Es muss daher nicht verwundern, dass die Sanktionen bis heute sehr unterschiedlich geregelt sind und gehandhabt werden. Mit alldem soll nach der Vorstellung der Europäischen Kommission Schluss sein. Ende Oktober 2011 hat sie als Reaktion auf die Finanzmarktkrise und den Empfehlungen der de Larosière-Gruppe folgend Vorschläge zur Reform der

__________ 1 Ob die Rahmenrechtsakte eine Mindest- oder Vollharmonisierung verfolgen, wird in der rechtswissenschaftlichen Diskussion allerdings kontrovers diskutiert. Vgl. zum Stand der Diskussion Möllers, ZEuP 2008, 480, 499.

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Marktmissbrauchs-2 und Transparenzrichtlinie3 sowie der MiFID4 veröffentlicht.5 Diese Regelungsinitiativen und die neuen Rechtsakte über Leerverkäufe6 und Derivate7 läuten eine Zeitenwende ein. Denn sie zielen darauf ab, die Pflichten für die Kapitalmarktteilnehmer und die Aufsicht über die Märkte noch stärker zu europäisieren. Aus dieser Europäisierung resultieren gewaltige Herausforderungen für die Rechtswissenschaften und Praxis, die in diesem Beitrag aufgezeigt werden sollen.

II. Rechtssetzung im Verfahren Lamfalussy II Die von der Kommission vorgeschlagene Richtlinie zur Änderung der Transparenzrichtlinie und die von ihr entworfenen neuen Rechtsakte zur Regulierung von Marktmissbrauch sowie zur Ordnung der Märkte für Finanzinstrumente werden im Lamfalussy-Verfahren erlassen werden. Dieses für die Finanzmarktgesetzgebung entwickelte Komitologieverfahren hat aufgrund des Vertrags von Lissabon vom 1.12.2009 und der Schaffung der europäischen Wertpapieraufsichtsbehörde ESMA eine neue Gestalt erhalten.8 Auf Stufe zwei des Verfahrens wird wie bislang die Kommission tätig, indem sie delegierte Rechtsakte und Durchführungsrechtsakte erlässt.9 Neu ist, dass auch die ESMA auf

__________ 2 Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über Insider-Geschäfte und Marktmanipulation (Marktmissbrauch), 20.10.2011, KOM(2011) 651 endg.; Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über strafrechtliche Sanktionen für Insidergeschäfte und Marktmanipulationen, 20.10.2011, KOM(2011), 654 endg. 3 Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Richtlinie 2004/109/EG sowie der Richtlinie 2007/14/EG, 25.10.2011, KOM(2011) 683 endg. 4 Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über Märkte für Finanzinstrumente zur Aufhebung der Richtlinie 2004/39/EG des Europäischen Parlaments und des Rates, 20.10.2011, KOM(2011) 656 endg.; Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über Märkte für Finanzinstrumente und zur Änderung der Verordnung [EMIR] über OTC-Derivate, zentrale Gegenparteien und Transaktionsregister, 20.10.2011, KOM(2011) 652 endg. 5 Vgl. zur Reform des Marktmissbrauchsregimes Veil/Koch, WM 2011, 2297 ff.; Merkner/ Sustmann, AG 2012, 315 ff.; zur Reform der Transparenzrichtlinie Veil, WM 2012, 53 ff.; Seibt/Wollenschläger, AG 2012, 305 ff.; zur Reform der MiFID Veil/Lerch, im Erscheinen in WM 2012. 6 Verordnung (EU) Nr. 236/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates über Leerverkäufe und bestimmte Aspekte von Credit Default Swaps v. 14.3.2012, Abl. EU Nr. L 86 v. 24.3.2012, S. 1. 7 Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über Märkte für Finanzinstrumente und zur Änderung der Verordnung [EMIR] über OTCDerivate, zentrale Gegenparteien und Transaktionsregister, 20.10.2011, KOM(2011) 652 endg. 8 Ausführlich Walla in Veil, Europäisches Kapitalmarktrecht, 2011, § 2 Rz. 23 ff. 9 Delegierte Rechtsakte sind in Art. 290 AEUV erfasst. Es handelt sich um Rechtsakte ohne Gesetzescharakter mit allgemeiner Geltung. Durchführungsrechtsakte sind Rechtsakte der Kommission und setzen gemäß Art. 291 Abs. 2 AEUV voraus, dass es für die Durchführung der verbindlichen Rechtsakte der Union einheitlicher Bedingungen bedarf.

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Stufe zwei eine Funktion bei der Gesetzgebung hat.10 Die ESMA ist durch die ESMA-VO mit diversen Befugnissen ausgestattet. Dazu zählt insbesondere die Befugnis, technische Regulierungsstandards und technische Durchführungsstandards zu entwickeln.11 Sowohl die Kommission als auch die ESMA dürfen auf Stufe zwei des Lamfalussy-Verfahrens aber nur tätig werden, wenn ein auf Stufe eins verabschiedeter Rahmenrechtsakt eine entsprechende Ermächtigung für sie enthält. Die praktische Bedeutung der voraussichtlich ab 2013 auf Stufe zwei zu erlassenden Rechtsakte wird enorm sein. So verlangt beispielsweise der Entwurf einer Marktmissbrauchs-VO aus dem Oktober 2011, dass die Kommission zu fünf Komplexen mittels delegierter Rechtsakte konkretisierende Maßnahmen12 und zu einem weiteren Komplex Durchführungsrechtsakte13 erlässt. Darüber hinaus sieht er vor, dass die ESMA zu zwei Themen technische Regulierungs-14 und zu sechs Durchführungsstandards15 zu erarbeiten hat, teilweise auch zu Aspekten, die von grundsätzlicher Bedeutung sind,16 obwohl beide Rechtssetzungsinstrumente keine „strategischen oder politischen Entscheidungen“ beinhalten dürfen.17 Auf Stufe drei des Lamfalussy-Verfahrens kommt die ESMA wiederum zum Zuge. So hat sie u. a. die Kompetenz, Leitlinien und Empfehlungen herauszugeben, um kohärente, effiziente und wirksame Aufsichtspraktiken zu schaffen und eine gemeinsame, einheitliche und kohärente Anwendung des Unionsrechts sicherzustellen.18 Bereits der frühere CESR hatte aus diesen Gründen Guidelines veröffentlicht.19 Die Leitlinien und Empfehlungen der Nachfolgeorganisation ESMA dürften für die Praxis noch wichtiger werden. Denn die Leitlinien richten sich nicht nur an die nationalen Behörden, sondern auch an die Finanzmarktteilnehmer. Ferner fordern die reformierten Rahmenrechtsakte die europäische Wertpapieraufsichtsbehörde explizit dazu auf, Leitlinien zu erarbeiten. So soll die ESMA beispielsweise den nationalen Aufsichtsbehör-

__________ 10 Vgl. Art. 8 Abs. 2 ESMA-VO. 11 Die technischen Regulierungs- und Durchführungsstandards treten gemäß Art. 10 ff. ESMA-VO in Kraft, wenn die Kommission sie verabschiedet hat. Das Europäische Parlament hat nur bezüglich der technischen Regulierungsstandards das Recht, Einwände geltend zu machen (vgl. Art. 13 ESMA-VO). Näher zum Verfahren Walla (Fn. 8), § 6 Rz. 57 ff. 12 Vgl. Art. 3 Abs. 3, Art. 8 Abs. 5, Art. 12 Abs. 2, Art. 13 Abs. 4, Art. 14 Abs. 5 und 6 i. V. m. Art. 31 MMVO-E. 13 Vgl. Art. 29 Abs. 3 i. V. m. Art. 33 MMVO-E. 14 Vgl. Art. 11 Abs. 3, Art. 15 Abs. 3 Unterabs. 2 MMVO-E. 15 Vgl. Art. 12 Abs. 9, Art. 13 Abs. 6, Art. 15 Abs. 3 Unterabs. 1, Art. 18 Abs. 3, Art. 19 Abs. 9, Art. 30 Abs. 4 MMVO-E. 16 Die ESMA soll Entwürfe technischer Durchführungsstandards erarbeiten, um die technischen Modalitäten für die verschiedenen Personengruppen, für die objektive Darstellung von Informationen sowie für die Offenlegung bestimmter Interessen oder Interessenkonflikte festzulegen (Art. 15 Abs. 3 MMVO-E). Dabei handelt es sich aber um grundsätzliche Regulierungsaspekte. Vgl. Veil/Koch, WM 2011, 2297, 2304. 17 Vgl. Art. 10 Abs. 1 Unterabs. 2 und Art. 15 Abs. 1 Satz 2 ESMA-VO. 18 Vgl. Art. 16 Abs. 1 ESMA-VO. 19 Vgl. Veil in Veil, Europäisches Kapitalmarktrecht, 2011, § 9 Rz. 8.

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den zukünftig Leitlinien zur Art der verwaltungsrechtlichen Maßnahmen und Sanktionen und zur Höhe der Geldbußen bereitstellen.20 Das Kapitalmarktrecht wird nach der Reform in einer Vielzahl an Rechtsquellen vorzufinden sein. Zu jedem Rahmenrechtsakt werden sich diverse konkretisierende Rechtsakte gesellen. Das von der Kommission bislang nur angedeutete Ziel, ein single rulebook zu schaffen,21 mag noch in weiter Ferne liegen. Denn einstweilen soll es nach ihrer Vorstellung dabei bleiben, dass der Regelungsinhalt der Rahmenrechtsakte unverändert bleibt. Dies schließt es aber nicht aus, bereits heute gemeinsame Wertungen und Interdependenzen der immer dichter werdenden Teilrechtsgebiete herauszuarbeiten, ein Regelungssystem zu entwickeln und die Regelungsmaterien zu ordnen. Es wird Aufgabe der Rechtswissenschaften sein, der europäischen Gesetzgebung den Weg für diese weiteren Schritte hin zu einem Europäischen Finanzmarktrecht zu weisen.

III. Verordnungsgesetzgebung und Vollharmonisierung Die Reformen des Kapitalmarktrechts werden nicht nur zu einer Normenflut führen. Sie werden auch die Ebene der Verhaltensregeln stärker europäisieren. So werden an die Stelle von Rahmenrichtlinien vermehrt Verordnungen treten. Dies zeigt sich am eindrücklichsten im Marktmissbrauchsrecht: Die Richtlinie soll durch eine Verordnung ersetzt werden. Damit würden die Vorschriften über die Insiderverbote und die Pflichten zur Veröffentlichung von Insiderinformationen sowie Directors’ Dealings, das Verbot der Marktmanipulation und die Verhaltensregeln für Finanzanalysten unmittelbar geltendes Recht in den Mitgliedstaaten. Die entsprechenden Vorschriften des WpHG wären nicht mehr anzuwenden und könnten aufgehoben werden. Es bedarf keiner großen Phantasie, um vorherzusagen, welcher Instrumente sich die Kommission und ESMA für den Bereich des Marktmissbrauchs auf Stufe zwei des Lamfalussy-Verfahrens bedienen werden: Sie werden ebenfalls Verordnungen verabschieden. Das Prospekt- und Transparenzrecht soll zwar weiterhin durch Richtlinien erfasst werden. Doch auch diese Bereiche werden stärker europäisiert werden. Erstens ist es nicht ausgeschlossen, die Rechtsakte auf Stufe zwei des Lamfalussy-Verfahrens in Form von Verordnungen zu erlassen.22 Zweitens wird das Richtlinienrecht in Zukunft größtenteils auf eine Vollharmonisierung abzielen. Die neuen Rechtsakte regeln teilweise ausdrücklich, dass die

__________ 20 Vgl. Art. 27 Abs. 2 MMVO-E; Art. 28c Abs. 2 Transparenz-RL-E; Art. 76 Abs. 2 MiFID-II-E. 21 Vgl. Europäische Kommission, Proposal for a Regulation of the European Parliament and of the Council on insider dealing and market manipulation (market abuse), COM(2011) 651 final, S. 3 (in der deutschen Fassung nicht richtig übersetzt); dazu auch der frühere Vorsitzende des CESR Wymeersch, ZGR 2011, 443, 448. 22 Das prominenteste Beispiel ist die Prospekt-VO, die von der Kommission ergänzend zur Prospektrichtlinie erlassen wurde.

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Mitgliedstaaten keine strengeren Vorschriften verabschieden dürfen.23 Soweit sie die Frage nicht ansprechen, ergibt sich aus der Auslegung, dass eine Vollharmonisierung intendiert ist.24 Den Mitgliedstaaten wird also die Kompetenz zur Regelung kapitalmarktrechtlicher Sachverhalte nahezu vollständig aus der Hand genommen. Eine strengere nationale Regulierung der Materie wird in Zukunft nicht mehr erlaubt sein. Die Mitgliedstaaten werden auch nicht mehr befugt sein, konkretisierende Maßnahmen zu erlassen. Sie werden nur noch für solche Bereiche rechtssetzend tätig werden dürfen, die von den Richtlinien nicht erfasst sind.25 Die Kommission will mit der Wahl des Instruments der Verordnung Aufsichtsarbitrage vermeiden, gleiche Wettbewerbsbedingungen schaffen und verhindern, dass die Mitgliedstaaten divergierende nationale Anforderungen vorsehen.26 Ähnliche Ziele verfolgt sie mit der Vollharmonisierung der Transparenzregime durch die neuen Richtlinien. Ihr geht es darum, die den Mitgliedstaaten bislang bewusst eingeräumten Ermessensspielräume zu reduzieren27 und ein einheitliches Regelwerk für die EU-Finanzmärkte festzulegen.28 Deutlicher kann man sein Anliegen nicht formulieren. Einen ernsthaften Wettbewerb der Gesetzgeber29 um das „beste“ Kapitalmarktrecht dürfte es in Zukunft in Europa nicht mehr geben. Rechtspolitisch spricht Manches für die Vereinheitlichung der Kapitalmarktrechte. Sie schafft Rechtssicherheit und kann zur Reduktion von Transaktionskosten beitragen.30 Der Gefahr einer Versteinerung der Regime kann man begegnen, indem die Kommission und ESMA in die Lage versetzt werden, auf Stufe zwei des Lamfalussy-Verfahrens schnell auf Innovationen zu reagieren. Dennoch ist die Regulierungsstrategie nicht zweifelsfrei.31 Denn der Wettbewerb der Regelgeber kann eine beträchtliche Innovationskraft entfalten. Nachweise für eine angeblich schädliche Regulierungsarbitrage vermag die Kommission nicht zu geben. So drängt sich der Eindruck auf, dass die Kommission die Finanzmarktkrise pauschal zur Legitimation ihrer Regulierungsvorstöße heranzieht. Eine Kurskorrektur erscheint momentan aber unwahrscheinlich.

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23 Vgl. Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 2 Transparenz-RL-E; zur Reichweite dieser Norm Veil, WM 2012, 53, 56; Seibt/Wollenschläger, AG 2012, 305, 309. 24 Vgl. zum Entwurf einer Marktmissbrauchs-VO Veil/Koch, WM 2011, 2297, 2298. 25 Dazu am Beispiel von MIFID-II Veil/Lerch, im Erscheinen in WM 2012. 26 Europäische Kommission, Begründung des Vorschlags für eine Neufassung der MiFID und für eine MiFIR, 20.10.2011, KOM(2011) 652 endg., S. 6. 27 Europäische Kommission, Begründung des Vorschlags für eine Neufassung der MiFID, 20.10.2011, KOM(2011) 656 endg., S. 3 („roter Faden, der sich durch alle von der MiFID-Überprüfung abgedeckten Bereiche zieht“). 28 Europäische Kommission, Begründung des Vorschlags für eine Neufassung der MiFID, 20.10.2011, KOM(2011) 656 endg., S. 3. 29 Auch der Wettbewerb zwischen den Börsenträgern und Marktbetreibern wird erschwert. Denn die von der Kommission vorgeschlagenen Rechtsakte zielen u. a. darauf ab, auch die bislang unionsrechtlich deregulierten Marktplätze zu regulieren. Vgl. etwa Veil/Koch, WM 2011, 2297, 2299. 30 Vgl. Walla (Fn. 8), § 2 Rz. 52. 31 Kritisch Gruber, Voll- oder Mindestharmonisierung?, in Braumüller/Ennöckl/Gruber/ Raschauer, Die neue europäische Finanzmarktaufsicht, ZFR Spezial 2011, S. 1, 12 ff.

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Vor diesem Hintergrund sollte auch die Chance der Vereinheitlichung des Kapitalmarktrechts gesehen werden: Es wird ein „europäisches Produkt entstehen“, das sich dem globalen Wettbewerb mit den USA, China, Japan und Singapur stellen kann. Darüber hinaus bergen die Verordnungsgesetzgebung und Vollharmonisierung neue Herausforderungen für die Dogmatik. Der bestehende Instrumentenkasten für die Auslegung kapitalmarktrechtlicher Vorschriften wird nicht mehr ausreichen, wenn ein Großteil der Regelungen in Verordnungen vorzufinden sein wird. Es wird notwendig werden, eine unionsrechtliche Interpretationslehre zu entwickeln, die auch den Auslegungsempfehlungen der europäischen Wertpapieraufsichtsbehörde die gebührende Aufmerksamkeit schenkt.32 Dabei werden hierzulande anerkannte und bewährte Methoden der Auslegung kapitalmarktrechtlicher Regeln33 auf den Prüfstand gestellt werden müssen. Zwei Beispiele mögen dies verdeutlichen. Das erste betrifft die in der Praxis hoch relevante Frage, ob die Stimmrechte bei einem Wertpapierdarlehen dem Darlehensgeber gemäß § 22 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 WpHG zuzurechnen sind. Der BGH bejahte sie, sofern der Darlehensgeber Einfluss auf die Stimmrechtsausübung durch den Darlehensnehmer hat. Denn „nur im Fall eines mittelbaren Stimmrechts des seine Meldepflicht versäumenden Darlehensgebers erschein[e] die Sanktion eines unmittelbar den Darlehensnehmer treffenden Rechtsverlustes hinsichtlich der ‚entliehenen‘ Aktien gerechtfertigt“.34 Der zweite Zivilsenat legt also die kapitalmarktrechtlichen Vorschriften mit Blick auf die zivilrechtlichen Sanktionen des § 28 WpHG restriktiv aus.35 Wird diese rechtsfolgenorientierte Auslegung noch statthaft sein, wenn in anderen Mitgliedstaaten keine vergleichbare scharfe Sanktion besteht? Eine Antwort fällt nicht leicht. Einerseits schließen es die Rechtsvereinheitlichung und Vollharmonisierung nicht aus, dass die Vorschriften in den Mitgliedstaaten einheitlich ausgelegt werden. Andererseits wird man berücksichtigen müssen, dass die reformierten Rechtsakte gerade auf eine „kohärente“ Rechtsanwendung in den Mitgliedstaaten abzielen. Das zweite Beispiel betrifft die Haftung wegen unterlassener Veröffentlichung einer Insiderinformation. Im IKB-Fall entschied der XI. Zivilsenat des BGH, dass ein Anleger nach § 37b Abs. 1 WpHG wegen unterlassener Veröffentlichung einer Ad-hoc-Mitteilung den Erwerbsschaden ersetzt verlangen kann.36 Als Mindestschaden könne ein Anleger aber auch den Kursdifferenzschaden ersetzt verlangen. Hierfür müsse er lediglich darlegen und beweisen, dass, wäre die Ad-hoc-Mitteilung rechtzeitig erfolgt, der Kurs zum Zeitpunkt seines Kaufs niedriger gewesen wäre, als er tatsächlich war. Diese Grundsätze leitete der

__________ 32 Dazu erste Überlegungen bei Kalss/Oppitz/Zollner, Kapitalmarktrecht, Bd. I, 2005, Rz. 95; Veil (Fn. 19), § 2 Rz. 113 ff. 33 Dazu zuletzt Brellochs, ZIP 2011, 2225 ff. 34 BGHZ 180, 154. 35 Ebenso BGH, ZIP 2011, 1862 zur Stimmrechtszurechnung beim Treuhänder aufgrund eines Acting in Concert des Treugebers. 36 BGH, ZIP 2012, 318.

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BGH aus dem Normzweck der in § 15 WpHG vorgesehenen Pflicht zur Veröffentlichung von Insiderinformationen ab. Den Normzweck wiederum erschloss sich das Gericht, indem es die Materialien zu den Gesetzen durchforstete, mit denen der deutsche Gesetzgeber die Vorgaben der Marktmissbrauchsrichtlinie umsetzte.37 Außerdem berücksichtigte es die im Emittentenleitfaden veröffentlichten Auslegungsempfehlungen der BaFin. Dieser sei eine norminterpretierende Verwaltungsvorschrift.38 Die Ad-hoc-Publizitätspflicht wird in Zukunft in Art. 12 i. V. m. Art. 6 Marktmissbrauchs-VO geregelt sein.39 Die Vorschriften werden autonom auszulegen sein. Der europäische Rechtsakt gibt bereits in seinem ersten Artikel die Marschroute vor: „Mit dieser Verordnung wird ein gemeinsamer Rechtsrahmen errichtet, um die Integrität der Finanzmärkte in der Union sicherzustellen und den Anlegerschutz und das Vertrauen der Anleger in diese Märkte zu stärken.“ Der deutsche Jurist mag geneigt sein, bereits darin ein Bekenntnis zum Schutz individueller Anlegerinteressen zu erblicken. In anderen Jurisdiktionen wird man dies aber gänzlich anders beurteilen und die Funktion der Vorschrift – entsprechend ihrer Überschrift – allein darin sehen, den Regelungsgegenstand der Verordnung zu beschreiben. Es wird also notwendig sein, den Normzweck aus den europäischen Gesetzesmaterialien abzuleiten. Dazu gehören sicherlich die Berichte und Stellungnahmen des Europäischen Parlaments. Es ist aber noch ungeklärt, welche der zahlreichen Papiere und Mitteilungen der Kommission insoweit zu berücksichtigen sind. Sind auch die von der ESMA verfassten Studien und Vorarbeiten heranzuziehen? Kann sogar auf die Ergebnisse der von der Kommission durchgeführten Konsultationen40 und die Berichte der von ihr eingesetzten sachverständigen Gruppen41 und beauftragten Wirtschaftsprüfungsgesellschaften und Anwaltskanzleien42 rekurriert werden? Die Methodenlehre wird dazu Stellung nehmen müssen, welche Quellen bei einer historischen Auslegung kapitalmarktrechtlicher Rechtsakte zu berücksichtigen und welche Bedeutung ihnen beizumessen sind. Ein zweiter Aspekt betrifft die behördlichen Auslegungshinweise. Der Emittentenleitfaden der BaFin wird für den Bereich des Marktmissbrauchs durch Leitlinien und Empfehlungen der ESMA abgelöst werden. Diese richten sich, wie bereits ausgeführt, nicht nur an die Behörden der Mitgliedstaaten, sondern

__________ 37 Der BGH wertete die Materialien zum zweiten Finanzmarktförderungsgesetz, vierten Finanzmarktförderungsgesetz und zum Anlegerschutzverbesserungsgesetz aus. Vgl. BGH, ZIP 2012, 318, 320 f., 325. 38 BGH, ZIP 2012, 318, 323. 39 Dazu Veil/Koch, WM 2011, 2297, 2301 ff.; Merkner/Sustmann, AG 2012, 315, 319 ff. 40 Die Kommission hat den Prozess der Revision der Rahmenrechtsakte mit Konsultationen der Marktteilnehmer eingeleitet. Die abgegebenen Stellungnahmen können auf der Internetpräsenz der Kommission abgerufen werden (vgl. http://ec.europa.eu/ internal_market/securities/news/index_de.htm). 41 Die jüngste Welle der europäischen Gesetzgebungsinitiativen wurde durch den Bericht der de Larosière-Gruppe eingeleitet. Vgl. Veil (Fn. 19), § 1 Rz. 33 f. 42 Die Europäische Kommission hat zuletzt aus Anlass der Revision der TransparenzRichtlinie Mazars mit einer Studie beauftragt und aus Anlass der Revision der Übernahmerichtlinie eine Studie bei Marcuse Partners in Auftrag gegeben.

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auch an die Kapitalmarktteilnehmer. Es wird also zu klären sein, ob die in Paris entwickelten Leitlinien und Empfehlungen ebenso wie der Emittentenleitfaden der BaFin als norminterpretierende Verwaltungsvorschriften zu qualifizieren sind, so dass sie ein deutsches Gericht bei der Auslegung berücksichtigen würde.

IV. Europäisierungs- und Vereinheitlichungstendenzen auf der Ebene des Enforcements Die in der EU registrierten Ratingagenturen unterliegen einer rein europäischen Aufsicht. Der ESMA stehen weitreichende Eingriffs- und Sanktionsbefugnisse gegenüber Ratingagenturen und an Ratingtätigkeiten beteiligten Personen zu.43 Im Übrigen ist die Kapitalmarktaufsicht nach derzeit geltender Rechtslage eine nationale Angelegenheit der zuständigen Behörden. Dies wird sich in Zukunft ändern, selbst in denjenigen Bereichen, die weiterhin durch Richtlinien harmonisiert werden sollen. Im Ausgangspunkt ist festzuhalten, dass die Verwaltungsmaßnahmen und -sanktionen im Prospekt-, Marktmissbrauchs- und Transparenzrecht weiterhin im nationalen Recht vorzufinden sein werden.44 Die neuen Rahmenrechtsakte werden den Mitgliedstaaten aber vorschreiben, über welche Instrumente die nationalen Behörden verfügen müssen und nach welchen Kriterien die Behörden die Maßnahmen und Sanktionen zu ergreifen haben. Die zahlreichen und detaillierten Regelungsaufträge werden dazu führen, dass die Regeln zur Kapitalmarktaufsicht in den 27 Mitgliedstaaten ähnliche Züge annehmen werden; einheitlich werden sie freilich nicht sein.45 Die Rahmenrechtsakte begnügen sich nicht mit Regelungsaufträgen an die Mitgliedstaaten. Der ESMA wird auch die Aufgabe zugewiesen, für eine kohärente und effiziente Rechtsanwendung in den Mitgliedstaaten Sorge zu tragen. Dies betrifft erstens die Ebene der kapitalmarktrechtlichen Pflichten und Gebote sowie zweitens die Ebene der Verwaltungsmaßnahmen und -sanktionen: Die ESMA soll erstens darauf hinwirken, dass die materiell-rechtlichen Vorschriften einheitlich gehandhabt werden. Dazu wird ihr ein bunter Strauß an Instrumenten und Handlungsformen zur Verfügung stehen. Die wichtigsten sind die bereits angesprochenen technischen Durchführungsstandards sowie die Leitlinien und Empfehlungen.46 Wiederum mögen zwei Beispiele verdeutlichen, wie die ESMA im Bereich der Kapitalmarktaufsicht Fuß fassen wird. Das erste stammt aus dem Transparenzrecht. Die ESMA wird in der reformierten Transparenzrichtlinie u. a. damit beauftragt, eine Liste mitteilungspflichti-

__________

43 Näher Veil/Teigelack in Veil, Europäisches Kapitalmarktrecht, 2011, § 21 Rz. 48. 44 Die MiFIR geht noch einen Schritt weiter und gewährt der ESMA unmittelbare Einwirkungsbefugnisse. Vgl. dazu Veil/Lerch, im Erscheinen in WM 2012. 45 Die Kommission strebt eine bloße Mindestharmonisierung der Verwaltungsmaßnahmen und -sanktionen an. Vgl. etwa Art. 26 MMVO-E; Art. 28a Transparenz-RL-E. 46 Die Grenzen zwischen Rechtssetzung und Aufsicht erscheinen zunehmend fließend.

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ger Finanzinstrumente zu erstellen.47 Die deutsche BaFin und die englische FSA werden also bei Anfragen aus der Praxis auf die Papiere der ESMA verweisen müssen; sollte Diskussionsbedarf bestehen, wird die ESMA die zuständige Ansprechpartnerin sein. Das zweite Beispiel betrifft die Veröffentlichung von Insiderinformation. Die technischen Mittel für die Bekanntgabe von Insiderinformationen und für deren Aufschub werden von der ESMA festgelegt werden.48 Es liegt auf der Hand, dass Zweifelsfragen zukünftig nicht mehr mit den Mitarbeitern der nationalen, sondern der europäischen Behörde besprochen werden. Zweitens soll die ESMA sicherstellen, dass die Verwaltungsmaßnahmen und -sanktionen möglichst einheitlich gehandhabt werden. Sie erhält dazu die Befugnis, Leitlinien i. S. v. Art. 16 ESMA-VO zur Art der verwaltungsrechtlichen Maßnahmen und Sanktionen und zur Höhe der Geldbußen zu erlassen.49 Für die mitgliedstaatlichen Behörden werden diese Leitlinien nicht rechtlich verbindlich sein. Es wird ihnen also unbenommen bleiben, von den Leitlinien abzuweichen. Doch müssen sie sich dann gegenüber der ESMA dazu erklären. Dieser in der ESMA-VO verankerte comply-or-explain-Mechanismus50 kann eine nicht zu unterschätzende Wirkung entfalten. Die Kommission scheint selbst keine klaren Vorstellungen darüber zu haben, was man sich unter Verwaltungsmaßnahmen und Verwaltungssanktionen vorzustellen hat und wie diese voneinander abzugrenzen sind.51 Die Frage muss aber gestellt und beantwortet werden. Denn es wird erforderlich sein, die europäischen Vorgaben in das nationale Verwaltungsrecht und Recht der Ordnungswidrigkeiten einzufügen. Ist beispielsweise das zukünftig verpflichtende Naming and Shaming52 eine Maßnahme der Gefahrenabwehr oder eine aufsichtsrechtliche Sanktion? Auch die europäische Aufsichtsarchitektur mit ihren komplexen Kontrollstrukturen will vermessen werden. Immerhin: Das Interesse der Verwaltungsrechtswissenschaften ist bereits geweckt.53 Für die Zivilrechtswissenschaften werden sich die altbekannten Fragen zur Schadensersatzpflicht von Emittenten und Intermediären gegenüber Anlegern unter neuen Vorzeichen stellen. Zwar schweigen sich die vorgeschlagene Marktmissbrauchs-VO und die Richtlinie zur Änderung der Transparenzrichtlinie zum haftungsrechtlichen Anlegerschutz aus. Auch die Kommission hat

__________ 47 48 49 50

Vgl. Art. 13 Abs. 1b Transparenz-RL-E. Vgl. Art. 12 Abs. 9 MMVO-E. Vgl. Art. 27 Abs. 2 MMVO-E. Die nationalen Behörden müssen sich gemäß Art. 37 ESMA-VO gegenüber der ESMA unter Angabe von Gründen erklären, falls sie eine Empfehlung oder Leitlinie nicht befolgen wollen. Die ESMA wird diese Gründe gemäß Art. 16 Abs. 3 ESMA-VO veröffentlichen. 51 Vgl. zu ihrem Verständnis der „Schlüsselbegriffe“ Europäische Kommission, Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen – Stärkung der Sanktionsregelungen im Finanzdienstleistungssektor, 8.12.2010, KOM(2010) 716 end., S. 4 f. 52 Vgl. etwa Art. 26 Abs. 3 MMVO-E. 53 Vgl. Kämmerer, NVwZ 2011, 1281 ff.

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sich bislang nicht zu dem Thema geäußert. Dies schließt es aber nicht aus, das nationale Zivilrecht zu bemühen – im Fokus steht das Deliktsrecht. Es wird vor allem zu klären sein, ob die in Verordnungsrecht gegossenen Publizitätspflichten und das Verbot der Marktmanipulation drittschützenden Charakter haben.54 Die Antworten werden ausschließlich im Unionsrecht zu suchen sein. Geboten ist eine Auslegung, die den unionsrechtlichen Vorschriften zu ihrer vollen Wirksamkeit verhilft.55 Auszuwerten sind dabei die Vorschriften der Marktmissbrauchs-VO,56 die Erwägungsgründe57 und die begleitenden Materialien, insbesondere das Commission Staff Working Paper.58 Darüber hinaus kann sich zukünftig die Frage stellen, ob europäische Haftungsregeln analog angewandt werden können. Die Europäische Kommission will die Verordnung über Ratingagenturen reformieren59 und u. a. eine Schadensersatzpflicht der Ratingagenturen gegenüber Anlegern einführen. Sie schlägt vor, dass in der Rating-VO eine Anspruchsgrundlage und Beweislastregeln vorgesehen werden.60 Sollte sich die Kommission mit diesen Forderungen durchsetzen, wird in einem Teilbereich des Kapitalmarktrechts eine europäische zivilrechtliche Kapitalmarkthaftung bestehen. Es würde sich dann zwangsläufig die Frage stellen, ob die Vorschriften für die zukünftig in der Marktmissbrauchs-VO geregelten Finanzanalysten analog angewandt werden können. Denn Finanzanalysten sind ebenso wie Ratingagenturen Informationsintermediäre und nehmen eine Gatekeeper-Funktion wahr. Will man die Frage beantworten, wird man sich zunächst des methodischen Instrumentenkastens vergewissern müssen. Dieser erscheint aber wenig geordnet. So ist es keineswegs geklärt, unter welchen Voraussetzungen Analogien im Unionsrecht zulässig sind.61 Und wie will man in einem zunehmend kodifikatorische Züge annehmenden Rechtsgebiet feststellen, dass eine Regelungslücke planwidrig und damit ausfüllungsbedürftig ist?

V. Schluss Peter Hommelhoff hat zu Recht auf die gewaltigen Herausforderungen hingewiesen, die aus europäischen Reformen für das deutsche Unternehmens- und Wirtschaftsrecht resultieren.62 Sie werden sich bald auch für das Kapitalmarktrecht stellen. Die von der Kommission im Oktober 2011 angestoßenen Refor-

__________ 54 55 56 57 58 59 60 61 62

Dazu Hellgardt, AG 2012, 154, 162 ff. Vgl. Hellgardt, AG 2012, 154, 165 (deshalb sei eine zivilrechtliche Haftung geboten). Siehe bereits unter III. Hellgardt, AG 2012, 154, 164 stellt vor allem auf Erwägungsgrund 24 ab. Commission Staff Working Paper Impact Assessment, 20.10.2011, SEC(2011) 1217 final. Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 1060/2009 über Ratingagenturen, 15.11.2011, KOM(2011) 747 endg. Vgl. Art. 35a des Verordnungsvorschlags. Dazu Ahmling, Analogiebildung durch den EuGH, im Erscheinen 2012. Zuletzt Hommelhoff, Corporate Governance – Entwicklungen im Unionsrecht, in VGR, Gesellschaftsrecht in der Diskussion 2011, 2012, S. 175, 177.

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Zeitenwende in der Kapitalmarktgesetzgebung

men werden nicht nur das materielle Recht umgestalten. Sie werden auch zu einer Europäisierung des Rechtsgebiets führen, die vor der Finanzmarktkrise kaum für möglich gehalten wurde. Die Rechtspraxis wird sich umstellen müssen: Die in Paris beheimatete europäische Wertpapieraufsichtsbehörde wird Ansprechpartnerin bei alltäglichen Fragen der Praxis zur Rechtsanwendung werden. Aber auch die Rechtswissenschaften werden sich neu orientieren müssen. Mit der Europäisierung werden methodische und dogmatische Grundfragen für die Zivil- und Verwaltungsrechtswissenschaften aufgeworfen. Diese Fragen können heute nur gestellt werden; es ist noch zu früh, sie zu beantworten. Dies wird erst möglich sein, wenn der Rat und das Parlament die neuen Rahmenrechtsakte verabschiedet und die Kommission sowie ESMA die konkretisierenden Rechtsakte verabschiedet haben. Immerhin lässt sich eines verlässlich sagen: Die Aufgaben können nur in einem europäischen Miteinander geschultert werden.

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Unternehmensmitbestimmung für Auslandsgesellschaften Inhaltsübersicht A. Einführung und Problemstellung B. Paritätische Mitbestimmung in der Kritik C. Flucht aus der Mitbestimmung durch Rechtsform-Shopping I. Rechtstatsachen II. Rechtsdogmatische Grundlagen des Rechtsform-Shopping 1. Mehrebenensystem des IPR 2. Europäisches Gesellschaftskollisionsrecht 3. Völkerrechtliches Gesellschaftskollisionsrecht 4. Autonomes deutsches Gesellschaftskollisionsrecht III. Rechtspolitische Reaktionen: Mitbestimmungs-Erstreckungsgesetz D. Unternehmensmitbestimmung für Auslandsgesellschaften aus Sicht des IPR I. Unternehmensmitbestimmung via Gesellschaftsstatut II. Unternehmensmitbestimmung via Eingriffsstatut 1. Lehre von der Sonderanknüpfung international zwingender Normen a) Wilhelm Wengler b) Abgrenzung zum ordre public

2. Sonderanknüpfung im Gesellschaftsrecht 3. Allgemeine Voraussetzungen einer Sonderanknüpfung 4. Sonderanknüpfung des MitbestG 1976 E. Unternehmensmitbestimmung für Auslandsgesellschaften aus Sicht des Europarechts I. Europarechtskonformität der Sonderanknüpfung? II. Mitbestimmungs-Erstreckungsgesetz als Beschränkung der Niederlassungsfreiheit III. Rechtfertigung der Anwendung der Unternehmensmitbestimmung auf Auslandsgesellschaften 1. Zwingender Grund des Allgemeininteresses 2. Geeignetheit 3. Erforderlichkeit a) Betriebliche Mitbestimmung als Alternative? b) Notwendigkeit einer Subsidiaritätsklausel? c) Unternehmensmitbestimmung in monistischen Auslandsgesellschaften F. Zusammenfassung

A. Einführung und Problemstellung Unvergessen sind die vom Jubilar mit der ihn auszeichnenden Verve gehaltenen hochkarätigen gesellschafts- und bürgerlich-rechtlichen Vorlesungen und Seminare, die der Verf. während seiner Studienzeit an der Universität Heidelberg hören durfte und die ihm bis heute leuchtendes Vorbild engagiert-inter-

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* Der Verf. dankt Frau Wiss. Mit. Marietta Pietrek, Freiburg, für die wertvolle Hilfe bei der Erstellung des Manuskriptes.

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aktiver Lehre sind. Ein brisantes Themenfeld, mit dem sich der Jubilar schon lange in Forschung und Lehre auseinandersetzt, ist die deutsche Unternehmensmitbestimmung.1 Gegenwärtig sind 681 Gesellschaften paritätisch mitbestimmt, für weitere ca. 1500 Gesellschaften gilt das Drittelbeteiligungsgesetz.2 An der Mitbestimmung scheiden sich indes die Geister: Während die einen sie kritisieren,3 betonen andere – gerade in Zeiten der Finanz- und Wirtschaftskrise – ihre Stärken4 (dazu unter B.). Fakt ist jedenfalls, dass immer mehr inländische Unternehmen sie offenbar als „belastend“ empfinden und daher Umgehungsstrategien einschlagen: Sie schlüpfen in die Rechtsform einer Auslandsgesellschaft,5 was seit der durch die EuGH-Trilogie Centros, Überseering und Inspire Art geschaffenen Freiheit, Rechtsform-Shopping innerhalb der Europäischen Union zu betreiben, möglich ist. Vom Jubilar wurde diese Freiheit prägnant als „Europäische Rechtsformwahlfreiheit“6 gekennzeichnet (dazu unter C.). Hinter der Nutzung einer Auslandsrechtsform für Inlandsaktivitäten steht das Kalkül, dass sich § 1 MitbestG 1976 nicht auf ausländische Gesellschaftstypen erstreckt, weil sich sein Anwendungsbereich seinem Wortlaut nach auf die (jeweils deutsche) AG, KGaA, GmbH und eG bzw. nach § 4 MitbestG auf Kommanditgesellschaften mit einer deutschen Komplementärgesellschaft beschränkt.7 In der Tat meint die herrschende Meinung unter Bezug auf den Wortlaut des § 1 MitbestG, mit Hilfe einer Auslandsgesellschaft könne man der deutschen Unternehmensmitbestimmung entgehen.8

__________ 1 Hommelhoff, Unternehmensführung in der mitbestimmten GmbH, ZGR 1978, 119 ff.; ders., Vereinbarte Mitbestimmung, ZHR 148 (1984), 118 ff.; ders., Arbeitnehmer-Beteiligung in der Europäischen Privatgesellschaft (SPE), GmbHR 2008, 1193 ff.; ders., Mitbestimmungsvereinbarungen zur Modernisierung der deutschen Unternehmensmitbestimmung – zum Gesetzentwurf des Arbeitskreises „Unternehmerische Mitbestimmung“, ZGR 2010, 48 ff. 2 Sick, GmbHR 2011, 1196, 1197. 3 S. z. B. Ulmer, ZHR 166 (2002), 271 ff. 4 S. z. B. Sick, GmbHR 2011, 1196 ff. 5 Näher unter C.I. 6 Der Verf. hatte die Ehre, seine Doktorarbeit unter Betreuung des Jubilars anfertigen zu dürfen. Der Jubilar entwickelte dabei im Rahmen einer der Promotionsbetreuungsgespräche den treffenden Titel „Europäische Rechtsformwahlfreiheit“, den der Verf. gerne übernommen hat: Weller, Europäische Rechtsformwahlfreiheit und Gesellschafterhaftung, 2004. 7 Nach § 4 MitbestG erstreckt sich die Unternehmensmitbestimmung ferner auf gewisse Gesellschaftstypenkombinationen, insbesondere auf die GmbH & Co. KG sowie die AG & Co. KG. 8 So etwa Eberspächer, ZIP 2008, 1951, 1958; Ebke, JZ 2003, 927, 930; ders., BB 2003, Heft 1, S. I: Die unternehmerische Mitbestimmung lasse sich „wohl kaum“ gegen ein fremdes Gesellschaftsstatut durchsetzen; Henssler in GS Heinze, 2005, S. 333, 341 f.; Merkt, ZIP 2011, 1237, 1239; Teichmann, ZIP 2009, 1787, 1787; Ulmer, JZ 1999, 662, 663; Zimmer, NJW 2003, 3585, 3590. Vgl. auch das obiter dictum in BGH, Vorlagebeschluss v. 30.3.2000 – VII ZR 370/98, ZIP 2000, 967, 968 – Überseering: „Beispielsweise ist nicht erkennbar, wie die unternehmerische Mitbestimmung des deutschen Rechts in einer ausländischen Gesellschaft verwirklicht werden soll, die keinen Aufsichtsrat hat.“

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Unternehmensmitbestimmung für Auslandsgesellschaften

Ob diese Argumentation belastbar ist, erscheint indes zweifelhaft.9 Denn naturgemäß sind die Sachnormen des deutschen Rechts auf den Inlandssachverhalt als typische Fallkonstellation zugeschnitten,10 so dass es nicht überrascht, dass der Wortlaut des § 1 MitbestG nur deutsche Rechtsformen adressiert. Indes soll hier nicht der Frage nachgegangen werden, ob das MitbestG 1976 schon nach der lex lata auf Auslandsgesellschaften anzuwenden ist, was qua richterrechtlicher Sonderanknüpfung denkbar wäre.11 Denn angesichts der mit einer richterrechtlichen Sonderanknüpfung einhergehenden Rechtsunsicherheit scheut sich die Arbeitnehmerseite offenbar, die Mitbestimmung bei Auslandsgesellschaften gerichtlich durchzusetzen. Die gesellschafterseitige Gestaltungspraxis nutzt diese Passivität und orientiert sich an der vorgenannten herrschenden Meinung mit der Konsequenz, dass die Unternehmensmitbestimmung momentan de facto auf Auslandsgesellschaften mit Verwaltungssitz im Inland keine Anwendung findet.12 Vor diesem Hintergrund soll im Folgenden der höchst virulenten Frage nachgegangen werden, inwieweit das deutsche Mitbestimmungsregime de lege ferenda qua Legislativakt auf Auslandsgesellschaften erstreckt werden kann.13 Diskutiert wird insbesondere ein Mitbestimmungs-Erstreckungsgesetz,14 welches die Anwendbarkeit der deutschen Unternehmensmitbestimmung auf Auslandsgesellschaften explizit anordnen und damit die vorgenannte Unsicherheit einer richterrechtlichen Erstreckung des gegenwärtigen Mitbestimmungsregimes beseitigen soll. Die Wettbewerbsgleichheit zwischen in- und ausländischen Gesellschaften streitet für ein solches Gesetz.15 Aus Sicht der Rechtsdogmatik stellt sich dabei die Frage, ob sich ein solches Gesetz systemkohärent legitimieren ließe. Die Antwort ist dem auch vom Jubilar immer wieder ausgemessenen Spannungsfeld zwischen Gesellschaftsrecht, IPR und Europarecht zu entnehmen.16 Dabei ist zu trennen zwischen einer Systemkohärenz aus Sicht des IPR (dazu unter D.) und derjenigen aus Sicht des Europarechts (dazu unter E.).

__________ 9 Ähnlich skeptisch Kindler, NJW 2003, 1073, 1079; Thüsing, ZIP 2004, 381. 10 v. Bar/Mankowski, IPR, Bd. 1, 2. Aufl. 2003, § 4 Rz. 17. Dies vernachlässigt z. B. Schall, NJW 2011, 3745 ff. 11 Hierzu Weller in MünchKomm. GmbHG, 2010, Int. GesR, Einl. Rz. 474 ff. 12 Sick, GmbHR 2011, 1196, 1197. 13 Hierzu zuletzt Merkt, ZIP 2011, 1237 ff.; Hübner, Kollisionsrechtliche Behandlung von Gesellschaften aus „nicht-privilegierten“ Drittstaaten, 2010, S. 239 ff.; s. auch Hommelhoff, ZGR 2010, 48, 55. 14 S. infra unter C.III. 15 Hommelhoff, ZGR 2010, 48, 55, der sein Petitum eines Einbezugs ausländischer Gesellschaftsformen freilich verbindet mit einer Öffnung der Unternehmensmitbestimmung für privatautonome Mitbestimmungsvereinbarungen (S. 56 ff.). 16 Vgl. etwa Hommelhoff, Zivilrecht unter dem Einfluss europäischer Rechtsangleichung, AcP 192 (1992), 71 ff.; ders., Europäisierung und Internationalisierung des Gesellschafts- und Unternehmensrechts in Deutschland, in Müller-Graff/Roth (Hrsg.), Recht und Rechtswissenschaft, 2001, S. 133 ff.

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B. Paritätische Mitbestimmung in der Kritik Die paritätische Unternehmensmitbestimmung, wie sie das MitbestG 1976 für Unternehmen mit mehr als 2.000 Arbeitnehmern vorschreibt, steht in mehrfacher Hinsicht in der Kritik.17 Deutschland ist das einzige Land mit marktwirtschaftlicher Wirtschaftsordnung, welches eine paritätische Unternehmensmitbestimmung kennt;18 sie gilt vor diesem Hintergrund als Wettbewerbsnachteil für international tätige deutsche Unternehmen.19 Kritiker monieren ferner, sie beeinträchtige die Kontrollfunktion des Aufsichtsrates, weil dieser aufgrund der Arbeitnehmerbeteiligung primär die Interessen der stakeholder vertrete und daher zu viel Zeit für Personal- und Sozialfragen aufwende.20 Dies führe zu negativen Begleiterscheinungen in Gestalt einer inhaltlichen Entleerung der Diskussionen im Aufsichtsratsplenum und zu einer Diskussionsverlagerung in Ausschüsse sowie zur Ausdünnung der Zustimmungskataloge nach § 111 Abs. 4 Satz 2 AktG.21 Schließlich sei sie bei Strukturmaßnahmen oder Umwandlungen häufig ein Hemmnis für den Informationsfluss zwischen Vorstand und Aufsichtsrat, fürchte doch der Vorstand bei solchen Maßnahmen den Widerstand der Arbeitnehmervertreter.22 Bei legislativen Vorhaben erweist sich die Unternehmensmitbestimmung mitunter ebenfalls als „Bremsklotz“: Die Verabschiedung eines Statuts für die Societas Europaea scheiterte lange an der Mitbestimmungsfrage; nach mehrjährigen Verhandlungen brachte hier erst die sog. Verhandlungslösung den Durchbruch.23 Dagegen ist die Regelung der Mitbestimmung bei der Societas Privata Europaea (SPE) nach wie vor umstritten und einer der wesentlichen Gründe, weshalb die Einführung dieser Rechtsform für den Mittelstand bislang scheiterte.24 Die Mitbestimmung soll schließlich der Grund dafür sein, weshalb die Kodifikation des Internationalen Gesellschaftsrechts im EGBGB25 nicht weiter verfolgt wird: Durch die im Referentenentwurf 2008 vorgesehene Statuierung der Gründungstheorie als allseitige autonome gesellschaftsrecht-

__________ 17 Statt vieler Ulmer, ZHR 166 (2002), 271 ff.; ferner Hübner, Kollisionsrechtliche Behandlung von Gesellschaften aus „nicht-privilegierten“ Drittstaaten, 2010, S. 236 ff. 18 Rechtsvergleichender Überblick bei Hopt, ZHR 175 (2011), 444, 503 ff. 19 Ulmer, ZHR 166 (2002), 271, 274. 20 Ulmer, ZHR 166 (2002), 271, 276. 21 Ulmer, ZHR 166 (2002), 271, 275. 22 Hopt, ZGR 2000, 779, 801. 23 Teichmann, Binnenmarktkonformes Gesellschaftsrecht, 2006, S. 252. 24 Näher zu einem möglichen Mitbestimmungsmodell für die SPE Hommelhoff, GmbHR 2008, 1193 ff. 25 Referentenentwurf für ein Gesetz zum Internationalen Privatrecht der Gesellschaften, Vereine und juristischen Personen v. 7.1.2008; hierzu Bollacher, RIW 2008, 200 ff.; Clausnitzer, NZG 2008, 321 ff.; Leuering, ZRP 2008, 73, 75 ff.; Köster, ZRP 2008, 214; Kußmaul/Richter/Ruiner, DB 2008, 451; Schneider, BB 2008, 566; Wagner/Timm, IPRax 2008, 81 ff. Der Referentenentwurf geht auf einen entsprechenden Vorschlag einer Spezialkommission „Internationales Gesellschaftsrecht“ des Deutschen Rates für IPR zurück, vgl. Sonnenberger (Hrsg.), Vorschläge und Berichte zur Reform des europäischen und deutschen internationalen Gesellschaftsrechts, 2007.

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liche Kollisionsregel (vgl. Art. 10 Abs. 1 EGBGB-Entwurf26) könne – so wird befürchtet – die Mitbestimmung durch Einsatz ausländischer Rechtsformen mit inländischem Verwaltungssitz umgangen werden.27 Vor diesem Hintergrund überrascht es nicht, dass immer wieder rechtspolitische Vorschläge zur sachrechtlichen Reform der Unternehmensmitbestimmung unterbreitet werden,28 die meist auf eine Flexibilisierung des bisherigen Regimes durch Einräumung privatautonomer Gestaltungsmacht in Anlehnung an das Verhandlungsmodell bei der SE hinauslaufen.29

C. Flucht aus der Mitbestimmung durch Rechtsform-Shopping I. Rechtstatsachen In praxi wird die Unternehmensmitbestimmung häufig abzumildern oder durch „Rechtsform-Shopping“30 ganz zu vermeiden gesucht. Rechtsform-Shopping ist aus inländischer Perspektive – wie nachfolgend unter C.II. skizziert werden soll – insbesondere in Bezug auf Gesellschaften aus anderen EU-Mitgliedstaaten, die der Gründungstheorie folgen, möglich, ebenso im Hinblick auf Gesellschaften aus den USA, denen gegenüber sich die Bundesrepublik Deutschland völkerrechtlich zur Anwendung der Gründungstheorie verpflichtet hat. Nach einer Studie der Hans Böckler-Stiftung31 sollen zahlreiche Unternehmen bereits aus der Mitbestimmung „geflüchtet“ sein, indem sie anstelle einer deutschen GmbH oder AG eine ausländische Rechtsform als Plattform für ihre

__________ 26 „Gesellschaften, Vereine und juristische Personen des Privatrechts unterliegen dem Recht des Staates, in dem sie in ein öffentliches Register eingetragen sind. Sind sie nicht oder noch nicht in ein öffentliches Register eingetragen, unterliegen sie dem Recht des Staates, nach dem sie organisiert sind.“ 27 Vgl. auch Weiß/Seifert, ZGR 2009, 542, 543 ff. sowie den Beschluss J 001 des 19. DGB-Bundeskongresses, der eine Mitbestimmungserstreckung fordert, da „für mitbestimmungsfeindliche Unternehmen Anreize [bestünden], durch eine entsprechende Konstruktion ihrer Rechtsform der deutschen Unternehmensmitbestimmung zu entgehen.“ 28 Baums/Bachmann/Habersack/Henssler/Lutter/Oetker/Ulmer, Entwurf einer Regelung zur Mitbestimmungsvereinbarung sowie zur Größe des mitbestimmten Aufsichtsrats, ZIP 2009, 885 ff.; hierzu Hommelhoff, Mitbestimmungsvereinbarungen zur Modernisierung der deutschen Unternehmensmitbestimmung – zum Gesetzentwurf des Arbeitskreises „Unternehmerische Mitbestimmung“, ZGR 2010, 48 ff.; Teichmann, Beilage zu ZIP 48/2009, 10 ff.; vgl. ferner Arbeitskreis Aktien- und Kapitalmarktrecht, Vorschläge zur Reform der Mitbestimmung in der Societas Europaea (SE), ZIP 2010, 2221 ff. 29 Hommelhoff, ZGR 2010, 48, 52, 56 ff. 30 In Anlehnung an den internationalprivatrechtlichen Terminus des forum shopping, bei dem es um die gezielte Wahl von Gerichtsständen geht, kann bei der Wahl von Gesellschaftstypen von „Rechtsform-Shopping“ gesprochen werden. 31 Sick, Mitbestimmungsrelevante Unternehmen mit ausländischen/kombiniert ausländischen Rechtsformen, Studie der Hans Böckler-Stiftung, 2010; ders., GmbHR 2011, 1196 ff.

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inländische Unternehmenstätigkeit wählen32 oder aber die Auslandsgesellschaft als Komplementär einer (deutschen) KG einsetzen: So werde – Stand Mai 2011 – die paritätische Mitbestimmung von 16 deutschen Personengesellschaften durch Implementierung eines ausländischen Komplementärs (insbesondere in der Form der Limited & Co. KG33) vermieden.34 Als prominentes Beispiel gilt die Fluggesellschaft Air Berlin PLC & Co. Luftverkehrs KG, deren Komplementär eine englische Public Limited Company (PLC) ist.35 Weitere bekannte Unternehmen sind die Drogeriemarktkette Müller Ltd. & Co. KG, das Logistikunternehmen Dachser GmbH (Österreich) & Co. KG, der Druckkonzern Privonis Ltd. & Co. KG36 und seit Kurzem das Modeunternehmen Zara B.V. & Co. KG sowie das Berliner Recyclingunternehmen ALBA PLC & Co. KG.37 Die Tochter des schwedischen Textilkonzerns H & M soll genau in dem Moment ihre Rechtsform von einer GmbH in eine B.V. & Co. KG geändert haben, als die Arbeitnehmer einen mitbestimmten Aufsichtsrat forderten.38

II. Rechtsdogmatische Grundlagen des Rechtsform-Shopping Die Anerkennung39 ausländischer Gesellschaften im Inland und damit ihr Einsatz als potentielles Vehikel zur Vermeidung der Mitbestimmung hängen von der Anknüpfung des Gesellschaftsstatuts ab.40 Als Faustformel gilt: Nur wenn das IPR der lex fori das Gründungsrecht einer Gesellschaft zur Anwendung beruft, wird die ausländische Gesellschaft als solche anerkannt, d. h. als ausländische Gesellschaft und nicht lediglich im Sinne der sog. Wechselbalgtheorie als von einer ausländischen Kapital- in eine inländische Personengesellschaft umqualifizierte Rechtsform behandelt.41 Die Anknüpfung richtet

__________ 32 Die Deer & Company Inc. und die McDonald’s Deutschland Inc. sollen der paritätischen Mitbestimmung ausweichen, indem sie sich als US-amerikanische Kapitalgesellschaft organisieren, Sick, Mitbestimmungsrelevante Unternehmen mit ausländischen/kombiniert ausländischen Rechtsformen, 2010, S. 5. 33 Eingehend zu dieser Typenkombination Höhne, Die Ltd. & Co KG, 2011. 34 Unter den ausländischen Rechtsformen ist die niederländische B.V. mit sechs Komplementärunternehmen am stärksten vertreten, gefolgt von fünf britischen Limiteds (Ltd. und PLC), Sick, Mitbestimmungsrelevante Unternehmen mit ausländischen/ kombiniert ausländischen Rechtsformen, 2010, S. 4 (Stand Nov. 2009); s. ergänzend Sick, GmbHR 2011, 1196, 1197 (Stand Mai 2011). 35 Angeblich soll der (frühere) CEO von Air Berlin, Joachim Hunold, geäußert haben, mit dieser grenzüberschreitenden Gesellschaftstypenkombination deutsche Gesetze zur Mitbestimmung umgehen zu wollen, vgl. BT-Drucks. 14/1713, S. 2; vgl. hierzu auch Hommelhoff, ZGR 2010, 48, 55. 36 Vgl. BT-Drucks. 17/1413, S. 2. 37 Sick, GmbHR 2011, 1196, 1197. 38 Sick, GmbHR 2011, 1196, 1197. 39 Zum Begriff der Anerkennung Kindler in MünchKomm. BGB, 5. Aufl. 2010, Int. GesR, Rz. 316 ff. 40 Hierzu aus jüngerer Zeit etwa Hübner, Kollisionsrechtliche Behandlung von Gesellschaften aus „nicht-privilegierten“ Drittstaaten, 2010, S. 39 ff. 41 Ausführlich zur Wechselbalgtheorie Weller in FS Goette, 2011, S. 583 ff.

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Unternehmensmitbestimmung für Auslandsgesellschaften

sich nach Kollisionsregeln, für welche die in Art. 3 EGBGB zum Ausdruck kommende Rechtsquellendogmatik des IPR maßgeblich ist.42 1. Mehrebenensystem des IPR Nach Art. 3 EGBGB gibt es drei verschiedene Ebenen an Rechtsquellen, denen eine Kollisionsregel zur Bestimmung des Gesellschaftsstatuts entspringen kann:43 (1.) das Europarecht, (2.) das Völkerrecht, und (3.) das autonome deutsche Recht. Welche Rechtsquelle in diesem Mehrebenensystem jeweils einschlägig ist, hängt von ihrem Anwendungsbereich ab. Im Fall überlappender Anwendungsbereiche genießen die europarechtlichen Kollisionsregeln in der Normenhierarchie Vorrang gegenüber den völkerrechtlichen sowie gegenüber den autonomen deutschen Kollisionsregeln; dies ergibt sich aus dem unionsrechtlich fundierten Anwendungsvorrang des EU-Rechts.44 2. Europäisches Gesellschaftskollisionsrecht Zwecks Umgehung der Mitbestimmung wird bislang hauptsächlich auf Rechtsformen aus anderen EU-Staaten zurückgegriffen. Deren Gesellschaftsstatut bestimmt sich nach dem europäischen Gesellschaftskollisionsrecht. Dieses gilt für Kapital- und Personenhandelsgesellschaften45 aus anderen EU-Mitgliedstaaten sowie für Gesellschaften aus den EWR-Staaten Liechtenstein, Norwegen und Island,46 nicht dagegen für Gesellschaften aus allen sonstigen Staaten, den sog. Drittstaaten. Seine Grundlage hat das europäische Gesellschaftskollisionsrecht in der Niederlassungsfreiheit nach Art. 49, 54 AEUV. Diese

__________ 42 Brödermann, NJW 2010, 807, 809, 813; Weller, IPRax 2009, 202, 204 ff. 43 Vgl. allgemein zu den Rechtsquellen im IPR und ihrem Rangverhältnis v. Hoffmann/ Thorn, IPR, 9. Aufl. 2007, § 1 Rz. 72 ff. 44 Anders als Art. 3 Nr. 2 EGBGB hat Art. 3 Nr. 1 EGBGB lediglich eine deklaratorische Funktion. Denn der Anwendungsvorrang des EU-Kollisionsrechts folgt nicht aus dem nationalen Recht, sondern aus dem Unionsrecht selbst, v. Bar/Mankowski, IPR, Bd. 1, 2. Aufl. 2003, § 3 Rz. 37. Näher zum Anwendungsvorrang des EU-Rechts Wiedmann in Gebauer/Wiedmann (Hrsg.), Zivilrecht unter europäischem Einfluss, 2. Aufl. 2010, Kapitel 2, Rz. 2 ff., 11 ff. 45 Personengesellschaften werden jedenfalls dann von der Niederlassungsfreiheit erfasst, wenn sie wirtschaftlich tätig sind (vgl. Art. 54 Abs. 2 AEUV: „Erwerbszweck verfolgen“), was bei Handelsgesellschaften gemäß § 105 Abs. 1 i. V. m. § 1 Abs. 2 HGB der Fall ist, vgl. auch Koch, ZHR 173 (2009), 101, 112 ff. 46 Die Niederlassungsfreiheit in Art. 31, 34 EWRV hat ebenfalls einen kollisionsrechtlichen Gehalt; sie beinhaltet für zuziehende Gesellschaften aus den EWR-Mitgliedstaaten Liechtenstein, Norwegen und Island gleichfalls die Gründungstheorie. Denn die Art. 31, 34 EWRV statuieren entsprechend der Zielsetzung des EWR-Vertrages, die Mitgliedstaaten des EWR in die Regelungen des EU-Binnenmarktes mit einzubeziehen, eine den Art. 49, 54 AEUV inhaltsgleiche Regelung zur Niederlassungsfreiheit. Dementsprechend gelten die EuGH-Entscheidungen Centros, Überseering und Inspire Art auch für die Interpretation der Niederlassungsfreiheit im EWR (Auslegungsgleichklang), BGH v. 19.9.2005 – II ZR 372/03, NJW 2005, 3351; näher Weller, ZGR 2006, 748 ff.

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enthält nach vorzugswürdiger Meinung47 für Gesellschaften, die nach der Rechtsordnung eines EU-Mitgliedstaats gegründet worden sind, zwar nicht für Wegzugskonstellationen (Daily Mail, Cartesio), sehr wohl aber für Zuzugskonstellationen (Centros, Überseering, Inspire Art) eine versteckte Kollisionsregel in Gestalt der Gründungstheorie.48 Der BGH ist jüngst in einer Entscheidung zu Art. 22 EuGVO49 implizit ebenfalls von der Niederlassungsfreiheit als versteckter Kollisionsregel ausgegangen.50 Zur näheren Begründung der Ansicht von der Niederlassungsfreiheit als versteckter Kollisionsregel sei auf einen Beitrag verwiesen, der auf Anregung des Jubilars in der von ihm geschäftsführend verantworteten ZGR erschienen ist.51 Entnimmt man der Niederlassungsfreiheit eine Gründungsrechtsanknüpfung, werden etwa nach englischem Recht gegründete Gesellschaften mit Verwaltungssitz in Deutschland (wie die Air Berlin PLC) anerkannt: Über die in Art. 49, 54 AEUV (versteckt) verankerte Gründungstheorie gelangt man zum englischen Recht. Geht man dabei von einer Sachnormverweisung aus (Art. 3a Abs. 1 EGBGB), welche Kollisionsnormen kennzeichnet, die – wie die Gründungstheorie52 – Ausdruck der Rechtswahlfreiheit sind (vgl. Art. 4 Abs. 2 EGBGB), so wird unmittelbar auf das englische Gesellschaftsrecht verwiesen. Nimmt man dagegen eine Gesamtverweisung (Art. 4 Abs. 1 Satz 1 EGBGB) an, gelangt man zum englischen Kollisionsrecht. Da jenes der Gründungstheorie folgt, kommt es nicht zu einem renvoi auf das deutsche Recht (vgl. Art. 4 Abs. 1 Satz 2 EGBGB); vielmehr nimmt das englische IPR die Verweisung an. Nach beiden Ansätzen gelangt man mithin zum materiellen englischen Gesellschaftsrecht. 3. Völkerrechtliches Gesellschaftskollisionsrecht Das völkerrechtliche Gesellschaftskollisionsrecht gilt für Gesellschaften aus Staaten außerhalb der EU, mit denen Deutschland in einem Staatsvertrag eine entsprechende Kollisionsregel vereinbart hat.53 Eine Paradebeispiel hierfür ist Art. XXV Abs. 5 Satz 2 Freundschafts-, Handels- und Schifffahrtsvertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und den Vereinigten Staaten von

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47 Eidenmüller, ZIP 2002, 2233, 2241; Weller, Europäische Rechtsformwahlfreiheit und Gesellschafterhaftung, 2004, S. 29 ff., 51 ff., 95 ff.; a. A. Kindler, IPRax 2009, 189, 191; Mansel, RabelsZ 2006, 651, 671 ff.: Die Niederlassungsfreiheit beinhalte eine Ergebnisvorgabe, der entweder in Form eines Rechtsanwendungsbefehls/Verweisung (in Gestalt der Gründungstheorie), einer verfahrensrechtlichen Anerkennung oder aber in Form eines Anerkennungsstatuts Rechnung getragen werden könne. 48 Zur Differenzierung zwischen Wegzugs- und Zuzugskonstellationen Weller, IPRax 2003, 324, 327 f. 49 BGH v. 12.7.2011 – II ZR 28/10, ZIP 2011, 1837 ff. 50 Thomale, NZG 2011, 1290. 51 Weller, ZGR 2010, 679, 696 ff. 52 Die Gründungstheorie gilt als Spielart der Rechtswahlfreiheit, Jayme, Kollisionsrechtliche Parteiautonomie, in Jud/Rechberger (Hrsg.), Kollisionsrecht in der EU, 2008, S. 63, 68. 53 Überblick zu den Staatsverträgen mit gesellschaftskollisionsrechtlichem Gehalt bei Kindler in MünchKomm. BGB, 5. Aufl. 2010, Int. GesR Rz. 308 f.

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Amerika vom 29.10.1954.54 Diese Bestimmung enthält nach herrschender Ansicht eine – ebenfalls versteckte – Kollisionsregel in Form der Gründungstheorie für US-Gesellschaften.55 4. Autonomes deutsches Gesellschaftskollisionsrecht Dagegen ist mit Gesellschaften aus sog. Drittstaaten, etwa der Schweiz, ein Rechtsform-Shopping zwecks Vermeidung der Mitbestimmung nicht sinnvoll.56 Denn Drittstaatengesellschaften mit Verwaltungssitz in Deutschland werden im Inland nicht als ausländische Gesellschaften anerkannt; sie unterstehen vielmehr nach der vom BGH57 vertretenen modifizierten Sitztheorie deutschem Sachrecht. Angesichts des im Inland geltenden numerus clausus an Rechtsformen werden sie – mangels Registereintragung im Inland – nicht als Kapitalgesellschaft, sondern als inländische Personengesellschaft (GbR oder OHG) behandelt. Aufgrund der Konsequenz der modifizierten Sitztheorie, der Umqualifizierung in eine inländische Gesellschaft, ist auch von der „Wechselbalgtheorie“58 die Rede. Mit einer in eine inländische Personengesellschaft umqualifizierten Auslandsgesellschaft ließe sich zwar auch die Mitbestimmung vermeiden, weil § 1 MitbestG auf die GbR und OHG keine Anwendung findet. Allerdings sind die übrigen mit der Umqualifizierung einhergehenden sachrechtlichen Folgen so unattraktiv (z. B. Problematik der Selbstorganschaft bei Personengesellschaften sowie persönliche Gesellschafterhaftung gemäß § 128 HGB59), dass Drittstaatengesellschaften als Vehikel der Rechtsgestaltung typischerweise ausscheiden.

III. Rechtspolitische Reaktionen: MitbestimmungsErstreckungsgesetz Die zunehmende „Flucht aus der Mitbestimmung“ via Rechtsform-Shopping soll nach Ansicht verschiedener politischer Parteien gestoppt werden. Einem Antrag der SPD-Bundestagsfraktion60 zufolge sollen mitbestimmungsfreie

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54 BGBl. II 1956, 488; hierzu Hübner (Fn. 13), S. 79 ff.; Kaulen, Die Anerkennung von Gesellschaften unter Art. XXV Abs. 5 S. 2 des deutsch-US-amerikanischen Freundschafts-, Handels- und Schifffahrtsvertrags von 1954, 2008; Tomschin, Die Anerkennung US-amerikanischer Gesellschaften in Deutschland, 2010. 55 BGH v. 13.10.2004 – I ZR 245/01 – GEDIOS, IPRax 2005, 340: „Das Personalstatut (Gesellschaftsstatut) einer juristischen Person und damit auch deren Rechts- und Parteifähigkeit im Verhältnis zwischen der Bundesrepublik Deutschland und den Vereinigten Staaten von Amerika richtet sich grundsätzlich nach dem Recht des Staates, in dem die juristische Person gegründet wurde.“ Hierzu Stürner, IPRax 2005, 305; vgl. ferner BGH v. 29.1.2003 – VIII ZR 155/02, IPRax 2003, 265. 56 Drittstaaten sind Länder, die weder von der EU/EWR-Niederlassungsfreiheit profitieren, noch von einer völkervertraglich vereinbarten Gründungsrechtsanknüpfung. 57 BGHZ 178, 192, Tz. 21 – Trabrennbahn; hierzu Weller, IPRax 2009, 202 ff. 58 Weller in FS Goette, 2011, S. 583 ff. 59 Näher Weller in FS Goette, 2011, S. 583, 593 ff. 60 Antrag „Demokratische Teilhabe von Belegschaften und ihren Vertretern an unternehmerischen Entscheidungen stärken“ v. 16.6.2010, BT-Drucks. 17/2122.

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Zonen für Unternehmen ausländischer Rechtsform verringert werden, damit (wieder) mehr Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in den Schutzbereich der Unternehmensmitbestimmung fallen. Dies soll erreicht werden, indem die deutsche Mitbestimmung durch eine ausdrückliche gesetzliche Regelung auf Unternehmen ausländischer Rechtsform mit Verwaltungssitz oder Zweigniederlassung in Deutschland bzw. deutsche Personengesellschaften mit ausländischem Komplementär erstreckt wird.61 Die Fraktion Die Linke fordert ebenfalls, „die gesetzlichen Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass die deutschen Vorschriften über die unternehmerische Mitbestimmung – namentlich die des Drittelbeteiligungsgesetzes und des Mitbestimmungsgesetzes – auch für Gesellschaften mit ausländischer Rechtsform gelten, die in Deutschland ihren Verwaltungssitz haben.“62 Aus Gründen der Rechtssicherheit wird vorgeschlagen, die relevanten ausländischen Rechtsformen enumerativ in § 1 MitbestG aufzunehmen.63 Für monistisch strukturierte Auslandsgesellschaften könnte sich die Mitbestimmung auf die nicht geschäftsführenden Verwaltungsratsmitglieder beschränken, um eine Ausweitung der materiellen Arbeitnehmerrechte zu verhindern.64 Insofern kann auf die Modelle zur Integration der Mitbestimmung bei der monistischen SE verwiesen werden. Beispielhaft kann insofern die monistische Puma SE betrachtet werden.65 Sie wird durch einen Verwaltungsrat geleitet, wobei die Tagesgeschäfte nicht von diesem, sondern von den geschäftsführenden Direktoren nach Vorgaben und Weisungen des Verwaltungsrats getätigt werden.66 Die Arbeitnehmermitbestimmung (bei Puma nach dem Drittelbeteiligungsgesetz) ist im Verwaltungsrat verortet; dieser setzt sich aus sechs Anteilseigner-Mitgliedern und drei Arbeitnehmervertretern zusammen;67 letztere werden auf Grund eines bindenden Arbeitnehmervertretervorschlags gewählt.68 Die unternehmerische Mitbestimmung der Arbeitnehmer im Verwaltungsrat der SE wird in einer Arbeitnehmerbeteiligungsvereinbarung näher geregelt.69

__________ 61 BT-Drucks. 17/2122, S. 2. 62 Antrag „Unternehmensmitbestimmung lückenlos garantieren“, BT-Drucks. 17/1413, S. 1. 63 Sick, GmbHR 2011, 1196, 1198. 64 Sick, GmbHR 2011, 1196, 1198; Weller in MünchKomm. GmbHG, 2010, Int. GesR, Einl., Rz. 480. 65 Sick, GmbHR 2011, 1196, 1198. 66 Vgl. § 6.3 Puma SE-Satzung sowie §§ 1.1, 3.2 Geschäftsordnung Verwaltungsrat PUMA SE (Stand 2011). Vorsitzender der geschäftsführenden Direktoren ist der Chief Executive Officer, der gleichzeitig Verwaltungsratsmitglied sein kann, § 6.1 GO Verwaltungsrat; §§ 2.2, 5.1 und 5.4 GO für die Geschäftsführenden Direktoren. 67 Umwandlungsbericht des Vorstands der PUMA AG, 2011, S. 25. 68 S. §§ 7.1, 7.3 SE-Satzung; 1.5 GO Verwaltungsrat; PUMA Einladungsbekanntmachung 2011, Anlage I, verfügbar unter www.about.puma.com (abgerufen am 5.12.2011). 69 § 21 SEBG; Umwandlungsbericht des Vorstands der PUMA AG, S. 31, verfügbar unter www.about.puma.com. Im Falle des Nicht-Abschlusses einer Mitbestimmungsvereinbarung greift eine Arbeitnehmerbeteiligung nach den Auffangregelungen des SEBG ein, §§ 22 ff., 34 ff. SEBG.

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Ungeachtet dessen, wie man rechtspolitisch zur Mitbestimmung steht, drängt sich jedenfalls die rechtskonstruktive Frage auf, ob sich die Mitbestimmung über ein solches Erstreckungsgesetz systemkohärent auf Auslandsgesellschaften ausdehnen ließe. Dieser Frage soll im Folgenden nachgegangen werden.

D. Unternehmensmitbestimmung für Auslandsgesellschaften aus Sicht des IPR Bei Sachverhalten mit Auslandsbezug entscheidet gemäß Art. 3 EGBGB das IPR als rechtliche Metaordnung, welche Rechtsordnung auf einen bestimmten Sachverhaltskomplex Anwendung findet. Hierfür bedient sich das IPR verschiedener Kollisionsregeln, wobei man zwischen „regulären“ Anwendungsbefehlen auf Grundlage materiellrechtlich neutraler (allseitiger) Kollisionsregeln im Sinne Savignys70 und „irregulären“ Anwendungsbefehlen auf Grundlage einseitiger Eingriffsnormen differenzieren kann.

I. Unternehmensmitbestimmung via Gesellschaftsstatut Die Unternehmensmitbestimmung ist nicht arbeitsrechtlich, sondern gesellschaftsrechtlich zu qualifizieren,71 so dass die (allseitige) gesellschaftsrechtliche Kollisionsregel einschlägig ist. Für die gesellschaftsrechtliche Qualifikation spricht der Zweck des geltenden Mitbestimmungsrechts: Es zielt auf die gleichberechtigte Teilhabe der Arbeitnehmer an den unternehmerischen Entscheidungen und ihren Abläufen und somit auf die Chance, Beschlussfassungen auf Ebene der Unternehmensführung zu beeinflussen.72 Folgerichtig ist die Unternehmensmitbestimmung anders als die betriebliche Mitbestimmung in einem Organ der Gesellschaftsverfassung, dem Aufsichtsrat, verankert. Auf Grundlage der gesellschaftsrechtlichen Kollisionsregel ist ein Anwendungsbefehl für das MitbestG 1976 in Bezug auf Auslandsgesellschaften zu verneinen, soweit es um Auslandsgesellschaften geht, deren Gesellschaftstatut nach der Gründungstheorie ermittelt wird; denn in einem solchen Fall findet deutsches Gesellschaftsrecht (und damit auch das MitbestG 1976 als Teil des inländischen Gesellschaftsrechts) gerade keine Anwendung.73 Auf gesellschaftskollisionsrechtlicher Grundlage kann das MitbestG folglich nicht auf EU- und US-Gesellschaften mit inländischem Verwaltungssitz herangezogen werden.74

__________

70 Zur Struktur klassischer Kollisionsregeln i. S. Savignys Weller, IPRax 2011, 429, 430 ff. 71 Hübner, Kollisionsrechtliche Behandlung von Gesellschaften aus „nicht-privilegierten“ Drittstaaten, 2010, S. 235; Kindler in MünchKomm. BGB, 5. Aufl. 2010, Int. GesR, Rz. 565; Eberspächer, ZIP 2008, 1951. 72 Vgl. die Gesetzesbegründung zum MitbestG 1976, BT-Drucks. VII/2172, S. 16; hierzu Hommelhoff, ZGR 2010, 48, 52. 73 Hübner, Kollisionsrechtliche Behandlung von Gesellschaften aus „nicht-privilegierten“ Drittstaaten, 2010, S. 241 f.; Eberspächer, ZIP 2008, 1951. 74 Henssler in GS Heinze, 2005, S. 333 ff.; Eberspächer, ZIP 2008, 1951, 1958; Ebke, JZ 2003, 927, 930 f.

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II. Unternehmensmitbestimmung via Eingriffsstatut Allerdings kommt eine Durchsetzung der inländischen Unternehmensmitbestimmung als Eingriffsnorm, d. h. via Sonderanknüpfung aufgrund international zwingenden Charakters in Betracht.75 Man kann von einem irregulären Anwendungsbefehl sprechen, weil sich auf diese Weise ein inländisches Rechtsinstitut einseitig gegen ein an sich regulär zur Anwendung berufenes ausländisches Sachstatut (z. B. gegen das englische Gesellschaftsstatut) durchsetzt; es kommt mithin zu einer punktuellen Überlagerung des regulär anwendbaren ausländischen Statuts durch ein inländisches Institut. Das methodische Instrument zur irregulären Durchsetzung inländischer Institute ist entgegen verbreiteter Auffassung indes nicht der ordre public, weil diesem im deutschen Recht nur eine negative Abwehrfunktion, nicht jedoch eine positive Durchsetzungsfunktion zukommt (vgl. Art. 6 EGBGB). Einschlägig zur Durchsetzung inländischer Normen und Rechtsfiguren gegen ein an sich zur Anwendung berufenes ausländisches Sachstatut ist vielmehr die Lehre von der Sonderanknüpfung international zwingender Bestimmungen. 1. Lehre von der Sonderanknüpfung international zwingender Normen a) Wilhelm Wengler Die Lehre von der Sonderanknüpfung international zwingender Normen geht auf Wilhelm Wengler zurück.76 Hiernach beherrscht eine Rechtsordnung ein Rechtsverhältnis nur insoweit, als nicht einzelne Fragen gesondert anzuknüpfen und einem anderen Recht zu unterstellen sind.77 Letzteres ist insbesondere bei Sachnormen der lex fori der Fall, die in dem Umfang zur Anwendung gelangen, „wie es dem politischen Interesse des Heimatstaates des Richters entspricht“78. Sofern durch Interpretation nach Sinn und Zweck einer inländischen Bestimmung ihr universaler Anwendungswille ermittelt werden kann, ist sie durch Sonderanknüpfung auf das Rechtsverhältnis anzuwenden, und zwar „ganz gleich ob auf das Rechtsverhältnis auch im übrigen – sei es kraft Parteiautonomie oder kraft der subsidiär anwendbaren staatlichen Kollisionsnormen – die lex fori (…) anwendbar ist oder nicht“79. Zwingende Normen schalten folglich den gewöhnlichen Mechanismus der Verweisung aus und sind unabhängig vom internationalprivatrechtlich angeknüpften Recht anzuwenden.80

__________ 75 Hübner, Kollisionsrechtliche Behandlung von Gesellschaften aus „nicht-privilegierten“ Drittstaaten, 2010, S. 241 f. 76 Wengler, ZVglRWiss 54 (1941), 168 ff. 77 Wengler, ZVglRWiss 54 (1941), 168, 211. 78 Wengler, ZÖR 23 (1944), 473, 486. 79 Wengler, ZVglRWiss 54 (1941), 168, 178. 80 Sonnenberger, IPRax 2003, 104, 105.

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b) Abgrenzung zum ordre public Auch wenn Wengler auf eine gewisse „innere Verwandtschaft“ zwischen ordre public und „international zwingenden Bestimmungen“ im Blick auf die jeweils dahinterstehenden politischen Interessen des Forumstaates hinweist,81 unterstreicht er doch zugleich die methodischen Unterschiede, die letztlich dazu geführt haben, dass die Lehre von der generellen positiven Funktion des ordre public von der Lehre von der Sonderanknüpfung zwingender Normen verdrängt worden ist:82 Beim ordre public wird das materielle Ergebnis der Anwendung ausländischen Rechts mit dem Inhalt der entsprechenden deutschen Sachnorm verglichen, wobei deren Inhalt Bestandteil der wesentlichen Grundsätze des deutschen Rechts (Art. 6 EGBGB) sein muss.83 Der ordre public verfolgt damit eine Außenperspektive, indem er auf die Akzeptanz des fremden Rechtsinhalts blickt.84 Dagegen kommt es bei der Sonderanknüpfung von inländischen Sachnormen überhaupt nicht auf den Inhalt des ausländischen Rechts an. Auch der Inhalt der deutschen Sachnorm hat an sich nur geringe Relevanz.85 Vielmehr ist allein die Bestimmung und Abgrenzung des örtlichen Geltungsbereichs der inländischen Sachnorm von Bedeutung.86 Indem nach der Reichweite ihres sachlichen und räumlichen Anwendungs- bzw. Geltungswillens gefragt wird,87 hat die Lehre von der Sonderanknüpfung zwingender Normen eine – wie Magnus88 es treffend ausdrückt – „Innenperspektive im Auge und erweitert den Geltungsanspruch des internen Rechts“. Anders gewendet: Da der Inhalt der Sachnorm für ihre Qualifikation als zwingende Norm nicht im Mittelpunkt steht, brauchen zwingende Normen im Unterschied zu ordre public-relevanten Rechtssätzen keine wesentlichen Grundsätze der deutschen Rechtsordnung zu schützen, haben also nicht per se ordre public-Charakter.89 2. Sonderanknüpfung im Gesellschaftsrecht Der Begriff der international zwingenden Bestimmungen hat im europäischen Schuldvertragsrecht in Art. 7 EVÜ sowie nunmehr in Art. 9 Rom I-VO eine Kodifikation erfahren. Art. 1 Abs. 2 (f) Rom I-VO stellt jedoch klar, dass Art. 9 Rom I-VO nicht für gesellschaftsrechtliche Fragen gilt, so dass eine Sonderanknüpfung der Unternehmensmitbestimmung nicht unmittelbar auf Art. 9 Rom I-VO gestützt werden kann. Allerdings ist anerkannt, dass die zwingenden Bestimmungen kein Sonderthema des Internationalen Schuldvertragsrechts

__________ 81 Wengler, ZÖR 23 (1944), 473, 486. 82 Jayme, Methoden der Konkretisierung des ordre public im Internationalen Privatrecht, 1989, S. 28. 83 Wengler, ZÖR 23 (1944), 473, 486 f. 84 Magnus in Staudinger, Neubearb. 2011, Rom I-VO, Art. 9, Rz. 31. 85 Sonnenberger, IPRax 2003, 104, 109. 86 Wengler, ZVglRWiss 54 (1941), 168, 173 ff., 178; ders., ZÖR 23 (1944), 473, 486 f. 87 Jayme, IPRax 2001, 190. 88 Magnus in Staudinger, Neubearb. 2011, Rom I-VO, Art. 9, Rz. 31. 89 Martiny in MünchKomm. BGB, 5. Aufl. 2010, VO (EG) 593/2008, Art. 9, Rz. 111.

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sind, sondern in allen Bereichen des IPR vorkommen können.90 Art. 9 Rom IVO ist vielmehr nur ein punktuell-kodifizierter Ausschnitt des im IPR allgemein anerkannten Grundsatzes, dass die Kollisionsnormen nicht die Anwendung jener Bestimmungen der lex fori berühren, die den Sachverhalt ohne Rücksicht auf das für das Rechtsverhältnis maßgebende Recht zwingend regeln.91 Bestätigt wird dies durch Art. 16 Rom II-VO, welcher für den Bereich der außervertraglichen Schuldverhältnisse gleichfalls von der Existenz von Eingriffsnormen ausgeht. Eine Sonderanknüpfung der Unternehmensmitbestimmung kann daher über die allgemein anerkannte Lehre von der Sonderanknüpfung international zwingender Normen erfolgen, sofern deren Voraussetzungen gegeben sind. 3. Allgemeine Voraussetzungen einer Sonderanknüpfung Ein Gesetzgeber kann eine Sonderanknüpfung – vorbehaltlich ihrer Europarechtskonformität (s. unter E.) – ausdrücklich anordnen, wie es etwa in § 130 Abs. 2 GWB92 geschehen ist. Kollisionsrechtlich systemkohärent ist eine solche Sonderanknüpfung, wenn sie zwei Anforderungen genügt:93 (1) Zum einen sollte sie sich auf Sachverhalte beschränken, die einen hinreichenden Bezug zum Inland aufweisen.94 Dies würde für ein Mitbestimmungs-Erstreckungsgesetz bedeuten, dass sich sein Anwendungsbereich auf Auslandsgesellschaften beschränkt, die ihren organisatorischen Mittelpunkt in Deutschland haben.95 Bei Auslandsgesellschaften wie etwa Air Berlin, deren effektiver Verwaltungssitz sowie deren Tätigkeitsschwerpunkt im Inland liegt, wäre eine solcher enger Inlandsbezug zu bejahen. (2) Zum anderen muss die durchzusetzende Norm als international zwingend zu qualifizieren sein.96 Für international zwingende Bestimmungen wird auch heute noch ungeachtet einiger Kritik97 der von Neuhaus98 geprägte Terminus der Eingriffsnormen synonym verwandt (so z. B. Art. 16 Rom II-VO), wobei anerkannt ist, dass es hierbei um Normen geht, die im öffentlichen Interesse Eingriffe in private Rechtsverhältnisse ermöglichen.99 Nach herrschender Auf-

__________

90 Sonnenberger, IPRax 2003, 104. 91 Jayme, Methoden der Konkretisierung des ordre public im Internationalen Privatrecht, 1989, S. 29. 92 § 130 Abs. 2 GWB bestimmt: „Dieses Gesetz findet Anwendung auf alle Wettbewerbsbeschränkungen, die sich im Geltungsbereich dieses Gesetzes auswirken, auch wenn sie außerhalb des Geltungsbereichs dieses Gesetzes veranlasst werden.“ 93 Hübner, Kollisionsrechtliche Behandlung von Gesellschaften aus „nicht-privilegierten“ Drittstaaten, 2010, S. 242; ausführliche Begründung bei Weller in MünchKomm. GmbHG, 2010, Int. GesR, Einl., Rz. 450–458. 94 Magnus in Staudinger, Neubearb. 2011, Rom I-VO, Art. 9, Rz. 46, 81 ff. 95 Vgl. auch Sick, GmbHR 2011, 1196, 1197. 96 Martiny in MünchKomm. BGB, 5. Aufl. 2010, VO (EG) 593/2008, Art. 9, Rz. 107. 97 Jayme, IPRax 2001, 190, 191: „Es gilt Abschied zu nehmen von dem voreuropäischen Begriff der Eingriffsnormen“. Für die Beibehaltung des Begriffs „Eingriffsrecht“ dagegen Sonnenberger, IPRax 2003, 104, 105 f. 98 Neuhaus, Grundbegriffe des Internationalen Privatrechts, 2. Aufl. 1976, S. 33 ff. 99 Sonnenberger in MünchKomm. BGB, 5. Aufl. 2010, EGBGB, Einl. IPR, Rz. 35 f.

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fassung100 ist für den internationalen Anwendungswillen einer sonderanzuknüpfenden Sachnorm maßgeblich, ob sich ihr Zweck nicht im Ausgleich widerstreitender Interessen der Vertragsparteien und daher Individualbelangen erschöpft, sondern zumindest auch auf Gemeinwohlinteressen gerichtet ist.101 Mithin ist die Gemeinwohlorientierung der in Frage stehenden Normen entscheidend, welche bei Vorschriften, die ausschließlich im Dienste des privaten Rechtsverkehrs stehen (sog. Parteischutzvorschriften), nicht gegeben ist.102 Eine international zwingende Norm muss neben der Regelung von Privatbeziehungen darüber hinaus auch Interessen verfolgen, die über den Einzelnen, über die Privatperson hinausgehen.103 Zum Kernbereich der international zwingenden Bestimmungen zählen insbesondere die auch in Art. 9 Abs. 1 Rom I-VO genannten wirtschafts- und sozialpolitischen Vorschriften.104 4. Sonderanknüpfung des MitbestG 1976 Die Regeln zur unternehmerischen Mitbestimmung können vor diesem Hintergrund als sog. international zwingende Bestimmungen des deutschen Rechts qualifiziert werden.105 Der deutsche Gesetzgeber hat den international zwingenden Charakter des MitbestG 1976 zwar nicht explizit angeordnet, allerdings ergibt er sich aus seinem Normzweck. Das MitbestG 1976 geht über einen bloßen Interessenausgleich zwischen Privaten deutlich hinaus; es zielt maßgeblich auf die Verwirklichung sozialpolitischer und gesellschaftlicher Ziele. Es bezwecke nämlich – so das Bundesverfassungsgericht106 –, die Fremdbestimmung von Arbeitnehmern in größeren Unternehmen zu mildern und die ökonomische Legitimation durch eine soziale Komponente zu ergänzen; verwirklicht werde dabei nicht nur ein (privates)„Gruppeninteresse“, vielmehr habe die durch die Mitbestimmung angestrebte Kooperation und Integration „allgemeine gesellschaftspolitische Bedeutung“107. Die Mitbestimmung sei zur politischen Sicherung der Marktwirtschaft geeignet und diene dem Wohle der Allgemeinheit.108 Auch kann sie als Gewährleistungsinstrument für eine soziale Unternehmenspolitik als „Bestandteil der deutschen Sozialordnung“ eingeordnet werden.109 Ausweislich des Gesetzgeberwillens gehöre die Mitbestimmung „zur Substanz des Demokratisierungsprozesses“, sei Voraussetzung für Reformen des freiheitlichen Sozialstaats110 und schütze damit öffent-

__________ 100 BGH v. 27.2.2003 – VII ZR 169/02, IPRax 2003, 449, 451; Sonnenberger, IPRax 2003, 104, 107 ff. 101 BAGE 63, 17, 32; BAGE 71, 297, 317. 102 Sonnenberger, IPRax 2003, 104, 107 ff.; Bälz, NJW 2003, 1559, 1562. 103 BGH v. 27.2.2003 – VII ZR 169/02, IPRax 2003, 449, 451; Sonnenberger, IPRax 2003, 104, 107 ff. 104 Sonnenberger, IPRax 2003, 104, 107 ff. 105 Näher Kindler in MünchKomm. BGB, 5. Aufl. 2010, Int. GesR, Rz. 572. 106 BVerfG v. 1.3.1979, BVerfGE 50, 290 – „Mitbestimmung“. 107 BVerfGE 50, 290, 350 f. 108 BVerfGE 50, 290, 351. 109 Henssler in GS Heinze, 2005, S. 333, 347. 110 BT-Drucks. VII/2172, S. 17.

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liche Interessen.111 Diese bestünden z. B. in der Demokratisierung wirtschaftlicher Entscheidungsprozesse, der Gewährleistung der Menschenwürde der Arbeitnehmer, die nicht zum bloßen Vollzugsobjekt fremder Entscheidungen degradiert werden dürften, der Schaffung sozialen Friedens in der Gesellschaft durch Überwindung einer drohenden „Klassenkämpfermentalität“ und der Kontrolle wirtschaftlicher Macht als historischem Anliegen des Arbeitsrechts.112 Nach alledem ließe sich ein Mitbestimmungs-Erstreckungsgesetz aus Sicht des IPR als Eingriffsnorm systemkohärent legitimieren.

E. Unternehmensmitbestimmung für Auslandsgesellschaften aus Sicht des Europarechts I. Europarechtskonformität der Sonderanknüpfung? In europarechtlicher Hinsicht müssen die auf Scheinauslandsgesellschaften anzuwendenden inländischen Regelungen – ungeachtet des jeweiligen kollisionsrechtlichen Anwendungsbefehls (d. h. unabhängig davon, ob sie „regulär“ oder „irregulär“ im Wege der Sonderanknüpfung Geltung beanspruchen) – im Einklang mit den Grundfreiheiten, insbesondere mit der Niederlassungsfreiheit, stehen. So hat der EuGH in der Entscheidung Arblade113 klargestellt, dass selbst Institute, die aus Perspektive der lex fori zum ordre public oder zu den international zwingenden Bestimmungen gerechnet werden, gleichwohl mit den Grundfreiheiten harmonieren müssen.114 Da ein Mitbestimmungs-Erstreckungsgesetz einen grundfreiheitsbeschränkenden Charakter hat (dazu unter II.), müsste es dem vierstufigen Rechtfertigungstest der sog. Cassis de Dijon- bzw. der Gebhard-Formel115 standhalten, um europarechtskonform zu sein (dazu unter III).116 Im Einzelnen:

__________ 111 Rehberg in Eidenmüller, Ausländische Kapitalgesellschaften im deutschen Recht, § 6 Rz. 40 ff., 113. 112 Rehberg in Eidenmüller, Ausländische Kapitalgesellschaften im deutschen Recht, § 6 Rz. 42 ff. 113 EuGH v. 23.11.1999 – C-369/96 und C-376/96, Slg. 1999, I-8453 – Arblade. 114 Jayme/Kohler, IPRax 2000, 454, 455; Behrens, IPRax 2003, 193, 206. 115 EuGH v. 30.11.1995 – Rs. C-55/94, Slg. 1995, I-4165 – Gebhard, Tz. 37: „Aus der Rechtsprechung des Gerichtshofes ergibt sich jedoch, dass nationale Maßnahmen, die die Ausübung der durch den Vertrag garantierten grundlegenden Freiheiten behindern oder weniger attraktiv machen können, vier Voraussetzungen erfüllen müssen: [1.] Sie müssen in nichtdiskriminierender Weise angewandt werden, [2.] sie müssen aus zwingenden Gründen des Allgemeininteresses gerechtfertigt sein, [3.] sie müssen geeignet sein, die Verwirklichung des mit ihnen verfolgten Zieles zu gewährleisten, [4.] und sie dürfen nicht über das hinausgehen, was zur Erreichung dieses Zieles erforderlich ist.“ 116 Hübner, Kollisionsrechtliche Behandlung von Gesellschaften aus „nicht-privilegierten“ Drittstaaten, 2010, S. 242 ff.; Zimmer, NJW 2003, 3585, 3591 f.

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II. Mitbestimmungs-Erstreckungsgesetz als Beschränkung der Niederlassungsfreiheit Seit der Gebhard-Entscheidung des EuGH gelten als Beschränkung aller vier Grundfreiheiten alle „nationale[n] Maßnahmen, die die Ausübung der durch den Vertrag garantierten grundlegenden Freiheiten behindern oder weniger attraktiv machen können.“117 Diese Formulierung knüpft an die für die Warenverkehrsfreiheit entwickelte Dassonville-Formel an,118 nach der „jede Handelsregelung der Mitgliedstaaten, die geeignet ist, den innergemeinschaftlichen Handel unmittelbar oder mittelbar, tatsächlich oder potenziell zu behindern, als Maßnahme gleicher Wirkung wie eine mengenmäßige Beschränkung anzusehen“ ist.119 In der Centros-Entscheidung120 erkannte der EuGH die Uferlosigkeit seiner Beschränkungsformel121 und deutete – wohl in Analogie zur Keck-Rechtsprechung122 zur Warenverkehrsfreiheit – eine Unterscheidung zwischen Regeln „über die Errichtung von Gesellschaften“, die von der Literatur als am Beschränkungsverbot zu messende Marktzugangsregelungen aufgefasst werden, und Tätigkeitsausübungsregelungen an, die entweder nicht in den Schutzbereich der Niederlassungsfreiheit fallen oder jedenfalls einer leichteren Rechtfertigung zugänglich sein sollen.123 Vor diesem Hintergrund stellt die sonderanknüpfungsbasierte Erstreckung der Unternehmensmitbestimmung auf EU-Auslandsgesellschaften mit Verwaltungssitz in Deutschland eine Beschränkung der Niederlassungsfreiheit dar.124 Denn durch das Aufzwingen eines vom Gründungsrecht abweichenden Mitbestimmungsmodells werden der Gesellschaft zusätzliche Pflichten auferlegt, die sie nach ihrem Gründungsrecht nicht zu beachten hat.125 Angesichts dessen, dass sie die rechtliche Verfasstheit und Organisationsstruktur einer Gesellschaft maßgeblich modifiziert, handelt es sich nicht um eine bloße Tätigkeitsausübungsregel, sondern um eine Marktzutrittsregel, die umfänglich dem Beschränkungsverbot unterfällt.126 Eine Erstreckung der unternehmerischen

__________

117 EuGH v. 30.11.1995 – Rs. C-55/94, Slg. 1995, I-4165 – Gebhard; s. auch jüngst EuGH v. 29.3.2011 – Rs. C-565/08, NJW 2011, 1575: Maßnahmen, die die Ausübung „verbieten, behindern oder weniger attraktiv machen“; Weller, Europäische Rechtformwahlfreiheit und Gesellschafterhaftung, 2004, S. 34 f. 118 Weller, Europäische Rechtformwahlfreiheit und Gesellschafterhaftung, 2004, S. 35. 119 EuGH v. 11.7.1974 – Rs. 8-74, Slg. 1974, 837, 852 – Dassonville. 120 EuGH v. 9.3.1999 – Rs. C-212/97, Slg. 1999, I-1459 – Centros. 121 Weller, Europäische Rechtsformwahlfreiheit und Gesellschafterhaftung, 2004, S. 35. 122 EuGH v. 24.11.1993 – Rs. C-267/91 und C-268/91, Slg. 1993, I-6097 – Keck und Mithouard. 123 Kainer, Unternehmensübernahmen im Binnenmarktrecht, 2004, S. 118 ff.; Weller, Europäische Rechtsformwahlfreiheit und Gesellschafterhaftung, 2004, S. 34 ff. 124 Hübner, Kollisionsrechtliche Behandlung von Gesellschaften aus „nicht-privilegierten“ Drittstaaten, 2010, S. 243; Braun, Die Sicherung der Unternehmensmitbestimmung im Lichte des europäischen Rechts, 2005, S. 175; Eberspächer, ZIP 2008, 1951, 1953; Teichmann, ZIP 2009, 1787, 1788; Veit/Wichert, AG 2004, 14, 18. 125 Thüsing, ZIP 2004, 381, 385. 126 Rehberg in Eidenmüller, Ausländische Kapitalgesellschaften im deutschen Recht, § 6 Rz. 22; Braun, Die Sicherung der Unternehmensmitbestimmung im Lichte des europäischen Rechts, 2005, S. 175; Forsthoff, DB 2002, 2471, 2477.

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Mitbestimmung auf EU-Auslandsgesellschaften wäre nach alledem nur dann unionsrechtskonform, wenn sie sich rechtfertigen ließe.

III. Rechtfertigung der Anwendung der Unternehmensmitbestimmung auf Auslandsgesellschaften 1. Zwingender Grund des Allgemeininteresses Der EuGH hat in Überseering in einem obiter dictum geäußert, der Schutz der Arbeitnehmer stelle einen zwingenden Grund des Allgemeininteresses im Sinne der Cassis-/Gebhard-Formel dar, der eine Beschränkung der Niederlassungsfreiheit einer ausländischen Gesellschaft rechtfertigen könne.127 Die Qualifikation der Unternehmensmitbestimmung als zwingender Grund wird durch die Richtlinie 2005/56/EG über die Verschmelzung von Kapitalgesellschaften erhärtet, respektiert diese doch die verschiedenen Mitbestimmungsregime der Mitgliedstaaten. Insbesondere soll gemäß Art. 16 der Richtlinie auch bei grenzüberschreitenden Verschmelzungen die bei der Societas Europaea (SE) vorgesehene Regelung zur Arbeitnehmermitbestimmung, bestehend aus Verhandlungsverfahren und subsidiärer Auffanglösung in Gestalt eines mitbestimmungsrechtlichen Bestandsschutzes, zur Anwendung kommen.128 Ziel dieser Bestimmung ist es gerade zu verhindern, dass die unternehmerische Arbeitnehmermitbestimmung umgangen wird, indem die aus der Verschmelzung hervorgehende Gesellschaft in einem Mitgliedstaat errichtet wird, der kein Mitbestimmungsrecht kennt.129 Abgesehen davon, dass die Mitbestimmung hiernach durchaus ein schon auf Unionsebene anerkanntes Gemeinwohlinteresse ist, würde es m. E. für die Cassis-Rechtfertigung auch ausreichen, wenn sie lediglich aus Sicht des deutschen Rechts als zwingender Grund des Allgemeininteresses einzustufen wäre. Demgegenüber überzeugt es nicht, wenn gewichtige Stimmen130 dafür plädieren, als Rechtfertigungsgrund kämen nur europäische im Sinne von europaweit, d. h. in allen Mitgliedstaaten anerkannte Allgemeinwohlinteressen in Frage (was bei der paritätischen Mitbestimmung nicht der Fall ist), nicht jedoch Interessen, die allein aus inländischer Sicht Gemeinwohlbedeutung haben. Vielmehr zeigt das Europäische Kollisionsrecht bei den Figuren der Sonderanknüpfung und des ordre public (z. B. Art. 9, 21 Rom I-VO, Art. 34 Nr. 1 EuGVO), dass die Einnahme einer nationalen Perspektive bei der Bestimmung von Gemeinwohlinteressen sehr wohl europarechtskonform ist.

__________ 127 EuGH v. 5.11.2002 – Rs. C-208/00, ZIP 2002, 2037, Tz. 89, 92 – Überseering. 128 Zur Mitbestimmung in der SE Reichert/Brandes, ZGR 2003, 767; Heinze, ZGR 2003, 66, 80 ff.; Gruber/Weller, NZG 2003, 297. 129 In Deutschland wurde Art. 16 der Richtlinie in dem „Gesetz über die Mitbestimmung der Arbeitnehmer bei einer grenzüberschreitenden Verschmelzung“ (MgVG) umgesetzt, MgVG v. 21.12.2006, BGBl. I 2006, 3332. 130 So Hübner, Kollisionsrechtliche Behandlung von Gesellschaften aus „nicht-privilegierten“ Drittstaaten, 2010, S. 244; Ebke, JZ 2003, 927, 931.

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2. Geeignetheit Ein Mitbestimmungs-Erstreckungsgesetz wäre im Sinne der Cassis-/GebhardFormel auch geeignet, dem Schutz der Arbeitnehmer zu dienen, da es den Geltungsbereich des MitbestG 1976 auf Auslandsgesellschaften mit hinreichendem Inlandsbezug erstrecken würde.131 Ein Blick auf die Gesetzgebungskompetenz des Art. 153 Abs. 1 lit. f AEUV132 bestätigt, dass das Unionsrecht die Mitbestimmung als grundsätzlich geeignet zur Förderung des sozialen Schutzes der Arbeitnehmer ansieht, da andernfalls die Aufnahme der „Mitbestimmung“ in Art. 153 AEUV widersprüchlich gewesen wäre.133 3. Erforderlichkeit Allerdings dürfte die die Niederlassungsfreiheit beschränkende nationale Maßnahme nach der Cassis-/Gebhard-Formel nicht über das hinausgehen, was zur Erreichung des verfolgten Zieles erforderlich ist.134 Dieser sog. SchrankenSchranke kann ein Mitbestimmungs-Erstreckungsgesetz unter bestimmten, sogleich auszuführenden Voraussetzungen, gerecht werden. a) Betriebliche Mitbestimmung als Alternative? Die Erforderlichkeit entfiele, wenn es ein milderes Mittel hinsichtlich der Interessenwahrung der Arbeitnehmer gäbe. Ein solches milderes Mittel sehen manche in der Erstreckung der betrieblichen Mitbestimmung auf Auslandsgesellschaften.135 Jedoch ist die betriebliche Mitbestimmung wegen der unterschiedlichen Funktionen der betrieblichen und unternehmerischen Mitbestimmung kein funktional adäquater Ersatz.136 Durch die betriebliche Mitbestimmung erlangen die Arbeitnehmer insbesondere keine Teilhabe an der strategischen „Steuerung des Unternehmens im Ganzen“,137 worauf die unternehmerische Mitbestimmung jedoch gerade abzielt. b) Notwendigkeit einer Subsidiaritätsklausel? In der Literatur wird angeführt, eine Mitbestimmungserstreckung sei nicht erforderlich, soweit das Recht des Gründungsstaats ein vergleichbares Arbeit-

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131 Ähnlich Thüsing, ZIP 2004, 381, 387; Eberspächer, ZIP 2008, 1951, 1954; Henssler in GS Heinze, 2005, S. 333, 353. 132 „Zur Verwirklichung der Ziele des Artikels 151 unterstützt und ergänzt die Union die Tätigkeit der Mitgliedstaaten auf folgenden Gebieten: … f) Vertretung und kollektive Wahrnehmung der Arbeitnehmer- und Arbeitgeberinteressen einschließlich der Mitbestimmung“. 133 Vgl. Thüsing, ZIP 2004, 381, 387. 134 EuGH v. 30.11.1995 – Rs. C-55/94, Slg. 1995, I-4165 – Gebhard. 135 Eidenmüller, ZIP 2002, 2233, 2242; Seibt in Henssler/Willemsen/Kalb, Arbeitsrecht: Kommentar, 2010, § 1 MitbestG, Rz. 8; Forsthoff, DB 2002, 2471, 2477; Müller-Bonnani, GmbHR 2003, 1235, 1238. 136 Weiss/Seifert, ZGR 2009, 542, 564 ff.; Thüsing, ZIP 2004, 381, 387; Bayer, AG 2004, 534, 538. 137 Weiss/Seifert, ZGR 2009, 542, 565.

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nehmerschutzniveau durch Mitbestimmung vorsieht.138 Die Beibehaltung des ausländischen Mitbestimmungsrechts wäre milder, weil Eingriffe in die Organisationsverfassung der Gesellschaft unterblieben.139 Folgt man dem, müsste ein deutsches Erstreckungsgesetz eine Subsidiaritätsklausel enthalten, derzufolge eine vergleichbare Mitbestimmungsregelung des Gründungsstaats Vorrang hat.140 Diese Ansicht widerspricht zwar der – auch vom Unionsrecht anerkannten (vgl. Art. 9 Rom I-VO) – kollisionsrechtlichen Dogmatik der Sonderanknüpfung, wonach es auf den Inhalt des ausländischen Rechts gerade nicht ankommt; allerdings wird das autonome deutsche sowie das unions-sekundärrechtliche IPR für innereuropäische Sachverhalte durch die primärrechtliche Grundfreiheitendogmatik überlagert und insofern durch das Erforderlichkeitskriterium der Cassis-/Gebhard-Formel modifiziert. Daher verfängt das Petitum nach einer Subsidiaritätsklausel. c) Unternehmensmitbestimmung in monistischen Auslandsgesellschaften Bedenken werden schließlich insoweit geäußert, als monistisch strukturierten Gesellschaften ein zusätzliches Aufsichtsorgan auferlegt werden soll;141 die „Einpflanzung“ eines Aufsichtsrats berge die Gefahr, dass das austarierte Interessensystem aus dem Gleichgewicht gerate.142 Diese Bedenken überzeugen nicht. Ein Verstoß gegen das im Erforderlichkeitskriterium der Gebhard-Formel143 enthaltene „Übermaßverbot“ liegt selbst bei monistisch verfassten EU-Auslandsgesellschaften nicht vor, sofern man sich an dem aus dem SE-Statut bekannten und in der Internationalen Verschmelzungsrichtlinie aufgegriffenen Modell der Verhandlungslösung orientiert.144 Dieses ermöglicht es, die Arbeitnehmermitbestimmung rechtspraktisch in die Organstruktur einer monistisch verfassten Rechtsform zu implementieren.145 Diese Implementierung braucht nicht unbedingt mit einer materiellen Ausweitung der Arbeitnehmerrechte einherzugehen. Dies zeigt der Blick auf die SE: Zwar kann eine Arbeitnehmerbeteiligung bei einer monistisch verfassten Gesellschaft theoretisch mit einem Kompetenzzuwachs für die Arbeitnehmer einhergehen, da die Arbeitnehmervertreter dann nicht auf die Mitbestimmung

__________ 138 Eberspächer, ZIP 2008, 1951, 1956; Franzen, RdA 2004, 257, 263; Merkt, ZIP 2011, 1237, 1241; Raiser, Gutachten B zum 66. DJT Stuttgart 2006, B 109; Weiss/Seifert, ZGR 2009, 542, 579; ähnlich Braun, Die Sicherung der Unternehmensmitbestimmung im Lichte des europäischen Rechts, 2005, S. 192 f. 139 Eberspächer, ZIP 2008, 1951, 1956; vgl. Braun, Die Sicherung der Unternehmensmitbestimmung im Lichte des europäischen Rechts, 2005, S. 192 f.; Franzen, RdA 2004, 257, 263. 140 So auch Weiss/Seifert, ZGR 2009, 542, 579; Franzen, RdA 2004, 257, 263. 141 Eberspächer, ZIP 2008, 1951, 1952; vgl. auch Teichmann, ZIP 2009, 1787, 1788. 142 Merkt, ZIP 2011, 1237, 1242. 143 EuGH v. 30.11.1995 – Rs. C-55/94, Slg. 1995, I-4165 – Gebhard. 144 Hübner, Kollisionsrechtliche Behandlung von Gesellschaften aus „nicht-privilegierten“ Drittstaaten, 2010, S. 248 ff., 254 ff. 145 Vgl. Eidenmüller, ZIP 2002, 2233, 2242; W.-H. Roth, IPRax 2003, 117, 125; Zimmer, NJW 2003, 3585, 3591.

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im Aufsichtsrat – primär einem Kontrollorgan – beschränkt, sondern im Verwaltungsrat als dem Organ der unternehmerischen Oberleitung zu integrieren sind.146 Indem man den Arbeitnehmervertretern jedoch Posten nicht-geschäftsführender Board-Mitglieder zuweist und sie damit aus dem Tagesgeschäft heraushält und diese lediglich in solchen Ausschüssen gruppiert, die sich nicht mit der strategischen Unternehmensplanung, sondern primär mit Kontrollaufgaben befassen, lässt sich die Mitbestimmung auch in einer monistischen Auslandsgesellschaft auf dem bisher in Deutschland bestehenden Niveau eindämmen.147 Für eine Verhandlungslösung, die vor einer zwingenden Lösung als schonenderer Weg Vorrang haben müsste,148 spricht auch folgender Gedanke: Dem europäischen Richtliniengeber schien es in den Richtlinien 2001/86/EG und 2005/56/EG ausreichend, nur für den Fall des Scheiterns der Verhandlungen eine Auffangregelung zu schaffen.149 Europarechtlich ist es daher „folgerichtig“, die Verhandlungslösung als weniger belastendes Konzept zur Implementierung der Mitbestimmung in Gesellschaften anzusehen.150 Da der EuGH in den Entscheidungen Inspire Art151 und innoventif-Limited152 deutlich gemacht hat, den Gewährleistungsinhalt der primärrechtlichen Niederlassungsfreiheit unter Rekurs auf die Inhalte der sekundärrechtlichen Richtlinien zu bestimmen, erscheint es nahe liegend, dass er angesichts der in der Verschmelzungsrichtlinie 2005/56/EG zum Ausdruck kommenden Wertungen eine Sonderanknüpfung der Regeln zur unternehmerischen Arbeitnehmermitbestimmung an den inländischen Verwaltungssitz der Auslandsgesellschaft als gerechtfertigte Beschränkung der Niederlassungsfreiheit ansehen würde. Die Erstreckung der Mitbestimmung auf Auslandsgesellschaften mit inländischem Verwaltungssitz lässt sich nach alledem unter Berücksichtigung einer Subsidiaritätsklausel sowie einer Verhandlungslösung europarechtskonform ausgestalten.153

__________ 146 Gruber/Weller, NZG 2003, 297, 298. 147 Gruber/Weller, NZG 2003, 297, 300 f.; vgl. auch Reichert/Brandes, ZGR 2003, 767, 795 f. 148 Sandrock, AG 2004, 57, 66; Raiser, Gutachten B zum 66. DJT Stuttgart 2006, B 109; Teichmann, ZIP 2009, 1787, 1788. 149 Henssler in GS Heinze, 2005, S. 333, 353. 150 Henssler in GS Heinze, 2005, S. 333, 353. 151 In der Inspire Art-Entscheidung hat der EuGH der Zweigniederlassungsrichtlinie einen abschließenden Charakter hinsichtlich der Bestimmung des Gewährleistungsinhalts der Niederlassungsfreiheit beigemessen, vgl. Ziemons, ZIP 2003, 1913, 1914 f. Vgl. etwa zur inhaltlichen Ausgestaltung der Niederlassungsfreiheit durch die Handelsvertreterrichtlinie EuGH v. 9.11.2000 – Rs. C-381/98, IPRax 2001, 225, 227, Tz. 20 ff. – Ingmar. 152 EuGH v. 1.6.2006 – Rs. C-453/04, Slg. 2006, I-4929 (Tenor). 153 Ebenso Kindler in MünchKomm. BGB, 5. Aufl. 2010, Int. GesR, Rz. 567 f.; a. A. Eberspächer, ZIP 2008, 1951, 1954 ff.

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F. Zusammenfassung (1) Die paritätische Unternehmensmitbestimmung steht in der Kritik. Sie gilt als Nachteil im internationalen Wettbewerb der Rechtsformen; ferner soll sie wegen ihrer stakeholder-Orientierung die Kontrollfunktion des Aufsichtsrates beeinträchtigen. Es kann dahingestellt bleiben, ob diese Kritik trägt; Fakt ist jedenfalls, dass auf Grundlage der EuGH-Trilogie Centros, Überseering und Inspire Art immer mehr Unternehmen aus der Mitbestimmung „flüchten“, indem sie für ihre Inlandsaktivitäten anstelle einer deutschen Gesellschaftsform eine ausländische Rechtsform einsetzen. (2) Die Unternehmensmitbestimmung ist gesellschaftsrechtlich zu qualifizieren. Sie findet daher auf Gesellschaften mit ausländischem Gesellschaftsstatut keine Anwendung. Ein ausländisches Gesellschaftsstatut erkennt die deutsche Rechtsordnung freilich nur bei Gesellschaften aus anderen EU-Mitgliedstaaten sowie aus den USA an, nicht jedoch bei Gesellschaften aus nicht privilegierten Drittstaaten, z. B. der Schweiz. (3) Vor diesem Hintergrund wird diskutiert, das MitbestG 1976 de lege ferenda qua Legislativakt auf Auslandsgesellschaften mit Verwaltungssitz im Inland zu erstrecken. Ein solches Erstreckungsgesetz wäre indes nur dann systemkohärent, wenn es kumulativ den Anforderungen des IPR und des Europarechts genügen würde. (4) Kollisionsrechtlich kommt die Durchsetzung des Mitbestimmungs-Erstreckungsgesetzes gegen ein ausländisches Gesellschaftsstatut (nur) mittels einer Sonderanknüpfung in Frage; der ordre public (Art. 6 EGBGB) ist zu diesem Zweck wegen seiner rein negativen Funktion ungeeignet. Die auf Wengler zurückgehende Lehre von der Sonderanknüpfung setzt erstens eine international zwingende Bestimmung (Eingriffsnorm) und zweitens einen hinreichenden Bezug des Sachverhalts zum Inland voraus. (5) Eine Eingriffsnorm zeichnet sich dadurch aus, dass sie nicht nur den Interessenausgleich zwischen Privaten regelt, sondern auch öffentliche Interessen verfolgt. Das MitbestG 1976 geht über einen bloßen Interessenausgleich zwischen Privaten deutlich hinaus; es zielt laut Bundesverfassungsgericht maßgeblich auf die Verwirklichung sozialpolitischer und gesellschaftlicher Ziele und ist damit eine Eingriffsnorm. Sofern die Auslandsgesellschaft einen hinreichenden Bezug zum Inland hat, etwa aufgrund eines in Deutschland belegenen Verwaltungssitzes, ließe sich das MitbestG 1976 daher kollisionsrechtlich systemkohärent auf sie anwenden. (6) Europarechtlich muss sich die Erstreckung der Unternehmensmitbestimmung auf Auslandsgesellschaften an der Niederlassungsfreiheit messen lassen, die grundsätzlich jegliche Beschränkung des Marktzugangs verbietet (Art. 49, 54 AEUV). Eine solche Beschränkung stellt auch die Mitbestimmung dar. (7) Allerdings kann die Anwendung der Unternehmensmitbestimmung auf Auslandsgesellschaften unter gewissen Voraussetzungen im Sinne der Cassis de Dijon-/Gebhard-Formel des EuGH gerechtfertigt werden. So stellt der Arbeit1296

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nehmerschutz einen zwingenden Grund des Allgemeininteresses dar. Die Unternehmensmitbestimmung ist ferner geeignet, dem Schutz der Arbeitnehmer zu dienen. (8) Um der Schranken-Schranke der Erforderlichkeit zu genügen, müsste ein Mitbestimmungs-Erstreckungsgesetz allerdings eine Subsidiaritätsklausel enthalten, wonach das deutsche Mitbestimmungsregime zurücktritt, wenn das ausländische Gesellschaftsstatut bereits ein vergleichbares Mitbestimmungsniveau vorsieht. Ferner müsste ein Erstreckungsgesetz einer Verhandlungslösung insbesondere im Hinblick auf monistische Gesellschaften Vorrang vor einem zwingenden Auffangregime einräumen. Unter Berücksichtigung dieser beiden Einschränkungen ließe sich ein Mitbestimmungs-Erstreckungsgesetz jedoch entgegen zahlreicher Stimmen in der Literatur auch europarechtskonform ausgestalten.

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Denn man sieht nur die im Lichte*: Die Anregungen im Schatten der Kodexempfehlungen Inhaltsübersicht I. Unternehmensführung zwischen Gesetz, Empfehlung und Anregung II. Funktion und Entwicklungen der Anregungen 1. Rolle der Anregungen im Kodexregime 2. Biographien der bisherigen Anregungen 3. Einflussfaktoren der bisherigen Anregungsentwicklungen a) Thematische Schwerpunkte der Anregungen

b) Akzeptanzwerte der Anregungen III. Implikationen für die Zukunft der Anregungen 1. Weiterentwicklung der einzelnen Anregungen 2. Generelle Differenzierung zwischen Anregungen und Empfehlungen IV. Zusammenfassung und Ausblick

I. Unternehmensführung zwischen Gesetz, Empfehlung und Anregung Mit seinem wissenschaftlichen Lebenswerk zählt Peter Hommelhoff zu der kleinen Gruppe von Fachvertretern unter den herausragenden deutschen Rechtswissenschaftlern, die Ergebnisse betriebswirtschaftlicher Forschung für ihre juristische Arbeit früh ernst genommen und so der heute zunehmenden interdisziplinären Zusammenarbeit entscheidend den Weg bereitet haben. Schon die einflussreiche Habilitationsschrift des Jubilars über die Konzernleitungspflicht1 zeugt von einem profunden Verständnis der komplexen Funktionsweisen arbeitsteilig organisierter Unternehmungen. Und Jahre bevor sich andere Größen des Faches noch über die Statuierung von Leitlinien für zweckmäßiges Organhandeln in solchen Gebilden mokieren,2 ist Hommelhoff bereit, den „Stellenwert betriebswirtschaftlicher Grundsätze ordnungsgemäßer Unternehmensleitung und -überwachung im Vorgang der Rechtserkenntnis“3 grundlegend zu untersuchen.4 Seine gemeinsam mit Martin Schwab gefundene Lösung lautet, betriebswirtschaftliche Grundsätze unter strengen Voraussetzun-

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* Nach Brecht, Moritat von Mackie Messer (Filmfassung). 1 Hommelhoff, Die Konzernleitungspflicht, 1982. 2 Berühmt unter einschlägig interessierten Betriebswirten etwa die Einlassungen von Mertens, AG 1997, Sonderheft, S. 70, 71 f. 3 So der Titel des Beitrags Hommelhoff/Schwab, zfbf 1996, Sonderheft 36, S. 149. 4 S. zur Forderung solcher Grundsätze schon Potthoff, ZfhF 1956, 407 ff., sowie zum Überblick die Beiträge in v. Werder (Hrsg.), zfbf 1996, Sonderheft 36; Theisen/v. Werder in Handwörterbuch Unternehmensführung und Organisation (HWO), 4. Aufl. 2004, S. 369 ff.

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gen hinsichtlich der Sachkunde, Objektivität und Neutralität des Verfahrens ihrer Gewinnung5 über die Figur eines „antizipierten Sachverständigengutachtens“6 für die Jurisprudenz fruchtbar zu machen. Die rechtsdogmatische Auseinandersetzung mit dem Status untergesetzlicher Standards für die Unternehmensführung hat durch die Schaffung des Deutschen Corporate Governance Kodex (DCGK) eine seinerzeit kaum absehbare Relevanz und Aktualität erhalten. Der Kodex enthält bekanntlich neben Beschreibungen zentraler gesetzlicher Vorschriften für die Leitung und Überwachung börsennotierter Gesellschaften auch diesbezügliche Bestimmungen des sog. soft law,7 denen keine Gesetzeskraft zukommt. Bemerkenswert ist dabei, dass es der Kodex nicht nur bei einer einfachen Abschichtung der untergesetzlichen Regelungen von den Gesetzesvorschriften belassen hat. Vielmehr nimmt der DCGK im Verein mit § 161 AktG auch innerhalb der soft lawBestimmungen noch eine weitere Ausdifferenzierung der Verbindlichkeit vor, indem zwischen Empfehlungen und Anregungen unterschieden wird. Zwar müssen weder die Empfehlungen noch die Anregungen von den betroffenen Gesellschaften befolgt werden. Gleichwohl ist die Freiwilligkeit der Anwendung von Empfehlungen im Vergleich zu den Anregungen insofern eingeschränkter, als die Ablehnung einer Empfehlung in der gesetzlich vorgeschriebenen Entsprechenserklärung offenzulegen und seit Erlass des Bilanzrechtsmodernisierungsgesetzes 2009 auch zu begründen ist. Von den Anregungen darf hingegen ohne weiteres abgewichen werden. Deutsche Unternehmen sehen sich somit in Fragen der Corporate Governance in ein regulatorisches Netzwerk eingebunden, das aus zwingenden gesetzlichen Vorschriften, erklärungsbewehrten Empfehlungen und transparenzneutralen Anregungen geknüpft ist. Dabei stehen die Anregungen insofern eindeutig im Schatten der Empfehlungen, als sie klar in der Minderzahl sind und ihre Akzeptanz nicht systematisch durch eine Entsprechenserklärung beleuchtet wird. Diese „Zweiklassengesellschaft“ der soft law-Komponente des Kodexregimes ist bislang in der Literatur kaum grundlegender thematisiert worden.8 Dieser Befund ist umso bemerkenswerter, als eine vergleichbare Trennung zwischen Empfehlungen und Anregungen in den Kodizes der anderen EULänder kaum existiert9 und damit eine Besonderheit des deutschen Regelwerks zur Corporate Governance markiert. Zehn Jahre nach der Einführung des DCGK liegt es daher nahe, den Zweck dieser Unterscheidung und ihre Zweckmäßigkeit im Lichte der inzwischen gewonnenen Erfahrungen zu untersuchen und der Frage nachzugehen, ob die Beibehaltung der Differenzierung auch für die Zukunft empfehlenswert ist oder aber womöglich nicht einmal mehr angeregt werden sollte.

__________ 5 6 7 8 9

Vgl. Hommelhoff/Schwab, zfbf 1996, Sonderheft 36, S. 149, 173 f. Hommelhoff/Schwab, zfbf 1996, Sonderheft 36, S. 149, 167 ff. Ulmer, AcP 202 (2002), 143, 168; Semler/Wagner, NZG 2003, 553, 554. Vgl. als Ausnahme immerhin Hopt, ZHR 166 (2002), Beiheft 71, S. 27, 57 f. Vgl. die von der EU-Kommission in Auftrag gegebene Studie der RiskMetrics Group, Study on Monitoring and Enforcement Practices in Corporate Governance in the Member States, 2009, Main Study, S. 25.

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Die Anregungen im Schatten der Kodexempfehlungen

Zur Untersuchung der aufgeworfenen Fragestellung wird im Weiteren zunächst die Rolle dargelegt, die den Anregungen in der Kodexsystematik zukommt (Abschnitt II. 1.). Sodann werden die Biographien aller bisher im Kodex (durchgängig oder zeitweise) enthaltenen Anregungen herausgearbeitet, indem die Zeitpunkte ihrer Aufnahme in den Kodex und ihre anschließenden Entwicklungen (z. B. Streichung oder Überführung in Empfehlungen) aufgezeigt werden (II. 2.). Im Anschluss hieran wird analysiert, inwieweit sich diese Entwicklungen der einzelnen Anregungen durch ihre inhaltlichen Schwerpunkte sowie ihre Akzeptanz in der Praxis erklären lassen (II. 3.). Auf dieser empirischen Grundlage werden abschließend Implikationen für den künftigen Umgang mit den einzelnen Anregungen der aktuellen Kodexfassung (III. 1.) und mit der Differenzierung zwischen Empfehlungen und Anregungen insgesamt (III. 2.) diskutiert. Ein Fazit (IV.) rundet den Beitrag ab.

II. Funktion und Entwicklungen der Anregungen 1. Rolle der Anregungen im Kodexregime Der Kodex enthält nach seinem Selbstverständnis neben wesentlichen gesetzlichen Vorschriften zur Corporate Governance „… international und national anerkannte Standards guter und verantwortungsvoller Unternehmensführung“10. Diese Standards werden entweder als Empfehlungen oder als Anregungen formuliert. In technischer Hinsicht unterscheiden sich die Anregungen von den Empfehlungen zum einen durch die schon erwähnte Ausklammerung aus der Pflicht zur Entsprechenserklärung nach § 161 AktG und zum anderen durch die spezifische Art ihrer Formulierung. Während die Empfehlungen durchgängig an dem Terminus „soll“ erkennbar sind, verwendet der Kodex bei den Anregungen in den Worten seiner Präambel „… Begriffe wie ‚sollte‘ oder ‚kann‘“11. Die genannten technischen Unterschiede reflektieren die spezielle Rolle, die den Anregungen im Regulierungssystem des Kodex zukommt. Die Anregungen markieren zwar wie die Empfehlungen Regelungen, die nach Auffassung der Kodexkommission Ausdruck guter Unternehmensführung sind. Im Unterschied zu den Empfehlungen sind in Anregungen gefasste Governancemaßnahmen allerdings zum Zeitpunkt ihrer Aufnahme in den Kodex noch nicht auf breiter Front in der Unternehmenspraxis etabliert.12 Mit den Anregungen möchte die Kommission daher einerseits Impulse für die Weiterentwicklung der Corporate Governance in Deutschland geben. Auf der anderen Seite sollen die Unternehmen jedoch nicht zur Offenlegung gezwungen werden, wenn und solange sie von solchen innovativen Anregungen abweichen. Der Regelungstyp der Anregungen eröffnet der Unternehmenspraxis somit die Option, ihre Cor-

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10 S. Präambel Abs. 1 S. 1 DCGK 2010. 11 S. Präambel Abs. 8 S. 5 DCGK 2010, im Original teilweise fett. 12 S. hierzu und zum Folgenden auch die Begründung zum TransPuG, RegE BT-Drucks. 14/8769, 2002, S. 21; v. Werder in KodexKomm., 4. Aufl. 2010, Rz. 125; Lutter in FS Forstmoser, 2003, S. 291.

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porate Governance-Modalitäten geschützt vor den „Augen der Märkte“ allmählich anzupassen. Zugleich gibt der Status einer Anregung der Kommission Zeit und Gelegenheit, aus der Resonanz der Unternehmen Rückschlüsse auf die tatsächliche Eignung einer Bestimmung zur Verbesserung der Unternehmensführung zu ziehen. Es liegt daher in der Logik der Differenzierung zwischen Soll- und Sollte-Regelungen, ursprüngliche Anregungen nach einer ausreichenden Erprobungsphase bei entsprechender Verbreitung in der Praxis zu Empfehlungen ‚hoch zu stufen‘13 oder aber anderenfalls auch ihre Streichung aus dem Kodex in Erwägung zu ziehen. Dieser ‚Testcharakter‘ verleiht Anregungen im Übrigen – so viel darf aus dem Nähkästchen der Kommissionsarbeit verraten werden – auch die Funktion eines Konsensfindungsmechanismus, indem strittigere Governancethemen in dieser weicheren Form des soft law Eingang in den Kodex finden. Bei der Würdigung der Sonderrolle der Anregungen im Kodexregime ist zu beachten, dass die effektive Bedeutung der Transparenzerleichterung bei diesem Regelungstyp durch generelle und spezifische, vom Anregungsinhalt abhängige Faktoren relativiert wird. Zunächst regt der Kodex selbst an, im Corporate Governance Bericht auch zu den Anregungen Stellung zu nehmen.14 Die Kommission legt es den Unternehmen damit zumindest nahe, von der Möglichkeit zum Verzicht auf Offenlegung keinen Gebrauch zu machen. Darüberhinaus dürfen alle Aktionäre über ihr Auskunftsrecht nach § 131 AktG Informationen über die Handhabung der Anregungen erfragen15 und auf diese Weise eine gewisse Transparenz herstellen. Schließlich liegt es bei manchen Anregungen in der Natur der Sache, dass ihre Befolgung oder Ablehnung von externen Dritten (mit mehr oder weniger großen Informationskosten) auch ohne aktive Kommunikation der Unternehmen eruiert werden kann. Dies gilt namentlich für sämtliche Anregungen, die – wie etwa Tz. 6.8.2 DCGK 2010 (Veröffentlichungen auch in englischer Sprache) – Aspekte der Corporate Governance Publizität zum Gegenstand haben. 2. Biographien der bisherigen Anregungen Der Kodex beinhaltete in seiner Ursprungsfassung v. 26.2.2002 (DCGK 2002) 19 Anregungen. In der heute aktuellen Version (DCGK v. 26.5.2010 – DCGK 2010) sind noch 16 Bestimmungen als Anregungen zu qualifizieren. Bei den Anregungen der Ursprungsfassung handelte es sich im Einzelnen um die folgenden Bestimmungen:16

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13 In diesem Sinne auch die Begründung zum TransPuG (Fn. 12), S. 21; Semler in MünchKomm. AktG, 2. Aufl. 2003, § 161 AktG Rz. 26. 14 S. Tz. 3.10 S. 3 DCGK 2010 und hierzu näher unten, S. 1316. 15 So auch v. Werder (Fn. 12), Rz. 125. 16 Die Nummerierung der Anregungen erfolgt hier durchgängig nach dem Zeitpunkt ihrer Aufnahme in den Kodex. Hierdurch können sich Abweichungen zu der Notation bei der Aufschlüsselung des Kodextextes [s. v. Werder (Fn. 12), S. 397 ff., sowie zur aktuellen Kodexversion auf der Internetseite des BCCG unter www.bccg.tuberlin.de] ergeben, die sich an der Reihenfolge der Anregungen im jeweils aktuellen Kodex orientiert.

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Die Anregungen im Schatten der Kodexempfehlungen A.01 A.02 A.03 A.04 A.05 A.06 A.07 A.08 A.09 A.10 A.11 A.12 A.13 A.14 A.15 A.16 A.17 A.18 A.19

Erreichbarkeit des Stimmrechtsvertreters während HV (Tz. 2.3.3 S. 3 2. HS DCGK 2002) Übertragung der HV im Internet (Tz. 2.3.4 DCGK 2002) Getrennte Vorbesprechungen des AR bei Mitbestimmung (Tz. 3.6 Abs. 1 DCGK 2002) Tagen des AR bei Bedarf ohne den Vorstand (Tz. 3.6 Abs. 2 DCGK 2002) Außerordentliche HV bei Übernahmeangeboten (Tz. 3.7 Abs. 3 DCGK 2002) Einmalige sowie jährlich wiederkehrende Komponenten der variablen Vorstandsvergütung (Tz. 4.2.3 S. 2 1. HS DCGK 2002) Erfolgsabhängige variable Vorstandsvergütung (Tz. 4.2.3 S. 2 2. HS DCGK 2002) Langfristige Anreize bei variabler Vorstandsvergütung (Tz. 4.2.3 S. 2 3. HS DCGK 2002) Individualisierter Ausweis der Vorstandsvergütung (Tz. 4.2.4 S. 2 DCGK 2002) Einrichtung AR-Ausschuss für Vorstandspersonalien (Tz. 5.1.2 Abs. 1 S. 3 DCGK 2002) Kürzere Bestelldauer bei Erstbestellungen im Vorstand (Tz. 5.1.2 Abs. 2 S. 1 DCGK 2002) ARV nicht Vorsitzender des Prüfungsausschusses (Tz. 5.2 Abs. 2 S. 2 DCGK 2002) Kein ehemaliger Vorstand als Prüfungsausschussvorsitzender (Tz. 5.3.2 S. 2 DCGK 2002) Verweis weiterer Sachthemen in Ausschüsse (Tz. 5.3.3 S. 1 DCGK 2002) Sitzungsvorbereitungen und Entscheidungen durch AR-Ausschüsse (Tz. 5.3.4 DCGK 2002) Staggered board (Tz. 5.4.4 DCGK 2002) Auf langfristigen Unternehmenserfolg ausgerichtete AR-Vergütung (Tz. 5.4.5 Abs. 2 S. 2 DCGK 2002) Individualisierter Ausweis der AR-Vergütung (Tz. 5.4.5 Abs. 3 S. 1 DCGK 2002) Veröffentlichungen auch in englischer Sprache (Tz. 6.8 S. 3 DCGK 2002)

In den Jahren 2003, 2006, 2007 und 2009 wurden insgesamt sieben weitere Anregungen aufgenommen: A.20 A.21 A.22 A.23 A.24 A.25 A.26

Stellungnahme zu den Kodexanregungen (Tz. 3.10 S. 3 DCGK 2003) Risikocharakter der variablen Vorstandsvergütung (Tz. 4.2.3 Abs. 1 S. 2 4. HS DCGK 2003) Hauptversammlungsdauer von 4 bis 6 Stunden (Tz. 2.2.4 S. 2 DCGK 2006) Abfindungs-Cap in Vorstandsverträgen (Tz. 4.2.3 Abs. 4 S. 1 DCGK 2007) Berechnung des Abfindungs-Caps (Tz. 4.2.3 Abs. 4 S. 2 DCGK 2007) Cap für Change of Control-Fälle (Tz. 4.2.3 Abs. 5 DCGK 2007) Unabhängiger Prüfungsausschussvorsitzender (Tz. 5.3.2 S. 3 1. HS DCGK 2009)

Von den Ursprungsanregungen sind im aktuellen DCGK 2010 noch elf Bestimmungen unverändert enthalten.17 Hinzu kommen (mit A.20, A.22 und A.26) drei weitere Anregungen, die in der Zwischenzeit eingefügt wurden und ebenfalls ohne Veränderung Bestandteil der heutigen Kodexversion sind.

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17 Zu dieser Gruppe zählen die Anregungen A.01–A.05, A.11, A.12, A.14, A.15, A.17 und A.19.

1303

Axel v. Werder

Den insgesamt 14 unveränderten (ursprünglichen oder späteren) Kodexanregungen stehen zwölf Bestimmungen gegenüber, die bis zum aktuellen Stand des Kodex eine oder mehrere Modifikationen erfahren haben. Legt man die Situation dieser Regelungen zum heutigen Zeitpunkt zugrunde, so sind zwei der Anregungen im Wortlaut18 geändert, je vier Bestimmungen zu Empfehlungen hochgestuft bzw. in gesetzliche Vorschriften überführt und zwei Anregungen ersatzlos gestrichen worden. Die Änderungen betreffen die beiden Ursprungsanregungen zum Ausschuss für Vorstandspersonalien (A.10) und zum Vorsitzenden des Prüfungsausschusses, der kein ehemaliges Vorstandsmitglied der Gesellschaft sein sollte (A.13). Beide Bestimmungen sind je zweimal überarbeitet worden.19 Die Wortlautänderungen hatten – abgesehen von einer lediglich redaktionellen Anpassung20 – mehr oder weniger nennenswerte inhaltliche Substanz. So wurde bei Anregung A.10 im Zuge der Kodexüberarbeitung 2009 berücksichtigt, dass aufgrund des VorstAG die Bedingungen der Anstellung von Vorstandsmitgliedern (einschließlich ihrer Vergütung) zwar von einem Ausschuss noch vorbereitend behandelt werden dürfen, jedoch vom Gesamtaufsichtsrat festzulegen sind.21 Ein Jahr später wurde klargestellt, dass die Vorbereitung der Bestellung und der Anstellung von Vorstandsmitgliedern auch verschiedenen Ausschüssen des Aufsichtsrats übertragen werden kann.22 In Anlehnung an das VorstAG wurde 2009 ferner Anregung A.13 dergestalt spezifiziert, dass der Prüfungsausschussvorsitzende kein ehemaliges Vorstandsmitglied der Gesellschaft sein sollte, dessen Bestellung vor weniger als zwei Jahren endete (Tz. 5.3.2 S. 3 2. HS DCGK 2009).23 Bereits ein Jahr nach Einführung des Kodex wurden (im Mai 2003) die beiden lebhaft diskutierten Anregungen zur individualisierten Veröffentlichung der Vergütungen von Vorstands- und von Aufsichtsratsmitgliedern (A.09 und A.18) in Empfehlungen umgewandelt. Die Veröffentlichungsregelung für die Vorstandsvergütung wurde später aufgrund des VorstOG 2006 durch eine gesetzliche Norm abgelöst, während sie für die Aufsichtsratsvergütung weiterhin als Empfehlung besteht. Ebenfalls nur für ein Jahr behielten ferner die drei 2007 aufgenommenen – wiederum kontroversen – Anregungen zur Begrenzung von Abfindungen (A.23; A.24; A.25) ihren Status, bevor sie 2008 zu Empfehlungen aufgewertet wurden. Neben der soeben angesprochenen (und vorübergehend als Empfehlung fungierenden) Anregung zur individualisierten Veröffentlichung der Vorstandsvergütungen wurden drei weitere Anregungen von Gesetzesvorschriften abgelöst. Betroffen waren Bestimmungen zu Detailaspekten der variablen Vorstandsver-

__________

18 Reine Veränderungen der Platzierung im Kodex, die z. B. auf Erweiterungen des Regelwerkes zurückzuführen sein können, bleiben dabei außer Betracht. 19 A.10 am 18.6.2009 und am 26.5.2010, Anregung A.13 am 2.6.2005 und am 18.6.2009. 20 Dies gilt für die erste Änderung von A.13. 21 S. auch Regierungskommission DCGK, Pressemitteilung v. 19.6.2009; Kremer in KodexKomm., 4. Aufl. 2010, Rz. 932. 22 S. hierzu auch Hecker/Peters, BB 2010, 2251, 2255. 23 S. auch Regierungskommission DCGK (Fn. 21); Kremer (Fn. 21), Rz. 995.

1304

Die Anregungen im Schatten der Kodexempfehlungen

gütung (A.07; A.08; A.21), die das VorstAG 2009 (mehr oder weniger sinngemäß24) in das Aktiengesetz eingefügt hat. Ersatzlos gestrichen wurde schließlich bislang zum einen die Anregung, Aufsichtsratsmitglieder zu unterschiedlichen Terminen und für unterschiedliche Amtsperioden zu wählen (A.16). Diese Regelung zum sog. staggered board,25 die bereits in der Ursprungsfassung des Kodex enthalten war, wurde 2008 aufgehoben. Zum anderen wurde im Zuge der Anpassung des Kodex an das VorstAG auf die Anregung (A.06) verzichtet, für die variable Vorstandsvergütung „einmalige sowie jährlich wiederkehrende“ Komponenten vorzusehen.26 3. Einflussfaktoren der bisherigen Anregungsentwicklungen a) Thematische Schwerpunkte der Anregungen Um erste Anhaltspunkte darüber zu gewinnen, welche Einflussfaktoren auf die soeben dargelegten Entwicklungen der Anregungen einwirken, wird im Folgenden untersucht, ob sich bestimmte Zusammenhänge zwischen den Regelungsinhalten und den Biographien dieser Bestimmungen feststellen lassen. Die Anregungen können zum einen (wie die Empfehlungen auch) entlang der Gliederung des Kodex, welche die Organe der AG in den Vordergrund stellt, inhaltlich klassifiziert werden. Zum anderen lassen sich die Bestimmungen nach den generellen Themenfeldern der Corporate Governance einordnen, die sie ansprechen. Von den insgesamt 26 bisherigen Anregungen betreffen (mit A.01, A.02, A.05 und A.22) vier Regelungen Fragen der Aktionäre und Hauptversammlung, eine Regel das Zusammenwirken von Vorstand und Aufsichtsrat (A.20), neun Anregungen den Vorstand (A.06 – A.09, A.11, A.21 und A.23 – A.25), elf Bestimmungen den Aufsichtsrat (A.03, A.04, A.10, A.12 – A.18 und A.26) und eine Regelung die Transparenz (A.19). Der deutliche Schwerpunkt der Anregungen liegt damit bei Aspekten, welche direkt die beiden Führungsorgane der Aktiengesellschaft betreffen. Legt man diese inhaltliche Gliederung der Anregungen zugrunde, so fällt vor allem auf, dass mit Ausnahme der unveränderten Bestimmung zur Dauer von Erstbestellungen (A.11) sämtliche vorstandsbezogenen Anregungen mit der Zeit zu Empfehlungen hochgestuft,27 in gesetzliche Vorschriften überführt28 oder im Rahmen der Anpassung an Gesetzesänderungen gestrichen29 worden sind. Aus den anderen Abschnitten sind hingegen mit A.18 (individualisierte Veröffentlichung der Aufsichtsratsvergütung) überhaupt nur eine einzige Anregung zu einer Empfehlung aufgewertet und eine weitere Bestimmung (A.16:

__________ 24 25 26 27 28

S. hierzu näher Ringleb in KodexKomm., 4. Aufl. 2010, Rz. 732 f. Für viele Ringleb (Fn. 24), Rz. 158. S. nochmals Fn. 24. Konkret die Anregungen A.23–A.25 zur Begrenzung von Abfindungen. Konkret die Anregungen A.07, A.08 und A.21 zur variablen Vergütung des Vorstands sowie A.09 zur individualisierten Veröffentlichung der Vorstandsvergütung. 29 Konkret die Anregung A.06.

1305

Axel v. Werder

staggered board) ersatzlos aufgegeben worden.30 Alle übrigen Anregungen gehören zumeist unverändert oder (in den beiden Fällen von A.10 und A.13) mit geringfügigen Modifikationen des Wortlauts der heutigen Kodexfassung an. Aus einer betriebswirtschaftlichen Perspektive können mit der Zielsetzung einer Unternehmung, der Wahl von Strukturen, Prozessen und Personen zur Zielerreichung, der Evaluation dieser Strukturen, Prozesse und Personen sowie der Herstellung von Transparenz vier grundlegende Regelungsbereiche der Corporate Governance identifiziert werden.31 Ausgehend von dieser Einteilung lassen sich die Inhalte der 26 Anregungen konkret den Themenfeldern Organisation, personelle Besetzung von Organen, Anreizsysteme und Transparenz zuordnen.32 Im Vordergrund stehen dabei die Themen Organisation und Anreizsysteme mit jeweils acht Bestimmungen,33 die von je fünf Regelungen zur personellen Organbesetzung34 und zur Transparenz35 ergänzt werden. Wie schon bei der vorangegangenen Analyse ergibt sich wiederum eine bemerkenswert starke thematische Konzentration der (zwölf) modifizierten Anregungen. Sieben dieser Bestimmungen – und zwar die Anregungen zur variablen Vorstandsvergütung (A.06–A.08; A.21) und zur Begrenzung von Abfindungen (A.23–A.25) – thematisieren direkt das Anreizsystem. Aber auch die beiden weiteren Bestimmungen, die mit der individualisierten Veröffentlichung der Vergütungen von Vorstand (A.09) und Aufsichtsrat (A.18) zunächst Transparenzfragen ansprechen, beziehen sich hinsichtlich des Gegenstands der Publizität auf den Komplex der Anreizsysteme. Die meisten der seit Bestehen des Kodex veränderten Anregungen haben somit einen inhaltlichen Bezug zur Vergütung.36 Demgegenüber gelten alle anderen Anregungen aus den Themenfeldern Organisation, personelle Besetzung und Transparenz mit drei Ausnahmen (Wortlautänderungen bei A.10 und A.13 sowie Streichung von A.16) unverändert fort. Als Zwischenergebnis lässt sich damit feststellen, dass Bewegungen im Bestand der bisherigen Anregungen des Kodex durch Änderungen des Wortlauts, Überführungen in Empfehlungen oder Gesetzesnormen und Streichungen im Kern vor allem Fragen der Vergütung betreffen, wobei der Vorstand eindeutig im Zentrum steht. Dieser Befund ist insofern nachvollziehbar, als der Vorstand bei

__________ 30 Dementsprechend entstammen alle vier Anregungen, die vom Gesetz abgelöst wurden, dem Kodexabschnitt zum Vorstand. 31 S. hierzu näher v. Werder in German Code of Corporate Governance (GCCG), 2. Aufl. 2001, S. 12 f. 32 S. auch v. Werder/Bartz, DB 2012, 869, 876. 33 Dem Thema Organisation werden hier die Anregungen A.01, A.03–A.05, A.10, A.14, A.15 und A.22 zugerechnet, dem Thema Anreizsysteme die Anregungen A.06–A.08, A.17, A.21 und A.23–A.25. 34 Hierbei handelt es sich um die Anregungen A.11–A.13, A.16 und A.26. 35 Hierzu zählen die Anregungen A.02, A.09 und A.18–A.20. 36 Komplementär hierzu ist mit A.17 (Bindung der Aufsichtsratsvergütung auch an den langfristigen Unternehmenserfolg) nur eine einzige der vergütungsbezogenen Anregungen unverändert geblieben.

1306

Die Anregungen im Schatten der Kodexempfehlungen

Lichte besehen das wichtigste Organ der Unternehmensführung repräsentiert37 und die Ausformung seines Anreizsystems einen elementaren Ansatzpunkt zur Förderung der Führungsqualität markiert. Offen ist allerdings an dieser Stelle noch, ob die beachtliche Entwicklungsdynamik des Kodex auf diesem Themengebiet durch eine (unzureichende) Resonanz der Unternehmenspraxis auf die ursprünglichen Anregungen erklärt werden kann. Im folgenden Abschnitt wird daher der Frage nachgegangen, welche Zusammenhänge sich zwischen den herausgearbeiteten Entwicklungen der Anregungen und der Akzeptanz dieser Bestimmungen durch die betroffenen Gesellschaften erkennen lassen. b) Akzeptanzwerte der Anregungen Wie unter II. 1. näher ausgeführt wurde, adressieren Anregungen Maßnahmen der Corporate Governance, die zum Zeitpunkt ihrer Aufnahme in den Kodex in der Praxis noch nicht so hinreichend verbreitet sind, um als Empfehlungen formuliert zu werden. Es liegt daher in der Grundlogik der Differenzierung zwischen Empfehlungen und Anregungen, das Ausmaß der praktischen Umsetzung der betreffenden Regelungen zum Gradmesser ihrer Bewährung zu nehmen und eine Anregung bei entsprechend positiver Aufnahme durch die Unternehmen zu einer Empfehlung aufzuwerten. Umgekehrt gibt eine negative Resonanz von Seiten der Gesellschaften Anlass, inhaltliche Veränderungen, Streichungen oder – aus Sicht des Gesetzgebers – auch ihre Ablösung durch eine zwingende Norm zumindest in Betracht zu ziehen. Inwieweit sich die zuvor aufgezeigten Entwicklungen der bisherigen Kodexanregungen in diesem Sinne auf die jeweiligen Akzeptanzwerte der einzelnen Regelungen zurückführen lassen, soll im Folgenden anhand der Befunde des Berlin Center of Corporate Governance (BCCG) für den Kodex Report38 untersucht werden. In der Systematik der BCCG-Erhebungen werden die drei Akzeptanzstufen der allgemein akzeptierten, der neuralgischen und der mehrheitlich abgelehnten Kodexbestimmungen unterschieden.39 Während allgemein akzeptierte Bestimmungen von der ganz überwiegenden Mehrheit (≥ 90 %) der Gesellschaften40 umgesetzt werden, erfahren neuralgische Bestimmungen von mehr als 10 % der Unternehmen eine Ablehnung. Die neuralgischen Regelungen werden wei-

__________ 37 Vgl. auch schon den GCCG des Berliner Initiativkreises: „Im Fokus sachgerechter Regeln zur Corporate Governance deutscher AG’s steht .. der Vorstand.“ (Tz. I.7. S. 6), DB 2000, 1573, 1574. 38 S. zuletzt v. Werder/Talaulicar, DB 2010, 853 m. N. in Fn. 3 zu den früheren Studien. Zur Vermeidung von Missverständnissen sei darauf hingewiesen, dass sich die Akzeptanzwerte in den einzelnen Kodex Reports jeweils auf die im Vorjahr geltende Kodexfassung beziehen. Ferner werden im vorliegenden Beitrag die Werte für die im jeweiligen Jahr aktuelle (und nicht zukünftige) Akzeptanz verwendet. 39 Zum Folgenden v. Werder/Talaulicar/Kolat, DB 2003, 1857, 1859, sowie Regierungskommission DCGK, November 2010, S. 16. 40 Die Akzeptanzwerte werden im Kodex Report sowohl auf alle Unternehmen der Gesamtstichprobe bezogen als auch auf Teilmengen wie insbesondere die Gesellschaften der einzelnen Börsensegmente. Siehe näher v. Werder/Talaulicar, DB 2010, 853.

1307

Axel v. Werder

ter danach differenziert, ob ihnen mindestens 50 % der Unternehmen entsprechen oder ob es sich um mehrheitlich abgelehnte Bestimmungen handelt. Analysiert man zunächst die gestrichenen Anregungen des Kodex, so zeigt sich in Hinblick auf Bestimmung A.16 eine erwartungskonforme Entwicklung (siehe Tab. 1). Die Anregung eines staggered board hat von Beginn an sowohl bei der Gesamtheit aller Unternehmen als auch speziell im Kreis der DAXUnternehmen41 besonders niedrige Akzeptanzwerte erzielt und ist dort in jedem Jahr abgelehnt worden. Vor diesem Hintergrund hat die Regierungskommission diese Regelung 2008 ersatzlos aufgehoben.42 Anregung

KR 2004

KR 2005

KR 2006

KR 2007

KR 2008

KR 2009

KR 2010

A.06

81,1 % (89,3 %)

86,4 % (89,7 %)

87,1 % (92,9 %)

88,0 % (93,1 %)

82,5 % (96,3 %)

86,8 % (96,4 %)

/

A.16

38,7 % (37,0 %)

34,7 % (37,0 %)

46,6 % (39,3 %)

48,0 % (44,8 %)

37,1 % (29,6 %)

/

/

Tab. 1: Akzeptanzwerte der gestrichenen Anregungen Gesamt und (in Klammern) im DAX Quelle: Erhebungen zu den Kodex Reports (KR) 2004–2010

In Hinblick auf die bei der Anpassung an das VorstAG aufgehobene Anregung einmaliger sowie jährlich wiederkehrender Komponenten der variablen Vorstandsvergütung (A.06) scheinen die empirischen Daten hingegen auf den ersten Blick eher für eine Hochstufung zu einer Empfehlung als für eine Streichung zu sprechen. Bereits in der Gesamtstichprobe war diese Bestimmung von Beginn an nur als schwach neuralgisch (Akzeptanz > 80 %) einzuordnen, während sie im DAX in den letzten Jahren sogar allgemein befolgt wurde. Der Verzicht auf diese Regelung war daher weniger in einer unzureichenden Befolgung begründet als in den umstrittenen Rechtsfragen einmaliger erfolgsabhängiger Vergütungskomponenten sowie der Neuausrichtung der Vergütungsstrukturen auf Nachhaltigkeit durch das VorstAG.43 Mit den Anregungen zur individualisierten Veröffentlichung der Aufsichtsratsvergütungen (A.18) und zur Abfindungsbegrenzung (A.23–A.25) wurden vier Bestimmungen dauerhaft44 zu Empfehlungen aufgewertet, wobei die Hochstufung in allen Fällen bereits ein Jahr nach Einführung der betreffenden Re-

__________

41 Die Akzeptanzwerte der Kodexbestimmungen liegen bei den DAX-Unternehmen im Vergleich zu den Gesellschaften der anderen Börsensegmente im Normalfall besonders hoch. Siehe zu diesem im Zeitablauf stabilen Befund zuletzt v. Werder/ Talaulicar, DB 2010, 853, 861. 42 S. hierzu auch Regierungskommission DCGK, Presseinformation v. 6.6.2008; v. Werder/Talaulicar, DB 2009, 689, 690. 43 S. Ringleb (Fn. 24), Rz. 728, 732 f. 44 Eine weitere Anregung (A.09 zur individualisierten Veröffentlichung der Vorstandsvergütung) wurde – allerdings nur vorübergehend – zu einer Empfehlung hochgestuft, bevor sie ins Gesetz aufgenommen wurde. Diese Bestimmung wird im Folgenden zusammen mit den anderen Anregungen behandelt, die von gesetzlichen Vorschriften abgelöst worden sind.

1308

Die Anregungen im Schatten der Kodexempfehlungen

gelungen in den Kodex erfolgte. Die Entscheidung der Kommission zur Statusänderung konnte sich daher bei diesen Bestimmungen nicht auf fundierte Befunde über ihre Akzeptanz in der Praxis stützen. Für die Anregung zur individualisierten Offenlegung der Aufsichtsratsvergütung lagen keine systematischen Erhebungsergebnisse vor, da zumindest der Kodex Report die Befolgung der Anregungen erst ab 2004 (für die Kodexfassung v. 21.5.2003) untersucht hat.45 Aber auch bei den drei Anregungen zur Begrenzung von Abfindungen konnte naturgemäß nur auf Akzeptanzdaten für ein Jahr zurückgegriffen werden. Sie zeigten, dass diese Kodexbestimmungen sowohl in der Gesamtstichprobe als auch im DAX mit einer Ausnahme mehrheitlich abgelehnt wurden (s. Tab. 2). Diese Erhebungsergebnisse waren aber auch insofern nur als Momentaufnahme zu verstehen, als die Abfindungsregelungen keinen Eingriff in bestehende Vorstandsverträge forderten46 und schon aus diesem Grund ein gewisser Zeitraum für ihre praktische Umsetzung erforderlich war.47 Die rasche „Umbuchung“ der betreffenden Anregungen war somit offenkundig weniger in der Erprobungslogik dieses Regelungstyps als vielmehr in anderen Faktoren wie namentlich der lebhaften öffentlichen Diskussion des Themas begründet.48 Anregung

KR 2004

KR 2005

KR 2006

KR 2007

KR 2008

KR 2009

KR 2010

A.18

35,7 % (50,0 %)

57,5 % (89,7 %)

48,2 % (92,6 %)

57,5 % (96,6 %)

69,1 % (92,9 %)

73,7 % (96,4 %)

79,1 % (96,3 %)

/

/

/

/

46,5 % (40,9 %)

56,4 % (65,4 %)

58,1 % (84,6 %)

/

/

/

/

36,3 % (52,4 %)

53,2 % (80,8 %)

57,8 % (80,0 %)

/

/

/

/

39,7 % (45,0 %)

40,9 % (56,5 %)

48,4 % (82,6 %)

A.23 A.24 A.25

Tab. 2: Akzeptanzwerte der zu Empfehlungen hochgestuften Anregungen Gesamt und (in Klammern) im DAX49 Quelle: Erhebungen zu den Kodex Reports (KR) 2004–2010

Für die vier Anregungen, die heute gesetzliche Vorschriften bilden, zeichnen die empirischen Daten ein uneinheitliches Bild (s. Tab. 3). In Hinblick auf die bereits 2003 zwischenzeitlich in eine Empfehlung transformierte Bestimmung zur individualisierten Veröffentlichung der Vorstandsvergütung (A.09) fehlen analog zur entsprechenden Regelung für den Aufsichtsrat (A.18) Befolgungswerte aus der einjährigen Phase ihres Anregungsstatus. Für die drei Jahre ihrer

__________ 45 46 47 48 49

S. hierzu v. Werder/Talaulicar/Kolat, DB 2003, 1858; dies., DB 2004, 1377. So der damalige Vorsitzende Cromme in Corporate Governance Report 2008, S. 26. S. auch v. Werder/Talaulicar, DB 2008, 825, 832. In diesem Sinne auch Ringleb (Fn. 24), Rz. 763e. Die grau hinterlegten Werte beziehen sich jeweils auf die entsprechenden Empfehlungen nach Hochstufung.

1309

Axel v. Werder

vorübergehenden Existenz als Empfehlung belegen die empirischen Daten zwar eine in der Gesamtstichprobe schwache und im DAX stärkere Zunahme der Akzeptanz im Zeitablauf. Die Bestimmung wurde gleichwohl über alle Unternehmen betrachtet von einer beachtlichen Mehrheit der Gesellschaften abgelehnt und blieb auch im DAX deutlich neuralgisch. Die Adoption dieser Regelung durch den Gesetzgeber geht folglich mit einer verhaltenen Resonanz der Wirtschaft auf die betreffende Kodexbestimmung einher. Anregung

KR 2004

KR 2005

KR 2006

KR 2007

KR 2008

KR 2009

KR 2010

A.07

91,6 % 95,6 % 96,4 % 95,2 % 95,3 % 95,5 % (100,0 %) (100,0 %) (100,0 %) (100,0 %) (100,0 %) (100,0 %)

/

A.08

64,3 % (96,4 %)

68,0 % (96,6 %)

72,4 % (92,9 %)

67,0 % (89,7 %)

63,2 % (89,3 %)

67,0 % (89,3 %)

/

A.09

17,5 % (28,6 %)

23,8 % (37,9 %)

39,4 % (74,1 %)

/

/

/

/

A.21

61,2 % (96,4 %)

66,8 % (96,6 %)

68,4 % (92,9 %)

60,9 % (89,7 %)

62,4 % (92,9 %)

65,3 % (96,4 %)

/

Tab. 3: Akzeptanzwerte der in Gesetzesvorschriften überführten Anregungen Gesamt und (in Klammern) im DAX50 Quelle: Erhebungen zu den Kodex Reports (KR) 2004–2010

Bei den drei Detailanregungen zur variablen Vorstandsvergütung, die mit dem VorstAG Gesetzeskraft erlangt haben, kann die praktische Umsetzung anhand einer breiteren empirischen Basis beurteilt werden, die immerhin sechs Beobachtungszeitpunkte umfasst. Dabei weisen die Befunde wiederum eine gemischte Bilanz der Befolgung aus. Im DAX fällt die Resonanz der Unternehmen im Kern positiv aus, da in den letzten Jahren nur noch eine Anregung (A.08) sehr knapp neuralgisch war und die beiden übrigen Anregungen allgemein akzeptiert wurden. In der Gesamtstichprobe hingegen wurde mit A.07 nur eine Bestimmung von Anfang an allgemein akzeptiert, während die freiwillige Umsetzung der beiden konkreteren Anregungen A.08 und A.21 im deutlich neuralgischen Bereich lag. Vor dem Hintergrund dieser Akzeptanzwerte war die Reaktion des Gesetzgebers zwar auf der einen Seite keineswegs zwingend, andererseits aber letztlich auch nicht wirklich überraschend. Lose Zusammenhänge zwischen der Akzeptanz der Anregungen und ihrer Entwicklung lassen sich schließlich auch bei den (16) restlichen Bestimmungen konstatieren, die entweder gar nicht oder (in den beiden Fällen von A.10 und A.13) nur in ihrem Wortlaut geändert worden sind (s. Tab. 4). Legt man die aktuellen Werte aus dem Jahr 2010 zugrunde, so stehen drei (A.04; A.19; A.22) bzw. neun (A.04; A.05; A.10; A.12 – A.14; A.19; A.22; A.26) Regelungen, die über alle Unternehmen betrachtet bzw. wenigstens bei den DAX-Gesell-

__________ 50 Fn. 49 gilt entsprechend.

1310

Die Anregungen im Schatten der Kodexempfehlungen

schaften allgemein akzeptiert sind, 13 bzw. sieben neuralgische Bestimmungen in der Gesamtstichprobe bzw. im DAX gegenüber. Dabei lag die Akzeptanz bei immerhin drei (A.01; A.13; A.26) bzw. fünf (A.01 – A.03; A.11; A.15) Anregungen in der Gesamtstichprobe bzw. im DAX im nur schwach neuralgischen Bereich. Bei den DAX-Gesellschaften lassen sich somit nur noch zwei Anregungen (A.17; A.20) nachweisen, die stark neuralgisch (allerdings mehrheitlich akzeptiert) sind. Über alle Unternehmen betrachtet finden sich dagegen acht stark neuralgische Bestimmungen (A.03; A.05; A.10 – A.12; A.14; A.15; A.17; A.20) sowie zwei mehrheitlich abgelehnte Anregungen (A.02; A.17). Anregung

KR 2004

KR 2005

KR 2006

KR 2007

KR 2008

KR 2009

KR 2010

A.01

65,4 % (60,7 %)

75,2 % (75,9 %)

74,9 % (85,7 %)

75,6 % (89,7 %)

78,9 % (89,3 %)

81,8 % (89,3 %)

82,7 % (88,9 %)

A.02

17,0 % (46,4 %)

19,7 % (62,1 %)

24,1 % (75,0 %)

24,5 % (71,4 %)

26,3 % (85,2 %)

25,5 % (76,9 %)

28,2 % (84,0 %)

A.03

72,9 % (96,4 %)

66,7 % (89,7 %)

64,0 % (96,4 %)

59,8 % (88,9 %)

53,8 % (84,0 %)

50,3 % (81,5 %)

54,5 % (88,0 %)

A.04

93,6 % (100,0 %)

82,4 % (96,6 %)

84,3 % (96,4 %)

85,1 % (96,6 %)

86,9 % (96,2 %)

83,0 % (96,2 %)

90,5 % (96,0 %)

A.05

65,9 % (87,0 %)

63,7 % (90,9 %)

61,5 % (82,6 %)

57,4 % (90,5 %)

62,7 % (90,0 %)

60,1 % (90,5 %)

60,4 % (100,0 %)

A.10

68,1 % 69,1 % 72,4 % (100,0 %) (100,0 %) (100,0 %)

65,4 % (96,6 %)

66,8 % (96,3 %)

69,8 % 72,5 % (100,0 %) (100,0 %)

A.11

61,7 % (65,4 %)

65,2 % (73,1 %)

65,4 % (88,5 %)

61,4 % (92,3 %)

66,1 % (77,8 %)

66,7 % (88,0 %)

A.12

45,7 % (60,7 %)

62,1 % (89,7 %)

73,7 % (92,9 %)

73,2 % (93,1 %)

73,1 % 77,5 % 75,8 % (100,0 %) (100,0 %) (100,0 %)

A.13

70,9 % (82,1 %)

74,7 % (89,7 %)

78,7 % (89,3 %)

83,1 % (89,7 %)

81,8 % (89,3 %)

77,8 % (89,3 %)

81,1 % (96,3 %)

A.14

60,4 % (100,0 %)

50,8 % (92,9 %)

61,0 % (96,2 %)

63,0 % (93,1 %)

58,2 % (85,7 %)

57,1 % (92,9 %)

60,6 % (92,6 %)

A.15

56,7 % 56,0 % 63,4 % (100,0 %) (100,0 %) (100,0 %)

61,5 % (89,3 %)

64,1 % (92,6 %)

60,8 % (92,9 %)

67,3 % (88,9 %)

A.17

30,3 % (39,3 %)

30,8 % (60,7 %)

33,5 % (57,1 %)

37,2 % (60,7 %)

39,0 % (55,6 %)

A.19

80,5 % 85,0 % 86,7 % 86,7 % 90,1 % 93,5 % 91,4 % (100,0 %) (100,0 %) (100,0 %) (100,0 %) (100,0 %) (100,0 %) (100,0 %)

28,7 % (48,3 %)

32,3 % (57,1 %)

61,8 % (87,5 %)

Tab. 4: Akzeptanzwerte der nicht oder nur im Wortlaut geänderten Anregungen Gesamt und (in Klammern) im DAX

1311

Axel v. Werder

Anregung

KR 2004

KR 2005

KR 2006

KR 2007

KR 2008

KR 2009

KR 2010

A.20

36,4 % (60,7 %)

35,3 % (69,0 %)

34,7 % (67,9 %)

38,3 % (71,4 %)

41,8 % (67,9 %)

42,0 % (66,7 %)

51,8 % (73,1 %)

/

/

/

88,9 % (85,7 %)

92,4 % (88,9 %)

88,5 % (88,9 %)

94,5 % (92,3 %)

/

/

/

/

/

/

82,2 % (100,0 %)

A.22 A.26

Tab. 4: (Fortsetzung) Quelle: Erhebungen zu den Kodex Reports (KR) 2004–2010

Insgesamt zeigen die Befunde somit zwar markante Unterschiede in der Befolgung der nicht oder nur wenig veränderten Anregungen. Die unterschiedlichen Akzeptanzprofile haben sich bisher allerdings noch nicht systematisch in den Biographien der betreffenden Kodexbestimmungen niedergeschlagen. Dieser Tatbestand ist umso bemerkenswerter, als die weitaus meisten Regelungen bereits zur Ursprungsfassung des Kodex gehörten51 und somit eine vergleichsweise lange Erprobungsphase absolviert haben. Es scheint daher an der Zeit zu sein, die betreffenden Anregungen stärker ins Licht zu rücken und zu untersuchen, ob sie durch eine Hochstufung aus dem Schatten der Empfehlungen treten sollten oder aber mit guten Gründen Kandidaten für eine Streichung sind. Dieser Frage wird im folgenden Abschnitt nachgegangen.

III. Implikationen für die Zukunft der Anregungen 1. Weiterentwicklung der einzelnen Anregungen In Anbetracht des Bewährungsgedankens der Unterscheidung zwischen Sollund Sollte-Bestimmungen liefern die soeben dargelegten Akzeptanzwerte wichtige erste Anhaltspunkte für den künftigen Umgang mit den aktuellen Anregungen des Kodex. Eine mehr oder weniger mechanistische Ableitung von Implikationen aus diesen Befunden scheidet allerdings schon deshalb aus, weil zwischen den verschiedenen Börsensegmenten teilweise beachtliche Akzeptanzunterschiede zu beobachten sind und zudem eine unbesehene Orientierung am empirisch konstatierten Befolgungsverhalten der Unternehmen die Gefahr eines „naturalistischen Fehlschlusses“52 vom Sein auf’s Sollen53 birgt. Infolgedessen sind bei der Diskussion, welche Anregungen sich zur Aufwertung in eine Empfehlung anbieten und welche eher gestrichen werden sollten, weitere Kriterien heranzuziehen. Eine besondere Bedeutung kommt in diesem Zusammenhang der Frage zu, ob die Anwendung oder Ablehnung einer An-

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51 Lediglich die Anregungen A.20, A.22 und A.26 sind erst später in den Kodex eingefügt worden. 52 Albert, Traktat über kritische Vernunft, 1968, S. 57. 53 Zur „naturalistic fallacy“ allgemein, Moore, Principia ethica, 1968, S. 10 und passim, sowie v. Werder, Argumentationsrationalität, 1994, S. 151 und S. 309 m. w. N.

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Die Anregungen im Schatten der Kodexempfehlungen

regung letztlich auch aus extern zugänglichen Quellen erschlossen werden kann. Im Fall der externen Überprüfbarkeit ist der aus Unternehmenssicht mit dem Anregungsstatus verbundene Vorteil geringerer Transparenz des Kodexverhaltens ohnehin merklich herabgesetzt54, so dass die Hochstufung zu einer Empfehlung im Kern „nur“, aber auch immerhin eine Senkung der Informationskosten Dritter zur Folge hätte. Geht man für die folgenden Überlegungen davon aus, dass eine Kodexbestimmung als weit verbreitet in der Praxis gelten darf, sobald sie sowohl über alle Unternehmen betrachtet als auch im Kreis der DAX-Gesellschaften entweder allgemein akzeptiert oder aber allenfalls schwach neuralgisch ist, so könnten (mit A.01, A.04, A.13, A.19, A.22 und A.26) sechs der 16 Anregungen ohne weiteres zu einer Empfehlung aufgewertet55 werden (s. Tab. 4). Für die 2009 eingeführte Anregung der Unabhängigkeit des Prüfungsausschussvorsitzenden (A.26) liegen zwar erst Erfahrungen aus einem Jahr vor. Die auf Anhieb vergleichsweise hohen Akzeptanzwerte (Gesamt: 82,2 %; DAX: 100 %) stützen jedoch die vorgenommene Einschätzung ebenso wie der Befund, dass sich die Befolgung der schon länger im Kodex enthaltenen, inhaltlich verwandten Anregung A.13 (kein ehemaliger Vorstand als Prüfungsausschussvorsitzender) heute auf ähnlichem Niveau bewegt. Acht der aktuellen Anregungen (A.02, A.03, A.05, A.10 – A.12, A.14 und A.15) erfahren zwar im DAX eine entweder allgemeine oder zumindest nur schwach neuralgische Akzeptanz, nicht aber in der Gesamtstichprobe. Die Schwierigkeit der hierdurch aufgeworfenen Frage, inwieweit die DAX-Gesellschaften an dieser Stelle als Maßstab fungieren sollten, wird bei einer näheren Analyse der einzelnen Bestimmungen erheblich relativiert. Bei immerhin fünf dieser Anregungen lässt sich das Kodexverhalten eines Unternehmens letztlich auch ohne Entsprechenserklärung einschätzen. So können externe Dritte zumindest feststellen, ob Unternehmen aktuell ihre Hauptversammlung im Internet übertragen (A.02), einen Aufsichtsratsausschuss für Vorstandspersonalien bilden (A.10)56, den Vorsitz von Aufsichtsrat und Prüfungsausschuss personell trennen (A.12)57 und weitere Ausschüsse einrichten (A.14 und A.15)58. Zwar lassen sich aus solchen Informationen keine verlässlichen Schlüsse auf das diesbezügliche Kodexverhalten der Unternehmen in der Zukunft ziehen. Zu beachten ist allerdings, dass auch der zukunftsbezogene Teil der gesetzlichen Entspre-

__________ 54 S. nochmals Abschnitt II. 1. 55 S. für A.04, A.13 und A.26 auch die diesbezüglichen Überlegungen der Regierungskommission DCGK (Erläuterungen der Änderungsvorschläge aus der Plenarsitzung v. 17.1.2012). 56 Gemäß § 171 Abs. 2 AktG sind im Bericht des Aufsichtsrats die eingerichteten Aufsichtsratsausschüsse näher zu beschreiben. 57 Die Mitglieder und Vorsitzenden des Aufsichtsrats bzw. seiner Ausschüsse sind gemäß § 285 Nr. 10 HGB im Anhang zum Jahresabschluss bzw. gemäß § 289a Abs. 2 Nr. 3 HGB in der Erklärung zur Unternehmensführung anzugeben. 58 S. nochmals Fn. 56.

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Axel v. Werder

chenserklärung59 nur einen sehr eingeschränkten Informationswert hat, da dieser Part nicht bindend ist, sondern von den Gesellschaften jederzeit (mit entsprechender Verlautbarung) geändert werden kann.60 Unter Transparenzgesichtspunkten würde eine Hochstufung der fünf Anregungen zu Empfehlungen somit den Informationszugang der Marktteilnehmer erleichtern, für die Unternehmen allerdings keine grundlegenden Veränderungen bedeuten. Vor einer endgültigen Entscheidung ist schließlich zu berücksichtigen, dass es sich bei den Regelungen A.10, A.14 und A.15 um drei der vier Sonderfälle handelt, in denen Anregungen im Kodex als Kann-Bestimmungen formuliert worden sind.61 Diese Anregungen paraphrasieren im Kern die gesetzlich eröffneten Optionen der Ausschussbildung im Aufsichtsrat nach § 107 Abs. 3 AktG.62 Sie stellen nur insofern Anregungen im engeren Sinne dar, als in Übereinstimmung mit der Präambel63 gefolgert werden kann, dass die Kommission es als Ausdruck guter Corporate Governance ansieht, wenn Unternehmen von diesen gesetzlichen Möglichkeiten bei Bedarf auch Gebrauch machen.64 Wie künftig mit den Kann-Anregungen des Kodex insgesamt verfahren werden sollte, wird im nächsten Abschnitt grundlegender erörtert. An dieser Stelle kann damit zunächst festgehalten werden, dass sich zumindest auch für die beiden Anregungen zur Internetübertragung der Hauptversammlung (A.02) und zur personellen Trennung von Aufsichtsrats- und Prüfungsausschussvorsitz (A.12) die Aufwertung zu einer Empfehlung65 anbietet. Für die Anregung getrennter Vorbereitungssitzungen in mitbestimmten Aufsichtsräten (A.03) könnte hingegen eine Streichung erwogen werden. Diese Bestimmung ist der spezifisch deutschen Form der Arbeitnehmermitbestimmung im Überwachungsorgan geschuldet und unter diesen Randbedingungen möglicherweise geeignet, um den Führungsprozess in mitbestimmten Gesell-

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59 S. zur Trennung zwischen dem vergangenheits- und dem zukunftsbezogenen Part der Entsprechenserklärung für viele Seibert, BB 2002, 581, 583; Lutter in KodexKomm., 4. Aufl. 2010, Rz. 1522 ff. 60 Hierzu eingehend v. Werder in FS Hopt, 2010, S. 1471, 1474 f. 61 Die vierte Anregung betrifft die Stellungnahme zu den Anregungen im Corporate Governance Bericht und wird sogleich (auf S. 1316) thematisiert. Nachrichtlich sei erwähnt, dass mit Tz. 2.2.1 Abs. 2 S. 2 DCGK 2010 (say on pay) und Tz. 4.2.4 S. 3 DCGK 2010 (keine individualisierte Veröffentlichung der Vorstandsvergütung bei qualifiziertem HV-Beschluss) zwei weitere Kodexbestimmungen das Wort „kann“ verwenden. Sie werden in den Erhebungen des BCCG jedoch schon deshalb nicht als Kodexanregungen eingestuft, da sie in den Zuständigkeitsbereich der Hauptversammlung fallen und der Kodex nach seinem Selbstverständnis nur für die beiden Führungsorgane Vorstand und Aufsichtsrat Handlungsmaximen ausspricht. Vgl. zur fehlenden Anregungseigenschaft auch Ringleb (Fn. 24), Rz. 776; Ringleb et al., NZG 2010, 1161. 62 S. auch Kremer (Fn. 21), Rz. 941, 1006, 1009. Bezeichnend die frühe Titulierung dieser gesetzlichen Vorschriften als „Anregungsnormen“ bei Hommelhoff/Mattheus, AG 1998, 249, 250. 63 „Ferner enthält der Kodex Anregungen, …; hierfür verwendet der Kodex Begriffe wie ‚sollte‘ oder ‚kann‘.“ Präambel Abs. 8 S. 5 DCGK 2010, im Original teilweise fett. 64 Vgl. zum Anregungscharakter von A.10 bzw. A.14 auch Kremer (Fn. 21), Rz. 941 bzw. 1006. 65 S. für A.12 auch Regierungskommission DCGK, Pressemitteilung v. 17.1.2012.

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Die Anregungen im Schatten der Kodexempfehlungen

schaften reibungsloser zu gestalten. Gleichwohl erscheint die Frage berechtigt zu sein, ob die Durchführung getrennter Vorbesprechungen der Anteilseignerund der Arbeitnehmerseite mit ihrer Folge einer inhaltlichen Entwertung der Plenarsitzung des Aufsichtsrats aus der reinen Sicht guter Corporate Governance tatsächlich als best practice (oder aber eher als bad practice) zu qualifizieren ist. Infolgedessen sprechen gute Gründe dafür, die Aufnahme dieser Anregung in ein Regelwerk mit international und national anerkannten Standards der Unternehmensführung66 zu überdenken.67 Die Anregung, bei Übernahmeangeboten „in angezeigten Fällen“ (Tz. 3.7 Abs. 3 S. 1 DCGK 2010) eine außerordentliche Hauptversammlung einzuberufen (A.05), zählt schon durch den eingeräumten Ermessensspielraum (angezeigte Fälle) zu den besonders weichen Kodexregelungen.68 Hinzu kommt, dass diese Anregung an eine bestimmte Bedingung (Übernahmeangebot) geknüpft ist, die eher selten eintreten wird und nur in der Zukunft relevant ist. Da zudem Entsprechenserklärungen in ihrem zukunftsbezogenen Teil jederzeit revidiert werden können,69 würde eine Höherstufung dieser Anregung zu einer Empfehlung den faktischen Handlungsspielraum der Unternehmen kaum spürbar einschränken. Nach den aktuellen Erhebungsergebnissen ist die Anregung, bei Erstbestellungen von Vorstandsmitgliedern in der Regel nicht die maximal mögliche Bestelldauer von fünf Jahren zu vereinbaren (A.11), über alle Gesellschaften betrachtet deutlich und im DAX schwach neuralgisch. Da die Bestimmung seit der Ursprungsfassung im Kodex enthalten ist und sich ihre vergleichsweise geringe Resonanz in der Unternehmenspraxis von Beginn an gehalten hat, muss davon ausgegangen werden, dass die Akzeptanzwerte künftig nicht mehr nennenswert ansteigen werden. In dieser Situation sollte die Kommission entscheiden, ob sie die Regelung für entbehrlich hält oder aber weiterhin zu den Standards guter Unternehmensführung zählt und ihr durch Überführung in eine Empfehlung mehr Nachdruck verleiht. Unter den beiden verbleibenden Sollte-Bestimmungen (A.17; A.20) sticht die Anregung auf den langfristigen Unternehmenserfolg bezogener Bestandteile der Aufsichtsratsvergütung (A.17) dadurch hervor, dass sie in der Gesamtstichprobe mehrheitlich abgelehnt wird und auch bei den DAX-Unternehmen schon bislang nur allenfalls eine knappe Mehrheit gefunden hat. Hinzu kommt, dass in jüngster Zeit eine Reihe großer Gesellschaften die Abkehr von erfolgsorientierten Vergütungsmodellen für den Aufsichtsrat vollzogen hat70 und die rechtlichen Komplikationen der Umsetzung dieser Bestimmung nicht zu über-

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66 So der eigene Anspruch des Kodex in Abs. 1 S. 1 der Präambel DCGK 2010. 67 Vgl. in diesem Sinne auch Regierungskommission DCGK, Erläuterungen der Änderungsvorschläge aus der Plenarsitzung v. 17.1.2012. 68 Vgl. zur Unterscheidung der Kodexbestimmungen nach dem Grad ihrer Präzision v. Werder (Fn. 60), S. 1477 ff. 69 S. näher Abschnitt III. 1., S. 1313 f. 70 So z. B. Siemens (HV v. 25.1.2011), E.ON (HV v. 5.5.2011), Allianz (HV v. 14.5.2011), Henkel (HV v. 16.4.2012), Deutsche Lufthansa (HV v. 8.5.2012), K+S (HV v. 9.5.2012) sowie Deutsche Börse (HV v. 16.5.2012).

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sehen sind.71 Infolgedessen liegt es durchaus nahe, bei einer der nächsten Revisionen des Kodex eine Streichung dieser Regelung in Betracht zu ziehen.72 Die Stellungnahme zu den Anregungen im Corporate Governance Bericht, die der Kodex ebenfalls in Form einer Kann-Bestimmung anregt (A.20), wird in der Gesamtstichprobe nur von einer sehr knappen Mehrheit der Unternehmen befolgt und liegt auch beim DAX im deutlich neuralgischen Bereich. Diese Kodexregelung ist insofern selbstreferenzieller Natur, als sie die Differenzierung zwischen Empfehlungen und Anregungen voraussetzt und bei einer Aufgabe dieser Unterteilung der soft law-Komponente des Kodex hinfällig wäre. Ob der Sonderstatus der Anregungen im Kodexregime auch in Zukunft beibehalten werden sollte, bildet die Fragestellung des folgenden Abschnitts. 2. Generelle Differenzierung zwischen Anregungen und Empfehlungen Als Zwischenfazit der bisherigen Untersuchung lässt sich konstatieren, dass auf der Basis der hier zugrunde gelegten, aus der Sonderrolle der Anregungen im Kodexsystem abgeleiteten Kriterien (Akzeptanzwerte; Transparenzfolgen) immerhin neun der heute 16 Anregungen zwanglos in Empfehlungen überführt werden können.73 Bei weiteren zwei Anregungen (A. 03; A. 17) sprechen gute Gründe für eine ersatzlose Streichung aus dem Kodex. Ferner ist festzustellen, dass (mit A.10, A.14 und A.15) drei der speziellen Kann-Bestimmungen im Kern lediglich gesetzliche Optionen unterstreichen und dass die vierte Kann-Bestimmung (A.20: Stellungnahme zu den Anregungen) bei einer Abschaffung des Regelungstyps der Anregungen ihre Bedeutung verlieren würde. Insofern verbleibt mit dem Gedanken der zeitlich engeren Befristung von Erstbestellungen (A.11) überhaupt nur eine Anregung, deren künftige Behandlung noch einer intensiveren74 inhaltlichen Diskussion bedarf. Vor diesem Hintergrund erscheint es angebracht zu sein, die bisherige Differenzierung zwischen Empfehlungen und Anregungen grundsätzlich auf den Prüfstand zu stellen und der Frage nachzugehen, ob diese Unterscheidung auch für die Zukunft beibehalten werden sollte. Diese Fragestellung kann im begrenzten Rahmen des vorliegenden Beitrags nicht abschließend ausdiskutiert werden. Immerhin lassen sich jedoch als Anstoß für weiterführende Überlegungen einige Aspekte hervorheben, die für bzw. gegen die Fortführung der bisherigen Unterscheidung sprechen. Als Vorteile einer Aufrechterhaltung der Trennung von Empfehlungen und Anregungen lassen sich zunächst naturgemäß die Überlegungen ins Feld führen,

__________ 71 Vgl. zur Kontroverse um diese Bestimmung bereits Hopt, JCLS 2003, 221, 236; Peltzer in FS Priester, 2007, S. 573, 574 ff., sowie jüngst beispielsweise Reimsbach, BB 2011, 940 ff. 72 S. auch Regierungskommission DCGK, Erläuterungen der Änderungsvorschläge aus der Plenarsitzung v. 17.1.2012). 73 Hierbei handelt es sich um die Anregungen A.01, A.02, A.04, A.05, A.12, A.13, A.19, A.22 und A.26. 74 Vgl. immerhin Hopt (Fn. 8), 60; Peltzer, Deutsche Corporate Governance, 2. Aufl. 2004, S. 97.

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die seinerzeit im Zuge der Entwicklung des Kodex ausschlaggebend waren und in Abschnitt II. 1. eingehend dargelegt worden sind. Die Kategorie der Anregungen stünde somit im Fall ihrer Beibehaltung auch künftig für die Erprobung innovativer Governancestandards und mitunter auch als Katalysator der Konsensfindung in der Kommission zur Verfügung. Hinzu kommt, dass die Abschaffung der Anregungen einen Eingriff in die bisherige Kodexsystematik bedeutet und eine möglichst weitgehende Konstanz des Regelwerks durchaus als Wert an sich empfunden werden kann.75 Auf der anderen Seite ist allerdings zu bedenken, dass die Dreiteilung in Gesetzesvorschriften, Empfehlungen und Anregungen mit je spezifischen Härtegraden und sprachlichen Erkennungsmerkmalen („soll“ vs. „sollte“ bzw. „kann“) schon eine gewisse Vertrautheit der Kodexadressaten mit der Mechanik des Kodex voraussetzt, die vermutlich gerade bei internationalen Investoren nicht immer unterstellt werden darf.76 Eine einzige Regelungskategorie für die soft law-Bestimmungen könnte den Kodex folglich sowohl für die Emittenten als auch für die diversen Stakeholdergruppen merklich vereinfachen. Zumindest aber sollte ernsthaft in Erwägung gezogen werden, die weitere sprachliche Ausdifferenzierung der Anregungen („sollte“; „kann“) aufzugeben und Anregungen einheitlich als Sollte-Bestimmungen auszuweisen. Als nicht unwichtiger formulierungstechnischer Nebeneffekt würde das Wort „kann“ dann zur unmissverständlichen Beschreibung gesetzlicher Optionen zur Verfügung stehen. Ferner ist in Rechnung zu stellen, dass Empfehlungen dem in Governancefragen zentralen Transparenzgedanken77 besser dienen als Anregungen, indem sie Einblicke in die fraglichen Modalitäten der Unternehmensführung entweder überhaupt erst oder zumindest mit geringeren Informationskosten der Stakeholder ermöglichen. Schließlich ist zu bedenken, dass der Kodex in den nunmehr zehn Jahren seiner Existenz den Kernbestand der Standards guter Corporate Governance inzwischen etabliert hat und eventuelle Ergänzungen sich eher auf Detailaspekte beziehen werden. Zudem sollen Kodexänderungen in Zukunft vor ihrer Verabschiedung in einem Konsultationsverfahren öffentlich zur Diskussion gestellt werden.78 Der Erprobungsbedarf neuer Bestimmungen sollte sich daher demnächst in (noch) engeren Grenzen halten als bisher, so dass der Einsatzbereich der Anregungen weiter schrumpfen79 und sich

__________ 75 Nachrichtlich sei in diesem Zusammenhang erwähnt, dass die Unternehmenspraxis nach einer aktuellen Erhebung des BCCG bislang mit deutlicher Mehrheit für eine Beibehaltung der Differenzierung zwischen Empfehlungen und Anregungen plädiert. S. zu den Befunden im Einzelnen v. Werder/Bartz, DB 2012, 869, 872. 76 Vgl. in diesem Zusammenhang auch Graf/Stiglbauer, ZP 2007, 279, 296; HoffmannBecking, ZIP 2011, 1173, 1174. 77 S. hierzu Ringleb (Fn. 24), Rz. 20. 78 S. Regierungskommission DCGK, Pressemitteilung v. 4.5.2011. 79 Aufschlussreich ist in diesem Kontext der oben aufgezeigte Befund, dass das Gros der Anregungen in den ersten Jahren des Kodex formuliert wurde und nach dem 17.6.2007 überhaupt nur noch eine neue Anregung in den Kodex aufgenommen worden ist.

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nur noch auf seltene Einzelfälle80 beschränken wird. Die Existenzberechtigung dieses Regelungstyps erscheint damit für die Zukunft zweifelhaft.

IV. Zusammenfassung und Ausblick Die Anregungen des DCGK schlagen Standards guter Unternehmensführung vor, die zum Zeitpunkt ihrer Aufnahme in den Kodex von den börsennotierten Gesellschaften noch nicht so weitgehend praktiziert werden wie im Fall der Empfehlungen. Sie sollen damit Weiterentwicklungen der Governancegepflogenheiten anstoßen und markieren insofern vergleichsweise innovative Maßnahmen. Es liegt in der Logik der Differenzierung zwischen Empfehlungen und Anregungen, letztere nach einer gewissen Erprobungsphase auf den Prüfstand zu stellen und entweder (bei entsprechender Bewährung) zu Empfehlungen hoch zu stufen oder aber unter Umständen (im Lichte der gewonnenen Erfahrungen) auch wieder aus dem Kodex zu streichen. Wie die hier nachgezeichneten Einzelbiographien der Kodexanregungen belegen, ist im Zuge der bisherigen Fortschreibungen des Kodex ein solches systematisches „Anregungsmanagement“ allerdings kaum erfolgt. Vielmehr sind von den bislang insgesamt 26 Anregungen immerhin 14 Bestimmungen unverändert gelassen und vier weitere Regelungen vom Gesetzgeber in das Aktienrecht übernommen worden. Die Regierungskommission selbst hingegen hat lediglich zwei Anregungen im Wortlaut (geringfügig) geändert, vier Vorschriften in Empfehlungen überführt und zwei Regelungen gestrichen.81 Ausgehend von diesem empirischen Befund war es das Anliegen der vorliegenden Abhandlung, die Anregungen stärker ins Blickfeld zu rücken und auf der Basis des Bewährungsgedankens Vorschläge zum künftigen Umgang mit dieser Regelungskategorie des Kodex zu unterbreiten. Als Ergebnis der durchgeführten Analysen der Akzeptanzstudien des BCCG kann festgestellt werden, dass sich von den heute noch 16 Anregungen der aktuellen Kodexfassung neun Bestimmungen ohne weiteres zu Empfehlungen aufwerten lassen. Je drei weitere Anregungen könnten mit guten Gründen aufgehoben bzw. auf die Wiedergabe der bereits existierenden gesetzlichen Kernregelungen beschränkt werden. Damit verbleibt heute (mit A.11: Befristung bei Erstbestellungen) überhaupt nur noch eine Anregung, bei der das Für und Wider einer Aufwertung oder Streichung noch eingehender zu diskutieren wäre. Vor diesem Hintergrund erscheint es naheliegend, die – im internationalen Vergleich ohnehin ungewöhnliche – Einteilung der untergesetzlichen Kodexbestimmungen in Empfehlungen und Anregungen auf mittlere Sicht aufzugeben und so zu einer Verschlankung des Kodex beizutragen.

__________ 80 Wenn beispielsweise vorgeschlagene Kodexänderungen im Konsultationsverfahren ein eher negatives Echo erfahren, die Kommission aber gleichwohl mit einer entsprechenden Anregung Impulse zu einer Einstellungsänderung geben möchte. 81 Die jüngsten Kodexänderungen v. 15.5.2012 konnten in diesem Beitrag nicht mehr berücksichtigt werden. S. hierzu den Überblick bei v. Werder/Bartz, DB 2012, Heft 31.

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Eigenständige Wahrnehmung der Aufsichtsratspflichten – eine Selbstverständlichkeit? Inhaltsübersicht I. Tatbestände und Fragestellung 1. Das Spannungsfeld 2. Typische Konflikte 3. Striktes Recht oder freiwillige Bindung? II. Abwehr von Einflussnahmen auf die Entscheidungstätigkeit 1. Die gesetzliche Ausgangslage 2. Eigenverantwortliche Personalpolitik 3. Verhalten bei Zustimmungsvorbehalten gemäß § 111 Abs. 4 Satz 2 AktG

4. Lösung über (außenstehende) Berater? 5. Rechtslage bei der GmbH mit fakultativem Aufsichtsrat III. Vermittlung und Mediation im Aufsichtsrat? 1. Möglichkeiten einer Einschaltung 2. Chancen und Kosten IV. Zum Schluss: Realistische Fragestellung?

I. Tatbestände und Fragestellung 1. Das Spannungsfeld Die Aufgaben eines Aufsichtsratsmitglieds – sowohl in der AG als auch in der GmbH mit obligatorischem oder fakultativem Aufsichtsrat – begründen unzweifelhaft hohe Anforderungen an Sachverstand und Loyalität gegenüber den Unternehmensbelangen, aber sie wachsen auch aus Interessen der Aktionäre und Gesellschafter, die nicht zu übersehen sind, mögen sie auch in der AG u. a. dadurch gekennzeichnet sein, dass die Aktionäre selber die Aufgaben des Aufsichtsrats nicht übernehmen können, was die Eigner einer GmbH mit fakultativem Aufsichtsrat durchaus könnten. Die gesetzliche oder satzungsmäßige Einrichtung eines Aufsichtsorgans, das auch wichtige Aufgaben in der Unternehmensführung und eine zentrale Rolle in der Personalpolitik hat, stellt dieses Gremium also in den Mittelpunkt eines gewissen Spannungsfeldes, in dem sich – so möchte man meinen – der einzelne Organträger nur behaupten kann, wenn er hinsichtlich des Ausgleichs der z. T. gegenläufigen Belange und Kräfte seinem eigenen Kopf – und nur diesem – folgt. Er muss also seine Pflichten eigenständig wahrnehmen, frei von Weisungen oder Bindungen an Kräfte innerhalb und außerhalb des Unternehmens. Wer dies für „einen heiligen Grundsatz des Kapitalgesellschaftsrechts“1 oder – etwas schlichter – für eine Selbst-

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1 Lutter, ZIP 2007, 1991 in seiner Anm. zu VG Arnsberg (ZIP 2007, 1988), das inzwischen durch das OVG Münster und das BVerwG mit Urteil v. 31.8.2011 (8 C 16.10, AG 2011, 882 = NZG 2011, 1381) bestätigt wurde.

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verständlichkeit2 hält, wird und sollte sich trotzdem nichts vormachen: In das Urteil, was im Unternehmensinteresse liegt und geboten ist, können die Richtigkeitsvorstellungen von Anteilseignern, Entsendeberechtigten, aber auch von zur eigenverantwortlichen Leitung berufenen Organpersonen einfließen, die dann auch formell oder informell artikuliert werden, so dass die Eigenständigkeit des Aufsichtsratsmitglieds manchmal erkämpft und bisweilen auch verteidigt werden muss. Das ist nicht immer leicht, und wie die Entwicklung der Organverantwortlichkeit in kommunalen, aber in den Rechtsformen des Kapitalgesellschaftsrechts geführten Wirtschaftsunternehmen zeigt, die soeben das BVerwG bestätigt hat,3 mitunter erfolglos. Es mag sich also lohnen, der vielleicht aufkommenden – wenn nicht schon aufgekommenen – Tendenz zur Durchbrechung oder wenigstens zur Einschränkungen des Prinzips der Eigenständigkeit etwas nachzugehen. Diese Fragestellung, die auf Einflüsse von Vorständen und Aktionären zielt, bleibt etwas unterhalb der Reizschwelle in den Interessenkonflikten, denen ein Aufsichtsratsmitglied durch seine Verbindungen mit anderen, gegenläufige Interessen verfolgenden Unternehmen und Interessenverbänden unterliegen kann, und die dazu führen können – und in der Praxis vielfach geführt haben –, dass die von ihm getroffenen Entscheidungen im Aufsichtsrat angegriffen wurden, sein Rücktritt oder mindestens seine Stimmenthaltung gefordert wurde, wobei allerdings viele dieser Angriffe erfahrungsgemäß im Sande verlaufen.4 2. Typische Konflikte Die Konflikte, in denen sich das Prinzip der Verpflichtung zur Eigenständigkeit bewähren müsste, sind recht verschiedenartig, was beim Aufsichtsrat einer AG an den unterschiedlichen gesetzlichen Aufgaben, bei der GmbH mit fakultativem Aufsichtsrat an der grundsätzlich bestehenden Satzungsautonomie5 liegt. Zuzugeben ist freilich, dass derartige Fragen in einer „heilen Welt“ nicht auftauchen. So sollte man meinen, dass bei der AG der Einfluss von Aktionären oder Aktionärsgruppen durch die Satzungsstrenge gemäß § 23 Abs. 5 AktG und die Regeln des Konzernrechts gebändigt, wenn nicht ausgeschlossen ist. Das muss aber möglicherweise schon in den Fällen relativiert werden, in denen der Aufsichtsrat als Organ ein Interesse daran haben muss, zu einer für das Unternehmen zwingend notwendigen Entscheidung, wie etwa der Wahl des Abschlussprüfers, durch einen Vorschlag gemäß § 124 Abs. 3 AktG beizutragen, was ihn zwingt, die Durchsetzbarkeit seiner Vorstellungen bei der letztlich entscheidenden (§ 319 Abs. 1 HGB) Hauptversammlung und damit einer

__________ 2 So Altmeppen in FS Uwe H. Schneider, 2011, S. 1, 5. 3 So das in Fn. 1 genannte Urteil; zum Urteil des OVG sehr eingehend schon Weckerling-Wilhelm/Mirtsching, NZG 2011, 327 ff.; Altmeppen (Fn. 2), S. 1 ff.; weitergehend für GmbH mit einem einzigen Gesellschafter Heidel, NZG 2012, 48 ff. mit umfassenden Hinweisen zur h. M. und zu Gegenstimmen in Fn. 63 und 65. 4 Eindrucksvolle Zusammenstellung bei Seibt in FS Hopt, 2010, S. 1363 ff. 5 Zöllner/Noack in Baumbach/Hueck, 19. Aufl. 2010, § 52 GmbHG Rz. 24; Altmeppen in Roth/Altmeppen, 7. Aufl. 2012, § 52 GmbHG Rz. 2.

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Eigenständige Wahrnehmung der Aufsichtsratspflichten – eine Selbstverständlichkeit?

dort maßgeblichen Aktionärsgruppe im Auge zu behalten. In diesbezüglichen Meinungsverschiedenheiten kann auch der Vorstand eine Rolle spielen, dem daran liegen kann, einen Wechsel des Abschlussprüfers zu verhindern oder wenigstens einer dahingehenden Empfehlung an die Hauptversammlung entgegenzuwirken. Auch bei der fast als zentral zu bezeichnenden Aufgabe des Aufsichtsrats, der Bestellung, Besoldung und eventuell auch Abberufung von Vorstandsmitgliedern, sind Einflussversuche von Aktionären, aber auch der vorhandenen Vorstandsmitglieder (im Zuge informeller Kooptationsverfahren) nicht ausgeschlossen. Es heißt ja auch, dass es nicht zu beanstanden sei, wenn der Aufsichtsrat Vorschläge des Vorstands in dieser Frage ernst nimmt,6 und es ist auch kein Geheimnis, dass in dieser Beziehung der Aufsichtsrat ungern über ein Votum des zu diesen Erörterungen zugezogenen Vorstandsvorsitzenden hinweggehen wird. Nun sind dies Entscheidungen, die zweifelsfrei und manchmal unter dem Einfluss laufender Fristen getroffen werden müssen; aber ein Druck auf Aufsichtsratsmitglieder ist auch im Bereich nicht unbedingt kurzfristig zu treffender Maßnahmen der Unternehmenspolitik vorstellbar, so in dem in der Rechtsprechung der Verwaltungsgerichte behandelten Streit um die Preispolitik eines kommunalen Versorgungsunternehmens, bei dem die vom Rat der Stadt benannten Aufsichtsratsmitglieder – letztlich mit Billigung der Gerichte – angewiesen wurden, einer der Kommune unangenehmen, vom Unternehmen aber für notwendig gehaltenen Entscheidung der Geschäftsführung über die Erhöhung der von der Gesellschaft einzufordernden Preise für Erdgas und Wärme nicht zuzustimmen.7 Das spielte sich bei einer kommunalen GmbH mit fakultativem Aufsichtsrat ab, die allerdings nicht im Alleinbesitz der Gemeinde stand, deren Vorstellungen nicht die Billigung des anderen, ebenfalls stark beteiligten Gesellschafters gefunden hatten; bei Familien-Aktiengesellschaften ist auch die Paralysierung des von den Gesellschafterstämmen nach den dort bestehenden Kräfteverhältnissen besetzten Aktionärsgremiums nicht verwunderlich,8 wenn auch die gesetzliche Einrichtung eines eigenständig entscheidenden Aufsichtsrats als Gegengewicht gedacht sein mag. Etwas neueren Datums sind Einflüsse, die sich ein „großer Investor“, nach dem in manchen Gesellschaften derzeit händeringend gesucht wird, bei Eingehung eines zur Stärkung des Eigenkapitals gewünschten Engagements vertraglich ausbedingen könnte, nicht nur – was auf der Hand liegt – durch Zubilligung eines oder mehrerer Aufsichtsratssitze, sondern auch durch Zusagen bezüglich der Unternehmenspolitik, die dann vom Vorstand kommen mögen, aber zweckmäßigerweise mit dem Aufsichtsrat abgestimmt sind. In diesem Zusammenhang war etwa zu hören, dass der Investor verspricht, die Position der mit ihm verhandelnden Vorstände später nicht anzutasten, was direkt auf die Zuständigkeiten des Aufsichtsrats zielt, auch wenn es durch Weisungen an oder

__________ 6 Mertens/Cahn in KölnKomm. AktG, 3. Aufl. 2009, § 84 AktG Rz. 9; zur Praxis Scheffler, DB 2000, 433, 434 f. 7 S. den Tatbestand des Urteils des VG Arnsberg, ZIP 2007, 1989. 8 S. dazu schon H. P. Westermann in FS Goette, 2011, S. 600, 605.

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eine Verständigung mit den Aufsichtsratsmitgliedern nur mittelbar verwirklicht wird. Dass aus einem Poolvertrag, der etwa Zusicherungen bezüglich der Gewinnverwendung und -ausschüttung enthält, auch Einfluss auf die im Rahmen des Jahresabschlusses zu treffenden Entscheidungen des Aufsichtsrats entstehen kann, liegt bei einer nach dem Gedanken des Gewichts der Gesellschafterstämme verfassten AG auf der Hand, ebenso bei einer GmbH mit fakultativem Aufsichtsrat. Die Art der Einflussnahmen auf das Verhalten von Organpersonen ist durchaus unterschiedlich, die im öffentlich-rechtlich beeinflussten Bereich zu beobachtende Konzentration auf direkte Weisungen eines Gesellschafters oder eines Dritten erschöpft die Probleme nicht. So war vor Jahren die Treuhandanstalt, um für die Treuhandunternehmen bis zu ihrer Privatisierung qualifizierte Aufsichtsräte zu finden, darauf angewiesen, diesen Personen, die ja zumeist um das Risiko von geschäftlichen Fehlentscheidungen in dieser schwierigen Zeit wussten, eine Freistellungserklärung zu geben.9 Ähnlich ist es bei „Abordnung“ eines Mitarbeiters in die Geschäftsführung oder als non executive director in einem ausländischen Joint Venture vorstellbar, wobei rechtlich nicht daran vorbeizukommen ist, dass die Haftung einer Organperson gegenüber der Gesellschaft durch zwingende Normen geregelt ist. Eine Freistellung kann dazu führen, dass die Organperson bereit ist, zumindest informelle Weisungen oder Wünsche des Mutter-Unternehmens zu berücksichtigen. Wenn man eine Freistellung in solchen Fällen für wirksam hält, was nur mit einigen Bedenken und im Hinblick auf eine sonst unzumutbare Risikobelastung des Organmitglieds angeht, so stellt sich die hier nicht weiter zu behandelnde Frage, ob dann Weisungen und informelle Vorgaben zur Unternehmenspolitik konzernrechtlich relevant werden. Ein Sonderfall, dem hier ebenfalls nicht weiter nachgegangen wird, liegt vor, wenn das entsandte Organmitglied weiterhin in einem Arbeitsverhältnis zu dem Aktionär-Gesellschafter oder dem sein Handeln beeinflussenden Dritten steht.10 3. Striktes Recht oder freiwillige Bindung? Haben wir es also bei einem Blick auf die Eigenständigkeit der Entscheidungen von Aufsichtsratsmitgliedern mit einem Fall von missbräuchlichen, weil vom „selbstverständlichen“ Idealzustand abweichenden Praktiken zu tun? Man wird dies nicht pauschal behaupten können, weil die Interessen der Gesellschafter als der in der Privatwirtschaft einstweilen noch maßgeblichen Investoren Respekt verlangen. Aber im Gesellschaftsrecht, besonders dem der Kapitalgesellschaften, beanspruchen Allgemeininteressen zunehmend Berücksichtigung, was ein übergreifendes Phänomen des bürgerlichen Rechts ist;11 man wird den im Fluss befindlichen Gang der Dinge nicht aufhalten können, sollte sich aber

__________ 9 Darstellung und Nachweise bei H. P. Westermann in FS Beusch, 1993, S. 871 ff. 10 Zum Ganzen – auch bereits unter Einbeziehung der „Preisgabe der Entscheidungssouveränität“ – H. P. Westermann (Fn. 9), S. 871, 874, 875 f., 883 f. 11 Weiter ausgreifend H. P. Westermann, AcP 2008, 141 ff.

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über die Richtung Gedanken machen, in die es gehen soll. Bekanntlich wird z. T. überlegt, ob schon bei der Wahl von Aufsichtsratsmitgliedern Interessenbindungen offengelegt oder gar in Gestalt der Berücksichtigung von Gruppeninteressen durch ein cumulative voting (Verhältniswahlrecht) akzeptiert werden sollen.12 Auch das läuft dann aber auf die Frage hinaus, ob das Erfordernis der Selbständigkeit und Unabhängigkeit der Aufsichtsräte nicht doch etwas von einem „soft law“ an sich hat oder gar auf Lippenbekenntnissen beruht.

II. Abwehr von Einflussnahmen auf die Entscheidungstätigkeit 1. Die gesetzliche Ausgangslage Die Forderung nach Unabhängigkeit der Aufsichtsratsmitglieder, so verbreitet und anerkannt sie ist, steht nicht im Gesetz, sie folgt schon gar nicht aus § 100 Abs. 5 AktG, der lediglich ein einzelnes unabhängiges, mit Sachverstand auf den Gebieten Rechnungslegung oder Abschlussprüfung ausgestattetes Mitglied verlangt, und auch das nur für Gesellschaften i. S. des § 264d HGB. Im europäischen Bereich wird an Änderungen mit Blick auf nicht geschäftsführende Direktoren und Aufsichtsräte gearbeitet,13 und Ziffer 5.4.2 des DCGK i. d. F. vom 18.6.2009 geht von der Notwendigkeit einer ausreichenden Anzahl unabhängiger Mitglieder aus.14 Unabhängigkeit wurde bisher manchmal als Freiheit von Bindungen an executive directors sowie – gleichlaufend – als Nichtbetroffenheit vom wirtschaftlichen Wohlergehen der Gesellschaft verstanden,15 was zu weit gehen dürfte, weil danach in einer Familien-AG, die ja durchaus auch börsennotiert sein kann, die Aktionäre dem Aufsichtsrat ganz fernzubleiben hätten, namentlich solche, die an anderen Stellen als im Vorstand im Unternehmen mitarbeiten. In § 100 Abs. 5 AktG geht das Postulat der Unabhängigkeit eine Mischung mit den Anforderungen an die fachliche Qualifikation dieses Mitglieds ein,16 was heißen könnte, dass der betreffende Organträger im Rahmen der ebenfalls erwünschten diversity im Aufsichtsrat17 die Normen zur Bilanzierung und Rechnungslegung so ernst nehmen wird, dass er sich über Bindungen an andere als die Unternehmensbelange hinwegsetzen wird. Dennoch bleibt es, was die Unabhängigkeit anbelangt, dabei, dass es sich hier doch eher um soft law handelt; jedenfalls stellt fehlende Unabhängigkeit nach wohl

__________ 12 Diskutiert etwa im Bericht der Regierungskommission „Corporate Governance“, 2001, S. 93 ff., wo jedoch Minderheitsvertretungen als Polarisierung verworfen werden, obwohl auch gesehen wurde (S. 97), dass das deutsche System erhöhten Anforderungen in Bezug auf Trennung von Aufsichtsrat und Management nicht genügt, was aber nicht durch gesetzliche Regeln, sondern eher durch einen Code zu bewältigen sei. 13 Drygala in K. Schmidt/Lutter, 2. Aufl. 2010, § 100 AktG Rz. 29. 14 Dazu näher Hüffer, ZIP 2006, 637; zum neusten Stand eingehend Scholderer, NZG 2012, 168 ff. 15 So der Bericht der Regierungskommission „Corporate Governance“, S. 57. 16 Dazu näher Jaspers, AG 2009, 607. 17 Ziffer 5.1.2 DCGK und dazu Kocher, BB 2010, 264 ff.

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h. M. kein Bestellungshindernis dar,18 zumal sie bei der Wahl in den Aufsichtsrat nicht ohne Weiteres erkennbar sein muss; auch wird man sich darin fügen müssen, dass Aufsichtsratsmitglieder bei Diskussionen von Sachfragen nicht gehindert sind, die Interessen eines von ihnen „repräsentierten“ Aktionärs oder einer Aktionärsgruppe offen anzusprechen, was aber nicht dazu berechtigt, dass diesen Aspekten bei seiner Entscheidungsfindung ausschlaggebende Kraft beigemessen wird.19 Das alles schließt aber nicht aus, dass bei einzelnen Entscheidungen des Aufsichtsrats strengere Anforderungen und Sanktionen gelten; dem ist im Folgenden nachzugehen. 2. Eigenverantwortliche Personalpolitik Die Bestellung des Vorstands fällt in die ausschließliche Zuständigkeit des Aufsichtsrats. Dies ist satzungsfest, was auch für eine durch die Satzung eingeführte Mitwirkungsmöglichkeit des Vorstands, eines Aufsichtsratsausschusses, der Hauptversammlung oder eines Aktionärs gilt.20 Weder ein von der Hauptversammlung gewähltes noch ein nach § 101 Abs. 2 AktG delegiertes Aufsichtsratsmitglied kann in Bezug auf die Vorstandsbestellung eine Stimmbindung eingehen oder einer Weisung unterworfen werden.21 Dies ist als Ausgangspunkt weitgehend unangefochten, nicht ganz unzweifelhaft ist allenfalls die Behandlung einer Einmann-AG ohne Mitbestimmung; auch dort muss es aber wohl dabei bleiben, dass im Fall von Konzernverhältnissen im Rahmen der §§ 311 ff. AktG Einflussnahmen auf den Vorstand, nicht aber auf die Tätigkeit des Aufsichtsrats erlaubt sind.22 Nach diesen Grundsätzen ist auch ein Stimmbindungsvertrag zwischen Aktionär und Vorstand zu beurteilen, in dem der Letztere zusichert, sich für seine Wiederwahl einzusetzen. Es ist kaum zu leugnen, dass hierdurch der Aktionär gezwungen ist, seinen Einfluss auf den Aufsichtsrat auszuüben, gegebenenfalls ein renitentes Aufsichtsratsmitglied abzuwählen, was kaum akzeptiert werden kann und prozessual nicht durchsetzbar ist, weil dadurch die Willensbildung im Aufsichtsrat endgültig unfrei würde.23 Demgegenüber soll ein „Wahlzusagevertrag“, durch den ein Aktionär dem Vorstand oder einem Dritten verspricht, sich für die Wahl einer bestimm-

__________ 18 Hopt/Roth in Hopt/Wiedemann, 4. Aufl. 2005, § 100 AktG Rz. 73; Habersack in MünchKomm. AktG, 3. Aufl. 2008, § 100 AktG Rz. 58; Spindler in Spindler/Stilz, 2. Aufl. 2010, § 100 AktG Rz. 30; Hüffer, 9. Aufl. 2010, § 103 AktG Rz. 13b; Drygala (Fn. 13), § 100 AktG Rz. 29; schon früher BGHZ 39, 116, 123; Wirth, ZGR 2005, 327, 343; a. M. aber Lutter, ZHR 159 (1995), 287, 302; Decher, ZIP 1990, 277, 287. 19 So schon H. P. Westermann (Fn. 9), S. 871, 885 f. mit Blick auf Haftungserleichterungen durch Freistellungserklärungen seitens eines Gesellschafters oder eines Dritten. 20 BGHZ 79, 38, 42; Kort in Hopt/Wiedemann, 4. Aufl. 2005, § 84 AktG Rz. 27; Spindler in MünchKomm. AktG, 3. Aufl. 2008, § 84 AktG Rz. 12, 13; Fleischer in Spindler/Stilz, 2. Aufl. 2010, § 84 AktG Rz. 9; Seibt in K. Schmidt/Lutter, 2. Aufl. 2010, § 84 AktG Rz. 8. 21 BGHZ 36, 296, 306; 90, 381, 398; Niewiarra, BB 1998, 1961, 1963; Fleischer (Fn. 20), § 84 AktG Rz. 10; Spindler in MünchKomm. AktG, 3. Aufl. 2008, § 84 AktG Rz. 14. 22 Altmeppen (Fn. 2), S. 1, 5 ff. 23 Niewiarra, BB 1998, 1961, 1963, jedoch mit dem Bemerken, ein der Bindung des Aktionärs entsprechender Bestellungsbeschluss sei nicht unwirksam.

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ten Person in den Aufsichtsrat einzusetzen, zwar grundsätzlich wirksam, aber nur bei einer Einmann-Gesellschaft auch praktisch durchsetzbar sein.24 Dies betrifft nicht direkt die Entscheidungsfreiheit der Aufsichtsratsmitglieder. Abgesehen davon, ist aber nicht ganz geklärt, ob ein in der Satzung verankertes Vorschlagsrecht, obwohl es jedenfalls keine bindende Kraft haben darf, nicht doch einen gewissen Druck auf die Entschließung des Aufsichtsrats ausübt, der die Regelung unwirksam machen würde;25 steht derartiges in der Satzung, ist nämlich eine gewisse Beachtlichkeit eines solchen Vorschlags nicht auszuschließen. Aktionäre sind danach, wenn sie Einfluss nehmen wollen, darauf verwiesen, untereinander zu vereinbaren, die Aufsichtsratsmitglieder zur Wahl bestimmter Personen zu bewegen,26 die aber – so heißt es immer – in ihrer Entscheidung letztlich frei bleiben müssen. Wenn sich Aktionäre oder Aktionärsgruppen etwa durch einen Poolvertrag verpflichtet haben, bei Aufsichtsratswahlen die jeweils von einer Seite vorgeschlagenen Personen zu bestellen, so entsteht eine starke faktische Bindung des Gewählten innerhalb seiner „Bank“ und gegenüber seinen „Wählern“, kraft derer also auch die Personalpolitik und -planung der Gesellschaft beeinflusst, wenn nicht sogar bestimmt wird. Dem ist mit rechtlichen Mitteln nicht zu begegnen, allerdings ist zu überlegen, ob der mittelbare Druck auf die Entscheidungen des Aufsichtsrats nicht zu stark wird, wenn der betreffende Aktionär sich für den Fall, dass „sein“ Aufsichtsratsmitglied sich nicht vertragsgemäß beeinflussen lässt, einer Vertragsstrafe oder gar einer Schadensersatzpflicht unterworfen hat,27 ähnlich, wenn das Aufsichtsratsmitglied verspricht, sein Amt zur Verfügung zu stellen, wenn es einer unverbindlichen Weisung nicht Folge leistet.28 Aber das Gefühl der Zusammengehörigkeit innerhalb der Gruppe von Gleichgesinnten ist von derartigen Sanktionsmechanismen wohl unabhängig und tut seine Wirkung. 3. Verhalten bei Zustimmungsvorbehalten gemäß § 111 Abs. 4 Satz 2 AktG Etwas anders ist die Ausgangslage in Bezug auf Zustimmungsentscheidungen im Rahmen des § 111 Abs. 4 Satz 2 AktG, zu denen auch ein Beschluss gehört, künftig bestimmte Geschäfte ad hoc unter einen Zustimmungsvorbehalt zu stellen. Unterschiede ergeben sich insoweit möglicherweise dadurch, dass die Funktion des Aufsichtsrats als Kontroll- und Beratungsorgan ihn in eine mitunternehmerische Rolle bringt,29 was naturgemäß Kontakte erfordert, die eine

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24 Niewiarra, BB 1998, 1961, 1964. 25 Mertens/Cahn in KölnKomm. AktG, 3. Aufl. 2009, § 84 AktG Rz. 9; Fleischer (Fn. 20), § 84 AktG Rz. 10; a. M. aber OLG Stuttgart v. 30.5.2007 – 20 U 14/06, AG 2007, 873, 876 für Ausübung eines unverbindlichen Vorschlagsrechts eines Aktionärs; s. auch Peltzer/v. Werder, AG 2001, 1, 2; Spindler (Fn. 20), § 84 AktG Rz. 14. 26 Spindler (Fn. 20), § 84 AktG Rz. 15. 27 Dagegen Spindler (Fn. 20), § 84 AktG Rz. 14; anders wohl Niewiarra, BB 1998, 1961, 1965. 28 Th. Raiser, ZGR 1978, 391 ff.; anders noch Tank, AG 1977, 34, 38 f. 29 Lutter in ZHR 159 (1995), 287, 290 ff.; Hopt/Roth (Fn. 18), § 111 AktG Rz. 61 ff.; Habersack (Fn. 18), § 111 AktG Rz. 13; Hüffer, § 111 AktG Rz. 5.

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Beachtung der Wünsche des Vorstands geboten erscheinen lassen. Das gilt aber nicht im Verhältnis zu den Aktionären, die sich trotzdem, da ihre wirtschaftlichen Interessen oft direkt betroffen sind, mit Selbstverständlichkeit einmischen wollen. Der Wunsch, zumindest auf zentrale unternehmerische Fragen Einfluss zu nehmen, kann sich im Umfeld eines Zustimmungsbeschlusses auch in der Weise ergeben, dass versucht werden soll, in Bezug auf einen im Aufsichtsrat gefassten Beschluss, durch den die betreffende Maßnahme genehmigt worden war, die Rücknahme zu betreiben. In diesem tatsächlichen Fall30 war der Gegensatz zwischen der Aktionärin, einer Kommune, die eine Preiserhöhung ablehnte, und der Einsicht der Aufsichtsratsmehrheit in die unternehmerische Notwendigkeit dieser Maßnahme offensichtlich, so dass den von der Stadt entsandten Aufsichtsratsmitgliedern, die sich „auf die Hinterbeine stellten“, neben singulärem Mut das Bewusstsein für ihre Verantwortung gegenüber dem Unternehmen bescheinigt werden kann, das der entsendenden Körperschaft immerhin zu 74,88 %, aber eben nicht allein gehörte. Unverständlich ist der Korrekturversuch der Hauptgesellschafterin andererseits aber auch nicht, da sie schließlich, wenn es ihr gelungen wäre, durch Satzungsänderung ein Weisungsrecht einzuführen oder den Aufsichtsrat ganz abzuschaffen,31 die Entscheidung in der Gesellschafterversammlung hätte an sich ziehen können. Bei der AG scheidet dieser Weg allerdings aus, so dass es der Aktionär über einen direkten oder mittelbaren Einfluss auf die Aufsichtsratsmitglieder versuchen muss. Auch hier stößt er auf das Postulat der Weisungsfreiheit des Aufsichtsratshandelns,32 die auch entsandten Mitgliedern zukommt.33 Aber auch dabei sind faktische Einflüsse nicht zu leugnen,34 und es könnte wiederum jemand auf den Gedanken kommen, anstelle eines direkten Weisungsrechts eine vertragliche Verpflichtung eines zur Wahl Vorgeschlagenen zu begründen, bei Abweichen von Wünschen des Aktionärs sein Amt niederzulegen oder gar Schadensersatz oder eine Vertragsstrafe zu zahlen, was gewiss nicht angeht.35 Angesichts dieser klaren Ausgangslage liegt es auf der Hand, dass sich die Beteiligten i. d. R. mit informellen Einflussnahmen begnügen werden, da sie bei direkten Weisungen Gefahr laufen würden, dass die Stimmabgabe wegen Befolgung einer nichtigen Weisung beanstandbar und damit womöglich der mit der Stimme des betreffenden Mitglieds getroffene Aufsichtsratsbeschluss nichtig ist.36 Bei Zustimmungsentscheidungen wie derjenigen, mit der es die Verwaltungsgerichte im Fall der kommunalen GmbH zu tun hatten, kann aller-

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30 So das Vorgehen des Rats der Stadt im Fall des VG Arnsberg, oben Fn. 1. 31 Dies war am Fehlen einer satzungsändernden Mehrheit gescheitert. 32 BGHZ 90, 381, 389; BGH, ZIP 2006, 2077, 2079; Hopt/Roth (Fn. 18), § 111 AktG Rz. 745; Habersack (Fn. 18), § 111 AktG Rz. 136; von Höchstpersönlichkeit der Mandatswahrnehmung spricht Drygala (Fn. 13), § 111 AktG Rz. 65. 33 BGH, ZIP 2006, 2077, 2079. 34 Th. Raiser, ZGR 1978, 391, 395. 35 Habersack (Fn. 18), § 111 AktG Rz. 137. 36 So für eine beeinflusste Vorstandswahl Spindler (Fn. 20), § 84 AktG Rz. 14; anders allerdings Niewiarra, BB 1998, 1961, 1963 für einen absprachewidrigen Bestellungsbeschluss.

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dings auch bei einer informellen Einflussnahme die Frage aufkommen, ob die Gesellschaft oder der Minderheits-Gesellschafter eine Treupflichtverletzung rügen und gegebenenfalls zum Anlass von Ersatzansprüchen oder einer Abberufung gemäß § 103 Abs. 3 AktG machen können, wenn die delegierten Aufsichtsratsmitglieder, die – anders, als es die Gerichte gesehen haben – einem Weisungsrecht nicht unterworfen waren, sich dem Druck gebeugt und gegen die von der Geschäftsführung für nötig gehaltene Maßnahme gestimmt hätten. Dass die Beeinflussung einer Ermessensentscheidung durch Wünsche des Aktionärs sachfremden Einflüssen Raum geben und deshalb pflichtwidrig sein kann, wird man zugeben müssen, mag auch erfahrungsgemäß eine solche Entscheidung kaum justiziabel sein, so dass das Risiko überschaubar ist. Bei einer vom Aktionär auf diesen Wegen durchgesetzten breitflächigen Obstruktionspolitik wird es am Ende auf Rechtsstreitigkeiten innerhalb des Aufsichtsrats auf der Grundlage von Feststellungsklagen bezüglich der Pflichtwidrigkeit von Stimmabgaben hinauslaufen. Das ist für die öffentliche Reputation des Unternehmens sicher schädlich, so dass die Überlegung naheliegt, ob über die Einschaltung von Beratern oder – dies ein neuerer Aspekt – eines Mediators eine – wiederum informelle – Einigung herbeigeführt werden kann, näher dazu III. 4. Lösung über (außenstehende) Berater? Berater sind als Beistand des Gremiums als solchem oder einzelner seiner Mitglieder vorstellbar. In einem zerstrittenen Aufsichtsrat kann freilich schon die Wahl eines gemeinsamen Beraters auf Schwierigkeiten stoßen, so dass es nicht ganz fern liegen mag, sich insoweit mit den im Aktionärskreis bestimmenden Kräften ins Benehmen zu setzen. Diese werden als Berater selber kaum in Frage kommen, sich aber vielleicht – in manchen Fällen: allenfalls – auf einen Außenstehenden verständigen. Soweit sich der Aufsichtsrat eines Beraters bedienen will, kommen ihm im Bereich der Überwachungs-, aber auch der Zustimmungsaufgaben §§ 109 Abs. 1 Satz 2, 111 Abs. 2 Satz 2 AktG entgegen, wobei die betreffenden Personen also auch an den Sitzungen teilnehmen können. Die ständige Beratung des Aufsichtsrats durch einen Sachverständigen ist aber untersagt,37 ganz abgesehen davon, dass das Gesetz im Anwendungsbereich des § 111 Abs. 5 AktG schon ein sachverständiges Aufsichtsratsmitglied fordert, dessen Stimme dann besonderes Gewicht zukommen sollte, das nicht durch die Ausführungen eines außenstehenden Fachmanns überlagert werden sollte. Im Hinblick auf den Bericht des Abschlussprüfers berechtigt und verpflichtet nun § 171 Abs. 1 AktG jedes Aufsichtsratsmitglied, sich auf der Grundlage des vorgelegten Berichts seine eigene Meinung zu bilden, auch dies muss er aber aufgrund seiner eigenen Erfahrungen und etwaiger besonderer Kenntnisse selb-

__________ 37 BGHZ 85, 293, 296; Habersack (Fn. 18), § 111 AktG Rz. 135; von einem „Autarkiegebot“ sprach Hommelhoff (ZGR 1983, 551, 563 ff.).

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ständig tun.38 Der BGH hat in der – schon etwas zurückliegenden und noch unter der Geltung des früheren § 170 Abs. 3 Satz 2 AktG ergangenen – HertieEntscheidung einem Aufsichtsratsmitglied das Recht abgesprochen, generell zur Einsichtnahme in den Abschlussprüfungsbericht einen Sachverständigen hinzuziehen.39 Daraus mag man einen generellen Vorrang gesellschaftsinterner Beratung und Aufklärung ableiten;40 allerdings ging es dem BGH zum einen um die Gefahr, dass durch einen ständigen Berater „die vom Aufsichtsrat in eigener Verantwortung zu treffenden Entscheidungen entgegen dem Grundsatz des § 111 Abs. 5 AktG allgemein zu stark nach außen verlagert werden“, zum anderen wurde schlicht auf die Qualifikationsanforderungen an die Mitglieder des Gremiums hingewiesen, die seitdem eher gestiegen sind, so dass es nicht hingenommen werden kann, wenn die Aufsichtsratsmitglieder sich ohne eigene Bemühungen um Sachverstand ganz in die Hand eines Beraters geben, zumal der Aufsichtsrat mit eigenen Worten über seine Prüfungstätigkeit an die Hauptversammlung berichten und darüber Beschluss fassen muss. Nun gibt es sicher Beschlussgegenstände, für die der Sachverstand des Gremiums und/oder einzelner seiner Mitglieder nicht ausreicht. Dann ist die Hinzuziehung eines entsprechend ausgewiesenen Sachverständigen zu diesem konkreten Fragenkreis sicher zulässig und manchmal auch unerlässlich;41 eine Ausweitung des Beratungsauftrags liefe aber auf eine capitis diminutio für das Aufsichtsratsmitglied hinaus und darf vom Gesamtaufsichtsrat nicht geduldet werden. Soweit dann aber ein fachkundiger Berater gesucht wird, kann er nur ein Außenstehender sein, möglicherweise auch ein früheres Aufsichtsratsmitglied, nicht aber Gesellschafter, deren durch die Art ihrer Hinzuziehung verursachtes Gewicht bei der Entscheidungsfindung die Eigenständigkeit des von ihnen i. d. R. mitgewählten Aufsichtsrats ins Zwielicht rücken würde. Dies geht – zugegeben – von der Annahme aus, dass eine Beratung eines in Bezug auf den Beratungsgegenstand Unkundigen Einflussnahme auf die an sich von ihm zu treffende Entscheidung bedeuten kann und häufig bedeuten wird; aber dies in Grenzen zu halten und die Eigenverantwortung des Gremiums und seiner Mitglieder zu stärken, entspricht den Geboten des kapitalgesellschaftsrechtlichen Organisationsrechts. 5. Rechtslage bei der GmbH mit fakultativem Aufsichtsrat Nach dem Vorigen ist die Frage erlaubt, ob man wirklich die Unabhängigkeit der Aufsichtsratsmitglieder in ihrem hier dargestellten, schon ein wenig relativierten Sinn und Ausmaß als „Gebot des allgemeinen Unternehmensrechts“

__________ 38 Drygala (Fn. 13), § 171 AktG Rz. 7; Euler in Spindler/Stilz, 2. Aufl. 2010, § 171 AktG Rz. 64; Schulz in Bürgers/Körber, 2. Aufl. 2011, § 171 AktG Rz. 3. 39 Urt. v. 15.11.1982 – II ZR 27/82, BGHZ 85, 293, 300 = NJW 1983, 991. Zur Pflicht zur „selbständigen“ Abschätzung von Risiken auf Grund zu beschaffender Informationen kürzlich (mit Blick auf den Aufsichtsratsvorsitzenden) OLG Stuttgart, ZIP 2012, 625 ff.; Selter, NZG 2012, 660 ff. 40 So Habersack (Fn. 18), § 111 AktG Rz. 135; Hommelhoff, ZGR 1983, 551, 564 f. 41 Habersack (Fn. 18), § 111 AktG Rz. 135.

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betrachten kann.42 In der gegenwärtigen deutschen Diskussion kommt dies am stärksten bei der sicher auch dem Unternehmensrecht zugehörigen Frage des Weisungsrechts eines der öffentlichen Hand angehörenden Gesellschafters einer GmbH mit fakultativem Aufsichtsrat zum Tragen, auf die schon eingangs hingewiesen wurde. Dabei ist allerdings in verschiedener Hinsicht zu differenzieren, einmal danach, ob der öffentliche Träger Alleingesellschafter ist oder nicht, zum anderen danach, ob die Satzung, was als möglich erachtet wird,43 Bestimmungen über die Weisungsgebundenheit aller oder der von dem öffentlichen Träger entsandten Aufsichtsratsmitglieder enthält. Die Frage nimmt Bezug auf die soeben vom BVerwG bejahte, aus einer Forderung in § 113 GO NRW abgeleitete Zulässigkeit von Weisungen an die von der Kommune vorgeschlagenen und danach von der Gesellschafterversammlung gewählten Aufsichtsratsmitglieder mit Sitz in einem fakultativen Aufsichtsrat einer GmbH.44 Zum Sachverhalt ist zu ergänzen, dass die Gemeinde 74,88 % der Geschäftsanteile innehatte, und eine Satzungsänderung zur Bestätigung ihres Weisungsrechts nicht hatte durchsetzen können; die umstrittene Weisung hatte nicht die Gesellschafterversammlung erteilt, sondern unmittelbar der Rat der Stadt, nachdem der Aufsichtsrat mehrheitlich der von der Geschäftsführung gewünschten Maßnahme zugestimmt hatte. Die geltende Satzung bestimmte in Anwendung des dispositiven § 52 GmbHG, dass auf den Aufsichtsrat die Vorschriften des AktG keine Anwendung finden sollten; Regelungen zur Weisungsbefugnis der Gesellschafter oder speziell der Gemeinde enthielt die Satzung aber nicht. Der rechtliche Ausgangspunkt ist klar: Die Satzung einer GmbH kann einen Aufsichtsrat einrichten, sie kann aber die in § 52 GmbHG für diesen Fall vorgesehene entsprechende Anwendung einer Reihe von aktienrechtlichen Vorschriften – u. a. des § 111 AktG – abbedingen.45 Dies kann im Einzelnen so weit gehen, dass das Gremium keine dem Aufsichtsrat einer AG vergleichbare Kompetenzen bekommt – ob dann noch von einem „Aufsichtsrat“ gesprochen werden kann,46 kann hier dahinstehen, jedenfalls nennt das Gesetz keinen Mindestbestand an Aufgaben, die der Aufsichtsrat zu erfüllen hätte. Zustimmungsvorbehalte, die nach §§ 52 GmbHG, 111 Abs. 4 AktG möglich sind, muss die Satzung oder der Aufsichtsrat ad hoc begründen;47 lehnt dann der Aufsichtsrat eine Zustimmung ab, so kann sie durch die Gesellschafterversamm-

__________ 42 Dazu näher Druey in FS Doralt, 2004, S. 151 ff. – allerdings hauptsächlich mit Blick auf den Abschlussprüfer. 43 Lutter, ZIP 2007, 1991; Strobel, DVBl 2005, 77, 80 f.; Kiethe, NZG 2006, 45; Weckerling-Wilhelm/Mirtsching, NZG 2011, 327, 329; Altmeppen (Fn. 5), § 52 GmbHG Rz. 2; das BVerwG (Fn. 1) hält sogar eine ergänzende Satzungsauslegung in diese Richtung für möglich, zust. Heidel, NZG 2012, 48, 51. 44 Oben Fn. 1. 45 Gaul/Otto, GmbHR 2003, 7; Uwe H. Schneider in Scholz, 10. Aufl. 2007, § 52 GmbHG Rz. 68; Michalski/Giedinghagen in Michalski, 2. Aufl. 2010, § 52 GmbHG Rz. 16; Altmeppen (Fn. 5), § 52 GmbHG Rz. 2. 46 Dagegen Peres in Saenger/Inhester, 2011, § 52 GmbHG Rz. 7; gegen den Sinn solcher Überlegungen aber Altmeppen (Fn. 2), S. 1, 9. 47 Lutter in Lutter/Hommelhoff, 17. Aufl. 2009, § 52 GmbHG Rz. 15.

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lung ersetzt werden.48 Bis hier ist also die Situation im Aktien- und im GmbHRecht weithin gleich. Dennoch bestehen, worauf zu Recht hingewiesen worden ist,49 bedeutende Unterschiede, insofern als in der GmbH die Gesellschafter hinsichtlich der Satzungsgestaltung eine erheblich größere Freiheit genießen und auch ständig in die Geschäftsführung eingreifen können, auch sind sie gegenüber einer Gebietskörperschaft nach § 394 AktG von der Verschwiegenheitspflicht befreit. Das erwartet in einer GmbH mit fakultativem Aufsichtsrat auch „das Publikum“ nicht anders.50 Anderes erwarten kann aber ein an die Satzung ebenfalls gebundener, aus ihr u. U. seinen Entschluss zur Beteiligung an der Gesellschaft ableitender Mitgesellschafter, der die Satzung als einzige – neben einer eventuellen Poolvereinbarung, an der er dann selber teilhat – Quelle von Sonderrechten eines Gesellschafters betrachten kann.51 An diesem Punkt ist der Judikatur der Verwaltungsgerichte nicht zu folgen. Wenn die Satzung – wie im hier erörterten Fall – eine Regelung über die Weisungsgebundenheit, zu der auch die Figur des oder der Weisungsberechtigten gehören würde, nicht enthält, wohl aber einen „Aufsichtsrat“ einrichtet, so gibt es eben kein Weisungsrecht eines einzelnen Gesellschafters, und sei es auch der Mehrheitsgesellschafter.52 Diesen bliebe der Weg über eine Weisung der Gesellschafterversammlung an die Geschäftsführung, der aber trotz der Mehrheitsverhältnisse ein wenig dornig sein kann,53 weil ein Mehrheitsbeschluss gerade in einem nach Ansicht der Geschäftsführung zentral wichtigen Punkt nicht gegen die Gesellschaftsinteressen verstoßen kann, ohne sich den Vorwurf der Treuwidrigkeit zuzuziehen. Das mag in einer Einmann-Gesellschaft anders sein,54 aber ein Minderheitsgesellschafter, der nicht nur eine ausgesprochene Splitterbeteiligung hält, sollte sich gegen ein außerhalb der Satzung in Anspruch genommenes Weisungsrecht eines Mitgesellschafters wehren können. Im Gegensatz zum Aktienrecht mag man also dem GmbH-Recht zubilligen, dass hier die Eigenständigkeit oder Unabhängigkeit eines Aufsichtsrats nicht „selbstverständlich“ ist; aber die Gesellschafter müssen sich in der Satzung zu einem davon abweichenden Verständnis der Rolle des von ihnen eingerichteten Aufsichtsrats bekannt haben. Es bleibt der von den Verwaltungsgerichten für entscheidend gehaltene Einwand aus § 113 GO NRW. Bevor aber hier Landes- und Bundesrecht gegeneinander ausgespielt werden, sollte die Art der vom Landesgesetzgeber eingeforderten Einflussnahme auf eine GmbH betrachtet werden, die nicht allein von ihrer privatrechtlichen Rechtsform bestimmt wird.55 Die betreffende Regelung

__________ 48 49 50 51 52

Uwe H. Schneider (Fn. 45), § 52 GmbHG Rz. 146; Lutter (Fn. 47), § 52 GmbHG Rz. 15. Altmeppen (Fn. 2), S. 1, 6 ff.; Weckerling-Wilhelm/Mirtsching, NZG 2011, 327, 329. Insoweit ist Altmeppen (Fn. 2), S. 9 zu folgen. Weckerling-Wilhelm/Mirtsching, NZG 2011, 327, 330. Weckerling-Wilhelm/Mirtsching, NZG 2011, 327, 330; anders Heidel, NZG 2012, 48, 54. 53 Insoweit etwas anders Weckerling-Wilhelm/Mirtsching, NZG 2011, 327, 330 l.Sp. 54 Auf sie beziehen sich die Überlegungen von Altmeppen (Fn. 2), S. 9 und z. T. auch Heidel, NZG 2012, 54. 55 Hierzu überzeugend Weckerling-Wilhelm/Mirtsching, NZG 2011, 327, 330, 331.

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kann man nämlich, wenn man denn aus dem System des Gesellschaftsrechts und seiner Abstufung des Gesellschafter-Einflusses in den verschiedenen Formen des Kapitalgesellschaftsrechts nicht ausbrechen will, dahin verstehen, dass die Satzung einer unter die öffentlich-rechtlichen Vorschriften fallenden Gesellschaft im Sinne dieser Normen gestaltet werden muss. Der Rechtsverkehr und eventuelle Mitgesellschafter- oder Erwerbsinteressen müssen sich also darauf einrichten, dass dies geschieht, nicht aber darauf, dass ein Gesellschafter ohne Satzungsregelung in die Tätigkeit des Aufsichtsrats eingreift. Die Eigenständigkeit der Aufsichtsratsmitglieder ist also kein selbstverständlicher und schon gar kein heiliger Grundsatz des gesamten Unternehmensrechts, er gehört aber zum Vertragstypus und hat bei der Anwendung des Organisationsrechts einen Stellenwert, der im Interesse der Qualität von Sachentscheidungen56 nicht zu unterschätzen ist.

III. Vermittlung und Mediation im Aufsichtsrat? 1. Möglichkeiten einer Einschaltung Wenn von „Vermittlung und Mediation“ die Rede ist, so ist dies etwas anderes als die oben (II. 4.) behandelte, in Grenzen mögliche und manchmal zweckmäßige Beratung des Gremiums oder seiner einzelnen Mitglieder. Vielmehr geht es um Streitschlichtung, die sich in diesem Rahmen als sinnvoll erweisen könnte, wenn der Aufsichtsrat infolge seines Zerfallens in gleich starke Gruppen nicht entscheidungsfähig ist oder – was im Ergebnis auf dasselbe hinauslaufen kann – die Aufsichtsratsmitglieder sich den Wünschen der für ihre Wahl in das Gremium eintretenden Gesellschafter verpflichtet fühlen. Dies kann sich auf die Bestellung, Besoldung und Abberufung von Vorstandsmitgliedern, den Einsatz von Zustimmungsvorbehalten, aber auch auf sonstige, etwa zur Rechnungslegung gehörende Mitwirkungshandlungen des Aufsichtsrats, u. a. auch unternehmensstrukturelle Entscheidungen, beziehen. Man könnte einwenden, das klassische Instrument der Streitschlichtung in einer Rechtsordnung privatwirtschaftlichen Zuschnitts seien die staatlichen Gerichte, und in der Tat sieht das AktG etwa für die Vorstandsbestellung in § 85 AktG eine Notzuständigkeit des Gerichts vor, und für den Fall, dass sich Vorstand und Aufsichtsrat bezüglich eines der Zustimmung des Aufsichtsrats unterliegenden Gegenstandes nicht einigen können, ist nach § 111 Abs. 4 Satz 3 AktG die Vorlage an die Hauptversammlung möglich, was aber wenig nützt, wenn die Zustimmungsverweigerung des Aufsichtsrats durch unterschiedliche Vorstellungen im Aktionärskreis verursacht ist. Will man hier nicht den mühsamen und vielleicht nicht zu einem befriedigenden Ergebnis führenden Weg über Rechtsstreitigkeiten gehen, die mit dem Ziel der Feststellung treupflichtwidrigen Stimmverhaltens einzelner oder mehrerer Aufsichtsratsmitglieder geführt werden, ist eine anders ansetzende Schlichtung vielleicht erwägenswert. Die Hoffnung, die manchmal mit der Einschal-

__________ 56 Hierzu besonders Druey (Fn. 42), S. 151 ff.

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Harm Peter Westermann

tung eines satzungsmäßigen Schiedsgerichts verbunden ist, ist nicht selten mit den problematischen prozessrechtlichen (und auch gesellschaftsrechtlichen) Schwierigkeiten belastet, auf diesem Wege zu einer alle Beteiligten bindenden Entscheidung zu kommen.57 Demgegenüber würde eine vereinbarte Vermittlung oder auch Mediation vielleicht erreichen können, dass die Entscheidungsträger innerhalb der Gesellschaft sich verständigen. Ganz unbedenklich ist allerdings auch hier die Einschaltung des Dritten nicht, weil nicht ganz auszuschließen ist, dass ihm am Ende doch ein größerer oder geringerer Teil der Verantwortung zufällt. 2. Chancen und Kosten Dem Vernehmen nach ist Wirtschaftsmediation stark im Kommen, auch weil viele Unternehmen mit Gerichts- einschließlich Schiedsgerichtsverfahren unzufrieden seien,58 und in der Tat weiß man, dass nicht wenige Schiedsgerichtsverfahren nur nach langwierigen und kostspieligen Verhandlungen und Auseinandersetzungen abgeschlossen werden, und zwar nicht selten durch einen Vergleich, der auch nicht immer eine völlige Streitschlichtung begründet. Allerdings, so heißt es weiter,59 habe es der Wirtschaftsmediator weniger mit Parteien zu tun, die künftig weiter zusammenarbeiten müssen – das würde bei einer Einschaltung in dem hier erörterten Zusammenhang gerade anders sein. Wichtig ist aber auch, dass der Mediator nicht in erster Linie auf der Grundlage des Rechts – hier also etwa gesellschaftsrechtlicher Mitwirkungs- und Treuepflichten – eine Entscheidung herbeizuführen versuchen soll. Das könnte in den personalpolitischen und unternehmerischen Fragen, bei denen, wie gezeigt, die Eigenverantwortlichkeit des Handelns von Aufsichtsratsmitgliedern eine zentrale Rolle spielt, und die rechtlich wenig determiniert sind, einen Anhaltspunkt darstellen, auch wenn gerade dadurch klar wird, dass der Mediator, indem er auch andere als die rechtlichen, nämlich die wirtschaftlich-unternehmerischen Aspekte einbringt und sie sogar ins Zentrum seiner Überlegungen und Anregungen stellt,60 etwas tut, was eigentlich die Aufsichtsratsmitglieder selber tun und verantworten sollten. Die Mediation wird auch für ein „Konfliktmanagement im Unternehmen“ einschließlich eines Konzernverbundes propagiert,61 wobei zwar schwerpunktmäßig die Arbeitsbeziehungen, aber auch die Bestellung und Abberufung von Geschäftsführern und die Rechte von Minderheitsgesellschaftern aufgeführt werden und das Problem gesehen wird, mit Gruppen- und Eigeninteressen fertig zu werden.62 Dabei soll immer klar sein, dass der Mediator im Rahmen

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57 Näher dazu mit Blick auf mögliche Erweiterungen der „Schiedsfähigkeit“ im Aktienrecht H. P. Westermann (Fn. 8), S. 601 ff. 58 Risse/Wagner in Haft/Schlieffen, Handbuch Mediation, 2. Aufl. 2009, § 23 Rz. 1. 59 Risse/Wagner (Fn. 58), § 23 Rz. 8. 60 Auch dazu Risse/Wagner (Fn. 58), § 23 Rz. 28. 61 Ponschab/Dendorfer in Haft/Schlieffen, Handbuch Mediation, 2. Aufl. 2009, § 24 Rz. 15 ff. 62 Besonders zur Berücksichtigung emotionaler Probleme Ponschab/Dendorfer (Fn. 61), § 24 Rz. 58.

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Eigenständige Wahrnehmung der Aufsichtsratspflichten – eine Selbstverständlichkeit?

eines von den Parteien autonom eingeleiteten und von ihnen auch jederzeit zu beendenden Verfahrens ohne Entscheidungsmacht tätig wird, er ist Verhandlungshelfer, der nicht nur „neutral“, sondern „allparteilich“ sein soll.63 Angesichts der Erfahrungen mit staatsgerichtlichen und schiedsrichterlichen Schlichtungsversuchen, die durch den prozessualen Streitgegenstand bestimmt und zugleich begrenzt werden, wird man sich in der Tat fragen, ob der Appell an die eigenverantwortliche Konfliktbewältigung der Parteien, der rein theoretisch die eigenständige Verantwortung der angesprochenen Personen bestehen lässt, unter rechtlichen Gesichtspunkten zu begrüßen ist. Zunächst muss geklärt werden, zwischen welchen Personen oder Personengruppen der Mediator zu vermitteln, dabei ihre eigenen Entschlüsse zur Konfliktbewältigung aufzugreifen und sie in Richtung auf eine Verständigung zu entwickeln hat. Dies ist möglicherweise – etwas anders, als es die Experten der Mediation sehen – in erster Linie eine Rechtsfrage, da ja die zuständigen Entscheidungsträger dazu gebracht werden sollen, aufeinander zuzugehen. Auf ihren Horizont, auch auf die rechtlichen Voraussetzungen und Schranken ihrer Entscheidungsfreiheit, muss sich also der Mediator einstellen, wobei ihm allerdings zugebilligt wird, die Beteiligten von unrealistischen, also auch juristisch unhaltbaren, Positionen abzubringen,64 und er ist auch befugt, wird sogar dazu angehalten, mit den Parteien getrennt zu verhandeln. Hierbei soll er also dann wirklich nicht Rechtsfragen entscheiden, sondern Lösungen erarbeiten. Soweit es um Entscheidungen im Aufsichtsrat geht, müssen also die Mitglieder dieses Gremiums angesprochen werden, nicht etwa die Aktionäre – anders als bei einer GmbH mit einem fakultativen Aufsichtsrat, dessen Mitglieder nach der Satzung Weisungen von Gesellschafterseite empfangen können; aber dort wird es zu einem Streit am ehesten wirklich unter den Gesellschaftern kommen, deren Meinungsverschiedenheiten dann beigelegt werden müssten. Das heißt nicht, dass die Gesellschafter/Aktionäre als die wirtschaftlich am meisten Betroffenen aus der Mediation auszuscheiden hätten, aber der Mediator wird darauf zu achten haben, dass sein Verfahren nicht die innergesellschaftlichen Kompetenzstrukturen antastet oder überspielt. Im Gegenteil wird er sich bemühen müssen, aus der Konfliktlösung durch die Aufsichtsräte deren Bindung an Interessen oder Wunschvorstellungen der sie bestellenden Gesellschafter herauszuhalten, er hat es schließlich nicht mit Weisungsempfängern zu tun. Dass sich die Aufsichtsratsmitglieder, ehe sie verbindlich einer Lösung zustimmen, mit den Aktionären abstimmen, wird sich nicht ganz vermeiden lassen, in der Mediation muss aber darauf geachtet werden, dass nur sachliche und lösungsorientierte Argumente und nicht die Position streitender Aktionärsgruppen zur Sprache kommen. Erst recht dürfen hier Drittinteressen nicht ins Spiel kommen.65

__________ 63 Ponschab/Dendorfer (Fn. 61), § 24 Rz. 45. 64 Auch dazu Ponschab/Dendorfer (Fn. 61), § 24 Rz. 41, 46. 65 Dem Verfasser ist ein Fall bekannt, in dem die Hausbank den Vorschlägen des von ihr empfohlenen Mediators durch eine Kreditkündigung für den Fall der Ablehnung seiner Vorschläge Nachdruck verlieh.

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Diese Zielvorstellung beeinflusst sodann auch die Entscheidung über die Kostentragung. Die Kenner des Mediationsverfahrens gehen zwar davon aus, dass dieses deutlich weniger kostet als etwa Schiedsgerichtsverfahren,66 aber das bedeutet nicht, dass hier nicht ein zusätzlicher Streitpunkt läge. Angesichts der häufig nur recht bescheidenen Vergütungen, die Aufsichtsratsmitglieder zu beanspruchen haben, und der Notwendigkeit, eine etwaige Erhöhung durch die Hauptversammlung beschließen zu lassen,67 kann hier ein Stolperstein gerade dann liegen, wenn die Aktionäre vom Mediationsverfahren ausgeschlossen oder bei ihm in den Hintergrund gedrängt werden. Nun liegt eine Vermittlung bei zentralen, oft gesetzlich vorgeschriebenen Entscheidungen des Aufsichtsrats gewöhnlich im Interesse des Unternehmens, das allerdings bei Rechtsstreitigkeiten etwa um die Mitwirkung an gesetzlich vorgeschriebenen Aufsichtsratsentscheidungen nicht ohne weiteres Partei wäre, anders etwa im Verfahren nach § 85 AktG, in dem die Anträge von der Gesellschaft, aber auch von einem einzelnen Organmitglied ausgehen können.68 Da es sich aber nicht um eine Vergütung für die Tätigkeit der Aufsichtsratsmitglieder handelt, sondern darum, ihre von Gesetz oder Satzung, also von der Organverfassung, vorgeschriebenen Entscheidungen zu ermöglichen, muss der Aufsichtsrat die Bestellung und Vergütung des Mediators beschließen können, die der Vorstand im Außenverhältnis zu vollziehen hat. Dies gilt selbst dann, wenn er, d. h. eine von ihm erwünschte oder abgelehnte Entscheidung oder auch seine eigene Position, Gegenstand der vom Mediator zu führenden Verhandlungen sind. In den Fällen der Anrufung der Hauptversammlung nach der Versagung einer notwendigen Zustimmung zu Geschäftsführungsmaßnahmen (§ 111 Abs. 4 Satz 2 AktG) ist ebenfalls klar, dass der Gesellschaft, die eine solche Entscheidung ihres obersten Organs benötigt, die Kosten eines Schlichtungsverfahrens obliegen, worüber dann zwar nicht die Hauptversammlung selber beschließen kann, was aber der Vorstand entscheiden kann und gegebenenfalls muss.

IV. Zum Schluss: Realistische Fragestellung? Die vorstehenden Überlegungen zur Eigenständigkeit und Unabhängigkeit der Entscheidungen und zur Stellung der Organmitglieder haben viel mit normativen Gegebenheiten zu tun, die zu einem nicht geringen Teil als soft law, wenn auch vielleicht als good practice, eingeordnet werden können. Aber dass man rechtliche Regeln oder auch nur Grundüberzeugungen unter den Umständen harter unternehmerischer und persönlicher Konflikte nicht strikt „durchziehen“ kann, ist nachgerade keine neue Erkenntnis, auch wenn sie nicht immer offengelegt wird. Aber die Juristen in Praxis und Wissenschaft sollten sich gerade in hoch komplexen und sozialpolitisch sensiblen Gebieten und Fragenkreisen um eine Streitkultur bemühen, in deren Ausgestaltung die Eigenständigkeit und damit der Appell an eine von Eigen- und Gruppeninteressen

__________ 66 Ponschab/Dendorfer (Fn. 61), § 24 Rz. 53. 67 Bürgers/Israel in Bürgers/Körber, 2. Aufl. 2011, § 113 AktG Rz. 17. 68 Mertens/Cahn (Fn. 25), § 85 AktG Rz. 7; Bürgers/Israel (Fn. 67), § 85 AktG Rz. 4.

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Eigenständige Wahrnehmung der Aufsichtsratspflichten – eine Selbstverständlichkeit?

tendenziell freie unternehmerische Entscheidungstätigkeit gebührend beachtet wird. Der Jubilar, der, als er in seinen „Frühzeiten“ mit dem Verfasser zusammentraf, ganz vom Gesellschaftsrecht her kam, der aber in der Folgezeit die wirtschaftliche und rechtliche Realität der Unternehmenstätigkeit bewerten zu können gezeigt hat, wird daher in dem vorstehenden Beitrag vielleicht den einen oder anderen Hinweis auf im Fluss befindliche Fragen des heutigen Unternehmensrechts finden.*

__________ * Es erscheint nicht überflüssig, darauf hinzuweisen, dass der Verfasser keine eigenen Erfahrungen mit der Mediation in innergesellschaftsrechtlichen Konflikten besitzt.

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„Sanieren oder Ausscheiden“1 Inhaltsübersicht I. Thema II. Freiwillige Beitragserhöhungen 1. Rechtscharakter des § 707 BGB 2. Schutzbereich des § 707 BGB

III. Erzwungene Freiwilligkeit 1. Das Urteil vom 19. Oktober 2009 2. Das Urteil vom 25. Januar 2011 3. Resümee IV. Ausblick

I. Thema In der Poesie heißt es am Ende unverhohlen: „Und bist Du nicht willig, so brauch ich Gewalt.“ Die moderne Verhandlungsstrategie vermeidet es, offenen Druck einzusetzen, beschränkt sich vielmehr auf verführerische Anreize, deren Ablehnung nachteilige Folgen haben können. Als Beispiel darf hier eine jüngere Rechtsprechung zur Beitragserhöhung in der Personengesellschaft dienen. Als sich abzeichnete, daß auch qualifizierte Mehrheitsbeschlüsse die überstimmten Gesellschafter nicht wirksam verpflichten können, Nachschüsse in das Unternehmensvermögen zu leisten, verbreitete die Kautelarjurisprudenz Klauseln, die die Ablehnung mit einem automatischen Verlust der Mitgliedschaft ahnden sollten. In einem vielbeachteten Urteil des II. Zivilsenats erklärte der Bundesgerichtshof ein solches Verfahren als im Ergebnis mit § 707 BGB vereinbar und bestätigte die Verurteilung des ausgeschlossenen Gesellschafters zur Zahlung eines Verlustausgleichs.2 Zwei Jahre später, am 25.1.2011, grenzte der Senat seine Rechtsprechung für einen etwas anders lautenden Gesellschaftsvertrag ein und verwarf eine Treuepflicht des nicht sanierungs- und zahlungsbereiten Gesellschafters, dem eigenen Ausschluß aus der Gemeinschaft zuzustimmen.3 Der Beitrag geht den Problemen der beiden Entscheidungen und ihrer Vorgängerinnen nach. Im ersten Abschnitt wird das mitgliedschaftliche Grundrecht auf Freiwilligkeit zusätzlicher Belastungen in den § 707 BGB, § 53 Abs. 3 GmbHG besprochen und die jetzt vollzogene Wende zum zwingenden Charakter der Vorschriften belegt. Der zweite Abschnitt bespricht anschließend die Besonderheit eines Mehrheitsbeschlusses, der die freiwillige Übernahme von Beitragserhöhungen erzwingen möchte. Gewiß ist das Verhandeln unter Druck keine Besonderheit des Gesellschaftsrechts, vielmehr eine allgemeine Proble-

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1 Für seine Unterstützung dankt der Verfasser Herrn Referendar Felix Rimkus, Mitarbeiter am Institut für Arbeits- und Wirtschaftsrecht der Universität zu Köln. 2 BGHZ 183, 1 (GbR). 3 BGH, NZG 2011, 510.

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matik des Zivilrechts, die allerdings im Gegensatz zur angloamerikanischen Tradition des undue influence hierzulande keine eigenständige Rechtsfigur darstellt. Sie wird, soweit sie nicht von § 123 BGB erfaßt wird, im Rahmen des § 138 BGB behandelt. Ein Hinweis bietet sich zum Abschluß des Beitrages an.

II. Freiwillige Beitragserhöhungen 1. Rechtscharakter des § 707 BGB Rechtsprechung und Rechtslehre vollzogen jüngst eine Akzentverschiebung in der Beurteilung des § 707 BGB: von der begrenzten Dispositivität zur grundsätzlich zwingenden Geltung der Norm. Die herrschende Meinung ging im vorigen Jahrhundert vom dispositiven Charakter der Vorschrift aus, beschränkte aber die Möglichkeit von Nachschüssen (nachträgliche Beitragserhöhung) durch Mehrheitsbeschlüsse auf für den betroffenen Gesellschafter vorhersehbare Belastungen.4 Die jüngere Rechtsprechung des II. Zivilsenats und die Rechtslehre vollzogen einen Stellungswechsel. Einmal wurde deutlicher zwischen der Möglichkeit von Mehrheitsbeschlüssen in Personengesellschaften und der Möglichkeit von Eingriffen in die Mitgliedschaft einzelner Gesellschafter unterschieden,5 zum anderen betonte der Senat in einer ganzen Entscheidungskette6 – sachlich, aber nicht verbal übereinstimmend – die Grundwertung des § 707 BGB als auch für Publikumspersonengesellschaften geltendes verbindliches Recht: Die Vorschrift enthalte ein „Grundrecht“7 jeder gesellschaftsrechtlichen Vereinigung, sie sei unabdingbar und deshalb nur ad hoc verzichtbar. Welche Belastungen im Gesellschaftsvertrag vorgesehen werden können, die eine zwar gegenwärtige, aber noch nicht fällige Beitragsschuld begründen – dafür wird vom Senat wie in einem aedilizischen Edikt eine Reihe von Beispielsregeln aufgestellt. Der Grundwertung der Rechtsprechung entspricht ein sich in der Rechtslehre anbahnender Meinungsumschwung.8 Terminologisch ist es angebracht, § 707 BGB als zwingendes Recht einzuordnen, das eine in der Gegenwart klar vorgezeichnete, aber zukunftsbezogene Beitragserhöhung nicht verhindert. Wir stehen heute in einer bis auf die Motive zum Bürgerlichen Gesetzbuch zurück gehenden Tradition, die Freiheit der Person auch in der Gemeinschaft aufrecht-

__________ 4 Vgl. statt aller Ulmer in MünchKomm. BGB, 4. Aufl. 2004, § 707 BGB Rz. 6. 5 Vgl. BGHZ 170, 283 – Otto; dazu zuletzt Wiedemann in FS Hopt, 2010, S. 1491. 6 BGH v. 4.7.2005 – II ZR 354/03, WM 2005, 1608; BGH v. 23.1.2006 – II ZR 306/04, WM 2006, 577; BGH v. 23.1.2006 – II ZR 126/04, WM 2006, 774; BGH v. 5.3.2007 – II ZR 282/05, WM 2007, 743; BGH v. 19.3.2007 – II ZR 73/06, WM 2007, 835; BGH v. 26.3.2007 – II ZR 22/06, WM 2007, 1333; BGH v. 21.5.2007 – II ZR 96/06, WM 2007, 1412. 7 BGH v. 5.3.2007, WM 2007, 743, Rz. 12; Wiedemann, Gesellschaftsrecht Bd. 1, 1980, § 7 IV 1 a, S. 393. 8 Armbrüster, ZGR 2009, 1, 9 f.; Goette, DStR 2008, 115; Nentwig, Nachschusspflichten im Verbandsrecht, 2011, S. 40 f.; ders., WM 2011, 2168; Schäfer in Gesellschaftsrecht in der Diskussion 2007, 2008, S. 137, 141; Ulmer/Schäfer in MünchKomm. BGB, 5. Aufl. 2009, § 707 BGB Rz. 4 ff.; Wiedemann in FS Priester, 2007, S. 857, 860 f.

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„Sanieren oder Ausscheiden“

zuerhalten, wie sie sich in ähnlicher Weise in § 723 Abs. 3 BGB niedergeschlagen hat. Die Schranken der Mehrbelastung, der Rechtsverkürzung und der Kündigungsbeschränkung strukturieren den Inhalt der Kernbereichslehre und damit ihre Überzeugungskraft.9 Ein historischer Rückblick bestätigt das Ergebnis. Im Preußischen Allgemeinen Landrecht (1794) war noch vorgesehen, daß eine Beitragserhöhung mit dem Ausschluß nicht zahlungsbereiter Gesellschafter erzwungen werden konnte. Das deutsche Handelsrecht hat sich bereits 1861 von dieser Tradition in Art. 92 ADHGB verabschiedet und sie wurde in den Entwürfen zu § 707 BGB ausdrücklich aufgegeben: Begründung der 2. Kommission zum (späteren) § 707 BGB, Mugdan, Bd. II (1899), S. 333:10 „Kein Gesellschafter ist verpflichtet, außer dem vereinbarten Beitrage noch etwas anderes für die Gesellschaft zu leisten, soweit nicht § 632 eingreift. Zu einer Erhöhung des vertragsmäßigen Beitrages oder zu einer Ergänzung der durch Verlust verminderten Einlage, d. h. des wirklich Eingebrachten (§ 631), ist kein Gesellschafter verpflichtet, selbst dann nicht, wenn der Zweck der Gesellschaft veränderter Umstände halber oder in Folge der Verminderung des Kapitales durch Verluste nicht erreicht werden könnte. Mit der entsprechenden Bestimmung (Abs. 3), welche selbstverständlich nur das Verhältnis unter den Gesellschaftern, nicht dasjenige zu den Gläubigern der Gesellschafter im Auge hat, tritt der Entwurf in Übereinstimmung mit dem sonst geltenden Rechte (Code 1845 ff.; Sächs. GB § 1372 [Mot. bei Siebenhaar 2 S. 337]; Schweiz. ObligR 525 ff.; hess. Entw. 369; bayer. Entw. 542 Abs. 3, dresd. Entw. 770 Abs. 2; HGB 92, 252 Abs. 2) dem ALR (aD. §§ 190–197) entgegen.“

Angesichts dieser Aussagen ist es nicht überraschend, daß sich das Reichsgericht11 in seiner ersten zur offenen Handelsgesellschaft ergangenen Entscheidung an Art. 92 ADHGB orientierte und § 707 BGB nur einen begrenzten Spielraum freigab.12 2. Schutzbereich des § 707 BGB Die Anhebung des § 707 BGB auf die Ebene des § 53 Abs. 3 GmbHG und der §§ 54, 180 AktG legt es nahe, einen allgemeinen verbandsrechtlichen Grundsatz zu erkennen, wonach es Mitgliedern in allen Gesellschaften und Körperschaften vorbehalten bleibt, zusätzliche Beiträge welcher Art auch immer, nur freiwillig zu übernehmen. Wie die gesetzlichen Vorschriften zeigen, kommt es auf die Gesellschaftsform als geschlossene oder Publikumsgesellschaft und als bürgerliche oder Handelsgesellschaft für die Geltung des Grundsatzes nicht an. Auch bedarf es keiner Analogie zu den Gesetzesvorschriften, wenn sich das Verbot einseitiger Pflichtenvermehrung oder Rechtsverkürzung einmal durchgesetzt hat. Bemerkenswert ist hier die Entwicklung im Vereinsrecht, das zum Grundrechtskatalog das Austrittsrecht in § 39 BGB beisteuert, zur Möglichkeit

__________ 9 Vgl. zur Entwicklung der Kernbereichslehre Wiedemann, Gesellschaftsrecht Bd. II, 2004, § 3 III 2 d), § 4 I 3. 10 Vgl. schon die Motive zum BGB Bd. II, 1888, S. 559 zu § 530. 11 RGZ 91, 166, 168 (OHG). 12 Staub, ADHGB, 5. Aufl. 1897, Art. 92 § 2; Wiedemann in FS Priester, 2007, S. 857, 859.

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Herbert Wiedemann

der Beitragserhöhung jedoch schweigt. Die Rechtsprechung wählte in BGHZ 105, 306, 315 ff.13 als Denkansatz für den Minderheitsschutz gegenüber Mehrheitsentscheidungen die richterliche Inhaltskontrolle nach § 242 BGB – jedenfalls für Verbände, die im wirtschaftlichen oder sozialen Bereich eine überragende Machtstellung innehaben. Das war vom Individualschutz jedes Mitglieds im Verband weit entfernt. Erst BGHZ 130, 243, 245 spricht von einem verbandsrechtlichen Grundsatz, „daß die mit der Mitgliedschaft verbundenen finanziellen Lasten sich in überschaubaren, im voraus wenigstens ungefähr abschätzbaren Grenzen halten müssen“.14 Daran knüpfen die beiden Clubentscheidungen des Senats im Jahre 2007 an.15 Aus der Erfahrung, daß viele Idealvereine ihre Finanzlage durch ein- oder mehrmalige Sonderbeiträge, Umlagen oder Finanzhilfen verbessern möchten, begründen sie die rechtliche Differenzierung zwischen regulären Beiträgen und Zusatzleistungen. Letztere müssen sich eindeutig aus der Satzung ergeben und außerdem in ihrer Höhe durch eine Obergrenze oder anderweit objektiv bestimmbar sein. Die Begründung oder Vermehrung von Leistungspflichten gegenüber dem Verein setze die Zustimmung des betroffenen Mitglieds voraus, die auch in der Satzung antizipiert werden kann. Nur aus Praktikabilitätsgründen werde für den ehrlichen Beschluß der regulären Beiträge von dieser Voraussetzung abgesehen, um eine einfache Anpassung an die allgemeine Preiserhöhung zu ermöglichen.16 Das zeigt deutlich, daß § 707 BGB im Recht des Idealvereins keine, auch keine analoge Anwendung findet, der einheitliche Rechtsgedanke vielmehr in jeder Gesellschaftsform seine eigene Ausprägung erfährt. Innerhalb des Anwendungsbereichs des § 707 BGB wird die Voraussetzung freiwillig übernommener Beitragserhöhungen bejaht, wenn die Höhe der gegenwärtigen und zukünftigen Belastungen mit der Angabe eines objektiven Höchstwertes vorhersehbar ist. Damit ist ohne weiteres vereinbar eine Verpflichtung der Beitragszahlung in einem Grundbetrag und später von der Gesellschaft abgerufenen Zusatzleistungen (gespaltene Beitragspflicht), wenn nur die Gesamtsumme feststeht. Das Ergebnis entspricht allgemeiner Rechtsansicht und wird mit einer antizipierten Zustimmung der betroffenen Mitglieder begründet. Nicht unbedenklich sind indes Formulierungen, wonach sich Beiträge und Nachschüsse in anderer Weise, insbesondere aus dem Zweck der Gesellschaftsgründung ergeben dürfen. So lesen wir etwa in: BGH v. 23.1.2006, WM 2006, 774, Rz. 14: „Die – dispositives Recht enthaltende – Regelung in § 707 BGB greift u. a. dann nicht ein, wenn die Höhe der Beiträge im Gesellschaftsvertrag nicht ziffernmäßig fixiert ist, sondern in objektiv bestimmbarer, künftigen Entwicklungsmöglichkeiten Rechnung tragender Weise ausgestaltet ist. Dies ist z. B. anzunehmen, wenn sich die Gesellschafter keine der Höhe nach festgelegten Beiträge versprochen, sondern sich ausdrücklich oder stillschweigend verpflichtet haben,

__________ 13 BGHZ 105, 306, 315 ff. (genossenschaftlicher Prüfungsverband). 14 BGHZ 130, 243 (genossenschaftlicher Prüfungsverband) mit inhaltlich etwas geringeren Anforderungen; Nentwig (Fn. 8), S. 189 f. 15 BGH, NZG 2008, 38 (Segelclub); BGH, NZG 2008, 675 (Golfclub). 16 Zuletzt bestätigt in NZG 2010, 1112, 1113 (Kreditgenossenschaft) für umsatzabhängige Beitragsgestaltung.

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„Sanieren oder Ausscheiden“ entsprechend ihrer Beteiligung an der Gesellschaft das zur Erreichung des Gesellschaftszwecks Erforderliche beizutragen (Sen.Urt. v. 4. Juli 2005 = WM 2005, 2046 = ZIP 2005, 1455, 1456; v. 2. Juli 1979 = WM 1979, 1282, 1283; v. 7. November 1960 = WM 1961, 32, 34).“

Für Publikumsgesellschaften wie geschlossene Immobilienfonds reicht ein solcher Hinweis im Gesellschaftsvertrag – und erst recht im Verkaufsprospekt – auf etwaige Zusatzfinanzierungen nicht aus. Wie bei allen „Kapitalsammelbecken“ rechnet der typische Anlagegesellschafter damit, über das gezeichnete Kapital hinaus nicht zur Weiterfinanzierung oder Verlustdeckung herangezogen zu werden. Und er darf damit rechnen, weil derartige Umschreibungen keine hinreichende Warnung vor den Gefahren der Beteiligung enthalten. Die Grenzen der Selbstbindung werden nicht nur durch die Genauigkeit der Risikoübernahme, sondern zusätzlich durch die Gefahr gezogen, die Wahrscheinlichkeit eines unglücklichen Verlaufs zu gering einzuschätzen. Auf die damit verbundenen Gesichtspunkte hat neuerdings die verhaltenswissenschaftliche Forschung (behavioral law and economics) eindringlich hingewiesen und sie am Beispiel der Vertragsstrafe illustriert.17 Der deutsche Gesetzgeber berücksichtigte dies schon in § 343 BGB. Auf die ökonomische Theorie ist anderweit zurückzukommen. Hier bleibt nur festzuhalten, daß Optimismus bei geschlossenen Immobilienfonds nicht durchweg angebracht und eine freiwillige Unterwerfung unter Mehrheitsbeschlüsse im Zweifel nicht anzunehmen ist. In der dem gesetzlichen Leitbild entsprechenden Gesellschaft mit geschlossenem Mitgliederkreis gilt für Bar- und Geldeinlagen die Pflicht zur Angabe der Höchstbelastung. Schwieriger ist die Beurteilung von Vertragsklauseln, die die Gesellschafter zu laufenden Sach- und Dienstleistungen verpflichten, soweit sie zur Bewältigung der Gemeinschaftsaufgaben notwendig sind. Typische Beispiele sind die Arbeitsgemeinschaften des Baugewerbes und im Privatverkehr die sog. Gelegenheitsgesellschaften (gemeinsame Miete einer Ferienwohnung). Wenn sich die Leistungen nicht im Einzelnen auflisten lassen, wird es darauf ankommen, wenigstens Art und Umfang des Projekts und die Lastenverteilung unter den Gesellschaftern so genau zu umschreiben, daß der Leistungsgrad erkennbar wird.

III. Erzwungene Freiwilligkeit Angesichts der geschilderten Urteilsreihe, die die Tradition fortsetzten und sie vertieft begründeten, überraschte der II. Zivilsenat die Öffentlichkeit mit seinen jüngsten Erkenntnissen zu geschlossenen Immobilienfonds – erst mit dem Urteil vom 19.10.200918 (Sanieren oder Ausscheiden) und abermals mit dem Urteil vom 25.1.2011.19 Die ausgearbeitete Grundwertung des Gesellschafterschutzes wird zwar in dem ersten Judikat nicht aufgegeben, aber auch nicht weitergeführt, weil der Streitgegenstand sich nach Auffassung des Senats auf

__________ 17 Vgl. Englerth in Engel u. a., Recht und Verhalten, 2007, S. 60, 114 ff. 18 BGHZ 183, 1. 19 BGH, WM 2011, 885 = NZG 2011, 510.

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Herbert Wiedemann

Zahlung des Verlustausgleichs bei Liquidation beschränkte. Das jüngste Urteil vom 25.1.2011 lehnt dagegen eine Zustimmungspflicht der die Kapitalerhöhung nicht billigenden Gesellschafter auch im Sanierungsfall ausdrücklich ab, konnte sich allerdings auf einen die Situation zureichend regelnden Gesellschaftsvertrag berufen. 1. Das Urteil vom 19. Oktober 2009 Das Urteil BGHZ 183, 1 ist unbefriedigend. Die Gesellschafter einer GmbH & Co. KG beschlossen mit gehöriger Mehrheit eine Kapitalherabsetzung und eine abschließende Kapitalerhöhung, um das verbrauchte Eigenkapital durch frische Finanzmittel zu ergänzen. In den Gesellschaftsvertrag wurden laut Urteil folgende Bestimmungen aufgenommen: „Das herabgesetzte Nominalkapital (Altkapital) betrug 78.529,83 Euro. Es wurde um 4.645.598,03 Euro (Neukapital) auf insgesamt 4.724.127,86 Euro (Gesamtkapital) erhöht. Die verbindliche Übernahme des Neukapitals erfolgte durch Zeichnung von Kapitalerhöhungsvereinbarungen auf freiwilliger Basis, und zwar aufschiebend bedingt durch die Aufbringung des Neukapitals.“ Gleichzeitig wurden die Bestimmungen zum Ausscheiden eines Gesellschafters durch eine Klausel ergänzt, wonach ein Gesellschafter automatisch aus der Gesellschaft ausscheidet, wenn „d) er nicht bis zum 31. Dezember 2003 rechtsverbindlich einen seiner bisherigen Beteiligungshöhe an der Gesellschaft entsprechenden Anteil an der am 19. Oktober 2002 beschlossenen bedingten Kapitalerhöhung übernommen hat“. Der Senat hält die neu formulierten Vertragsbestimmungen für wirksam und erklärt die zur Kapitalerhöhung nicht bereiten Gesellschafter für verpflichtet, die Folgen des unfreiwilligen Ausscheidens zu tragen. Es sei eben treuwidrig, weitere Finanzzuschüsse zu verweigern und gleichzeitig an der Gesellschaft beteiligt zu bleiben (Rz. 22). Die Statutenänderung durch die Gesellschafter und ihre Billigung durch den Bundesgerichtshof erfordern mehrere Denkansätze.20 – Zunächst ist die Bedeutung der Zustimmung und einer etwaigen Zustimmungspflicht zu einem Gesellschafterbeschluß zu prüfen. Die Urteilsgründe berufen sich auf eine frühere Rechtsprechung und eine wissenschaftliche Diskussion, die eine Treuepflicht zur Abgabe einer Zustimmungserklärung erörterte, unter außergewöhnlichen Umständen eine Mehrheitsentscheidung herbeizuführen oder einer solchen nicht zu widersprechen bzw. ihr nachträglich zuzustimmen.21 Die Erörterung betraf jeweils Änderungen des Gesellschaftsvertrages, jedoch mit sehr unterschiedlichem Inhalt und, soweit ersichtlich, nicht zum Zweck der Beitragserhöhung. Unmittelbar einschlägig sind folgende Entscheidungen:

__________ 20 Vgl. dazu u. a. Armbrüster, ZGR 2009, 1; Nentwig (Fn. 8), S. 164 ff.; Priester, ZIP 2010, 497; K. Schmidt, JZ 2010, 125; Wagner, WM 2010, 1684; H. P. Westermann, NZG 2010, 321. 21 Vgl. schon Zöllner, Die Anpassung von Personengesellschaftsverträgen an veränderte Umstände, 1979.

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„Sanieren oder Ausscheiden“

BGHZ 129, 136–177

20.3.1995

II ZR 205/94

Pflicht zur positiven Stimmabgabe zu einer Kapitalherabsetzung innerhalb eines Sanierungskonzepts (Girmes-AG); BGH, WM 1994, 2244–2246

10.10.1994

II ZR 18/94

Keine Zustimmungspflicht zur Einschränkung des vertraglichen Informationsrechts des Gesellschafters (KG); BGH, WM 1987, 133–135

20.10.1986

II ZR 86/85

Zustimmungspflicht des Mitgesellschafters zu vom Gesellschaftsvertrag abweichender Nachfolgeregelung (OHG); BGHZ 98, 276–284

25.9.1986

II ZR 262/85

Zustimmungspflicht von GmbH-Gesellschaftern zur Erhöhung des Mindestkapitals infolge der GmbH-Novelle 1980 (GmbH); BGH, WM 1986, 68–70

21.10.1985

II ZR 57/85

Fortsetzung einer aufgelösten OHG oder Ausscheiden zum Vollwert (OHG); BGH, WM 1985, 256–258

19.11.1984

II ZR 102/84

Zustimmungspflicht zur Ermächtigung eines Verwaltungsrats, die Verzinsung von Darlehen hinauszuschieben (PublKG); BGH, WM 1985, 195–196

5.11.1984

II ZR 111/84

Klare Trennung zwischen Pflicht zur Stimmabgabe und Zustimmungspflicht zum Verzicht auf Verzinsung (PublKG); BGHZ 64, 253–259

28.4.1975

II ZR 16/73

Zustimmungspflicht zur Ausschlußklage (KG); BGH, WM 1973, 990–992

7.12.1972

II ZR 131/68

Grundsätzlich keine Zustimmungspflicht zur Verlängerung der Gesellschaftsdauer (KG); BGHZ 44, 40–42

10.6.1965

II ZR 6/63

Grundsätzlich eine Zustimmungspflicht zur Gehaltserhöhung des geschäftsführenden Gesellschafters (OHG); BGH, WM 1961, 301–303

26.1.1961

II ZR 240/59

Zustimmungspflicht eines minderjährigen Gesellschafters zum Austritt eines Mitgesellschafters (OHG); BHG, WM 1960, 105–106

17.12.1959

II ZR 81/59

Zustimmungspflicht zur Aufgabe des Geschäftsbetriebs bei Unhaltbarkeit der wirtschaftlichen Lage einer Gesellschaft (KG).

Die Übersicht zeigt, daß es notwendig ist, zwischen der Pflicht zu einer notwendigen positiven Stimmabgabe und zu einer Zustimmung (im engeren Sinn) zu Veränderungen in der Mitgliedschaft zu unterscheiden. Der erste Fall betrifft alle Gesellschafterbeschlüsse, die eine Vertragsänderung herbei1343

Herbert Wiedemann

führen wollen (Beispiel: Einführung der Gesamtvertretung), der zweite behandelt Beschlüsse, mit denen in die Rechts- und Pflichtenstellung des einzelnen Gesellschafters eingegriffen wird (Beispiel: Änderung des Gewinnverteilungsschlüssels). Im ersten Fall geht es um die Herbeiführung eines gesetzlich oder vertraglich notwendigen Mehrheitsbeschlusses, im zweiten Fall um die Verhinderung eines Mehrheitsbeschlusses, der Mehrbelastungen oder Rechtsverkürzungen in den Beteiligungen auslösen würde. – Die Pflicht, sich an einer Kapitalerhöhung zu Sanierungszwecken zu beteiligen, setzt eine individuelle Zustimmung jedes Gesellschafters oder deren Ersatz durch Richterspruch voraus. Die Zulässigkeit eines alle Gesellschafter bindenden Sanierungskonzepts begründet der Senat damit, daß es für die betroffenen Gesellschafter zumutbar war, weiteres Kapital in den geschlossenen Immobilienfonds anzulegen, während es – und dieser Gesichtspunkt dominiert – für die Gesellschaftermehrheit unzumutbar sei, in Zukunft mit Teilhabern rechnen zu müssen, die sich an der Bewältigung der Krise gerade nicht beteiligt haben. Der Konflikt läßt sich indes mit einer bloßen Interessenabwägung schwerlich lösen. Mehrheit und Minderheit werden vom Gewinn und Risiko vielfach verschieden belohnt. Die Mehrheit trägt gemeinhin die Verantwortung für die Geschäftspolitik, kann dafür bei einer Veräußerung einen Zuschlag in Rechnung stellen (sog. Paketzuschlag), an dem die Minderheit nicht beteiligt wird. Zum zweiten wird man die Frage aufwerfen, ob der Gesichtspunkt der Zumutbarkeit den zutreffenden Maßstab zur Rechtfertigung von Sonderopfern darstellt. Das ist bisher wenig untersucht worden und im Ergebnis meines Erachtens zu verneinen. Für Ein- und Übergriffe in die Mitgliedschaft bedarf es der individuellen Zustimmung oder der genaueren Voraussetzungen des Verhältnismäßigkeitsprinzips.22 Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit setzt nicht das überwiegende Interesse der Mehrheitsgruppe voraus, sondern die Rücksicht auf das Wohl der Gesellschaft und ihres Unternehmens. Auch auf Seiten der widersprechenden Gesellschafter entscheidet über die Treuepflicht nicht das Maß der zumutbaren Belastung, sondern die ultima ratio des von ihnen geforderten Einsatzes.23 Nach der Grundwertung des § 707 BGB ist die nachträglich veranlaßte Beitragserhöhung nur unter diesen Bedingungen erlaubt und scheidet folglich beim Vorhandensein alternativer Mittel von vornherein aus. Auf den gegebenen Fall angewandt, hätte sich die Mehrheit der Gesellschafter mit einem Kapitalschnitt mit Beteiligungsreduzierung begnügen müssen, der sich als mildestes Mittel geradezu aufdrängte und im Schrifttum verschiedentlich angesprochen wurde.24

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22 Vgl. zur Geltung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes für Eingriffe in die Mitgliedschaft aber BGH, WM 1994, 2244 (KG: kein pauschaler Ausschluß des Informationsrechts); vertiefend zu den Wirksamkeitsvoraussetzungen von Ausschlußklauseln Hofmann, Der Minderheitsschutz im Gesellschaftsrecht, 2011, S. 371 ff. 23 Vgl. zur eigennützigen und fremdnützigen Ausübung von Mitgliedschaftsrechten ausführlich Bieder, Der ungeschriebene Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, 2007, S. 290 ff.; vgl. aus der Sicht der Verhaltensökonomik Magen, Fairness, Eigennutz und die Rolle des Rechts, in Engel, Recht und Verhalten, 2007, S. 261 ff. 24 Vgl. Schäfer, Gesellschaftsrecht in der Diskussion 2007, 2008, S. 137, 146.

1344

„Sanieren oder Ausscheiden“

– Das leitet zum Kernpunkt der Kritik über. Der einschlägige Gesellschaftsvertrag sah eine „freiwillige“ Leistungsvermehrung vor, die bei Nichterfüllung mit einer automatischen Vertragsstrafe gekoppelt war. Der Vertrag war mithin widerspruchsvoll und hätte einer Transparenzkontrolle schwerlich standgehalten – gerade in einer Publikumsgesellschaft bedenklich. Es ist unbillig, wenn ein Gesellschaftsvertrag zunächst die Freiwilligkeit zusätzlicher Einlagen versichert, die Ablehnung eines Sanierungsbeitrags aber an anderer Stelle mit einem automatischen Verlust der Beteiligung geahndet wird. Außerdem war die vorgegebene Wahlfreiheit durch die Ungewißheit der mit der Teilliquidation verbundenen Vermögensverluste verbunden, die zahlungsunwilligen Gesellschafter sollten sich binnen einiger Monate für oder gegen eine Alternative aussprechen, die noch während des sich anschließenden Rechtsstreits offen blieb.25 Isoliert kann in einem Gesellschaftsvertrag schon in der Gründung oder bei Vertragsänderung einstimmig beschlossen werden, die Mitgliedschaft einzelner Teilhaber solle beim Eintritt objektiver Voraussetzungen beendet werden. Entgegen dem Wortlaut des § 131 Abs. 2 Nr. 5 HGB bedarf eine solche Klausel eines rechtfertigenden Sachgrundes wie Änderung des Familienstandes oder Aufgabe der Geschäftsführertätigkeit. Schwere Verfehlungen wie Geheimnisverrat oder Untreue sind als automatische Ausschlußgründe vorstellbar. Ob die im Sachverhalt „Sanieren oder Ausscheiden“ vorgesehene Kombination von Einlageverpflichtung oder Ausschlußfolge anläßlich der Begründung der Mitgliedschaft verabredet werden kann, ist schon bedenklich. Ein ad hoc eingeführter Wahlzwang verstößt jedenfalls gegen das Schutzgebot des § 707 BGB, weil die Warnfunktion der Vorschrift nicht erfüllt wird und von einer vorhersehbaren Höchstbelastung nicht die Rede sein kann. Ein Widerspruch gegen den Verlust der eigenen Beteiligung kann nicht treupflichtwidrig sein; die Rücksicht auf die Existenz der gemeinsamen Unternehmung kann eine Ausschüttungssperre rechtfertigen, den typischen Anlagegesellschafter indes nicht zu weiteren Vermögensopfern verpflichten. 2. Das Urteil vom 25. Januar 2011 Das jüngste Urteil vom 25.1.2011 entschied wiederum über die Auslegung des Gesellschaftsvertrages eines geschlossenen Immobilienfonds, der ebenfalls für die Erhöhung des Gesellschaftskapitals die Zustimmung aller Gesellschafter voraussetzte und zahlungsunwillige Mitglieder nach fruchtlosem Ablauf der Zeichnungsfrist automatisch aus der BGB-Gesellschaft ausschloß. In der neuen Entscheidung lag aber ein Gesellschaftsvertrag mit einer bemerkenswerten Abweichung vor; sie lautete in § 4 Abs. 5 Gesellschaftsvertrag: „Die Erhöhung des Gesellschaftskapitals ist nur mit Zustimmung aller Gesellschafterstimmen zulässig, sofern bei Überschreitung der Gesamtkosten für das gesellschaftseigene Bauvorhaben Eigengelder soweit zu erhöhen sind, wie es die Beendigung des Bauvorhabens erforderlich macht. Kommt ein einstimmiger Beschluss nicht zustande, so sind die zustimmenden Gesellschafter berechtigt, ihre Einlagen – soweit erforderlich –

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25 Ausführlich dazu H. P. Westermann, NZG 2010, 320.

1345

Herbert Wiedemann zu erhöhen. Die nicht zustimmenden Gesellschafter haben in diesem Fall eine Verringerung ihres Beteiligungsverhältnisses hinzunehmen.“

Als der Kläger der Beitragserhöhung nicht zustimmte und während der Zeichnungsfrist auch keine Leistung erbrachte, behandelte ihn die Beklagte als aus der Gesellschaft automatisch ausgeschieden. Der Kläger erhob Klage auf Feststellung, daß das Gesellschaftsverhältnis mit ihm fortbestehe. Die Klage hatte in allen drei Instanzen Erfolg.26 Der II. Zivilsenat stellt in den Gründen zunächst fest, eine antizipierte Zustimmung zu einem bestimmten Sanierungsbetrag sei in dem Statut nicht genannt und eine Zustimmungspflicht zu einem ad-hoc begründeten (eigenen) Beteiligungsverlust komme nicht in Frage, weil die Gesellschafter angesichts des § 4 Abs. 5 Gesellschaftsvertrag nur mit einem Kapitalschnitt rechnen mußten.27 Entkräftet könne die Kernbereichslehre allein unter hier nicht gegebenen Voraussetzungen überwunden werden. Es stellte sich als Fehler heraus, die Zahlungsunwilligkeit einiger Mitgesellschafter sogleich mit dem Entzug der Mitgliedschaft abstrafen zu wollen, statt den im eigenen Statut vorgezeichneten Weg einer Neustrukturierung des Beteiligungsbesitzes anzutreten. 3. Resümee Als Ergebnis der Entwicklung lassen sich zusammenfassend folgende Thesen aufstellen: (1) Der Gesellschaftsvertrag kann nach den § 709 Abs. 2 BGB und § 119 Abs. 2 HGB Mehrheitsbeschlüsse vorsehen, muß aber dann die Zuständigkeit der Gesellschaftermehrheit hinreichend deutlich regeln. Für Vertrags- und Strukturänderungen sollte eine qualifizierte Mehrheit vorgeschrieben sein. (2) Wird die notwendige Einstimmigkeit oder Mehrheit nicht erreicht, so kann die Minderheit zu einer positiven Stimmabgabe kraft Treuepflicht verpflichtet werden; Voraussetzung ist dafür, daß die Gesellschaft ein objektiv berechtigtes Interesse an der geplanten Maßnahme nachweisen kann und ihre Durchführung für die sich enthaltenden oder widersprechenden Mitglieder zumutbar ist. (3) Ein Eingriff in die Mitgliedschaft der einzelnen Gesellschafter setzt ihr freiwilliges Einverständnis voraus. Dabei stehen Pflichtenvermehrung und Rechtsverkürzung gleich. (4) Die Zustimmung zu späteren Beitragserhöhungen (Nachschüssen) kann im Gesellschaftsvertrag im Voraus erklärt werden; in Publikumsgesellschaften nur unter Angabe eines Höchstbetrages, in geschlossenen Personengesellschaften in einem objektiv vorhersehbaren Umfang. Die Pflicht kann bei Gründung oder Beitritt aufschiebend bedingt entstehen oder sich auf die spätere Abgabe der Zustimmung beschränken.

__________ 26 BGH, WM 2011, 885 = NZG 2011, 510 (GbR); vgl. dazu Miras, DStR 2011, 318; St. Schneider, NZG 2011, 575; Stöber, BB 2011, 1104. 27 Deutlich einschränkend zur Sanieren oder Ausscheiden-Entscheidung bereits vorher der Hinweisbeschluss des Senats NZG 2010, 701, 702.

1346

„Sanieren oder Ausscheiden“

(5) Der Mangel einer Zustimmung kann nicht durch die Berufung auf die Treuepflicht überwunden werden. Dem steht der zwingende Charakter des § 707 BGB entgegen. (6) Eine Nachschußpflicht kann ohne oder gegen den Willen eines Gesellschafters als Eingriff in die Mitgliedschaft nur unter den strengen Voraussetzungen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes gerechtfertigt werden; die geplante Maßnahme muß mithin objektiv geradezu unumgänglich sein und eine beabsichtigte Einschränkung das schonendste Mittel zur Zweckerreichung darstellen. (7) Fehlt es im Sanierungsfall an der für die Einstimmigkeit oder für einen Mehrheitsbeschluß notwendigen positiven Stimmabgabe und wird diese wegen Treupflichtwidrigkeit ersetzt, so kann ein vorbehaltlos zustande gekommener Beschluß für die zustimmenden Mitglieder wirksam und verbindlich bleiben, allerdings nur in Höhe der ursprünglich übernommenen Nachschußquote.

IV. Ausblick Die Suche nach weiteren Fällen einer in erheblicher Bedrängnis abgegebenen freiwilligen Zustimmung eines Vertragspartners ist wenig erfolgreich. Zunächst denkt man an das unter Druck abgegebene Einverständnis mit einer Nachschußpflicht in den beiden Kapitalgesellschaften, insbesondere in der den Publikumsgesellschaften verwandten Aktiengesellschaft. Hier ist das Prinzip garantierter Risikobeschränkung gerade zwingend in den §§ 54, 55 AktG durchgeführt und es sind wenig Fälle vorstellbar, in denen ein Aktionär unter dem Gesichtspunkt der Treuebindung zu einer Teilnahme an einer Kapitalerhöhung verpflichtet sein kann. In der GmbH ist die Nachschußpflicht in den §§ 26 ff. GmbHG geregelt. Sie verlangt Aufnahme eines sachlich und zeitlich bestimmbaren Rahmens in die Satzung und kann gemäß § 53 Abs. 3 GmbHG nachträglich nur mit Zustimmung aller Gesellschafter aufgenommen werden. Bei unbeschränkter Nachschußpflicht sieht das Gesetz in § 27 GmbHG ein Preisgaberecht des Gesellschafters anläßlich der Durchführung vor; wieweit der Gesellschafter zum Austritt aus der GmbH gezwungen werden kann, wurde in der höchstrichterlichen Rechtsprechung bislang nicht erörtert.28 Im allgemeinen Recht wird der Schutz vor Zustimmungserklärungen in Druck- und Grenzsituationen durch § 123 BGB und § 138 Abs. 2 BGB gewährleistet, deren Voraussetzungen im hier erörterten Zusammenhang aber meist nicht erfüllt sind. Das englische und amerikanische Recht haben für diese Grauzone freiwilliger Willenserklärungen eine eigene Rechtsfigur der undue influence geschaffen, mit deren Hilfe „unerwünschte Verträge“ kontrolliert werden können.29 Anschaulich beschreibt Farnsworth, Contracts, 1999, § 4.20, die Rechtsfigur:

__________ 28 Sonderfall der Zustimmungspflicht bei Gesetzesänderungen in BGHZ 98, 276 (GmbHNovelle). 29 Vgl. Stephan Lorenz, Der Schutz vor dem unerwünschten Vertrag. Eine Untersuchung von Möglichkeiten und Grenzen der Abschlusskontrolle im geltenden Recht, 1997; dort zur Rechtslage im englischen Recht, S. 453 ff.

1347

Herbert Wiedemann „In contrast to the common law notion of duress, the essence of which was simple fear inducted by threat, the equitable concept of undue influence was aimed at the protection of those affected with a weakness, short of incapacity, against improper persuasion, short of misrepresentation or duress, by those in a special position to exercise such persuasion.“

Das Gesellschaftsrecht weist sicher Sonderverbindungen im Sinne dieser Rechtsfigur auf, weil einzelne Gesellschafter nicht unter Druck auf ihre freie Rechtsausübung verzichten wollen – eine These die bereits der bekannten Damokles-Entscheidung des II. Zivilsenats zugrunde lag.30

__________ 30 BGHZ 81, 263 (KG).

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Margret Wintermantel und Brigitte Göbbels-Dreyling

Anwalt der Universitäten – Peter Hommelhoffs hochschulpolitisches Engagement Inhaltsübersicht I. Einleitung II. Der Paradigmenwechsel 1. Wettbewerb und Profilbildung 2. Die Neujustierung des Verhältnisses von Staat und Hochschulen 3. Die europäische Studienreform 4. Neue Orientierungen für die Hochschulforschung 5. Zunehmende Differenzierung im Hochschulbereich 6. Veränderte Zuständigkeiten durch die Föderalismusreform III. Die Positionierung der Universitäten zu den Veränderungen 1. Die Exzellenzinitiative als Nagelprobe für den Zusammenhalt der Universitäten 2. Promotion als Proprium der Universitäten a) Keine Zweiklassengesellschaft der Universitäten

b) Verhältnis von Universitäten und außeruniversitären Forschungseinrichtungen c) Verhältnis von Universitäten und Fachhochschulen 3. Verstärkte Zusammenarbeit mit der DFG 4. Lehre und Studium an Universitäten a) Wettbewerb von Universitäten und Fachhochschulen im Bereich der Ausbildungsangebote b) Absage an neue Personalkategorien wie Lehrprofessur 5. Überlegungen zur Finanzierung der Hochschulen 6. Die Satzungsreform der Hochschulrektorenkonferenz IV. Fazit

I. Einleitung Neben seinem umfangreichen fachlichen Engagement und dem Amt des Rektors der Universität Heidelberg war Professor Dr. Dr. h.c. mult. Peter Hommelhoff vom 1.8.2004 bis zum 31.7.2008 Sprecher der Mitgliedergruppe Universitäten in der Hochschulrektorenkonferenz und damit zugleich Vizepräsident der Hochschulrektorenkonferenz. Der folgende Beitrag soll diese Facette seines Wirkens beleuchten. Sie spielte sich in einer Zeit umfassender struktureller Veränderungen im Wissenschafts- und Hochschulbereich ab. Peter Hommelhoff hat in dieser schwierigen Umbruchphase die Universitäten klug beraten, ihren Diskussionsprozess organisiert und ergebnisorientiert vorangetrieben. Er leistete damit auch einen wesentlichen Beitrag zur Verständigung der Hochschulen über das Umgehen mit den Veränderungen. Nicht zuletzt dank seines Engagements gingen die Universitäten und die Hochschulrektorenkonferenz als Organisation gefestigt aus diesem Prozess hervor. Einige Initiativen, die er in seiner Amtszeit angestoßen hat, kamen erst im Nachhinein zum Tragen. So 1349

Margret Wintermantel und Brigitte Göbbels-Dreyling

wirkt Peter Hommelhoff auch im hochschulpolitischen Feld über den Tag hinaus.

II. Der Paradigmenwechsel 1. Wettbewerb und Profilbildung Man kann die Entwicklung an den deutschen Universitäten und Hochschulen in den vergangenen 20 Jahren als den tiefgreifendsten Wandlungsprozess seit Humboldts Zeiten bezeichnen. Vor dem Hintergrund knapper werdender öffentlicher Mittel wurde die über Jahrzehnte hinweg in Deutschland verfolgte idealtypische Vorstellung, dass alle Universitäten von gleicher Qualität seien, vollständig aufgegeben. Wettbewerb zwischen den Hochschulen und Profilbildung rückten immer stärker in den Fokus der hochschulpolitischen Diskussion. Jede Universität, jede Hochschule war von nun an aufgefordert, ihr eigenes Profil zu entwickeln, um ihre nationale und internationale Wettbewerbsfähigkeit zu sichern. Vom Wettbewerb zwischen den Institutionen erhoffte man sich den gleichen Effekt wie vom wirtschaftlichen Wettbewerb: Effizienzsteigerung. Die Orientierung an einem „Wissenschaftsmarkt“ sollte eine messbare Verbesserung des Verhältnisses von öffentlichem Mitteleinsatz und Leistungen der Hochschulen auslösen. Mit vorgegebenen Mitteln sollten die Hochschulen ein möglichst gutes Ergebnis erzielen. 2. Die Neujustierung des Verhältnisses von Staat und Hochschulen Die erfolgreiche Verankerung wettbewerblicher Elemente setzte aber voraus, dass das staatliche Reglementierungsbedürfnis zurückgefahren und den Hochschulen in Bereichen wie Zulassung, Finanzen, Besoldung mehr Autonomie zugestanden wurde und innerhalb der Hochschulen adäquate Entscheidungsstrukturen geschaffen wurden. Das Verhältnis zwischen Staat und Hochschulen wurde deshalb schrittweise neu justiert. Der Staat zog sich mehr und mehr aus der kleinteiligen Steuerung der Hochschulen zurück. Im Gegenzug mussten die Hochschulen dem Staat und den Steuerzahlern nachvollziehbar ihre Leistungen darlegen. Es wurden neue Instrumente wie Globalhaushalte, Kosten-Leistungs-Rechnung, Controlling, strategische Planung, Zielvereinbarungen, Evaluation und Akkreditierung eingeführt. 3. Die europäische Studienreform Parallel wurde die Studienreform mit einer umfassenden Revision von Studieninhalten und -struktur angestoßen, ein Mammutprojekt, das von den europäischen Bildungsministern beschlossen wurde. Die deutschen Hochschulen nahmen diese Herausforderung an, weil sie neben der Chance einer weiteren internationalen Öffnung und von mehr Mobilität der Studierenden die Möglichkeit erkannten, ihre Studienangebote zu modernisieren, flexibler an den sich 1350

Anwalt der Universitäten – Peter Hommelhoffs hochschulpolitisches Engagement

stetig wandelnden Bedarf anzupassen, die Studienzeiten zu verkürzen und die Abbruchquoten zu senken. Der Bologna-Prozess forderte Lehrenden und Lernenden Einiges ab. Die Umsetzung der Idee des individuelleren Lernens, sowie der intensiveren Begleitung der Studierenden war mit einem äußerst arbeits- und zeitintensiven Umstellungsprozess verbunden. Staatlicherseits blieb der Bologna-Prozess aber ohne finanzielle Unterstützung. Die für die Reform unerlässliche Verbesserung der Betreuungsrelationen konnte so nicht realisiert, gute Konzepte nicht hinreichend unterfüttert werden. Die vor allem daraus resultierenden Defizite behinderten den Reformprozess und verstärkten die Skepsis in und außerhalb der Hochschulen. 4. Neue Orientierungen für die Hochschulforschung Zugleich entspann sich eine Diskussion über die Leistungsfähigkeit der deutschen Hochschulen in der Forschung. Immer häufiger wurde die Frage gestellt, warum große deutsche Wirtschaftsunternehmen Forschungslabore an amerikanischen oder Schweizer Universitäten finanzieren, aber keine Investitionen an deutschen Hochschulen tätigen und warum deutsche Hochschulen in internationalen Rankings nur mittlere Platzierungen erreichen. Man begann über eine Strategie nachzudenken, wie man den deutschen Hochschulen zu größerer internationaler Sichtbarkeit verhelfen könnte. Die von Bund und Ländern finanzierte Exzellenzinitiative wurde mit dem Ziel entwickelt, einige Leuchttürme in der Hochschullandschaft zu schaffen, die international sichtbar und konkurrenzfähig sind, deren Konzepte aber auch Orientierung für die anderen nationalen Einrichtungen sind und diese ebenfalls voranbringen. 5. Zunehmende Differenzierung im Hochschulbereich Exzellenzdiskussion und Wettbewerb setzten einen Prozess der Differenzierung zwischen den Hochschulen in Gang, dessen Ende heute noch nicht abzusehen ist. Konnten sich viele Hochschulen jahrelang hinter der Gleichheitsfiktion verstecken, kam es nun darauf an, im Wettbewerb mit anderen Hochschulen zu zeigen, dass sie besser oder zumindest nicht schlechter sind als andere. Die große Zahl von Universitäten, die am Exzellenzwettbewerb teilnahm, zeigte, wie groß der Ehrgeiz war, zu den renommierten Forschungsuniversitäten zu gehören. Ebenso groß war aber auch die Befürchtung, nicht ausgewählt zu werden und damit zu den Verlierern gezählt zu werden. Denn damit bestand die Gefahr, den Anschluss an die Spitzengruppe zu verlieren, weil die ausgewählten Hochschulen über einen längeren Zeitraum mit beträchtlichen Mitteln gefördert werden sollten und damit eine bessere Ausgangsposition im Wettbewerb um weitere Mittel erhielten. Der Wissenschaftsrat beschäftigte sich in seinen Empfehlungen vom Januar 20061 sogar mit der Frage, ob die Ausbildung des wissenschaftlichen Nachwuchses langfristig auf die forschungsstarken Hochschulen konzentriert werden solle. Dies verstärkte den

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1 Wissenschaftsrat: Zur künftigen Rolle der Universitäten im Wissenschaftssystem, Januar 2006.

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Konkurrenzdruck weiter und leitete eine Diskussion über die Entstehung einer Zweiklassengesellschaft der Universitäten ein. 6. Veränderte Zuständigkeiten durch die Föderalismusreform Als wäre dies der Veränderung und Infragestellung nicht genug, gesellte sich zur gleichen Zeit die Diskussion über veränderte Zuständigkeiten von Bund und Ländern für die Hochschulpolitik hinzu. Die sogenannte Föderalismuskommission von Bundestag und Bundesrat2 beriet über eine Abschaffung der Rahmengesetzgebungskompetenz des Bundes im Bereich der Hochschulpolitik. Sämtliche Regelungsbereiche der Hochschulpolitik mit Ausnahme von Hochschulzugang und Hochschulabschlüssen sollten künftig in die konkurrierende Gesetzgebung der Länder fallen. Der Bund sollte sich zudem weiter aus der Finanzierung der Hochschulen zurückziehen. Die Kooperation von Bund und Ländern bei der Finanzierung der Hochschulen wurde praktisch unmöglich gemacht. Schon zu Beginn der Beratungen galt zudem als sicher, dass die Gemeinschaftsaufgabe Hochschulbau, die zur Hälfte vom Bund mitfinanziert wurde, aufgegeben würde und damit auch die entsprechenden Instrumente der länderübergreifenden Koordinierung von Projekten und Plänen. Damit zeichnete sich ab, dass die Entwicklung der Hochschulen in den einzelnen Bundesländern in Zukunft noch sehr viel stärker als bisher von den finanziellen Möglichkeiten des Landes abhängen und hierdurch ein weiterer Differenzierungsprozess eingeleitet würde.

III. Die Positionierung der Universitäten zu den Veränderungen 1. Die Exzellenzinitiative als Nagelprobe für den Zusammenhalt der Universitäten Man muss dieses Szenario beschreiben, um die Aufgabe deutlich zu machen, auf die sich Peter Hommelhoff, damals Rektor der Universität Heidelberg, einließ, als er im Jahre 2004 zum Sprecher der Mitgliedergruppe Universitäten in der Hochschulrektorenkonferenz gewählt wurde, und damit zugleich das Amt eines Vizepräsidenten der Hochschulrektorenkonferenz übernahm. Die Universitäten wiederum wussten, warum sie Peter Hommelhoff in dieses Amt wählten. Er hatte mit seinem Engagement in den Gremien der HRK in den Vorjahren bereits deutlich gemacht, dass er der richtige Mann war, um die Universitäten in einer Phase, in der alles in Bewegung geriet, zu vertreten. Er wusste, dass die Universitäten sich in dieser Situation nicht treiben lassen durften, sondern einige Pflöcke einschlagen mussten, um sich in einem veränderten Kräftefeld neu zu verorten. Und hierfür veränderte er die Strukturen, er erweiterte den Vorstand der Mitgliedergruppen durch Wahl eines zweiten Stellvertreters, schuf Ressortzuständigkeiten, der Vorstand wurde durch die An-

__________ 2 Kommission von Bundestag und Bundesrat zur Modernisierung der bundesstaatlichen Ordnung 2003–2004.

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Anwalt der Universitäten – Peter Hommelhoffs hochschulpolitisches Engagement

siedlung einer Geschäftsstelle an der Universität Heidelberg unterstützt und die Durchführung einer jährlichen Klausurtagung wurde zur Regel. Zunächst einmal galt es, in der Mitgliedergruppe Universitäten eine Art Bestandsaufnahme zu machen. Was waren die Konsequenzen der vielfältigen Veränderungen? Welchen Widerhall hatten sie bei den Universitäten gefunden und wie gingen sie damit um? Die Frage des Umgangs mit der Exzellenzinitiative und ihren Auswirkungen war aufgrund der unterschiedlichen Interessen eine für das Gefüge der Universitäten und damit für die Mitgliedergruppe zentrale Frage. Peter Hommelhoff verstand es, diesen Klärungsprozess zu moderieren. Als Rektor einer Hochschule mit großer Tradition und hohen Ansprüchen, die letztlich als „Exzellenzhochschule“ aus dem Wettbewerb hervorging, war dies keine leichte Aufgabe, doch er verstand es, die Anliegen aller beteiligten Universitäten in einer zukunftsweisenden Stellungnahme3 zusammenzuführen. Trotz der Risiken, die die Exzellenzinitiative für eine große Zahl von Universitäten barg, bekannte sich die Mitgliedergruppe darin nachdrücklich zu den Zielen der Exzellenzinitiative. Es sei ein großer Vorteil, wenn die internationale Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Universitäten gesteigert und die Sichtbarkeit des deutschen Wissenschaftssystems verbessert werde. Allerdings dürfe es nach einer Exzellenzrunde nicht zu einer „Versteinerung“ einmal errungener Besitzstände kommen. Das Wettbewerbsverfahren müsse offen sein, so dass alle Universitäten in der Zukunft eine faire Chance hätten, mit guten Konzepten und Projekten in den Genuss von Fördermitteln aus der Initiative zu kommen. Peter Hommelhoff warb dafür, dass Anträge, die in der Exzellenzinitiative zwar als prinzipiell förderungswürdig eingestuft wurden, aber in der Endauswahl nicht zum Zuge kamen, die Möglichkeit erhielten, an einem vereinfachten DFG-Verfahren teilzunehmen, damit der hohe Aufwand und das Engagement der Antragsteller nicht wirkungslos verrauschte. Darüber hinaus wurde die erste Auswahlrunde sorgsam bilanziert. In Vorbereitung der zweiten Runde wurden weitere Empfehlungen formuliert, die bestimmte sich abzeichnende Verengungen vermeiden sollten. Dazu gehörte die allzu starke Fokussierung auf Natur- und Lebenswissenschaften und Einschränkungen, die sich auf regionale und länderübergreifende Vernetzungen bezogen.4 2. Promotion als Proprium der Universitäten a) Keine Zweiklassengesellschaft der Universitäten Die Überlegungen des Wissenschaftsrats, die Ausbildung des wissenschaftlichen Nachwuchses langfristig auf die forschungsstarken Hochschulen zu konzentrieren, traf die Universitäten ins Mark und beunruhigte vor allem jene, die nicht zum Kreis der Universitäten gehörten, die in der Exzellenzinitiative auf Erfolge hoffen durften. Würden sie längerfristig Nachwuchswissenschaftler ausbilden

__________ 3 Exzellenzinitiative – Verstetigung, Anlage 4 zum Protokoll der 33. Sitzung der Mitgliedergruppe Universitäten in der HRK v. 28.–30.10.2007 (intern). 4 Zehn-Punkte-Katalog der Mitgliedergruppe Universitäten in der HRK zum Auswahlverfahren in der Exzellenzinitiative v. 11.12.2006 (intern).

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können oder würde man ihnen das Promotionsrecht entziehen und damit den universitären Status ganz in Frage stellen? Die Mitgliedergruppe hielt hierzu fest: „Die HRK wird den Prozess der Differenzierung der Hochschullandschaft weiterhin aufmerksam und konstruktiv begleiten. Dabei wird darauf hingewirkt werden, dass trotz wachsender Unterschiede zwischen den Universitäten eine „Zweiklassengesellschaft“ vermieden wird.5 Forschung und Lehre müssen als gleichgewichtige Aufgaben wahrgenommen werden.“ Gleichzeitig wird aber festgehalten, dass die Verantwortung für die Qualität der Nachwuchsausbildung bei den einzelnen Universitäten liegt. „Hier ist es Aufgabe der Universitätsleitungen, autonome Verfahren der Qualitätssicherung und -entwicklung zu etablieren. Die Mitgliedergruppe ist sich auch darüber einig, dass die Vergabe des institutionellen Promotionsrechts eine gesetzgeberische Entscheidung bleiben muss und nicht auf eine administrative Ebene verlagert werden darf.“ Damit sollte ausgeschlossen werden, dass die Vergabe des Promotionsrechts zum Gegenstand von Verhandlungen zwischen dem Land und einzelnen Einrichtungen wird. b) Verhältnis von Universitäten und außeruniversitären Forschungseinrichtungen Die außeruniversitären Forschungseinrichtungen hatten von der Föderalismusreform profitiert. Während die Gemeinschaftsaufgabe Hochschulbau entfiel, blieb die Gemeinschaftsaufgabe Forschungsförderung als nationale Aufgabe erhalten. Dies bedeutete, dass die Finanzierung der Hochschulen – mit Ausnahme der Mittel, die über die Deutsche Forschungsgemeinschaft in die Hochschulen fließen – nun alleine auf den Schultern der Länder lastete. Früh erwuchsen erhebliche Zweifel, ob deren finanzielle Potenz mit dem Zuwachs an Kompetenzen im Einklang stand. Die außeruniversitären Forschungseinrichtungen werden dagegen überwiegend vom Bund finanziert, der sich bemüht, auf dem Gebiet von Forschung und Innovation Schritt mit der internationalen Entwicklung zu halten. Und während sich an den Hochschulen die Schere zwischen Nachfrage nach akademischer Bildung und Ausstattung immer weiter öffnete, erfuhren die Haushalte der außeruniversitären Forschungseinrichtungen Jahr für Jahr eine Steigerung von zunächst drei, später von fünf Prozent. Die Hochschulen mussten sich z. B. im Bereich der Besoldung an einem engen Vergaberahmen orientieren, während gleichzeitig über „international konkurrenzfähige Vergütungen“ bei den außeruniversitären Einrichtungen nachgedacht wurde. In diesem durch die Föderalismusreform veränderten Kräftefeld erkannten die außeruniversitären Forschungseinrichtungen ihre Chance und versuchten – mit Hinweis auf ihr Potenzial – ihre Stellung weiter auszubauen. Dazu gehörte zum einen der Versuch, hervorragende Bereiche in den Universitäten zu

__________ 5 Eckpunkte der Mitgliedergruppe Universitäten in der HRK zu den Empfehlungen des Wissenschaftsrates „Zur künftigen Rolle der Universitäten im Wissenschaftssystem“ v. 30.5.2006 (intern).

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Anwalt der Universitäten – Peter Hommelhoffs hochschulpolitisches Engagement

identifizieren und über Kooperationen aus diesen herauszulösen. Darüber hinaus wurde der Versuch unternommen das Promotionsrecht, bisher alleiniges Privileg der Universitäten, auf die außeruniversitären Forschungseinrichtungen auszuweiten. Gegen diese Entwicklungen wandte sich die Mitgliedergruppe Universitäten der HRK mit allem Nachdruck. In ihren fünf Leitprinzipien der Kooperation zwischen Hochschulen und außeruniversitären Forschungseinrichtungen6 hielt sie fest: „Die Kooperation zwischen Hochschulen und außeruniversitären Forschungseinrichtungen setzt unverzichtbar und fortwährend gegenseitigen Respekt der Kooperationspartner und ihrer jeweiligen Propria voraus. Deshalb sind mit Schärfe alle Pläne und Unterfangen zurückzuweisen, die darauf abzielen, den Universitäten ihre exzellenten Forschungsbereiche zu entziehen und sie auf diese Weise zu ‚filetieren‘.“ Die Äußerungen im Hinblick auf das Promotionsrecht waren deutlich. Es wurde festgehalten, dass das Promotionsrecht auch bei Kooperationen bei den Universitäten liegt und auch dort verbleiben sollte. Das Promotionsrecht sei wesentlicher Bestandteil der Einheit von Forschung und Lehre. Zwar betreibe ein Teil der außeruniversitären Forschungseinrichtungen auch Grundlagenforschung, diese sei jedoch projektgebunden und die Verbindung zur grundständigen Lehre fehle. Die auftragsfreie und projektunabhängige interdisziplinäre Verknüpfung von Grundlagenforschung und Lehre, die für die Ausbildung des wissenschaftlichen Nachwuchses erforderlich sei, mit dem nur dadurch möglichen einheitlichen und kontinuierlichen Auswahl- und Qualifikationssystem (berufsqualifizierende Lehre, Promotion, Berufsbefähigung) werde nur von den Universitäten gewährleistet. Die Universitäten und ihre Fakultäten müssten unverändert die alleinige Verantwortung für die Durchführung der Promotion tragen. „… Denn nur die Universitäten stellen die institutionellen Strukturen bereit, innerhalb derer die Studierenden die Befähigung entwickeln können, eine Dissertation als Grundaufgabe der Wissenschaft in wissenschaftsadäquater Weise zu bewältigen und so das Promotionsverfahren dann auch durchzuführen.“ Darüber hinaus forderte die HRK, dass Teilnehmer an kooperativen Verbünden grundsätzlich nach gleichen Prinzipien besoldet und ausgestattet werden. Auch die Lasten ausgelaufener Kooperationen müssten von den Partnern gemeinsam getragen werden. c) Verhältnis von Universitäten und Fachhochschulen Das Promotionsrecht wurde jedoch nicht nur von den außeruniversitären Forschungseinrichtungen beansprucht, sondern ebenfalls von den Fachhochschulen. Dies hing zum einen mit der veränderten Studienabschlussstruktur aber zum anderen auch mit den Problemen zusammen, die besonders qualifizierte Absolventinnen und -absolventen von Fachhochschulen hatten, wenn sie sich um die Zulassung zur Promotion bemühten. Zwar waren Eignungsfeststellungsverfahren für Absolventinnen und Absolventen mit FH-Diplom durchaus vorgesehen, doch grenzten Vertreterinnen und Vertreter der universitären

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6 Fünf Leitprinzipien der Kooperation zwischen Hochschule und außeruniversitären Forschungseinrichtungen v. 27.11.2007.

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Fakultäten Absolventinnen und Absolventen der Fachhochschulen häufig aus. Sie forderten so viele Leistungsnachweise ein, dass der Weg zur Zulassung zur Promotion so weit wurde, dass der Promotionswunsch oft ganz aufgegeben wurde. Die Hochschulrektorenkonferenz erhob in regelmäßigen Zeitabständen die Zahl der Anträge, Zulassungen und erfolgreichen Promotionen von Fachhochschulabsolventen. Die Auswertungen zeigten ein stetiges Wachstum, dokumentierten aber auch die Zurückhaltung der Universitäten im Umgang mit aufstrebenden Absolventinnen und Absolventen von Fachhochschulen. Vor dem Hintergrund des ohnehin sich vollziehenden Wandels forderten die Fachhochschulen, dass ihnen ebenfalls das Promotionsrecht verliehen werde. Das „Alleinstellungsmerkmal“ Promotion der Universitäten führe zu einer nicht hinnehmbaren Verzerrung in einer nun wettbewerblich organisierten Hochschullandschaft. Die Politik gab dem Druck der Fachhochschulen zwar nicht nach, sie machte aber unmissverständlich deutlich, dass die Universitäten sich stärker öffnen mussten. Peter Hommelhoff wusste, dass es zu handeln galt, sollte die Promotion das Proprium der Universitäten bleiben. Man würde keine guten Argumente gegen ein Promotionsrecht von außeruniversitären Einrichtungen vorbringen können, wenn die Fachhochschulen mit ihren im Vergleich zu den Universitäten und zum außeruniversitären Bereich limitierten Forschungsaktivitäten das Promotionsrecht erhielten. Man wusste in der HRK, dass die herrschende Praxis vieler Universitäten bzw. Fakultäten, die Fachhochschulabsolventen abzuweisen, nicht länger haltbar war und den Entwicklungen, die sich im Hochschulbereich vollzogen hatten, nicht mehr gerecht wurde. Es galt also, die Interessen der eigenen Mitgliedergruppe mit den berechtigten Interessen der anderen großen Mitgliedergruppe in der HRK, den Fachhochschulen, in Einklang zu bringen. Dann würden beide Seiten profitieren. Nachdem er die Universitäten bewegte, in den Gremien der HRK einen Maßnahmenkatalog7 zu verabschieden, der den Weg zur Promotion für besonders begabte Fachhochschulabsolventen erleichtern sollte, setzte er sich gemeinsam mit dem Sprecher der Mitgliedergruppe Fachhochschulen, Andreas Geiger, ebenfalls qua Amt Vizepräsident der Hochschulrektorenkonferenz, für kooperative Promotionskollegs von Universitäten und Fachhochschulen ein. Man warb zunächst um die gezielte Förderung entsprechender Projekte durch die DFG. Als diese mit großer Zurückhaltung reagierte, bemühte die HRK sich um eine Förderung durch das Bundesministerium für Bildung und Wissenschaft. Hier wurde auch die Bereitschaft zur Unterstützung erkennbar. Leider zog sich die Durchsetzung der Idee noch einige Zeit hin. Erst nach mehrfacher Intervention erklärte das BMBF Ende des Jahres 2010 seine Bereitschaft, eine kleine Anzahl entsprechender Forschungskollegs im Rahmen seiner Fachprogramme zu fördern. Anfang 2011 wurden dann tatsächlich sieben Kollegs in die Förderung aufgenommen.8

__________ 7 Empfehlung zur Promotion von Fachhochschul-Absolventen, Beschluss des 103. HRKSenats v. 13.2.2007. 8 www.bmbf.de/pubRD/kooperation_forschungskolleg.pdf (abgerufen am 29.11.2011).

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3. Verstärkte Zusammenarbeit mit der DFG Vor dem Hintergrund der verschiedenen Entwicklungen bemühte Peter Hommelhoff sich um eine Vertiefung der Beziehungen zur Deutschen Forschungsgemeinschaft. Zum einen war sie eine zentrale Akteurin im Zusammenhang mit der Umsetzung der Exzellenzinitiative. Wenn es aus Sicht der Hochschulen Hinweise zur Umsetzung gab, war die DFG erste Ansprechpartnerin. Zudem galt es die DFG als Bündnispartnerin für die Hochschulen zu gewinnen, um mit ihrer Hilfe Übergriffe der erstarkenden außeruniversitären Forschungseinrichtungen auf die Universitäten zurückzuweisen. Dies war kein leichtes Unterfangen, versteht die DFG sich doch traditionell mehr und mehr als Gemeinschaft der Forscherinnen und Forscher und weniger als Gemeinschaft der Hochschulen. Peter Hommelhoff intensivierte den Dialog mit der Deutschen Forschungsgemeinschaft, wiederholt lud er den Präsidenten der DFG in die Mitgliedergruppe Universitäten ein. Darüber hinaus organisierte er die Abstimmung der Universitäten untereinander im Vorfeld der DFG-Mitgliederversammlung. Er versuchte, den Universitäten zu mehr Gewicht zu verhelfen und immer wieder die Transparenz in den Entscheidungen der DFG einzufordern. Nicht zuletzt erreichte er, dass die Repräsentanz der HRK im DFG-Senat erweitert wurde. Neben der HRK-Präsidentin konnte fortan ein weiterer Vizepräsident an den Sitzungen teilnehmen, um der Stimme der Hochschulen mehr Gewicht zu geben.9 4. Lehre und Studium an Universitäten a) Wettbewerb von Universitäten und Fachhochschulen im Bereich der Ausbildungsangebote Durch die Bologna-Reform hatte sich auch im Bereich des Studiums Entscheidendes verändert. Waren die Wertigkeiten der Abschlüsse bisher an die Hochschulart gebunden, so galt nun das Gleichwertigkeitsprinzip für BachelorAbschlüsse von Universitäten und Fachhochschulen und für Master-Abschlüsse von Universitäten und Fachhochschulen. Der Bachelor sollte auf jeden Fall eine bestimmte Berufsorientierung beinhalten, ob er nun von einer Fachhochschule oder Universität angeboten wurde. Die kürzere berufsorientierte Ausbildung war in der Vergangenheit aber das Geschäft der Fachhochschulen gewesen. Vor diesem Hintergrund und der sich gleichzeitig vollziehenden Expansion fand eine Diskussion darüber statt, wo denn die Hochschulausbildung, die bisher überwiegend von den Universitäten angeboten wurde, künftig schwerpunktmäßig anzusiedeln sei. U. a. der Wissenschaftsrat warf die Frage auf, ob die Ausbildung eines immer größeren Anteils der Bevölkerung im bisherigen Aufteilungsverhältnis zwischen den Hochschularten angeboten werden soll10 oder ob es zu einer stärkeren Verlagerung an die Fachhochschulen kommen sollte, die ohnehin von ihrer Programmatik her auf Beruf und

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9 Protokoll der 25. Mitgliederversammlung der Mitgliedergruppe Universitäten in der HRK in Bayreuth am 20.6.2006 (intern). 10 Wissenschaftsrat, Empfehlungen zur Entwicklung der Fachhochschulen, 18.1.2002.

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Arbeitsmarkt orientiert sind und damit eine größere Nähe zu den Zielen der Studienreform aufweisen. Zwar wurden auch im Universitätsbereich kurzzeitig Überlegungen angestellt, ob nicht der gesamte Bereich der BachelorAusbildung Sache der Fachhochschulen sei und die Universitäten sich auf das Master-Studium konzentrieren sollten, doch wurde dies universitätsseitig nicht weiter vertieft, weil ein solcher Schritt zu einer massiven Umverteilung zwischen den Hochschularten und einer Verschiebung des Kräfteverhältnisses geführt hätte. Vor diesem Hintergrund fand in der Mitgliedergruppe Universitäten eine Selbstvergewisserung statt. In ihren „Eckpunkten“ stellten die Universitäten fest, dass die Entscheidung über die Frage, wer in Zukunft in erster Linie Ausbildung anbieten soll, nicht vorgegeben werden darf, sondern auf der Grundlage des Wettbewerbsgedankens erfolgen soll.11 Dabei wurden die Unterschiede zwischen Universitäts- und Fachhochschulausbildung klar kommuniziert: „Die Mitgliedergruppe betont die Notwendigkeit einer wettbewerblichen und an inhaltlichen Kriterien orientierten Abgrenzung zwischen universitären und fachhochschulischen Ausbildungsangeboten. Ein universitäres Studium ist auch in der Bachelor-Phase wissenschaftsorientiert, betont stärker theoretische und methodische Erkenntnisse und soll auf eine wissenschaftliche Karriere vorbereiten. Eine solche Ausbildung soll zwar den Übertritt in den Arbeitsmarkt ermöglichen, muss aber keineswegs für einen bestimmten Beruf qualifizieren.“ Diese Ausführungen lassen erahnen, welche heftigen Debatten zu diesem Punkt geführt wurden. b) Absage an neue Personalkategorien wie Lehrprofessur Angesichts des ungebrochenen Trends zu höheren Qualifikationen beschäftigte die Politik und Wissenschaft die Frage, wie man der starken Nachfrage ein geeignetes Angebot gegenüberstellen konnte. Längst hatte sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass die expansive Entwicklung notwendig, aber noch keineswegs ausreichend ist. Im Hinblick auf die längerfristige demographische Entwicklung und die Altersstruktur der akademisch Beschäftigten muss davon ausgegangen werden, dass in Deutschland in absehbarer Zeit nicht mehr ausreichend akademische Nachwuchskräfte ausgebildet werden, um die entstehenden Lücken zu füllen. Dies ist für ein Land, dessen einzige Rohstoffquelle erklärtermaßen die Entwicklung von „Know-how“ ist, eine beängstigende Perspektive. So sahen auch die Universitäten einerseits die Notwendigkeit, eine wachsende Zahl von Studienberechtigten mit einem Studienplatz zu versorgen, mussten aber gleichzeitig aus Gründen der Qualitätssicherung zunehmend Zulassungsbeschränkungen einführen. Mit dem Vorschlag für einen Hochschulpakt 202012 als gemeinsame Aktion von Hochschulen, Bund und Ländern hatte die HRK der Politik einen Weg auf-

__________ 11 Eckpunkte (Fn. 5). 12 Hochschulrektorenkonferenz fordert Hochschulpakt, Pressemitteilung der HRK v. 24.11.2005.

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gezeigt, den Herausforderungen gerecht zu werden. Sie forderte, für einen befristeten Zeitraum zusätzliche Studienplätze zu schaffen. Dies gelte sowohl in räumlicher wie personeller Hinsicht. Insbesondere sollten ab 2015 frei werdende Professorenstellen ab sofort besetzt werden, so dass für die Jahre des besonders hohen Studierendenandrangs eine doppelte Besetzung von Professuren gegeben ist. Die HRK forderte, die Hochschulen in die Lage zu versetzen, auf verschiedene Personaltypen zurückgreifen zu können, um ihre Lehrkapazität zu erhöhen: Denkbar wäre es, postdocs und habilitierte, aber noch nicht berufene Wissenschaftler mit Lehraufgaben zu betrauen, Wissenschaftler, die aus dem Ausland nach Deutschland zurückkehren, in den Lehrbetrieb zu integrieren, vorübergehend auf Seniorprofessorinnen und -professoren zurückzugreifen oder mehr Stellen für Lehrbeauftragte einzurichten. Seitens des Bundes und einiger Länder wurde darüber hinaus über veränderte Personalstrukturen nachgedacht, die stärker die Lehre bedienen. U. a. wurde in der politischen Diskussion erörtert, sog. Lehrprofessuren mit einem deutlich erhöhten Lehrdeputat zu schaffen. Diesem Modell erteilte die Mitgliedergruppe Universitäten eine Absage.13 Ein solcher Weg wirke sich nachteilig auf die Ausbildung an den Universitäten aus. Er führe dazu, dass die wichtigen einführenden Veranstaltungen an der Universität von Lehrprofessorinnen und -professoren bestritten würden und die in der Forschung engagierten Professorinnen und Professoren sich auf die fortgeschrittenen Studierenden konzentrieren würden. Die für die Qualität der Lehre so wichtige Verklammerung mit der Forschung werde dadurch aufgegeben. Auch für die betroffenen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sei dieser Weg eine Sackgasse. Bei einem hohen Lehrdeputat fehle ihnen die Zeit für die eigene wissenschaftliche Qualifikation. Doch die Berufungsfähigkeit hänge gerade von den Leistungen in der Forschung ab. Die Mitgliedergruppe sah gleichzeitig die Notwendigkeit, die Lehre als Aufgabe der Hochschulen aufzuwerten.14 Dies könne durch stärkere Berücksichtigung von Lehrleistungen bei Berufungsverfahren und durch Leistungszulagen im Rahmen der W-Besoldung erfolgen. Auszeichnungen für gute Lehre im Rahmen eines verstärkten Engagements der Wirtschaft – z. B. standortbezogen oder für jüngere Wissenschaftler – könnten ebenfalls Impulse geben. 5. Überlegungen zur Finanzierung der Hochschulen Die Unterfinanzierung der Hochschulen und die damit verbundenen Risiken für die Qualität der Ausbildung waren wichtige Themen in der Mitgliedergruppe Universitäten. Die Finanzierung der Hochschulen stehe in einer immer stärkeren Konkurrenz zur Finanzierung des Sozialetats. Der im internationalen Vergleich äußerst niedrige Anteil privater Mittel im Bereich der Hoch-

__________ 13 Protokoll der 33. Mitgliederversammlung der Mitgliedergruppe Universitäten in der HRK, Heidelberg am 28.–30.10.2007 (intern). 14 Protokoll der 27. Mitgliederversammlung der Mitgliedergruppe Universitäten in der HRK in Dornburg am 27./28.4.2006 (intern).

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schulfinanzierung müsse in Frage gestellt werden. Man entferne sich damit immer weiter von dem mit der Studienreform verbundenen Ziel der Qualitätsverbesserung. Bei der weiteren Umsetzung des Bologna-Prozesses sei es deshalb notwendig, die „Qualitätsfrage“ explizit anzusprechen und auf die potenziellen Auswirkungen einer fehlgeschlagenen Umstellung hinzuweisen.15 Es sei auch nicht zu übersehen, dass die Attraktivität von Stellen im Hochschulbereich aufgrund der extrem hohen Arbeitsbelastung gesunken sei. Die Universitäten sprachen sich dafür aus, vermehrt private Mittel für die Hochschulfinanzierung zu akquirieren.16 Hierfür müssten geeignete staatliche Anreize über das Steuer- und Stiftungsrecht geschaffen werden. Sie bekannten sich in diesem Zusammenhang auch wiederholt zu Studienbeiträgen. Angesichts der Vorteile, die die Hochschulabsolventinnen und -absolventen aus ihrer Ausbildung ziehen würden, sei es eine Frage der Verteilungsgerechtigkeit, einen Beitrag zur Finanzierung des Studiums zu leisten.17 Darüber hinaus warnte die Mitgliedergruppe die Politik, die Kapazitäten unablässig auszubauen, ohne dabei zu berücksichtigen, dass die Qualität in der Lehre schon jetzt kaum zu halten sei. Es sei auch unzulässig, sich alleine auf den Ausbau im Bereich des Bachelors zu konzentrieren. Dies stehe im deutlichen Widerspruch zu den Zielen einer forschungsorientierten Universität.18 6. Die Satzungsreform der Hochschulrektorenkonferenz Die Vielzahl neuer Entwicklungen mit ihren tiefgreifenden Änderungen auf die Hochschulen bedeutete natürlich auch für eine Organisation wie die Hochschulrektorenkonferenz eine enorme Herausforderung. Sie hatte nicht nur Auswirkungen auf die verschiedenen Hochschularten, sondern auch auf das Hochschulsystem als Ganzes. Es galt adäquate Strukturen zu entwickeln, um die entstehenden Veränderungen und Konflikte aufzunehmen, intern zu verarbeiten und Lösungsvorschläge zu erarbeiten. Die HRK hatte ihre letzte Organisationsveränderung in den neunziger Jahren vollzogen. Die Professionalisierung der Leitung durch Einführung eines hauptamtlichen Präsidenten war die erste Antwort auf die gestiegenen Anforderungen an die Organisation, die sich durch den sich rasch vollziehenden Wandel und den Zuwachs im Mitgliederbereich infolge der Aufnahme der Hochschulen aus den neuen Ländern ergaben. Doch um mit dem verschärften Takt des Reformtempos mithalten zu können, war die HRK noch nicht in geeigneter Weise organisiert. Zwar waren alle Universitäten mit Sitz und Stimme in den sog. Plenarversammlungen der HRK vertreten, die kleineren Hochschulen aber, vor allem die Fachhochschulen, aber auch die Kunst- und Musikhochschulen, hatten nur sog. Kuriatsstimmen. Einige wenige gewählte Repräsentanten vertraten die gesamte Mitgliedergruppe

__________ 15 Protokoll der 30. Sitzung der Mitgliedergruppe Universitäten in der HRK am 7./8.12.2006 in Rauischholzhausen (intern). 16 Protokoll der 33. Sitzung der Mitgliedergruppe Universitäten in der HRK (intern) (vgl. Fn. 13). 17 Protokoll der 30. Sitzung der Mitgliedergruppe Universitäten (intern) (vgl. Fn. 15). 18 Ebd.

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im Senat und im Plenum. Diese wenigen Vertreter vor allem der Fachhochschulen, die mittlerweile ein Drittel aller Studierenden ausbildeten, mussten die Diskussionsprozesse in der HRK in ihre Bundesländer bzw. Mitgliedergruppen zurückspielen und dort von Grund auf neu führen. Dies waren keine guten Voraussetzungen für einen stringenten Diskussionsprozess in der Gesamtorganisation. Es galt ein Modell zu entwickeln, dass eine breite Verständigung in den Gremien der Hochschulrektorenkonferenz möglich machte. Peter Hommelhoff stellte sich dieser Herausforderung und engagierte sich in einer Arbeitsgruppe, die eine neue HRK-Ordnung erarbeiten musste. Ziel war, die Basis stärker in die Diskussionsprozesse einzubeziehen, gleichzeitig aber die gewachsenen Macht- und Stimmenverhältnisse, die sich traditionell an der Größe der Hochschularten orientierten (Studierendenzahlen und beschäftigtes Personal) im Auge zu behalten. Peter Hommelhoff entwickelte mit dieser Arbeitsgruppe Vorschläge, die beide wichtige Gremien der HRK betrafen, den Senat und die Mitgliederversammlung. An den Senatssitzungen durften die Fachhochschulvertreter ebenso wie die Universitätsvertreter mit einer Person pro Land vertreten sein, allerdings mit unterschiedlicher Stimmgewichtung entsprechend der Größe des Landes. In den Mitgliederversammlungen durften von nun an alle Hochschulen teilnehmen, mit mindestens einer Stimme. Die Stimmenzahl der einzelnen Hochschule bemaß sich fortan an der Zahl der Studierenden der Hochschule. So blieb es bei der Verteilung der Gewichte zwischen Universitäten und Fachhochschulen, die Partizipation an der Arbeit der HRK wurde aber wesentlich verbessert.

IV. Fazit Peter Hommelhoff hat den Klärungsprozess in wichtigen hochschulpolitischen Fragen mit großer Energie vorangetrieben und hat die geeigneten Strukturen geschaffen, um den gewachsenen Anforderungen zu begegnen. Und er hat eine kooperative, offene und integre Diskussionskultur gepflegt, die wir in der HRK angesichts der hohen Fliehkräfte dringend benötigen. Er hat damit einen großen Beitrag zum erfolgreichen Wirken der Hochschulrektorenkonferenz geleistet, für den wir ihm äußerst dankbar sind.

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Vorabausschüttungen in der GmbH Inhaltsübersicht I. Einleitung II. Voraussetzungen 1. Zuständigkeit 2. Bezug der Vorabausschüttung 3. Kein Verstoß gegen § 30 GmbHG und gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz 4. Zwischenbilanz und Liquiditätsprognose, aber keine Ergebnisprognose

III. Rückzahlung im Falle eines unerwartet geringen Ergebnisses IV. Spätere Verwendung des restlichen Bilanzgewinns V. Abgrenzung der Vorabausschüttung zum Entnahmerecht VI. Steuerliche Behandlung von Vorabausschüttungen VII. Schluss

I. Einleitung Die Entscheidung über die Ergebnisverwendung in der Mehrpersonen-GmbH wird nicht selten von Interessenkonflikten beeinträchtigt. Dies steht vor dem Hintergrund, dass seit dem Abschied vom Vollausschüttungsgebot mit Beginn des Jahres 1986 die Gesellschafter über die Thesaurierung von Gewinnen entscheiden (§ 29 Abs. 2 GmbHG).1 Indes bedeutet eine großzügige Thesaurierung, dass die Gewinnverteilung an die Gesellschafter eingeschränkt oder sogar ganz ausgeschlossen wird. Dies liegt regelmäßig im Interesse der Gesellschaft und damit einhergehend potentiell auch der Gesellschaftermehrheit,2 während die Gesellschafterminderheit an höheren Ausschüttungen interessiert ist. Dass die Minderheit nicht schutzlos steht, sondern das (legitime) Ziel der Mehrheit an der Aufstockung des Eigenkapitals unter dem Gesichtspunkt der Treuepflicht nur begrenzt verfolgt werden darf, wird allgemein anerkannt; eine Lösung ist indes nur im Einzelfall unter umfassender Abwägung der gegenseitigen Interessen möglich.3 Im Rahmen seiner vielfältigen wissenschaftlichen Beschäftigung mit der Finanzierung der GmbH hat Peter Hommelhoff auch zu Fragen der Ergebnisverwendung, die ganz im Gegensatz zu ihrer praktischen Bedeutung eher selten Gegen-

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1 Umfassende Änderung des § 29 GmbHG im Zuge des Bilanzrichtlinien-Gesetzes (BiRiLiG) v. 19.12.1985, BGBl. I 1985, 2355. 2 Letzteres namentlich dann, wenn es einen Mehrheitsgesellschafter oder eine abgestimmt handelnde Gruppe von Gesellschaftern gibt, die über die Mehrheit verfügen. 3 OLG Nürnberg, DB 2008, 2415, 2417; aus dem Schrifttum statt vieler Hueck/Fastrich in Baumbach/Hueck, 19. Aufl. 2010, § 29 GmbHG Rz. 29 ff.; Hommelhoff in Lutter/ Hommelhoff, 17. Aufl. 2009, § 29 GmbHG Rz. 21 ff.; W. Müller in Ulmer/Habersack/ Winter, 2006, § 29 GmbHG Rz. 82 ff.; Emmerich in Scholz, 10. Aufl. 2006, § 29 GmbHG Rz. 70 ff.; Witt in Bork/Schäfer, 2. Aufl. 2012, § 29 GmbHG Rz. 23 ff.

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stand höchstrichterlicher Rechtsprechung sind, immer wieder zur Feder gegriffen.4 Dabei ragt sein engagierter Versuch heraus, zur Bewältigung des geschilderten Interessenkonflikts zumindest Richtwerte für Thesaurierungsentscheidungen zu entwickeln.5 Man darf vermuten, dass die von ihm präferierte Quantifizierung den Ausgang zahlreicher schiedsgerichtlicher Verfahren entscheidend beeinflusst hat. Besondere Erwähnung verdient daneben die Einordnung des Gesellschafteranspruchs nach § 29 Abs. 1 GmbHG, in dem Hommelhoff nach Feststellung des Jahresabschlusses einen vorläufig (bis zum Ergebnisverwendungsbeschluss) gehemmten Auszahlungsanspruch als rechtsqualitative Fortentwicklung gegenüber dem allgemeinen Gewinnbezugsrecht der Gesellschafter sieht.6 Auch dieser Vorstoß hat, ganz im Sinne des Jubilars, Zuspruch und Widerspruch gefunden; er prägt bis heute die wissenschaftliche Diskussion.7 Diese Skizze, die Peter Hommelhoff mit allen herzlich guten Wünschen gewidmet ist, will einen anderen Aspekt der Ergebnisverwendung bei der GmbH aufgreifen, nämlich die Gewinnvorschüsse, d. h. Vorabausschüttungen auf das zu erwartende Jahresergebnis. Obwohl nicht kodifiziert, sind sie vor dem Hintergrund der GmbH-spezifischen Gestaltungsfreiheit allgemein als zulässig anerkannt, und zwar unterjährig, d. h. schon während des Geschäftsjahres auf das an dessen Ende erwartete Ergebnis, oder doch jedenfalls vor der Feststellung des Jahresabschlusses;8 die begrenzende Regelung im Aktienrecht9 ist auf die GmbH nicht übertragbar.10 Dass die Kompetenzordnung und der Gläubi-

__________ 4 Zuerst Hommelhoff, GmbHR 1979, 102; zuletzt Hommelhoff, GmbHR 2010, 1328. 5 Hommelhoff, ZGR 1986, 418, 427 ff., der die Ausschüttung von nur 40 v. H. und die Thesaurierung von 60 v. H. des Jahresergebnisses auch gegen das Votum der Minderheit so lange für unbedenklich hält, bis die Gewinnrücklagen die Höhe des statutarischen Stammkapitals erreichen; gegen eine solche Grenzziehung W. Müller (Fn. 3), § 29 GmbHG Rz. 84; Witt (Fn. 3), § 29 GmbHG Rz. 24 f., jeweils m. w. N. 6 Hommelhoff in FS Rowedder, 1994, S. 171, 176 ff. 7 Zuletzt Ekkenga in MünchKomm. GmbHG, 2012, § 29 GmbHG Rz. 76 ff. m. w. N. (selbst zustimmend). 8 Ekkenga (Fn. 7), § 29 GmbHG Rz. 95, mit der Unterscheidung unterjähriger und nachperiodischer Ausschüttungen; nach Feststellung des Jahresabschlusses kann nur ein Ergebnisverwendungsbeschluss (§ 46 Nr. 1 GmbHG) gefasst werden (so mit Recht Hommelhoff [Fn. 3], § 29 GmbHG Rz. 45 a. E.; Beckmann/Hofmann in Gehrlein/ Ekkenga/Simon, 2012, § 29 GmbHG Rz. 34; zu Unrecht bereits auf die Aufstellung des Jahresabschlusses abstellend OLG Hamm, DStR 1992, 827; nachfolgend auch Emmerich in Scholz [Fn. 3], § 29 GmbHG Rz. 87), wobei der Feststellungs- und der Ergebnisverwendungsbeschluss, die funktional zusammenhängen und bei der GmbH (anders als bei der AG) grundsätzlich in die Kompetenz desselben Organs fallen, in der Praxis häufig gemeinsam gefasst werden, was unbedenklich möglich ist (Witt [Fn. 3], § 42a GmbHG Rz. 12 m. w. N.). 9 Vgl. § 59 Abs. 1 AktG, der die Zahlung eines Abschlags auf den voraussichtlichen Bilanzgewinn (unter weiteren strengen Voraussetzungen) erst nach Ablauf des betreffenden Geschäftsjahrs zulässt. 10 RGZ 85, 43, 44; OLG Hamm, DStR 1992, 827; BFHE 122, 43, 44 f.; ausführlich G. Hueck, ZGR 1975, 133, 139 ff.; aus dem Schrifttum außerdem statt vieler Hueck/Fastrich (Fn. 3), § 29 GmbHG Rz. 60; W. Müller (Fn. 3), § 29 GmbHG Rz. 135; Ekkenga (Fn. 7), § 29 GmbHG Rz. 95; K. Schmidt, Gesellschaftsrecht, 4. Aufl. 2002, § 37 VI 3 c; Hamminger in Römermann, MAH GmbH-Recht, 2. Aufl. 2009, § 16 Rz. 499, allesamt m. w. N.

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ger-, aber auch der Minderheitenschutz Vorabausschüttungen Grenzen setzen, liegt auf der Hand. Nichts anderes gilt für Entnahmen seitens der Gesellschafter, auf die nachfolgend ebenfalls (unter V.) kurz eingegangen werden soll.

II. Voraussetzungen 1. Zuständigkeit In der Entscheidung für eine Vorabausschüttung auf das zu erwartende Jahresergebnis liegt eine Maßnahme der Ergebnisverwendung, so dass sie nach § 46 Nr. 1 GmbHG einen mit einfacher Mehrheit gefassten, statt auf den festgestellten auf den prognostizierten Gewinn abstellenden Beschluss der Gesellschafter voraussetzt.11 Eine entsprechende Ermächtigung im Gesellschaftsvertrag ist nicht erforderlich, es sei denn, ein anderes Organ soll über Vorabausschüttungen entscheiden können, namentlich der bzw. die Geschäftsführer; aber auch die statutarische Kompetenzzuweisung an einen Aufsichtsrat oder einen Beirat ist denkbar.12 2. Bezug der Vorabausschüttung Die Vorabausschüttung erfolgt auf das in dem betreffenden Geschäftsjahr zu erwartende Jahresergebnis. Dabei kann auf den Jahresüberschuss oder auf den unter Berücksichtigung von Gewinn- bzw. Verlustvortrag sowie unter Auflösung von Rücklagen herzustellenden Bilanzgewinn abgestellt werden,13 wobei im Zweifel das erste anzunehmen ist.14 Ob das eine oder das andere gewollt ist, macht durchaus einen Unterschied: Denn die Aufzehrung des Jahresüberschusses durch den Verlustvortrag ist zwar stets zu beachten.15 Falls das Jahresergebnis die Vorabausschüttungen nicht abdeckt, müssen indes die Gesellschafter nur dann vorrangig – d. h. bevor die Gesellschaft die ausgeschütteten Beträge zurückverlangen kann – freie Rücklagen auflösen, wenn die Vorabausschüttungen auf den Bilanzgewinn erfolgen.16 Jedenfalls kann aber eine Vorabausschüttung im Vorgriff auf die Auflösung von Rücklagen erfolgen.

__________ 11 Hueck/Fastrich (Fn. 3), § 29 GmbHG Rz. 61; Priester in Münchener Handbuch des Gesellschaftsrechts, Bd. 3, 3. Aufl. 2009, § 57 Rz. 63 m. w. N.; a. A. Ekkenga (Fn. 7), § 29 GmbHG Rz. 97, der eine Mitwirkung der Gesellschafter an der Vorabausschüttung als nicht erforderlich ansieht. 12 G. Hueck, ZGR 1975, 133, 150 f.; W. Müller (Fn. 3), § 29 GmbHG Rz. 136; Hommelhoff (Fn. 3), § 29 GmbHG Rz. 45. 13 Zu den beiden Rechengrößen, wie sie gerade auch für § 29 Abs. 1 GmbHG von Bedeutung sind, Ekkenga (Fn. 7), § 29 GmbHG Rz. 11 und 22; Roth in Roth/Altmeppen, 7. Aufl. 2012, § 29 GmbHG Rz. 8. 14 So mit Recht Priester (Fn. 11), § 57 Rz. 64. 15 So ist wohl W. Müller (Fn. 3), § 29 GmbHG Rz. 140 und 143, zu verstehen. 16 Priester (Fn. 11), § 57 Rz. 64; näher dazu unten zu III.

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3. Kein Verstoß gegen § 30 GmbHG und gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz Es versteht sich von selbst, dass die Vorabausschüttung in dem Zeitpunkt, in dem sie erfolgt, nicht das in § 30 Abs. 1 GmbHG geschützte Stammkapital verletzen darf; wird hiergegen verstoßen, so sind die Gesellschafter zur Erstattung der Vorabzahlungen nach § 31 Abs. 1 GmbHG verpflichtet.17 Außerdem muss, weil es sich um eine Maßnahme der Ergebnisverwendung handelt, der zur Vorabausschüttung vorgesehene Gesamtbetrag nach dem Gleichbehandlungsgrundsatz bzw. entsprechend dem für die Gesellschaft geltenden Gewinnverteilungsmaßstab verteilt werden.18 Letzterer orientiert sich am Verhältnis der Geschäftsanteile, wenn nicht der Gesellschaftsvertrag einen anderen Verteilungsschlüssel vorsieht (§ 29 Abs. 3 GmbHG).19 4. Zwischenbilanz und Liquiditätsprognose, aber keine Ergebnisprognose Als zentrale Voraussetzung einer Gewinnausschüttung wird verbreitet die begründete Erwartung eines Ergebnisses für das laufende Geschäftsjahr angesehen, das mindestens der Summe aller Vorschüsse entspricht.20 Umstritten ist indes, welche Anforderungen an diese positive Ergebnisprognose zu stellen sind. So wird von manchen Stimmen eine bilanzähnliche Vorausberechnung verlangt,21 während andere zwar keine förmliche Zwischenbilanz, aber doch entsprechend aussagekräftige Unterlagen als regelmäßig unentbehrlich ansehen.22 Von dritter Seite wird eine begründete positive Ergebnisprognose als Wirksamkeitsvoraussetzung eines Vorabausschüttungsbeschlusses hingegen abgelehnt.23 Der letztgenannten Ansicht ist schon deshalb zu folgen, weil es unangemessen wäre, einen Vorabausschüttungsbeschluss selbst dann wegen mangelnder An-

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17 Vgl. schon RGZ 85, 43, 44; außerdem RGZ 92, 77, 82; aus dem Schrifttum statt vieler Hueck/Fastrich (Fn. 3), § 29 GmbHG Rz. 61; Emmerich (Fn. 3), § 29 GmbHG Rz. 86; Ekkenga (Fn. 7), § 29 GmbHG Rz. 99 und 248. 18 Hommelhoff (Fn. 3), § 29 GmbHG Rz. 45; Emmerich (Fn. 3), § 29 GmbHG Rz. 87; Ekkenga (Fn. 7), § 29 GmbHG Rz. 98 a. E.; Langheim in Saenger/Inhester, 2011, § 29 GmbHG Rz. 64 a. E. 19 Zum Verteilungsmaßstab statt vieler Hommelhoff (Fn. 3), § 29 GmbHG Rz. 36 ff.; Witt (Fn. 3), § 29 GmbHG Rz. 27 f. 20 OLG Hamm, DStR 1992, 827; Hommelhoff (Fn. 3), § 29 GmbHG Rz. 45; Beckmann/ Hofmann (Fn. 8), § 29 GmbHG Rz. 34; wohl auch Hueck/Fastrich (Fn. 3), § 29 GmbHG Rz. 61; Lichtenwimmer in Ring/Grziwotz, 2009, § 29 GmbHG Rz. 40; H. Bartl in Bartl/Bartl/Fichtelmann/Koch/Schlarb, GmbH-Recht, 6. Aufl. 2009, § 29 GmbHG Rz. 10; Binnewies, GmbH-StB 2002, 266, 267; unklar Emmerich (Fn. 3), § 29 GmbHG Rz. 86 und 87. 21 Hommelhoff (Fn. 3), § 29 GmbHG Rz. 45; Langheim (Fn. 18), § 29 GmbHG Rz. 64; für formlose Vorausberechnung Beckmann/Hofmann (Fn. 8), § 29 GmbHG Rz. 34. 22 Hueck/Fastrich (Fn. 3), § 29 GmbHG Rz. 61; H. Bartl (Fn. 20), § 29 GmbHG Rz. 10; Lichtenwimmer (Fn. 20), § 29 GmbHG Rz. 40. 23 Ekkenga (Fn. 7), § 29 GmbHG Rz. 98; Priester (Fn. 11), § 57 Rz. 61; ebenso W. Müller (Fn. 3), § 29 GmbHG Rz. 140, mit dem zutreffenden Hinweis, anders lägen die Dinge dann, wenn der Gesellschaftsvertrag Ausschüttungen außerhalb des regulären Ergebnisverwendungsverfahrens ausdrücklich nur im Hinblick auf einen erwarteten Jahresüberschuss zulasse und andere Formen der Vorabausschüttung ausschließe.

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Vorabausschüttungen in der GmbH

haltspunkte für eine positive Ergebnisprognose als unwirksam anzusehen, wenn sich später doch ein ausreichendes Jahresergebnis einstellt.24 Andererseits ist eine Zwischenbilanz regelmäßig als erforderlich anzusehen, um zu ermitteln, ob mit Rücksicht auf § 30 GmbHG überhaupt Raum für Vorabausschüttungen ist und daher den Gesellschaftern schon zur Vermeidung der Haftung nach § 31 Abs. 1 (und Abs. 3) GmbHG, aber auch der strengen Haftung wegen existenzvernichtender Eingriffe,25 dringend zu empfehlen.26 Eine Zwischenbilanz ermöglicht aber auch den Geschäftsführern zu kontrollieren, ob die Ausschüttungen gegen § 30 GmbHG verstoßen.27 Weil den Geschäftsführern außerdem die Insolvenzauslösungshaftung nach § 64 Satz 3 GmbHG droht, erscheint zudem eine Liquiditätsprognose unerlässlich.28

III. Rückzahlung im Falle eines unerwartet geringen Ergebnisses Wenn auch eine positive Ergebnisprognose nicht Wirksamkeitsvoraussetzung eines Vorabausschüttungsbeschlusses ist, so hat doch der Charakter der Vorabausschüttung als einer vorläufigen Maßnahme zur Folge, dass ihr ein besonderes Kausalverhältnis zugrunde liegt. Was genau dessen Inhalt ist, wird in Rechtsprechung und Schrifttum unterschiedlich beurteilt. So wird zumeist vertreten, die Vorabausschüttung erfolge unter dem Vorbehalt eines entsprechenden Jahresergebnisses, also dem Vorbehalt, dass Bilanzgewinn in Höhe der Vorabausschüttungen zur Verteilung zur Verfügung stehe.29 Andere Stimmen meinen, es liege eine auflösend bedingte Zahlung vor,30 womit wohl der Zahlungsanspruch gemeint ist31 und die auflösende Bedingung nur diejenige sein kann, dass ein entsprechendes Jahresergebnis verfehlt wird.32 Von dritter Seite heißt es, die Vorverlagerung der Ausschüttung sei nichts anderes als ein darlehensvertraglich begründeter zinsloser Überbrückungskredit der GmbH an

__________ 24 W. Müller (Fn. 3), § 29 GmbHG Rz. 140. 25 Dazu BGHZ 173, 246 = DNotZ 2008, 213 mit Anm. Witt; zur Existenzvernichtungshaftung in der Liquidation BGHZ 179, 344 = NJW 2009, 2127. 26 Emmerich (Fn. 3), § 29 GmbHG Rz. 87; vergleichbar K. Schmidt (Fn. 10), § 37 VI 3 c Fn. 335 („als Absicherung hilfreich“); auch schon G. Hueck, ZGR 1975, 133, 153 f. 27 W. Müller (Fn. 3), § 29 GmbHG Rz. 142; Priester (Fn. 11), § 57 Rz. 63. 28 Hommelhoff (Fn. 3), § 29 GmbHG Rz. 45; Beckmann/Hofmann (Fn. 8), § 29 GmbHG Rz. 34; Langheim (Fn. 18), § 29 GmbHG Rz. 64; jedenfalls auch auf § 64 Satz 3 GmbHG hinweisend Wicke, 2. Aufl. 2011, § 29 GmbHG Rz. 18. 29 OLG Hamm, DStR 1992, 827; BFHE 122, 43, 45; BFH, BStBl. II 1994, 561, 563; K. Schmidt (Fn. 10), § 37 VI 3 c; Hueck/Fastrich (Fn. 3), § 29 GmbHG Rz. 61; Emmerich (Fn. 3), § 29 GmbHG Rz. 86a (der die ausdrückliche Aufnahme dieses Vorbehalts in den Beschluss der Gesellschafter dringend empfiehlt); Beckmann/ Hofmann (Fn. 8), § 29 GmbHG Rz. 34; Hamminger (Fn. 10), § 16 Rz. 500. 30 W. Müller (Fn. 3), § 29 GmbHG Rz. 134 und 145, der zugleich meint, es sei stets dann eine stillschweigende Rückzahlungsabrede anzunehmen, wenn die Gesellschafter sich über die auflösende Bedingung im Klaren gewesen seien; für auflösende Bedingung auch Priester (Fn. 11), § 57 Rz. 64; Binnewies, GmbH-StB 2002, 266, 268. 31 So nachvollziehbar Ekkenga (Fn. 7), § 29 GmbHG Rz. 96. 32 Dazu noch später unter IV.

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ihre Gesellschafter, der diesen die Wartezeit bis zur Entstehung von Dividendenansprüchen erspare oder verkürze.33 Der Streitfrage kommt indes allenfalls dann Bedeutung zu, wenn sich bei der Aufstellung des Jahresabschlusses herausstellt, dass im betreffenden Geschäftsjahr ein Jahresergebnis erwirtschaftet worden ist, das hinter den geleisteten Vorabausschüttungen zurückbleibt. Ist dies der Fall, so müssen vorrangig freie Rücklagen aufgelöst werden,34 es sei denn, die Vorabausschüttungen sind auf den erwarteten Jahresüberschuss erfolgt; in diesem Fall ist eine Rücklagenauflösung möglich, ohne dass die Gesellschafter aber dazu verpflichtet wären35. Umgekehrt ist allerdings auch zu beachten, dass der Jahresüberschuss nur ausgeschüttet werden kann, soweit er nicht durch einen Verlustvortrag aufgezehrt wird, der nicht durch Rücklagen abgedeckt ist, und soweit keine Pflichtrücklage, etwa nach § 272 Abs. 4 HGB, nach § 5a Abs. 3 Satz 1 GmbHG oder nach Gesellschaftsvertrag, gebildet werden muss.36 Jedenfalls hat die Gesellschaft, soweit eine ausschüttungsbedingte Unterdeckung besteht, einen Rückzahlungsanspruch gegen die Gesellschafter, und zwar grundsätzlich mit Feststellung des Jahresabschlusses.37 Während die Existenz dieses Anspruchs allgemein anerkannt ist, finden sich mit Blick auf seinen Rechtsgrund in Rechtsprechung und Schrifttum unterschiedliche Ansichten: So spricht der Bundesgerichtshof in einer Entscheidung aus 2003 davon, eine Vorabausschüttung stehe unter dem Vorbehalt der Rückforderung nach § 812 Abs. 1 Satz 2 BGB,38 nachdem das Reichsgericht bereits lange zuvor von einer condictio causa data causa non secuta ausgegangen war.39 Im Jahr 2009 hingegen bejahte derselbe Senat des BGH aufgrund einer entsprechenden stillschweigenden Abrede einen vertraglichen Rückgewähranspruch auf Rückzahlung der Vorabausschüttung.40 Im Schrifttum ist zumeist von einem bereicherungsrechtlichen Anspruch nach § 812 Abs. 1 Satz 2 BGB die Rede, und zwar mit oder ohne Zuordnung zu einem der beiden dort verankerten Kondiktionstatbestände.41

__________

33 Ekkenga (Fn. 7), § 29 GmbHG Rz. 96 f., der vor diesem Hintergrund im Beschluss der Gesellschafter die Anweisung an die Geschäftsführer sieht, mit den Gesellschaftern individuelle Darlehensverträge zu schließen. 34 Hommelhoff (Fn. 3), § 29 GmbHG Rz. 46; Witt (Fn. 3), § 29 GmbHG Rz. 31; Binnewies, GmbH-StB 2002, 266, 268. 35 So mit Recht Priester (Fn. 11), § 57 Rz. 64; im selben Sinne W. Müller (Fn. 3), § 29 GmbHG Rz. 147. 36 Vgl. W. Müller (Fn. 3), § 29 GmbHG Rz. 143, dessen Hinweis auf die ausschüttungsgesperrte Bilanzierungshilfe nach § 269 Satz 2 HGB a. F. seit der Aufhebung der Vorschrift im Zuge der Bilanzrechtmodernisierung (Gesetz v. 25.5.2009, BGBl. I 2009, 1102) obsolet ist. 37 Ekkenga (Fn. 7), § 29 GmbHG Rz. 98 und 248; W. Müller (Fn. 3), § 29 GmbHG Rz. 146, jeweils unter Hinweis auf eine ausnahmsweise frühere Anspruchsentstehung. 38 BGH, NJW 2003, 3629, 3631 = DStR 2003, 2128, 2129; im selben Sinne BFHE 122, 43, 45; BFH, BStBl. II 1994, 561, 563. 39 RGZ 85, 43, 45 (also Anwendbarkeit des § 812 Abs. 1 Satz 2 zweiter Fall BGB). 40 BGH, DStR 2009, 1272, Tz. 21 a. E. 41 Für Fall 1 (condictio ob causam finitam) angesichts der angenommenen auflösenden Bedingung K. Schmidt (Fn. 10), § 37 VI 3 c; W. Müller (Fn. 3), § 29 GmbHG Rz. 145; Priester (Fn. 11), § 57 Rz. 65; für Fall 2 (condictio ob rem) Hommelhoff (Fn. 3), § 29 GmbHG Rz. 46; Beckmann/Hofmann (Fn. 8), § 29 GmbHG Rz. 34; Roth (Fn. 13),

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Vorabausschüttungen in der GmbH

Mag auch vieles gegen die Annahme einer auflösenden Bedingung und damit gegen eine condictio ob causam finitam42 und manches für einen stillschweigend vereinbarten Rückzahlungsanspruch sprechen, kann man letztlich doch, wie es vereinzelt geschieht,43 die Anspruchsgrundlage gänzlich offen lassen. Denn angesichts des vorläufigen Charakters der Vorabausschüttung fehlt es jedenfalls an einem gutgläubigen Bezug, so dass der Gesellschafter einem Rückforderungsverlangen der Gesellschaft § 32 GmbHG nicht entgegenhalten kann; nimmt man einen Bereicherungsanspruch an, so steht dem Gesellschafter angesichts des zumindest stillschweigenden Vorbehalts eines entsprechenden Jahresergebnisses auch der Entreicherungseinwand des § 818 Abs. 3 BGB nicht zu.44 Und § 815 BGB, der – nur – die condictio ob rem ausschließt, wenn der Eintritt des Erfolgs (d. h. ein entsprechendes Jahresergebnis) von Anfang an unmöglich war und der Leistende (d. h. die Gesellschaft) dies gewusst hat oder wenn der Leistende den Eintritt des Erfolgs wider Treu und Glauben verhindert hat, wird kaum jemals einschlägig sein. Auf den Rückzahlungsanspruch, der bilanziell als Forderung gegenüber Gesellschaftern nach Maßgabe des § 42 Abs. 3 GmbHG auszuweisen ist,45 kann die Gesellschaft im Nachhinein verzichten; in diesem Fall ist indes besonders kritisch zu prüfen, ob nicht im Augenblick des Verzichts ein Verstoß gegen § 30 Abs. 1 GmbHG vorliegt.46 Erfolgt kein Verzicht, so kann die Gesellschafterversammlung, wenn in nachfolgenden Geschäftsjahren ein die Vorabausschüttungen abdeckendes Ergebnis erwirtschaftet wird, eine Gewinnausschüttung unter Verrechnung des Gewinnauszahlungsanspruchs der Gesellschafter gegen den Rückzahlungsanspruch beschließen.47

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42 43 44 45 46 47

§ 29 GmbHG Rz. 57; ohne Zuordnung Hueck/Fastrich (Fn. 3), § 29 GmbHG Rz. 61; H. Bartl (Fn. 20), § 29 GmbHG Rz. 10; Langheim (Fn. 18), § 29 GmbHG Rz. 65; Wicke (Fn. 28), § 29 GmbHG Rz. 18; sogar für Rückzahlungspflicht bloß „wegen ungerechtfertigter Bereicherung“ Ekkenga (Fn. 7), § 29 GmbHG Rz. 98 (Hervorhebung durch Verf.); ebenso Ensthaler/Hannewald in Ensthaler/Füller/Schmidt, 2. Aufl. 2009, § 29 GmbHG Rz. 23; Lichtenwimmer (Fn. 20), § 29 GmbHG Rz. 40; Hamminger (Fn. 10), § 16 Rz. 500. Noch einmal sei die überaus künstliche Konstruktion erwähnt, die den Zahlungsanspruch der Gesellschafter unter der auflösenden Bedingung sieht, dass ein entsprechendes Jahresergebnis verfehlt wird. Emmerich (Fn. 3), § 29 GmbHG Rz. 86a; ebenfalls offen lassend, ob Rückzahlung aufgrund entsprechender Absprache oder ungerechtfertigter Bereicherung, OLG Hamm, DStR 1992, 827. Allg. M.; vgl. nur Ekkenga (Fn. 7), § 29 GmbHG Rz. 48; W. Müller (Fn. 3), § 29 GmbHG Rz. 145; Priester (Fn. 11), § 57 Rz. 66; Binnewies, GmbH-StB 2002, 266, 268, jeweils m. w. N. Schulze-Osterloh in Baumbach/Hueck, 18. Aufl. 2006, § 42 GmbHG Rz. 170. W. Müller (Fn. 3), § 29 GmbHG Rz. 147; K. Schmidt (Fn. 10), § 37 VI 3 c. BGH, NJW 2003, 3629, 3631 = DStR 2003, 2128, 2129; Hommelhoff (Fn. 3), § 29 GmbHG Rz. 46.

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IV. Spätere Verwendung des restlichen Bilanzgewinns Ergibt sich bei Aufstellung des Jahresabschlusses, dass im betreffenden Geschäftsjahr ein Jahresergebnis erwirtschaftet worden ist, das die Vorabausschüttungen abdeckt, oder wird dieses Ergebnis durch Auflösung freier Rücklagen erreicht,48 so stehen die vorab ausgeschütteten Beträge den Gesellschaftern endgültig zu.49 Hier zeigt sich, dass die Vorabausschüttung, d. h. der entsprechende Zahlungsanspruch, nicht unter der auflösenden Bedingung stehen kann, dass ein entsprechendes Jahresergebnis erzielt, sondern nur, dass ein solches verfehlt wird. Denn anderenfalls würde der Rechtsgrund für die Vorabausschüttungen gerade dann wegfallen, wenn es auf der Hand liegt, dass diese ihren vorläufigen Charakter verlieren.50 Soweit die Gesellschafter Vorabausschüttungen beschlossen hatten, braucht ein neuerlicher Verwendungsbeschluss, der bloß eine frühere Maßnahme der Ergebnisverwendung bestätigen würde, nicht gefasst zu werden; nur über die Verwendung des rechtlichen Bilanzgewinns ist zu beschließen,51 wobei eine Erwähnung der Vorabausschüttung im Ergebnisverwendungsbeschluss zur Klarstellung sinnvoll sein kann. Es liegt dann jedenfalls zwingend ein Fall der Bilanzaufstellung unter Berücksichtigung der teilweisen Ergebnisverwendung (§ 268 Abs. 1 HGB, § 29 Abs. 1 Satz 2 GmbHG) vor.52

V. Abgrenzung der Vorabausschüttung zum Entnahmerecht Wie bereits erwähnt, brauchen die Gesellschafter, um eine Vorabausschüttung beschließen zu können, keine entsprechende Ermächtigung im Gesellschaftsvertrag. Was letzterer indes vorsehen kann, ist das Recht der Gesellschafter, Vorabausschüttungen verlangen zu können, d. h. einen Anspruch auf diesbezügliche Beschlussfassung.53 Diesen Anspruch kann der einzelne Gesellschafter, weil in der Entscheidung für eine Vorabausschüttung auf das zu erwartende Jahresergebnis eine Maßnahme der Ergebnisverwendung liegt, in gleicher Weise durchsetzen wie den Anspruch auf Beschlussfassung der Gesellschafter

__________ 48 Zur Pflicht bzw. Möglichkeit der Gesellschaft, freie Rücklagen aufzulösen, soeben unter III. 49 W. Müller (Fn. 3), § 29 GmbHG Rz. 143. 50 Vergleichbar dann auch W. Müller (Fn. 3), § 29 GmbHG Rz. 144, mit Blick auf den Fall, dass die beschlossene Vorabausschüttung noch nicht ausbezahlt ist, und mit Recht gegen OLG Hamm, DStR 1992, 827, wo es heißt, eine vereinbarte Vorabausschüttung stehe unter der auflösenden Bedingung des sie rechtfertigenden Jahresergebnisses. 51 BFHE 122, 43, 45; W. Müller (Fn. 3), § 29 GmbHG Rz. 143; Emmerich (Fn. 3), § 29 GmbHG Rz. 87 m. w. N. 52 Emmerich (Fn. 3), § 29 GmbHG Rz. 87; ebenso W. Müller (Fn. 3), § 29 GmbHG Rz. 148 m. w. N., der zugleich auf die unterschiedlichen Darstellungsmöglichkeiten hinweist, die für den Fall bestehen, dass die Vorabausschüttungen beschlossen, bis zum Abschlussstichtag aber noch nicht ausgezahlt worden sind. 53 Hommelhoff (Fn. 3), § 29 GmbHG Rz. 47.

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Vorabausschüttungen in der GmbH

über die Ergebnisverwendung.54 Wegen der Orientierung am künftigen Jahresergebnis, d. h. der Erfolgsabhängigkeit, liegt aber jedenfalls eine Vorabausschüttung vor, für die immer das zuvor Ausgeführte gilt.55 Indes kann der Gesellschaftsvertrag auch erfolgsunabhängige Ausschüttungen an die Gesellschafter vorsehen, ihnen allen oder einzelnen also ein sog. Entnahmerecht einräumen; dass das GmbH-Recht anders als das Recht der oHG und der KG (vgl. §§ 122, 161 Abs. 2 HGB) kein Entnahmerecht vorsieht, steht dem nicht entgegen.56 Dies beruht auf dem Kapitalbindungssystem bei der GmbH, das von dem bei der Aktiengesellschaft – nach § 57 Abs. 3 AktG darf vor Auflösung der AG nur der Bilanzgewinn unter die Aktionäre verteilt werden – signifikant abweicht.57 Damit ist aber zugleich die Grenze definiert, wie sie auch für das Entnahmerecht gilt: Das in § 30 Abs. 1 GmbHG geschützte Stammkapital darf im Auszahlungszeitpunkt nicht verletzt werden; bei Verstoß sind die Gesellschafter zur Erstattung nach § 31 Abs. 1 GmbHG verpflichtet.58 § 29 Abs. 1 GmbHG darf im Gesellschaftsvertrag also nicht so abbedungen werden, dass der Gewinnauszahlungsanspruch zu einem allgemeinen Vermögenszugriffsanspruch erweitert wird.59 Daneben bedürfen Entnahmerechte einzelner Gesellschafter, wenn sie nachträglich in den Gesellschaftsvertrag eingefügt werden sollen, analog § 53 Abs. 3 GmbHG der Zustimmung aller anderen Gesellschafter.60 Nichts anderes gilt im Falle einer einmaligen Entnahme, für die ein einfacher Beschluss der Gesellschafter genügt.61 Zu beachten ist zum einen der Gleichbehandlungsgrundsatz: Soweit nicht alle Gesellschafter gleich behandelt werden, ist jedenfalls die Zustimmung der benachteiligten Gesellschafter erforderlich.62 Zum anderen darf nicht gegen § 30 Abs. 1 GmbHG verstoßen werden. Ob vor diesem Hintergrund überhaupt Raum für Entnahmen ist, kann am

__________ 54 Und damit auf Herbeiführung des den konkreten Gewinn(auszahlungs)anspruchs begründenden Tatbestandes; dabei hat der Gesellschafter richtigerweise im Wege der Leistungsklage vorzugehen, die gegen die Gesellschaft zu richten ist (ausführlich Witt in Bork/Schäfer [Fn. 3], § 29 GmbHG Rz. 15 ff. m. w. N., auch zu a. A. in diesem weitgehend ungeklärten Bereich). 55 Darüber hinaus wohl keine Entnahmen zulassend Hommelhoff (Fn. 3), § 29 GmbHG Rz. 47; Langheim (Fn. 18), § 29 GmbHG Rz. 66. 56 Allg. M.; statt vieler Binnewies, GmbH-StB 2002, 266, 267; außerdem Priester (Fn. 11), § 57 Rz. 67; W. Müller (Fn. 3), § 29 GmbHG Rz. 155, jeweils m. w. N.; ebenso Ekkenga (Fn. 7), § 29 GmbHG Rz. 92 mit dem Hinweis, dass der Vorgang insoweit gewinnabhängig bleibt, als freiwerdende Mittel aus (aufgelösten) Rücklagen – wie sie im Entnahmefall ausgeschüttet werden – stets den Bilanzgewinn erhöhen. 57 Hueck/Fastrich (Fn. 3), § 29 GmbHG Rz. 64. 58 Statt vieler Emmerich (Fn. 3), § 29 GmbHG Rz. 90; Priester (Fn. 11), § 57 Rz. 67. 59 So mit Recht Ekkenga (Fn. 7), § 29 GmbHG Rz. 92, der auch auf die Verstoßfolge hinweist: Nichtigkeit einer solchen Klausel wegen Gläubigergefährdung analog § 241 Nr. 3 AktG; im selben Sinne Wicke (Fn. 28), § 29 GmbHG Rz. 19. 60 Roth (Fn. 13), § 29 GmbHG Rz. 56; Hueck/Fastrich (Fn. 3), § 29 GmbHG Rz. 64; Emmerich (Fn. 3), § 29 GmbHG Rz. 90; Ensthaler/Hannewald (Fn. 41), § 29 GmbHG Rz. 24. 61 BGH, NJW 1984, 1037. 62 Hueck/Fastrich (Fn. 3), § 29 GmbHG Rz. 64.

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besten mit Hilfe einer Zwischenbilanz ermittelt werden. Eine solche ist den Gesellschaftern wie den Geschäftsführern daher auch hier – wie bei Vorabausschüttungen63 – dringend zu empfehlen, und den Geschäftsführern im Hinblick auf § 64 Satz 3 GmbHG auch eine Liquiditätsprognose.

VI. Steuerliche Behandlung von Vorabausschüttungen Die Vorabausschüttung an den Gesellschafter einer GmbH stellt, wenn sie den gesellschaftsrechtlichen Vorgaben entspricht, eine offene Gewinnausschüttung dar, die auf die Steuerbelastung der ausschüttenden GmbH keine Auswirkungen hat.64 Denn das zu versteuernde Einkommen einer GmbH wird mit definitiver Körperschaftsteuer in Höhe von 15 v. H. (§ 23 Abs. 1 KStG) besteuert, mag der Gewinn nun ausgeschüttet oder thesauriert werden (§ 8 Abs. 3 Satz 1 KStG). Vom Gesamtbetrag der Vorabausschüttungen muss die GmbH indes 25 v. H. Kapitalertragsteuer einbehalten und an das Finanzamt abführen (§§ 43 Abs. 1 Nr. 1, 43a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG). Dies gilt ohne Rücksicht darauf, dass die Vorabausschüttung beim einzelnen Gesellschafter möglicherweise zum Teil steuerfrei gestellt ist (§ 43 Abs. 1 Satz 3 EStG). Beim empfangenden Gesellschafter, der hierzulande einkommensteuerpflichtig ist und die GmbH-Beteiligung im Privatvermögen hält, liegen Gewinnanteile i. S. des § 20 Abs. 1 Nr. 1 EStG vor und damit Einkünfte aus Kapitalvermögen.65 Dies gilt auch dann, wenn es sich um Anteile i. S. des § 17 EStG (1%-Beteiligung) handelt.66 Der bei der GmbH erfolgte Abzug von Kapitalertragsteuer hat für diesen Gesellschafter abgeltende Wirkung (§ 43 Abs. 5 Satz 1 EStG). Gehört die Beteiligung an der GmbH hingegen nicht zum Privat-, sondern zum Betriebsvermögen des Gesellschafters, so folgt aus § 20 Abs. 8 EStG, dass die Vorabausschüttungen zu den Gewinneinkünften zählen. Damit kommt das sog. Teileinkünfteverfahren zur Anwendung, so dass nur 60 v. H. der Vorabauschüttungen steuerpflichtig sind (§ 3 Satz 1 Nr. 40 lit. d EStG),67 zugleich aber auch nur 60 v. H. der korrespondierenden Aufwendungen abgezogen werden dürfen (§ 3c Abs. 2 EStG). Die von der GmbH abgeführte Kapitalertragsteuer, die der Nettoausschüttung bei diesem Gesellschafter zugeschlagen wird

__________ 63 Dazu oben unter II 4. 64 Teufel in Lüdicke/Sistermann, Unternehmensteuerrecht, 2008, § 7 Rz. 135; Binnewies, GmbH-StB 2002, 266, 270; außerdem W. Müller (Fn. 3), § 29 GmbHG Rz. 138 und 149, der auch auf Fälle hinweist, in denen die GmbH noch ein Körperschaftsteuerguthaben aus der Zeit vor 2001 hat (also aus der Zeit des körperschaftsteuerlichen Anrechnungsverfahrens): Dieses Guthaben kann mit jeweils 1/6 der Gewinnausschüttung auch im Falle der Vorabausschüttung realisiert werden; ebenso Streck, 7. Aufl. 2008, § 37 KStG Rz. 27. 65 W. Müller (Fn. 3), § 29 GmbHG Rz. 150; Weber-Grellet in Schmidt, 31. Aufl. 2012, § 20 EStG Rz. 33; auch schon BFH, DStR 2004, 948, 949. 66 Birk, Steuerrecht, 14. Aufl. 2011, Rz. 1284 m. w. N., der indes auch auf § 32d Abs. 2 Nr. 3 EStG hinweist: Danach kann zur Anwendung des Teileinkünfteverfahrens optieren, wer zu mindestens 25 v. H. an der GmbH beteiligt oder bei mindestens 1%-Beteiligung beruflich für die GmbH tätig ist. 67 v. Beckerath in Kirchhof, 11. Aufl. 2012, § 3 EStG Rz. 107.

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Vorabausschüttungen in der GmbH

und damit zu den ihm zufließenden Einnahmen zählt, wird auf seine Einkommensteuer angerechnet (§ 36 Abs. 2 Nr. 2 Satz 1 EStG). Vorabausschüttungen, die an einen körperschaftsteuerpflichtigen Gesellschafter fließen, sind bei diesem zu 95 v. H. steuerfrei (§ 8b Abs. 1 und 5 EStG). Auch bei ihm wird die Kapitalertragsteuer, die von der GmbH abgeführt worden ist, bei den Einnahmen berücksichtigt, aber auf seine Körperschaftsteuer angerechnet (§ 31 Abs. 1 Satz 1 KStG i. V. m. § 36 Abs. 2 Nr. 2 Satz 1 EStG). Soweit der Gesellschafter Vorabausschüttungen an die Gesellschaft zurückzahlen muss, weil ein entsprechendes Jahresergebnis verfehlt worden ist,68 handelt es sich steuerlich nicht etwa um negative Einkünfte (aus Kapitalvermögen oder z. B. aus Gewerbebetrieb), sondern um nachträgliche Anschaffungskosten auf den GmbH-Anteil.69 Der Vorgang wird also wie eine Einlage behandelt. Damit verschiebt sich der steuerliche Vorteil, der dem Gesellschafter für den Nachteil der unberechtigten Besteuerung zugestanden wird, in die Zukunft, nämlich auf den Zeitpunkt der Veräußerung seiner GmbH-Beteiligung. Mit Blick auf Fälle des § 17 EStG erscheint dies bedenklich, weil dort der private Veräußerungserlös, der sonst im Rahmen des § 20 Abs. 2 EStG steuerbar wäre, in einen steuerbaren gewerblichen Gewinn umqualifiziert wird, während Beteiligungserträge als Einkünfte aus Kapitalvermögen behandelt werden.70 Schließlich wird der vom Gesellschafter zurückgezahlte Betrag der Vorabausschüttung auch bei der Gesellschaft als Einlage behandelt und dem steuerlichen Einlagenkonto (§ 27 Abs. 1 KStG) zugeschrieben.71

VII. Schluss Eine Vorabausschüttung auf das zu erwartende Jahresergebnis wird bei Gesellschaften mbH nicht selten praktiziert. Wenn der Kompetenzordnung (Erfordernis eines Gesellschafterbeschlusses, sofern der Gesellschaftsvertrag nicht eine abweichende Zuständigkeit vorgibt) und dem Gläubigerschutz (§ 30 Abs. 1 GmbHG) Genüge getan ist, bestehen dagegen vor dem Hintergrund der GmbHspezifischen Gestaltungsfreiheit auch keine Bedenken. Indes muss, weil es sich um eine Maßnahme der Ergebnisverwendung handelt, der für die jeweilige Gesellschaft geltende Gewinnverteilungsmaßstab beachtet werden.

__________ 68 Dazu im Einzelnen oben unter III. 69 W. Müller (Fn. 3), § 29 GmbHG Rz. 150; Teufel in Lüdicke/Sistermann (Fn. 64), § 7 Rz. 136; offen BFH, BStBl. II 1994, 561, 563; vgl. aber Weber-Grellet (Fn. 65), § 20 EStG Rz. 25 mit Nachw. der Rspr. zu Fällen der Rückzahlung von Beteiligungserträgen an die Gesellschaft, in denen der BFH auch für die Gesellschafterebene die Einlagelösung bejaht. 70 Sofern der betreffende Gesellschafter nicht zur Anwendung des Teileinkünfteverfahrens optieren kann (s. Fn. 66) und optiert. 71 Abschnitt 77 Abs. 10 Satz 6 KStR 1995; aus der st. Rspr. nur BFH, BB 2000, 548, 551; BFH/NV 2002, 222; ebenso Teufel in Lüdicke/Sistermann (Fn. 64), § 7 Rz. 135; jedenfalls für Rückzahlung verdeckter Gewinnausschüttungen auch Streck (Fn. 64), § 27 KStG Rz. 12.

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Carl-Heinz Witt

Die Vorabausschüttung hat freilich stets den Charakter einer erfolgsabhängigen und damit einer vorläufigen Maßnahme. Die Gesellschafter müssen daher damit rechnen, im Falle eines unerwartet geringen Jahresergebnisses zur Rückzahlung verpflichtet zu sein. Auf welche Anspruchsgrundlage die Gesellschaft das Rückforderungsbegehren stützen kann, ist bis heute ungeklärt, aber letztlich ohne Bedeutung. Denn die Gesellschafter können sich keinesfalls auf gutgläubigen Bezug oder auf Entreicherung berufen. Die vorabausgeschütteten Beträge stehen den Gesellschaftern erst dann endgültig zu, wenn ein Jahresergebnis erzielt wird, das die Vorabausschüttungen abdeckt, oder wenn dieses Ergebnis durch Auflösung freier Rücklagen erreicht wird. Gerade darin zeigt sich deutlich, dass die Vorabausschüttung eine Maßnahme der Ergebnisverwendung darstellt. Anschließend braucht nämlich nur noch über die Verwendung des restlichen Bilanzgewinns entschieden zu werden. Interessant ist die steuerliche Behandlung des Rückzahlungsfalles: Er wird bei der GmbH wie beim Gesellschafter wie eine Einlage behandelt. Die Vorabausschüttung stellt beim Gesellschafter also eine Einkunft dar, die Rückzahlung erhöht nachträglich die Anschaffungskosten für den GmbH-Anteil. Damit profitiert von dem Ganzen letztlich der Fiskus, erhält er doch eine Steuerzahlung eher, als er sie sonst, d. h. ohne (Vorab-)Ausschüttung, erhalten würde.

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Eddy Wymeersch

A New look at the Debate about the Takeover Directive Inhaltsübersicht 1. The changed environment 2. The two types of takeovers in the Directive 3. Private benefits of control 4. Delegated regulation

5. The takeover bid as a disciplining instrument 6. Anti-takeover defences 7. Conclusion

The revision of the Takeover Directive of 2004, about 8 years after its adoption, stands before us. This is 7 years after adoption, and barely 5 years after its final date of implementation. Is there enough new material to proceed to an in-depth revision? Or should it be a mere clean-up of the imperfections left in the Directive, especially dealing with the numerous blanks that were left behind? From a pragmatic point of view the latter position can be defended, as anyone who has lived through the original drafting will still remember the traumas that the adoption of this Directive left behind. One should, however, be aware that work on a takeover directive did not start in 2003 but goes back to the mid-1970s, (the Pennington report for those who still remember) and that effective preparation took place in the 1990s and early 2000s, so that the Directive essentially reflects the ideas of the last decades of the 20th century. Therefore revision of the Directive cannot be limited to its technical updating, but should attempt to take account of the evolutions that have taken place since then. This paper aims at pointing at some of these changes, also mentioning some elements where the ongoing financial crisis will have an influence. Therefore the time has come to reopen some of the core debates, and it seems unlikely that these will be avoided in any case.

1. The changed environment The financial markets have changed substantially since the late 1990s: most striking is the interconnection between markets, the springing up of new execution venues, being MTFs, OTFs, or other trading mechanisms, and the rise of the institutional investors. This may at least necessitate the adoption of a wider definition of the scope of a future directive, extending the present notion of „admission to trading on a regulated market“ to trading on publicly accessible trading venues. As a consequence, trading will take place in several jurisdictions other than that of the primary listing, leading to an increase of mul1375

Eddy Wymeersch

tistate transactions and diversity of jurisdictions concerned, and likely to call for more robust decision-making in a cross-border context. This point will be developed later. We have seen that the acquisition of control not only takes place by buying shares, but also by acquiring derivatives that give access to shares:1 these are the high profile cases of hidden ownership that took place in VW, Continental or the French Hermes shares, and other important companies where one party accumulated contracts for difference on the underlying shares that did not have to be disclosed since they were not acquisitions. This technique has falsified one of the fundamental understandings in our markets for corporate control, i. e. that control will not be acquired surreptitiously. Traditionally this matter should be part of the Transparency Directive where it is planned to be dealt with more explicitly.2 Another substantial factor of change relates to the supervisory system that has considerably changed in 2011. I refer here to the creation of a European regulatory and – in some fields – supervisory body, the European Securities and Markets Authority (ESMA). Although the ESMA regulation does not include the Takeover Directive 2004/25 among its core competences, it mentions that ‚the authority shall also take appropriate action in the context of take-over bids, clearing and settlement and derivative issues“3 One can understand this wholesale reference as an indication that the position of ESMA will further have to be defined in the forthcoming directives and regulations as projects have already been tabled in two of the three topics mentioned.4 The precise impact of the institutional change will be briefly mentioned later.

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1 On 14 September 2011 ESMA launched a call for evidence on empty voting, including hidden ownership, building further on the Commission’s work in this field (ec.europa. eu/internal_market/securities/docs/transparency/Directive/com-2010-243_en.pdf). See also the statement of the European Corporate Governance Forum, 20 February 2010, at ec.europa.eu/internal_market/company/docs/ecgforum/ecgf_empty_voting_en.pdf; on empty voting and similar subjects see: David Skeel, Behind the Hedge, Legal Aff., Nov.–Dec. 2005, at 28, 29–30 (emphasizing that Perry’s economic incentives were diametrically opposed to the interests of other Mylan shareholders – the more overpriced the acquisition, the more Perry would have profited due to its stake in King). For thoughtful and extensive analysis of the new vote buying techniques, see generally Henry T.C. Hu & Bernard Black, The New Vote Buying: Empty and Hidden (Morphable) Ownership, 79 S. CAL. L. REV. 811 (2006); Marcel Kahan & Edward B. Rock, Hedge Funds in Corporate Governance and Corporate Control (Univ. of Pa., Inst. for Law & Econ. Research Paper No. 06-16, 2006), available at http://ssrn.com/ abstract=919881. 2 The Transparency Directive, art.10 (b) deals with an empty voting case in some instances; but the threshold is too low to be useful in the takeover context. A revised proposal is expected somewhere in 2012. 3 Art. 1 (3) ESMA Regulation1095/2010 of 24 November 2010, OJ 15 December 2010. 4 See EMIR proposal (on [OTC] derivative transactions, central counterparties and trade repositories) and Clearing and Settlement proposals (see: Enhancing Safety of European financial markets: common rules for CSD and securities settlement, /europa.eu/ rapid/pressReleasesAction.do?reference=IP/11/29&format=HTML&aged=0&language= en&guiLanguage=en); See; Proposal for a regulation on improving securities settlement in the European Union and on central securities depositories (CSDs) and amending Directive 98/26/EC, Com(2012)73/2.

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The most fundamental evolution however relates to company law – including corporate governance – itself. The 2004 Directive was conceived in times where the company paradigm was mainly based on the dispersed ownership model in which since individual shareholders are unable to exercise power, the management mainly dominates the company, and the takeover instrument was needed to discipline that management.5 Conversely, the concentrated ownership model was disfavoured and the Takeover Directive contains some provisions reducing the block holders’ or controlling shareholders’ power: these are the provisions about the board’s neutrality, the breakthrough rule, and the ineffectiveness of restrictions on the transfer of shares as far as the bidder is concerned.6 Most of these rules have in practice not been very effective due to the opt-out clauses of article 12.7 Since then much has changed: the corporate governance movement was still in its infancy and its ideas are almost entirely absent from the Directive. The financial crisis has shaken our belief in several aspects of the prevailing thinking of the late 1990s: the efficient market hypothesis is put into doubt or at least is not the only explanation theory put forward. The capture of boards by the management was originally aimed at by appointing independent directors, but results have remained elusive, if not worse. At the same time, the position of the CEO has been weakened.8 New forms and techniques of monitoring have been investigated and sometimes applied, especially by relying on significant shareholders (private equity) or by empowering institutional and professional investors (stewardship). The role of the shareholder as part of the company decision-making process has come to the forefront by strengthening his legal position or facilitating the exercise of his vote (Shareholder Rights Directive) and the beneficial influence of block holders and even controlling shareholder as elements of growth, stability and long term investment are being rediscovered.9 All these elements are likely to have a profound influence on the revision of the Takeover Directive. When outlining a new takeover regime, the overall setting should be taken into account without remaining focused on one single factor like the control

__________ 5 Gilson R, Controlling Shareholders and Corporate Governance: Complicating the Comparative Taxonomy, Aug 2005, ECGI – Law Working Paper No. 49/2005, calls attention to this shift in academic analysis and mentioning the IMF’s and World Bank’s preferences for the dispersed ownership model in the 97–98 Asian financial crisis, and in other later actions. 6 Art. 9 to 12, Takeover Directive. 7 See Commission staff, Report on the implementation of the Directive on Takeover Bids, SEC(2007) 268 21 February 2007, http://ec.europa.eu/internal_market/company/ docs/takeoverbids/2007-02-report_en.pdf noting that some states even strengthened their antitakeover provisions; See further the analysis by Davies, P.L., Schuster, E.Ph., Vande Walle de Ghelcke, E., The Takeover Directive as a Protectionist Tool? http:// ssrn.com/abstract=1554616. 8 See Rock E. and Kahan, M., Embattled CEOs, http://ssrn.com/abstract=1281516. 9 See Gilson, R, nt 5, mentions that insulation from market pressures may lead to support for longer term investment to the extent that this is in line with technological developments (p 35).

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premium or private benefits of control.10 A new regime should strive to strike a balance between flexibility including contestability and stability and long term value creation, including in terms of human capital.11

2. The two types of takeovers in the Directive The fundamental structure of the Directive is based on the existence of two types of takeover bids that have quite different regulatory features: the open voluntary type and the mandatory bid. These two types correspond to different objectives: the first one is a technique for the integration of different businesses, whether with the agreement of the target or not, and is in that sense a regular commercial transaction, although usually taking place off-market. A specific but important feature is that it allows the company to be auctioned to the highest bidder and the price is freely determined and reflects supply and demand on the control market. The Directive is mainly concerned with ensuring that the transaction can take place in a fair and transparent way, with full disclosure so that investors can make a reasoned choice. Rather few bids take on an aggressive or unsolicited character: in practice, it happens frequently that these are open and voluntary bids taking place on a consensual basis, the former block holders in the target tendering their shares within the bid. Economically, these transactions come down to an economic merger, an alternative technique to a more complicated legal merger. Once the company is put into play and in case the target board disagrees, the takeover rules become fully operational. In the European approach12 the board is held to neutrality, expressing a fundamental distrust of the board that is assumed to pursue entrenchment in its personal interest, and not to strive at maximising shareholder value, as in the case in US especially Delaware law The mandatory bid appears similar but has quite different characteristics. It is based on the idea that someone acquiring control in a listed company is obliged to extend an offer to all shareholders, and eventually to take over the entire company. Control is defined by the Member States as ranging between 25 and 50 %. Often control is acquired after a transfer of a block of shares by the previous block holder, or controlling shareholder, but accumulation of a block in the market beyond the threshold, or even other forms of creation of a control position – through acting in concert – would also lead to the same obligation. The rule raises considerable doubts with respect to its justification, its scope and the rules of application of the requirement, and finally as to its wider ex-

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10 See Burkart, M. and Panunzi, F., Takeovers, ECGI – Finance Working Paper No. 118/2006, http://ssrn.com/abstract=884080. 11 Many of these elements are discussed in The Kay Review of UK Equity Markets and long-term decision makeup (Febr 2012). http://www.bis.gov.uk/assets/biscore/ business-law/docs/k/12-631-kay-review-of-equity-markets-interim-report. 12 Followed by most EU Member States, 14 out of 27 did not opt out of the neutrality rule, while 5 added to the rule the reciprocity feature; 8 did opt out thereby rendering the neutrality rule inapplicable, some with an opt-in for companies, which none did. See P. Davies, a.o. nt. 7.

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ternalities. Many of these objections have several times been analysed and described before the rule was introduced as a Europe-wide obligation.13 Many years after its introduction, these arguments remain valid, although the actual practice has in some respects followed different paths. The rule applies to all companies with listed shares, irrespective of whether the equity is widely dispersed or held by one or a few controlling shareholders. Generally the rule is based on the inequity that the controlling shareholder on his own can take advantage of the control premium, being the difference between the price actually paid and the normal value of the equity, usually the pre-bid market price.14 As the seller would pocket that premium, it would be legitimate that all shareholders would be entitled to it in practice by giving all shareholders the right to receive an offer at the same – but proportionally reduced – price. If not, as the buyer has paid the premium, he will consider himself to be entitled to receive the same premium benefit as his predecessor, to take advantage of new private benefits and continue to act to the detriment of the other shareholders. In national law, the ambit of the rule has been defined very broadly. Although other cases have been mentioned under national law, the usual cases are the following. The rule applies not only to private transfers of control, but also to a bidder acquiring shares on the market, or from a number of larger shareholders none of which could aspire to exercising control. Hence, in these cases no premium

__________ 13 See E. Wymeersch, Mandatory takeover bids: a critical view, in K.J. Hopt and E. Wymeersch (Ed), European takeovers, law and practice, 351–368, 1992; The Takeover Bid Directive, Light and Darkness. http://ssrn.com/abstract=1086987; S.M. Sepe, Private sale of corporate control, Why the European mandatory bid rule is inefficient http://www.unisi.it/lawandeconomics/simple/043_Sepe.pdf; L. Enriques, The Mandatory Bid Rule in the Takeover Directive: Harmonization Without Foundation? (2004) 4 European Company and Financial Law Review; SSRN, 702461, and Harmonisation as Rent-seeking?, in G. Ferrarini a.o. (ed.), Reforming Company and Takeover Law in Europe, 2004, 767, argues that not the shareholders, but the controlling shareholders and the directors, and the advisers to the companies, including the supervisors are the real beneficiaries of this rule. See J. Lau Hansen ‚When Less Would be More: The EU Takeover Directive in its Latest Apparition‘ (2003) 9 The Columbia Journal of European Law; B. Sjäfjell ‚The Golden Mean or a Dead End? The Takeover Directive in a Shareholder versus Stakeholder Perspective‘, in S.M. Bartman (ed) European Company Law in Accelerated Progress, Kluwer Law International, 2006; M.J. Sillanpaää ‚Enhancing Shareholders‘ Equality by a Takeover Bid Rule in the Articles of Association‘ in Law under Exogenous Influences, M. Suksi (ed) (Turku, Turku Law School, 1994); R. Skog Does Sweden Need a Mandatory Bid Rule? A Critical Analysis (Stockholm, Juristförlaget, 1995): J. Schans Christensen, Contested Takeovers in Danish Law: A Comparative Analysis based on a Law and Economics Approach, Copenhagen, 1991, pp. 226–231. Since the enactment of the Directive, criticism has been muted. 14 The premium is also defined as the difference between the price per share paid by the acquirer and the price quoted in the market the day after the sale’s announcement. See Dyck, A and Zingales, L, Private Benefits of Control: An International Comparison, http://ssrn.com/abstract=296107. This approach is more adapted to control acquisition in a dispersed market.

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is paid, and control is not acquired, but „created“. Nevertheless this party is bound to bid for all shares although the obligation is not linked to the transfer of a control premium, but to the mere fact that he acquires control where there was none before.15 One could imagine that a mandatory bid would be justifiable as his control position may open the way for later private benefits of control: but this is not the hypothesis, as the mandatory bid protects the previous shareholders, not the later ones. But in the absence of any threat of appropriation of private benefits – see further – one really does not understand why the mere acquisition of control is treated differently from exercising control. A comparable situation occurs when a control position is the result of a number of shareholders acting together to influence the future of the company.16 According to the legislation in some states, these shareholders will be obliged to jointly launch a mandatory bid for all shares, although they have not paid any premium or acquired any share. The mere creation of control is the trigger, raising difficult questions of interpretation as to what constitutes this „concerted action“. As the latter notion has been interpreted very extensively in order to avoid any risk of evading the mandatory bid, useful agreements have been prevented and this in cases in which there was no fear of private benefits, and in which the partners in the concerted action would have been particularly anxious to avoid any suspicion of conflicts of interests. Another consequence of the broad reading of „concerted action“ is that one has seen parties to an agreement among shareholders developing elaborate and refined agreements in order to avoid seeming to act in concert, e.g. by merely agreeing to expose their respective positions before a general meeting but without reaching a formal agreement on a common position.17 Placed before the risk of a mandatory bid, parties will not enter into such an agreement,18 and rather than build a stable shareholder basis, will maintain dispersed positions that over time are likely to destabilise the company. In times when long term investment is politically desirable, this cannot be the recommended course of action. Other cases of acquisition of control may trigger the bid obligation: a capital increase, even a merger although these are usually exempted for policy reasons such as the will to strengthen the capital base, or to allow for necessary economic reconstruction. Although the logic for mandating a bid upon paying a control premium to a selling shareholder can be supported, the existing legislation is not linked to the existence of a control premium or to any evidence thereof. It is linked to

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15 The Directive, article 5 declares the rule applicable to acquisition of shares leading to control, without mentioning a specific threshold, what was left to the Member States. Concerted action is also expressly mentioned. 16 See according to the UK definition of „Board Control seeking“ as the core criterion, see Takeover Panel, practice note 26, 9 September 2009; /www.thetakeoverpanel. org.uk/wp-content/uploads/2008/11/PS26.pdf. 17 See about this case, CBFA Annual Report, Report DC 2007", 57. 18 Or hide it, or frame the agreement in such a way that it does not entail binding obligations, but merely the engagement to talk to each other.

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the acquisition of shares, exceeding a threshold. As other formal thresholds, the cliff effect is evident: parties acquire 29.9 % and are not bound to bid, while once they cross the threshold, a bid becomes inevitable.19 That payment of a control premium up to 29.9 % is innocent but triggers very considerable obligations at a tenth of a percentage more, is puzzling, the more so since no proof is required either of the fact that the last acquisition transferred control, or that any control premium was paid. In the latter case, the premium effectively paid would have been a very small one, as relating to only 0.1 % of the shares. The case has also been discussed whether a bid obligation exists if the threshold is exceeded as a consequence of the company repurchasing some of its own shares. It is argued that by not triggering the obligation to make a bid, this technique is an easy way of circumventing the bid obligation as the shareholder whose position is increased is a significant shareholder who is likely to have influenced the repurchase decision. Unnecessary to add that in these cases issues such as the existence of a control premium or the reality of a control acquisition are not separately analysed. By detaching the bid obligation from the core notion of acquisition of shares with a control premium, the legislation has extended the scope of the rule beyond its original purpose that is to ensure that shareholders are treated equally and that the selling controlling shareholder is not the only one who can pocket the control premium. It has developed into a theory whereby all or most transactions that lead to a change in control should be subject to the bid obligation, thereby evidently rendering restructuring of companies much more difficult. The rule is sometimes justified by the consideration that a change of control is a danger to the shareholders, as the new controlling shareholder might abuse his position, attributing to himself additional private benefits, or might destroy the company altogether by striking out excess capacity in the market. But these are side effects: there is no reason to assume that the new controlling shareholder will be worse than the previous one. Therefore in the absence of control premia paid on a change of control, there is no reason not to allow control changes. According to the mandatory bid rule as applicable to mere control transactions, only a bidder for all the shares will be entitled to undertake the target’s restructuring, which means that the rule introduces an incentive to further concentration in the industry. Indeed only the largest companies are able to offer an attractive price for all the shares of the target company. At least in certain, smaller European states, one has witnessed that this rule has led to playing all larger local companies into the hands of companies originating from abroad, usually from the larger states. Diversity has suffered. The usual hypothesis in which the mandatory bid rule applies is the one in which a controlling shareholder, or minority block holder sells his block20 for

__________ 19 Usually legislation provides a so-called „white wash“ for cases of inadvertent crossing of the threshold. 20 This is usually a 30 % or 1/3rd block, standing for working control in most companies with wider ownership.

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a considerable premium, and leaves all the remaining shareholders in the cold. The control premium stands financially for several components: usually these are considered to be due to future private benefits, which the seller can receive as the buyer expects that he too will be able to extract from the firm. But apart from these benefits, the premium may also stand for whether an opportunity value – it is difficult to put one’s hand on a large block without upsetting the market, and the seller is unlikely to agree if he does not get a very attractive price – or a justified remuneration for the control function, i. e. taking up of the day-to-day responsibility for the management or exercising the monitoring function that can be expected from him, while on the basis of his direct access to the information, his reaction to ongoing developments will be much faster. Moreover, it may also stand for the seller bearing the risk of a non-diversified portfolio and restricting his trading possibilities. Therefore not all components of the control premium can be considered „objectionable“, or are to be shared with the other shareholders. The consequences of the rule are considerable: the acquirer is obliged to bid for all shares, in several jurisdictions at the highest pre-bid price so that the control premium is spread over all shares and will benefit all tendering shareholders. But in other jurisdictions other price formulas are used such as the highest pre-bid price over a certain period of time, which may not necessarily achieve the same equal treatment effect. The bidder’s financing needs will be considerably higher, leading to hesitation to initiate the transaction, which may in turn lead to freezing the control block if no bidder is willing to pay the excessive premium requested by the seller, to be multiplied over all shares. However, one will never know which transactions were prevented as a consequence of the rule. Once having paid the full bid price, the bidder may lack the additional funds to restructure the firm that has now come under his control. The actual practise is also revealing: these days most control transactions take place as voluntary bids, outside the mandatory bid framework, allowing the objectives of the mandatory bid rule to be achieved but without applying it. Also, in voluntary bids, there is no minimum price and the selling block holder cannot impose his conditions. In many cases, bidders are not interested in acquiring a minority stake, but bid for all shares, and will attempt to go private if the conditions for a squeeze-out are realised, after which they can freely restructure the firm, or integrate it into other parts of their group. This leads to delistings, eliminating all concerns about private benefits, and to further erosion of the range of shares on offer in the markets. In times where more and more companies leave the markets, this policy is not what is needed. Block holders will often not agree to transfer their block beforehand: they may commit themselves to tender their shares – not agreeing to a binding transfer – in the later bid, leaving room for further improved or counterbids. Hence these bids are fully contestable control transactions. But recently the fear that voluntary bids may not offer the best price for investors has been raised. With the very low market valuations in today’s market, bidders may acquire even very well run companies „on the cheap“, with some complaints that shareholders 1382

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do not get the „fair“ value for their shares. Therefore it has been proposed that these voluntary bids should only become binding if at least half of the outstanding shares have been tendered, which would in fact be equivalent to half the shares voting for the takeover.21 The rule would probably not apply to mandatory bids, as this would be an incentive for the bidder to limit his stake to the minimum he has acquired pre-bid

3. Private benefits of control The mandatory bid rule has now been firmly anchored in our market practices and in the share valuations, and it would be very difficult to reverse it. It is understandable that people object that the bidder gets access to considerable private benefits, and that he would be able to receive these on the back of the other shareholders. But whether the remedy for that evil is the mandatory bid is far from sure: is this not fighting a real evil with the wrong weapons? As far as the „private benefits of control“ are concerned, one should further analyse the extent to which they constitute a valid basis for the mandatory bid rule. The control premium covers more than private benefits,22 that only relate to the extraction of benefits due to conflicts of interest situations. As stated above, not all benefits flowing to controlling shareholders or block holders are the result of abusive conduct: some will especially represent the normal remuneration for the control function in the company, other stand for an illiquidity premium. Therefore, one does not see why a full bid for all shares is needed when control is acquired that would not lead to private benefits, e.g. in jurisdictions where private benefits are reported to be very low to negligible.23 One could add the cases of long standing controlling shareholders, e.g. old industrial families concerned about their reputation,24 who would consider private benefits contrary to their philosophy or ethics or where the presence of

__________ 21 The rule has been considered in the Netherlands (Bijlage bij Kamerstuk 31083 nr. 4, 29 November 2011: Besluit houdende wijziging van het Vrijstellingsbesluit overnamebiedingen Wft) but has not yet been adopted. 22 See on that subject the distinction proposed by Gilson, nt.5, between efficient and inefficient controlling shareholders, depending on whether their added value exceeds the private benefits, and aimed at introducing a wider assessment base than mere private benefits. 23 Gilson, nt. 5, based on earlier work of Tattiana Nenova and Dyck and Zingales, nt. 14. compares three legal systems where private benefits presented significant differences depending on the quality of the law. In terms of difference to market price, the private benefits were reported as being 1 % in Sweden, 29 % in Italy and 36 % in Mexico. In terms of the control block premiums, the figures were respectively 7 %, 37 % and 34 %. 24 This element is mentioned by Coffee, J., The Rise of Dispersed Ownership; The Role of Law in the Separation of Ownership and Control, ssrn 254097; Stulz, R. and Williamson, R. 2001, Culture, Openness and Finance NBER working paper 8222 (9 April 2001) analyses a predominant characteristic for explaining a country shareholders’ and creditors’ rights: ‚a country’s principal religion helps predict the crosssectional variation in creditor rights better than a country’s openness to international trade, its language, its income per capita, or the origin of its legal system.“

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numerous family members would exclude one of them taking advantage of his leading position. Moreover, there is no obvious direct relationship between private benefits and control transactions: controlling shareholders will have been able to enjoy their private benefits obviously without much controversy, and this long before the takeover. But once they sell their control block, the private benefits suddenly become controversial, and should be shared with all shareholders. This position is not logical, nor satisfactory from a policy point of view. But if the premium is paid for the higher returns the buyer will achieve as a consequence of his reorganisation of the firm, there is no reason why the tendering shareholders should benefit from this premium from the outset, while the buyer’s subsequent efforts would benefit all future shareholders, especially those that stayed on board. The problem is not the control transaction, but the private benefits that are reallocated as a consequence of the control transaction. Therefore the private benefits issue should be further discussed. As mentioned above, not all private benefits are illegitimate, but only those that are the result of the possibility of a shareholder taking advantage of his powerful position to direct company advantages to himself, his family or the group he directs. There may be private benefits of this type at the level of the board, the management, but the most important ones relate to the shareholders, often in the context of a group of companies. Whether real or perceived private benefits can flow to any of these parties can be attributed to the absence of a solid legal regime for related-party transactions and other conflicts of interest situations, but are not the only factors limiting the grant of private benefits. According to Dyck and Zingales,25 an alert press,26 tax compliance – especially on transfer pricing – and enforced competition rules were also very – if not more – important drivers explaining considerable differences between jurisdictions in this respect.27 These should be considered as enhancing instruments for a regime that strongly regulates private benefits. One could argue that if such a solid legal regime applied, private benefits would largely disappear. In some jurisdictions there are considerable restraints on private benefits or related-party transactions; these may be due to ethical constraints or tradition, but more visibly to legal provisions submitting related-party transactions to strict conditions, both in terms of financial conditions and of economic justification. The regime should apply on a permanent basis, and not be

__________ 25 See Dyck and Zingales, nt. 14. 26 Also underlined by Gilson, R, nt, 5 at p. 33. 27 Dyck and Zingales, nt. 14 found that the average level of private benefits differ substantially across different legal families. „Private benefits are highest in former communist countries (34 percent), then countries with a French code (21 percent), and countries with a German, English, and Scandinavian code seem to have the lowest level of private benefits (11, 6 and 4 percent)“. But this conclusion was further refined as many factors influence the possibility of reaping private benefits; among these „a high level of diffusion of the press and a high rate of tax compliance were identified as the most important institutional factors“ (p. 38).

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limited to a specific transaction like a change of control. The overall situation in the EU Member States is very diverse, and the effectiveness of the existing provisions may need to be evaluated. To the extent that private benefits are the core justification for the mandatory bid rule, it is more than excessive to require that all shares have to be acquired because there is a fear of private benefits. It would be more intelligent to restrict these benefits on a permanent basis: it looks illogical that private benefits are more or less allowed, or at least are not strictly forbidden during the existence of a company, but become objectionable once the control block changes hands. If on the basis of adequate regulation the private benefits would disappear, the buyer of control will be less inclined to include the present value of these benefits in the offer price, and the seller will have to accept that fact the more easily as he did not get them either. Therefore the restriction on private benefits should be imposed as a permanent discipline, not as a one-off restriction at the moment of a control transaction, triggering numerous unintended consequences for several parties concerned. The conclusion of this analysis should be that the automaticity of the mandatory bid should be limited to cases where a controlling block is acquired – hence not mere control transactions – but could be waived if strong evidence is produced and guarantees offered that strict rules on related-party transactions apply, the latter having to be better defined. The legal basis could be found in the company provisions on conflicts of interest, preferably strengthened by internal instruments – such as charter provisions, codes of conduct including corporate governance techniques – and supervisory guidance from the market supervisors28 along with appropriate disclosures to the shareholders. The securities supervisor should be put in charge of determining whether these conditions are met, and if so may waive the mandatory character of the bid.29 The issue of the related-party transactions and more generally of the way of dealing with conflicts of interest largely exceeds the subject of takeover bids, but is a general company law concern that also manifests itself as a core issue in the field of groups of companies where much of the hotly debated issues flow from the existence of intragroup transactions concluded among related parties. Therefore it is urgent that work be started on this topic, for which several models have been developed in the Member States, some relying more on a general fiduciary duty which is difficult to enforce, others on internal procedures allowing for objective decision-making by the board and approval by the general meeting or by the non-conflicted shareholders in the general

__________ 28 See infra about the role of ESMA. pt. 4. 29 See for the waiver: art 4 (5) Takeover Directive. This rule is severely criticised by Papadopoulos, Th., The Mandatory Provisions of the EU Takeover Bid Directive and Their Deficiencies, Law and Financial Markets Review-LFMR, Vol. 1, No. 6, pp. 525– 533, November 2007.

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meeting.30 An alternative that has been suggested is the approval of the transaction by a special committee of the shareholders. The two main concerns are: is the transaction in the interest of the company, and secondly are the conditions of the transaction fair and at arm’s length. Whatever the approach followed it should allow the elimination to a large extent of the negative effects of related-party transactions, and this on an ongoing basis and not only in case of control transactions. Provided this approach is successful, one could also reduce the scope of the mandatory bid obligation. Recommendations On the basis of the foregoing analysis, the following recommendations can be made – there is a strong need to develop robust rules on related-party transactions and conflicts of interest. This topic does not belong in this Directive, but is a general company law subject aiming at protecting minority investors. It should apply on a permanent basis, and not merely receive attention in case of a change of control; it should be based on disclosure, expert evaluation and approval by independent directors, any other independent body and/or by the AGM. – some transactions could usefully be excluded from the mandatory bid rule: these are mere control transactions such as market transactions, or concert agreements, where no control premium is involved; – if no private benefits of control are involved – whether on the basis of strict regulation, or a strong showing of actual practice – the mandatory bid requirement could be waived by the competent authority (see Art. 4.5) – pre-bid transfer commitments should be declared unenforceable, urging parties to realise the transaction through an open, voluntary and contestable bid.

4. Delegated regulation One of the original purposes of the Directive consisted in putting an end to the confusion that existed with respect to takeovers that took place in several jurisdictions. The solution adopted was the traditional ‚home state rule‘, whereby the company’s registered office determined the supervisory competence if listed in that market, even if most of the trading takes place in other

__________ 30 For an analysis of three systems see: Conac, P-H, Enriques, L, Gelter, M, Constraining Dominant Shareholders’ Self-Dealing: The Legal Framework in France, Germany, and Italy, European Company and Financial Law Review, Vol. 4, No. 4, 2007, http://ssrn.com/abstract=1532221; see further: Bianchi, M., Bianco M. and Enriques, L., Pyramidal Groups and the Separation Between Ownership and Control in Italy, January 2006, ECGI – Finance Working Paper No. 118/2006, http://ssrn.com/ abstract=293882; Italian Consob has adopted detailed „Regulations containing provisions relating to transactions with related parties“, see http://www.consob.it/ mainen/documenti/english/laws/reg17221e.htm.

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EU markets. In case of listing in another jurisdiction but not in the jurisdiction of the company’s registered office, the supervisory authority of the place of trading will be competent,31 but will necessarily have to take account of the legal regime of the state where the registered office is located. The solution adopted is even less convincing in case of „admission to trading“ in several jurisdictions, in which case the place of first admission to trading will prevail, or in case of simultaneous admissions in multiple jurisdictions the state designatedly the issuer on the first day of the trading of its shares. All these „conflict of law“ rules are based on a political compromise, but are far from the economic realities that would logically be based on the volume of trading. This may result in unfortunate outcomes when trading is concentrated in one state with considerable expertise in takeover matters, while competence is attributed to another state without any significant experience. The same applies with respect to the expertise of the law courts in said jurisdiction. The criteria used in the Directive also fall short of modern practices: trading is increasingly scattered over several trading platforms and trading techniques, volume rapidly shifting from one market to another, leaving the initial moment of „admission“ as not necessarily the most significant. Moreover, can the place of trading be determined if most transactions take place in an electronic trading platform, that is not necessarily located in any specific place and may be owned by a non-EU financial firm? Usually, competence is attributed on the basis of the location of the firm that organises the trading venue, but this may be controversial and could seriously disturb contested takeovers. In addition, the absence of rules relating to trading – or listing – in a third country has not even been mentioned: a reference to cooperation agreements in the Directive could be expected to have clarified this additional element of complexity, but no such agreement is known. My suggestion would be to replace these criteria, that looked simple and efficient in the 1990s, by a more cooperative approach, essentially giving precedence to the principal place of trading where the strongest public interest can be expected to be pursued, while also involving the other markets. The Directive refined its approach with respect to multistate takeovers by splitting the competence between the market jurisdiction and the company jurisdiction. This split was presented as a neat one: the bid procedure normally went to the market-related rules and supervisory authority of the place of listing, while the enterprise aspects – including importantly the company law aspects – went to the registered office „authority“. Essential aspects such as the percentage of voting rights for defining „control“, the derogations from the bid obligation, or generally „matters relating to company law“ were put under the guidance of the jurisdiction of the state where the company has its registered office, but it is unclear who will decide.

__________ 31 Art. 4 (2) (b), Takeover Directive.

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Whether in that jurisdiction there was a supervisory authority in charge of matters relating to „company law“ is far from sure, while that jurisdiction might not extend to companies listed exclusively in another state. Indeed in many jurisdictions there is no authority competent for company law matters, except the courts. All this certainly would have required a strong cooperation culture, especially as legal cultures are still quite different among Member States.32 Since then matters have changed. Recently, ESMA has been created with wide powers of coordination of the action of the national supervisory authorities33. In case a bid concerns shares not only listed but also traded in several jurisdictions that may each have a legitimate interest as to the fair and orderly development of the bid, ESMA would normally be the point of contact where common positions would be elaborated on the basis of the cooperation duty of the national supervisors concerned. One could consider that in case of multistate offers, a college of supervisors34 would be created under the leadership of the authority of the market where the largest trading takes place, within which college coordinated standpoints would be developed and adopted in common. These decisions could be considered precedents for later decisions and made public for guidance of market practitioners. Moreover, in case no agreement could be achieved, the mediation powers of ESMA will usefully come into play, and lead to a binding decision for all national authorities involved.35 This more cooperative approach implied a rethinking of the scheme underlying the present article 4, as all jurisdictions with a sufficient share of the trading would be involved. More importantly for the future development of the rules on takeovers, in the fields identified in the future directive, the Directive should confer powers on the ESMA to develop regulatory standards36 that, after endorsement by the Commission, could bring clarity in the numerous items that have been left open in the Directive or that will need interpretation in the very rapidly moving field of takeover bids. In the past, the Commission has not made use of the powers conferred on it by article 6 referring to the comitology procedure referred to in article 18, which dates back to the pre-CESR times. In the future, one can expect ESMA to adopt proposals for further interpretation of the future Directive’s provisions contributing to fair and orderly markets. One could refer e.g. to article 13, where the Member States were invited to develop at that time non-harmonised rules governing the conduct of bids – such as the lapsing of a bid, revision of bids and competing bids –, a matter for which high level common standards might usefully be enacted as the rules and practices in one

__________ 32 Art. 4 (4) mentions cooperation but does not expressly refer to the matters mentioned here. 33 Art. 31, ESMA Regulation, nt.3. 34 Art. 21, ESMA Regulation, nt.3. 35 Art. 19 and 20, ESMA Regulation, nt.3. 36 Art. 10, ESMA Regulation, nt. 3.

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state might affect bids for companies in other states, while confusion would result in case of multistate bids.37 But perhaps more importantly and beyond strict regulation, one should especially mention the powers of ESMA to develop guidance and recommendations.38 It is well known that the takeover area is one of rapid and unpredictable developments and with considerable difficulty in establishing general rules of a binding nature. Better coordination by way of guidance to market practitioners would make the takeover procedure more predictable, or at least clarify the attitude that supervisors are likely to adopt, which is essential with respect to the strong conflictual nature of takeovers. This could apply to individual decisions of national authorities e.g. in the field of derogations, where divergent practices – or even regulations – exist. But actual practice will reveal that close follow-up on emerging and today unknown issues will be of great help to all parties involved. Although not binding in the legal sense, these recommendations would have a moral value having been adopted by the competent authorities in the EU. These recommendations could usefully inspire national authorities confronted with new issues, as is already the case today with the exchange of case law, or with an ESMA group exchanging experiences in this field. These different arguments plead for giving ESMA a central role in the development of future, more precise rules and recommendations in the takeover field, along with coordinating action in individual cases. Some will object that under their national supervisory structure, the bodies in charge of overseeing takeovers are not members in ESMA: this is the case in several Member States, such as the UK, Austria and Sweden. In fact, the regulation on ESMA contains an express provision taking that hypothesis into account by stating that for these specific matters, the national body in charge of takeovers will take part in the ESMA decision-making.39 Recommendations The formal competence of ESMA in the future directive should be made explicit in the ESMA regulation Blanks in the present Directive should be covered, whether by Commission regulation, by Regulatory Technical Standards or by guidance and recommendations. For multistate transactions, coordination should take place within a college of supervisors, involving all jurisdictions where trading takes place, while the

__________ 37 But it may be discussed in which fields and to what degree of detail these Regulatory Standards would go, as many takeover and assimilated transactions are purely national. Priority should be given to multi-state transactions where differences in practice or interpretation may have a negative impact on ongoing bids. For a more interventionist view: Papadopoulos, Th., nt. 25. 38 Art. 16, ESMA Regulation. 39 See Art. 40 (4) and (5) of the ESMA Regulation.

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role of ESMA as coordinator and if needed mediator has to be stipulated in the future directive The competence of ESMA for international matters could be extended to agreements e.g. on procedures or exchange of information in relation to third countries.40

5. The takeover bid as a disciplining instrument One of the traditionally strongly stressed advantages of takeover bids, especially those of the unsolicited type, is the threat a bid exercises on the incumbent management or on the target’s board, and therefore the disciplining pressure exercised on them. Even without a specific threat, boards can be expected to be sensitive to the risk of unsolicited bids and take corrective action a long time in advance. A board receiving signals about an impending bid will normally become very nervous and attempt to thwart the bid, especially as long as the bid has not officially been announced. Indeed the Directive rules relating to defensive tactics only start to apply with the official announcement of the bid.41 But the disciplining effect is abrupt, limited to a specific signal from the markets that is often difficult to distinguish from market rumours, and these rumours are not always taken very seriously by the incumbent board and management. To act on a vague signal involves a considerable risk for the target locking in shareholder value. As a consequence many companies have preferred to take protective action outside the bid context, and the legislation of several Member States has been generous in offering defensive techniques.42 This leads to entrenchment by boards, and block holders, that may be detrimental to the interest of the company or of all shareholders.43 The question is not: should management be disciplined, but is this the best way to achieve the objective of disciplining management.

__________ 40 Art. 33, ESMA Regulation. 41 Art. 9. 2 Takeover Directive, but Member States may be stricter by declaring the rule applicable once the bid is „imminent“. See Take Over Panel, 6 Aug 2004 „Put up or Shut up“ and no intention to bid statements. 42 See for an overview of control enhancing mechanisms, ISS, Report on the proportionality Principle in the European Union, 18 May 2007. 43 The entrenchment of boards has a negative effect on the company’s share evaluation. This is amply evidenced in the studies by L.Bebchuk (esp. Bebchuk, L., Cohen, A., and Ferrel, A., What Matters in Corporate Governance? http://ssrn.com/abstract= 593423; also Bebchuk L. and Cohen, A., The Costs of Entrenched Boards. http://ssrn. com/abstract=556987) dealing with the US staggered boards, the latter being rarely met in Europe. Although the principle would also apply to European companies with respect to fully entrenched boards, the stronger position of the shareholders, and their ability to dismiss the board might lead to a different analysis. The existence of control enhancing mechanisms would probably be the more significant factor of entrenchment. But these authors also mention the long term benefits that may flow from a better and more stable board, as that may induce management to make efficient long term investments, or avoid anti-takeover action that would divert them from pursuing the right business objectives. So nothing is uni-dimensional in this subject; see the Kay Review, nt 11.

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The topic of remuneration is a good example of an attempt to discipline management and board conduct that has evidently not yielded very convincing results. In this field, self-regulation has failed and hard regulation is not evidently optimal. Indeed in 2010 and notwithstanding the stricter and stricter regulations in the banking sector, remunerations have increased substantially, by 26 % according to some sources. And the renewed attempts to impose even stricter rules in the CRD IV is likely to increase the pressure for other ways to circumvent the fundamental concerns that are ultimately the level of remuneration and less its structure. All thus however, before the „shareholder spring“. Therefore the issue is: what can be done if we want better and stronger disciplining of management and the board, what alternatives do we have that are less dramatic than a full takeover bid, are also less expensive, and would be more effective in terms of outcomes? In the past several techniques have been tried: disclosures have been imposed, e.g. on remuneration, but the outcome has been the opposite of what was intended, i. e. in considerable increase in pay.44 The presence of independent board members has been made mandatory, initially as a minority, nowadays often a majority of the board, but their effectiveness has not been overwhelming in the financial crisis. Moreover, their independence has often been considered more important than their knowledge and expertise. The introduction of the audit committee and other corporate governance instruments has certainly strengthened the position of companies and their returns.45 New attempts were made more recently by trying to actively involve the shareholders, as the ultimate guardians of the corporate interest: indeed they bear the ultimate risk of wrong decisions and therefore could be expected to be the most interested party in seeing that decisions are in their interest, which are supposed to be identical with the company’s interest. But here the difficulty is first to determine who are the shareholders – would they include the high frequency traders, or those with empty positions? –, and how to mobilise them, as for most of them share ownership is a matter of mere investment, not of entrepreneurship. Several initiatives have been put forward to activate the equity holders’ interest, allowing e.g. institutional investors to vote on the basis of a record date – and not of their actual holding –, or making proxy voting or electronic voting more flexible. Mandatory voting, with disclosure of

__________ 44 The role of remuneration advisers should be mentioned here as they may have had a more direct impact on this type of competition among managers. Idem about the publication of anti-takeover defences. 45 With respect to the contribution made by different corporate governance instruments to better return, see Gompers, P., Ishii, J., and Metrick, A., Corporate Governance and Equity Prices, http://ssrn.com/abstract=278920; Aggarwal, R, Erel, I, Stulz, R and Williamson, R, Do U.S. Firms Have the Best Corporate Governance? A CrossCountry Examination of the Relation between Corporate Governance and Shareholder Wealth http://ssrn.com/abstract=954169, ECGI – Finance Working Paper No. 145/2007; Brown, L. and Caylor, M., Corporate Governance and Firm performance http://ssrn.com/abstract=586423.

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the positions taken, identification of the shareholder throughout the multilayered securities depositary structure, flexibility in the proxy mechanisms are being discussed or considered. Ambitious engagement initiatives were undertaken in the UK46 to insure that asset managers – described as „stewards“ – that are held to a fiduciary duty towards the beneficiaries in their asset management activity would more actively enter into dialogue and monitor the companies in which they invested their clients’ moneys. It is still too early to evaluate these efforts – are they mere „gentle, harmonious exchanges of views“? –, but it is interesting to mention that they point to the creation of stronger ownership nuclei – even as low as 1 to 3 % – that are absent in the UK companies where highly dispersed ownership has been the rule which tipped the power balance strongly in favour of management. Moreover, stronger engagement would allow the world of the financial shareholders to reconnect with the industrial world, as trust has been damaged. Some have been playing with the notion of a „shareholder committee“ as is known in the Swedish „remunerations committees“ composed of significant shareholders, and to a certain extent also in the Netherlands. Shareholder committees would be composed of significant shareholders – not block holders in the traditional sense – that take a deep interest in the company’s long term welfare and could have their voice heard or even decide on certain matters such as conflicts of interest, appointment of auditors or of independent directors. All these efforts aim at establishing stronger links between shareholders and the company’s leaders, creating a better informed, more stable long-term relationship that would allow well informed continuous management monitoring and may contribute to the formulation long term policies. One can expect this action to support better run companies, that are less dominated by adventurous managers, are more productive, engage in longer term projects which is supposed to be beneficial to the shareholders. Therefore it is essential that the conditions under which this stewardship action can be developed be clearly spelled out, indicating the borderlines with full legal or de facto control, but also with the action of activist investors. As a disciplining mechanism, a takeover – at least in its aggressive form of an unsolicited bid – is the most extreme and most aggressive one and clearly a case of a breakdown of any dialogue. But in terms of disciplining management’s action, it is also the most expensive, unpredictable and very risk prone one for both target and bidder.47 Therefore it is useful to point to alternative instruments that may be equally if not more effective as being specifically targeted to identified shortcomings of the target’s company structure or management.

__________ 46 See: Financial Reporting Council: The UK Stewardship Code, July 2010; see Cronin, Ch. and Mellor, J, An investigation into Stewardship, engagement between investors and public companies: Impediments and their resolution, FGRE and CEPS, June, 2011. 47 The absence of any pre-bid due diligence is undoubtedly a major risk for the bidder.

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Activist investors play more or less this role as far as disciplining management is concerned, their intervention being mostly focused on specific, short time issues on which they want the company to act, but not on controlling the business, sitting on boards or even less on taking it entirely over or running it themselves. Not all activists act in an aggressive way: some merely address the company’s governance, e.g. by requiring an under-performing CEO to leave, changing the composition of the board by including more expertise, or disposing of certain assets that may constitute a burden on the market evaluation of the shares. In some cases activists made demands for splitting up the company or prohibiting a merger to the dismay of several of its stakeholders. Whether that was justified or not depends on the merits of the individual case,48 but at least constitutes an example of external disciplining that is equally powerful as a takeover bid, but more targeted and easily realisable. The reaction of companies to activist shareholders is usually very negative, but their role is prophylactic: therefore it is advisable to better define and streamline their activity, rather than curbing it entirely as seems to be considered in some jurisdictions. Usually, the reaction of the shareholders to these more aggressive initiatives is crucial, which constitutes a return to the original company scheme, where the last word belongs to the shareholders. Activist action in the US often results in a takeover,49 with considerable profits if it succeeds. But one should distinguish: in case of a takeover, shareholders react individually without much if any organised dialogue among them. Each acts out of his individual financial position, not looking at the collective interest or the interest of the company as such. This sharply contrasts with the original company scheme, where decisions are taken after collective deliberation in the general meeting, or at least after an exchange of views may have taken place. Both techniques of decision making present affinities as resulting in the same outcome but are fundamentally different as based on collective v. individual decisions So the argument that takeovers are needed for disciplining management has only relative value, relates to takeover as a disciplining instrument of last resort, not the preferred one and should be considered in the broader context of other external monitoring instruments. More attention should be paid to these instruments and the legal conditions under which they can take place.

6. Anti-takeover defences The most controversial articles of the Directive are the much-discussed articles 9 to 12. These are the result of a difficult negotiation that ultimately ended in a miserable compromise that had little substance and was even coun-

__________ 48 In cases of splitting the company one often sees that the market valuations of the part is higher than the previous value of the integrated business. 49 Schor, M, and Greenwood, R, Investor Activism and Takeovers, http://ssrn.com/ abstract=1003792, indicating abnormal return for companies ultimately taken over, but not for the failed attempt.

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terproductive at least if one looks at the later assessment by the Commission e.g. on the board neutrality rule. It is not clear whether it would be advisable to revise these articles, as the price may be that the revision of the entire Directive will be blocked for a long time. The board neutrality rule has survived better than expected. Moreover, the present equilibrium – which is essentially a free for all – has not frequently prevented takeovers from taking place, the case of state intervention excepted. It is unclear whether it has urged management to act like in the US, i. e. activate the defences to better protect the shareholders financial rights and improve shareholder value. But the intellectual debate should at least take place. Some have proposed a system that would be based on a mandatory board neutrality rule, with on opt-out for companies individually, probably with a supermajority.50 Whether that would allow the controversy to be solved can be doubted: targets could still adopt pre-bid defences, making any neutrality purposeless. In companies with controlling block holders, the outcome is likely to be defensive, while in the companies with dispersed ownership, the outcome will be known in advance: institutional investors or arbitrageurs are very unlikely to vote for an opt-in that might seriously damage the return on their portfolios. There are essentially three types of provisions in the Directive that deal with anti-takeover defences: the board neutrality rule, the breakthrough rule and the restrictions on voting rights and on the transfer of shares.51 Each of these provisions can be waived in whole or in part by the national legislator, leading to considerable diversity among the national regimes. This would prevent the emergence of a real European market for corporate control. The Commission 2007 inventory of implementation concluded that the neutrality rule remained applicable in most jurisdictions that had introduced it although some had removed it, while the breakthrough rule was almost never52 adopted by any state and obviously no data are available about the restrictions on voting rights and share transfers.53 The famous compromise therefore resulted in what could be expected, i. e. a standstill, or even a regression. However, later evolutions in the Member States should be taken into account and the report which the Commission has ordered from Marccus advisors will certainly contain interesting data.54 Moreover, the economic context has considerably changed with

__________ 50 See P. Davies, nt.7. A similar, but more generally applicable proposal was formulated by Hertig, G., and McCahery, J.A., Company and Takeover Law Reforms in Europe: Misguided Harmonization Efforts or Regulatory Competition?, August 2003, ECGI – Law Working Paper No. 12/2003; http://ssrn.com/abstract=438421 who proposed that companies opt-into the Takeover Directive, or opt for national law. 51 Respectively Art. 9 (20), Art. 11 (4) and Art. 11 (4). 52 Estonia excepted. 53 See the proportionality study, nt. 42. 54 The report has in the meantime been published; The Takeover Bids Directive Assessment Report, ec.europa.eu/internal_market/company/docs/takeoverbids/study/study _en.pdf with a report from the European Commission, ec.europa.eu/internal_market/ company/docs/takeoverbids/COM2012_347_en.pdf.

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the financial crisis making national governments much more sensitive to takeovers by firms from other jurisdictions, even within the EU, leading some governments to active interventions in the takeover market. Although there are no figures available one would not be astonished to learn that more takeovers have been thwarted by – mostly informal – government intervention than by anti-takeover defences.55 Moreover, some Member States have adopted formal legislation that would subject takeovers by foreign interests to government authorisation. These actions have divided the market for corporate control much more than any private anti-takeover mechanism. One also expects this evolution to be investigated in the abovementioned Marccus report. Indeed, there is a fear that we are engaged in the wrong discussion, as the real issues are political and do not fit into the present discussion about the reform of the takeover Directive or of company law. The neutrality rule art. 9 (2) as it has been adopted in a considerable number of Member States serves to prevent boards protecting themselves („entrenchment“), but does not clearly state that its purpose is to protect the shareholders. It only mentions that the board can seek alternative bids as a defensive mechanism. The experience especially from the US indicates that the use of defensive techniques may strongly contribute to improving the position of the shareholders not only in triggering alternative bids, but also and especially in exacting better conditions from the bidder. Therefore it seems logical that the mere exception to ‚seeking alternative bids‘ should be broadened to any other technique allowing the board to take action that is likely to improve the financial condition of the shareholders. This formulation – which is the expression of the fiduciary duty of the board – as is the prevailing view in the US – should make it clear that entrenchment by the incumbent board should be avoided, but not to the point that it would be detrimental to the shareholders. With respect to the other – especially pre-bid defences – the debate should be repositioned from a market perspective – each shareholder deciding for himself whether or not to tender his shares – to a company perspective, according to which the future of the company is to be decided by a vote of the shareholders, hence by a collective decision in the AGM. What seems contrary to one of the fundamental concepts of company law is that decisions about the final destiny of the company are not taken by the shareholders, in a collective decision (AGM) duly and fully informed. Many will answer that the „shareholders“ in a takeover situation are short-term traders, hedge funds and other speculators to whom the traditional investors have sold once the bid has been announced. This argument may be true but does not change the fundamental point that the shareholders, whoever they are, should make the final determination. It would change a series of individual decisions whether or not to tender the shares, by a collective one, achieved in the context of a well-established proce-

__________ 55 See the blocking of the French Sanofi takeover by Swiss Novartis; the attempts to block the takeover of Danone by US Kraft, although no offer was ever launched; more recently the Italian blocking of a Parmalat takeover by French Lactalis, terminated only after a French-Italian political agreement.

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dure, with full disclosure and if possible after due debate. This approach would also eliminate some of the „anomalies“ in company law, according to which a legal merger or – in some jurisdictions – a transfer of a substantial part of the assets is subject to a formal decision of the general meeting after a more or less elaborate procedure has been followed, while in case of a takeover the company’s supreme body is not involved. This proposal is submitted for discussion in the hope that it will avoid a new deadlock on these matters but allow the discussion to be repositioned where it belongs, i. e. that ultimately it is for the shareholders to decide. They should decide about the future development of the company, and this after a transparent and open debate. But some difficult additional questions will be raised to which no ready answer is available. Would the rule apply to all bids, or only to those where defences have come to light? And would mandatory bids also be included? In principle, all bids should be covered as the fundamental issue about the company’s future is posed in voluntary bids as well as in mandatory bids. The subject submitted to the AGM should be about the company’s future, and on the basis of that about the defences as these have been put to work. If the motion if adopted, defences will come to an end. Most difficult is the issue of the majorities: if, as proposed, one would admit that pre-bid transactions to the bidder would be unenforceable, or limited to a certain percentage, one could admit that all shareholders, including the bidder would be entitled to vote, and that 75 % – or any other qualified majority – of the votes cast should agree with the new orientation of the company. This would bring the decision in line with a merger, or a sale of all assets56 In case of a mandatory bid, the rules would be the same, which would mean that the controlling shareholder cannot sell the company on his own, but only with the consent of a vast majority of co-shareholders. One will notice that the proposal comes close to the breakthrough rule: indeed there are clear similarities, the main differences being that ultimately the decision is not adopted by shareholders individually, but as part of a collective decision making process. But anyone who has been engaged in the field of takeover will certainly understand that new ideas may not necessarily receive much attention. The discussion should at least be started.

7. Conclusion The Takeover Directive has laid the basis for a better organisation of takeovers in Europe, especially by introducing better coordination of the procedure in cases of multistate takeovers. But the provisions of the Directive dealing with designating the competent authorities have to be updated taking into account the changes in the regulatory system in Europe (ESMA), in the trading patterns and the changed perspectives in company law. Differently from the concepts

__________

56 At least in certain jurisdictions.

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followed at the end of the previous century, there is more understanding these days as to the role played by stable shareholders. This leads to a better analysis of the issues of private benefits of control that should be avoided on a permanent basis, and not only at the moment of a control acquisition. As a consequence, the obligation to make a bid in case of crossing a certain threshold should be mitigated by ensuring that the new controlling shareholder can obtain no private benefits. For other, open bids, the usefulness of the takeover technique is widely recognised and should be supported as the ultimate disciplining instrument. However, the takeover is not the most efficient disciplining mechanism, and other instruments should be supported as well. Finally, the debate on defensive techniques will probably not be avoided. It is proposed that this debate should be repositioned in terms of the overall decision-making mechanism in company law and allow the general meeting to ultimately decide what are the effects of takeover protections and which direction the company should take. Differently from proxy solicitation as a disciplining instrument – with which this proposal is affiliated – here the decisions are adopted in light of a firm offer and the shareholders will know what will be the financial consequence of their decision. Dealing with takeovers often results in a dilemma,57 one being obliged to take account on the one hand of the necessary flexibility, the risk of entrenchment, irresponsible conduct and abusive private benefits, and on the other, to create stability and innovation, responsible ownership, supporting the long term growth. This balance will only be struck in an appropriate way by dealing not only with the technical case of takeover bids, but should include the wider legal, financial, social context in which business activity is undertaken. One can hope that the European regulators will be open to take this wider view into consideration.

__________ 57 A similar dilemma but limited to the balance between entrenchment and protection of shareholder rights is mentioned in Becht, Marco, Bolton, Patrick and Röell, Ailsa A., Corporate Governance and Control (October 2002). ECGI – Finance Working Paper No. 02/2002. Available at SSRN: http://ssrn.com/abstract=343461.

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Schriftenverzeichnis Professor Dr. Dr. h.c. mult. Peter Hommelhoff

Inhaltsübersicht I. Selbständige Schriften und Kommentare II. Abhandlungen in Zeitschriften und Sammelwerken

III. Entscheidungsanmerkungen und -besprechungen IV. Buchbesprechungen V. Herausgeberschaft

I. Selbständige Schriften und Kommentare 1. Die Sachmängelhaftung beim Unternehmenskauf, Köln u. a. 1975 (Abhandlungen zum deutschen und europäischen Handels- und Wirtschaftsrecht, Band 13) 2. Die Konzernleitungspflicht – Zentrale Aspekte eines Konzernverfassungsrechts, Köln u. a. 1982; unveränderter Nachdruck 1988 3. Zur Haftung bei unternehmerischer Beteiligung an Kapitalgesellschaften, Köln 1984 4. Fischer/Lutter/Hommelhoff, Kommentar zum GmbH-Gesetz, 12. Aufl., Köln 1987 (mit M. Lutter) 5. Lutter/Hommelhoff, Kommentar zum GmbH-Gesetz, 13. Aufl., Köln 1991 bis 17. Aufl., Köln 2009 (derzeit mit W. Bayer, D. Kleindiek und M. Lutter) 6. Kapitalersatz im Gesellschafts- und Insolvenzrecht, 2. Aufl., Köln 1989 bis 5. Aufl., Köln 1997 (mit H. von Gerkan) 7. Empfiehlt es sich, das Recht faktischer Unternehmensverbindungen neu zu regeln? – Gutachten für den 59. Deutschen Juristentag, München 1992 8. Verbraucherschutz im System des deutschen und europäischen Privatrechts, Heidelberg 1996 9. Kommentierung der §§ 127, 133, 134, 141–146 UmwG, in: Lutter, Kommentar zum Umwandlungsgesetz, Köln 1996 bis 3. Aufl., Köln 2004 (mit M. Schwab) 10. Schiffer-Compagnie und Stralsunder Obrigkeit, Kückenshagen 1999 11. Eigenkapitalersatzrecht in der Praxis, Köln 2000; 2. Aufl., Köln 2001 (mit W. Goette) 12. Kommentierung der §§ 290, 292a HGB, Anhang zu § 292a HGB sowie §§ 342, 342a HGB, in: Canaris/Schilling/Ulmer (Hrsg.), Staub Großkommentar zum Handelsgesetzbuch, 4. Aufl., Berlin/New York 2002 (mit M. Schwab) 1399

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13. Kommentierung zum Übernahmerecht: Vor § 35 WpÜG sowie §§ 35–39, 59 WpÜG, in: Haarmann/Schüppen (Hrsg.), Frankfurter Kommentar zum WpÜG, Heidelberg 2002; 2. Aufl., Frankfurt a. M. 2005; 3. Aufl., Frankfurt a. M. 2008 (mit C.-H. Witt) 14. Fortführung der Bahnreform – Materielle Privatisierung eines integrierten Konzerns, Empfehlungen des BahnBeirats, Heidelberg 2006 (mit G. Aberle, H. Albach u. a.) 15. Kommentierung des § 117 AktG, in: K. Schmidt/Lutter (Hrsg.), Kommentar zum Aktiengesetz, Köln 2008; 2. Aufl., Köln 2010 (mit C.-H. Witt) 16. Kommentierung der Artt. 9 und 10 SEVO, in: Lutter/Hommelhoff (Hrsg.), SE-Kommentar, Köln 2008 (mit C. Teichmann) 17. Die „Europäische Privatgesellschaft“ am Beginn ihrer Normierung, Bonn 2008 18. Kommentierung der §§ 342b–342e HGB, in: Canaris/Habersack/Schäfer (Hrsg.), Staub Großkommentar zum Handelsgesetzbuch, 5. Aufl., Berlin/ New York 2012

II. Abhandlungen in Zeitschriften und Sammelwerken 1. Die Sachmängelhaftung beim Unternehmenskauf durch Anteilserwerb, ZHR 140 (1976), S. 271–300 2. Die aktienrechtliche Pflichtprüfung – eine Zwischenbilanz: Gedanken zum Buch „Wirtschaftsprüfung heute: Entwicklung oder Reform?“, AG 1977, S. 237–243 3. Satzungsmäßige Eignungsvoraussetzungen für Vorstandsmitglieder einer Aktiengesellschaft, BB 1977, S. 322–326 4. Die Geschäftsordnungsautonomie des Aufsichtsrats – Fragen an die Gestaltungsmacht des Satzungsgebers, BFuP 1977, S. 509–518 5. Unternehmensführung in der mitbestimmten GmbH, ZGR 1978, S. 119– 155 6. Nachrangiges Haftkapital und Unterkapitalisierung in der GmbH, ZGR 1979, S. 31–66 (mit M. Lutter) 7. Vollausschüttung und Verbot stiller Reserven – Ein Plädoyer für die Novellierung des § 29 Abs. 1 GmbHG, GmbHR 1979, S. 102–111 8. Der aktienrechtliche Organstreit – Vorüberlegungen zu den Organkompetenzen und ihrer gerichtlichen Durchsetzbarkeit, ZHR 143 (1979), S. 288– 316 9. Finanzierungsmaßnahmen zur Krisenabwehr in der Aktiengesellschaft, BB 1980, S. 737–750 (mit M. Lutter und W. Timm) 10. Stand und Entwicklungstendenzen des Unternehmens- und Gesellschaftsrechts in der Bundesrepublik Deutschland, in: Jurist (Japan) 1980, Heft 719, S. 110–119 (mit M. Lutter und Y. Kiuchi) 1400

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11. Das Unternehmens- und Gesellschaftsrecht in der Bundesrepublik Deutschland – ein Bericht über die Jahre 1976–1979, Rivista delle Società 1980, S. 523–570 = Schweizerische Aktiengesellschaft 1980, S. 38–62 = Revue de droit comparé (Japan) 1980, S. 65–120 = de naamloze vennootschap 1981, S. 20–39 (mit M. Lutter) 12. Insolvenzschutz für die Geschäftsleiter-Betriebsrente – Bemerkungen zu den Betriebsrenten-Urteilen des Bundesgerichtshofs, in: Konkurs-, Treuhand- und Schiedsgerichtswesen, Köln u. a. 1981, S. 1–16 und 289–324 (mit W. Timm) 13. Gesellschaftsrechtliche Fragen im Entwurf eines Bilanzrichtlinien-Gesetzes – Bemerkungen zur Umsetzung der 4. EG-(Bilanz-)Richtlinie, BB 1981, S. 944–954 14. Zur Abgrenzung von Unternehmenskauf und Anteilserwerb, ZGR 1982, S. 366–390 15. Das Risikokapital der GmbH, in: Roth (Hrsg.), Die Zukunft der GmbH, Wien 1983, S. 15–39 16. Jahresabschluß und Gesellschafterinformationen in der GmbH, in: Baetge (Hrsg.), Der Jahresabschluß im Widerstreit der Interessen, Düsseldorf 1983, S. 242–268 = ZIP 1983, S. 383–393 17. 4. EG-Richtlinie und Wahl der Unternehmensform – Zur Auswirkung veränderter rechtlicher Rahmenbedingungen auf die Organisationsform der Unternehmen, in: Kießler/Kittner/Nagel (Hrsg.), Unternehmensverfassung – Recht und Betriebswirtschaftslehre, Köln 1983, S. 187–213 18. Zur Methodik kautelarjuristischer Arbeitsweise: „Der Werkstattwagen“, Jura 1983, S. 592–604 und 647–657 (mit K. Hillers) 19. Vereinbarte Mitbestimmung, ZHR 148 (1984), S. 118–148 20. Frühwarnsysteme und Auslösungsmechanismen für das Insolvenzverfahren – Korreferat, ZfB 54 (1984), S. 698–716 21. Examensklausur Zivilrecht: „Die mißlungene Wagenwäsche – ein AGBFall“, Jura 1984, S. 34–52 (mit R. Stüsser) 22. Eigenkapital-Ersatz im Konzern und in Beteiligungsverhältnissen, WM 1984, S. 105–111 23. Zur Kreditüberwachung im Aufsichtsrat, in: Festschrift für Winfried Werner, 1984, S. 315–337 24. Eigenkontrolle statt Staatskontrolle – rechtsdogmatischer Überblick zur Aktienrechtsreform 1884, in: Schubert/Hommelhoff (Hrsg.), Hundert Jahre modernes Aktienrecht, Berlin/New York 1984, S. 53–105 25. Rechtliche Überlegungen zur Vorbereitung der GmbH auf das Bilanzrichtlinien-Gesetz, WPg 1984, S. 929–939 26. Reaktionsmöglichkeiten der vorsorgenden Vertragspraxis für die GmbH auf das Bilanzrichtlinien-Gesetz, JbFSt 1984/1985, S. 397–423 1401

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27. Zur Anteils- und Beteiligungsüberwachung im Aufsichtsrat, in: Festschrift für Walter Stimpel, 1985, S. 603–620 28. Übungsklausur Zivilrecht: „Die unterschlagenen Tanzmäuse“ – Verfügung eines minderjährigen Nichtberechtigten, Jura 1985, S. 654–659 (mit R. Stüsser) 29. Das Unternehmens- und Gesellschaftsrecht in der Bundesrepublik Deutschland – ein Bericht über die Jahre 1980–1984, Schweizerische Aktiengesellschaft 1985, S. 167–174 = de naamloze vennootschap 1985, S. 87–106 und 124–133 = Rivista delle Società 1986, S. 122–206 = Revue de droit comparé (Japan) 1986, S. 17–32 (mit M. Lutter) 30. Der Unternehmenskauf als Gegenstand der Rechtsgestaltung – Besprechung kautelarjuristischer Anleitungsbücher und -texte, ZHR 150 (1986), S. 254–278 31. Die Ergebnisverwendung in der GmbH nach dem Bilanzrichtliniengesetz, in: Hommelhoff/Priester, Bilanzrichtliniengesetz und GmbH: Rechtsregeln und Satzungsgestaltung, ZGR-Sonderausgabe, 1986, S. 418 ff. = ZGR 1986, S. 418–462 32. Bilanzrichtliniengesetz und GmbH-Satzung – Gestaltungsmöglichkeiten und Gestaltungsgrenzen, in: Hommelhoff/Priester, Bilanzrichtliniengesetz und GmbH: Rechtsregeln und Satzungsgestaltung, ZGR-Sonderausgabe, 1986, S. 463 ff. = ZGR 1986, S. 463–517 (mit H.-J. Priester) 33. Satzungsklauseln zur Ergebnisverwendung in der GmbH – Der Einfluß des Bilanzrichtliniengesetzes auf die notarielle Vertragsgestaltung, in: Hommelhoff/Priester, Bilanzrichtliniengesetz und GmbH: Rechtsregeln und Satzungsgestaltung, ZGR-Sonderausgabe, 1986, S. 323 ff. = DNotZ 1986, S. 323–341 (Teil 1); DNotZ 1986, S. 395–405 (Teil 2) (jew. mit U. Hartmann und K. Hillers) 34. Machtbalancen im Aktienrecht – rechtsdogmatische Einführung in die Verhandlungen des Aktienrechtsausschusses, in: Schubert/Hommelhoff (Hrsg.), Die Aktienrechtsreform am Ende der Weimarer Republik, Berlin 1986, S. 71–100 35. Eigenkapital der Kapitalgesellschaften, in: Leffson/Rückle/Großfeld (Hrsg.), Handwörterbuch unbestimmter Rechtsbegriffe im Bilanzrecht des HGB, Köln 1986, S. 134–141 36. Rechtsprechung zum Mitbestimmungsgesetz 1976, DBW 1986, S. 568–576 37. Die Unternehmensbilanz auf dem Prüfstand des neuen Bilanzrechts – Fälle und Diskussionsbeiträge, JbFSt 1986/87, S. 387–464 38. Aspekte der Selbstfinanzierung in der GmbH – Regelungsanstöße im Bilanzrichtliniengesetz, zfbf 1987, S. 236–245 = WPg 1987, S. 217–223 39. Schuldrechtliche Verwendungspflichten und „freie Verfügung“ bei der Barkapitalerhöhung, ZIP 1987, S. 477–491 (mit D. Kleindiek) 1402

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40. Der Verlustausgleich im Mehrmütter-Vertragskonzern – zu den Legitimationsgrundlagen der aktienrechtlichen Ausgleichspflicht, in: Festschrift für Reinhard Goerdeler, 1987, S. 221–239 41. 100 Bände BGHZ: Aktienrecht, ZHR 151 (1987), S. 493–516 42. Grundfragen eines Rechts der Unternehmensbewertung, JbFSt 1987/1988, S. 181–192 43. Zum revidierten Vorschlag für eine EG-Konzernrichtlinie, in: Festschrift für Hans-Joachim Fleck, 1988, S. 125–150 44. Konzernmodelle und ihre Realisierung im Recht, in: Druey (Hrsg.), Das St. Galler Konzernrechtsgespräch, Bern/Stuttgart 1988, S. 107–127 45. Eigenkapitalersetzende Gesellschafterdarlehen und Konkursantragspflicht, in: Festschrift für Georg Döllerer, 1988, S. 245–268 46. Das Gesellschafterdarlehen als Beispiel institutioneller Rechtsfortbildung – Referat zum Symposion „Richterliche Rechtsfortbildung im Gesellschaftsrecht“, ZGR 1988, S. 460–493 47. Formerfordernisse für Unternehmensverträge im GmbH-Recht, NJW 1988, S. 1240–1242 (mit M. Lutter) 48. Die Gründung einer Tochtergesellschaft in Japan, in: Lutter (Hrsg.), Die Gründung einer Tochtergesellschaft im Ausland, 2. Aufl., Berlin/New York 1988, S. 217–244 (mit Y. Kiuchi) 49. Kapitalerhaltung – Fälle und Diskussionsbeiträge, JbFSt 1988/89, S. 372– 447 50. Börsenhandel von GmbH- und KG-Anteilen? – Zu den Vorschlägen der Kommission „Zweiter Börsenmarkt“, ZHR 153 (1989), S. 181–215 51. Für eine Anwalts-GmbH – Zu den Voraussetzungen interprofessioneller Unternehmensberatung, in: Liber amicorum für Walter Hasche, 1989, S. 101–118 52. Zur Diskussion gestellt: Aufwandspauschalen für Anfechtungskläger?, AG 1989, S. 168–170 (zusammen mit W. Timm) 53. Buchwertklausel und Gewohnheitsrecht, Verantwortete Gestaltungsfreiheit, Auslandsbeurkundung – drei Statements, in: Bundesnotarkammer (Hrsg.), Sonderheft der DNotZ zum 23. Deutscher Notartag in Frankfurt, 1989, S. 104–112 54. Handels- und Gesellschaftsrecht: Eigenkapitalersetzendes Gesellschafterdarlehen, JuS 1989, S. 643–649 55. Takeover-Richtlinie und europäisches Konzernrecht, AG 1990, S. 106–111 (mit D. Kleindiek) 56. Die deutsche GmbH im System der Kapitalgesellschaften, in: Roth (Hrsg.), Das System der Kapitalgesellschaften im Umbruch – ein internationaler Vergleich, Köln 1990, S. 26–61 57. Produkthaftung im Konzern, ZIP 1990, S. 761–771 1403

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58. Zur Kontrolle strukturändernder Gesellschafterbeschlüsse, ZGR 1990, S. 447–476 59. Gesellschaftsrechtliche Fragen im Entwurf eines SE-Statuts, AG 1990, S. 422–435 60. Nutzungsüberlassung im Gesellschafts-, Zivil- und Steuerrecht – Fälle und Diskussionsbeiträge, JbFSt 1990/91, S. 433–493 61. Internationale Partnerschaftsformen des Gesellschafts- und Berufsrechts, in: Sahner (Hrsg.), Freie Berufe in der DDR und in den neuen Bundesländern, Lüneburg 1991, S. 121–130 62. Aktuelle Probleme des Konzernrechts, in: Baetge/Theisen (Hrsg.), Finanzierung und Besteuerung der Unternehmung und des Konzerns, Stuttgart 1991, S. 219–230 63. Gesellschaftsformen als Organisationselemente im Konzernaufbau, in: Mestmäcker/Behrens (Hrsg.), Das Gesellschaftsrecht der Konzerne im internationalen Vergleich, Baden-Baden 1991, S. 91–132 64. Teilkodifikationen im Privatrecht – Bemerkungen zum Produkthaftungsgesetz, in: Festschrift für Fritz Rittner, 1991, S. 165–185 65. Zum Wegfall des Erstattungsanspruchs aus § 31 GmbHG, in: Festschrift für Alfred Kellermann, 1991, S. 165–179 66. Mitbestimmung im Unternehmen, in: Lutter/Semler (Hrsg.), Rechtsgrundlagen freiheitlicher Unternehmenswirtschaft, Köln 1991, S. 135–148; in: Lutter/Semler, Podstuwy prawne gospodarski wolnorynkowej, Warschau 1997, S. 175–190 67. Unternehmensfinanzierung – Fälle und Diskussionsbeiträge, JbFSt 1991/92, S. 427–479 68. Unternehmerische Mitbestimmung, in: Frese (Hrsg.), Handwörterbuch der Organisation, 3. Aufl., Stuttgart 1992, Sp. 1379–1393 (mit T. Mecke) 69. Zwölf Fragen zum Konzernrecht in Europa, ZGR 1992, S. 422–430 70. Praktische Erfahrungen mit dem Abhängigkeitsbericht – Ergebnisse einer rechtstatsächlichen Umfrage, ZHR 156 (1992), S. 295–313 71. Konzernpraxis nach „Video“ – zugleich Erwiderung auf eine Urteilsschelte, DB 1992, S. 309–314 72. Zivilrecht unter dem Einfluß europäischer Rechtsangleichung, AcP 192 (1992), S. 71–107 73. Flexible Finanzierungsinstrumente im GmbH-Recht – Das eigenkapitalersetzende Gesellschafterdarlehen zwischen Nachschußkapital und Finanzplankredit, in: Festschrift 100 Jahre GmbH-Gesetz, 1992, S. 421–445 (mit D. Kleindiek) 74. Gewerbliche Staatsbank-Kredite und ihre Behandlung nach dem DDRBeitritt, ZIP 1992, S. 665–679 (mit O. Habighorst) 1404

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75. Staatsbank-Kredite und Eigenkapital-Ersatz, ZIP 1992, S. 979–987 (mit O. Habighorst) 76. Vorkehr gegen qualifizierte Abhängigkeits- und Konzernlagen, in: Hommelhoff/Stimpel/Ulmer (Hrsg.), Heidelberger Konzernrechtstage: Der qualifizierte faktische GmbH-Konzern, Köln 1992, S. 245–266 77. Zur Harmonisierung der nationalen Kartellrechte in Europa, in: Festschrift für Rudolf Nirk, 1992, S. 469–482 78. Unternehmensverträge – Fälle und Diskussionsbeiträge, JbFSt 1992/93, S. 471–531 79. Gesellschaftsrecht und Unternehmung, in: Wittmann/Kern/Köhler/Küpper/ v. Wysocki (Hrsg.), Handwörterbuch der Betriebswirtschaft, 5. Aufl., Stuttgart 1993, Sp. 1433–1449 (mit A. Witte) 80. Grenzüberschreitende Konzernverbindungen, in: Juristische Fakultät der Universität Heidelberg (Hrsg.), Internationale vertragliche Beziehungen, Vierundzwanzigstes Gemeinsames Seminar der Juristischen Fakultäten von Montpellier und Heidelberg, Heidelberg 1993, S. 49–60 81. Allgemeine Geschäftsbedingungen gegenüber Kaufleuten und unausgehandelte Klauseln in Verbraucherverträgen – Grundsätzliches zur Transformation der EG-Klauselrichtlinie ins deutsche Recht, ZIP 1993, S. 562–572 (mit K.-U. Wiedenmann) 82. Konzerneingangs-Schutz durch Takeover-Recht? – Eine Betrachtung zur europäischen Rechtspolitik, in: Festschrift für Johannes Semler, 1993, S. 455–471 83. Minderheitenschutz bei Umstrukturierungen, ZGR 1993, S. 452–473 84. DDR-Altkredite als Gegenstand richterlicher Rechtsfortbildung, ZIP 1993, S. 1353–1365 (zusammen mit O. Habighorst, C. Schubel und W. Spoerr) 85. Rechtliche Grundlagen der Europäischen Integration, in: Gerum (Hrsg.), Handbuch Unternehmung und europäisches Recht, Stuttgart 1993, S. 3–35 86. Konturen eines gemeinschaftsrechtlichen Unternehmensrechts, in: MüllerGraff (Hrsg.), Gemeinsames Privatrecht in der Europäischen Gemeinschaft, Baden-Baden 1993, S. 287–308 87. Das italienische Kartellrecht – Bemerkungen aus deutscher Sicht, in: Jahrbuch für Italienisches Recht, Band 6, 1993, S. 3–14 = Giurisprudenza Commerciale, 1993, S. 507–520 88. Flexible Finanzierung der Aktiengesellschaft – Max Hachenburg und das anglo-amerikanische Recht, in: Lutter/Stiefel/Hoeflich (Hrsg.), Der Einfluß deutscher Emigranten auf die Rechtsentwicklung in den USA und in Deutschland, Tübingen 1993, S. 213–219 89. Der Verlust: Handels- und Steuerrecht – Fälle und Diskussionsbeiträge, JbFSt 1993/94, S. 561–640 1405

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90. Konzernrecht für den Europäischen Binnenmarkt, in: Lutter (Hrsg.), Konzernrecht im Ausland, Berlin/New York 1994, S. 55–75 = ZGR 1992, S. 121–141 91. Zum vorläufigen Bestand fehlerhafter Strukturänderungen in Kapitalgesellschaften, ZHR 158 (1994), S. 11–34 92. Industriepolitik versus Wettbewerbspolitik im Maastricht-Vertrag, in: Hommelhoff/Kirchhof (Hrsg.), Der Staatenverbund der Europäischen Union, Heidelberg 1994, S. 131–141 93. Die qualifizierte faktische Unternehmensverbindung: ihre Tatbestandsmerkmale nach dem TBB-Urteil und deren rechtsdogmatisches Fundament, ZGR 1994, S. 395–421 94. Auszahlungsanspruch und Ergebnisverwendungsbeschluß in der GmbH, in: Festschrift für Heinz Rowedder, 1994, S. 171–189 95. Jetzt die „Kleine“ und dann noch eine „AnlegerAG“, in: Semler/Hommelhoff/Doralt/Druey (Hrsg.), Reformbedarf im Aktienrecht, Berlin/New York 1994, S. 65–84 96. „Europarechtliche Bezüge“ im Zivilrecht – Überlegungen zur Gestaltung des akademischen Unterrichts, in: Festschrift für Herbert Helmrich, 1994, S. 329–344 97. Rechtliche, bilanzielle und steuerliche Fragen der Unternehmensfinanzierung – Fälle und Diskussionsbeiträge, JbFSt 1994/95, S. 559–688 98. Grundsätze ordnungsgemäßer Kontrolle der Beteiligungsverwaltung des Konzernvorstands durch den Konzernaufsichtsrat – ein Statement, AG 1995, S. 225–227 99. Aspekte eines künftigen Konzernrechts in Europa, in: Hommelhoff/ Jayme/Mangold (Hrsg.), Europäischer Binnenmarkt – Internationales Privatrecht und Rechtsangleichung, Heidelberg 1995, S. 283–296 100. Gläubigerschutz und Anteilseigner-Information bei Spaltungen, in: Lutter (Hrsg.), Kölner Umwandlungsrechtstage: Verschmelzung Spaltung Formwechsel nach neuem Umwandlungsrecht und Umwandlungssteuerrecht, Köln 1995, S. 117–140 101. Störungen im Recht der Aufsichtsrats-Überwachung: Regelungsvorschläge an den Gesetzgeber, in: Picot (Hrsg.), Corporate Governance – Unternehmensüberwachung auf dem Prüfstand, Stuttgart 1995, S. 1–28 102. Einheitliche oder zerspaltene Zivilrechtsordnung: Zum Nebeneinander von ZGB und DDR-Vertragsgesetz, in: Eckert/Hattenhauer (Hrsg.), Das Zivilgesetzbuch der DDR vom 19. Juni 1975, Goldbach 1995, S. 72–87 103. DDR-Altkredite im Verfassungsrecht, ZIP 1995, S. 1495–1504 (mit C. Schubel und W. Spoerr) 104. „Kleine Aktiengesellschaften“ im System des deutschen Rechts, AG 1995, S. 529–538 = Révue des sociétés, 1996, S. 245–265 1406

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105. Problemzonen des neuen Umwandlungsrechts und Umwandlungssteuerrechts – Fälle und Diskussionsbeiträge, JbFSt 1995/96, S. 555–714 106. Wechselseitige Einflüsse von GmbH- und Aktienrecht, DStR 1996, S. 1367–1372 und 1409–1416 (mit L. Freytag) 107. Holding-Gesellschaften und Gruppen-Leitung, in: Balzarini/Carcano/ Mucciarelli (Hrsg.), I gruppi di società, Mailand 1996, S. 1389–1406 108. Vernetzte Aufsichtsratsüberwachung im Konzern, in: Theisen (Hrsg.), Der Konzern im Umbruch, Stuttgart 1998, S. 337–360 = ZGR 1996, S. 144–163 109. Zum Stellenwert betriebswirtschaftlicher Grundsätze ordnungsgemäßer Unternehmensleitung und -überwachung im Vorgang der Rechtserkenntnis, zfbf Sonderheft 36/1996, S. 149–178 110. Deutscher Konzernabschluß: International Accounting Standards und das Grundgesetz, in: Festschrift für Walter Odersky, 1996, S. 779–797 111. Leistungsstörungen beim Unternehmenskauf – systematische Folgerichtigkeit contra interessengerechte Ergebnisse?, in: Festschrift für Carl Zimmerer, 1996, S. 267–289 (mit M. Schwab) 112. Die Deutsche Bahn AG als Wirtschaftsunternehmen – zur Interpretation des Art. 87e Abs. 3 GG, ZHR 160 (1996), S. 521–559 (mit E. SchmidtAßmann) 113. Die Passivseite der Bilanz – Fälle und Diskussionsbeiträge, JbFSt 1996/97, S. 549–647 114. Gesellschaft mit beschränkter Haftung, in: Collection Jupiter, Union Européenne – Exposé comparatif: Société à responsabilité limitée et Private company, Paris 1997, S. 1–19 (mit D. Helms) 115. Corporate Governance: Vertragen sich die deutsche Unternehmensverfassung und das Shareholder Value-Prinzip?, in: Betriebswirtschaftslehre und Rechtsentwicklung, ZfB 1997, Ergänzungsheft 4, S. 17–20 116. Expérience et proposition: Allemagne, in: Boucourechliev (Hrsg.), Proposition pour une société fermée européenne, Luxemburg 1997, S. 125–152 (zusammen mit D. Helms) 117. Der Beitritt zum Beherrschungsvertrag und seine Auswirkungen auf die Sicherung außenstehender Aktionäre, in: Festschrift für Carsten Peter Claussen, 1997, S. 129–145 118. Zur Mitwirkung des Abschlußprüfers nach § 319 Abs. 2 Nr. 5 HGB, in: Gedächtnisschrift für Brigitte Knobbe-Keuk, 1997, S. 471–485 119. Le dualisme des sociétés de capitaux en droit allemand ou la coexistence de l’AG et de la GmbH, in: Chaput (Hrsg.), Études à la memoire d’Alain Sayag, Paris 1997, S. 295–310 120. Gestaltungsfreiheit im GmbH-Recht, in: Lutter/Wiedemann (Hrsg.), Gestaltungsfreiheit im Gesellschaftsrecht, Berlin/New York 1997, S. 36–60 1407

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121. Zum Ersatz des deutschen Konzernabschlusses durch den internationalen Konzernabschluß, in: Baetge (Hrsg.), Aktuelle Entwicklungen in Rechnungslegung und Wirtschaftsprüfung, Düsseldorf 1997, S. 109–129 122. Gesellschafts- und Unternehmensrecht in der Europäischen Union: Stand und Perspektiven 1997, in: Everling/Roth (Hrsg.), Mindestharmonisierung im Europäischen Binnenmarkt, Baden-Baden 1997, S. 83–101 123. Die „Société fermée européenne“ – eine supranationale Gesellschaftsform für kleine und mittlere Unternehmen im Europäischen Binnenmarkt, in: Müller-Graff (Hrsg.), Perspektiven des Rechts in der Europäischen Union, Heidelberg 1998, S. 47–73 = WM 1997, S. 2101–2109 124. Wider das Akzessorietätsdogma in der Gesellschaft bürgerlichen Rechts, ZIP 1998, S. 8–16 125. Gesellschaftliche Selbststeuerung im Bilanzrecht – Standard Setting Bodies und staatliche Regulierungsverantwortung nach deutschem Recht, BFuP 1998, S. 38–56 (mit M. Schwab) 126. Das Gesellschaftsrecht auf dem Prüfstand: zur Transformation der DDRGenossenschaften, ZIP 1998, S. 537–550 (mit C. Schubel) 127. Anlegerschutz in der GmbH & Co KGaA, in: Ulmer (Hrsg.), Die GmbH & Co KGaA nach dem Beschluß BGHZ 134, 392, Heidelberg 1998, S. 9–31 128. Corporate Governance nach dem KonTraG, AG 1998, S. 249–259 (mit D. Mattheus) 129. Europäisches Bilanzrecht im Aufbruch, RabelsZ 62 (1998), S. 381–404 130. Das Recht der konzerninternen Fremdfinanzierung, in: Lutter/Scheffler/ Schneider (Hrsg.), Handbuch der Konzernfinanzierung, Köln 1998, S. 695– 716 (mit D. Kleindiek) 131. Das Umwandlungsrecht als Instrument der Unternehmensnachfolge – Diskussionsbeiträge, in: Bundesnotarkammer (Hrsg.), Sonderheft der DNotZ zum 25. Deutschen Notartag in Münster, 1998, S. 202–226 132. Die Außenhaftung des GmbH-Geschäftsführers und sein Regreß gegen die Gesellschafter, in: Festschrift für Alfons Kraft, 1998, S. 263–280 (mit M. Schwab) 133. Der Einfluß der Banken in der Aktiengesellschaft, in: Festschrift für Wolfgang Zöllner, 1998, S. 235–252 134. Corporate and Business Law in the European Union: Status and Perspectives 1997, in: Hartkamp/Hesselink/Hondius/Joustra/du Perron (Hrsg.), Towards a European Civil Code, 2. Aufl., Nijmegen 1998, S. 585–603; in: Müller-Graff (Hrsg.), Gemeinsames Privatrecht in der Europäischen Gemeinschaft, 2. Aufl., Baden-Baden 1999, S. 361–384 135. Konzernrecht für Europa, ZGR 1998, S. 672–772 = Revue des sociétés 1999, S. 43–80 und 285–337 = Derecho Mercantil 1999, S. 445–575 = European Business Organization Law 2000, S. 165–264 = Rivista delle 1408

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Società 2001, S. 341–448 = Corporate Group Law for Europe, Stockholm 2000 (mit K. Hopt und M. Lutter) 136. Die neue Position des Abschlußprüfers im Kraftfeld der aktienrechtlichen Organisationsverfassung, in: Baetge (Hrsg.), Auswirkungen des KonTraG auf Rechnungslegung und Prüfung, Düsseldorf 1999, S. 115–174 = BB 1998, S. 2567–2573 und 2625–2631 137. Die Auslegung angeglichenen Gesellschaftsrechts – eine Analyse der EuGH-Rechtsprechung, in: Schulze (Hrsg.), Auslegung europäischen Privatrechts und angeglichenen Rechts, Baden-Baden, 1999, S. 29–46 138. Zu einer Methodik der Kautelarjurisprudenz in der Universitätsausbildung, in: Festschrift 50 Jahre Arbeitsgemeinschaft der Fachanwälte für Steuerrecht e.V. – 50 Jahre Steuerrechtliche Jahresarbeitstagung, 1999, S. 537–551 (mit C. Teichmann) 139. Erfahrungen und Vorschläge: Deutschland, in: Boucourechliev/Hommelhoff (Hrsg.), Vorschläge für eine Europäische Privatgesellschaft, Köln 1999, S. 143–170 (mit D. Helms) 140. Weiter auf dem Weg zur Europäischen Privatgesellschaft, GmbHR 1999, S. 53–59 (mit D. Helms) 141. Gesellschaftsrechtliche Funktionen der Verrechnungspreise, in: Raupach (Hrsg.), Verrechnungspreissysteme multinationaler Unternehmen, Herne/ Berlin 1999, S. 48–54 142. Strukturmaßnahmen, insbesondere Verschmelzung und Spaltung im Europäischen und deutschen Gesellschaftsrecht, in: Grundmann (Hrsg.), Systembildung und Systemlücken in Kerngebieten des Europäischen Privatrechts, Tübingen 2000, S. 259–282 (mit K. Riesenhuber) 143. Risikomanagement im GmbH-Recht, in: Festschrift für Otto Sandrock, 2000, S. 373–383 144. Risikomanagement im Konzern – ein Problemaufriß, BFuP 2000, S. 217– 230 (mit D. Mattheus) 145. Anlegerinformationen im Aktien-, Bilanz- und Kapitalmarktrecht, ZGR 2000, S. 748–775 146. Die Rolle der nationalen Gerichte bei der Europäisierung des Privatrechts, in: 50 Jahre Bundesgerichtshof, Festgabe aus der Wissenschaft, München 2000, S. 889–925 147. Konzeptionelle Grundfragen der Bilanzrechtsreform, in: Kleindiek/Oehler (Hrsg.), Die Zukunft des deutschen Bilanzrechts, Köln 2000, S. 141–159 148. Das Unternehmensrecht vor den Herausforderungen der Globalisierung, in: Festschrift für Marcus Lutter, 2000, S. 95–106 149. Anwälte im Streckbett der Richterausbildung, in: Festschrift für Walter Sigle, 2000, S. 463–473 1409

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150. Grundlagen des Risikomanagements – Gesetzliche Grundlagen: Deutschland und international, in: Dörner/Horváth/Kagermann (Hrsg.), Praxis des Risikomanagements, Stuttgart 2000, S. 5–40 (mit D. Mattheus) 151. Abschnitte „Grundstrukturen im Recht des Eigenkapitalersatzes“ und „Eigenkapitalersatz und Unternehmensfinanzierung“, in: von Gerkan/ Hommelhoff (Hrsg.), Handbuch des Kapitalersatzrechts, Köln 2000, S. 1– 32; 2. Aufl., Köln 2002, S. 1–29 152. Die OECD-Principles on Corporate Governance – Ihre Chancen und Risiken aus dem Blickwinkel der deutschen corporate governance-Bewegung, ZGR 2001, S. 238–267 = International and Comparative Corporate Law Journal 2001, S. 457–480 153. Grundlagen und konzeptionelle Fragen in der Europäischen Privatgesellschaft, in: Hommelhoff/Helms (Hrsg.), Neue Wege in die Europäische Privatgesellschaft, Köln 2001, S. 3–14 (mit D. Helms) 154. Europäisierung und Internationalisierung des Gesellschafts- und Unternehmensrechts in Deutschland, in: Müller-Graff/Roth (Hrsg.), Recht und Rechtswissenschaft, Baden-Baden 2001, S. 133–158 155. Übernahmeangebote im italienischen Recht aus deutscher Sicht, in: Jahrbuch für italienisches Recht, Band 14 (2001), S. 121–137 156. Bemerkungen zum deutschen Übernahmegesetz nach dem Scheitern der Richtlinie – zugleich ein Blick auf Italien, RIW 2001, S. 561–569 (mit C.-H. Witt) 157. Modernisierung in Kontinuität – die Revolution der Juristenausbildung, JuS 2001, S. 841–845 (mit C. Teichmann) 158. Einige Bemerkungen zur Organisationsverfassung der Europäischen Aktiengesellschaft, AG 2001, S. 279–288 159. Die neue Zwangspublizität: „gläserne Taschen für den Mittelstand?“, in: Festschrift für Welf Müller, 2001, S. 449–462 160. Staatsersetzende Privatgremien im Unternehmensrecht, in: Festschrift für Heinrich Wilhelm Kruse, 2001, S. 693–718 (mit M. Schwab) 161. Stiftungsrechtsreform in Europa, in: Hopt/Reuter (Hrsg.), Stiftungsrecht in Europa, Köln 2001, S. 227–240 162. Corporate Group Law for Europe – the Principles and Proposals of the Forum Europaeum, in: Neville/Sørensen (Hrsg.), The Internationalisation of Companies and Company Laws, Kopenhagen 2001, S. 11–19 163. Peer Review oder Bundesaufsichtsamt: Brauchen wir eine Kontrolle der Kontrolleure?, in: Lutter (Hrsg.), Der Wirtschaftsprüfer als Element der Corporate Governance, Düsseldorf 2001, S. 147–156 164. Für ein spezifisch deutsches Durchsetzungssystem – Schaffung einer Kontrollinstanz zur Sicherstellung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit des deutschen Enforcement-Systems, WPg 2001, Sonderheft, S. 39–50 1410

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165. Protection of Minority Shareholders, Investors and Creditors in Corporate Groups: the Strengths and Weaknesses of German Corporate Group Law, in: Hopt/Jessel-Holst/Pistor (Hrsg.), Unternehmensgruppen in mittel- und osteuropäischen Ländern, Tübingen 2002, S. 59–78 = EBOR 2001, S. 61– 80 166. Nowe Niemieckie Prawo Rynku Kapitalowego Pomiedzy Kstawa Kodeksem: Das neue deutsche Kapitalmarktrecht: zwischen Gesetz und Kodex, in: Transformacje Prawa Prywatnego Numer Niemiecki, Krakau 2002, S. 39–55 167. Die Europäische Aktiengesellschaft: das Flaggschiff läuft vom Stapel, SZW/RSDA 2002, S. 1–11 (mit C. Teichmann) 168. Das europäische Gesellschaftsrecht am Beginn des 21. Jahrhunderts, in: Hatje (Hrsg.), Das Binnenmarktrecht als Daueraufgabe, Europarecht, Beiheft 1/2002, S. 147–153 169. Zur Fortentwicklung des deutschen Bilanzrechts, BB 2002, S. 2372–2381 (mit C. P. Claussen u. a. im Arbeitskreis Bilanzrecht der Hochschullehrer Rechtswissenschaft) 170. Das Jurastudium nach der Ausbildungsreform, JuS 2002, S. 839–844 (mit C. Teichmann) 171. Zu den Vorschlägen der EU-Kommission zur Prüferunabhängigkeit, BB 2002, S. 2663–2664 (mit C. P. Claussen u. a. im Arbeitskreis Bilanzrecht der Hochschullehrer Rechtswissenschaft) 172. Abhängigkeitsbericht, in: Ballwieser/Coenenberg/v. Wysocki (Hrsg.), Handwörterbuch der Rechnungslegung und Prüfung, 3. Aufl., Stuttgart 2002, Sp. 1–11 (mit D. Mattheus) 173. Swoboda Ksztaltowania Treœci Statutu i jej Organiczenia w Przyszlej Polskiej Societas Europaea, in: Transformacje Prawa Prywatnego Numer Niemiecki, Krakau 2002, S. 31–37 174. Impact of the Financial Markets on Issues of Group Law, in: Hopt/ Wymeersch (Hrsg.), Capital Markets and Company Law, Oxford 2003, S. 601–609 175. Geschichtliche Rechtswissenschaft und Recht der Kapitalgesellschaften, in: Eckert (Hrsg.), Der praktische Nutzen der Rechtsgeschichte, Heidelberg 2003, S. 227–243 176. Satzungsstrenge und Gestaltungsfreiheit in der Europäischen Aktiengesellschaft, in: Festschrift für Peter Ulmer, 2003, S. 267–278 177. Politische und finanzielle Rahmenbedingungen am Hochschulstandort Deutschland, in: Kämmerer/Rawert (Hrsg.), Hochschulstandort Deutschland, Köln 2003, S. 175–182 178. Zum Konzernrecht in der Europäischen Aktiengesellschaft, in: Hopt/ Menjucq/Wymeersch (Hrsg.), La Société européenne, Paris 2003, S. 163– 175 = AG 2003, S. 179–184 1411

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179. Namensaktie, Neue Medien und Nachgründung – aktuelle Entwicklungslinien im Aktienrecht, in: Dörner/Menold/Pfitzer/Oser (Hrsg.), Reform des Aktienrechts der Rechnungslegung und der Prüfung, 2. Aufl., Stuttgart 2003, S. 103–134 (mit C. Teichmann) 180. Regelungsquellen und Regelungsebenen der Corporate Governance: Gesetz, Satzung, Codices, unternehmensinterne Grundsätze, in: Hommelhoff/Hop/v. Werder (Hrsg.), Handbuch Corporate Governance, Köln/ Stuttgart 2003, S. 51–86; 2. Aufl., Köln/Stuttgart 2009, S. 71–122 (mit M. Schwab) 181. Die Rolle des Abschlussprüfers bei der Corporate Governance, in: Hommelhoff/Hop/v. Werder (Hrsg.), Handbuch Corporate Governance, Köln/Stuttgart 2003, S. 639–671 (mit D. Mattheus) 182. Verlässliche Rechnungslegung: Enforcement nach dem geplanten Bilanzkontrollgesetz, BB 2004, S. 93–100 (mit D. Mattheus) 183. Corporate and Business Law in the European Union: Status and Perspectives 2004, in: Hartkamp/Hesselink/Hondius/Joustra/du Perron/Veldmann (Hrsg.), Towards a European Civil Code, 3. Aufl., Nijmegen 2004, S. 807–831 (mit C. Teichmann und C.-H. Witt) 184. Stellungnahme zum Referentenentwurf eines Bilanzrechtsreformgesetzes, BB 2004, S. 546–548 185. Die Europäische Privatgesellschaft – Diskussionsstand 2003 und Fortgang, in: Festschrift für Peter Doralt, 2004, S. 199–211 186. Meinungen zum Thema: Sicherung der Abschlussprüfung durch Enforcement – aber wie?, BFuP 2004, S. 268–279 (mit D. Mattheus) 187. Corporate Governance, Rechnungslegung und Abschlussprüfung vor dem Hintergrund aktueller Entwicklungen, in: Küting/Pfitzer/Weber (Hrsg.), Herausforderungen und Chancen durch weltweite Rechnungslegungsstandards, Stuttgart 2004, S. 281–315 188. Management und Recht, in: Schreyögg/v. Werder (Hrsg.), Handwörterbuch Unternehmensführung und Organisation, 4. Aufl., Stuttgart 2004, S. 780–791 (mit D. Mattheus) 189. The Modernisation of University Law, in: Hofmeister/Solonin/Tumanyan (Hrsg.), Wissenschaft und Ethik in der Gesellschaft von heute, St. Petersburg 2004, S. 10–17 190. Unternehmerische Leitungsstrukturen in der Universität?, in: Festschrift für Erik Jayme, 2004, S. 1133–1139 191. Deutsches Enforcement im richtigen Fahrwasser?, in: Baetge/Kirsch (Hrsg.), Anpassung des deutschen Bilanzrechts an internationale Standards, Düsseldorf 2005, S. 57–86 192. Normenhierarchie für die Europäische Gesellschaft, in: Lutter/Hommelhoff (Hrsg.), Die Europäische Gesellschaft, Köln 2005, S. 5–23 1412

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193. Qualitätssicherung in der Wirtschaftsprüfung: Fachliche Verlautbarungen und ihre Steuerungswirkung, in: Festschrift für Volker Röhricht, 2005, S. 897–918 194. Konzernunternehmen im Recht der Pflichtangebote nach deutschem WpÜG, in: Festschrift für Peter Nobel, 2005, S. 125–146 (mit C.-H. Witt) 195. Das Heidelberger Impulse-Projekt, in: Festschrift für Rolf Möller, 2005, S. 119–130 196. Zur Umsetzung der Juristenausbildungsreform 2003 auf Länderebene, in: Festschrift für Gerhard Otte, 2005, S. 123–133 197. Eliteuniversitäten in Deutschland: ein Irrweg?, in: Festschrift für Reinhard Mußgnug, 2005, S. 407–420 198. Neue Vielfalt der Hochschulen – Segen oder Fluch?, in: Fehling/Kämmerer/ Schmidt (Hrsg.), Hochschulen zwischen Gleichheitsidee und Elitestreben, Köln u. a. 2005, S. 155–166 199. Deutsche Einflüsse auf das polnische Recht der Kapitalgesellschaften: Vorgesellschaft, Eigenkapitalersatz und dualistische Organstruktur in Aktiengesellschaften, in: Festschrift für Horst Konzen, 2006, S. 309–319 (mit K. Oplustil) 200. Die Finanzierung des Familienunternehmens, in: Tröger/Wilhelmi (Hrsg.), Rechtsfragen der Familiengesellschaften, Heidelberg 2006, S. 65–78 201. Für eine flexibilisierte und dynamische Struktur des Akademischen Personals, in: Festschrift für Karl Peter Mailänder, 2006, S. 603–607 202. Für eine minimal invasive und dennoch höchst effektive Reform des Eigenkapitalersatzrechts, in: Gesellschaftsrechtliche Vereinigung (Hrsg.), Die GmbH-Reform in der Diskussion, Sondertagung der Gesellschaftsrechtlichen Vereinigung, Köln 2006, S. 115–135 203. Die Deutsche Bahn AG im privaten Wettbewerb, in: Festschrift für Reiner Schmidt, 2006, S. 467–485 (mit C. Teichmann) 204. Die Gesetzgebungsinitiative des Europäischen Parlaments zur Europäischen Privatgesellschaft, in: Festschrift für Hans-Joachim Priester, 2007, S. 245–257 205. Organhaftung in der SE, in: Krieger/Uwe H. Schneider (Hrsg.), Handbuch Managerhaftung, Risikobereiche und Haftungsfolgen für Vorstand, Geschäftsführer, Aufsichtsrat, Köln 2007, S. 87–106 (mit C. Teichmann) 206. Risikomanagementsystem im Entwurf des BilMoG als Funktionselement der Corporate Governance, BB 2007, S. 2787–2791 (mit D. Mattheus) 207. Stellungnahme zu dem Entwurf eines BilMoG, BB 2008, S. 152–158 und 209–216 (mit C. P. Claussen u. a. im Arbeitskreis Bilanzrecht der Hochschullehrer Rechtswissenschaft) 208. Auf dem Weg zur Europäischen Privatgesellschaft (SPE), DStR 2008, S. 925–933 (mit C. Teichmann) 1413

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209. Nochmals: Plädoyer für eine Abschaffung der „umgekehrten Maßgeblichkeit“, DStR 2008, S. 1057–1060 (mit C. P. Claussen u. a. im Arbeitskreis Bilanzrecht der Hochschullehrer Rechtswissenschaft) 210. Modernisiertes HGB-Bilanzrecht im Wettbewerb der Regelungs-Systeme – Konzeptionelle Bemerkungen aus Anlass des RefE BilMoG, ZGR 2008, S. 250–274 211. Eine GmbH für Europa: Der Vorschlag der EU-Kommission zur Societas Privata Europaea (SPE), GmbHR 2008, S. 897–911 (mit C. Teichmann) 212. Arbeitnehmer-Beteiligung in der Europäischen Privatgesellschaft (SPE) nach dem Verordnungsvorschlag, GmbHR 2008, S. 1193–1204 (mit C. Teichmann und R. Krause) 213. Die Europäische Privatgesellschaft (SPE): Auswirkungen auf die nationale GmbH, GesRZ 2008, S. 337–345 214. El desarrollo del derecho de sociedades de la Comunidad Europea, in: Academia Chilena de ciencias sociales, politicas y morales, Boletin Societas, 2008, No 10, S. 47–55 215. Unternehmensfinanzierung in der Europäischen Privatgesellschaft (SPE), ZHR 173 (2009), S. 255–280 216. Corporate Governance: directors duties, financial reporting and liability – remarks from a German perspective, in: Tison/de Wulf/van der Elst/ Steennot (Hrsg.), Perspective in Company Law and Financial Regulation, Cambridge 2009, S. 264–275 217. Zum Formwechsel bei der Europäischen Privatgesellschaft (SPE), in: Festschrift für Ulrich Loewenheim, 2009, S. 591–601 218. Bundesrat bremst Europa-GmbH: Erwiderung auf seine Stellungnahme zum SPE-Verordnungsvorschlag, GmbHR 2009, S. 36–38 (mit C. Teichmann) 219. Mitbestimmungsvereinbarungen im deutschen Recht – de lege ferenda, ZIP 2009, 1785–1787 220. The European Private Company: Return to Bologna?, in: Eder (Hrsg.), 20 Jahre Europäische Akademie der Wissenschaften und Künste, Weimar 2009, S. 307–311 221. Zur Maßgeblichkeit der Handelsbilanz für die steuerliche Gewinnermittlung gem. § 5 Abs. 1 EStG i. d. F. durch das BilMoG, DB 2009, S. 2570– 2573 (mit C. P. Claussen u. a. im Arbeitskreis Bilanzrecht der Hochschullehrer Rechtswissenschaft) 222. Gesellschaftsrechtliche Implikationen des BilMoG, in: Gedächtnisschrift für Malte Schindhelm, 2009, S. 365–375 223. The European Private Company Before its Pending Legislative Birth, in: McCahery/Timmerman/Vermeulen (Hrsg.), Private Company Law Reform, Den Haag 2010, S. 321–335 = German Law Journal 2008, S. 799–818 1414

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224. Mitbestimmungsvereinbarung zur Modernisierung der deutschen Unternehmensmitbestimmung, ZGR 2010, S. 48–74 225. Die SPE vor dem Gipfelsturm: zum Kompromissvorschlag der schwedischen EU-Ratspräsidentschaft, GmbHR 2010, S. 337–349 (mit C. Teichmann) 226. Internationales Bilanzrecht für den Mittelstand, in: Teichmann (Hrsg.), Europa und der Mittelstand, Baden-Baden 2010, S. 129–160 (mit S. Sokol) 227. Der SPE-Formwechsel nach dem schwedischen Kompromissvorschlag, in: Festschrift für Klaus J. Hopt, 2010, S. 848–875 (mit C. Teichmann) 228. Marcus Lutter, in: Grundmann/Riesenhuber (Hrsg.), Deutschsprachige Zivilrechtslehrer des 20. Jahrhunderts in Berichten ihrer Schüler, Band 2, Berlin 2010, S. 97–125 229. Die Haftung des Wirtschaftsprüfers, in: Festschrift für Hans-Jürgen Hellwig, 2010, S. 457–472 230. SPE-Mitbestimmung: Strukturen, Wertungen und rechtspolitische Kompromisslinien, ZEuP 2011, S. 7–40 231. SPE-Mitbestimmung bei grenzüberschreitenden Sitzverlegungen nach dem schwedischen Verordnungsentwurf, in: Festschrift für Uwe H. Schneider, 2011, S. 547–557 232. Vorstandsbezüge in der Konzerntochter, in: Festschrift für Wulf Goette, 2011, S. 170–177 233. Die SPE: kein Instrument zur Umgehung der Mitbestimmung, AuR 2011, S. 202–204 234. Für ein binnenmarktadäquates EU-Gesellschaftsrecht, DB 2011, S. 65–66 235. Aktionärs-Aktivismus im dualistischen System? – ein Zuruf im EU Corporate Governance-Diskurs, in: Liber amicorum für Martin Winter, 2011, S. 255–260 236. Zur SPE-Sitzaufspaltung, in: Festschrift für Günter H. Roth, 2011, S. 269– 275 237. Die Unternehmenskrise im SPE-Konzern, in: Festschrift für Jobst Wellensiek, 2011, S. 461–473 (mit R. Freudenberg) 238. Zur Unabhängigkeit der Trassenzuweisungsstelle nach EU-Eisenbahnrecht, in: Festschrift für Franz Jürgen Säcker, 2011, S. 755–770 239. W sprawie prawa faktycznych grup spó»ek w Polsce (Für ein Recht der faktischen Gesellschaftsgruppen in Polen. Anmerkungen zum Regelungsvorschlag der Kodifikationskommission), Monitor Prawniczy 2011, Nr. 24, Beilage (Dodatek), S. 11–20 (mit J. Schubel) 240. Die Universität in der Wissensgesellschaft, in: Dicke/Cantner/Ruffert (Hrsg.), Die Rolle der Universität in Wirtschaft und Gesellschaft, Jena 2012, S. 19–26 1415

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241. Stellungnahme zu den Vorschlägen der Europäischen Kommission zur Reform des Rechts der Abschlussprüfung, NZG 2012, S. 294–296 (mit G. Crezelius u. a. im Arbeitskreis Bilanzrecht der Hochschullehrer Rechtswissenschaft) 242. Der Zusatzbericht des Abschlussprüfers und dessen Rollen im EUReformprozess zur Corporate Governance, DB 2012, S. 389–393 und 445– 450 243. Stellungnahme zum Vorschlag der Europäischen Kommission vom 25.10.2011 zur Änderung der Bilanzrichtlinien (KOM (2011) 684 final), DB 2012, 991–993 (mit N. Breker u. a. im Arbeitskreis Fortentwicklung der Rechnungslegung für KMU) 244. Corporate Governance – Entwicklungen im Unionsrecht, in: Gesellschaftsrechtliche Vereinigung (Hrsg.), Gesellschaftsrecht in der Diskussion 2011, Köln 2012, S. 175–196

III. Entscheidungsanmerkungen und -besprechungen 1. Zur Zulässigkeit von Beiräten bei Aktiengesellschaften – Anmerkung zum Urteil des Landgerichts Köln vom 13.7.1976 – 3 0 121/76, AG 1976, S. 330–334 (mit W. Timm) 2. Sachmängelhaftung beim Kauf von GmbH-Anteilen? – Anmerkung zum Urteil des Bundesgerichtshofs vom 12.11.1975 – VIII ZR 142/74, BB 1976, S. 155–156 3. Anteilserwerb und Firmenfortführung – Anmerkung zum Urteil des Bundesgerichtshofs vom 5.5.1977 – II ZR 237/75, JR 1978, S. 69–70 4. Ölpreiserhöhung und Geschäftsgrundlage – Anmerkung zum Urteil des Bundesgerichtshofs vom 8.2.1978 – VIII ZR 221/76, JR 1979, S. 69–70 5. Haftung des Neugesellschafters für Altschulden in der BGB-Gesellschaft – Anmerkung zum Urteil des Bundesgerichtshofs vom 30.4.1979 – II ZR 137/78, JR 1979, S. 505 f. 6. Die Autarkie des Aufsichtsrats – Besprechung der Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom 15.11.1982 – II ZR 27/82, ZGR 1983, S. 551–580 7. Kreis gesperrter Altgesellschaften nach dem Bilanzrichtliniengesetz – Anmerkung zum Beschluß des Landgerichts Tübingen vom 17.7.1986 – 2 HT 1/86, DNotZ 1986, S. 701–704 8. Abschlußprüfer-Berichte an den Aufsichtsrat? – Bemerkungen zum „Kraft“Beschluß des Bundesarbeitsgerichts vom 8.8.1989 – 1 ABR 61/88, ZIP 1990, S. 218–221 9. Zulässigkeit einer Anwalts-GmbH – Rezension des Beschlusses des BayObLG vom 24.11.1994 – 3 Z BR 115/94, WiB 1995, S. 115–118 (mit M. Schwab)

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10. Treuhandanstalt und Treuhandunternehmen: Haftungsprivilegien ohne Ende? – Anmerkung zum Urteil des OLG Dresden vom 4.8.1994 – 5 U 1181/93, DZWiR 1995, S. 89–94 (mit W. Spoerr) 11. Abschlußprüfung und Abschlußberatung – Besprechung des Urteils des Bundesgerichtshofs vom 21.4.1997 – II ZR 317/95 – Allweiler, ZGR 1997, S. 550–562 12. Anmerkungen zum Ergebnisverwendungs-Entscheid der GmbH-Gesellschafter, Besprechung des Urteils des OLG Nürnberg vom 9.7.2008 – 12 U 690/07, GmbHR 2010, S. 1328–1332 13. Ungleiche Devestition – Bemerkungen zu einem verschmelzungsrechtlichen Freigabebeschluss, OLG Hamm vom 16.5.2011 – I-8 AktG 1/11, AG 2012, S. 194–198

IV. Buchbesprechungen 1. Besprechung zu: Fritz Fabricius, Marktwirtschaft und Mitbestimmung, paritätische Mitbestimmung der Arbeitnehmer in der Wirtschaft notwendiges Element einer freiheitlich-demokratischen, marktwirtschaftlich ausgerichteten Gesellschaft, 1977, in: Blätter für Steuerrecht, Sozialversicherung und Arbeitsrecht 1978, Heft 8, S. III 2. Besprechung zu: Christian Joerges, Bereicherungsrecht als Wirtschaftsrecht, 1977, in: JR 1979, S. 306 3. Besprechung zu: Wilhelm Uhlenbruck, Die GmbH & Co. KG in Krise, Konkurs und Vergleich, 1977, in: JR 1979, S. 305–306 4. Besprechung zu: Karl-Jochen Lewerenz, Leistungsklagen zwischen Organen und Organmitgliedern der Aktiengesellschaft, 1977, in: ZHR 143 (1979), S. 363–367 5. Besprechung zu: Walter Paefgen, Struktur und Aufsichtsratsverfassung der mitbestimmten AG, 1982, in: WPg 1984, S. 118–119 6. Besprechung zu: Thomas Mueller-Thuns, Gewinnbezugsrecht und bilanzpolitische Gestaltungsmöglichkeiten in der GmbH, 1989, in: GmbHR 1990, S. 483–484 7. Besprechung zu: Rudolf J. Niehus, Die Qualitätskontrolle der Abschlußprüfung, 1993, in: WPK-Mitt. 1995, S. 217–218 8. Besprechung zu: Karlheinz Küting/Katja Langenbucher (Hrsg.), Festschrift für Claus Peter Weber, 1999, in: BB 1999, S. 2307–2308

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V. Herausgeberschaft 1. Zeitschrift für Unternehmens- und Gesellschaftsrecht (ZGR) (seit 1990; derzeit in Gemeinschaft mit A. Bergmann, H. Fleischer, W. Goette, H. Hirte, K. Hopt, G. Krieger, H. Merkt, H.-J. Priester, M.-P. Weller und H. Wicke) 2. Schriftenreihe „Abhandlungen zum deutschen und europäischen Handelsund Wirtschaftsrecht (seit 1999; in Gemeinschaft mit G. Hueck, M. Lutter, W. Zöllner, L. Fastrich und U. Noack) 3. Mitglied des Herausgeberbeirates „Entscheidungen zum Wirtschaftsrecht“ (EWiR) 4. Hundert Jahre modernes Aktienrecht – Eine Sammlung von Texten und Quellen zur Aktienrechtsreform 1884 mit zwei Einführungen, Berlin/New York 1984 (in Gemeinschaft mit W. Schubert) 5. Entwicklungen im GmbH-Konzernrecht – 2. deutsch-österreichisches Symposion zum Gesellschaftsrecht, Berlin/New York 1986 (in Gemeinschaft mit P. Doralt, G. Roth und J. Semler) 6. Die Aktienrechtsreform am Ende der Weimarer Republik – Die Protokolle der Verhandlungen im Aktienrechtsausschuss des Vorläufigen Reichswirtschaftsrats unter dem Vorsitz von Max Hachenburg, Berlin/New York 1986 (in Gemeinschaft mit W. Schubert) 7. Festschrift für Hans-Joachim Fleck, Berlin/New York 1988 (in Gemeinschaft mit R. Goerdeler, M. Lutter und H. Wiedemann) 8. Treuhandanstalt und Treuhandgesetz – eine Materialiensammlung, Köln 1990 (in Gemeinschaft mit W. Krebs) 9. Festschrift für Alfred Kellermann, Berlin/New York 1991 (in Gemeinschaft mit R. Goerdeler, M. Lutter, W. Odersky und H. Wiedemann) 10. Treuhandunternehmen im Umbruch, Köln 1991 11. Heidelberger Konzernrechtstage: Der qualifizierte faktische GmbH-Konzern, Köln 1992 (in Gemeinschaft mit W. Stimpel und P. Ulmer) 12. Festschrift für Rudolf Nirk, München 1992 (in Gemeinschaft mit K. Bruchhausen, W. Hefermehl und H. Messer) 13. Festschrift für Johannes Semler, Berlin/New York 1993 (in Gemeinschaft mit M. Bierich und B. Kropff) 14. Textausgabe „Europäisches Privatrecht“, München 1993 (in Gemeinschaft mit E. Jayme) 15. Der Staatenverbund der Europäischen Union, Heidelberg 1994 (in Gemeinschaft mit P. Kirchhof) 16. Reformbedarf im Aktienrecht – 4. deutsch-österreichisches Symposion zum Gesellschaftsrecht, Berlin/New York 1994 (in Gemeinschaft mit P. Doralt, J. N. Druey und J. Semler) 1418

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17. Max Hachenburg – Gedächtnisvorlesungen der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg, Heidelberg 1995, 1996, 1997, 2000, 2002 (in Gemeinschaft mit H. Rowedder und P. Ulmer) 18. Europäischer Binnenmarkt – Internationales Privatrecht und Rechtsangleichung, Heidelberg 1995 (in Gemeinschaft mit E. Jayme und W. Mangold) 19. Teilungsfolgen und Rechtsfriede, Heidelberg 1996 (in Gemeinschaft mit O. Jauernig) 20. Corporate Governance, Köln 1996 (in Gemeinschaft mit D. Feddersen und U. H. Schneider) 21. Gesellschafts- und Umwandlungsrecht in der Bewährung, Berlin/New York 1998 (in Gemeinschaft mit H. Hagen und V. Röhricht) 22. Gesellschaftsrecht 1997, Köln 1998 (in Gemeinschaft mit V. Röhricht) 23. Vorschläge für eine Europäische Privatgesellschaft, Köln 1999 (in Gemeinschaft mit J. Boucourechliev) 24. Die Praxis der rechtsberatenden Berufe, München 1999 (in Gemeinschaft mit P.-C. Müller-Graff und P. Ulmer) 25. Handbuch des Kapitalersatzrechts, Köln 2000; 2. Aufl., Köln 2002 (in Gemeinschaft mit H. von Gerkan) 26. Festschrift für Walter Sigle, Köln 2000 (in Gemeinschaft mit R. SchmidtDiemitz und A. Sigle) 27. Festschrift für Marcus Lutter, Köln 2000 (in Gemeinschaft mit U. H. Schneider, K. Schmidt, W. Timm, B. Grunewald und T. Drygala) 28. Konzernrecht und Kapitalmarktrecht, München/Wien/Bern 2001 (in Gemeinschaft mit K. Hopt und M. Lutter) 29. Anwaltsorientierte Juristenausbildung – Zweite Hans Soldan-Tagung, Heidelberg 2001 (in Gemeinschaft mit G. Haverkate und G. Rittershaus) 30. Festschrift für Welf Müller, München 2001 (in Gemeinschaft mit R. Zätzsch und B. Erle) 31. Neue Wege in die Europäische Privatgesellschaft, Köln 2001 (in Gemeinschaft mit D. Helms) 32. Corporate Governance, Heidelberg 2002 (in Gemeinschaft mit M. Lutter, K. Schmidt, W. Schön und P. Ulmer) 33. Festschrift für Peter Ulmer, Berlin 2003 (in Gemeinschaft mit M. Habersack, U. Hüffer und K. Schmidt) 34. Handbuch Corporate Governance, Köln 2003; 2. Aufl., Stuttgart/Köln 2009 (in Gemeinschaft mit K. Hopt und A. v. Werder) 35. Die Europäische Gesellschaft, Köln 2005 (in Gemeinschaft mit M. Lutter) 36. Festschrift für Horst Konzen, Stuttgart 2006 (in Gemeinschaft mit B. Dauner-Lieb, M. Jacobs, D. Kaiser und C. Weber)

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37. Festschrift für Hans-Joachim Priester, Köln 2007 (in Gemeinschaft mit P. Rawert und K. Schmidt) 38. SE-Kommentar, Köln 2008 (in Gemeinschaft mit M. Lutter) 39. Marcus Lutter – Gesammelte Schriften, Berlin/New York 2010 (in Gemeinschaft mit U. H. Schneider) 40. Festschrift für Hans-Jürgen Hellwig, Köln 2010 (in Gemeinschaft mit M. Hoffmann-Becking und F. Graf von Westphalen) 41. Festschrift für Wulf Goette, München 2011 (in Gemeinschaft mit M. Habersack)

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