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German Pages 539 [532] Year 2011
Festschrift für Hans-Jürgen Hellwig
FESTSCHRIFT FÜR HANS-JÜRGEN
HELLWIG ZUM 70. GEBURTSTAG herausgegeben von
Michael Hoffmann-Becking Peter Hommelhoff Friedrich Graf von Westphalen
2010
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Verlag Dr. Otto Schmidt KG Gustav-Heinemann-Ufer 58, 50968 Köln TeL 02 21/9 37 38-{}1, Fax 02 21/9 37 38-943 [email protected] www.otto-schmidt.de ISBN 978-3-504-06043-5 ©2010 by Verlag Dr. Otto Schmidt KG, Köln
Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist w:heberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlages. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen. Bearbeitungen, Obersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das verwendete Papier ist aus chlorfrei gebleichten Rohstoffen hergestellt, holz- und säurefrei, alterungsbeständig und umweltfreundlich. Einbandgestaltung: Jan P. Lichtenford, Mettmann Textfonnatierung: H Rohde, Much Druck und Verarbeitung: Kösel, Krugzell Printed in Gennany
Vorwort Wer den Jubilar kennt, weiß, wie schwierig es ist, seine unterschiedlichen Interessen auf einen Nenner zu bringen, weil das gemeinsame Vielfache aller Aktivitäten eigentlich nur die Frage aufwirft, ob der Jubilar gleichzeitig zwei Leben gelebt, kein Schlafbedürfnis gehabt oder über sonstige (mirakulöse) Fähigkeiten verfügt hat, die dem (normalen) Erdenbürger schlicht nicht gegeben sind. Denn neben der Exzellenz, die ihn als Anwalt und als Partner der Großsozietät Hengeler Mueller auszeichnet, haben umfangreiche berufspolitische Aktivitäten seinen Lebensweg geprägt, eine rege Vorlesungstätigkeit an der Universität Heidelberg eingeschlossen. Der Höhepunkt war sicherlich für ihn die Präsidentschaft im CCBE1 (2004). Neben diversen lokalen, nationalen, europäischen und internationalen berufspolitischen Aktivitäten kam auch sein staatsbürgerliches Engagement nicht zu kurz: Immer war es die Politik, die Sorge um das Gemeinwohl, die den Jubilar beschäftigte; von 1981 bis 1984 war er sogar – für einen Wirtschaftsanwalt eine rare Seltenheit – Vorsteher der Stadtverordnetenversammlung seiner geliebten Heimatstadt Frankfurt: Politik an der Basis und für die Basis, das war seine Devise, aber auch seine Maxime. Das juristische Studium begann Hans-Jürgen Hellwig in Marburg, Lausanne und beendete es in Bonn. Allen, die den Lebensweg des Jubilars von diesen Jahren an begleitet haben, war sogleich klar, dass eine große Bandbreite von Interessen seinen Horizont ständig erweiterte: Bankpraktika in Luxemburg, London und Paris, die in den Semesterferien abgehalten wurden, zeigten schon damals, dass ihm die Juristerei allein nicht ausreichte. Überflüssig zu erwähnen, dass sein erstes Staatsexamen glänzend war. Professor Dr. Ballerstedt, Bonn, wurde rasch auf den Jubilar aufmerksam. Eine Tätigkeit am Institut für Handels- und Wirtschaftsrecht der Universität Bonn als sein persönlicher Assistent folgte (1964–1967) – eine Zeit, die dann mit der Promotion über ein zivilprozessuales Thema abgeschlossen wurde („Zur Systematik des zivilprozessrechtlichen Vertrages“, erschienen als Band 78 in den Bonner Rechtswissenschaftlichen Abhandlungen). Das zweite Staatsexamen – 1968 – war nicht von minderer Qualität, und im gleichen Jahr begann dann die Anwaltstätigkeit bei der amerikanischen Kanzlei Arnold & Porter LLP, Washington D.C., gefolgt von einem Praktikum im Bereich des Investment Banking (Lazard Frères & Co., New York). Wenn die Erinnerung nicht trügt, dann war es u. a. auch Professor Dr. Hein rich Kronstein, Washington, der den Jubilar der Frankfurter Kanzlei Mueller Weitzel Weisner unmittelbar danach nachdrücklich empfohlen hat („Wenn Ihr den nicht nehmt, seid Ihr selbst schuld!“). Dort stieg der Jubilar sehr schnell zum Sozius auf und erreichte die Station des „Managing Partner“ (1994–1998) zu einer Zeit, als anglo-amerikanische Kanzleien und ihre betriebswirtschaftlichen „Erfolgskonzepte“ noch nicht den deutschen Anwaltsmarkt „erobert“ hatten.
1 Council of Bars and Law Societies of Europe, Brüssel.
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Vorwort
Entsprechend seinen primären beruflichen Interessen waren die herausragenden Arbeitsgebiete des Jubilars immer das deutsche und europäische Gesellschaftsrecht, M&A-Transaktionen, Privatisierungen und Joint Ventures: Zwangsläufig brachte diese Tätigkeit auch Aufgaben vielfältiger Art in Beiräten und Aufsichtsräten von Unternehmen mit sich. All dies wäre schon ein hinreichender Grund, den Jubilar mit der hier vorgelegten Festschrift zu ehren. Doch der Jubilar erweiterte sein Spektrum auch auf die wissenschaftliche Tätigkeit; die Universität Heidelberg verlieh ihm im Jahr 2002 die Honorarprofessur. Zahlreiche Seminare – vor allem auf dem Gebiet des europäischen Gesellschaftsrechts, aber auch des von ihm heiß geliebten Berufsrechts – hat er (zusammen mit Professor Dr. Hommelhoff und Professor Dr. Ebke) durchgeführt. Zu erwähnen ist deshalb besonders, dass er sich nicht gescheut hat, auch die oft als etwas spröde und sperrig empfundenen Fragen des nationalen und des internationalen Berufsrechts, vor allem auch in seinem europäischen Kontext den Studenten – unter ihnen waren natürlich auch veritable Anwälte – näher zu bringen. Die im Anhang niedergelegten wissenschaftlichen Veröffentlichungen belegen gerade diese Aktivitäten. In der breiteren Öffentlichkeit ist der Jubilar vor allem durch sein Engagement im Berufsrecht hervorgetreten: Ab 1991 war er Mitglied des Sozietätsrechtsausschusses des „Deutschen Anwaltvereins“, seit 1993 ist er Mitglied des Vorstands des Deutschen Anwaltvereins. Die Berufung als Vizepräsident ließ nicht lange auf sich warten; seit 2009 bekleidet er erneut diese Funktion mit einer Zuständigkeit für europäische und internationale Angelegenheiten. Zu erwähnen ist dabei auch, dass der Jubilar diese Tätigkeiten – entsprechend seinen Interessen – mit berufsrechtlichen Fragen des „Internationalen“ stets verknüpft hat: Seit 1994 bis 2006 war er Vorsitzender des Ausschusses „Inter nationaler Rechtsverkehr des DAV“. Vielfältige Aktivitäten und Initiativen gehen in dieser Zeit auf sein Engagement zurück. Seit 1995 ist der Jubilar auch Mitglied der Satzungsversammlung bei der Bundesrechtsanwaltskammer und Vorsitzender des Ausschusses für europäische und internationale Angelegenheiten im CCBE. Damit ist das wichtige Stichwort „CCBE“ gefallen, welches die Aktivitäten des Jubilars auf Europa und – mehr noch – auf den gesamten internationalen Bereich, insbesondere auch im Rahmen der „American Bar Association“ und der „International Bar Association“ ausgedehnt hat. Im Jahr 2003 wurde er 1. Vizepräsident des CCBE; und der Höhepunkt folgte ein Jahr später: HansJürgen Hellwig wurde Präsident des CCBE – eine glänzende Präsidentschaft, die vor allem in Brüssel bei der Kommission und auch beim Europäischen Parlament ihre Spu ren hinterlassen hat. Alle einzelnen Stationen und Errungenschaften des Jubilars aufzuführen, würde sicherlich zu weit führen; es bestände auch dann das Risiko, das eine oder andere nicht ins rechte Licht gerückt zu haben. So soll nur dies erneut aufgegriffen und mit Nachdruck hervorgehoben werden: Wie kein anderer – vergleichbar prominenter – Anwalt hat der Jubilar sich schon als junger Anwalt partei- und kommunalpolitisch betätigt: Seit 1972 bis 1997 war er Mitglied der
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Vorwort
Stadtverordnetenversammlung in Frankfurt; er wurde als Mitglied der CDU von „seinen“ Bürgern berufen. Von 1985 bis 1997 war er dann kulturpolitischer Sprecher der CDU-Fraktion. Dabei ist gleichzeitig das entscheidende Stichwort für die Tätigkeit des Jubilars gegeben: Frankfurt als Metropole für die Kultur in das Bewusstsein der Bürger „seiner“ Stadt (und der interessierten Öffentlichkeit) zu rücken – das war immer das Anliegen von Hans-Jürgen Hellwig: Seit 1993 war er Mitglied im Vorstand des Städel’schen Museumsvereins und von 1993 bis 2006 dort stellvertretender Vorsitzender. Es ist also neben der Musik die bildende Kunst, die sein Leben außerhalb des Berufs prägt. Doch im Vordergrund seines künstlerischen Interesses steht – das wissen alle Eingeweihten – das Werk von Daumier: eine fulminante Sammlung der Werke dieses Künstlers; und jeder, der ihn danach fragt, erkennt unschwer seine Leidenschaft: Seine Augen glän zen; er erzählt, erzählt und erzählt. Nur Sammler können so erzählen und ihre „trouvaillen“ präsentieren. Und wer ihn einmal bei einem Besuch in ein Antiquariat begleitet hat, weiß: Vor allem die Händler kennen ihn – ein veritabler Sammler, ein Mäzen. So wird sich Hans-Jürgen Hellwig auch, wie er seinen Freunden versichert hat, fortan – sozusagen als Ruheständler – vor allem den Aufgaben widmen, die mit dem Vorsitz der Robert-Schumann-Gesellschaft, Frankfurt, verbunden sind. Seit 2005 inaktiver Partner seiner Sozietät, wird er sich dann (wie alle hoffen) noch mehr seinen Hobbies widmen, neben der Kunst und der Musik, dem Rad fahren (kaum sehr gemächlich) und vor allem dem Rudern auf langen Strecken (eine Banane hilft dann häufig gegen die (nachlassende) Kondition). Der Lebenslauf wäre freilich unvollständig, würde man nicht hinzufügen, wie sehr Hans-Jürgen Hellwig in seinem Herzen Familienmensch und gläubiger Christ ist. Der sorgende Vater, aber auch und vor allem der liebende Gatte, der freilich von Schicksalsschlägen nicht verschont wurde: Der Tod seiner ersten Frau (1994) hat ihn nachhaltig geprägt, hat in ihm aber auch die Sensibilität für Religion und christlichen Glauben nachhaltig gesteigert: Der Jubilar ist, was man heutzutage wohl nur noch selten findet, ein wirklich frommer protestantischer Christ. Aber er ist auch – dies muss erwähnt werden – ein treuer Sohn; die Sorge um seine Eltern hat ihn bis in diese Tage hinein ständig begleitet. Vor allem aber ist er auch ein treuer, verlässlicher – ein wirklich guter – Freund, einer dem man alles sagen und dem man sehr vieles auch anvertrauen kann und darf. Er ist indessen auch stets ein fairer Kollege, ein immer berechenbarer Partner, einer, auf dessen Wort man zählen kann und darf, im Kleinen wie im Großen. Hans-Jürgen Hellwig ist aber auch – das Gesagte noch etwas vertiefend – ein Familienmensch: Das Familienleben ist ihm ganz wichtig. Die vier Kinder, drei Töchter und ein Sohn, sind inzwischen schon alle erwachsen und seit langem aus dem Haus. Mit seiner zweiten Frau Brigitte hat er neues Glück gefunden: Reisen, Wandern und die Künste, vor allem neben der Musik auch Architektur und Malerei – das sind die Koordinaten. Zu erwähnen ist auch, dass der Jubilar recht ansprechend Klavier spielt und einige Zeit mit seinen Kindern Hausmusik pflegte. So sind die Tage ausgefüllt bis an den Rand. Möge es so bleiben.
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Vorwort
So bleibt abschließend nur dies: Die Herausgeber dieser Festschrift wünschen dem Jubilar Gesundheit und Kraft, um alle die Interessen, die nach wie vor seinen Tag (und teilweise die Nacht) prägen, weiterhin im Visier zu haben – an erster Stelle die Familie, seine treusorgende Frau Brigitte, der er – auch dies gehört zu einem Lebenslauf – unendlich viel verdankt. Düsseldorf, Heidelberg, Köln, im November 2010 Die Herausgeber
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Inhalt Seite
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Verzeichnis der Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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I. Berufsrecht Gerhard Benn-Ibler Zum Ethos des Rechtsanwalts – Ein Beitrag aus österreichischer Sicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Felix Busse Von Schwierigkeiten der Anwaltschaft mit der Freiheit der Advokatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Jonathan Goldsmith A global code of conduct for lawyers: is it feasible? . . . . . . . . . . . . . . . .
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Peter Hamacher Aktuelle Probleme des anwaltsgerichtlichen Verfahrens . . . . . . . . . . .
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Martin Henssler/Matthias Kilian Die Berufsregeln der Europäischen Rechtsanwälte (CCBE-Regeln) in der Rechtsprechung deutscher Gerichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Marcella Prunbauer-Glaser Die freie Anwaltswahl – ein fundamentales rechtsstaatliches Prinzip auch in der Rechtsschutzversicherung – Gedanken zum Urteil Eschig des EuGH und seinen Folgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Colin Tyre Whistleblower Or Confidant? – The Confl ict Between Anti-Money Laundering Legislation And Client Confidentiality . . . . . . . . . . . . . . .
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II. Gesellschaftsrecht Andreas Austmann Größe und Zusammensetzung des Aufsichtsrats einer deutschen SE . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Werner F. Ebke Gesellschaften aus nicht privilegierten Drittstaaten im Internationalen Privatrecht: „Utopia Limited; oder: Die Blüten des Fortschritts“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Inhalt Seite
Mathias Habersack Der Gesellschafterausschuss der KGaA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
143
Michael Hoffmann-Becking Wirksamkeit der Beschlüsse der Hauptversammlung bei späterer Protokollierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Hans-Christoph Ihrig/Manuel M. Meder Der Mehrheitsaktionär als abhängiges Aufsichtsratsmitglied? . . . . . .
163
Gerd Krieger/Sven H. Schneider Beschaffung von restricted shares zur Vergütung von Führungskräften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Georg Maier-Reimer Mehrstufige Vertretung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Silja Maul/Georg Lanfermann/Marc Richard Zur Zukunft des gesellschaftsrechtlichen Kapitalschutzes in Europa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Peter-Christian Müller-Graff Transnationale Sitzverlegung von Kapitalgesellschaften im primären Binnenmarktrecht nach der Lissabonner Reform . . . . . . . . .
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Martin Peltzer More stick than carrot – Kritische Betrachtung einiger Maßnahmen zur Verbesserung der Corporate Governance . . . . . . . . .
269
Jochem Reichert/Michaela Balke Die Berücksichtigung von Konzernzielen bei der variablen Vergütung des Vorstands einer abhängigen Gesellschaft im faktischen Konzern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
285
Carsten Schäfer/Jonas Fischbach Vorstandspfl ichten bei der Vergabe von Krediten an die Muttergesellschaft im faktischen Aktienkonzern nach „MPS“ . . . . .
293
Karsten Schmidt Finanzkrise und Wirtschaftsrecht – Überlegungen über die Aufgabe von Juristen in Anbetracht des aktuellen Krisengeschehens . . . . . . . .
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Uwe H. Schneider Aufsicht und Kontrolle von Ratingagenturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Christoph Teichmann Neuverhandlung einer SE-Beteiligungsvereinbarung bei „strukturellen Änderungen“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Jochen Vetter Schutz gegen Umgehung der Kapitalaufbringungsregeln bei der AG – Überlegungen de lege ferenda . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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X
Inhalt Seite
Lutz Weipert Verbandskompetenz und Individualautonomie im Recht der Personengesellschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
397
Georg Wiesner Haftung ausgeschiedener OHG-Gesellschafter für öffentlichrechtliche Gesellschaftsverbindlichkeiten . . . . . . . . . . . . . .
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III. Zivilrecht Johannes Adolff Der Rangrücktritt zur Vermeidung der Insolvenz . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Georges-Albert Dal International arbitration and advocacy: a civilist’s point of view . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Peter Hommelhoff Die Haftung des Wirtschaftsprüfers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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IV. Varia Wolfgang Ewer Kommunale Unternehmen in Konkurrenz zur Privatwirtschaft – rechtliche Rahmenbedingungen und bestehende Rechtsschutzmöglichkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Norbert Horn Die Finanzierung von Staaten durch externe Anleihen in der künftigen Architektur der Europäischen Währungsunion . . . . . . . . . .
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Friedrich Graf von Westphalen Einige (rudimentäre) Anmerkungen zur naturrechtlichen Perspektive von Papst Benedikt XVI. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Schriftenverzeichnis Professor Dr. Hans-Jürgen Hellwig . . . . . . . . . . . . .
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Verzeichnis der Autoren Adolff, Johannes Dr., LL.M. (Cambridge), Rechtsanwalt, Hengeler Mueller, Frankfurt am Main Austmann, Andreas Dr., LL.M. (Harvard), Attorney-at-Law (New York), Rechtsanwalt, Hengeler Mueller, Düsseldorf Balke, Michaela Rechtsanwältin, Schilling, Zutt & Anschütz, Mannheim Benn-Ibler, Gerhard Dr., Präsident des Österreichischen Rechtsanwaltskammertages, Rechtsanwalt in Wien Busse, Felix Rechtsanwalt in Troisdorf, ehemals Präsident des Deutschen Anwaltvereins (bis 1998), Mitglied der Ständigen Deputation des Deutschen Juristentages Dal, Georges-Albert Ancien Bâtonnier de Bruxelles, Professor an der Katholischen Universität Löwen, Präsident des Rats der europäischen Anwaltschaften (CCBE), Brüssel Ebke, Werner F. Dr. iur., Dr. rer. pol. h.c., LL.M. (UC Berkeley), Universitätsprofessor und Direktor des Instituts für deutsches und europäisches Gesellschafts- und Wirtschaftsrecht, Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg; Global Professor of Law, New York University School of Law; Attorney-at-Law (New York) Ewer, Wolfgang Dr., Rechtsanwalt und Fachanwalt für Verwaltungsrecht in Kiel, Honorarprofessor an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, Präsident des Deutschen Anwaltvereins Fischbach, Jonas Dr., wissenschaftlicher Mitarbeiter, Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Handels- und Gesellschaftsrecht an der Universität Mannheim Goldsmith, Jonathan Generalsekretär des Rats der europäischen Anwaltschaften (CCBE), Brüssel Habersack, Mathias Dr., Universitätsprofessor, Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Handelsund Wirtschaftsrecht, Rechtsvergleichung, Eberhard-Karls-Universität, Tübingen
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Verzeichnis der Autoren
Hamacher, Peter Dr., Rechtsanwalt in Köln, 1985 bis 2006 Geschäftsführer, sodann stellvertretender Hauptgeschäftsführer des Deutschen Anwaltvereins Henssler, Martin Dr., Universitätsprofessor, Geschäftsführender Direktor des Instituts für Arbeits- und Wirtschaftsrecht der Universität zu Köln sowie des Instituts für Anwaltsrecht an der Universität zu Köln Hoffmann-Becking, Michael Dr., Rechtsanwalt, Hengeler Mueller, Düsseldorf, Honorarprofessor an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn Hommelhoff, Peter Dr. Dr. h.c. mult., em. Universitätsprofessor, Altrektor der Universität Heidelberg, Richter am Oberlandesgericht a.D., Partner der KPMG AG Wirtschaftsprüfungsgesellschaft, Frankfurt/Berlin Horn, Norbert Dr., em. Universitätsprofessor für Zivilrecht, Handels-, Wirtschafts- und Bankrecht sowie Rechtsphilosophie und em. Direktor des Instituts für Bankrecht an der Universität zu Köln; Leiter des ADIC Arbitration Documentation and Information Center, Köln Ihrig, Hans-Christoph Dr., Rechtsanwalt, Allen & Overy LLP, Mannheim Kilian, Matthias Dr., Akademischer Rat, Institut für Arbeits- und Wirtschaftsrecht der Universität zu Köln, Geschäftsführender Direktor des Soldan-Instituts für Anwaltmanagement Krieger, Gerd Dr., Rechtsanwalt, Hengeler Mueller, Düsseldorf, Honorarprofessor an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf Lanfermann, Georg Dipl.-Kfm., Wirtschaftsprüfer, Steuerberater, Partner KPMG AG Wirtschaftsprüfungsgesellschaft, Berlin Maier-Reimer, Georg Dr. Dr. h.c., LL.M. (Harvard), Rechtsanwalt, Oppenhoff & Partner Rechtsanwälte, Köln Maul, Silja Dr., DEA, DESS, Rechtsanwältin in Mannheim Meder, Manuel M. Dr., Rechtsanwalt, Allen & Overy LLP, Mannheim
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Verzeichnis der Autoren
Müller-Graff, Peter Christian Dr. iur. habil., Dr. iur. h.c., Ph. D. h.c., Universitätsprofessor, Geschäftsführender Direktor des Instituts für deutsches und europäisches Gesellschaftsund Wirtschaftsrecht der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg, Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Handels- und Wirtschaftsrecht, Europarecht und Rechtsvergleichung; Gastprofessor u. a. am Georgetown University Law Center, Washington D.C. und am Europa-Kolleg Brügge/Natolin; weil. Richter am Oberlandesgericht Nowak, Claudia Dr., Deutsche WertpapierService Bank AG, Frankfurt am Main Peltzer, Martin Dr., Rechtsanwalt in Frankfurt am Main Prunbauer-Glaser, Marcella Dr., M.C.J. (NYU), Vizepräsidentin des Rats der europäischen Anwaltschaften (CCBE), Präsident-Stellvertreterin des österreichischen Rechtsanwaltskammertages, Rechtsanwältin in Wien, Attorney-at-Law (New York) Reichert, Jochem Dr., Rechtsanwalt, Schilling, Zutt & Anschütz, Mannheim, Honorarprofessor an der Friedrich-Schiller-Universität Jena Richard, Marc Dr., Dipl.-Ök., KPMG AG Wirtschaftsprüfungsgesellschaft, Düsseldorf Schäfer, Carsten Dr., Universitätsprofessor, Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Handels- und Gesellschaftsrecht an der Universität Mannheim und Direktor des dortigen Instituts für Unternehmensrecht (IURUM) Schmidt, Karsten Dr. Dres. h.c., em. Universitätsprofessor der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn, Präsident der Bucerius Law School in Hamburg Schneider, Sven H. Dr., LL.M. (Berkeley), Attorney-at-Law (New York), Rechtsanwalt, Hengeler Mueller, Frankfurt am Main Schneider, Uwe H. Dr. Dr. h.c., Universitätsprofessor, Direktor des Instituts für deutsches und internationales Recht des Spar-, Giro- und Kreditwesens an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz, Of Counsel bei Rechtsanwälte Dr. BerndWilhelm Schmitz & Partner, Frankfurt am Main Teichmann, Christoph Dr., Universitätsprofessor, Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Deutsches und Europäisches Handels- und Gesellschaftsrecht, Julius-MaximiliansUniversität Würzburg
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Verzeichnis der Autoren
Tyre, Colin (The Hon. Lord Tyre) LL.B. (Edinburgh), DESU (Aix-Marseille), CBE, Senator des College of Justice, Schottland, Präsident (2007) des Rats der europäischen Anwaltschaften (CCBE), Brüssel Vetter, Jochen Dr., Dipl.-Ök., Rechtsanwalt, Hengeler Mueller, München, Lehrbeauftragter an der Universität zu Köln Weipert, Lutz Dr., Notar a.D., Rechtsanwalt, Blaum Dettmers Rabstein, Bremen, Honorarprofessor der Universität Bremen für die Fachgebiete Handels- und Gesellschaftsrecht, Seehandelsrecht, Unternehmenssteuerrecht Graf von Westphalen, Friedrich Dr., Rechtsanwalt in Köln, Honorarprofessor an der Universität Bielefeld Wiesner, Georg Dr., Rechtsanwalt, Hengeler Mueller, Düsseldorf
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Gerhard Benn-Ibler
Zum Ethos des Rechtsanwalts – Ein Beitrag aus österreichischer Sicht Inhaltsübersicht I. Einleitung II. Die Advocaten-Ordnung vom 6. Juli 1868 III. Die Rechtsanwaltsordnung 1945 (RAO 1945) IV. Der Umgang mit dem Gemeinwohlbezug V. Die Ausformung der rechtsanwaltlichen Grundwerte
VI. Die Gestaltung der Berufsregeln in Österreich VII. Die Grundwerte 1. Unabhängigkeit 2. Kompetenz 3. Verschwiegenheit (§ 8 RAO) 4. Ehre und Ansehen des Standes und das Gewissen VIII. Zusammenfassung
I. Einleitung Ethos und Berufsrecht des Rechtsanwaltes stehen in einem untrennbaren Zusammenhang. So gut wie alle berufsrechtlichen Vorschriften – mögen sie Zugangs-, Ausübungs- oder Organisationsregeln sein – fi nden ihre Begründung im Berufsethos. Im Vordergrund steht immer der Gemeinwohlbezug der rechtsanwaltlichen Tätigkeit. Kommt das Berufsethos im Berufsrecht zum Ausdruck, so erschöpft es sich darin aber nicht, sondern geht darüber hinaus. Es gibt berufsethisch gesolltes Verhalten, das sich nur schwer und unvollständig in allgemeine Regeln fassen lässt. Die Rechtsanwaltsordnung spricht von Redlichkeit und Ehrenhaftigkeit, von Ehre und Würde des Standes (§ 10 Abs. 2 RAO), schuldhafte Verletzung dieser Pfl ichten werden als Disziplinarvergehen geahndet. Dieser Regelungsrahmen hat sich bisher einerseits als bestimmt genug erwiesen um befolgt werden zu können, ist aber andererseits doch so offen, dass gesellschaftliche, wirtschaftliche und rechtliche Entwicklungen berücksichtigt werden können.
II. Die Advocaten-Ordnung vom 6. Juli 1868 Die Freiheit der österreichischen Advokatur ist eine Folge der Schlacht von Königgrätz. Nach dem Verlust des Kampfes um die Vorherrschaft in Deutschland musste Österreich nicht nur außenpolitisch diesen Machtanspruch aufgeben, sondern auch mit Ungarn einen Ausgleich versuchen und den liberalen Bestrebungen im Inneren des Landes endlich nachgeben.
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Gerhard Benn-Ibler
Es entstand das Grundgesetz über die bürgerlichen Rechte und Grundfreiheiten, das noch heute der Nukleus des geltenden Grundrechtskataloges ist. Es musste das Wirtschaftsordnungsrecht neu und liberal gestaltet werden. Es entstand in diesem Zusammenhang die Advokatenordnung vom 6. Juli 1868, die am 1. Jänner 1869 in Kraft trat, und diese Advokatenordnung enthielt tatsächlich für die damaligen Verhältnisse dramatische Änderungen. Wurden bisher Advokaten vom Justizminister ernannt, hatte nun jeder, der die vorgesehenen Erfordernisse erfüllte, Anspruch auf Eintragung in die Liste der Rechtsanwaltskammer seines Sitzes und konnte die Verweigerung der Eintragung beim Obersten Gerichtshof anfechten. Diese Eintragung war bei Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen durch die örtlich zuständigen Rechtsanwaltskammern vorzunehmen. Diesen Rechtsanwaltskammern standen auch alle regulatorischen Befugnisse zu, die bisher vom Landesherrn durch seinen Beamtenapparat (Justizminister) ausgeübt wurden. Die Advokatenkammern waren damals bereits basisdemokratisch organisiert und unterlagen weder Weisungen noch einer Aufsicht des Justizministeriums. Ausdrücklich wird festgehalten, dass der Advokatenstand von den Gerichten unabhängig ist und die Disziplinargewalt durch Organe des Advokatenstandes ausgeübt werde. Die freie unabhängige Advokatur war entstanden. Wir lehnen daher in unserer Begriffswelt die Verwendung des Begriffes „Organ der Rechtspflege“ ab, weil damit für uns nicht die Gleichordnung, sondern die Unterordnung unter die Gerichte verbunden ist. Wir haben die gleichen Begriffe, aber unterschiedliche Begriffsinhalte. Wir sollten daher immer unterscheiden, ob wir vom österreichischen oder vom deutschen Begriff ausgehen. Sachlich haben wir keine Differenz. Auch die österreichischen Anwälte verstehen sich als gleichberechtigte Partner, die mit den anderen Rechtsberufen an der Verwirklichung der Rechtsordnung mitwirken. Gleichzeitig gab die Advokatenordnung aber berufsethisch veranlasste Regeln vor, die im Wesentlichen bis heute das Berufsrecht prägen, setzt aber auch Standards, die das von der gemeinsamen Auffassung der Rechtsanwälte getragene Bild vom ethischen Handeln erfasst. Es sind dies: 1. die Unabhängigkeit des Anwaltes 2. Kliententreue und Gewissenhaftigkeit 3. die Verschwiegenheit 4. die Bindung an Gesetz und Gewissen 5. das Verbot, widerstreitende Interessen zu vertreten 6. die Redlichkeit und Ehrenhaftigkeit 7. die unentgeltliche Vertretung nichtleistungsfähiger Parteien 8. das Verbot von Beschäftigung, welche dem Ansehen des Advokatenstandes zuwiderlaufen
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Zum Ethos des Rechtsanwalts
9. das Verbot der Quota litis 10. das Gelöbnis, in dem die Einhaltung der Gesetze und Berufspfl ichten versprochen wird
III. Die Rechtsanwaltsordnung 1945 (RAO 1945) Die berufsrechtlichen/berufsethischen Verpfl ichtungen der Advokaten-Ordnung 1868 fi nden sich praktisch unverändert in der Rechtsanwaltsordnung wieder. Die Rechtsanwaltsordnung defi niert damit, wie gesagt, aber nicht nur das berufsrechtlich geprägte Berufsrecht des Rechtsanwaltes, sondern im Grundsatz auch das berufsethisch gesollte Verhalten des Rechtsanwaltes. Diese Defi nition verfolgt zwei Ziele: 1. Es soll in der Öffentlichkeit ein gemeinwohlbezogenes Leitbild des Rechtsanwaltes entstehen, dessen wesentliche Merkmale Vertrauenswürdigkeit, Verantwortung und Kompetenz sind. Dieses Leitbild in den Köpfen der Bürger (Klienten) ist für die Rechtsanwaltschaft lebensnotwendig, ist doch die Dienstleistung des Rechtsanwaltes eine immaterielle geistige Leistung, die man nicht im Vorhinein prüfen kann, sondern deren Wirkung sich erst im Nachhinein zeigt. Dieses Leitbild ersetzt gleichsam die mangelnde „Begreifbarkeit“ der Leistung. 2. Die berufsethischen Regeln setzen Standards, die über die Regeln im privatwirtschaftlichen Handeln hinausgehen, und erzeugen eine Bindung im beruflichen Handeln des Rechtsanwaltes an die sich daraus ergebenden Beschränkungen. Der Rechtsanwalt hat das tatsächlich Machbare an solchen Beschränkungen zu messen und hat die Pfl icht diese zu beachten. Man erreicht damit, dass der freie Rechtsanwalt zwar nicht mehr der staatlichen Aufsicht unterliegt. An deren Stelle tritt die von der Disziplinarbehörde sanktionierbare Bindung nicht nur an berufsrechtliche, sondern auch an berufsethische Vorschriften. Leitbildwidriges Verhalten macht disziplinär verantwortlich. Der Rechtsanwalt ist damit, auch wenn er der staatlichen Aufsicht und Kontrolle entzogen ist, weiterhin dem Gemeinwohl verpfl ichtet. Die Freiheit des Rechtsanwaltes bedeutet somit nicht Bindungslosigkeit, sondern organisatorische Loslösung vom Staat im Interesse der Unabhängigkeit des Rechtsanwaltes. Diese Unabhängigkeit ist es, die dem Rechtsanwalt erst zum wirkungsvollen Vertreter des Bürgers macht.
IV. Der Umgang mit dem Gemeinwohlbezug Mit der Verpfl ichtung des Rechtsanwaltes auf das Gemeinwohl ist ein Verlust privatwirtschaftlichen Handlungsspielraumes verbunden.
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Gerhard Benn-Ibler
Einerseits geht damit nämlich eine Beschränkung der Erwerbstätigkeit einher (z. B. berufliches Organisationsrecht), andererseits wird in den Wettbewerb eingegriffen (z. B. Vorbehaltsaufgaben, Doppelvertretungsverbot). Seine sachliche Begründung fi ndet dieser Vorrang der berufsrechtlichen Vorschriften, wie gesagt, an der Gemeinwohlorientierung zum Schutz des Klienten. Allerdings ist jede Beschränkung daran zu messen, ob sie notwendig und geeignet ist, ihr Ziel zu erreichen, und verhältnismäßig ist, d. h. nicht mehr einschränkt als dies zur Aufrechterhaltung der Gemeinwohlbezogenheit des Rechtsanwaltes zum Schutz des Klienten notwendig ist. Diese so begrenzte Beschränkung dient damit dem Klienten und nicht der Abschottung. Bei ausschließlich wirtschaftlicher Betrachtungsweise tritt der Gemeinwohlbezug in den Hintergrund. Wird die rein wirtschaftsorientierte Wohlstandsoptimierung für den Klienten in den Vordergrund gerückt, erhält diese wirtschaftliche Betrachtungsweise den Vorrang vor der Berufsethik und hebelt sie aus. Um mit diesem Angriff auf die Berufsethik des Rechtsanwaltes umgehen zu können, lohnt es sich zu untersuchen, ob und gegebenenfalls welche berufsethische Komponenten im internationalen Recht und im EU-Recht zu fi nden sind. Die Vereinten Nationen haben unter anderem (7.9.1990) die folgenden Grundprinzipien betreffend die Rolle des Rechtsanwaltes formuliert: – Rechtsanwälte haben das Recht, berufliche Selbstverwaltungsverbände zu gründen, die ihre beruflichen Interessen schützen und die Fortbildung fördern. – Diese Verbände trifft eine entscheidende Rolle in der Wahrung beruflicher Verhaltensregeln und Ethikpfl ichten. – Disziplinarfälle sind vor einem von der Anwaltsorganisation geschaffenen, unparteiischen Disziplinarausschuss zu verhandeln. Auf der Basis dieser Vorschriften anerkennt die Europäische Union (Entschließung des europäischen Parlamentes vom 22.3.2006) – die Unabhängigkeit, Verhinderung von Interessenskonflikten und das Berufsgeheimnis als Grundwerte des Rechtsanwaltsberufes, die im öffentlichen Interesse gelten. – Regelungen zum Schutz dieser Grundwerte sind für die sachgemäße Ausübung des Berufes erforderlich, und zwar trotz ihrer restriktiven Wirkungen auf den Wettbewerb Denn: – Jede Reform des Rechtsanwaltsberufes hat weitreichende Konsequenzen auf Freiheit und Rechtsstaatlichkeiten. – Die ethischen Pfl ichten des Rechtsanwaltes sind gefährdet, wenn Freiberuflern, die nicht Rechtsanwälte sind, erlaubt wird, durch Kapitalinvestitionen oder in anderer Weise Kontrolle auszuüben, oder wenn Freiberufler im Falle 6
Zum Ethos des Rechtsanwalts
multidisziplinärer Partnerschaften nicht an gleichwertige berufliche Pfl ichten gebunden sind. Der Europäische Gerichtshof geht in seinen Urteilen davon aus, dass die Grundwerte der Rechtsanwälte im allgemeinen Interesse gelegen sind. Zum Beispiel sind Mindesthonorare zulässig, wenn es eine Wechselbeziehung zwischen Honoraransätzen und Qualität der Leistung gibt, und wenn diese Mindesthonorare dem Schutz des Verbrauchers und der geordneten Rechtspflege dienen. Selbst wenn sich daraus eine Beschränkung des freien Dienstleistungsverkehres ergibt, ist dies aus zwingenden Gründen des Allgemeinwohles gerechtfertigt1. Bei der Prüfung dieses allgemeinen Wohles ist auf die Rechtsordnung des jeweiligen Mitgliedstaates in ihrem Zusammenhang abzustellen. Dass in einem anderen Staat andere Vorschriften bestehen, lässt keinen Schluss auf die Gemeinschaftswidrigkeit solcher Vorschriften zu 2. Es ist also z. B. aus der Zulässigkeit einer multidisziplinären Partnerschaft (MDP) in einem Staat nicht auf die Gemeinschaftswidrigkeit des Verbotes einer solchen MDP in einem anderen Staat zu schließen. Zusammenfassend kann gesagt werden, dass die Europäische Union die Grundwerte der Rechtsanwaltschaft anerkennt und ihr in etwa den gleichen Stellenwert einräumt wie Österreich. An die Stelle des öffentlichen Interesses tritt allerdings das „allgemeine Interesse“, das wirtschaftlich am Verbraucherschutz und an der aus wirtschaftlichen Erwägungen notwendigen geordneten Rechtspflege orientiert ist. Hier könnte der Verfassungsvertrag eine Änderung herbeigeführt haben, weil damit der Grundrechtskatalog, den sich die Europäische Union gegeben hat, verbindlich wurde. Dieser Katalog bezieht sich auch auf Grund- und Freiheitsrechte der Bürger, zu deren Schutz die berufsrechtlichen Vorschriften seinerzeit geschaffen wurden. Damit ergibt sich wohl auch eine wesentliche Verbesserung der Position der Grundwerte im Rechtsordnungsgefüge der Europäischen Union. Dies wieder hat unmittelbare Wirkung auf die Stellung des Rechtsanwaltes im Gesamtzusammenhalt dieser Rechtsordnung, die damit seinen Gemeinwohlbezug stärkt.
V. Die Ausformung der rechtsanwaltlichen Grundwerte Alle europäischen Staaten gehen von den gleichen Grundwerten aus (siehe z. B. die Core Principles des CCBE). Allerdings sind diese Grundwerte nicht nur inhaltlich unterschiedlich ausgeformt, sondern es macht auch einen großen Unterschied, ob sie formal im Gesetz vorgeschrieben sind oder ob sie sich aus statutarischen Regeln und aus dem Case Law ergeben. Je nach der Art dieser Gestaltung fällt es dem Gesetzgeber auch mehr oder weniger schwer, in Berufsrecht einzugreifen. Betrachtet man diesen Fächer an Gestaltungsmöglichkeiten etwa anhand der Geldwäschereirichtlinien und ihrer Umsetzung, so ist in den Common Law Ländern regelmäßige eine gesetzliche Umsetzung gar nicht notwendig, während in den Civil Law Ländern der Gesetz1 EuGH v. 5.12.2006 – Rs. C-94/04 und C-202/04 („Cipolla“). 2 EuGH v. 19.2.2002 – Rs. 309/99 („Wouters“).
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geber zur Umsetzung berufen und europarechtlich verpflichtet ist. Das bereitet zu Recht Probleme, gibt es doch Gelegenheit, um möglichste Aufrechterhaltung dieser Grundwerte (hier der Verschwiegenheit) im Interesse des Anwaltsethos zu ringen und den immer offeneren Versuchen, diese Verschwiegenheit zu relativieren, zu widerstehen. Dazu kommt noch, dass jedes anwaltliche Berufsrecht nur im Rahmen der Rechtsordnung des Landes gesehen werden kann, für das es gilt. Dort fügt es sich harmonisch ein und ist daher in der Lage, seine Aufgabe zu erfüllen. Die unterschiedliche Ausgestaltung der berufsrechtlichen Vorschriften zur Erreichung der gleichen Ziele, nämlich zur Aufrechterhaltung der anwaltlichen Grundwerte, ist die notwendige Folge der Unterschiedlichkeit der Rechtsordnungen. Diese ergeben zwar jeweils ein in sich geschlossenes Ganzes, nimmt man aber eine berufsrechtliche Regel eines Landes und versucht man diese in die Rechtsordnung eines anderen Landes einzufügen, so geht die Geschlossenheit der Rechtsordnung verloren. Es entsteht ein Regelungsdefi zit, ein Regelungsüberhang oder ein Regelungsgegensatz. Es ist daher nicht möglich, eine Vereinheitlichung dadurch vorzunehmen, dass man einem der bestehenden Berufsrechte im europäischen Kontext eine Vorrangstellung einräumt. Ein gemeinsamer europäischer Berufsrechtskodex steht vor ähnlichen Problemen. Bei seiner Ausgestaltung wäre auf die Besonderheiten der Rechtsordnungen der Mitgliedsstaaten Rücksicht zu nehmen und eine für alle taugliche Lösung zu fi nden. Dass das überhaupt möglich ist, darf bezweifelt werden. Ein gemeinsamer Berufsrechtskodex wird wohl erst entwickelt werden können, wenn es tatsächlich zu einer Vereinheitlichung der Rechtsordnungen der europäischen Staaten kommt, und nur in dem Maß, in dem es zu einer solchen Vereinheitlichung kommt. Die Dienstleistungsrichtlinie unterschätzt offenbar alle diese Schwierigkeiten, wenn sie die Berufsorganisationen aufruft, ein solches gemeinsames Berufsrecht zu entwickeln. Das ist etwas, was diese Organisationen nicht leisten können. Was auf lange Zeit Abhilfe schaffen könnte, wäre allerdings ein europäisches berufsrechtliches Kollisionsrecht, in dem man etwa dem Berufsrecht des Ziellandes – also jenes Landes, in dem der Rechtsanwalt seine Tätigkeit tatsächlich ausübt – den Vorzug gibt. Bestrebungen und Überlegungen im CCBE, die aus der anwaltlichen Niederlassungsrichtlinie ein solches Kollisionsrecht herauszuentwickeln versucht, sollten daher mit Interesse gefolgt werden.
VI. Die Gestaltung der Berufsregeln in Österreich Betrachtet man die österreichischen Berufsregeln selbst, so zerfallen sie in zwei verschiedene Kategorien, nämlich einerseits in – ihrem Inhalt nach konkrete, weithin defi nierte Regeln, wie z. B. das Verschwiegenheitsrecht oder die Interessenskollision und – andererseits in Regelungsrahmen, für den der Gesetzgeber nur einen mehr oder weniger bestimmbaren Begriff anführt (Gewissen, Gewissenhaftigkeit, 8
Zum Ethos des Rechtsanwalts
Redlichkeit, Ehrenhaftigkeit etc.). Dieser Rahmen bedarf einer weiteren Ausgestaltung, wobei diese Ausgestaltung auch im Laufe der Zeit mit der Änderungen von Anschauungen und Gepflogenheiten nicht immer gleich bleibt, sondern sich der Zeit anpasst. Liegt eine Rahmenregelung vor, verzichtet der Gesetzgeber nicht nur auf eine solche nähere Ausgestaltung, sondern es ist mit dieser Aussparung gerade der Zweck verbunden, der Einzelfallgerechtigkeit den Vorrang zu geben. Dazu stehen grundsätzlich drei Wege zur Verfügung: – Es kann jede Ausführung der Rahmenregelung unterbleiben und die Beurteilung des Einzelfalles ist der Disziplinarbehörde überlassen. – Es werden Richtlinien erlassen, zu denen die Rechtsanwaltsordnung ermächtigt, wenn sie die Ausformung des Rechtsanwaltsberufes und die Überwachung der Pfl ichten des Rechtsanwaltes betreffen. – Es werden unverbindliche Empfehlungen erlassen. Der Gesetzgeber gibt sohin in der Rechtsanwaltsordnung eine umfassende berufsethische Grundlage, in dem er einerseits konkrete berufsrechtliche Regeln vorgibt, andererseits versucht, den Rest in berufsethischen Rahmenregeln einzufangen. Das bedeutet einerseits, dass auch der Verstoß gegen eine Rahmenregel durch die Disziplinarbehörde geahndet werden kann, ähnlich wie in Deutschland vor Aufhebung der Standesregeln, dass aber andererseits für ein Berufsethos außerhalb der Rechtsanwaltsordnung nur sehr beschränkter Raum bleibt. Das österreichische Disziplinarstatut kennt dazu nur zwei Tatbestände, nämlich die Verletzung einer Berufspfl icht und die Verletzung von Ehre und Ansehen des Standes. Beide Begriffe sind unbestimmt. Bei Berufspfl ichten handelt es sich um die im Gesetz festgelegten Vorschriften, bei Ehre und Ansehen des Standes um solche berufliche oder außerberufliche (Ehren-)Pfl ichten, die sich aus den allgemeinen gesellschaftlichen Anschauungen und gefestigten Gewohnheiten ergeben3. Änderungen dieser Anschauungen und Gewohnheiten wirken daher auch auf den Inhalt der Regel zurück. Vorteil ist die notwendige Flexibilität. Andererseits ist es mitunter schwer zu erkennen, was nun tatsächlich Inhalt standesgemäßen Verhaltens ist. Der österreichische Verfassungsgerichthof hat jedenfalls bisher in ständiger Rechtssprechung diese Blankettnormen als verfassungskonform erkannt. Wie der tatsächliche Inhalt festgestellt werden kann, wird nicht näher bestimmt. Ein Gutachten einer Kammer, aber auch eine Umfrage bei den Kollegen wäre möglich. Tatsächlich ist so etwas aber bisher nie geschehen. Wesentliche Grundlagen zur Lösung der Frage, was tatsächlich Ehre und Ansehen des Standes verletzt, sind aber die Erkenntnisse der Disziplinarräte, die jedem Kollegen leicht zugänglich zur Verfügung stehen. Bei dieser Lage ist es aber auch genuine Aufgabe der Kammer (Delegiertenversammlung des Österreichischen Rechtsanwaltskammertages), berufsethisches Verhalten in Richtlinien zu fassen, diese Richtlinien gegebenenfalls weiterzu-
3 Vgl. Erkenntnis Slg. 4886/1964.
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entwickeln, zu ändern oder auch wieder aufzuheben, wenn sich die allgemeine Standesauffassung geändert haben sollte. Diese Richtlinienkompetenz wird von der Delegiertenversammlung des Österreichischen Rechtsanwaltskammertages umfassend ausgeübt. Dabei ist von Bedeutung, dass die Ausgestaltung sich im Rahmen dieses Gesetzes zu bewegen hat und ihre Grenze nur an der Gesetzwidrigkeit fi ndet. Es gibt also einen eher weiten Spielraum, der auszufüllen ist. Sind Richtlinien erlassen, ist die Disziplinarbehörde daran gebunden, andererseits ist der Verfassungsgerichtshof zur Prüfung berufen, ob sich die Richtlinie an den vorgegebenen Rahmen hält. Dagegen sind Empfehlungen unverbindlich und wären nur Orientierungshilfe. Sie sind ungebräuchlich. Zuständig wäre der Österreichische Rechtsanwaltskammertag, sie könnten zur Schaffung ethischer Standards diesen, deren Einhaltung der Rechtsanwalt seinen Klienten dokumentieren könnte.
VII. Die Grundwerte 1. Unabhängigkeit Diese zerfällt in eine äußere und innere Unabhängigkeit. Die äußere Unabhängigkeit wird gekennzeichnet durch – den gesetzlichen Anspruch bei Erfüllung der Voraussetzung und Erfordernisse, als Rechtsanwalt eingetragen zu werden (§ 5 RAO) – die Bestimmungen über die Organisation der Rechtsanwaltskammern und des Österreichischen Rechtsanwaltskammertages (§§ 22 ff. RAO) – das Verbot mit dem Rechtsanwalt unvereinbare Tätigkeiten auszuüben: Staatsamt, Notariat (§ 20 RAO) – gesellschaftsrechtliche Regelungen einschließlich Fremdbeteiligungsverbot und Verbot der Multidisziplinarität (§ 21a RAO). Die innere (dazu gehört auch die wirtschaftliche) Unabhängigkeit soll erhalten bleiben durch – das Verbot des Eingehens bestimmter Dienstverhältnisse (§ 5 RL-BA) – den unmittelbar erteilten Auftrag (§ 6 RL-BA) – keine Begünstigung der Winkelschreiberei (§ 7 RL-BA) – sowie die soziale Absicherung durch Alters-, Berufsunfähigkeits- und Hinterbliebenenversorgung (§§ 47 ff. RAO) – die Versicherungspfl icht (§ 21a RAO). Problembereiche sind insbesondere Vergesellschaftung und Dienstverhältnis. Die Weisungsfreiheit des Rechtsanwalts im Rahmen einer Anwaltsgesellschaft steht im Gesetz, entspricht aber in vielen Fällen wohl nicht (mehr) der Wirklichkeit.
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2. Kompetenz – Eifer und Gewissenhaftigkeit (§ 9 RAO) – Bindung an das Gesetz (§ 9 RAO) – Kliententreue (§ 9 RAO) insbesondere Treuhandabwicklung (§ 10a RAO) – Redlichkeit und Ehrenhaftigkeit (§ 10 Abs. 2 RAO) – Sonderproblem Rechtsanwaltsentlohnung (§ 16 Abs. 1 RAO) – unentgeltliche Vertretung des Bedürftigen (§ 18 RAO) – Fortbildungsverpfl ichtung (§ 10 Abs. 6 RAO) – Verpfl ichtung zu zeitgemäßen Kanzleiorganisation (§ 9 Abs. 1 RAO) 3. Verschwiegenheit (§ 8 RAO) In Österreich ist die Verschwiegenheitspfl icht beschränkt disponibel. Der Rechtsanwalt hat das Interesse seines Klienten zu prüfen und seine Verschwiegenheit trotz Entbindung zu halten, wenn dies objektiv im Interesse des Klienten liegt. Daraus ergibt sich eine Reihe von Problemen und Grenzen. Ist z. B. die Verschwiegenheit noch verpfl ichtend, wenn sie weder im objektiven noch im subjektiven Interesse des Klienten liegt? Was ist, wenn die Gefahr besteht, dass ein höherwertiges Gut verletzt wird, z. B. berufliche Kenntnis des Rechtsanwaltes von einem bevorstehenden Anschlag. Das Gesetz gab bisher keinen Lösungsansatz. Disziplinarrechtlich wird ein Rechtsfertigungsgrund oder ein Schuldausschließungsgrund anzunehmen sein. Es bleibt aber beim Verstoß, der nur im Einzelfall nicht strafbar ist. Hier hat die Umsetzung der Geldwäschereirichtlinie in der Rechtsanwaltsordnung das System möglicherweise maßgeblich beeinflusst. Aus den Geldwäschereibestimmungen ergibt sich im Fall der dort genannten strafbaren Handlungen eine generelle Redepfl icht und der Zielkonfl ikt zwischen Verschwiegenheit einerseits und der Aufklärung von Terrorismus und organisierter Kriminalität andererseits wird teleologisch durch Eingriff in die Verschwiegenheitspfl icht gelöst. Damit hat erstmals die Rechtsanwaltsordnung dieser teleologischen Betrachtungsweise den Vorrang gegeben, das könnte aber nicht ohne Folgen für das System selbst sein. 4. Ehre und Ansehen des Standes und das Gewissen § 10 Abs. 2 RAO regelt die Wahrung a) für die berufliche Tätigkeit aber auch b) für außerberufliche Tätigkeit Die Bindung an das Gewissen ergibt sich aus § 9 RAO. 11
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Beides bezieht sich sowohl auf den beruflichen als auch auf den außerberuflichen Bereich. Im beruflichen Bereich wird Ehre und Ansehen des Standes zur Ergänzung der Grundwerte (siehe VII. 1.-3.) heranzuziehen sein. Was den außerberuflichen Bereich anlangt, greift diese Überlegung wohl zu kurz, wonach dem Rechtsanwalt eine besondere Sittlichkeit oder eine besondere Gesetzestreue, die über die des Staatsbürgers hinausgeht, träfe. Es wird jede Handlung und jede Verletzung eines Gesetzes durch einen Rechtsanwalt, die im außerberuflichen Bereich liegt, nur dann relevant sein, wenn sie ein so großes Gewicht oder eine solche Eingriffshöhe erreicht hat, dass in der allgemeinen Betrachtung das Berufsethos des Anwaltes ebenfalls verletzt ist. Es muss ein so genannter „disziplinärer Überhang“ bestehen4, sonst verstößt die Regelung gegen das Doppelbestrafungsverbot.
VIII. Zusammenfassung Es wurde versucht zu zeigen, dass die österreichische Lösung den Rechtsanwalt umfassend dem Berufsethos verpflichtet, wobei sich die konkrete Verpflichtung aus Richtlinien für die Berufsausübung und aus der gemeinsamen Standesauffassung ergibt. Dazu kommen Empfehlungen, die die Rechtsanwaltskammern in Einzelfällen geben und die Erkenntnisse der Disziplinarräte, so dass die meisten Zweifelsfälle klärbar sind. Gleichzeitig ist der Weg für notwendige Veränderungen nicht versperrt. Mit Augenmaß handelnde Rechtsanwaltskammern sollten der Garant dafür sein, dass die Berufsethik des österreichischen Rechtsanwaltes Standards setzt.
4 VfGH v. 23.9.2003 – B 688/03.
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Von Schwierigkeiten der Anwaltschaft mit der Freiheit der Advokatur Inhaltsübersicht I. Die „Freigabe der Anwaltschaft“ – der freie Zugang zum Beruf
III. Der Widerspruch von Freiheit der Advokatur und Disziplin
II. Der Wunsch nach und die Angst vor der Freizügigkeit
Mit Hans-Jürgen Hellwig begegnet uns nicht nur ein hervorragender anwaltlicher Vertreter des Gesellschafts- und Wirtschaftsrechts. Seit Jahrzehnten widmet er sich sowohl durch Wahrnehmung ehrenamtlicher Funktionen auf nationaler1 wie auf internationaler Ebene2 als auch literarisch3 mit besonderem Engagement auch den Aufgaben und der Stellung des Rechtsanwalts in unserer Gesellschaft und unserem Rechtspflegesystem im Wechselspiel mit dem für die Anwaltschaft geltenden Berufsrecht. Das legt es nahe, im Rahmen dieser Festschrift auch auf das Verhältnis der Anwaltschaft zu ihrem Berufsrecht einzugehen. Das Berufsrecht trat und tritt dem Anwalt immer in Zwittergestalt gegenüber, einerseits als Sicherung der „Freiheit der Advokatur“, die zumindest verbal seit dem 19. Jahrhundert als unverzichtbare Grundvoraussetzung anwaltlicher Tätigkeit gefordert und erkannt worden ist, andererseits aber auch als gewünschte oder bekämpfte Beschränkung dieser Freiheit. Hier soll beleuchtet werden, inwieweit die im 19. Jahrhundert aus ihrer institutionellen Einbindung in die staatliche Rechtpflege entlassene Anwaltschaft selbst, insbesondere durch ihre „Standes“-Organisationen, zu der Beschränkung der eigenen Freiheit beigetragen hat. Dabei hatten und haben die Befürworter der Regulierung des Anwaltsberufs die „Freiheit der Advokatur“ nicht weniger im Munde als die Verfechter einer Liberalisierung des Berufs. Erstere bleiben sich selbst dadurch treu, dass für sie „Freiheit der Advokatur“ teilweise etwas anderes bedeutet als für jene, und das für beide Seiten auf durchaus ernsthaftem Hintergrund. Es geht letztlich um die unterschiedliche Gewichtung des Wertes von Freiheit (hier bei Berufszugang und Berufsausübung) im Verhältnis zu dem Wert von Sicherheit (hier der ordnungsgemäßen Erfüllung der Berufsaufgaben und der Erhaltung der eigenen wirtschaftlichen Verhältnisse), wie er uns auf 1 Vizepräsident des Deutschen Anwaltsvereins 1994 – 2002 und wieder seit 2009; Mitglied des DAV-Ausschusses Sozietätsrecht/Berufsrecht seit 1993. 2 Leiter der deutschen CCBE-Delegation 2000 – 2004; 1. Vizepräsident des CCBE 2003, Präsident des CCBE 2004. 3 U. a.: Der Rechtsanwalt – Organ der Rechtspflege oder Kaufmann, AnwBl. 2004, 213 ff.; Die Anwaltschaft zwischen Rechtspflege und kommerziellem Wettbewerb, BRAKMitt. 2008, 92 ff.; Das Konzept des anwaltlichen Berufsbildes, AnwBl. 2008, 644 ff.; Anwaltsethos – Lehren aus der Finanzkrise, AnwBl. 2009, 465 ff.
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der großen staatlichen Ebene bei der Abwägung zwischen Grundrechten und der Gewährleistung der Sicherheit für die Bürger bis heute beschäftigt4. Dieser Zusammenhang wurde schon bei der Diskussion über ein neues anwaltliches Berufsrecht in den 60er Jahren des 19. Jahrhunderts erkannt. So ist für den Gutachter des 4. Deutschen Juristentages Mainz 1863 Kopp „der prinzipielle Unterschied des Rechtsstaates vom Polizeistaate, daß man in ersterem … die unvermeidlichen Gefahren der Freiheit bei bewußter Erkenntniß derselben lieber mit in Kauf nimmt, als aus Furcht vor ihnen auf die Freiheit selbst zu verzichten, während man sich in der Hürde des Polizeistaates über tausend Beschränkungen mit dem behaglichen Gefühle tröstet, daß dadurch auch so manche Gefahr, wenn nicht beseitigt, so doch geringer wird“5. Die Geschichte belegt: Die Forderung nach Abschüttelung von Fesseln war umso einmütiger, je weniger die Öffnung neben zusätzlichen Freiräumen auch Gefährdungen liebgewonnener und vermeintlich materiell vorteilhafter Umstände der eigenen beruflichen Position mit sich bringen konnte. Sie war umso kontroverser, wenn insbesondere die Vertreter der Anwaltschaft, die deren Geschicke zu steuern versuchten, mit der Änderung Gefahren für die eigene Stellung oder für das eigene Auskommen verbanden. Dies soll hier zum Berufszugang und zur Berufsausübung an einigen wenigen Beispielen skizziert werden, die sich in vieler Hinsicht vermehren ließen.
I. Die „Freigabe der Anwaltschaft“ – der freie Zugang zum Beruf Bis über die Mitte des 19. Jahrhunderts hinaus standen die deutschen Anwälte unter einer weitgehenden staatlichen Kontrolle. In Preußen waren sie verbeamtet. Der Zugang zum Anwaltsberuf6 erfolgte nach „Gunst und Gnade“ der Obrigkeit7. Daran zu rütteln war für die Anwaltschaft in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts gleichwohl kein Thema. Für die schon Zugelassenen bedeutete die restriktive Zulassungspraxis der Obrigkeit nach bester Zunftmanier einen willkommenen Schutz vor zusätzlicher Konkurrenz8. Dieses Anliegen traf sich mit der aus dem Misstrauen der Obrigkeit gegenüber Anwälten erwachsenen Haltung, dass „durch eine zu große Vermehrung (der Zahl der Anwälte), und den daraus entstehenden Mangel hinlänglicher Subsistenz, zu Erregung und Unterhaltung der Streitsucht unter den Einwohnern, zu Betrügereien und Unterschleifen, und zu anderen dergleichen unerlaubten Handlungen, wozu Nahrungslosigkeit und Noth mannigfaltigen Reiz enthalten, kein Anlaß gegeben werde“9. Erst die – nicht von Anwälten ausgelöste – Debatte um die Handels-, Gewerbe- und Berufsfreiheit Mitte des 19. Jahrhunderts führte zur Forderung nach einer „Freigabe der Anwaltschaft“. Damit war gemeint, jeder „Rechtsverständige“, der die dafür vorausgesetzte Ausbildung erfolgreich abgeschlossen hat, solle einen Anspruch auf Zulassung zur Rechtsanwaltschaft haben. Diese 4 Statt aller von Westphalen, AnwBl. 2008, 801 ff. 5 Kopp, Verh. 4. DJT, 1863, Band I, S. 55. 6 Die damals noch in den meisten Partikularstaaten geltende Spaltung des Berufs in Anwälte (Prokuratoren) und Advokaten wird hier vernachlässigt. 7 Ritter von Kießling, Verh. 4. DJT, 1863, Band II, S. 299. 8 Hannes Sigrist, Advokat, Bürger und Staat, 1996, Band I, S. 389. 9 Abschn. III 7 § 5 Pr. AGO.
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Forderung kam nicht so sehr aus der Anwaltschaft. Sie gewann vornehmlich durch entsprechende Beschlüsse des unter Führung liberaler Professoren stehenden Deutschen Juristentages10 und durch eine vielbeachtete „Kampfschrift“ des Berliner Professors Rudolf Gneist11 erheblich an Boden, fand Eingang in die Anwaltsordnungen von Baden (1864), Sachsen und Österreich (jeweils 1868) und danach auch in die Beratungen der Reichsjustizkommission. Die deutsche Anwaltschaft griff die Forderung erst auf dem 5. Deutschen Anwaltstag 1876 auf12. Sie fand beim Gesetzgeber Gehör. § 4 RAO13 bestimmt, allerdings beschränkt auf den Bundesstaat, in dem die erforderliche Prüfung abgelegt worden ist, dass der Bewerber zur Anwaltschaft zuzulassen ist, wenn keine zwingenden gesetzlichen Hinderungsgründe vorliegen. Die Berücksichtigung eines Bedürfnisses an weiteren Rechtsanwälten wird ausdrücklich ausgeschlossen (§ 13). Diese mehr als 130 Jahre zurückliegenden Vorgänge werden hier in Erinnerung gerufen, weil die Anwaltschaft in der Zeit danach wiederholt, zeitweise auch mit Erfolg, versucht hat, den freien Zugang zum Anwaltsberuf zu beseitigen bzw. einzuschränken und diesen ins Ermessen der Zulassungsstelle, jedenfalls unter dem Gesichtspunkt eines Bedürfnisses an weiteren Anwälten (numerus clausus), zu stellen. Anwälte waren die treibende Kraft, das Kernstück einer freien Advokatur, den Rechtsanspruch auf Zulassung, in Frage zu stellen. Sie wurden in dieser Richtung aktiv, als ihnen die Neuzugänge wegen der starken Zunahme der Anwaltszahlen14 wirklich oder vermeintlich wirtschaftlich zusetzten und das uns bis heute geläufige Wort von der „Überfüllung“ des Berufsstandes und der bevorstehenden Entstehung eines die korrekte Berufsausübung in Frage stellenden „Anwaltsproletariats“ die Runde machte. Auf dem 20. Deutschen Anwaltstag 1911 konnten entsprechende Anträge nach einem ablehnenden Gutachten von Max Friedlaender noch abgewehrt werden15. Nach dem I. Weltkrieg lebte die Diskussion, als die Anwaltszahlen erneut hochschnellten16, wieder auf17. Infolge der mit den steigenden Anwaltszahlen einhergehenden deutlichen Verschlechterung der wirtschaftlichen Situation der Anwälte gewannen die Befürworter des numerus clausus nach und nach die Oberhand. Einflussreiche Standesvertreter wie der spätere DAV-Präsident Rudolf Dix erklärten, dass freie Advokatur „auch in einer geschlossenen Kaste möglich ist“18. Sie zählten den freien Berufszugang nicht mehr dazu. Das Thema „numerus clausus“ stand von nun an auf der Tagesordnung jedes Anwaltstages. 10 Verh. 4. DJT, 1863, Band II, S. 320. 11 Rudolf Gneist, Freie Advokatur, die erste Forderung aller Justizreform in Preußen, 1867. 12 Hierzu Weißler, Geschichte der Rechtsanwaltschaft, 1905, S. 573 ff. 13 Rechtsanwaltsordnung vom 1.7.1878, RGBl. S. 177. 14 Von 4.112 (1880) auf 10.817 (1911), vgl. hierzu Hommerich/Kilian/Dreske, Stat. Jahrbuch der Anwaltschaft, 2008, S. 23. 15 Gutachten Max Friedlaender, Beilage zu JW 1911; Verh. DAV-Vertreterversammlung vom 11.9.1913, Beilage zu JW 1913. Zum Kampf für und gegen den numerus clausus ausführlich Fritz Ostler, Die deutschen Rechtsanwälte, 2. Aufl. 1981, S. 60 ff. 16 Auf 13.578 (1925) und 18.047 (1932), Hommerich/Kilian/Dreske (Fn. 14), S. 23. 17 Nachweise bei Max Friedlaender, Kommentar zur RAO, 3. Aufl. 1930, Einl. Rz. 5. 18 Rudolf Dix, Sten. Bericht des 23. Deutschen Anwaltstages, Beilage zu JW 1927 (nach S. 1968).
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Die Diskussionen fanden mit der außerordentlichen DAV-Vertreterversammlung vom 4.12.1932 ihren vorläufigen Abschluss. Diese sprach sich mit großer Mehrheit für eine sofortige Zulassungssperre und mit 115 gegen 31 Stimmen für die Einführung eines numerus clausus aus19. Gesetz wurde der numerus clausus allerdings erst durch die Reichsrechtsanwaltsordnung (§ 15 Abs. 2)20, mit der die Nationalsozialisten die Freiheit der Advokatur zu Grabe trugen. Das keineswegs zufällige Zusammentreffen der Einführung des numerus clausus und der Abschaffung der Berufsfreiheiten durch die NS-Diktatur hätte zu denken geben müssen. Viele Standesvertreter haben daraus freilich keine Lehren gezogen. Im Gebiet der britischen Zone21, wo die RRAO bis zum Erlass der RAO der britischen Zone22 fortgalt, hielten die hierfür zuständigen OLGPräsidenten in Übereinstimmung mit den Rechtsanwaltskammern am numerus clausus fest23. Sie setzten sich gegen die Militärregierung durch, die einen freien Berufszugang gefordert hatte24. Der numerus clausus wurde unter Hinweis auf die DAV-Beschlüsse von 1932 nicht als nationalsozialistisches Gedankengut eingestuft. Dazu mag beigetragen haben, dass einer der einflussreichsten OLG-Präsidenten, der frühere Anwalt Frh. von Hodenberg, Celle, als Berichterstatter 1932 selbst maßgeblich an der Beschlussfasssung der DAV-Vertreterversammlung beteiligt war. Nicht ganz so erfolgreich waren die Bemühungen der Anwaltskammern, den numerus clausus auch in der RAO BrZ unterzubringen. Dies räumte die Militärregierung nur noch befristet bis zum 31.12.1950 ein (Art. VII RAO-EinfVO). An dieser Nachkriegsentwicklung fällt zweierlei auf: Zum einen begnügten sich die Befürworter des numerus clausus nicht mit der Forderung, Zulassungszahlen zu begrenzen. Sie vermieden auch jegliche Regeln, nach denen die Zulassungsstelle unter den in Überzahl auftretenden Bewerbern auszuwählen hatte. Das öffnete – offenbar gewollt – zweifelhaften Bevorzugungen oder Benachteiligungen Tür und Tor. Bevorzugungen Einheimischer vor Ortsfremden, insbesondere Flüchtlingen, die Abwehr von Bewerbungen von Juristen aus anderen Berufen, die Benachteiligung von Bewerberinnen, sind belegt25. Die Militärregierung erhob den Vorwurf, der numerus clausus werde „strenger gehandhabt als unter den Nazis“ und dazu benutzt, um politisch belastete Anwälte unterzubringen „auf Kosten von politisch zuverlässigen Flüchtlingen, die unter dem Naziregime gelitten haben“26. Das zeigt, zu welchen für einen freien Beruf unwürdigen Verwerfungen es kommt, wenn der Zugang zum Beruf in das Ermessen der Zulassungsstelle gestellt wird.
19 AnwBl. 1932, 369 ff.; Tagungsbericht in JW 1932, Beilage zu Heft 51; hierzu auch Ostler (Fn. 15), S. 213 ff. 20 RRAO vom 21.2.1936, RGBl. I S. 107. 21 Ebenso im OLG-Bezirk Koblenz. 22 RAO BrZ vom 10.3.1949, VOBl. BrZ S. 79, 80. 23 OLG Oldenburg Az. 3171, Bl. 41, 73 f. 24 British Special Legal Research Unit vom 25.9.1945, OLG Celle Nr. 23104, Hülle Bl. 66. 25 Vgl. die Beispiele bei Eva Douma, Deutsche Anwälte zwischen Demokratie und Diktatur 1930–1955, 1998, S. 87 f.; Hinrich Rüping, Rechtsanwälte im Bezirk Celle während des Nationalsozialismus, 2007, S. 217 ff.; Felix Busse, Deutsche Anwälte, 2009, S. 110 ff. 26 Legal Division vom 20.1.1947, OLG Celle Nr. 23104 Bl. 149.
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Zum anderen fällt auf, dass zur Verhinderung einer weiteren Verschlechterung der wirtschaftlichen Verhältnisse der Anwaltschaft und der daraus abgeleiteten Gefahr einer unkorrekten Berufsausübung allein oder in erster Linie auf Berufszugangssperren gesetzt worden ist. Ermahnungen wie die von Max Friedlaender, „keine moderne Demokratie (habe) einen numerus clausus“, auch dort nicht, wo es nicht wenige Notleidende gebe, „nur qualitative Schutzmittel, verbunden mit einer liberalen Ausdehnung des Tätigkeitsgebiets“, brächten Abhilfe27, verhallten im Nichts. Die vom Juristentagsgutachter Kopp schon 1863 gestellte Frage, „soll gerade der Charakter des Advokaten, von dem höhere Ehrenhaftigkeit gefordert wird, so wenig Vertrauen verdienen, daß man ihm ein gewisses Einkommen garantiren muß, um ihn vor Abwegen zu bewahren?“28, kam in den Überlegungen nicht mehr vor. Ähnlich führt schon Gneist 1867 aus, „die Besorgniß, daß eine ungemessene Vermehrung der Berufsgenossen die Praxis verderbe, ist ein Zirkelschluß, in dem sich alle Vertreter der Zünfte bewegen. Der Beweis, daß eine gute Advocatur durch die freie Conkurrenz irgend wo und jemals verschlechtert wäre, ist noch von Niemandem geführt“29. Überlegungen, durch bessere Qualität, ein kundenfreundlicheres Leistungsangebot und durch Ausdehnung der Tätigkeitsfelder die Inanspruchnahme anwaltlicher Leistungen zu steigern oder durch Aufhebung oder Lockerung des Werbeverbotes den Anwälten mehr Markt zu schaffen, wurden nicht ernsthaft angestellt. Zutreffend kommt Sigrist zu dem Ergebnis: „Das eigentliche Problem der Rechtsanwaltschaft war nicht der Markt, sondern ihre protektionistische Mentalität“. Und: „Die sogenannte Überfüllung (war) mehr ein Mentalitätsproblem als ein wirtschaftliches“30. An dieser rückwärtsgerichteten inneren Einstellung hatte sich für die Rechtsanwaltskammern auch nach Gründung der Bundesrepublik nichts geändert. Sie versuchten, allerdings vergeblich, die Befristung des numerus clausus auf die Zeit bis zum Inkrafttreten der Bundesrechtsanwaltsordnung zu verlängern. Das entsprechende Gesetz scheiterte erst am Einspruch des Bundesrates, der hierdurch Art. 12 GG verletzt sah31. Einen neuen Anlauf unternahm die Arbeitsgemeinschaft der Anwaltskammervorstände im Bundesgebiet mit dem von ihr auf Anforderung von Justizminister Dehler erarbeiteten Entwurf einer Bundesrechtsanwaltsordnung mit Einführungsgesetz (sog. Münchener Entwurf)32. Er sah die Beibehaltung des numerus clausus bis fünf Jahre nach Inkrafttreten der BRAO vor (Art. 7, 21 EinfG). Der Vorschlag scheiterte an der Bundesregierung. Diese, nicht die Anwaltsvertreter, sahen hierdurch die Berufsfreiheit verletzt. Der Münchener Entwurf der Kammern entfernte sich auch in weiterer Hinsicht vom Leitbild einer freien Advokatur. Er türmte einen Berg von Hürden für den Berufszugang auf, die mit der vom Grundgesetz vorgegebenen Freiheit der Berufswahl nur noch wenig zu tun hatten. War die „Freigabe der Anwaltschaft“, 27 28 29 30 31
Schr. vom 26.3.1947 an OLG-Präsident von Hodenberg, OLG Celle Nr. 23165 Bl. 214. Kopp (Fn. 5), S. 59. Gneist (Fn. 11), S. 85 Sigrist (Fn. 8), Band II, S. 617. BT-Drucks. 1/1615 und Sten. Ber. 1. Wahlper., S. 3822; BR-Drucks. 1063/50 und BT Sten. Ber. S. 4409. 32 Bundesarchiv Koblenz B 141/1957 Bl. 71 ff.
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also der Rechtsanspruch auf Zulassung, noch „das wichtigste Grundprinzip“ der RAO 187833, wollten die Kammern, dass in nicht weniger als zehn Fällen die Zulassung im Ermessen der zuständigen Kammer liegen sollte (§ 9), u. a. bei Bewerbern aus einem anderen Bundesland, Bewerbern im Alter ab 55 Jahre, Empfängern von Versorgungs-, Ruhe- und Wartestandsbezügen, bei Ausübung eines weiteren Berufes. Sogar ein Verhalten des Bewerbers in den letzten zwei Jahren vor Antragstellung, das bei einem Anwalt (nur) mit einem Verweis hätte belegt werden können, sollte nach Ermessen die Ablehnung der Zulassung rechtfertigen. Außerdem wollten die Kammern mit der Zulassungsvoraussetzung eines dreijährigen Anwärterdienstes (§§ 19 ff.) ein Bollwerk gegen Bewerbungen aufbauen34. Auch insoweit war es wieder die Bundesregierung, die der Freiheit der Advokatur gegen die Organe der anwaltlichen Selbstverwaltung die Stange hielt und die vorgeschlagenen Eingriffe ablehnte. Die Regierungsentwürfe einer BRAO sahen von vornherein vor, was dann auch Gesetz geworden ist (§§ 6, 7): Die Zulassung darf nur aus den gesetzlich geregelten zwingenden Gründen versagt werden. Ein Anwärterdienst kann nicht verlangt werden. Ein fehlendes Bedürfnis an weiteren Rechtsanwälten ist kein Ablehnungsgrund. Offi ziell wird die mit der BRAO 1959 verwirklichte „Freigabe der Anwaltschaft“ von keiner Seite mehr in Frage gestellt. Die mentale Grundlage, die seinerzeit zur Einführung des numerus clausus geführt hat, besteht hingegen fort. Das Beklagen einer „Überfüllung“ des Berufs wird im Gegenteil Jahr für Jahr lauter. Das ständige Ansteigen der Anwaltszahlen auf inzwischen über 150.00035 macht vielen Angst. Ob die heutigen Zahlen schon eine Überfüllung bedeuten, ist eine Einschätzung je nach Mentalität des Betrachters. Zur Ambivalenz derartiger Wertungen mag folgendes Beispiel dienen: 1983 warnte die BRAK massiv vor der Überfüllung des Anwaltsstandes 36. 20 Jahre später bezeichnete RAK-Präsident Privat die Verhältnisse von 1983 vergleichsweise als „geradezu paradiesisch“37. Allein acht Länder der EU haben eine höhere Anwaltsdichte, angeführt von Spanien und Griechenland (266,6 bzw. 296,3 gegenüber 594,3 in Deutschland)38. Eine deutliche Verschlechterung der wirtschaftlichen Verhältnisse der Anwaltschaft ist belegt 39. Sie hat ein z. T. erschreckendes Ausmaß angenommen. Vielleicht ist dies aber im Wesentlichen nur eine Folge von Versäumnissen beim Bemühen um eine Ausweitung der Tätigkeitsfelder und eines ausreichenden Anwaltsmarketings sowie im Bereich der Aus- und Fortbildung, insbesondere davon, dass gerade die Politik der Rechtsanwaltskammern es verhindert hat, beim Gesetzgeber eine Anwaltsausbildung anstelle der einheitlichen Juristenausbildung durchzusetzen. Im Übrigen ergibt die Betrachtung der wirtschaftlichen Situation der deutschen Anwaltschaft, dass ihre Durchschnittseinkommen zwar z. T. deutlich hinter dem der Nur-Notare, Ärzte, Zahnärzte, Wirtschaftsprüfer und Steuerberater, aber noch immer vor dem der 33 Friedlaender (Fn. 17), § 4 Anm. 1. 34 Hierzu Busse (Fn. 25), S. 207 ff. 35 Am 1.1.2009 waren 150.377 Anwälte zugelassen (BRAK-Mitt. 2009, 117). Das ist das 11,7-fache von 1950. 36 Mitt. RAK Köln Nr. 80 (1983), S. 4. 37 Constantin Privat, Anwaltschaft im Wandel, 2004, S. 194. 38 Hommerich/Kilian/Dreske (Fn. 14), S. 37, alle Zahlen für 2006. 39 Busse (Fn. 25), S. 634 ff.
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Architekten, Ingenieure und Chemiker und weiterer freier Berufe liegen und deswegen die vom BVerfG in der Apothekerentscheidung40 schon 1958 festgelegten Voraussetzungen für eine bedürfnisorientierte Zulassungsbeschränkung bis heute nicht eingetreten sind.
II. Der Wunsch nach und die Angst vor der Freizügigkeit Ein zentraler Gegenstand der in den 60er Jahren des 19. Jahrhunderts einsetzenden Diskussionen um eine „Freigabe der Anwaltschaft“ war die Forderung nach Freizügigkeit bei der Berufsausübung, also dem Recht, Wohnsitz und Kanzleisitz frei wählen und vor jedem deutschen Gericht auftreten zu können. In vielen Bundesstaaten war der Anwalt bei einem bestimmten Gericht „angestellt“. Vermutlich versprach sich die Obrigkeit davon eine bessere Kontrolle. Die lokalen Anwälte nutzten für sich den daraus folgenden Konkurrenzschutz. Diesen sahen sie durch die geforderte Freizügigkeit nunmehr gefährdet. Sie machten außerdem –ähnlich wie die Justiz- geltend, die Lokalisation erleichtere wegen der Präsenz am Ort und der Kenntnis der Verhältnisse des örtlichen Gerichts die Rechtsprechung. Hiergegen wandten die Befürworter u. a. auf dem 4., 7. und 14. DJT (1863, 1868, 1878) ein, „freie Konkurrenz unter allen zur Parteivertretung Befähigten“ sei keine Gefährdung des Standes, sondern Ansporn zur Leistungssteigerung und Leistungsbereitschaft, „die freie Konkurrenz allein (sei) es, die die tüchtigsten Anwälte erzeugt“, dass „die Achtung vor dem Advokatenstand … nur gewinnen (würde), wenn er durchaus allem Schutz entsagte und sich ganz frei entgegenstellte aller Konkurrenz mit dem tüchtigen, geprüften oder nicht geprüften Vertreter“. Konkurrenz sei „die unentbehrliche Lebenshilfe für den Anwaltsstand“41. Dem Argument der Erleichterung der Rechtsprechung traten sie mit einer Skepsis gegenüber dem bisherigen Verhältnis zwischen örtlichem Gericht und örtlicher Anwaltschaft entgegen, wo „sich jeder Gerichtshof mit genau so vielen Handlangern seiner Geschäfte (umgab), als ihm zu eigener Bequemlichkeit gerathen erschien“42. Auf dem Hintergrund dieser Erwägungen beschloss der 7. DJT 1868, „alle Unterscheidung verschiedener Erfordernisse rücksichtlich der Befugniß der Partheienvertretung vor Einzel-, Collegial- und vor Obergerichten, sowie alle Beschränkung der Freizügigkeit entbehrt der Begründung“43. Widerstand gegen so viel Freizügigkeit kam schon bald, und zwar vornehmlich aus der Anwaltschaft. Das hatte Folgen. Der 5. Deutsche Anwaltstag 1876 forderte in einer Kampfabstimmung mit 99 gegen 92 Stimmen gegen das Votum des Berichterstatters die Lokalisation. Hiermit hatten sich insbesondere die rheinischen Landgerichts-Anwälte durchgesetzt, die erkennbar die angenommenen Vorteile ihrer bisherigen Position nicht einbüßen wollten. Der 5. DAT befürwortete allerdings die Zulassung zu allen Gerichten des OLG-Bezirks.
40 BVerfGE 7, 377 ff. 41 Verh. 4. DJT, 1863, Band I, S. 45; Verh. 7. DJT, 1868, Band II, S. 202, 213; Verh. 14. DJT, 1878, Band II, S. 211. 42 Gutachter Vissering, Verh. 4. DJT, 1863, Band I, S. 72. 43 Verh. 7. DJT, 1868, Band II, S. 249, 252.
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Der 8. DAT 1878 hielt daran fest44. Nunmehr machte auch der Juristentag, der das Thema zu seiner 14. Tagung 1878 nochmals aufgriff, eine Kehrtwende. Seine Gutachter befürworteten ebenfalls die Lokalisation, weil sie ständigen Terminkollisionen vorbeuge und „es der inneren Disziplin unter den Anwälten sehr förderlich ist, wenn diese bei all ihrem Thun der Controlle derselben Richter und derselben Collegen unterworfen sind, dass insbesondere jener auf Loyalität und gewissenhafte Pfl ichterfüllung hindrängende Corpsgeist sich umso lebendiger entwickelt, je enger die Verbindung ist, in welcher Anwälte mit einem bestimmten Gerichte und bestimmten Collegen stehen“45. Der Gesetzgeber wartete eine neuerliche Beschlussfassung des Juristentages nicht ab. Er beschloss die RAO und regelte darin, dass die Zulassung des Anwalts (grundsätzlich nur) bei einem bestimmten Gericht erfolgt. Die Lokalisation wurde durch die Pfl icht, am Ort der Zulassung Wohnsitz zu nehmen (§ 18), ergänzt. Auch in der Frage der Lokalisation wollte sich niemand der Abkehr von der Forderung der Freiheit der Advokatur bezichtigen lassen. Ihre Befürworter vertraten deswegen die erstaunliche, übrigens von Ostler46 noch 1981 verteidigte, Auffassung, die Beschränkung der Postulationsfähigkeit sei keine Frage der Freigabe der Anwaltschaft, sondern lediglich der Prozessführung. Die Freizügigkeit der Berufsausübung von der Freiheit der Berufsausübung zu trennen, ist freilich schwer nachvollziehbar. Das wird an der hierdurch ausgelösten Betroffenheit deutlich. Durch die Lokalisation entstand in der deutschen Anwaltschaft eine Dreiklassengesellschaft, die der OLG-Anwälte, der Landgerichtsanwälte und der Amtsgerichtsanwälte. Letztere waren, da § 78 ZPO für den Anwaltsprozess die Zulassung beim jeweiligen Kollegialgericht voraussetzte, vor dem Landgericht und damit von den lukrativeren Sachen ausgesperrt, während die Landgerichtsanwälte mangels Anwaltszwangs auch vor allen Amtsgerichten auftreten konnten. Amtsgerichtsanwälte blieben bzw. wurden Anwälte zweiter Klasse. Zwar sah § 9 Satz 2 RAO die Möglichkeit vor, die Simultanzulassung zum Landgericht auszusprechen. Hierauf bestand jedoch kein Rechtsanspruch. Zudem bestand die Möglichkeit nur bei einem übereinstimmend positiven Votum von OLG und Anwaltskammer, das in Preußen fast nie, in Bayern und einigen anderen Bundesstaaten äußerst selten ausgesprochen wurde. Von dieser Demütigung waren fast ein Drittel der damals zugelassenen (Amtsgerichts-)Anwälte betroffen. In kleinerer Dimension bestand der Interessengegensatz auch im Verhältnis der OLG-Anwälte zu den LG-Anwälten, die nur in bestimmten Regionen und nur nach Ermessen eine Simultanzulassung erreichen konnten. Die beschriebenen Interessengegensätze hätten seinerzeit die Anwaltschaft und auch den DAV fast zerrissen47, wie sich dies 1990 in Bezug auf die Lokalisation und die singulare OLG-Zulassung fast noch einmal wiederholen sollte48. Die mächtigen LG-Anwälte, unterstützt von den OLG-Anwälten, handelten mit den Worten des damals führenden Vertreters der Amtsgerichtsanwälte Raabe,
44 45 46 47 48
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Weißler (Fn. 12), S. 582, 590. Werz, Verh. 14. DJT, Band I/1, S. 25 ff., Zitat S. 30. Ostler (Fn. 15), S. 19. Ostler (Fn. 15), S. 70 ff., 183 ff. Zu den Auseinandersetzungen insbesondere auf der DAV-Mitgliederversammlung Oldenburg 1990 näher Busse (Fn. 25), S. 539.
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natürlich verbrämt durch vorgeschobene Sachargumente, nach dem Grundsatz: „Wir stehen auf dem Standpunkt, eher die Interessen der Gesamtheit aufopfern zu wollen als unsere eigenen. Das Hemd ist uns näher als der Rock“49. Das Verhältnis der erstinstanzlich tätigen Anwälte zueinander wurde erst durch das Gesetz vom 7.3.1927 bereinigt50, das den Amtsgerichtsanwälten einen Anspruch auf Simultanzulassung beim Landgericht verlieh. Diese Rechtslage blieb bis 1945 und danach in der Besatzungszeit durchgängig in der britischen und französischen Zone bestehen. Die Amerikaner sahen dagegen in ihrem „Plan für den Aufbau des Rechtpflegewesens“51 die Postulationsfähigkeit jedes Anwalts vor allen Gerichten des betreffenden Landes vor. Hiergegen mit Unterstützung der Anwaltskammern erlassene deutsche Regelungen mussten korrigiert werden. Auch das von der Militärregierung vorgeschlagene „Gesetz betreffend den Wiederaufbau der deutschen Rechtsanwaltschaft“ sah Freizügigkeit vor. Hiergegen setzte sich allerdings die deutsche Seite im Länderrat durch52, so dass in den neuen Rechtsanwaltsordnungen der Länder zur Lokalisation die von den Anwaltskammern gewünschte Vorkriegsrechtslage wieder hergestellt werden konnte. Die Arbeitsgemeinschaft der Anwaltskammervorstände im Bundesgebiet hielt, insofern im Einvernehmen mit dem DAV, bei Erarbeitung des Entwurfs einer Bundesrechtsanwaltsordnung (sog. Münchener Entwurf)53 hieran fest. Ihr Kommissionsmitglied Heins bezeichnete dies allerdings schon damals als einen „nicht zu begreifenden Anachronismus“54. Die BRAO folgte der Anwaltsmehrheit (§§ 18 ff. i. V. m. § 78 ZPO a. F.). Es blieb bei der Zulassung beim Amts- und Landgericht einerseits und beim OLG andererseits, letzteres „durchlöchert“ durch die regional zulässige oder mögliche Simultanzulassung beim Land- und Oberlandesgericht. Erst im Zuge der Debatte um die Neuordnung des Berufsrechts, ausgelöst durch die Bastille-Entscheidungen des BVerfG55, wurde von Teilen der Anwaltschaft auch der Lokalisationsgrundsatz wieder auf den Prüfstand gestellt. Die Debatte weitete sich förmlich zu einem „Glaubenskrieg“ zwischen der Mehrheit im DAV und der Mehrheit in der BRAK aus56. Die alten gegensätzlichen Sachargumente machten wieder die Runde. Zusätzlich wurde von den Traditionalisten das Horrorszenario an die Wand gemalt, „dass die Anwaltschaft in allen Landgerichtsbezirken außerhalb der Großstädte ausblutet“, wenn die Lokalisation fällt57. Tatsache war demgegenüber, dass die infolge der Lokalisierung an einen Anwalt beim Prozessgericht abzugebenden Mandate höchstens im Ausnahmefall einmal die außerhalb des Landgerichtssitzes niedergelassenen Anwälte erreichten, vielmehr in erster Linie den am Sitz des Landgerichts niedergelassenen Anwälten, und dort in erster Linie den namhaften größeren und mittleren Sozietäten zugutekamen. Dieser Personenkreis war in den Kammervorständen 49 50 51 52 53 54 55 56 57
Zitiert nach Ostler (Fn. 15), S. 184. RGBl. I S. 71 (§ 9 RAO n. F.). Hierzu Busse (Fn. 25), S. 31 ff. Hierzu Busse (Fn. 25), S. 61 ff. Oben Fn. 32. Heins, NJW 1959, 1345; ebenso NJW 1958, 201. BVerfGE 76, 171 ff., 196 ff. Hierzu Busse (Fn. 25), S. 606 ff. Ostler, AnwBl. 1988, 577.
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und in vielen Vereinsvorständen besonders stark vertreten. Er kämpfte erkennbar dagegen, diesen ihm durch die Lokalisation bescherten Mandatszufluss zu verlieren. Der DAV trat gegen die Kammern für die Aufhebung des Lokalisationsgrundsatzes ein, brachte dafür in Mitgliederbefragungen die Mehrheit seiner Mitglieder hinter sich und setzte sich damit beim Gesetzgeber durch58. Auch im Bundestag sah man die von den Kammern verteidigte Lokalisation als „Fossil überholten Zunftdenkens“ und machte als Verfechter der Lokalisation die hiervon begünstigten Anwälte mit Sitz am Ort des Landgerichts und die Richter am Landgericht aus, die es bequemer fänden, mit Anwälten umzugehen, die man kennt59. Mit Wirkung zum 1.1.2000 konnte nun jeder bei einem Eingangsgericht zugelassene Anwalt bei jedem deutschen Landgericht auftreten. In der Folge fiel durch das BVerfG auch die Singularzulassung zum OLG60. 2007 zog der Gesetzgeber die Konsequenzen. Er schaffte die Zulassung des Anwalts bei einem Gericht und die besondere Zulassung zum OLG, ebenso die Residenzpfl icht und das Zweigstellenverbot ab61. Damit fanden 150 Jahre Kampf um die Freizügigkeit, der die anwaltlichen Selbstverwaltungskörperschaften solange entgegengetreten waren, bei der innerstaatlichen Erbringung von Anwaltsleistungen ihr Ende. Das Ende war positiv. Auch nach Ansicht des gegenwärtigen BRAK-Präsidenten Axel C. Filges „profitiert (die Anwaltschaft) unmittelbar von der Aufhebung der Lokalisation“62. Desgleichen stand in Bezug auf grenzüberschreitende Anwaltsleistungen Freizügigkeit lange nicht auf dem Programm der deutschen Anwaltschaft. Im Gegenteil: Ihre Haltung, insbesondere die ihrer Berufsorganisationen, war lange Zeit von Protektionismus, Abschottungsmentalität und Konkurrenzangst geprägt. Zwar setzte die Zulassung als Anwalt nicht die deutsche Staatsangehörigkeit voraus, wohl aber die Erlangung der Befähigung zum Richteramt nach deutschem Recht. Spätestens mit dem Abschluss des EWG-Vertrages 1957 musste sich die Frage der Zulassung grenzüberschreitender Dienstleistungen ausländischer Anwälte aus den Mitgliedsstaaten und von deren Niederlassung in der Bundesrepublik neu stellen. Als die Kommission 1969 den Entwurf einer Dienstleistungsrichtlinie vorlegte, stritten BRAK und DAV der EG jedoch unter Hinweis auf Art. 55 EWGV das Recht ab, den anwaltlichen Bereich einzubeziehen, weil er „mit der Ausübung öffentlicher Gewalt verbunden“ sei. Dass Vertreter der deutschen Berufsorganisationen, die immer die Freiheit der Advokatur und die Tätigkeit des Anwalts als freier Beruf auf den Lippen führten, im hier erörterten Zusammenhang Anwaltstätigkeit als „Ausübung öffentlicher Gewalt“ apostrophierten, um ausländische Konkurrenz abzuwehren, war mit den Worten des DAV-Hauptgeschäftsführers Brangsch, „was der Volksmund bezeichnet als den Teufel mit dem Beelzebub austreiben“63. Die auf Druck der Anwaltsorganisationen von der Bundesregierung mitgetragene Abschot58 Art. 3 des Neuordnungsgesetzes vom 2.9.1994, BGBl. I S. 2278. 59 Z. B. der Vorsitzende des Rechtsausschusses Horst Eylmann, BT Sten. Ber. 12. Wahlper. S. 20008/9. 60 BVerfG, NJW 2001, 353 ff.; hierzu Busse (Fn. 25), S. 610 ff. 61 Gesetz zur Stärkung der Selbstverwaltung der Rechtsanwaltschaft vom 26.3.2007, BGBl. I S. 358. 62 Filges, BRAK-Mitt. 2009, 145. 63 Brangsch, AnwBl. 1974, 323.
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tungspolitik fand jedoch vor dem EuGH keine Gnade64. Die nun nicht mehr zu verhindernde Öffnung folgte durch die Dienstleistungsrichtlinie 1977 und das RADG 1980. Ein weiterer Versuch der Abschottung war die gedanklich an den Lokalisationsgrundsatz und das Zweigstellenverbot anknüpfende Haltung der Kammern, ein Anwalt, der im Ausland eine Praxis unterhalte, könne in Deutschland nicht zugelassen werden oder bleiben. Auch das wurde erst vom EuGH65 korrigiert. Damit wurde der deutsche Inlandsanwalt mit Zweitkanzlei im Ausland Wirklichkeit. Schließlich scheiterte vor dem EuGH die auf Betreiben der deutschen Anwaltschaft als § 4 RADG vorgesehene Regelung, dass ausländische Anwälte auch außerhalb des Anwaltsprozesses einen deutschen Einvernehmensanwalt brauchen und im Anwaltsprozess nur gemäß § 52 BRAO a. F. neben dem vor dem Gericht zugelassenen Einvernehmensanwalt auftreten können66. Damit war für ausländische Anwälte der Lokalisationsgrundsatz aufgehoben und von Europa her ein weiterer Stein gegen die Lokalisation insgesamt ins Rollen gebracht. Schließlich konnte nach vielen Widerständen, die auch von den deutschen Anwaltsorganisationen ausgingen, (erst) 1998 die EU-Niederlassungsrichtlinie für Rechtsanwälte erlassen und im Jahre 2000 durch das EURAG umgesetzt werden. Die deutsche Anwaltschaft hat – zusammenfassend betrachtet – also auch für grenzüberschreitende Dienstleistungen lange Zeit die Zeichen der Zeit nicht erkannt und damit zwar Konkurrenz im Inland einige Zeit ferngehalten, andererseits verschuldet, dass deutsche Anwälte kaum ins Ausland expandierten und dadurch lange Zeit „international in die Abstiegszone“ gerieten67.
III. Der Widerspruch von Freiheit der Advokatur und Disziplin Bis heute hält unsere Rechtsordnung, wenn auch mit über die letzten Jahrzehnte abnehmender Tendenz, daran fest, Anwälte über die allgemeinen Gesetze hinaus besonderen berufsrechtlichen Pfl ichten zu unterwerfen oder die Verletzung allgemeiner Gesetze auch berufsrechtlich zu sanktionieren. Die Frage, ob Anwälte bei ihrer Berufsausübung besonderen Pfl ichten unterworfen werden können und sollen, ist allerdings so alt wie die Diskussion um die Freiheit der Advokatur selbst. Es wäre einer grundlegenden wissenschaftlichen Untersuchung wert, ob der Grund für die Bejahung der Frage in mehr als im Weiterleben obrigkeitlicher Unwerturteile und Vorurteile in den Köpfen der Wortführer der Anwaltschaft gegenüber ihrer Kollegenschaft zu suchen ist. Die Anwaltsvertreter haben stets und so auch im 19. Jahrhundert die besondere Ehrenhaftigkeit der Berufsangehörigen betont, die sie schon aus ihrer Verpfl ichtetheit gegenüber dem Recht meinten ableiten zu können. Aus dieser Sicht hätte die Annahme nahegelegen, dass Anwälte aufgrund besonderer Rechtstreue viel weniger der Kontrolle bedürfen als die Bürger allgemein. Zu Recht fragte der spätere Reichstagsabgeordnete Rechtsanwalt Wolffson daher auf dem 7. DJT 1868: „Was ist denn das Absonderliche an uns, daß gerade wir ganz besonders
64 65 66 67
EuGH, NJW 1975, 513 ff. (Reyners); NJW 1975, 1095 (van Binsbergen). EuGH, AnwBl. 1984, 608 (Klopp). EuGH, NJW 1988, 887 ff. Kühn, AnwBl. 1989, 440.
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einer Disciplin unterworfen werden müssen?“68. Als Begründung wurde ihm entgegengehalten, „der Advokat soll noch einen besonderen staatlichen Zweck erreichen helfen, er hat das Material anzuführen, welches zur Findung des richtigen Urtheils nothwendig ist“69. Diese Antwort geht aber an der Frage vorbei. Einer besonderen „Disziplin“ (besonderen Beschränkungen) bedarf es nur, wenn es am Vertrauen fehlt, dass der Berufsangehörige ohne solche „Disziplin“ seine wie auch immer strukturierte Aufgabe zureichend wahrnehmen werde. Ein solches Vertrauen setzte die Obrigkeit in die Anwälte nicht. Sie standen bei ihr in denkbar schlechtem Ansehen. Sogar die ihnen auferlegte Amtstracht war nicht als Statussymbol, sondern als Schandmal gedacht, „damit man die Spitzbuben schon von weitem erkennen und sich vor ihnen hüten kann“70. Wirklicher Hintergrund war eher, dass viele sich für ihre Klientel obrigkeitlichen Maßnahmen widersetzten, für Bürgerinteressen eintraten statt mit der Obrigkeit und deren Gerichten zusammenzuarbeiten. Das konnte natürlich nicht offen ausgesprochen werden. Dafür mussten Diffamierungen, die Anwälten die Redlichkeit absprachen, herhalten, z. B. sie würden die „Leute aufwiegeln“, sie zu leichtfertigem Prozessieren verleiten und ihnen die Taschen leeren71. Mit solchen Einschätzungen wurden dann Reglements gerechtfertigt, die der Obrigkeit ein leichtes Vorgehen gegen Anwälte eröffneten. Man hätte erwarten können, dass die Mitte des 19. Jahrhunderts nach Freiheit strebende Advokatur zum Abwerfen solcher Fesseln aufrufen würde. Ansätze dazu gab es. Der Gutachter des 4. DJT Kopp etwa vertrat schon 1863, was heute noch vor dem Bundesverfassungsgericht Bestand hätte, als seinen „Fundamentalsatz“, dass der freie Gebrauch des Anwaltsberufs „nur dann und insoweit einer Beschränkung durch das Gesetz unterworfen werden darf, als überwiegende unzweifelhafte Gründe aus Rücksicht auf das öffentliche Interesse diese Beschränkung nothwendig machen“72. Dagegen hat die Mehrheit der führenden Anwaltsvertreter damals das obrigkeitliche Denken der Notwendigkeit, Anwälte besonderer Kontrolle zu unterwerfen, übernommen. Ihr ganzes Streben beschränkte sich auf die Herstellung der Autonomie einer anwaltlichen Selbstverwaltung vom Staat. Mit ihr sahen sie die Freiheit der Advokatur hergestellt. Die freie Berufsausübung des einzelnen Anwalts verstanden sie darunter nicht. Sie wollten die bisher obrigkeitlichen Rechte gegenüber dem einzelnen Anwalt nur auf sich, die Selbstverwaltungsorgane, überleiten. Insofern war die Verkammerung des Berufes auch ein funktionales Residium einstiger Staatsgebundenheit73. Dieser Hintergrund ist jedenfalls eine einfühlsam mögliche Erklärung für die Einschränkungen der freien Berufsausübung, die die Anwaltskammern und Ehrengerichte aus der Generalklausel des § 28 RAO herausgelesen, die der DAV in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts in seine „Standesrichtlinien“ hineingeschrieben und die Arbeitsgemeinschaft der Anwaltskammervorstände im Bundesgebiet und später die BRAK in ihren Richtlinien aufrecht erhalten 68 69 70 71
Verh. 7. DJT, 1868, Band II, S. 254. Dorn, Verh. 7. DJT, 1868, Band II, S. 257. So angeblich der preußische König Friedrich Wilhelm, vgl. Weißler (Fn. 12), S. 310. Römermann in Hartung/Römermann, Berufs- und Fachanwaltsordnung, 4. Aufl. 2008, Vor § 6 BORA Rz. 9, m.w.Nachw. 72 Kopp (Fn. 5), S. 54. 73 Ähnlich schon Stefan Breuer, Anwaltliche Werbung, Diss. Köln 1994, S. 83.
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haben74, bis die „Standesrichtlinien“ vom Bundesverfassungsgericht 1987 in seinen „Bastille-Entscheidungen“75 mangels demokratischer Legitimation verworfen worden sind. Gerade die Gegenstände dieser Entscheidungen machen deutlich, dass die Anwaltskammern bis dahin das Grundrecht der Berufsfreiheit in wichtigen Facetten für den Anwaltsberuf76 noch nicht entdeckt hatten. Eine der „Bastille-Entscheidungen“ betraf das Sachlichkeitsgebot, das in vermeintlicher Ausfüllung der Generalklausel des § 43 BRAO in den §§ 1, 9 und 10 der „Standesrichtlinien“ näher beschrieben worden ist. Gerichten und Behörden gegenüber legte es dem Anwalt eine von den Ehrengerichten sehr weit ausgedehnte Zurückhaltung auf. Ob das Verhalten des Gerichts/der Behörde zu den beanstandeten drastischen Formulierungen Anlass gegeben hatte, hinterfragten sie nicht, obwohl jeder Praktiker weiß, wie häufig solche Situationen vorkommen. Ganz im Stil des früher der Obrigkeit stets und unter allen Umständen geschuldeten Respekts forderten Kammern und Ehrengerichte immer wieder, dass der Anwalt auch gegenüber erkannten oder angenommenen Missständen der justiziellen oder behördlichen Behandlung des von ihm betreuten Falles die Ruhe zu bewahren habe. Zum Recht des Anwalts auf freie Meinungsäußerung zählten sie das Wie der Äußerung nicht recht hinzu, auch nicht im offensichtlichen Konfl iktsfall. Die jedermann vom Gesetz zugebilligte Rechtfertigung durch Wahrnehmung berechtigter Interessen (§ 193 StGB) sollte berufsrechtlich nicht gelten77. Den Anwälten wurde von ihrer eigenen Selbstverwaltung, wie vor 1878, ein Maulkorb umgehängt. Entsprechend exzessiv lebten die hierdurch „geschützten“ staatlichen Stellen ihre besondere Empfi ndsamkeit energisch auftretenden Rechtsanwälten gegenüber aus. Man könnte meinen, um nochmals den Juristentagsgutachter von 1863 zu zitieren, dass sich „ein unbewußtes pactum“ zwischen Richtern und Anwälten zu bilden pflegte, im Rahmen dessen die Anwälte den Richtern „eine ungestörte Behaglichkeit verbürgen“ sollten78. Dem bereitete erst das BVerfG ein Ende. Es betonte nicht nur, dass es den Kammern und Ehrengerichten „trotz einer nun 100 Jahre währenden Auslegungstradition“ nicht gelungen sei, „nachvollziehbare Kriterien zur Abgrenzung von sachlichem und unsachlichem Verhalten zu entwickeln“. Das Gericht folgerte aus der Aufgabe des Anwalts, „zum Finden einer sachgerechten Entscheidung beizutragen“ und „das Gericht – ebenso Staatsanwaltschaft oder Behörden – vor Fehlentscheidungen zu Lasten seines Mandanten zu bewahren“, insbesondere den Mandanten „vor der Gefahr des Rechtsverlustes (zu) schützen“, der Anwalt dürfe „im ‚Kampf um das Recht‘ auch starke, eindringliche Ausdrücke und sinnfällige Schlagworte benutzen, ferner Urteilsschelte üben oder ‚ad personam‘ argumentieren, um beispielsweise eine mögliche Voreingenommenheit eines Richters … zu kritisieren“. Auch „die Form der Meinungsäußerung (unterliege) der durch Art. 5 Abs. 1 GG geschützten Selbstbestimmung“79. Es 74 Zur Geschichte der Standesrichtlinien statt aller Busse (Fn. 25), S. 245 f. 75 BVerfGE 76, 171 ff. (zur Sachlichkeit) und 196 ff. (zum Werbeverbot). 76 Wie die Steuerberaterkammern und die Wirtschaftsprüferkammer für ihre Berufe ebenso. 77 St. Rechtsprechung seit EGH 8, 5 vom 24.6.1901, vgl. Nachweise bei Walter Isele, Komm. zur BRAO, 1976, Anhang zu § 43, S. 673. 78 Kopp (Fn. 5), S. 73. 79 BVerfGE 76, 171, 191, 192.
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ist ernüchternd, dass diese Wahrheit 110 Jahre seit Inkrafttreten der RAO und 38 Jahre seit Inkrafttreten des Grundgesetzes benötigte, um sich gegen die Auffassung der anwaltlichen Institutionen durchzusetzen, die doch eigentlich Wächter über die Freiheit der Advokatur sein wollten. Der Gesetzgeber hat das Sachlichkeitsgebot im Rahmen des NeuOG 1994 entsprechend reduziert (§ 43a Abs. 3 BRAO). Selbst dazu ergangene Judikate musste das BVerfG noch zurückschneiden80. Zu den allgemeinen Gesetzen besteht nun kein greifbarer Unterschied mehr. Seither ist der Ton der Anwälte im Umgang mit Justiz und Behörden zwar gelegentlich rauer geworden. Einen „Sittenverfall“ hat es aber nicht gegeben. Zu sehr wissen Anwälte, dass Unsachlichkeit den Argumenten oft die Wirkung nimmt und nur in geeigneten Fällen mit dazu beiträgt, die Adressaten aufzuwecken und von Irrwegen abzuhalten. Die zweite „Bastille-Entscheidung“ betraf die Frage, ob und inwieweit Anwälte nach außen kommunizieren dürfen, genauer das sog. anwaltliche Werbeverbot. Zwar enthielt die RAO keine ausdrückliche Regelung dazu. Kammern und Ehrengerichte leiteten das Verbot aber von Anfang an aus der Generalklausel des § 28 RAO ab, die, wie später § 43 BRAO, den Anwalt verpfl ichtete, seinen Beruf gewissenhaft auszuüben und sich der Achtung würdig zu erweisen, die sein Beruf erfordert. Das Verbot fand Eingang in die Standesrichtlinien erst des DAV, später der BRAK (§§ 2, 69–73). Geht man unvoreingenommen an den Wortlaut der erwähnten Generalklauseln heran, so fällt es schwer, aus geforderter Gewissenhaftigkeit und Standeswürde auf das Verbot zu schließen, die eigene Leistung gegenüber dem rechtsuchenden Publikum bekanntzumachen. Manches lässt darauf schließen, dass auch hier eine Tradition des Umgangs der Obrigkeit mit den Anwälten, deren Rolle sie klein halten wollte, weiter lebendig geblieben ist. Anwälte waren es schon im 18. und 19. Jahrhundert gewohnt, dass man sie mit Verboten und Straftatbeständen überzog, wenn sie versuchten, sich bei den Bürgern bekanntzumachen und für ihre Inanspruchnahme zu werben81. Die Verbote waren Ausdruck des Misstrauens, wenn nicht der schon zitierten Missachtung, die Behörden und Justiz den Anwälten entgegenbrachten. Der Ruf der selbstbewusster werdenden Anwaltschaft in der Mitte des 19. Jahrhunderts nach der Freiheit der Advokatur hätte deswegen eigentlich auf Befreiung auch von dieser Fessel gerichtet sein müssen. Stattdessen hielten die Wortführer der Anwaltschaft an ihr nun mit der Begründung fest, Kommunikation des Anwalts mit anderen als den schon betreuten Mandanten verletze die Standeswürde82. Hintergrund war das den etablierten Anwälten zugutekommende Bemühen, den Anwaltsberuf nicht als Gewerbe, sondern, obwohl auch auf Gelderwerb gerichtet, als besonderen Ehrenberuf (Organ der Rechtspflege), entlohnt mit einem Ehrensold (Honorar), einzustufen, um ihn damit auf den gleichen Rang wie den Beruf des Richters und Staatsanwalts zu stellen. Die Argumentation war allerdings zirkular. Aus einem durch berufsrechtliche Beschränkungen geformten Anwaltsbild wurde auf eine besondere, vom Gewerbe abgrenzbare Anwaltswürde geschlossen und aus der Anwaltswürde die Notwendigkeit der berufsrechtlichen Beschränkungen abgeleitet. Zirkular war auch die wirklich80 BVerfG, BRAK-Mitt. 2008, 123. 81 Matthias Prinz, Anwaltswerbung, 1986, S. 85 ff. m.w.Nachw. 82 Wie Fn. 81.
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keitsfremde Einstufung des anwaltlichen Gelderwerbs. Weil der Anwalt kein Gewerbe ausübe, dürfe er nicht um des Geldes willen tätig werden und weil er nicht um des Geldes willen tätig sei, übe er kein Gewerbe aus. Abgenommen hat die Öffentlichkeit der Anwaltschaft deren angeblich primär altruistische Berufseinstellung nie. Der materielle Heiligenschein, den Kammern und Gerichte dem Anwalt insofern aufgesetzt haben, hat den Anwälten viel Glaubwürdigkeit gekostet. Er hat das nicht erst seit Daumier gezeichnete Bild des Anwalts, der seine Mandanten übervorteilt oder ausnimmt, weder verhindert noch entkräftet noch dazu geführt, dass dieses Zerrbild inzwischen ausgemerzt werden konnte. „Von der bloßen Stellung als Organ der Rechtpflege wird man nicht satt“, sagt Hellwig richtig83. Dieses Verständnis hätte die anwaltliche Selbstverwaltung schnell darauf bringen müssen, dass der Anwalt seine Leistung und sein Leistungsangebot nach außen kommunizieren muss, um beim Publikum bestehenden Beratungsbedarf zu befriedigen oder auch zu wecken und dass die Rechtsgewährleistungsaufgabe des Anwalts erfordert, dass das rechtsuchende Publikum den Anwalt fi ndet, den es braucht. Stattdessen hat sie alle Versuche der Außendarstellung bis hin zur geringfügigen Überschreitung festgelegter Maße von Praxisschildern, Telefonbucheinträgen u. ä. m. unnachsichtig verfolgt. Dies haben die Kammern auch durchgehalten, als die Anwaltschaft wegen der starken Zunahme der Anwaltszahlen84 in einen wirtschaftlichen Abwärtsstrudel geriet und es dringend nötig gehabt hätte, ihre Tätigkeitsfelder auszudehnen und die Nützlichkeit ihrer Leistungen der Bevölkerung näher zu bringen, statt in Verborgenheit zu wirken. Hiervon versuchte man mit geradezu blauäugigen Argumenten abzulenken. So schreibt Isele 85, das Werbeverbot erfülle für die Anwälte eine „Schutzfunktion“, es gebe „dem neu zugelassenen Rechtsanwalt die gleiche Chance wie dem alteingesessenen. Der erstere (verdiene) sich die Sporen durch seine Leistung, der sog. arrivierte Anwalt (könne) seinen Ruf nur durch die Beibehaltung seiner seitherigen Leistung erhalten“. Dabei war und ist es geradezu eine Selbstverständlichkeit, dass der alteingesessene Anwalt „mit Ruf“ zwangsläufig vor dem neu in den Beruf eintretenden einen großen Wettbewerbsvorsprung hat, wenn und weil letzterer wegen des Werbeverbots nur ganz allmählig eine Mund-zu-Mund-Propaganda aufbauen kann. Dies entlarvt das Werbeverbot als das, was es wirklich war, ein Instrument der in Kammer- und Vereinsvorständen bestens vertretenen etablierten Anwälte, sich ihren Wettbewerbsvorsprung zu bewahren und sich vor unliebsamer Konkurrenz durch das Bekanntwerden anderer Anwälte zu schützen86. Das Werbeverbot hat die neu in den Beruf eintretenden Anwälte jahrzehntelang benachteiligt. Es hat aber auch zu generellen schädlichen Fehlentwicklungen zu Lasten der Anwaltschaft beigetragen. Ein Beispiel war die Behinderung der angesichts einer immer komplexer werdenden Rechtsordnung dringend erforderli-
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Hellwig, BRAK-Mitt. 2008, 92, 93. Oben Fn. 14 und 35. Isele (Fn. 77), Anhang zu § 43, S. 802, 803. So 1996 der damalige Vorsitzende des Rechtsausschusses des Deutschen Bundestages Horst Eylmann, AnwBl. 1996, 481, 485; ebenso Römermann (Fn. 71), Vor § 6 BORA Rz. 13.
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chen Spezialisierung. Sie konnte nicht fortschreiten, weil ihre Kundmachung als standeswidrig eingestuft worden ist87. Zwar setzte der DAV in den letzten Jahren der Weimarer Republik Fachanwaltschaften durch88. Zu dieser Zeit war für die Anwaltschaft der Bereich des Steuerrechts (an die Steuerberater) und des Verwaltungsrechts (an die Verwaltungsrechtsräte) aber schon weitgehend verloren gegangen. Die Kammern trugen dazu bei, dass die Fachanwaltschaften alsbald wieder abgeschafft worden sind. Noch 1956 wetterte der Hamburger Kammerpräsident Neuhäuser „wider die Todsünde der Fachanwaltschaften“89. Erst 1986 leitete die BRAK die zuvor schon vom DAV geforderte Wende ein90. Heute sind die inzwischen 20 Fachanwaltschaften eine Erfolgsstory. Ihre Bekämpfung durch die anwaltliche Selbstverwaltung hat diese Entwicklung jahrzehntelang verhindert. Erst das BVerfG hat 1987 in Sachen Anwaltswerbung die Weichen gegen die Standespolitik der Kammern neu gestellt. Es leitete aus Art. 5 und 12 GG ab, dass Anwälten nur berufswidrige Werbung verboten werden kann91. Es hat später präzisiert, nicht die Werbung, sondern nur deren Verbot bedürfe der Rechtfertigung 92. Gegenüber dem insoweit noch missverständlichen § 43b BRAO 199493 hat die BORA schon in ihrer Ursprungsfassung von 1996 in § 6 Abs. 1 formuliert: „Der Rechtsanwalt darf über seine Dienstleistung und seine Person informieren, soweit seine Angaben sachlich unterrichten und berufsbezogen sind“. Der Streit um die Werbefreiheit der Anwälte war damit aber noch nicht ausgestanden. Das Bundesverfassungsgericht war genötigt, noch in einer ganzen Reihe von Entscheidungen Verdikte der Kammern und Berufsgerichte zu korrigieren und den Anwälten zu bestätigen, dass sie in ihrer Öffentlichkeitsarbeit nicht auf nüchterne Fakten beschränkt sind, dass sich aus dem gewählten Werbemedium allein noch keine Unsachlichkeit ergibt, dass sie nicht auf bisher übliche Werbeformate beschränkt sind, dass sie allein zu bestimmen haben, in welcher Weise sie sich der Öffentlichkeit präsentieren, wenn sie die durch schützenswerte Gemeinwohlbelange gezogenen Schranken beachten94. Erst in ihrer Sitzung vom November 2009 hat die Satzungsversammlung die verfassungswidrige Beschränkung der Werbung mit Mandanten und Mandaten auf bestimmte Werbemedien aufgegeben, an dem kaum haltbaren Verbot der Werbung mit Umsatzzahlen aber festgehalten95. Vor dem Hintergrund der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung mehren sich die Stimmen, dass auch von den verkammerten freien Berufen keine weitergehenden Einschränkungen
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EGH, JW 1923, 609. AnwBl. 1929, 245; 1930, 50; 1932, 343. Neuhäuser, AnwBl. 1956, 54 ff. Zur Geschichte der Fachanwaltschaften Busse, AnwBl. 2005, 29 ff. und Busse (Fn. 25), S. 253 ff., 582 ff. BVerfGE 76, 196 ff. BVerfG, NJW 2000, 1635, 1636; 2001, 3324; 2004, 3765, 3767. Für Hellwig (AnwBl. 2008, 644, 648) „ein verräterischer Befund für die dahinterstehende Denkweise“ von Ordensbrüdern. Wie Fn. 92 und die weiteren darin zitierten Entscheidungen; vgl. auch Römermann (Fn. 71), § 6 BORA Rz. 59 ff. Fiebig, BRAK-Magazin 6/2009, 12.
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verlangt werden können, als sie für alle gemäß UWG gelten96. Für die Wirtschaftsprüfer hat der Gesetzgeber diese Konsequenz bereits gezogen. Ihnen ist Werbung nur (noch) verboten, wenn sie „unlauter“ ist97. Es passt ins Bild, dass die anwaltliche Selbstverwaltung sich zu einer solchen Forderung noch nicht entschließen konnte. Weitere Beispiele, dass die anwaltliche Selbstverwaltung für Beschränkungen eingetreten ist, die im Lichte der Berufsfreiheit des Grundgesetzes nicht haltbar sind, ließen sich anführen, etwa die Einschränkung zweitberuflicher Tätigkeit neben dem Anwaltsberuf, die Untersagung überörtlicher Zusammenschlüsse oder anwaltlicher Kapitalgesellschaften, bis die Rechtsprechung schon de lege lata hierfür keine Rechtsgrundlage fand98. Die Öffnung der Personenhandelsgesellschaften für Anwälte, die Erweiterung von Beteiligungsmöglichkeiten an Anwaltsgesellschaften, die Erweiterung der Möglichkeit interprofessioneller Zusammenschlüsse sind die aktuellen Themen, zu denen die anwaltliche Selbstverwaltung ihr Jawort noch versagt. Es gibt also auch weiterhin Stoff genug für die Anwaltschaft, sich für das Wagnis der Freiheit zu öffnen, das einem freien Beruf nicht suspekt sein sollte.
96 Hellwig, AnwBl. 2008, 644, 648; Henssler, AnwBl. 2009, 1, 7; Römermann (Fn. 71), Vor § 6 BORA Rz. 30, 57. 97 § 52 WPO i. d. F. des Gesetzes vom 6.9.2007, BGBl. I S. 2178. 98 BVerfG, NJW 1993, 317; BGH, AnwBl. 1989, 563; BayObLG, NJW 1995, 199 und NJW 2000, 1647.
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A global code of conduct for lawyers: is it feasible? Inhaltübersicht I. Introduction II. Vision of a lawyer III. Enforcement IV. Procedures
V. For whom? VI. The EU is different VII. An alternative to a global code VIII. Conclusion
I. Introduction Thoughts of a global code of conduct for lawyers are in the air as a consequence of increasing globalisation. For instance, the Union Internationale des Avocats (UIA) held a conference in April 2010 on the drawing up just such a global code of conduct. Some years ago, on 20 September 2006, the International Bar Association (IBA) adopted ‘General Principles for the Legal Profession’1, which consist of ten principles common to the legal profession world-wide. Work is currently being undertaken on a more detailed draft commentary to the Principles. Within Europe, the Council of Bars and Law Societies of Europe (CCBE) has been working on converging the differences in ethical principles in Europe; indeed, if ever there is a global code of conduct, it is likely to be based on the model and experiences in Europe. And also within Europe, three bars – Spain, Italy and France – have been working to develop a single common code of conduct. There are other pressures, too, at any rate in Europe. The European Commission threatened, in an early draft of the Services Directive (2006/123/EC2) of a few years ago, to draw up a common code for Europe if the bars did not develop one themselves. The Council of Europe, for quite different reasons, and with the goal of wanting to help emerging bars in new democracies in the eastern part of Europe, has also spoken of drawing up a common code of conduct for European lawyers, as a template for others. In response to this, the CCBE established its core principles for the legal profession3. These developments have occurred on the basis that a single code of conduct is both desirable and attainable. It is these assumptions which I want to discuss. I share the desire to remove the problems that persist in cross-border practice 1 http://www.ibanet.org/Document/Default.aspx?DocumentUid=E067863F-8F42-41D89F48-D813F25F793C. 2 http://eur-lex.europa.eu/LexUriServ/ LexUriServ.do?uri=CELEX:32006L0123:EN:HTML. 3 http://www.ccbe.eu/fileadmin/user_upload/NTCdocument/ EN_Code_of_conductp1_1249308118.pdf.
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as a result of confl icting codes of conduct. But we need to reflect on whether a global code is the best answer. There may be other solutions. A single code of conduct will consume an enormous amount of energy, and may turn out to be an endless task of reconciling the irreconcilable. Maybe it is better to spend the energy on a rule which establishes how confl icts should be settled e. g. that the home or host rule should govern in any particular situation, rather than to struggle for an unattainable single rule that covers all situations.
II. Vision of a lawyer I would like to begin by discussing the context in which codes of conduct arise. They are not produced in a social and cultural vacuum. A code of conduct emerges from a vision of what a lawyer is, and what a lawyer should do. Even within a single jurisdiction, there may be competing views of a lawyer’s role (for instance, between advocates and notaries, or solicitors and barristers), and the code of conduct will differ accordingly, in terms of activities, independence, avoiding confl ict of interest and so on. For instance, to use my two examples above, a notary can – and, as I understand it, should – act for both parties, whereas that is usually against a lawyer’s role. And solicitors may see themselves as transactional lawyers, or what used to be called in sexist parlance ‘men of affairs’, whereas that would not fall within a barrister’s self-view at all. There are a number of issues which keep countries apart in their lawyer visions. Before these differences are settled, it will be difficult to make progress on a global code. One of the differences arises out of this: to whom does the client owe ultimate loyalty, to the court or the client? In the UK and other common law systems, for instance, the lawyer is an officer of the court, and so the ultimate loyalty is clear. But ‘officer of the court’ is not a label known in other systems, where the client is owed the ultimate loyalty. Out of differences like this, the following deep divisions arise and remain: (1) As mentioned, the duty of a lawyer not to mislead the court is deeply engrained in the common law system, and is reflected in rules like the duty to correct a mistake before the court or to bring up cases which might be damaging to the client. But in at least some systems, the lawyer’s duty to the client is stronger than the duty to the court, and so the lawyer may – some argue must – mislead the court if instructed to do so by the client. (2) The confidence – or professional secret, as it is commonly known in Europe – of the client belongs to the client under the common law system, and so can be waived by the client. Under other systems, though, the professional secret belongs to the lawyer, and the lawyer is unable to waive it even if the client requests it. (3) The independence of a lawyer is incompatible under many systems with an employment contract, which means not only that lawyers cannot be employed by non-lawyers (the classic case of an in-house counsel), but cannot even be employed by other lawyers. In the latter instance, associates in a law fi rm will be on a freelance contract, and not employed.
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A global code of conduct for lawyers: is it feasible?
There are doubtless other examples. It is presumably possible to list them, and to attempt to go through them one-by-one to see if they can be reconciled. But no true reconciliation will have taken place. That is because the vision of the lawyer’s role in a particular legal system will persist regardless; only exceptions to the vision will have been agreed for the purposes of resolving confl icts. The change of vision can take place only within the context of a wider revolution of a change of legal system, which it would be difficult – I would say impossible – to impose through a world-wide agreement by lawyers on a single code of conduct. It may be thought that, if the exceptions are accepted, it does not make any difference if the varied visions persist. But that is to ignore the fact that the global code will fi rst be drawn up in one or two languages in a limited number of words. If it is truly to become a global code, it will then have to be taken back to the country concerned and turned into a set of national rules. We have seen in the past how phrases like ‘the rule of law’ and ‘the public interest’ – not to mention ‘professional secrecy’ and ‘officer of the court’ which I have already mentioned – mean different things in different cultures, and do not translate across cultures. I shall give more detail below how, in the United States, which is a single country with a single legal system and a single language, the model rules of the American Bar Association are adopted in very different versions by the US states which have to implement them. The differences in the national vision of lawyers will result, I believe, in completely different national rules resulting out of a single agreed global rule – and this will itself undermine the very goal of a global code of conduct which is sought. In other words, by introducing differences in implementation, each rule will likely mean something else in another country, even with the best will in the world.
III. Enforcement Europe has the experience of trying to agree not only a harmonised code of conduct, but also a harmonised regime of EU laws for the practice of lawyers across borders. The CCBE Code of Conduct4, which is the harmonised code mentioned, is a code for cross-border conduct only. The CCBE’s delegations have always resisted the notion of a common code for domestic matters only, even if work is now under way both within the CCBE and within a selection of its bars to work towards that end in the long term. And the CCBE code is enforced only by being adopted by the national bars and enforced by them directly. The CCBE has no means of enforcing its own Code, nor of enforcing adoption of it – other than by the ultimate means of expelling a delegation from membership, which has never happened and is practically unthinkable. Even that grave step would not have the result of enforcing the Code, but only of punishing a bar for not enforcing it. In other words, the CCBE Code is a voluntary code until it is brought voluntarily within the national code’s enforcement process. Bars adopt it because
4 http://www.ccbe.eu/fileadmin/user_upload/NTCdocument/ EN_Code_of_conductp1_1249308118.pdf.
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they belong voluntarily to the CCBE, and embrace of their own volition its values and mission. Regarding the harmonised regime of EU laws for the practice of lawyers, which is enforced fi nally by the European Court of Justice, the CCBE’s experience has been rather different. Around 20 years of the CCBE’s energy was taken up with the development of the law which fi nally became the Establishment Directive (98/5/EC)5, and it is probable that the discussion would still be continuing and unresolved had there not been the European Commission standing behind the CCBE with the threat of introducing its own version. The Establishment Directive, which includes some of its own deontological rules – for instance, on the very topic of double deontology – is effective because it is enforceable. There have been cases before the European Court of Justice which have enforced its measures, something which the CCBE’s own Code entirely lacks. I describe the enforcement measures behind these two initiatives because they highlight another problem facing a possible future global code of conduct for lawyers. How will it be enforced? There is no equivalent to the CCBE or the European institutions at global level i. e. an organisation made up only of the bars and dealing with a global legislative body which enforces cohesion and the need to come to agreements. In such a case, I fi nd it unrealistic to expect there to be a universal adoption, implementation and enforcement of any fi nally agreed document. There is no incentive to the bars to adopt such a measure, nor any external method of persuasion, and most importantly there will be no effective enforcement measures in place if the code is breached.
IV. Procedures We know from experience within the CCBE how, just within the 27 Member States of the European Union, there are many different institutional methods for producing what eventually ends up as a lawyer’s code of conduct. In some cases, the bar has it entirely within its powers to draw up a rule; in others, it will require a change in the law; or the code has to go through an approval process involving several others, such as the judiciary or organs of the government. This will hamper any efforts to produce a global code of conduct, since external powers which have not signed up to the agreement, and which will presumably still be enthusiasts for their own national vision of a lawyer, will interfere in the process. As mentioned above, we know from the United States of America, where all the jurisdictions speak a single language within a single legal system, that when the American Bar Association issues a model rule, a number of things follow. First, not all the state bars adopt it, and the process of adoption takes place over several years, and is maybe never completed. Then, when state bars do adopt the rule, they do not just take the wording and adopt it without amendment. They put on their own gloss, so that the fi nal position is that there might be as many
5 http://www.ccbe.eu/fileadmin/user_upload/NTCdocument/ etablissement_versio1_1182256162.pdf.
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different variants of the rule as there are state bars. How more difficult will it be when there are confl icting legal systems with confl icting values, working in different languages and with very different understandings of the concepts being discussed? This makes the notion of a real global code, understood and implemented in the same way everywhere, more like a chimera never to be achieved.
V. For whom? The question arises as to why a global code of conduct is being thought about now. Who is calling for it? The bars? Lawyers in general, or a group of them? Large law fi rms? Clients? Governments? The answer seems to be that no-one is calling for it specifically, or at any rate not urgently enough to have registered as an item which bars must deal with. It has been raised, for instance, at international meetings, but without there being any sense of urgency in the follow-up. It appears to be discussed because it seems like a good idea in a globalised world. The question of ‘for whom?’ is important because it raises the question of whether there is sufficient motivation for all the necessary parties to sit around the table and take the necessary steps to make the dream a reality. In the case of the European Union (EU), there was a motivation for the radical free movement provisions which have been enacted to govern the activities of lawyers: the treaty with its inbuilt freedoms for citizens, followed by the single market, gave a powerful forward drive to the work of harmonisation in the area of lawyers’ practices. I believe that in this case we must be careful about proceeding with an initiative which will be complex and long-term when there is no specific demand for it, and no thought has been given as to how it will work out. The discussions will use up a great deal of energy, without the guarantee of a feasible outcome. If that is the case, it would be better to spend the energy on smaller, resolvable problems for which there is a specific demand from, say, clients or governments. In any case, before proceeding, a proper strategy should be drawn up, dealing with some of the problems I have outlined in this paper.
VI. The EU is different Many of the arguments I have given against a single code apply to the world at large, but – as I have indicated – not to the EU. The EU is different for structural reasons. The EU, as is well known, is a single market, with legislative back-up: institutions exist which can pass laws that are enforced not only through mechanisms in the Member States, but also through the European Court of Justice. The pressures towards a single code for lawyers in Europe, therefore, have their own momentum and rationale in the EU. This momentum and rationale do not apply to the rest of the world, which is not placed in a similar structure capable of passing laws throughout its extent and enforcing them through a recognised court. These structural issues are a good reason not to extend European sentiments and developments to a setting where the same dynamics do not apply.
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VII. An alternative to a global code I have highlighted the various problems relating to a global code of conduct for lawyers. They seem nearly insuperable. A global code seeks to resolve the question of what to do about a potential confl ict between two differing professional rules within the same transaction or affecting the same lawyer, by replacing differing codes with a single agreed code for the whole world. But would it not be more sensible to have a rule which, while keeping national codes in place, decided which professional rule should govern in the case of a confl ict? The United States already has such a rule in place, at any rate for a disciplinary body trying to resolve which professional rule governs in a case before it. Rule 8.5 (b) of the American Bar Association’s Model Rules of Professional Conduct6 states: (b) Choice of Law. In any exercise of the disciplinary authority of this jurisdiction, the rules of professional conduct to be applied shall be as follows: (1) for conduct in connection with a matter pending before a tribunal, the rules of the jurisdiction in which the tribunal sits, unless the rules of the tribunal provide otherwise; and (2) for any other conduct, the rules of the jurisdiction in which the lawyer’s conduct occurred, or, if the predominant effect of the conduct is in a different jurisdiction, the rules of that jurisdiction shall be applied to the conduct. A lawyer shall not be subject to discipline if the lawyer’s conduct conforms to the rules of a jurisdiction in which the lawyer reasonably believes the predominant effect of the lawyer’s conduct will occur.
There are various arguments for and against such a rule, not necessarily in the same terms but with the same aim, being promoted at a global level. The principal argument in favour is that an agreed rule will resolve in a clear and authoritative way the problems which arise from cross-border confl icts of rules. This is the same argument that is used for proponents of a global code of conduct. The arguments against are: – In the absence of a confl icts rule, the lawyer will usually be subject to the most restrictive rule, which may in any case be the most desirable outcome. – Common sense should solve most problems. – Can there realistically be a universal confl icts rule? This is the same argument as I have outlined above when speaking about the problems of moving ahead with a global code of conduct. However, it should be easier to agree a single conflicts rule than to agree a whole code of conduct which will govern in every situation. – How do you deal with those countries which have a system whereby national legislation would be required to be changed to introduce the confl icts rule, as opposed to just changing a professional rule drawn up by the bar? This is again similar to the argument used above in relation to a global code of
6 http://www.abanet.org/cpr/mrpc/mrpc_toc.html.
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conduct. Once more, it should be easier to implement a short confl icts rule, whatever the national system for implementation, rather than a whole code. There are other issues to be resolved with a confl icts rule. For instance, will the rule give exclusive application of one or other bar’s rule in a particular circumstance, or only priority over the other bar’s rule? The advantage of exclusive application is that the outcome is once again clear and simple; the disadvantages are that one bar loses control over its member’s actions, and that it is difficult to decide which bar that should be. Priority, rather than exclusivity, might be thought a better route, therefore, since both bars continue to have some control, but there will continue to be problems over the border-lines, and of course priority means that the problems of double deontology, which this solution aims to remove, will continue to some extent.
VIII. Conclusion The idea of a single global code of conduct is a very seductive idea, like the idea of a single global language. But I believe that it is impractical and unlikely ever to be realised. The reason is that, unlike within the EU, the whole world taken together does not have the motivation or the machinery to ensure agreement, implementation and enforcement, all of which are necessary for the idea to take fl ight. The better route would be for work to be undertaken on a confl icts rule, which would resolve the main evil that a single global code of conduct aims to combat.
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Peter Hamacher
Aktuelle Probleme des anwaltsgerichtlichen Verfahrens Inhaltsübersicht I. Gesetz zur Stärkung der Selbstverwaltung II. Gesetz zur Modernisierung des Verfahrens – Überblick
III. Einzelfragen 1. Besetzung der Anwaltsgerichte 2. Rechtsmittel 3. Schlichtungsstelle
Das Gesetz zur Modernisierung von Verfahren im anwaltlichen und notariellen Berufsrecht, zur Errichtung einer Schlichtungsstelle der Rechtsanwaltschaft sowie zur Änderung sonstiger Vorschriften vom 30.7.20091 und schon zuvor das Gesetz zur Stärkung der Selbstverwaltung vom 26.3.20072 haben das anwaltliche und das anwaltsgerichtliche Verfahrensrecht neu gestaltet. Aus diesem Teilbereich des Berufsrechts, dem der Jubilar seit langem einen überwältigenden Teil seiner Arbeitskraft widmet, eine Betrachtung zur Festgabe beizusteuern, ist deshalb schicklich, weil durch die Entscheidung des EuGH in der Sache „Wilson“ vom 19.9.2006 3 ein europäischer Blick auf das bisher in stiller nationaler Abgeschiedenheit hantierende berufsrechtliche Verfahrensrecht geworfen ist. Solche und andere europäische Streiflichter sind für Hans-Jürgen Hellwig stets anziehend.
I. Gesetz zur Stärkung der Selbstverwaltung Das Gesetz zur Stärkung der Selbstverwaltung der Rechtsanwaltschaft vom 26.3.20074 hatte neben der Aufhebung seit langem überholter Normen (Lokalisation bei einem Gericht, Zweigstellenverbot) im Verfahrensrecht der BRAO das zweispurige Verwaltungsgeschehen der Rechtsanwaltskammern einerseits und der Landesjustizverwaltungen andererseits beseitigt. Anstelle der an Ermächtigungen nach § 224a BRAO a. F. aufgehängten verwaltenden Tätigkeit der Kammern wurde deren eigenständige Arbeit begründet. Damit war zwecks Entlastung der Justiz die Tätigkeit der Rechtsanwaltskammern vollständig aus der unmittelbaren Staatsverwaltung in die mittelbare Staatsverwaltung auf Kosten der Berufsangehörigen überführt. Darin soll eine Stärkung der Selbstverwaltung der Anwaltschaft liegen5. Diese Maßnahme war eine wichtige Vorstufe für die grundlegende Neuordnung des Verfahrens durch das Gesetz vom 30.7.2009. Von dessen Neuerungen soll im Folgenden allein die Rede sein.
1 2 3 4 5
BGBl. I 2009, 2449. BGBl. I 2007, 358. EuGH, NJW 2006, 3697 ff. Vgl. Fn. 2. BT Drucks. 16/3837, 1.
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II. Gesetz zur Modernisierung des Verfahrens – Überblick Das Gesetz vom 30.7.2009 unterstellt die verwaltungsrechtlichen Streitsachen nach BRAO und EuRAG, die Bestimmungen dieser Gesetze ergänzend, der VwGO und verabschiedet auch in soweit das alte FGG6. An die Stelle der verfahrensrechtlichen Spezialnormen für das Zulassungsverfahren (§§ 37 bis 42 BRAO a. F.), für die Prüfung von Wahlen und Beschlüssen (§§ 90, 91, 191 BRAO a. F.) sowie der Sammelnorm des § 223 BRAO a. F. für den Rechtsschutz gegen Verwaltungsakte tritt ein neuer Abschnitt „Das gerichtliche Verfahren in verwaltungsrechtlichen Anwaltssachen“ (§§ 112a–112f BRAO), der in § 112c Abs. 1 die VwGO als Verfahrensordnung zur Anwendung beruft. Auch das Verwaltungsverfahren in Anwaltssachen unterliegt nach § 32 BRAO nun konsequent dem Verwaltungsverfahrensgesetz. Dieser Regelungsgegenstand ist strukturell stimmig erfasst. Die BRAO und ihr Verfahrensrecht werden freilich insgesamt nicht übersichtlicher. Unberührt bleibt nämlich das anwaltliche Disziplinarverfahren (§§ 116 bis 161a BRAO), das in sich und vor allem auch betreffend die Sanktionsmechanismen einer entschlackenden Überarbeitung bedarf. Die Neuregelung entspricht einer alten Forderung aus der Anwaltschaft7. Sie ist freilich nicht durch berufspolitische Überlegungen veranlasst8, sondern ist eine Folgewirkung der Auflösung des alten FGG durch das FGG-Reformgesetz vom 17.12.20089. Aus diesem Grund fällt die Anpassung an das allgemeine Recht wohl breiter aus als dies wünschenswert ist10. Die Heranführung der Anwaltsgerichtsbarkeit an die Verwaltungsgerichtsbarkeit ist freilich nicht ganz konsequent durchgeführt worden. Dazu hätten die Anwaltsgerichtshöfe bei den Oberverwaltungsgerichten und der Anwaltssenat bei dem Bundesverwaltungsgericht eingerichtet werden müssen11. Auch wären die Berufsrichter der Verwaltungsgerichtsbarkeit zu entnehmen. Hier ist man bei der traditionellen Lösung geblieben, die nur die Tradition für sich hat, dass es zur Zeit der Errichtung der Anwaltsgerichtsbarkeit keine ausgebildete Verwaltungsgerichtsbarkeit und 1959 keine Verwaltungsgerichtsordnung gab.
III. Einzelfragen Aus dem Kreis der Neuerungen sollen im Folgenden drei Themen näher behandelt werden: Besetzung der Anwaltsgerichte, Rechtsmittel und Schlichtungsstelle. 6 Vgl. Überblick Johnigk/Kirchberg, BRAK-Mitt. 2009, 214 ff.; Kleine-Cosack, AnwBl. 2009, 619 ff.; Quaas/Dahns, NJW 2009, 2705 ff.; vgl. ferner BR-Drucks. 700/08, 64–68; Dittmann in Henssler/Prütting, 3. Aufl. 2010, Vor § 92 BRAO Rz. 1–21; Deckenbrock in Henssler/Prütting, 3. Aufl. 2010, Vor § 112a BRAO Rz. 1–15. 7 Redeker, AnwBl. 1992, 505; Kleine-Cosack, AnwBl. 1999, 565; DAV-Reformvorschläge, zuletzt AnwBl. 2007, 679 u. passim; dazu auch Kilian in Koch/Kilian, Anwaltliches Berufsrecht 2007, Rz. C 12. 8 Mangelnde Evaluierung kritisiert Kleine-Cosack, AnwBl. 2009, 619. 9 Gesetz zur Reform des Verfahrens in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit, BGBl. I 2008, 2586; vgl. auch BR-Drucks. 700/08, 38 f. 10 Die Tendenz des Gesetzgebers ist freilich auf eine möglichst weitgehende Anpassung gerichtet, vgl. BR Drucks. 700/08, 40. 11 Das könnte Gegenstand künftiger Reformen sein, vgl. BR-Drucks. 700/08, 39.
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1. Besetzung der Anwaltsgerichte In der Besetzung der Gerichte der Anwaltsgerichtsbarkeit ist eine markante Neuerung nur bei dem Anwaltssenat zu verzeichnen. Die Besetzung des Anwaltssenats mit vier Berufsrichtern und drei anwaltlichen Beisitzern ist reduziert auf zwei Berufsrichter und zwei Rechtsanwälte (§ 106 Abs. 2 BRAO). Den Vorsitz im Anwaltssenat führt wie bisher der Präsident des Bundesgerichtshofs12. Die Senate der Anwaltsgerichtshöfe entscheiden unverändert in der Besetzung von drei anwaltlichen Mitgliedern, einschließlich des Vorsitzenden, und zwei Berufsrichtern (§ 104 i. V. m. § 101 Abs. 3 BRAO). Die Anwaltsgerichte sind von der Reform nicht betroffen. Hier bleibt es bei der Besetzung nur mit Rechtsanwälten und der Entscheidung durch Kammern in der Besetzung von drei Mitgliedern. Die Herabsetzung der Mitglieder des Anwaltssenats und die Anpassung an die Verhältnisse bei Notaren, Steuerberatern und Wirtschaftsprüfern ist keine gelungene Maßnahme. In der Siebener Besetzung knüpft der Anwaltssenat an die aus gutem Grund eingeführte historische Gegebenheit bei dem Reichsgericht an13 und bekräftigt auch seit 1959 die besondere Stellung der Anwaltschaft für die Justiz. Die Neuerung folgt der Tendenz zur weitgehenden Angleichung des Berufsrechts und des ihm zugeordneten Verfahrensrechts an das allgemeine Recht und bestärkt die Nivellierung14. Geht man hier zu weit, benötigt man künftig weder ein eigenes Berufsrecht nebst dazu gehörendem Verfahrensrecht, noch gar den Beruf und seine Fixierung im Gesetz. Die Reduzierung von sieben auf fünf Mitglieder im Anwaltssenat stuft nicht die Qualität der richterlichen Arbeit herab. Sie mindert aber unerwünscht die Bedeutung und den Rang der Berufsgerichtsbarkeit sowie die Verhandlung der Anwaltssachen auf der ihrem Gewicht entsprechenden Ranghöhe. Auch die Fälle des Widerrufs der Zulassung wegen Vermögensverfalls, häufig höchstgerichtlich missmutig betrachtet, sind wichtig genug. Sie zeugen ja nicht nur von möglicher unsachgemäßer Berufsausübung, sondern sind auch ein Indikator für unzuträgliche Verhältnisse in der Rechtspflege. Bei den Anwaltsgerichtshöfen hat es in der Entscheidungspraxis eine bemerkenswerte Änderung gegeben. Die Stimmen werden anders gezählt. Im Einklang mit den Bestimmungen der VwGO wird mit absoluter Mehrheit der Stimmen entschieden (§ 112c Abs. 1 Satz 1 BRAO, § 173 VwGO, § 196 GVG). Daher können jetzt die Anwaltsrichter die Berufsrichter überstimmen. Nach altem Recht (§ 41 Abs. 1 Satz 2 BRAO a. F.) war eine Mehrheit von zwei Dritteln der Stimmen erforderlich. Eine Überstimmung der Berufsrichter durch die Anwaltsrichter war nicht möglich. Die neue Regelung ist im Hinblick auf die Anforderungen des europäischen Rechts nicht unproblematisch. Eine besondere Gerichtsbarkeit wie die Anwaltsgerichtsbarkeit, die auch auf eine Berufsorganisation zurückgreift, ist dennoch stets staatliches Gericht, 12 Das kritisiert Kleine-Cosack, AnwBl. 2009, 619 zu Unrecht. 13 Zur Geschichte der Ehrengerichtsbarkeit vgl. Feuerich/Weyland, 3. Aufl. 2008, Vor § 92 BRAO Rz. 1–8. 14 Vgl. BR-Drucks. 700/08, 63.
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wenn das Organ, das diese Gerichtsbarkeit ausübt, vom Staat entscheidend bestimmt wird und von der Berufsorganisation ganz unabhängig ist. Die Tätigkeit von Berufskollegen in der Gerichtsbarkeit ist kein Hindernis, wenn deren Position wie die eines staatlichen Richters konzipiert ist. Die Besetzungsvorschriften der BRAO weisen aus, dass die Gerichte der Anwaltsgerichtsbarkeit staatliche Gerichte und ganz unabhängig von der Berufsorganisation sind. Die ehrenamtlichen anwaltlichen Richter haben den Status eines Berufsrichters (§ 95 BRAO). Auch die seit 1878 stets ausschließlich mit Rechtsanwälten besetzten Anwaltsgerichte sind als echte Gerichte angesehen worden15. Vor diesem Konzept lassen sich Bedenken aus der Sicht des europäischen Rechts wegen fehlender Unparteilichkeit gut parieren. Die Zweifel resultieren aus der Besetzung der Spruchkörper mit Berufskollegen. Das europäische Recht gibt in Art. 9 der Richtlinie 98/5/EG (Niederlassungsrichtlinie für Rechtsanwälte)16 vor, dass im Streit über die Eintragung eines ausländischen Rechtsanwalts im Aufnahmestaat (Art. 3 der Richtlinie) ein gerichtliches Rechtsmittel nach dem innerstaatlichen Recht dem Rechtsanwalt zur Verfügung stehen muss. In Konkretisierung dieser Vorschrift hat der EuGH im Fall des Herrn Wilson17 aus dem Vereinigten Königreich, der die Eintragung in das Anwaltsverzeichnis der Rechtsanwaltskammer Luxemburg begehrt hat und abgewiesen worden war, festgestellt: Das zur Entscheidung berufene erstinstanzliche Organ darf nicht ausschließlich aus Berufsangehörigen des Aufnahmestaats bestehen, in der zweiten Instanz dürfen die Rechtsanwälte nicht in der Mehrzahl sein und schließlich darf die höchstgerichtliche Tätigkeit sich nicht nur in der rechtlichen Überprüfung erschöpfen18. Überträgt man dieses Dictum wörtlich auf die Instanzen der deutschen Anwaltsgerichte, so sind diese sämtlich gemeinschaftsrechtswidrig, mit Ausnahme des Anwaltssenats, der trotz der Neuregelung der Berufung in § 112e BRAO weiterhin Tatsacheninstanz ist19, wenn auch nur bei Zulassung der Berufung, die nicht die Regel sein dürfte. In Sachen der disziplinarischen Anwaltsgerichtsbarkeit nach § 145 BRAO müsste der Anwaltssenat zu einer Tatsacheninstanz umgemodelt werden. Die gleich lautende Übernahme der Entscheidung „Wilson“ auf die Verhältnisse der Bundesrepublik Deutschland würde die Anwaltsgerichtsbarkeit als eigenständige Berufsgerichtsbarkeit auflösen und die mit Anwaltssachen befassten Spruchkörper zu speziellen Abteilungen der allgemeinen Gerichte machen. Hier müssten sich dann die mit Recht geschätzten „profunden Kenntnisse der anwaltlichen Berufstätigkeit“20 in den Entscheidungen entfalten. Die Übernahme der Entscheidung „Wilson“ ist nicht angezeigt, denn es spricht viel dafür, dass die luxemburgischen Überprüfungsinstanzen nicht so unabhän-
15 Vgl. Leibholz/Rink, Art. 92 GG Rz. 87, 144, 176, 181 mit Hinweisen auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts; BVerfG (K), NJW 2006, 3049, 3050; AGH Naumburg, NJW 2006, 3725, 3730; Dittmann (Fn. 6), Vor § 92 BRAO Rz. 18, 19; kritisch zur Anwaltsgerichtsbarkeit Kleine-Cosack, 6. Aufl. 2009, § 92 BRAO Rz. 2, 3. 16 Richtlinie vom 16.2.1998 in ABl. Nr. L 77/36 v. 14.3.1998 (= Sartorius II Nr. 182). 17 EuGH, NJW 2006, 3697 ff. 18 EuGH, NJW 2006, 3697 (LS), 3699. 19 Deckenbrock (Fn. 6), § 112e BRAO Rz. 3. 20 Dittmann (Fn. 6), Vor § 92 BRAO Rz. 19.
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gig gerichtlich konstruiert sind wie die deutsche Anwaltsgerichtsbarkeit. Das Abzählen von dem Anwaltsberuf zugehörenden Richtern und der allgemeinen Gerichtsbarkeit entnommenen Richtern ist für sich allein im Hinblick auf Unabhängigkeit und Unparteilichkeit kein Kriterium. Der Entscheidung ist nicht zu entnehmen, dass das anwaltliche Element für sich allein die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit des überprüfenden Organs beeinträchtigt, auch dann nicht, wenn die Anwaltsrichter in der Mehrzahl sind. Das Gericht beanstandet nicht die Zusammensetzung als solche, sondern (Rz. 58)21 die Regeln für die Zusammensetzung, die eben gerichtlichen Anforderungen nicht genügen. Der Betrachtung sind aber sehr wohl zugrunde zu legen die Maßstäbe, die der EuGH für ein Art. 9 der Niederlassungsrichtlinie entsprechendes gerichtliches Rechtsmittel aufstellt. Es ist der in der Rechtsprechung des EuGH entwickelte Gerichtsbegriff. Danach muss ein Gericht über folgende Kriterien verfügen: gesetzliche Grundlage, Dauerhaftigkeit, obligatorische Gerichtsbarkeit, streitiges Verfahren und die Anwendung von Rechtsnormen. Darüber hinaus ist Unabhängigkeit in der Weise geboten, dass der Richter gegenüber der Stelle, die die Entscheidung erlassen hat, die Eigenschaft eines Dritten hat. Der Richter muss gegen Druck von außen geschützt sein, und er muss hinsichtlich der Parteien des Rechtsstreits und ihren jeweiligen Interessen gleichen Abstand halten. Für das Ganze sind Regeln für die Zusammensetzung, die Ernennung, die Amtsdauer, die Gründe für Ablehnung und Abberufung aufzustellen, die berechtigte Zweifel der Rechtsunterworfenen an der Unempfänglichkeit der Richter für Einflussnahmen und an ihrer Neutralität ausräumen 22. Diesem Anforderungsprofi l genügt die aktuelle Strukturierung der Anwaltsgerichtsbarkeit in der Bundesrepublik Deutschland. Die Rekrutierung, Bestellung und Ausstattung sowie die Hürden für die Amtsenthebung der Anwaltsrichter kennzeichnen die von ihnen gebildeten Spruchkörper als unabhängige staatliche Gerichte, die nach den Grundsätzen der Gewaltenteilung, von der Legislative und Exekutive abgegrenzt, richterliche Gewalt ausüben. Die organisatorischen Voraussetzungen für die Garantie der Unabhängigkeit der Richter sind, soweit es möglich ist, geschaffen. Die aus der Anwaltschaft stammenden Richter sind in Ausübung ihres Amtes unabhängig wie die aus der allgemeinen Gerichtsbarkeit entnommenen Richter. Der Ausweis der Unabhängigkeit der Amtsführung ist bei den aus der Hierarchie der Justiz stammenden Richtern ebenso wie bei den Anwaltsrichtern ein auf der organisatorischen Grundlage geübtes Verhalten, dass von Sachlichkeit, Sachkenntnis und selbstverständlicher richterlicher Professionalität geprägt ist. Die Unabhängigkeit ist im Übrigen nicht Selbstzweck, sondern sie soll Unparteilichkeit sichern. In der Berufsgerichtsbarkeit ist die gewöhnliche Parteilichkeit, nämlich die Zuneigung zu einer der Parteien, schwerlich zu besorgen, denn neben dem betroffenen Rechtsanwalt als „Partei“ ist die andere Partei stets der Staat. Es sei denn, man sieht die durch die Eintragung eines ausländischen Rechtsanwalts abstrakt wettbewerblich betroffene Anwaltschaft des Aufnahmestaats als Partei an. Ist das realistisch? Die gewohnte strukturelle Lage bei der Diskussion von 21 EuGH, NJW 2006, 3697, 3699. 22 Vgl. EuGH, NJW 2006, 3697, 3698 Rz. 48–53.
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Unabhängigkeit und Unparteilichkeit ist hier also so verschoben, dass durch (Ursprungs-)Berufsgleichheit von betroffenem ausländischem Rechtsanwalt und unabhängigem Berufsrichter aus der Anwaltschaft im Anwaltsgericht abstrakt die Gefahr von Fehlleistungen, insbesondere die Beeinträchtigung der Unparteilichkeit, durchaus nicht zu besorgen ist. Es ist absurd anzunehmen, die Unparteilichkeit (Distanz zu den Interessen) eines mit voller Unabhängigkeit und dem Status des Berufsrichters ausgestatteten Anwaltsrichters sei bei gebundenen Verwaltungs- und Entscheidungsverfahren, wie es die Zulassung oder die Eintragung sind, als solche zweifelhaft. Im Einzelfall insoweit auftretende Probleme können wie bei jeder Gerichtsbarkeit durch die Regeln über die Befangenheit pariert werden. 2. Rechtsmittel Die Umstellung des Verfahrensrechts auf die VwGO hat es mit sich gebracht, dass jetzt statt des Antrags auf gerichtliche Entscheidung von Klage und statt der sofortigen Beschwerde von Berufung die Rede ist23. Es wird das Klage- und Rechtsmittelsystem der VwGO übernommen (§§ 112a, 112e BRAO i. V. m. §§ 124 ff. VwGO). Gegenüber der allgemeinen Verwaltungsgerichtsbarkeit gibt es im anwaltsgerichtlichen Bereich eine Einschränkung des Rechtsschutzes. Nach der VwGO hat der Kläger drei Instanzen. Demgegenüber gibt es in verwaltungsrechtlichen Anwaltssachen nur zwei Instanzen. Bei dem AGH sind die Klagen einzureichen, die nun in voller Breite der nach VwGO zulässigen Klagearten 24 auch im anwaltsgerichtlichen Bereich zur Verfügung stehen. Gegen die Urteile des AGH ist die Berufung an den Bundesgerichtshof statthaft. Er ist in erster Linie Berufungsgericht. Im Berufungsverfahren der Anwaltsgerichtsbarkeit in Verwaltungssachen tritt an die Stelle des Verwaltungsgerichts der Anwaltsgerichtshof und an die Stelle des Oberverwaltungsgerichts der Bundesgerichtshof (§ 112e BRAO). Die Berufung bedarf der Zulassung durch den Anwaltsgerichtshof oder auf entsprechenden Antrag durch den Bundesgerichtshof (§ 124a VwGO). Die Berufungsgründe ergeben sich aus dem allgemeinen Katalog des § 124 Abs. 2 VwGO. Sie lauten ohne anwaltliche Besonderheiten: ernstliche Zweifel, besondere Schwierigkeiten, grundsätzliche Bedeutung, Divergenz, Verfahrensmangel25. Die unveränderte Übernahme des verwaltungsrechtlichen Systems der Berufung, das nach wie vor problematisch und rechtsschutzfeindlich ist, bedeutet eine weitere Verkürzung des Rechtsschutzes gegenüber dem alten Recht in Zulassungs-, Rücknahme- und Widerrufssachen. Nach § 42 BRAO a. F. war die sofortige Beschwerde in allen Fällen statthaft und eröffnete eine volle zweite Instanz26. Demgegenüber ist der Rechtsschutz jetzt angesichts der engherzig und zum Zweck der Zurückdrängung von Rechtsmitteln konzipierten Berufung der allgemeinen Verwaltungsgerichtsbarkeit faktisch auf einen Rechts23 Zum System vgl. Johnigk/Kirchberg (Fn. 6), 214, 217, 221; Kleine-Cosack (Fn. 8), 619, 626. 24 Dazu Deckenbrock (Fn. 6), § 112 BRAO Rz. 3–18. 25 Vgl. dazu auch Neuenfeld, AnwBl. 2009, 749, 752. 26 Anders für die allgemeine Verwaltungsaktregel des § 223 Abs. 3 BRAO a. F.
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zug, das verfassungsrechtliche Minimum, reduziert. Formal wird freilich an zwei Tatsacheninstanzen vorläufig festgehalten 27. Die besondere Bedeutung, die Zulassungs-, Widerrufs- und Rücknahmesachen für den Rechtsanwalt in jedem einzelnen Fall haben – es geht immer um die berufliche Existenz – war dem Gesetzgeber keine Abweichung wert28. Es gibt keine sachliche Begründung hierfür außer dem erstrebten verfahrensrechtlichen Gleichklang 29. Der Gesetzgeber hat am allgemeinen Gewerberecht Maß genommen. Das ist für das Anwaltsrecht stets eine unbrauchbare Richtschnur. In einer künftigen Reform ist hier Abhilfe zu schaffen. 3. Schlichtungsstelle Als Bestandteil eines im weiteren Sinne verstandenen anwaltlichen Verfahrensrechts hat die Gesetzesreform30 als eigenständige Einrichtung, die ganz ähnlich wie die Satzungsversammlung sich der BRAK für Geschäftsführungs- und sonstige Verwaltungsaufgaben bedient, die Schlichtungsstelle der Rechtsanwaltschaft eingeführt (§ 191f BRAO)31. Die Schlichtungsstelle soll Streitigkeiten zwischen Mitgliedern von Rechtsanwaltskammern und deren Auftraggebern schlichten. Die Stelle ist unabhängig, auch von der Kammer, konzipiert und wird von einem Beirat, in dem Rechtsanwälte maximal die Hälfte der Mitglieder stellen dürfen, begleitet (§ 191f Abs. 3 BRAO). Rechtsanwälte dürfen keine Einzelschlichter sein und auch in einem Schlichterkollegium keine Mehrheit haben32. Fremdbestimmung ist angesagt. Das Verfahren ist nach zweckvollen Grundsätzen auszurichten. § 191f Abs. 5 BRAO gebietet unparteiisches Handeln, rechtliches Gehör, Vertraulichkeit, Unabhängigkeit von der Vermittlungstätigkeit der Kammern, zügiges und unentgeltliches Verfahren33, Statthaftigkeit für vermögensrechtliche Streitigkeiten bis zu einem Wert von 15.000 Euro, Marketing der Verfahrensregeln. Das ist in sich folgerichtig und bedarf keiner weiteren Kommentierung. Ob die Sache als solche Erfolg hat, wird die Praxis er weisen34. Kritisch ist anzumerken: Die Schlichtungsstelle tritt neben das seit langem eingeführte und nun auch gestärkte Vermittlungsverfahren der Rechtsanwaltskammern nach § 73 Abs. 2 Nr. 3 mit Abs. 5 BRAO sowie das verbesserte Auskunfts- und Aufsichtsverfahren nach § 56 Abs. 2 BRAO. Damit nicht viel Lärm um nichts entstehe, und die Bürger nicht verwirrt werden35, bedarf es eines
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Siehe BR-Drucks. 700/08, 67. Vgl. BR-Drucks. 700/08, 44 f. Zustimmend Quaas/Dahns, NJW 2009, 2705, 2708. Vgl. Fn. 1. Vgl. dazu im Überblick Römermann, AnwBl. 2008, 815; Römermann, AnwBl. 2009, 618; Quaas/Dahns, NJW 2009, 2705, 2711. Überblick zur Arbeitsmodalität von Rechtsanwälten in der Schlichtungsstelle bei Römermann (Fn. 31), 815, 817. Ein maßvoller Kostenbeitrag ist nicht Gesetz geworden, vgl. Quaas/Dahns (Fn. 29), 2705, 2712. Zu den Erfolgsvoraussetzungen vgl. Römermann (Fn. 31), 618. Ziel des Gesetzes war es „die Tätigkeit der Kammern zu stärken, Beschränkungen abzubauen und Verfahren zu vereinfachen“, vgl. BR-Drucks. 700/08, 39.
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exzellenten Marketings für die alten und neuen Möglichkeiten. Der bloße Klick bei den Rechtsanwaltkammern auf die BRAO reicht nicht. Die Schlichtungsstelle ist aus einer Initiative der Bundesrechtsanwaltskammer entsprungen. Man wollte nach dem Vorbild anderer Ombudsstellen (Versicherungen, Banken) das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Anwaltschaft stärken36. Ist das angezeigt, wo doch, wenn es eng wird, der Rechtsanwalt die einzige Institution des öffentlichen Lebens ist, der sich der Bürger vertrauensvoll (noch) geschützt öffnen kann. Die Schlichtungsstelle ist „trendig“37. Sie gehört zum Arsenal der balsamierenden, ausgleichenden und gelegentlich auch mauschelnden, jedenfalls klare Regeln vermeidenden Prozeduren zur Lösung von Problemen wie Sühnetermine, Schlichtung, Ombudsmänner und -frauen, Mediationen, Deals. Oft werden durch diese Alternativen die Dinge für den Bürger noch unübersichtlicher, als sie es ohnehin schon sind. Die Verfahren werden an versteckter Stelle eingeschleust und nicht verständlich dem Bürger präsentiert als Alternative und Hilfe. Das sind sie meist auch nicht wirklich. Der Bürger erhält den Eindruck, er könne jetzt kostenlos in netter Form weiterkommen. Vielfach nutzt er den Ansatz in querulatorischer Weise. Hinter den neuen Verfahrensvorschlägen, deren erwartete Ergebnisse und Techniken ohne weiteres in den klassischen Verwaltungs- und Gerichtsverfahren erreichbar sind, steckt der Wunschgedanke der öffentlichen Hände, es ließen sich etwa durch Vermeidung gerichtlicher Tätigkeit, die im Übrigen nicht eintritt, Kosten sparen und ferner das den öffentlichen Raum immer mehr durchziehende Geschwafel einer vermeintlichen Konsensgesellschaft. Das Recht tritt zurück und verliert Klarheit und Wirkung. Die Schlichtungsstelle öffnet die Tür zur Fremd-(Dritt-)Bestimmung der anwaltlichen Arbeit, die bisher aus gutem Grund bis zur Grenze der Verletzung des Sachlichkeitsverbots sogar der Berufsaufsicht verschlossen war und nur zur Disposition der Gerichte stand. Die Schlichtungsstelle als vorgelagerter Zivilprozess? Will man das in der Erkenntnis, dass die unabhängige dritteinflussfreie Berufsausübung des Rechtsanwalts zum Kernbestand der freien Advokatur gehört. Das Verhältnis des Auftraggebers zu seinem Rechtsanwalt ist von anderer Art als das Verhältnis des Versicherungsnehmers zum Versicherer oder vom Kunden zur Bank oder vom Patienten zum Arzt. Das Auftragsverhältnis des Rechtsanwalts weist einen Drittbezug zu den Rechtsverhältnissen des Bürgers auf. Die Aufgabe des Rechtsanwalts ist es, diese Rechtsverhältnisse für seinen Mandanten zu gestalten und zu befrieden. In dieser Aufgabe ist alles, was ein Schlichter oder ein Ombudsmann tun könnte, schon eingeschlossen und übertroffen. Es ist also nicht sinnvoll, den geborenen Ombudsmann des Bürgers, nämlich den Rechtsanwalt, durch einen „Dritt-Ombudsmann“ zu toppen und dadurch den Rechtsanwalt zu entwerten.
36 Vgl. Quaas/Dahns (Fn. 29), 2705, 2711 Fn. 43. 37 Römermann (Fn. 31), 815.
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Die Berufsregeln der Europäischen Rechtsanwälte (CCBE-Regeln) in der Rechtsprechung deutscher Gerichte Inhaltsübersicht I. Einleitung II. Der CCBE und seine Berufsregeln 1. Der Rat der Anwaltschaften der Europäischen Union 2. Die Berufsregeln des CCBE a) Genese b) Regelungsgehalt c) Rechtsnatur III. Die CCBE-Regeln in der Rechtsprechung deutscher Gerichte 1. Einleitung 2. AnwG Hamburg vom 30.4.2009 3. BGH vom 22.4.2009 4. OLG Düsseldorf vom 28.7.2005 5. AG Aachen vom 23.9.1997
6. OLG Hamburg vom 10.11.1989 IV. Kritik 1. Interpretationsgrundlagen 2. Das Erfordernis eines grenzüberschreitenden Elements 3. Der Vorrang des Gesetzes a) Vereinbarkeit der CCBE-Regeln mit höherrangigem Recht b) Nr. 5.7. CCBE-Regeln als Anspruchsgrundlage? c) Nr. 3.8.1.5. lit. b) CCBE-Regeln als gesetzliches Aufrechnungsverbot? V. Zusammenfassung
I. Einleitung Wer eingeladen ist, an einer Festschrift für Hans-Jürgen Hellwig mitzuwirken, steht vor einer schwierigen und zugleich doch leichten Aufgabe: Breit ist das bisherige berufliche und wissenschaftliche Wirken des Jubilars – der Bogen spannt sich vom Zivilprozessrecht, das Gegenstand seiner Dissertation war, über das Schiedsverfahrensrecht hin zum Bank- und Kapitalmarktrecht. Das Recht des Unternehmenskaufs hat Hellwig interessiert, ein Schwerpunkt seiner Publikationen liegt im Gesellschaftsrecht und hier insbesondere auf Fragen der Corporate Governance. Die Wahl eines Themas für den Beitrag in einer Festschrift, die Hans-Jürgen Hellwig ehrt, fällt trotz dieser vielfältigen fachlichen Interessen des Jubilars gleichwohl leicht: Seine Wege haben sich mit jenen der Verfasser fachlich stets bei einem Thema gekreuzt – dem Rechtsanwalt in Europa. Hans-Jürgen Hellwig ist seit mehr als anderthalb Jahrzehnten das Gesicht der deutschen Anwaltschaft auf der europäischen und der internationalen Bühne des Anwaltsrechts – und in der Heimat das bisweilen ungeduldig mahnende „europäische Gewissen“ des Berufsstands, das die Anwaltschaft betreffende Entwicklungen im Europarecht und im Recht der Mitgliedsstaaten aufmerksam verfolgt, für den deutschen Berufsstand verortet und Positionierungen anstößt. In der zurückliegenden Dekade ist nahezu kein Jahr vergangen, in dem Hellwig sein profundes Wissen zum europäischen Anwaltsrecht nicht auf Tagungen
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und insbesondere in ausführlichen Beiträgen im Anwaltsblatt, den BRAKMitteilungen oder der Neuen Juristischen Wochenschrift weitergegeben hat1. Dreh- und Angelpunkt seines Wirkens in Europa war stets der CCBE, der Rat der Europäischen Anwaltschaften in Brüssel. Von 2000 bis 2004 war Hellwig Leiter der deutschen Delegation beim CCBE, 2003 Vize-Präsident und 2004 schließlich Präsident des CCBE; bis heute ist er in der deutschen Delegation aktiv. Eine Koinzidenz: Hans-Jürgen Hellwig feiert im November 2010 seinen 70. Geburtstag, der CCBE im Dezember 2010 sein 50. Gründungsjubiläum. Was liegt also näher, als dem Jubilar einen Beitrag zu widmen, der diese Anknüpfungspunkte verbindet – seine Leidenschaft für das Anwaltsrecht, sein Wirken im CCBE, das Interesse an Fragen der grenzüberschreitenden Tätigkeit von Rechtsanwälten. Dieser Beitrag wird sich daher mit den von „seiner“ europäischen Heimatorganisation, dem CCBE, verabschiedeten Berufsregeln der Europäischen Rechtsanwälte und ihrer Rezeption durch die deutschen Gerichte befassen. Der Beitrag analysiert die nicht sehr zahlreichen (veröffentlichten) Judikate deutscher Gerichte, in denen die CCBE-Regeln jenseits rein berufsrechtlicher Sachverhalte angewendet worden sind. Im Sinne einer Bestandsaufnahme werden zunächst Urheber und Genese der CCBE-Berufsregeln erläutert. Sodann soll nach einer Auffächerung der spärlichen Entscheidungspraxis der Versuch unternommen werden, das Verhältnis dieser Berufsregeln zum deutschen Berufsrecht und zum deutschen Zivilrecht aufzuzeigen, um auf diese Weise die Gerichtsentscheidungen zu den CCBE-Regeln einer kritischen Würdigung unterziehen zu können.
II. Der CCBE und seine Berufsregeln Aus dem Augenwinkel wahrgenommen hat sie vermutlich fast jeder Rechtsanwalt, intensiver mit ihnen auseinander gesetzt haben sich dagegen, dies ist keine allzu kühne These, nur die wenigsten Berufsträger: Die Berufsregeln des Rates der Anwaltschaften in der Europäischen Union, besser bekannt als die CCBE-Regeln, dürften diejenige berufsrechtliche Materie sein, mit der die Anwaltschaft, aber auch die deutsche Richterschaft am wenigsten vertraut ist. Wer sich auf die Suche begibt, wird die „Berufsregeln der Anwaltschaften der Europäischen Union“, die „CCBE-Regeln“, weder im Bundesgesetzblatt noch im Amtsblatt der Europäischen Union veröffentlicht fi nden. Wie kommt es, dass deutsche Gerichte sie gleichwohl anwenden, in Deutschland zugelassene Rechtsanwälte sie bei grenzüberschreitender Tätigkeit beachten? Ein Blick zurück auf die Geschichte des CCBE2 gibt Antworten auf diese Frage. Dass der 1 AnwBl. 1996, 124 ff.; AnwBl. 1997, 556 f.; AnwBl. 2000, 705 ff.; BRAK-Mitt. 2002, 52 ff.; BRAK-Mitt. 2004, 19 ff.; AnwBl. 2004, 213 ff.; NJW 2005, 1217 ff.; AnwBl. 2006, 505 ff.; AnwBl. 2007, 257 ff.; AnwBl. 2008, 644 ff.; BRAK-Mitt. 2008, 92 ff.; BRAK-Mitt. 2009, 54 ff. 2 Der (französische) Name der Organisation war bis 1987 „Commission Consultative des Barreaux de la Communauté Européenne“ und ist seitdem „Conseil des Barreaux Européens“ (die insofern nicht mehr passende Abkürzung „CCBE“ wurde aufgrund ihrer Bekanntheit offi ziell beibehalten). In diesem Beitrag ist die Nomenklatur im Sinne des aktuellen Namens durchgängig „der CCBE“ („der Rat der…“) und nicht „die CCBE“ („die Kommission der…“).
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historische Rückblick etwas ausführlicher ausfällt als es dem Untersuchungsgegenstand dieses Beitrags streng genommen geschuldet ist, verantwortet der Jubilar, der mit dieser Festschrift gewürdigt wird, nicht zuletzt selbst: Sein Wunsch als scheidender Präsident des CCBE war es im Jahr 2004, dass die Organisation für eine Darstellung ihrer Geschichte Sorge tragen möge 3. Die in Erfüllung dieses Wunsches im Jahr 2005 vorgelegte Geschichte des CCBE ist eine wahre Fundgrube für Informationen, die ein besseres Verständnis der Berufsregeln des CCBE erlauben. 1. Der Rat der Anwaltschaften der Europäischen Union Der Rat der Anwaltschaften der Europäischen Union ist eine am 3.12.1960 in Brüssel gegründete Dachorganisation der Anwaltschaften in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union und des Europäischen Wirtschaftsraums. Ihm gehören mittlerweile Anwaltsorganisationen aus 31 Staaten als Vollmitglieder und aus weiteren elf Staaten als beobachtende Mitglieder an – gegründet wurde der CCBE vor 50 Jahren von Vertretern aus sechs Staaten (Belgien, Frankreich, Bundesrepublik Deutschland, Italien, Luxemburg und Niederlande). Die Abkürzung „CCBE“ geht zurück auf die ursprüngliche französische Bezeichnung der Organisation, die zunächst als „Commission Consultative des Barreaux de la Communauté Européenne“ der 1927 gegründeten Union Internationale des Avocats (UIA)4 fi rmierte5. Die Entstehung der „Commission Consultative“ der UIA ist im Kontext der Römischen Verträge vom 25.3.1957 zu sehen, deren Bedeutung und Auswirkungen für die Anwaltschaften in den damaligen Mitgliedstaaten durch eine paneuropäische Anwaltsorganisation untersucht werden sollte6 – auch wenn seinerzeit allgemein noch die Vorstellung vorherrschte, dass die anwaltliche Tätigkeit von den Grundfreiheiten nicht erfasst sei, sondern der Bereichsausnahme des Art. 55 EGV (später Art. 45 EG, nunmehr Art. 51 AEU) unterfalle7. Der CCBE wurde im Jahr 1966 autonom, blieb der UIA aber verbunden. Die „Commission Consultative“ gab sich ein Statut8, das seitdem einleitend das Wesen der Organisation erläutert – sie soll ein Bindeglied zwischen den nationalen Anwaltsorganisationen und ein Vertreter für diese bei den europäischen Institutionen sein. Mitglieder der CCBE waren hierbei von Beginn an die Berufsorganisationen der Anwaltschaften in den Mitgliedsstaaten; die Struktur der Organisation ist hiermit bei oberflächlicher Betrachtung vergleichbar mit dem Verhältnis der regionalen Rechtsanwaltskammern und der Bundesrechts-
3 Maçi, L‘Historie Du CCBE, Bruxelles 2005, S. 1. 4 Der CCBE berichtet, dass die Pläne zur Gründung einer „Commission Consultative“ im September 1960 am Rande eines Kongresses der Union Internationale des Avocats (UIA) in der Schweiz erstmals formuliert wurden, vgl. Maçi (Fn. 3), S. 5. 5 Zu Änderungen des offi ziellen Namens oben Fn. 2. 6 Anstoß zur Gründung des CCBE war ein ausführlicher, Besorgnisse auslösender Fragebogen zu den Anwaltschaften in den Mitgliedstaaten der EWG, den die Kommission im Sommer 1960 an die UIA in Brüssel gesandt hatte, Maçi (Fn. 3), S. 6. In der UIA waren damals 36 Staaten repräsentiert. 7 Hierzu näher Henssler/Kilian, EuR 2005, 192 ff. 8 Mit dem Statut wurde u. a. die Funktion eines Präsidenten des CCBE geschaffen.
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anwaltskammer in Deutschland. Allerdings hat der CCBE keine ihm durch europäisches Recht zugewiesene, offi zielle Funktion, wenngleich ihr im Jahr 1979 im Verfahren AM & S9 durch den EuGH die Rolle eines Intervenienten zugebilligt wurde und die Organisation hierdurch erstmals formal durch die europäischen Institutionen anerkannt wurde10. Der CCBE befasst sich als rein freiwilliger Zusammenschluss der nationalen Anwaltsorganisationen in Plenarversammlungen, ständigen Komitees, Arbeitsgruppen, dem Präsidium und dem Sekretariat mit allen Fragen des Anwaltsberufes in den Mitgliedsländern und fungiert als Bindeglied der nationalen Anwaltschaften zu den Institutionen der Europäischen Union, des Europäischen Wirtschaftsraums und zu den internationalen anwaltlichen Organisationen wie IBA, UIA und AIJA. Der CCBE versteht seine primäre Aufgabe darin, die Meinungsbildung in den Mitgliedsländern zu harmonisieren und zu koordinieren, um ein gemeinschaftliches Auftreten der Rechtsanwaltschaft Europas auf europäischer Ebene sicherzustellen. Als freiwilliger Zusammenschluss ist der CCBE privatrechtlich und, da sein Sitz in Brüssel ist, nach belgischem Recht verfasst. 2. Die Berufsregeln des CCBE a) Genese Seit Mitte der 1970er Jahre ist es eine zentrale, selbst gestellte Aufgabe des CCBE, länderübergreifende Grundstrukturen des Rechts der anwaltlichen Berufsausübung nicht nur zu ermitteln, sondern auch förmlich festzustellen. Hierdurch soll das Wesen eines europäischen Rechtsanwalts defi niert und die Stellung des – trotz aller nationalen Besonderheiten von gemeinsamen Grundwerten getragenen – Berufsstandes auf europäischer Ebene gestärkt werden. Manifestes Ergebnis dieser Bemühungen sind die 1988 erstmals festgestellten Berufsregeln des CCBE, die seitdem kontinuierlich überarbeitet und modernisiert worden sind. Sie gehen zurück auf die Deklaration von Perugia vom 16.9.197611. Bemerkenswert ist, dass der Anstoß zu dieser Deklaration vom damaligen Generaldirektor der Generaldirektion XII der Europäischen Kommission, Günter Schuster, ausgegangen sein soll. Er hatte im Vorfeld der Verabschiedung der Richtlinie 77/249/EWG bei Konsultationen mit dem CCBE darauf gedrängt, grundlegende gemeinsame Prinzipien des Berufsrechts in den Mitgliedstaaten zu ermitteln und paneuropäisch zu defi nieren12. Dieses aus der Kommission heraus formulierte Anliegen deutet das Ausgangsproblem der grenzüberschreitenden Tätigkeit von Rechtsanwälten an: Der europäische Gesetzgeber hat durch Sekundärrecht lediglich den Zugang zu den Rechtsdienstleistungsmärkten in der Europäischen Union eröffnet, aber keine Regeln 9 AM & S Europe Limited v Commission of the European Communities, C-155/79, ECR 1982, 1575. Das Verfahren betraf die Reichweite von Anwaltsprivilegien zu Gunsten von anwaltlich zugelassenen Unternehmensjuristen. 10 Der EuGH hatte bereits zuvor informell auf die Expertise des CCBE in anwaltsrechtlichen Fragen zurückgegriffen. Auch hatte das Europäische Parlament im Vorfeld der Beratungen zur Verabschiedung der Richtlinie 77/249/EWG den CCBE am Konsultationsverfahren beteiligt, vgl. Maçi (Fn. 3), S. 11 f. 11 Abgedruckt bei Maçi (Fn. 3), S. 67 ff. 12 Maçi (Fn. 3), S. 15.
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der Berufsausübung auf diesen Märkten defi niert. Die Deklaration von Perugia fasste vergleichende Vorarbeiten des CCBE zu ausgewählten berufsrechtlichen Fragen zusammen und verstand sich als kurz gehaltene Bekräftigung ethischer Grundpositionen des Anwaltsberufs. Sie gab Empfehlungen und statuierte keine Pfl ichten. In der Deklaration behandelt wurden unter anderem die Funktion des Rechtsanwalts in der Gesellschaft, das anwaltliche Berufsgeheimnis, die anwaltliche Unabhängigkeit, die Kollegialität zwischen Rechtsanwälten, die anwaltliche Außendarstellung und die Bedeutung der Berufsregeln von Anwaltsorganisationen aus anderen Mitgliedstaaten. Das Ziel der in einem Zeitraum von weniger als zwei Jahren erarbeiteten Deklaration war nicht, einen erschöpfenden Katalog von Berufspflichten bei der grenzüberschreitenden anwaltlichen Berufsausübung aufzustellen. Bis ein solcher Code of Conduct verabschiedet werden konnte, der die in der Deklaration von Perugia enthaltenen Grundpositionen inkorporierte, sollten noch mehr als 10 Jahre vergehen. Die Genese der CCBE-Regeln stand ganz im Zeichen der ersten Erfahrungen mit der Dienstleistungsrichtlinie 77/249/EWG, die für die vorübergehende grenzüberschreitende Dienstleistung eines Rechtsanwalts den Grundsatz der doppelten Deontologie bestimmte, den Rechtsanwalt also verpflichtete, bei einer Auslandstätigkeit sowohl das Berufsrecht seines Herkunftsstaates als auch (wesentliche) Regeln des Berufsrechts des Aufnahmestaats zu beachten. Die Richtlinie schuf ein reines Berufszutrittsrecht und nahm für die Fragen der Berufsausübung eine Normenhäufung bewusst in Kauf. Für Fälle, in denen das eine Berufsrecht etwas gestattete, das das andere Berufsrecht untersagte, musste der anwaltliche Grenzgänger ratlos zurückbleiben, bestimmte die Dienstleistungsrichtlinie doch keinen Anwendungsvorrang eines der konfl igierenden Berufsrechte. Bis zum heutigen Tage ist dieses potenzielle Kollisionsproblem bei Geltung des Grundsatzes der „double deontology“ eine der ungelösten Fragen des europäischen Anwaltsrechts13, fehlt es doch an einem diese Fragen adressierenden Kollisionsrecht. Die Konsequenzen sind misslich: Eine Unterwerfung eines Rechtsanwalts unter jedes Berufsrecht, das aufgrund eines – möglicherweise noch so schwachen – Berührungspunkts mit der fraglichen Rechtsordnung einen Regelungsanspruch erhebt, läuft der Grundidee der Erleichterung eines grenzüberschreitenden Dienstleistungsverkehrs im Binnenmarkt zuwider14. Eine nahe liegende, weil wenig komplizierte Lösung dieses Dilemmas ist es, Rechtsanwendungsfragen insgesamt aus dem Weg zu gehen und ein Einheitsrecht zu etablieren. Aus Sicht des CCBE als Dachorganisation der nationalen Anwaltschaften war es daher reizvoll, einheitliche Berufsregeln für die grenzüberschreitende Berufsausübung aufzustellen. Im Jahr 1982 beschloss die Vollversammlung des CCBE, die Möglichkeit der Feststellung eines Berufskodexes zu untersuchen, der einheitliche berufsrechtliche Pfl ichten festschreibt. Die Ausformulierung eines solchen Kodexes war, dies zeigen die Materialien seiner
13 Näher Kilian in Henssler/Streck, Handbuch des Sozietätsrechts, 2. Aufl. 2010, Rz. N 162 m. w. N. 14 Vgl. Henssler, AnwBl. 1996, 253, 354; Henssler, ZZP 115 (2002), 321, 349.
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Entstehung15, keine leichte Aufgabe – angelsächsische Normsetzungstraditionen rieben sich an einem kontinentaleuropäisch geprägten Normsetzungsverständnis16. Die Generalversammlung des CCBE, der zu diesem Zeitpunkt zwölf Delegationen angehörten, verabschiedete den Kodex nach sechsjährigen Vorarbeiten schließlich am 28.10.1988. Seitdem sind drei überarbeitete Fassungen in Kraft gesetzt worden (1998, 2002 und 2006). b) Regelungsgehalt Die CCBE-Regeln in ihrer aktuellen Fassung statuieren nach einleitenden Feststellungen in ihrem Abschnitt 2 zunächst eine Anzahl von Grundprinzipien der Berufsausübung, die mit der Unabhängigkeit (2.1., 2.5.) und dem Berufsgeheimnis (2.3.) zum Teil „core values“ der Anwaltstätigkeit thematisieren, zum Teil allerdings auch Fragen adressieren, die im modernen deutschen Berufsrecht keine explizite Berücksichtigung mehr fi nden (2.2.: Pfl icht zur Wahrung der Ehre, Würde und Integrität; 2.7.: Vorrang der Interessen des Mandaten vor jenen des Anwalts) oder als sonderprivatrechtliche Materie wahrgenommen werden, die nicht im Zentrum des Berufsrechts steht (2.8.: Haftungsbegrenzungen). Der weitere Aufbau der CCBE-Berufsregeln orientiert sich an den beruflichen Beziehungen, die der Rechtsanwalt bei seiner Tätigkeit mit Mandanten, Richtern und Kollegen eingeht: Teil 3 behandelt das Verhältnis des Rechtsanwalts zum Mandanten und befasst sich mit der Mandatsannahme und -beendigung (3.1.), den Interessenkonfl ikten (3.2.), Quota-Litis-Vereinbarungen (3.3.), Honorarabrechnungen (3.4.), Honorarvorschüssen (3.5.), der Honorarteilung (3.6.), mit Hinweispfl ichten auf Prozesskosten- und Beratungshilfe (3.7.), Mandantengeldern (3.8.) und der Versicherung gegen Haftpfl ichtgefahren (3.9.). Aus der deutschen Berufsrechtstradition heraus eher ungewöhnlich sind die Berufsregeln des Abschnitts 4, die sich mit dem Verhältnis des Anwalts zum Gericht befassen. Angesprochen werden die Pfl icht zur Beachtung des örtlichen Rechts (4.1.), das Gebot der fairen Verfahrensführung (4.2.), die Achtung des Gerichts (4.3.) und die Wahrheitspfl icht (4.4.). Ein letzter Abschnitt befasst sich mit dem Verhältnis des Rechtsanwalts zu Berufskollegen und bestimmt den Grundsatz der Kollegialität (5.1.), die Pfl ichten bei der Zusammenarbeit mit ausländischen Kollegen (5.2.), bei der Korrespondenz unter Rechtsanwälten (5.3.), die Unzulässigkeit von Vermittlungshonoraren (5.4.), das Verbot der Umgehung des Gegenanwalts (5.5.), die persönliche Haftung für Honorarforderungen des ausländischen Kollegen (5.7.), die – in diesem Kontext etwas überraschend angesiedelte – Pfl icht zur Fortbildung (5.8.) und zur einvernehmlichen Beilegung von Streitigkeiten untereinander (5.9.). Näher erläutert werden die einzelnen Berufsregeln in einem sog. „Explanatory Memorandum“, das eine Art Kurzkommentierung der Berufsregeln darstellt.
15 Vgl. ausführlich Maçi (Fn. 3), S. 18 ff. 16 Die endgültige Fassung des Kodex geht maßgeblich auf Arbeiten des deutschen Vorgängers des Jubilars im Amt des Präsidenten des CCBE, Heinz Weil, zurück, der den Text in einer dreitägigen Klausur gemeinsam mit einem englischen Kollegen erarbeitete.
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c) Rechtsnatur Geltungsanspruch in Deutschland und anderen Staaten hätten die CCBE-Regeln ohne weiteres, wenn sie internationales Einheitsrecht im Bereich des Anwaltsrechts wären. Die Entstehungsgeschichte der CCBE-Regeln belegt freilich, dass den Vorschriften eine solche Normqualität nicht zukommen kann: Echtes Einheitsrecht können die CCBE-Regeln nicht sein, weil solches nur aus staatsvertraglichen Vereinbarungen folgt, aufgrund derer das Einheitsrecht in allen Vertragsstaaten geltendes Recht ist. Die CCBE-Regeln sind daher völkerrechtlich nicht legitimiert17. Sie unterscheiden sich auch von den – nach dem Konzept eines transnationalen Rechts gewonnenen – Kodices für Rechtsanwälte, die vor dem ICTY, ICTR oder dem IStGH auftreten18. Die in diesen Kodices formulierten Berufsregeln beruhen, mal mehr, mal weniger, auf einer Synthese verschiedener Berufsregeln, so etwa des CCBE oder der IBA. Ihre Legitimation ist ebenso beschränkt wie ihr Geltungsanspruch: Sie gelten nur für das Auftreten von Rechtsanwälten vor einem bestimmten (internationalen) Gerichtshof und greifen damit ein angelsächsisches Regelungskonzept auf, nach dem Gerichten eine inhärente Kompetenz zugebilligt wird, Regeln für die vor ihnen agierenden Parteivertreter zu bestimmen. Die CCBE-Regeln haben weder einen solchen Anknüpfungspunkt noch beschränken sie ihren Geltungsanspruch auf einen kleinen Teilbereich der anwaltlichen Tätigkeit. Sie sind vielmehr „lediglich“ Verbandsrecht einer Anwaltsorganisation. Die Qualifi zierung von Normen als Verbandsrecht determiniert freilich nicht ihre Unverbindlichkeit: Knüpft der Staat die Befugnis zur Berufsausübung für Angehörige eines bestimmten Berufs an die Mitgliedschaft in einem Verband und delegiert er zugleich Normsetzungsbefugnisse auf diesen Verband, kann das vom Verband gesetzte Recht Verbindlichkeit für alle Berufsangehörigen erlangen. Anschauliches Beispiel hierfür ist das deutsche Recht, das eine Zwangsmitgliedschaft für alle Berufsangehörigen in den Rechtsanwaltskammern anordnet und der verfassten Anwaltschaft zugleich Satzungsbefugnisse einräumt, so dass diese selbst Recht setzen kann. Einer Dachorganisation nationaler Anwaltsorganisationen, die in ihren Heimatstaaten einen ganz unterschiedlichen Status und inkongruente Rechtsetzungsbefugnisse haben, kann ohne eine europarechtlich zugewiesene Rechtsmacht freilich keine vergleichbare Rechtssetzungskompetenz zukommen. Der CCBE erhebt einen solchen Anspruch auch nicht. In einer Präambel zu den CCBE-Regeln äußert der CCBE vielmehr den Wunsch, dass die CCBEBerufsregeln „in kürzester Zeit durch nationales und/oder EWR – Recht für die grenzüberschreitende Tätigkeit des Rechtsanwaltes in der Europäischen Union und dem Europäischen Wirtschaftsraum verbindlich erklärt werden und sie bei jeder Reform des nationalen Berufsrechtes im Hinblick auf dessen allmähliche Harmonisierung berücksichtigt werden.“ Eine durch europäisches Recht geschaffene Verbindlichkeit der CCBE-Regeln ist bis heute ein bloßes Desiderat geblieben, obwohl es – etwa im Bereich des Bilanzrechts mit den IFRS 17 Knöfel, Grundfragen der internationalen Berufsausübung von Rechtsanwälten, 2005, S. 231 ff. 18 Knöfel (Fn. 17), S. 234 f.
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und der IAS-VO – durchaus vergleichbare Vorbilder für ein solches Komitologie- bzw. Endorsement-Verfahren gibt19. Den Mitgliedern des CCBE, den nationalen Anwaltsorganisationen, ist daher aufgegeben, diese Berufsregeln in den Heimatstaaten – auf welchem Wege der nationalen Normsetzung auch immer – Verbindlichkeit zu verschaffen. Im Idealfalle wäre ein faktisches Einheitsrecht dadurch geschaffen, dass in allen Mitgliedstaaten, die im CCBE repräsentiert sind, nationales Berufsausübungsrecht zu Fragen der grenzüberschreitenden Berufsausübung – oder gar der Berufsausübung schlechthin – etabliert wird, das den Inhalten der CCBE-Regeln entspricht.
III. Die CCBE-Regeln in der Rechtsprechung deutscher Gerichte 1. Einleitung Mit einer gewissen Zufriedenheit hat der CCBE in seinen Publikationen festgestellt, dass die CCBE-Regeln seit ihrer Verabschiedung vor mehr als 20 Jahren in zunehmendem Maße als Rechtsquelle herangezogen werden – nicht nur bei grenzüberschreitenden Betätigungen von Rechtsanwälten, sondern auch bei reinen Inlandssachverhalten 20. Hingewiesen wird seitens des CCBE etwa auf zwei Entscheidungen des Appellationsgerichts Bordeaux, das in den Jahren 1990 und 1991 Vorschriften der regionalen Rechtsanwaltskammer aufhob, weil sie nach Auffassung des Gerichts mit den CCBE-Regeln 2.2. und 2.7. unvereinbar waren 21. Die dogmatische Verwurzelung der Entscheidung des französischen Gerichts blieb freilich auch für den CCBE im Dunkeln. So ist nicht bekannt, ob das Gericht zu seiner Entscheidung gelangte, weil es davon ausging, die CCBE-Regeln seien wirksam in nationales Recht transformiert worden oder weil das Gericht die Vorschriften unmittelbar anwendete. Die merkwürdige Gemengelage, der unsichere Umgang mit den CCBE-Regeln in den Mitgliedstaaten wird durch eine beiläufige Bemerkung von Vertretern des CCBE besonders anschaulich, aus der man eine gewisse Überraschung der Urheber des Kodex meint herauslesen zu können: „The CCBE Code enjoys a great reputation, which exceeds its concrete limits „ratione materiae“ and „ratione personae“ 22 (Hervorhebung durch die Verfasser). Dass dieser Hinweis auch den wenigen Judikaten deutscher Gerichte gelten könnte, soll im Nachfolgenden aufgezeigt werden. Deutsche Gerichte ziehen die CCBE-Regeln meist heran, ohne zu problematisieren, welche Rechtsnormqualität und damit Verbindlichkeit diese Vorschriften im deutschen Recht überhaupt haben.
19 Die IFRS sind ebenfalls von einer privatrechtlichen Organisation, dem IASB, verabschiedete Regeln, denen über die der Verordnung (EG) Nr. 1606/2002 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 19.7.2002 betreffend die Anwendung internationaler Rechnungslegungsstandards (IAS-VO, ABl. EG Nr. L 243 v. 11.9.2002, S. 1.) verbindliche Wirkung zukommt. 20 Maçi (Fn. 3), S. 22. 21 Maçi (Fn. 3), S. 22. 22 Maçi (Fn. 3), S. 22.
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2. AnwG Hamburg vom 30.4.200923 Nr. 5.7. CCBE-Regeln bestimmt, dass ein Rechtsanwalt persönlich zur Zahlung des Honorars, der Kosten und der Auslagen eines ausländischen Kollegen verpflichtet ist, wenn er sich nicht darauf beschränkt, dem ausländischen Kollegen lediglich ein Mandat zu vermitteln, sondern er dem ausländischen Kollegen eine Angelegenheit „überträgt“. Anderweitige Vereinbarungen sind nach Nr. 5.7 CCBE Regeln jederzeit möglich, auch kann der beauftragende Rechtsanwalt seine persönliche Haftung zu jedem Zeitpunkt für die Zukunft beschränken. Wegen eines Verstoßes gegen diese Berufsregel hatte die Rechtsanwaltskammer Hamburg ein Mitglied gerügt, das daraufhin gemäß § 74a BRAO Antrag auf anwaltsgerichtliche Entscheidung stellte. Der Streitigkeit lag folgender Sachverhalt zu Grunde: Ein deutscher Rechtsanwalt hatte einem österreichischen Rechtsanwalt Unterlagen zur Vertretung eines Mandanten vor einem österreichischen Bezirksgericht übersandt. Der österreichische Rechtsanwalt war in der Folge in einem Verfahren wegen Bewilligung von Verfahrenshilfe – diese entspricht der deutschen Prozesskostenhilfe – tätig geworden. Nach Abschluss des Verfahrens hatte der österreichische Rechtsanwalt dem deutschen Mandanten eine Kostenrechnung übersandt. Nachdem er keine Zahlungseingänge verzeichnen konnte, kündigte er die unmittelbare Inanspruchnahme des deutschen Rechtsanwalts an. Die Kanzlei des deutschen Rechtsanwalts habe ihn beauftragt, daher sei dieser ihm unter dem Gesichtspunkt der persönlichen Kostenhaftung zum Ausgleich der Rechnung verpflichtet. Der deutsche Rechtsanwalt lehnte die Erfüllung der Forderung unter Hinweis darauf ab, nicht er, sondern der entsprechend vermittelte Mandant habe den österreichischen Rechtsanwalt beauftragt. In dem anwaltsgerichtlichen Verfahren hatte der deutsche Rechtsanwalt den – angesichts der Tatsache, dass er sich einer Forderung des ausländischen Kollegen in Höhe von immerhin 3.500,- Euro ausgesetzt sah, durchaus bemerkenswerten – Standpunkt vertreten, dass es sich bei Nr. 5.7 CCBE-Regeln um eine zivilrechtliche Haftungsregelung und nicht um eine „Strafnorm“ handele. Zweifelsfrei zur Überraschung der den Gegenstandpunkt vertretenden Rechtsanwaltskammer kam das Anwaltsgericht zu dem Ergebnis, dass Nr. 5.7 CCBE-Regeln lediglich eine zivilrechtliche Anspruchsgrundlage sei, nicht jedoch eine Berufspfl icht des Rechtsanwalts normiere. Wesentliches Argument des Anwaltsgerichts war, dass die von der Vorschrift erfassten Tätigkeiten in engem Zusammenhang mit der Erfüllung des Anwaltsvertrages stünden und die Schlechterfüllung des Anwaltsvertrages grundsätzlich keinen Verstoß gegen Berufspflichten darstelle. Aus der Überschrift der Vorschrift und ihrem Entstehungskontext werde deutlich, dass die Regelung die persönliche zivilrechtliche Haftung eines Rechtsanwalts im Falle der Nichtbegleichung einer Honorarforderung regele. 3. BGH vom 22.4.200924 Der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat in einen Beschluss vom 22.4.2009, mit dem von ihm eine Revision als unbegründet verworfen wurde, eine bei23 BRAK-Mitt. 2009, 242 = NJW-Spezial 2009, 655. 24 Beschl. v. 22.4.2009 – 1 StR 140/09 (abrufbar in juris).
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läufige Bemerkung berufsrechtlicher Art aufgenommen, die auf CCBE-Regel 4.3. rekurriert. Die Richter des 1. Strafsenats störten sich an aus ihrer Sicht das Gericht herabwürdigenden Formulierungen in Schriftsätzen des Verteidigers. Der Senat stellte fest, dass ein solches Verhalten mit dem Gebot der Sachlichkeit in § 43a Abs. 3 BRAO unvereinbar sei. Herabwürdigende Formulierungen sprengten den „Rahmen der dem Richter gebührenden Achtung und Höflichkeit“, innerhalb dessen der Rechtsanwalt die Interessen seines Mandanten „nach anerkennenswerter Auffassung“ des Rats der Europäischen Anwaltschaften zu vertreten habe. Das Gericht wies hierbei auf Nummer 4.3 CCBE-Regeln hin. Warum sich der Senat überhaupt dazu berufen sah, ein anwaltliches Handeln isoliert berufsrechtlich zu würdigen, soweit das unterstellt berufspflichtwidrige Handeln keine strafprozessualen Weiterungen hatte, bleibt ebenso unklar wie die dogmatische Verwurzelung des Rekurses auf die CCBE-Regeln. Sie scheinen vom Senat gleichsam als Auslegungshilfe für die Ausfüllung des unbestimmten Rechtsbegriffs der Sachlichkeit im deutschen Berufsgesetz verwendet worden zu sein. 4. OLG Düsseldorf vom 28.7.200525 In einem Beschluss vom 28.7.2005, mit dem die beabsichtigte Zurückweisung einer Berufung nach § 522 Abs. 2 ZPO angekündigt wurde, setzte sich ein Senat des OLG Düsseldorf mit Nr. 3.8.1.5 lit. b) CCBE-Berufsregeln auseinander. In der zu Grunde liegenden Streitigkeit ging es um eine Aufrechnung eines Rechtsanwalts mit eigenen Vergütungsansprüchen gegen den Anspruch einer Mandantin auf Auszahlung eines auf dem Fremdgeldkonto des Rechtsanwalts zu Gunsten des Mandanten eingegangenen Betrages aus einem Scheidungsvergleich. Das Gericht bemühte zur Begründung der Unzulässigkeit der Aufrechnung zunächst den allgemeinen zivilrechtlichen Grundsatz, nach dem eine Aufrechnung nach § 242 BGB ausgeschlossen ist, wenn der Zweck der geschuldeten Leistung die Aufrechnung als mit Treu und Glauben unvereinbar erscheinen lässt. Hiermit hätte es das Gericht ohne Weiteres bewenden lassen können. Es stützte aber darüber hinaus („Im Übrigen…“) seine Rechtsauffassung auch auf die CCBE-Regeln: Nach Nr. 3.8.1.5. lit. b) der Anlage 1 zur BORA (d. h. der CCBE-Regeln) sei nämlich vorbehaltlich entgegenstehender gesetzlicher Vorschriften oder gerichtlicher Anordnung und vorbehaltlich der ausdrücklichen oder stillschweigenden Einwilligung des Mandanten, für den die Zahlung vorgenommen werde, die Auszahlung von Mandantengeldern an dritte Personen unzulässig. Dies gelte ausdrücklich auch für den Ausgleich der Honorarforderungen des Rechtsanwalts. Eine Aufrechnung mit eigenen Vergütungsansprüchen gegen den Anspruch des Mandanten auf Auszahlung vereinnahmter Gelder sei damit ausgeschlossen. Eine Erklärung, inwiefern ein Verstoß gegen Nr. 3.8.1.5. lit. b) CCBE-Regeln Auswirkungen auf die Wirksamkeit der Aufrechnung nach deutschem Zivilrecht haben soll, liefert das Gericht freilich nicht.
25 AnwBl. 2005, 787.
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5. AG Aachen vom 23.9.199726 Ebenfalls Nr. 5.7 der CCBE-Regeln zum Gegenstand hatte eine Entscheidung des Amtsgerichts Aachen vom 23.9.1997. Die Vorzeichen waren hier anderer Art als in dem vom Anwaltsgericht Hamburg entschiedenen Fall: Ein deutscher Rechtsanwalt nahm einen ausländischen Kollegen auf Zahlung von Anwaltshonorar an Anspruch, zudem handelte es sich um eine zivilrechtliche Zahlungsklage, nicht um ein anwaltsgerichtliches Verfahren. Das angerufene Gericht musste daher entscheiden, ob es ein zusprechendes Urteil auf die CCBE-Regeln stützen konnte oder nicht. In dem der Entscheidung zu Grunde liegenden Sachverhalt hatte ein in Belgien ansässiger Rechtsanwalt einen deutschen Kollegen mit der Vertretung eines in Deutschland in Untersuchungshaft einsitzenden Mandanten beauftragt. In der Folge hatte der deutsche Rechtsanwalt Probleme, sein Strafverteidigerhonorar zu realisieren und nahm daraufhin den belgischen Anwaltskollegen persönlich auf Zahlung in Anspruch. Das Amtsgericht Aachen verurteilte den belgischen Rechtsanwalt unter Anwendung deutschen Sachrechts zur Zahlung, da dieser bei Erteilung des Auftrags keinen anders lautenden Vorbehalt gemacht hatte. Eine nicht geäußerte Absicht, für das Honorar eines Kollegen nicht haften zu wollen, sei grundsätzlich ohne Bedeutung, da die CCBE-Regeln eine persönliche Haftung des ausländischen Anwalts anordne, soweit keine anderweitige Vereinbarungen zu Beginn der Zusammenarbeit getroffen werden.
6. OLG Hamburg vom 10.11.198927 Auch das OLG Hamburg musste sich mit nicht gezahlten Anwaltshonoraren im grenzüberschreitenden Rechtsverkehr befassen. Auf den vom Gericht im November 1989 entschiedenen Sachverhalt waren die Berufsregeln des Rats der Anwaltschaften in der Europäischen Union noch nicht anwendbar. Maßgeblich waren vielmehr die in der Deklaration von Perugia vom 16.9.1977 bestimmten Grundsätze der Berufspflichten der Anwaltschaften in der Europäischen Union (hierzu näher oben II. 2.). Auch in diesem Verfahren ging es, nachdem der Mandant die entsprechende Vergütung schuldig geblieben war, um die Haftung für die Kosten des ausländischen Anwaltskollegen. Das OLG Hamburg musste über einen Fall entscheiden, in dem deutsche Rechtsanwälte niederländische Berufskollegen mit der Bearbeitung eines in den Niederlanden abzuwickelnden Mandats beauftragt hatten. Das Gericht gelangte zunächst zur Anwendung niederländischen Sachrechts auf die Rechtsbeziehung zwischen den deutschen und den niederländischen Anwälten. Dies eröffnete nach Auffassung des Gerichts die Anwendbarkeit des niederländischen Berufsrechts, nach dessen damaligen Bestimmungen ein beauftragender Rechtsanwalt dem beauftragten Rechtsanwalt grundsätzlich für die Bezahlung der Vergütung haftet, soweit bei Erteilung des Auftrags kein entgegenstehender, ausdrücklicher Vorbehalt
26 BRAK-Mitt. 1998, 51 = GI 1998, 272 (Ls.). 27 BRAK-Mitt. 1990, 184 = IPRspr. 1989, Nr. 233b. Die Entscheidung bestätigte die Vorinstanz, vgl. LG Hamburg, BRAK-Mitt. 1988, 215 = IPRspr. 1988, Nr. 233a.
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gemacht wird. Ergänzend zog das Gericht auch Nr. VI-428 der Deklaration von Perugia heran. Diese Bestimmung entspricht wörtlich der heutigen Nr. 5.7 der CCBE-Regeln 29. Das Gericht betonte unter Hinweis auf diese Regelung, dass ein Anwalt seinem ausländischen Kollegen nur dann nicht auf die Vergütung hafte, wenn er seinem Mandanten diesen Kollegen lediglich benannt oder das Mandat nur vermittelt habe.
IV. Kritik 1. Interpretationsgrundlagen In Deutschland ist es zu einer Übernahme der CCBE-Regeln als Berufsausübungsrecht bei der grenzüberschreitenden Betätigung EU-ausländischer Rechtsanwälte im Inland oder – soweit ein entsprechender Geltungsanspruch überhaupt erhoben werden könnte – deutscher Rechtsanwälte im EU-Ausland nicht gekommen. Im Zuge der Umsetzung der anwaltsspezifischen Richtlinien 77/249/EWG und 98/5/EG hat sich der Gesetzgeber darauf beschränkt, mit dem EuRAG ein Berufszugangsrecht für die grenzüberschreitende Berufsausübung zu etablieren und in diesem hinsichtlich der Berufsausübung die Geltung (jedenfalls auch) des deutschen Berufsrechts anzuordnen. Der Gesetzgeber hat es im Übrigen in § 59b Abs. 2 Nr. 9 BRAO der Satzungsversammlung überlassen, die besonderen Berufspfl ichten im grenzüberschreitenden Rechtsverkehr zu bestimmen30. Dem Auftrag des CCBE an seine Mitglieder, für eine Maßgeblichkeit der CCBE-Regeln auf nationaler Ebene Sorge zu tragen, ist Deutschland in der Weise nachgekommen, dass die Satzungsversammlung im Rahmen der auf sie delegierten Normsetzungsbefugnisse § 29 BORA verabschiedet hat 31. Die Norm bestimmt in Abs. 1 Satz 1: „Bei grenzüberschreitender Tätigkeit im Sinne von Nr. 1.5 der Berufsregeln der Rechtsanwälte der Europäischen Gemeinschaft (CCBE) in der Fassung vom 28. November 1998 (Anlage zu dieser Berufsordnung) gelten anstelle dieser Berufsordnung jene Berufsregeln, soweit nicht europäisches Gemeinschaftsrecht oder deutsches Verfassungs-, Gesetzesoder Verordnungsrecht Vorrang haben.“
2. Das Erfordernis eines grenzüberschreitenden Elements Der Satzungsgeber zeigt mit der Formulierung des § 29 Abs. 1 BORA selbst die erste Begrenzung des Geltungsanspruchs des Verbandsrechts im deutschen Recht auf: Die Vorschriften gelten zunächst nur für grenzüberschreitende Betätigungen im Sinne der Nr. 1.5 CCBE-Regeln. Als grenzüberschreitende
28 Die Vorschrift wird in den deutschen Datenbanken fälschlich als IV Nr. 4 zitiert. 29 Ihren Ursprung hat die Regelung in einer Stellungnahme eines Ausschusses des CCBE vom 29.1.1977, die wörtlich in die wenige Monate später verabschiedete Deklaration von Perugia und 1988 in die CCBE-Regeln übernommen wurde. 30 Eine nähere Begründung der Regelung in den Gesetzesmaterialien fehlt; die Ausführungen erschöpfen sich in einer Leerformel, vgl. BT-Drucks. 12/4993, S. 35. 31 Vor Inkrafttreten der BORA galten die CCBE-Regeln in Deutschland nur als unverbindliche Empfehlungen der Bundesrechtsanwaltskammer, vgl. Eichele in Gaier/ Wolf/Göcken, Anwaltliches Berufsrecht, 2010, § 29 BORA Rz. 6.
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Tätigkeit defi nieren die CCBE-Regeln zum einen eine Tätigkeit gegenüber Rechtsanwälten anderer Mitgliedstaaten und zum anderen die berufliche Tätigkeit eines Rechtsanwalts in einem anderen Mitgliedstaat, gleichgültig, ob der Rechtsanwalt dort körperlich anwesend ist oder nicht 32. Dies entspricht den Erwartungen des Urhebers der CCBE-Regeln. Freilich ist mit diesem Anliegen zugleich der Wunsch des CCBE verbunden, wann immer möglich ein Mehr zu erreichen, die CCBE-Regeln gleichsam als Blaupause für das nationale Berufsrecht zu verwenden. In einigen wenigen Mitgliedstaaten ist dies geschehen. In Deutschland könnte dies nur durch den parlamentarischen Gesetzgeber realisiert werden, nicht durch den Satzungsgeber, der aufgrund der beschränkten Reichweite der delegierten Normsetzungsbefugnis in seiner Gestaltungsmacht eingeschränkt ist. Der Ansatz des OLG Düsseldorf, in einem reinen Inlandssachverhalt – die mitgeteilten Gründe der Entscheidung und der aus ihnen rekonstruierbare Sachverhalt lassen einen Auslandsbezug nicht erkennen – auf die CCBE-Regeln abzustellen, ist daher in seiner Tragfähigkeit zweifelhaft, zumindest aber begründungsbedürftig. Das Gericht konnte Nr. 3.1.8.5. lit. b) CCBE-Regeln somit nicht – jedenfalls nicht unmittelbar – anwenden, so dass der eingeschlagene Weg nicht überzeugt – ganz losgelöst von der Frage, ob sich aus § 29 BORA i. V. m. Nr. 3.1.8.5. lit. b) CCBE-Regeln tatsächlich ein gesetzliches Aufrechnungsverbot herleiten lässt (hierzu unten IV. 3. c.). Anders verhielt es sich in der Entscheidung des 1. Strafsenats des BGH: Auch in dem dieser Entscheidung zu Grunde liegenden Sachverhalt fehlte es zwar an einem grenzüberschreitenden Element. Das Gericht stützte aber seine Entscheidung nicht auf eine CCBE-Regel, in diesem Falle Nr. 4.3. Tragend für die Entscheidung waren ausschließlich Normen des deutschen Berufsgesetzes, namentlich § 43 BRAO bzw. § 43a Abs. 3 BRAO. Nr. 4.3. CCBE-Regeln diente lediglich der Ausfüllung eines unbestimmten Rechtsbegriffs in Normen des deutschen Berufsgesetzes. Der Senat ließ es dahin gestellt sein, ob er die CCBE-Regel für die Ausfüllung des Begriffs der „Würdigkeit“ (§ 43 BRAO) oder des Begriffs der „Sachlichkeit (§ 43a BRAO) heranzog. Gegen eine solche Fruchtbarmachung der CCBE-Regeln als Auslegungshilfen zur Konkretisierung unbestimmter Rechtsbegriffe des Anwaltsrechts bestehen keine Bedenken33. Der Rückgriff auf die in den CCBE enthaltenen Wertungen erscheint nicht nur legitim, sondern sogar geradezu zwingend. Das deutsche Berufsrecht nähert sich über die Ausfüllung unbestimmter Rechtsbegriffe jenen Standards an, die vom CCBE als gemeinsame Grundlagen der Anwaltschaften Europas festgestellt worden sind. Im Ergebnis leisten die CCBE-Regeln damit einen Beitrag zur Harmonisierung des anwaltlichen Berufsrechts der Mitgliedstaaten der EU. Eine gewisse Zurückhaltung ist freilich geboten: Manche CCBE-Regel wurzelt in Stellungnahmen, die der CCBE in den 1970er und 1980er Jahren erarbeitet hat und über die der berufsrechtliche Zug der Zeit mittlerweile hinweggegangen ist (hierzu auch unten III. 3. c.). Da § 29 BORA eine statische Verweisung enthält, werden modernisierende Anpassungen der CCBE-Regeln durch den CCBE auf
32 Näher Offermann-Burckart in Henssler/Prütting, BRAO, 3. Aufl. 2010, Nr. 1.5. CCBE Rz. 3 ff. 33 Ähnlich Knöfel (Fn. 17), S. 240; vgl. auch Prütting, ZIP 2002, 1965, 1966.
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der Ebene des deutschen Rechts nicht unmittelbar nachvollzogen. Die Entwicklungsgeschichte der CCBE-Regeln zwingt auch zu Behutsamkeit bei einer rechtsvergleichenden Auslegung deutscher Berufsrechtsvorschriften anhand der CCBE-Regeln. Die rechtsvergleichende Auslegung, die mittlerweile als weiterer Auslegungskanon neben den klassischen vier Auslegungsmethoden akzeptiert wird, muss beachten, dass die CCBE-Regeln in ihren Grundlagen vor mehr als 20 Jahren von einem damals deutlich süd- und westeuropäischer geprägten CCBE statuiert worden sind. Sie müssen daher nicht mehr in allen Details dem Berufsrechtsverständnis entsprechen, das sich heute als Substrat der Berufsrechte in einem deutlich an Größe und geographischer Ausdehnung gewachsenen CCBE ergibt. Gleichwohl gilt selbstverständlich, dass die CCBERegeln Ausdruck eines in fast allen Bereichen sehr homogenen Berufsrechtsverständnisses sind. Abweichungen, die wie in diesem Beitrag zu einem kritischen Hinterfragen zwingen, sind die Ausnahme, nicht die Regel. 3. Der Vorrang des Gesetzes a) Vereinbarkeit der CCBE-Regeln mit höherrangigem Recht In der Praxis bedeutsamer und in ihren Auswirkungen einschneidender als die Beschränkung auf den grenzüberschreitenden Rechtsverkehr ist die Vorgabe, dass die CCBE-Berufsregeln nur gelten, „soweit nicht europäisches Gemeinschaftsrecht oder deutsches Verfassungs-, Gesetzes- oder Verordnungsrecht Vorrang haben“. Einer solchen Regelung hätte es in § 29 BORA nicht bedurft, da Satzungsrecht, das gegen höherrangiges Recht verstößt, grundsätzlich keine Geltung beanspruchen kann. Durch die Inkorporierung der CCBE-Berufsregeln in die Berufsordnung teilen diese deren normhierarchische Stellung, sind also Satzungsrecht. Zu prüfen ist damit aus Sicht des deutschen Rechts stets, ob eine über § 29 BORA maßgebliche Vorschrift der CCBE-Regeln nicht Regelungen in den Berufsgesetzen der Anwaltschaft, namentlich der BRAO und dem EuRAG, widerspricht und damit gegen den verfassungsrechtlichen Grundsatz des Vorrangs des Gesetzes verstößt. Lässt sich ein solcher Widerspruch nicht feststellen, muss sich die CCBE-Vorschrift als Berufsausübungsregel im Lichte des Art. 12 GG auf vernünftige Erwägungen des Gemeinwohls stützen können und das Verhältnismäßigkeitsprinzip achten. Geht man davon aus, dass sich Berufsgesetz und Berufssatzung streng an die verfassungsrechtlichen Grenzen halten, die für Berufsausübungsregeln gezogen sind, ist die eigenständige Bedeutung der CCBE-Regeln relativ gering. Die Anordnung, dass sie für den grenzüberschreitenden Rechtsverkehr an die Stelle der Berufsordnung treten, ist in weiten Bereichen wenig mehr als eine Frage der Nomenklatur34. Der Grundsatz des Vorrangs des Gesetzes35 hat bereits auf der Ebene der Berufsordnung wiederholt Probleme aufgeworfen – bei „Hineinschachtelung“ der CCBE-Regeln in das Satzungsrecht wird die Rechtslage insbesondere für die mit berufsrechtlichen Fragen nur selten befassten ordentlichen Gerichte offensicht-
34 Vgl. den Abgleich bei Kilian in Henssler/Streck (Fn. 13), Rz. N 158. 35 Hierzu ausführlich Wirtz, Die Regelungskompetenz der Satzungsversammlung, 2003, S. 118 ff.
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lich derart unübersichtlich, dass es statt zu einer sorgfältigen Sonderung der unterschiedlichen Problemebenen zu einer recht unkritischen Anwendung der CCBE-Regeln kommt. Als Prüfungsmaßstab muss freilich gelten: Die Satzungsversammlung kann nicht schlechthin Regeln für den grenzüberschreitenden Rechtsverkehr bestimmen, sondern lediglich solche Aspekte der grenzüberschreitenden Tätigkeit regeln, die sie auch für eine rein inländische Berufsausübung rechtlich gestalten könnte. Sie ist kein Ersatzgesetzgeber für Fragen des internationalen Rechtsverkehrs des Rechtsanwalts, da in der Berufssatzung lediglich „das Nähere zu den beruflichen Rechten und Pfl ichten bestimmt“ wird, die in der BRAO und anderen Gesetzen mit anwaltsspezifischen Inhalten bereits verankert sind. Die Satzungsversammlung kann den Gesetzgeber nicht nur nicht korrigieren36, also gezielt aus anderen Gesetzen folgende Grenzen derogieren. Sie darf, da sie lediglich einen Konkretisierungsauftrag erhalten hat, auch keine Fragen beantworten, von deren Regelung der Gesetzgeber insgesamt abgesehen hat. Hierdurch sind all jene Fragen der grenzüberschreitenden Betätigung der Regelungsmacht der Satzungsversammlung entzogen, die sich nicht als Konkretisierung von Rechten und Pfl ichten darstellen, die in der BRAO oder in anderen Gesetzen, die einen anwaltsspezifischen Regelungsgehalt aufweisen37, angelegt sind. b) Nr. 5.7. CCBE-Regeln als Anspruchsgrundlage? Die richtige Übertragung dieser Grundsätze bereitet in der Gerichtspraxis, dies belegen die referierten Entscheidungen, insbesondere im Kontext von Nr. 5.7. der CCBE-Regeln, erhebliche Probleme. Das AnwG Hamburg hat Nr. 5.7. CCBERegeln ohne Problembewusstsein für die verfassungsrechtlichen Grundlagen von Berufsausübungsregeln – abstrakt – als zivilrechtliche Anspruchsgrundlage qualifi ziert. Das AG Aachen gab auf diese Vorschrift gestützt gar einer Zahlungsklage eines Rechtsanwalts statt. Diese kaum näher begründeten Entscheidungen scheinen gleichwohl eine solche Autorität zu besitzen, dass Teile des Schrifttums sich einer Diskussion bereits unter Hinweis auf die Macht des Faktischen entziehen und sie als rein akademisch betrachten38. Kann Nr. 5.7. CCBE-Regeln i. V. m. § 29 BORA tatsächlich eine zivilrechtliche Anspruchsgrundlage sein? Denkbar wäre zunächst, dass Nr. 5.7. CCBE-Regeln lediglich einen zivilrechtlichen Tatbestand des deutschen Rechts wiederholend bekräftigt 39. Nr. 5.7. in einem solchen Sinn als zivilrechtliche Anspruchsgrundlage zu bezeichnen, wäre dann zwar ungewöhnlich, aber letztlich unschädlich. Der Blick in das BGB zeigt freilich, dass Nr. 5.7. CCBE-Regeln nicht wiederholt, was das BGB ohnehin anordnet, sondern sogar in diametralem Widerspruch zum deutschen
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Vgl. auch Dahns in Gaier/Wolf/Göcken (Fn. 31), § 59b BRAO Rz. 5. Vgl. Wirtz (Fn. 35), S. 82. So etwa Eichele in Gaier/Wolf/Göcken (Fn. 31), CCBE Rz. 86. In diese Richtung, wenngleich das Ergebnis erst über eine international-privatrechtliche Betrachtung gewinnend Lörcher in Hartung/Römermann, Berufs- und Fachanwaltsordnung, 4. Aufl. 2008, Nr. 5.7. CCBE Rz. 6 („…erfährt die bisherige Rechtslage keine weitgehende Änderung durch Nr. 5.7. der CCBE Berufsregeln“).
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Zivilrecht steht: Eine Weitergabe der Ausführung der Geschäftsbesorgung mit Vollmacht des Auftraggebers in dessen Namen, die sog. Substitution, ist in § 664 Abs. 1 Satz 1 BGB geregelt40. § 664 Abs. 1 BGB regelt allein die Pfl ichten eines Beauftragten bei Übertragung eines Auftrags an einen Dritten. Diese Pfl ichten erschöpfen sich in dem, was etwas unscharf als eine „culpa in eligendo“ bezeichnet wird, d. h. geschuldet ist eine sorgfältige Auswahl und darüber hinausgehend eine ausreichende Ein- und Unterweisung. Eine gesamtschuldnerische Haftung für die Vergütung des weiteren Beauftragten kennt das BGB dagegen nicht: Hat der ursprüngliche Beauftragte die Pfl ichten erfüllt, ist er insoweit entlastet, als er für Pfl ichtverletzungen des Dritten bei der Geschäftsbesorgung nicht einzustehen hat41. Grundsätzlich ist bei einer solchen Form der Substitution der Mandant selbst gegenüber dem Drittanwalt verpfl ichtet42. Durch Nr. 5.7. CCBE-Standesregeln wird hingegen eine gesamtschuldnerische Haftung des Anwalts und des Mandanten angeordnet43. Sie führt dazu, dass der beauftragte Kollege auch sofort den Anwalt in Anspruch nehmen kann, ohne den Umweg über den Mandanten gegangen zu sein44. Da Nr. 5.7. CCBE-Regeln somit eine im deutschen Recht nicht angelegte Rechtslage herbeiführen würde, kann die Annahme einer zivilrechtlichen Anspruchsgrundlage nur zutreffend sein, wenn die Satzungsversammlung die Rechtsmacht hätte, Zivilrechtsverhältnisse zu gestalten. Ein solcher Versuch der Satzungsversammlung, Zivilrechtsverhältnisse durch Satzungsrecht zu gestalten, ist bereits vor einigen Jahren gescheitert, als das BVerfG die Nichtigkeit des § 13 BORA feststellte. Die Überlegungen der Satzungsversammlung, das Versäumnisverfahren der ZPO durch das Berufsrecht zu modifi zieren und hierdurch einem der Beteiligten materielle Belastungen zu überbürden, die dieser nach dem Konzept des Verfahrens- und Zivilrechts nicht zu tragen hat, kommentierte das Gericht mit dem Hinweis, es bedürfe „einer ausdrücklichen und klaren gesetzlichen Grundlage, wenn die Satzungsversammlung ermächtigt sein sollte, Vorschriften zur Stärkung der Kollegialität so auszugestalten, dass die primären Verpflichtungen aus dem Mandantenvertrag zurückgedrängt oder abgeschwächt werden“45. Eine entsprechende Ermächtigung liefert § 59b 40 Offermann-Burckart in Henssler/Prütting (Fn. 32), Nr. 5.7. CCBE-Regeln Rz. 4. Zu der hier nicht zu vertiefenden Frage der Anwendbarkeit des § 664 BGB auf die Geschäftsbesorgung, vgl. Seiler in MünchKomm. BGB, Band 4, 5. Aufl. 2009, § 664 BGB Rz. 19 m. w. N. 41 Seiler in MünchKomm. BGB (Fn. 40), § 664 BGB Rz. 7. 42 Vgl. Thomas in Palandt, 69. Aufl. 2010, § 664 BGB Rz. 1. 43 Soweit Nr. 5.7. CCBE-Regeln verbreitet als „Ausfallhaftung“ charakterisiert wird, beruht dies auf einer Interpretation der deutschen Übersetzung der CCBE-Regel. Aus dem offi ziellen, d. h. dem englischen bzw. französischen Originalwortlaut der Regelung, ergibt sich, dass eine gesamtschuldnerische Haftung gemeint ist, keine bloße Ausfallhaftung, näher Offermann-Burckart in Henssler/Prütting (Fn. 32), Nr. 5.7. CCBE-Regeln Rz. 3; Lörcher in Hartung/Römermann (Fn. 39), Nr. 5.7. CCBE-Regeln Rz. 1. 44 Die Regelung soll Missverständnisse unter Rechtsanwälten über die Verantwortlichkeit für unbezahlte Rechnungen vermeiden und dafür sorgen, dass ein Anwalt, der seine Kostenhaftung vermeiden will, vor einer Zusammenarbeit mit einem ausländischen Kollegen eine klare Vereinbarung mit diesem trifft, vgl. Kilian in Henssler/ Streck (Fn. 13), Rz. N 109. 45 BVerfG, NJW 2000, 347, 349.
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BRAO nicht, das BVerfG hielt – zutreffend – weder § 59b Abs. 2 Nr. 5 lit. a) BRAO noch § 59b Abs. 2 Nr. 8 BRAO für tragfähig. Eine Ermächtigungsgrundlage zur Regelung der „Haftung für anwaltliche Honorare“ könnte allenfalls in § 59b Abs. 2 Nr. 9 BRAO zu fi nden sein, die pauschal die Statuierung besonderer Berufspfl ichten im grenzüberschreitenden Rechtsverkehr gestattet. Nach dem Wortlaut könnte die Kompetenznorm auch zur Schaffung von Sonderprivatrecht ermächtigen. Allerdings treten die CCBE-Regeln nach § 29 BORA lediglich an die Stelle „dieser Berufsordnung“. Wenngleich sich vereinzelte sonderprivatrechtliche Normen wie etwa § 44 oder § 51a BRAO fi nden, ist dort zum Auftragsrecht des BGB nichts bestimmt. Nach keinem denkbaren Ansatzpunkt lässt sich damit begründen, dass die Satzungsversammlung nach § 29 BORA i. V. m. Nr. 5.7. CCBE-Regeln eine zivilrechtliche Anspruchsgrundlage für nicht erfüllte Vergütungsansprüche eines anderen Rechtsanwalts schaffen könnte. Weder der Begründungsweg des AnwG Hamburg noch jener des AG Aachen über Nr. 5.7. CCBE-Regeln vermag daher zu überzeugen. Diese Erkenntnis ist freilich erst der Ausgangspunkt für weitere Überlegungen, an deren Ende in der Tat eine gesamtschuldnerische Haftung für die Vergütung eines anderen Anwalts stehen kann – wenngleich nicht schlicht auf § 29 BORA i. V. m. Nr. 5.7. CCBE-Regeln gestützt: Durch eine Anwendung von § 29 BORA i. V. m. Nr. 5.7. CCBE-Regeln wird die zu beurteilende Rechtsbeziehung unkritisch deutschem Sachrecht unterstellt, obwohl bereits die Anwendung der CCBE-Regeln belegt, dass es um einen Sachverhalt gehen muss, der nicht lediglich die deutsche Rechtsordnung berührt. Ob bei einem Streit über nicht gezahlte Anwaltshonorare überhaupt nach deutschem Sachrecht zu entscheiden ist, bedarf in jedem Einzelfall der Klärung. In die richtige Richtung deutet daher die mehr als 20 Jahre zurückliegende Entscheidung des OLG Hamburg aus dem Jahr 198946, die in späteren Verfahren nicht herangezogen worden ist: Dass nach deutschem Recht eine gesamtschuldnerische Haftung von Auftraggeber und Beauftragten für die Vergütung des Substituten nicht in Betracht kommt, bedeutet nicht, dass ein solches Haftungsmodell in einer ausländischen Rechtsordnung nicht existieren kann. Ergibt sich daher unter Zugrundelegung des deutschen Kollisionsrechts, dass die Rechtsbeziehung, in der es zum Streit über die nicht gezahlte Anwaltsvergütung gekommen ist, ausländischem Sachrecht unterfällt, ist zu klären, wie die Haftung für die Vergütung eines Substituten in diesem ausgestaltet ist. Diese Frage kann rein zivilrechtlich zu beantworten zu sein, weil das die Rechtsbeziehung zwischen einem Rechtsanwalt und seinem Auftraggeber bestimmende ausländische Vertragsrecht anders als das deutsche Auftragsrecht ausgestaltet ist. Sie kann aber auch – nach deutschem Verständnis – sonderprivatrechtlich bestimmt sein, so dass die Antwort über das ausländische Anwaltsrecht zu suchen ist: Zum einen kann dort der Gesetzgeber selbst den CCBE-Regeln Gesetzeskraft gegeben haben. Zum anderen ist ohne Weiteres denkbar, dass im ausländischen Recht das, was im deutschen Recht aus verfassungsrechtlichen Gründen aufgrund des Grundsatzes des Vorrangs des Gesetzes ausscheiden muss, möglich ist, nämlich dass Normsetzungsbefug46 BRAK-Mitt. 1990, 184 = IPRspr. 1989, Nr. 233b.
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nisse so weitreichend delegiert worden sind, dass z. B. die Anwaltschaft selbst entsprechende Verpfl ichtungen statuieren kann. Schließlich ist auch denkbar, dass durch eine inhaltsgleiche, allgemeine berufsrechtliche Regelung eine mit Nr. 5.7. CCBE-Regeln identische Rechtsfolge angeordnet ist. Ob eine Haftung des Rechtsanwalts für die Vergütung des Substituten anzunehmen ist, beantwortet sich daher nur am Ende eines komplizierten Prüfungsgangs, der Konsequenz der Tatsache ist, dass die CCBE-Regeln kein verbindliches Einheitsrecht darstellen. Zunächst zu klären ist, welchem Sachrecht die Rechtsbeziehung unterfällt47. Typischerweise ist in Ermangelung einer nach Art. 3 Rom I-VO möglichen Rechtswahl das Statut des Vertrages durch objektive Anknüpfung zu ermitteln. Der Anwaltsvertrag ist ein auf eine Geschäftsbesorgung gerichteter Dienstvertrag, der durch die Dienstleistung des Rechtsanwalts typisiert ist. Anzuknüpfen ist daher nach Art. 4 Abs. 1 lit b) Rom I-VO, so dass das Recht der (tatsächlichen) Niederlassung des Rechtsanwalts anwendbar ist48. Wird der Anwaltsvertrag mit einer Sozietät geschlossen, die Niederlassungen in mehreren Rechtsordnungen betreibt, ist nach Art. 19 Abs. 2 Rom I-VO diejenige Niederlassung maßgeblich, welche die vertraglichen Leistungen erbringt49. Werden mehrere Niederlassungen im Rahmen desselben Mandats tätig, führt dies bei einer hinreichenden Separierbarkeit der einzelnen Tätigkeitsbereiche zu einer getrennten Anknüpfung der einzelnen Tätigkeitsbereiche an das Recht der jeweils tätigen Niederlassung50. Ist eine Separierung nicht möglich, tritt das Recht des Ortes der Niederlassung zurück, die reine Hilfsfunktionen für die andere erbringt. Kann eine solche Gewichtung nicht vorgenommen werden, muss eine offene Schwerpunktanknüpfung über Art. 4 Abs. 4 Rom I-VO erfolgen51. Bei einer Beauftragung eines ausländischen Rechtsanwalts durch einen deutschen Kollegen ist damit typischerweise das ausländische Sachrecht berufen52. Es ist dann zu erklären, wie in diesem die Haftung für Vergütungsansprüche des Substituten ausgestaltet ist. Die Entscheidung des OLG Hamburg53 betraf einen solchen Fall der Beauftragung ausländischer durch deutsche Rechtsanwälte, so dass die Lösung über das niederländische Recht zu suchen war. Das OLG Hamburg ermittelte seinerzeit, dass eine Haftung für die Vergütung
47 Hierzu Kilian in Kilian/vom Stein/Offermann-Burckart, Praxishandbuch Anwaltsrecht, 2010, § 17 Rz. 35 f. 48 BGHZ 44, 181 ff.; BGH, RIW 1991, 513; BRAK-Mitt. 1990, 184 = IPRspr. 1989, Nr. 233b; LG Paderborn, EWS 1995, 248; LG Hamburg, NJW-RR 2000, 510; SozG Münster, AnwBl. 1992, 238; Henssler, JZ 1994, 178, 185; von Westphalen in FS Geimer, 2002, S. 1485, 1491. 49 Mankowski in Reithmann/Martiny, Internationales Vertragsrecht, 7. Aufl. 2009, Rz. 1426; Bendref, AnwBl. 1998, 309. 50 Mankowski in Reithmann/Martiny (Fn. 49), Rz. 1426. Vor Inkrafttreten der Rom I-VO folgte dies unmittelbar aus Art. 28 Abs. 1 Satz 2 EGBGB. 51 Zu den Kriterien für die Bestimmung des relativen Schwerpunkts Mankowski in Reithmann/Martiny (Fn. 49), Rz. 1427 ff. 52 Lörcher in Hartung/Römermann (Fn. 39), Nr. 5.7. CCBE Rz. 4. 53 OLG Hamburg, BRAK-Mitt. 1990, 184 = IPRspr. 1989, Nr. 233b, hierzu näher oben III. 6.
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des ausländischen Rechtsanwalts aus dem nationalen Standesrecht folge54. Unterstellt man, dass die fragliche Bestimmung der (damaligen) Standesregeln nach niederländischem Rechtsverständnis seinerzeit sonderprivatrechtlichen Gehalt hatte55, ist die Entscheidung des OLG Hamburg nicht zu kritisieren. Sie dürfte eine über den grenzüberschreitenden anwaltlichen Rechtsverkehr mit den Niederlanden hinausgehende Bedeutung haben: Eine Haftung deutscher Rechtsanwälte für die Vergütung beauftragter ausländischer Kollegen wird sich, wenn ausländisches Sachrecht zur Anwendung kommt, häufig ergeben – weniger, weil das ausländische Vertragsrecht eine solche Haftung anordnet, sondern weil Zivil- und Berufsrecht in vielen Rechtsordnungen deutlich weniger trennscharf miteinander verschränkt sind als im deutschen Recht. Verallgemeinerungen verbieten sich freilich, eine sorgfältige Prüfung ist in jedem Einzelfall vorzunehmen. Im umgekehrten Falle, d. h. bei Beauftragung eines deutschen Rechtsanwalts durch einen ausländischen Rechtsanwalt, gilt nach Maßgabe der Rom I-VO das deutsche Sachrecht. Die Entscheidung des AG Aachen56, der eine solche Fallkonstellation zu Grunde lag, wäre daher auch dann problematisch, wenn das Gericht nicht fälschlich unmittelbar Art. 5.7. CCBE-Regeln als Anspruchsgrundlage herangezogen, sondern eine international-privatrechtliche Lösung gesucht hätte. Hier hätte sich ergeben, dass die maßgebliche Rechtsbeziehung deutschem Recht unterfällt, das keine zivilrechtliche Haftung für die Vergütung des Substituten kennt. Diese Rechtslage kann auch nicht durch die Satzungsversammlung über § 29 BORA verändert werden. Die für deutsche Rechtsanwälte missliche Konsequenz kann daher nur durch eine sachgerechte Rechtswahl nach Art. 3 Rom I-VO vermieden werden, soweit ein Recht gewählt wird, das die Haftung für die Vergütung aus Sicht des Beauftragten günstiger als das deutsche Recht ausgestaltet. Wie stets gilt: All‘ diese mühsamen Umwege vermeidet, wer im Rechtsverkehr mit ausländischen Rechtsanwälten kautelarjuristische Umsicht walten lässt und alle wichtigen Fragen der Zusammenarbeit in kollegialem Austausch einvernehmlich individualvertraglich regelt57. c) Nr. 3.8.1.5. lit. b) CCBE-Regeln als gesetzliches Aufrechnungsverbot? Auf einer anderen Ebene sind die Probleme angesiedelt, die die Entscheidung des OLG Düsseldorf58 zu Nr. 3.8.1.5 lit. b) CCBE-Regeln mit sich bringt – soweit man einmal darüber hinwegsieht, dass sie wegen der Anwendung der CCBERegeln auf einen Inlandssachverhalt nicht zu überzeugen vermag (siehe zu die-
54 Die CCBE-Regeln waren auf den Sachverhalt noch nicht anwendbar. Heute wäre vorrangig zu prüfen, ob Nr. 5.7. CCBE-Regeln („Gedragscode voor Europese advocaten“) zur „Financiële aansprakelijkheid“ nach niederländischem Verständnis unmittelbar haftungsbegründend ist. 55 Das OLG Hamburg stützte sich auf eine entsprechende Auskunft der niederländischen Rechtsanwaltskammer, nach der aus Sicht des niederländischen Rechts die Urheberschaft einer Norm für ihre zivilrechtliche Relevanz ohne Bedeutung sei, vgl. BRAK-Mitt. 1990, 184. 56 AG Aachen, BRAK-Mitt. 1998, 51 = GI 1998, 272 (Ls.), hierzu näher oben III. 5. 57 Hierauf weist auch der CCBE im Explanatory Memorandum 2006, S. 30, hin. 58 OLG Düsseldorf, AnwBl. 2005, 787 sowie oben III. 3.
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ser Frage bereits oben IV. 2.). Bei unterstellter Richtigkeit der Argumentation, dass Nr. 3.8.1.5. lit. b) CCBE-Regeln eine Aufrechnung mit der Vergütungsforderung gegen den Anspruch auf Auszahlung von Fremdgeld verbiete, würde das OLG Düsseldorf der CCBE-Regel die Qualität eines gesetzlichen Aufrechnungsverbots zusprechen. Mit einem Federstrich wäre damit die etablierte Rspr. gegenstandslos, nach der auch bei fehlender Vereinbarung einer Verrechnungsklausel die Möglichkeit des Rechtsanwalts, einseitig eine Aufrechnung nach §§ 387 ff. BGB zu erklären, unberührt bleibt59. Eine solche Aufrechnung durch den Rechtsanwalt ist zivilrechtlich weder explizit gesetzlich gestattet noch in irgendeiner Weise für bestimmte Sachverhalte untersagt. Ihre Zulässigkeit folgt im Ergebnis aus dem Fehlen eines spezifischen gesetzlichen Aufrechnungsverbots und der Annahme, dass sich ein solches im Regelfall auch nicht aus der Eigenart des Schuldverhältnisses zwischen Rechtsanwalt und Mandant aus § 242 BGB ergibt. Gesetzliche Aufrechnungsverbote können sich, da die Vorschriften der §§ 390 – 394 BGB keinen abschließenden Katalog von Aufrechnungsverboten bestimmen, aus beliebigen spezialgesetzlichen Vorschriften60 und damit grundsätzlich auch aus berufsrechtlichen Normen ergeben. Die BRAO enthält sich der Regelung entsprechender Fragen. § 43a Abs. 5 S. 2 BRAO, nach dem Fremdgelder unverzüglich an den Berechtigten weiterzuleiten sind, lässt sich nicht entnehmen, dass die Fremdgelder zuvor nicht durch eine Aufrechnung geschmälert werden dürfen. In § 4 Abs. 3 BORA fi ndet sich allerdings eine Regelung, nach der eine Aufrechnung nur dann ausnahmsweise unzulässig ist, wenn es sich bei den Geldern nicht um solche handelt, die zweckgebunden an andere Personen fl ießen sollen als den Mandanten. Die Vorschrift stützt sich auf § 59b Abs. 2 Nr. 1 lit. f.) BRAO, in dem der Satzungsgeber ermächtigt wird, die allgemeinen Grundpfl ichten und Berufspfl ichten beim Umgang mit fremden Vermögenswerten näher zu regeln. Sie fasst den Status Quo der Rspr. zur Aufrechnungsbefugnis von Rechtsanwälten zusammen61. Tradiertem Verständnis entspricht es, dass das Treuhandverhältnis, das der Rechtsanwalt mit seinen Mandanten hinsichtlich des eingezogenen Streitgegenstandes eingeht, dem Rechtsanwalt nicht die Aufrechnung verwehrt, da der Mandant in aller Regel kein schützenswertes Interesse daran haben kann, dass die Aufrechnung unterbleibt. Demgemäß ist der Rechtsanwalt grundsätzlich nicht gehindert, sich durch Aufrechnung mit Vergütungsansprüchen aus nicht zweckgebundenen Fremdgeldern zu befriedigen. Dies gilt auch dann, wenn die Vergütungsansprüche nicht gerade den Auftrag betreffen, der zu dem Geldeingang geführt hat62. Soweit im grenzüberschreitenden Rechtsverkehr nach § 29 BORA anstelle der Berufsordnung die CCBE-Regeln – und damit statt § 4 Abs. 3 BORA die Nr. 3.8.1.5. lit. b) CCBE-Regeln – gelten soll, führt dies zu einer in sich widersprüchlichen Rechtslage63. Die Satzungsversammlung ist zwar nicht gehindert, die grenzüberschreitende Berufsausübung anderen Anforderungen zu unterwer59 Vgl. Offermann-Burckart in Henssler/Prütting (Fn. 32), Nr. 3.8 CCBE Rz. 10; Koch/ Kilian, Anwaltliches Berufsrecht, 2007, Rz. B. 451; Isele, BRAO, 1976, Anhang zu § 43 (S. 610). 60 Vgl. Schlüter in MünchKomm. BGB, Band 2, 5. Aufl. 2007, § 387 BGB Rz. 56. 61 Henssler in Henssler/Prütting (Fn. 32), § 4 BORA Rz. 9. 62 Vgl. BGH, NJW-RR 2004, 1145, 1146. 63 Vgl. auch Offermann-Burckart in Henssler/Prütting (Fn. 32), Nr. 3.8 CCBE Rz. 10.
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fen als die inländische Berufsausübung. Zweifelhaft erscheint indes, ob sich ein pauschales Aufrechnungsverbot im grenzüberschreitenden Rechtsverkehr auf vernünftige Erwägungen des Gemeinwohls stützen könnte. Da deutsches Verfassungsrecht Vorrang vor der fraglichen CCBE-Regel hat (vgl. auch § 29 BORA), könnte die CCBE-Regel keine Wirkungen entfalten. Die Rechtfertigung durch Gemeinwohlerwägungen wäre nur dann zu bejahen, wenn sich aus dem grenzüberschreitenden Element der Berufsausübung ein eigenständiger Anknüpfungspunkt ergäbe, der anders als in reinen Inlandssachverhalten ein Aufrechnungsverbot trägt. Ohne dass diese verfassungsrechtliche Detailfrage hier abschließend beantwortet werden kann, seien doch Zweifel angemeldet: Ein schützenswertes Interesse des Mandanten daran, dass eine Aufrechnung gegen seinen Anspruch auf Auszahlung der vereinnahmten Fremdgelder unterbleibt, lässt sich nicht ausmachen. Besonders schutzbedürftige Mandanten erhalten seit jeher über § 242 BGB eine hinreichende Absicherung gegen sie nachhaltig benachteiligenden Aufrechnungen. § 4 Abs 3 BORA ist Ausdruck dieses Regel-Ausnahmeverhältnisses. Einen Rechtsanwalt pauschal daran zu hindern, berechtigte Vergütungsansprüche im Aufrechnungswege zu realisieren, würde seine Berufsausübung empfi ndlich beeinträchtigen und nicht selten zu unnötigen Transaktionen bis hin zu Vergütungsklagen führen. Gerade bei grenzüberschreitenden Sachverhalten ist aufgrund der praktischen Schwierigkeiten bei der zwangsweisen Durchsetzung von Vergütungsansprüchen das Interesse, durch eine Aufrechnung Befriedigung zu erlangen, besonders schutzwürdig. Vor diesem Hintergrund ist das Judikat des OLG Düsseldorf ein Beispielfall dafür, dass nicht nur der Grundsatz des Vorrangs des Gesetzes Probleme bei der Übernahme von CCBE-Berufsregeln in das deutsche Satzungsrecht bereiten kann, sondern auch die Intensität des Grundrechtsschutzes durch das Grundgesetz: Während in vielen ausländischen Berufsrechten, die die CCBERegeln in ihrem Gehalt zwangsläufig beeinflussen, die früher auch in Deutschland beliebte Berufsbildpflege weiterhin eine gewisse Rolle spielt, verlangt das deutsche Recht eine strikte Gemeinwohlorientierung jeder Berufsausübungsregelung. Nr. 3.8.1.5. CCBE-Regeln ist Ausdruck dieses Problems: Die Vorschrift beruht auf einer Entschließung des CCBE aus dem Jahr 1985, der seinerzeit die für englische Solicitors geltenden Berufsregeln zu Grunde gelegt wurden. Es handelte sich zum damaligen Zeitpunkt um die europaweit strengsten berufsrechtlichen Anforderungen an den Umgang mit Mandantengeldern64 und damit um keine Regelung, die an aktuellen verfassungsrechtlichen Anforderungen des deutschen Rechts orientiert wäre. Ihre problematische Strenge hat zwischenzeitlich auch der CCBE erkannt – die aktuelle Fassung der CCBE-Regeln, auf die § 29 BORA bislang noch keinen Bezug nimmt, enthält ein Nr. 3.8.1.5 lit. b) CCBE-Regeln entsprechendes Verbot nicht mehr65.
64 Lörcher in Hartung/Römermann (Fn. 39), Nr. 3.8 CCBE Rz. 3. 65 Vgl. Offermann-Burckart in Henssler/Prütting (Fn. 32), Nr. 3.8 CCBE Rz. 14. Notwendig ist nur noch eine entsprechende schriftliche Informierung des Mandanten.
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V. Zusammenfassung 1. Die CCBE-Regeln stellen entgegen einer in der Rechtsprechung deutscher Gerichte verbreiteten Anschauung weder verbindliches Einheitsrecht noch transnationales Recht dar, sondern sind reines Verbandsrecht. 2. Die CCBE-Regeln sollen das aus dem Grundsatz der double deontology des europäischen Anwaltsrechts folgende Problem der Normenhäufung adressieren. Die ihnen zugedachte Funktion der Erleichterung der grenzüberschreitenden Anwaltstätigkeit können sie solange nicht ausfüllen, wie sie aus rechtspolitischen oder verfassungsrechtlichen Gründen in den Mitgliedstaaten keine uneingeschränkte Verbindlichkeit beanspruchen können. Das Maß ihrer Verbindlichkeit für das Anwaltsrecht oder andere Rechtsmaterien, die die anwaltliche Berufstätigkeit rechtlich determinieren, variiert hierbei von Mitgliedstaat zu Mitgliedstaat. 3. Die CCBE-Regeln sind im deutschen Recht Satzungsrecht und können daher bei Anwendung deutschen Sachrechts in grenzüberschreitenden Sachverhalten nur in dem Maße verbindlich sein, wie der Satzungsgeber im Rahmen der auf ihn nach § 59b BRAO delegierten Normsetzungsbefugnis Gestaltungsmacht hat. 4. In reinen Inlandssachverhalten beschränkt sich die Funktion der CCBERegeln auf eine Auslegungshilfe zur Ausfüllung unbestimmter Rechtsbegriffe des deutschen Berufsrechts. 5. In grenzüberschreitenden Sachverhalten können die CCBE-Regeln bei Geltung deutschen Sachrechts Zivilrechtsverhältnisse nicht abweichend vom BGB gestalten, etwa indem einzelne CCBE-Regeln als Anspruchsgrundlage oder gesetzliches Aufrechnungsverbot behandelt werden. 6. Bedeutung können die CCBE-Regeln in grenzüberschreitenden Sachverhalten in zivilrechtlichen Fragen haben, soweit nach kollisionsrechtlichen Grundsätzen ausländisches Sachrecht berufen ist und dieses durch die CCBERegeln gestaltet werden kann oder die CCBE-Regeln lediglich die Rechtslage nach dem ausländischen Recht wiedergeben.
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Die freie Anwaltswahl – ein fundamentales rechtsstaatliches Prinzip auch in der Rechtsschutzversicherung – Gedanken zum Urteil Eschig des EuGH und seinen Folgen Inhaltsübersicht I. Einleitung II. Der Fall Eschig 1. Die Rechtsschutzversicherungs-RL 87/334/EWG 2. Die Umsetzung der RSV-RL in Österreich 3. Die „Massenschaden-Klausel“ 4. Das Urteil Eschig, EuGH v. 10.9.2009 – C-199/08
a) Die Erwägungsgründe b) Konsequenzen III. Vorabentscheidungsersuchen D.A.S. Österreichische Allgemeine Rechtsschutzversicherung AG / Stark 1. Vorlagebeschluss LG Innsbruck v. 22.4.2010 zu C-293/10 2. Anmerkungen IV. Abschlussüberlegung
I. Einleitung Die Produkte der Rechtsschutzversicherer bieten für Risken und Rechtsgebiete, für welche Deckung geboten wird (eine allgemeine Rechtsschutz- oder „Vollrechtsschutz“-Polizze wird ja, soweit ersichtlich, bislang nicht angeboten1), einen wichtigen Beitrag zur Rechtsdurchsetzung und Verschaffung des rechtlichen Gehörs der Versicherten. Rechtsschutzversicherungsprodukte tragen somit insgesamt zu einer besseren und umfassenderen Rechtsversorgung der Zivilgesellschaft bei. Ihre Bedeutung wird angesichts der ständig wachsenden Komplexität rechtlicher Gestaltungen und der Gesetzeslage tendenziell zunehmen. Rechtsschutzversicherungen haben daher am Rechtsdienstleistungsmarkt eine erhebliche Position inne2, wenn nicht ohnedies, je nach Defi nition des relevanten Marktes, eine im kartellrechtlichen Sinn marktmächtige bzw. marktbeherrschende Stellung.
1 Van Bühren, Rechtsschutz – aktuelle Entwicklung des Bedingungsmarktes, AnwBl 2007, 473. 2 Zur Marktbedeutung und dem Prämienaufkommen der Rechtsschutzversicherer in Deutschland (für 2007) vgl. van Bühren, AnwBl 2007, 473; auch für Österreich ergeben die Statistiken, soweit veröffentlicht, kontinuierlich trotz Wirtschaftskrise anwachsende Prämienvolumina in allen Sparten; für 2009 wird auf der Website des Versicherungsverbandes Österreich unter www.vvo.at für alle Sparten (ohne nähere Aufschlüsselung hinsichtlich der Rechtsschutzversicherung) ein Zuwachs des Prämienvolumens von 1,5 % auf 16,458 Milliarden Euro bei einer Gesamtversicherungsleistung von 12,230 Milliarden Euro angegeben. Der Jahresbericht 2009 des Versicherungsverbandes Österreich weist ebenfalls eine steigende Anzahl der Rechtsschutz-Verträge aus (Steigerung von 2005 mit 2.915.230 RSV-Verträgen auf 2.9999.608 in 2009).
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Marcella Prunbauer-Glaser
Die Beziehung der Rechtsschutzversicherer zur Anwaltschaft, welche unabhängig und allein dem Mandanteninteresse verpflichtet für die Rechtsberatung und -vertretung der Rechtsschutzversicherungsnehmer berufen ist, gerät zunehmend in ein kritisches Spannungsverhältnis. Der frei gewählte Anwalt wird aus der Sicht der Rechtsschutzversicherungswirtschaft im Sinne der Prämienrentabilität und Optimierung der Erträge immer mehr zu einem „Störfaktor“, der deren Erwartungen auf eine kostenorientierte Erledigung in Deckungsfällen zu relativieren vermag. Die Anwaltsvereinigungen und Anwaltschaften Europas registrieren mit Sorge Entwicklungen im Bereich der Rechtsschutzversicherer und deren Dachorganisation RIAD (Internationale Vereinigung der Rechtsschutzversicherungen), die darauf abzielen, die freie Anwaltswahl und darüber hinaus überhaupt die Beiziehung von Rechtsanwälten in Rechtsschutzversicherungsfällen auszuschalten, zu unterlaufen oder zumindest zu beschränken. Der Hintergrund dafür ist ein wirtschaftliches Interesse der Rechtsschutzversicherer3. Dem gegenüber steht das Interesse des Rechtssuchenden, mit dem Anwalt seiner Wahl und seines Vertrauens für die Durchsetzung seiner rechtlichen Interessen zu kämpfen. Gleichzeitig sind die Rechtsschutzversicherer ganz unabhängig vom eigenunternehmerischen Interesse einer Gewinnoptimierung aus den Rechtsschutzversicherungsverträgen an sich anfällig für Interessenskollisionen im Verhältnis zu den Versicherten. Dies etwa dahingehend, dass nicht nur der Versicherte selbst, sondern auch sein Anspruchsgegner bei derselben Rechtsschutzversicherung versichert sein könnte; weiters, dass der Versicherte neben der Rechtsschutzversicherung beim selben Versicherer noch in einer anderen Sparte versichert sein kann, wodurch ein Spannungsverhältnis der Interessen innerhalb des Rechtsschutzversicherers begründet wird4. Dieses Spannungsverhältnis ist einer der Gründe, weshalb die Rechtsschutzversicherung zu den wenigen Bereichen des Versicherungsvertragsrechtes gehört, die gemeinschaftsweit harmonisiert sind. Die Rechtsschutzversicherungs-RL (RSV-RL)5 zielt u. a. darauf ab, einheitliche Standards für den Schutz von Rechtsschutzversicherungsnehmern vor Interessenskollisionen beim Versicherer festzulegen, um dadurch (primär zunächst aus Binnenmarktüberlegungen) Marktzugangsschranken zu den Versicherungsmärkten abzubauen6. Die RSV-RL anerkennt gleichzeitig mehrfach ein Recht des Rechtsschutzversicherungsnehmers auf die freie Wahl des Anwalts seines 3 Beispielshaft vgl. z. B. für Deutschland: Creutz, Zerrüttetes Verhältnis – Anwälte und Rechtsschutzversicherer liegen im Clinch, BRAKMagazin 2009, 4 ff.; P. Schons, Beziehungskrise ohne Happy-End? Die Anwaltschaft und die Rechtsschutzversicherungen, AnwBl 2007, 523; vgl. für Österreich: Saupe, Der Rechtsschutzversicherer als Rechtsanwalt?, Österreichisches Anwaltsblatt 2008, 447; Benn-Ibler, Rechtsschutz und Rechtsschutzversicherung, Österreichisches Anwaltsblatt 2008, 297. 4 Z. B. im Verhältnis der Rechtsschutzversicherung zur Haftpfl ichtversicherung; siehe dazu Schauer, Freie Anwaltswahl in der Rechtsschutzversicherung – Der Fall Eschig/ Uniqa vor dem EuGH, RdW 2009, 702 m. w. N. 5 Richtlinie 87/344/EWG des Rates vom 22.6.1987 zur Koordinierung der Rechtsund Verwaltungsvorschriften für die Rechtsschutzversicherung, ABl. vom 4.7.1987, L 185/77. 6 Mit der Einigung auf die RSV-RL konnte das zuvor in Deutschland maßgebliche Spartentrennungsprinzip aufgegeben werden; siehe Erwägungsgründe [2], [8], [9] der RSV-RL und Literaturnachweise bei Schauer, RdW 2009, 702.
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Die freie Anwaltswahl
Vertrauens. Ausgehend von der österreichischen Umsetzung der RSV-RL hat der EuGH kürzlich, soweit ersichtlich überhaupt erstmals, zur Reichweite des Grundsatzes der freien Anwaltswahl i. S. der RSV-RL im Zusammenhang mit sogenannten „Massenschadensklauseln“ Stellung genommen7. Als eine Konsequenz daraus ist jüngst aus Österreich ein weiteres Vorabentscheidungsersuchen im Zusammenhang mit einer „geographischen“ Beschränkung i. S. einer Sprengelbeschränkung der Anwaltswahl an den EuGH herangetragen worden8. Die Europäische Kommission war offenbar infolge des Urteils Eschig des EuGH im Begriff, eine „Doktrin“ zur Abgrenzung des Prinzips der freien Anwaltswahl im Zusammenhang mit Gerichtsverfahren unter maßgeblicher Einbeziehung der Versicherungswirtschaft zu erarbeiten, welche dem Vernehmen nach sogar den Entwurf der „Doktrin“ vorbereiten sollte. Die österreichischen Ausgangsfälle bieten Anlass zu grundsätzlicheren Gedanken zum Recht der Unionsbürger auf die freie Wahl des Anwaltes ihres Vertrauens.
II. Der Fall Eschig 1. Die Rechtsschutzversicherungs-RL 87/334/EWG RSV-RL enthält zunächst ein durchaus komplexes System hinsichtlich der Organisationsstruktur mit dem Ziel der Vermeidung von Interessenskollisionen zwischen dem Rechtsschutzversicherer und seinen Versicherungsvertragsnehmern. Die Mitgliedsstaaten müssen sicher stellen, dass zumindest eines von drei alternativen, von der RSV-RL als gleichwertig angesehenen Organisationsmodellen für Rechtsschutzversicherer zur Verfügung stehen (Art. 3 Abs. 2 RSVRL): Nämlich entweder ein Modell der getrennten Schadenregulierung, wonach Personal, das sich mit der Schadenregulierung in der Rechtsschutzversicherung befasst, keine gleichen oder ähnlichen Tätigkeiten in einem anderen Versicherungszweig ausübt (Art. 3 Abs. 2 lit. a RSV-RL); oder ein Modell einer auf ein eigenständiges rechtlich unabhängiges Unternehmen ausgegliederten Schadenregulierung in der Rechtsschutzversicherung (Art. 3 Abs. 2 lit. b RSV-RL); weiters das Modell „freie Anwaltswahl“, wonach der Versicherungsnehmer das Recht hat, die Vertretung seiner Interessen einem Rechtsanwalt seiner Wahl, oder, soweit das nationale Recht dies zulässt, jeder anderen entsprechend qualifi zierten Person, zu übertragen, sobald er das Tätigwerden des Versicherers aufgrund der Polizze verlangen kann (Art. 3 Abs. 2 lit. c RSV-RL)9. 7 EuGH v. 10.9.2009 – Rs. C-199/08 – Eschig/Uniqa; Leitsatz veröffentlicht z. B. in RdW 2009/650. 8 Vorabentscheidungsersuchen D.A.S./Stark des LG Innsbruck v. 22.4.2010, EuGH C-293/10. 9 In Österreich sind nur die getrennte und die ausgegliederte Schadensregulierung, nicht aber die Variante „Anwaltsmodell“ des Art. 3 Abs. 2 lit. c RSV-RL zugelassen (§ 12 VAG). Das Organisationsmodell „freie Anwaltswahl“ wurde mit der VAG-Novelle 1994 BGBl. 1994/652 wieder fallen gelassen, da gemäß der RV zur VAG Novelle 1994 (1682 der Beilagen zu den StenProt. des Nationalrates XVIII.GP) diese Variante in der Praxis nicht zielführend sei, weil der Rechtsanwalt zwangsläufig in einen Konfl ikt zwischen der Wahrung der Interessen des Versicherten und der Interessen des Versicherungsunternehmers gerate. Das Bedürfnis nach dieser Variante sei nach den RV gering.
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Sollte es trotz der Vorkehrung hinsichtlich der Organisationsform bei der Schadensregulierung zu konkreten Interessenkollisionen kommen10, ist der Rechtsschutzversicherte jedenfalls berechtigt, einen Rechtsanwalt frei zu wählen (Art. 4 Abs. 1 lit. b RSV-RL). Darüber hinaus und unabhängig vom Eintritt einer Interessenskollision ist in jedem Rechtsschutz-Versicherungsvertrag ausdrücklich das Recht auf Inanspruchnahme eines Rechtsanwaltes nach freier Wahl des Versicherten anzuerkennen, um diesen in einem Gerichts- oder Verwaltungsverfahren zu verteidigen, zu vertreten oder seine Interessen wahrzunehmen (Art. 4 Abs. 1 lit. a RSV-RL)11. Aus der RSV-RL folgt somit ein Recht auf freie Anwaltswahl in dreifacher Weise: einerseits als Organisationsmodell zur vorbeugenden Verhinderung von Interessenskollisionen zwischen Versicherungsnehmer und seiner RSV mit einem frei gewählten Rechtsanwalt als unabhängigem Schadensregulator (dies, soweit ein Mitgliedsstaat von dieser Option, anders als z. B. Österreich, Gebrauch gemacht hat; Art. 3 Abs. 2 lit. c RSV-RL), andererseits stets und umfassend bei Eintritt einer konkreten Interessenskollision (Art. 4 Abs. 1 lit. b RSV-RL) sowie weiters stets im Zusammenhang mit einem Gerichts- oder Verwaltungsverfahren (Art. 4 Abs. 1 lit. a RSV-RL)12. Die Reichweite des Grundsatzes der freien Anwaltswahl, wie er in Art. 4 Abs. 1 lit. a RSV-RL festgelegt ist, ist in Bezug auf Verzichts- oder vertragliche Einschränkungsmöglichkeiten in ARB bzw. nach nationalen gesetzlichen Regelungen, etwa im Wege einer teleologisch reduzierenden Interpretation für Fälle, die nicht vom Wortlaut der RSV-RL erfasst sind, spätestens seit dem Aufkommen von Massenschadensfällen (sog. „Kumulfällen“), jedenfalls in Österreich Gegenstand der Diskussion in der Literatur. Diese gipfelte in der Frage, ob nicht Deckungskostenüberlegungen bei den Versicherern und ein Deckungsinteresse der Gemeinschaft aller Versicherten in besonderen Fällen wie „Kumulfällen“ Vorrang haben müssten, anstatt auf dem „Altar der freien Anwaltswahl“ geopfert zu werden, nur um den Grundsatz des Art. 4 Abs. 1 lit. a der RSV-RL ausnahmslos zur Geltung zu bringen13.
10 Z. B. wenn der Rechtsschutzversicherer beiden Parteien zur Deckung aus einer RSV verpfl ichtet ist. 11 Siehe Erwägungsgrund [11] der RSV-RL. Die deutsche Sprachfassung: „Das Interesse des Rechtsschutzversicherten setzt voraus, dass Letzterer selbst seinen Rechtsanwalt oder eine andere Person wählen kann, die die nach den einzelstaatlichen Vorschriften im Rahmen von Gerichts- und Verwaltungsverfahren anerkannten Qualifikationen besitzt, und zwar immer, wenn es zu einer Interessenskollision kommt“ könnte zwar ein eingeschränktes Verständnis ermöglichen. Generalanwältin Trstenjak hat in ihren Schlussanträgen vom 14.5.2009, Rs. C-199/08 Rz. 71 nachgewiesen, dass die deutsche Sprachfassung von den anderen Sprachfassungen abweicht, wonach das Interesse des Rechtsschutzversicherten an der freien Wahl seines Rechtsvertreters im Rahmen von Verfahren unabhängig vom Schutz vor Interessenskollisionen besteht. 12 Vgl. Schauer, RdW 2009, 702 m. w. N. 13 Fenyves, Zur Zulässigkeit der „Massenschadens-Klausel“ in der Rechtsschutzversicherung, VR 2006, 22 ff. (24); Kronsteiner, Die neuen Musterbedingungen für die Rechtsschutzversicherung, VR 1994, 172; Kronsteiner in Fenyves/Kronsteiner/ Schauer, Kommentar zu den Novellen zum VersVG (1998) E 158k RZ 22.
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Die freie Anwaltswahl
2. Die Umsetzung der RSV-RL in Österreich Der österreichische Gesetzgeber hat die vertragsrechtlichen Bestimmungen über das freie Rechtsvertreterwahlrecht in § 158k VersVG umgesetzt, die organisatorischen Vorschriften in § 12 VAG14. § 158k VersVG bestimmt, soweit hier von Interesse: „(1) Der Versicherungsnehmer ist berechtigt, zu seiner Vertretung in einem Gerichts- oder Verwaltungsverfahren eine zur berufsmäßigen Parteienvertretung befugte Person frei zu wählen. Darüber hinaus kann der Versicherungsnehmer zur sonstigen Wahrnehmung seiner rechtlichen Interessen einen Rechtsanwalt frei wählen, wenn beim Versicherungsnehmer eine Interessenskollision entstanden ist. (2) Im Versicherungsvertrag kann vereinbart werden, dass der Versicherungsnehmer zu seiner Vertretung in einem Gerichts- oder Verwaltungsverfahren nur solche zur berufsmäßigen Parteienvertretung befugte Personen wählen darf, die ihren Kanzleisitz am Ort der Gerichts- oder Verwaltungsbehörde haben, die für das durchzuführende Verfahren in erster Instanz zuständig ist. Für den Fall, dass an diesem Ort nicht mindestens vier solcher Personen ihren Kanzleisitz haben, muss sich das Wahlrecht auf Personen im Sprengel desjenigen Gerichtshofs erster Instanz erstrecken, in dem sich die genannte Behörde befi ndet. (3) …“
Die Umsetzungsbestimmungen sind zugunsten des Versicherungsnehmers zwingendes Recht15. Während § 158k Abs. 1 VersVG die gemeinschaftlichen Vorgaben nahezu wortgleich umsetzt16, geht die Bestimmung des § 158k Abs. 2 VersVG, wonach der Versicherungsnehmer zu seiner Vertretung in einem Gerichts- oder Verwaltungsverfahren nur solche berufsmäßigen Parteienvertreter wählen darf, die ihren Kanzleisitz am Ort der Gerichts- und Verwaltungsbehörde haben, die für das Verfahren erster Instanz zuständig ist, unbestreitbar über die Vorgaben RSV-RL hinaus. Die „geographische“ Einschränkung der freien Anwaltswahl auf sprengelansässige Anwälte könne nach den Vorstellungen des Gesetzgebers kostensparend und prämiensenkend wirken17. Sie führt aber dazu, dass der Versicherungsnehmer oftmals einen Rechtsanwalt „wählen“ muss, mit dem aufgrund der örtlichen Distanz zum Prozessgericht eine unmittelbare persönliche Besprechung und eine entsprechende Vertrauensbildung schwer möglich
14 Siehe auch Kronsteiner, Rechtsschutz-RL, Interessenkollision und freie Anwaltswahl, VR 2003, 36; Schauer, RdW 2009, 702 ff. m. w. N. 15 § 158p VersVG. 16 Vgl. aber die sprachlich feine, im Ergebnis dennoch gegenüber der RSV-RL einschränkende Formulierung der Umsetzungsbestimmung „… ist berechtigt, zu seiner Vertretung in einem Gerichts- oder Verwaltungsverfahren eine zur berufsmäßigen Parteienvertretung befugte Person frei zu wählen …“ vs. den RL-Wortlaut: „… um in einem Gerichts- oder Verwaltungsverfahren den Versicherten zu verteidigen, zu vertreten oder seine Interessen wahrzunehmen …“. 17 Siehe Nachweise bei Schauer, RdW 2009, 702 (706) m. w. N.
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ist, was u. a. letztlich auch Anlass des weiteren Vorabentscheidungsersuchens an den EuGH zu C-293/10 war18. Gegen die Zulässigkeit der „geographischen“ Sprengelbeschränkung („Loco“Bestimmung) wurden in Österreich mit wenigen Ausnahmen zunächst keine besonderen Bedenken geäußert. Eine Studie der RIAD verweise auf die „Möglichkeit anderer Einschränkungen, insbesondere territorialer Art, die durch die RL nicht formell ausgeschlossen wird; sie hängt von den geltenden Gebräuchen und Gesetzen jedes Landes ab“. Dies wurde als ernst zu nehmendes Indiz dafür gewertet, dass es Einschränkungen des Prinzips der freien Anwaltswahl für Fälle gebe, die nach dem Wortlaut der RSV-RL nicht expressis verbis vorgesehen sind19. Eine § 3 Abs. 3 BRAO vergleichbare ausdrückliche gesetzliche Bestimmung, wonach jedermann im Rahmen der gesetzlichen Vorschriften das Recht hat, sich in Rechtsangelegenheiten aller Art durch einen Rechtsanwalt seiner Wahl beraten und vor Gerichten, Schiedsgerichten oder Behörden vertreten zu lassen, besteht im österreichischen Recht nicht. 3. Die „Massenschaden-Klausel“ Ausgangspunkt der Entscheidung Eschig/Uniqa des EuGH war eine erstmals in den ARB 1994 aus Anlass von Anlegerskandalen eingeführte allgemeine Versicherungsbedingung, die bei Massenschäden das Recht des Versicherungsnehmers auf freie Anwaltswahl einschränkt und beim Zusammenbruch der AMIS-Finanzgruppe mit mindestens 16.000 Geschädigten, wovon rund 180 beim beklagten Versicherer eine Rechtsschutzversicherung hatten, virulent wurde. Herr Eschig begehrte Rechtsschutzdeckung für das Einschreiten der von ihm gewählten Anwälte, welche ihm unter Berufung auf die „Massenschadenklausel“ verwehrt wurde, welche lautet20: „Genießen mehrere Versicherungsnehmer zur Wahrung ihrer rechtlichen Interessen Versicherungsschutz aus einem oder mehreren Versicherungsverträgen und sind ihre Interessen aufgrund der gleichen oder einer gleichartigen Ursache gegen den/dieselben Gegner gerichtet, dann soll der Versicherer berechtigt sein, seine Leistung vorerst auf die außergerichtliche Wahrnehmung der rechtlichen Interessen und die Führung von Musterprozessen durch von ihm ausgewählte Rechtsvertreter zu beschränken. Wenn oder sobald die Versicherungsnehmer durch diese Maßnahmen nicht ausreichend gegen einen Verlust ihrer Ansprüche, insbesondere gegen drohende Verjährung geschützt sind, übernimmt der Versicherer darüber hinaus die Kosten für Gemeinschaftsklagen oder
18 Siehe Fn. 8. In der gelebten Praxis ersetzen die Rechtsschutzversicherer i. d. R. auch die Kosten „sprengelfremder“ Anwälte, soferne sich diese verpfl ichten, zum selben Tarif wie ortsansässige Anwälte abzurechnen (sogenannter „Loco-Tarif“). 19 Fenyves, VR 2006, 24 m. w. N. Weitere Literaturnachweise in dieser Richtung bei Schauer, RdW 2009, 706. Kritisch hingegen Pichler, Rechtsschutzversicherung und (un-)freie Anwaltswahl, AnwBl 2008, 199; überzeugend zur Richtlinienwidrigkeit des § 158k Abs. 2 VersVG Schauer, RdW 2009, 706; insoweit nach Vorliegen der E des EuGH Eschig/Uniqa (Fn. 7) letztlich zustimmend auch Fenyves, ÖJZ 2010, 468. 20 Art. 10.4.4 i. V. m. Art. 6.7.3 ARB 1994; unverändert noch in den ARB 2007; geringfügig abgeändert in den ARB 2010. Zu den die Klausel befürwortenden Literaturstimmen siehe oben Fn. 13.
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Die freie Anwaltswahl sonstige Formen außergerichtlicher oder gerichtlicher Interessenwahrnehmung durch von ihm ausgewählte Rechtsvertreter.“
Im Ausgangsverfahren hatte erst der OGH Zweifel hinsichtlich der Vereinbarkeit der Klausel mit Art. 4 Abs. 1 lit. a der RSV-RL. Einerseits sehe diese Bestimmung einen Anspruch auf freie Wahl des Rechtsvertreters vor. Andererseits ließen sich für ein Auswahlrecht des Rechtsschutzversicherers in „Kumulfällen“ aus teleologischer Sicht sachliche Gründe wie eine entsprechende Kostenbegrenzungsmöglichkeit durch den Versicherer als Organisator und Koordinator im Interesse auch der Versicherungsgemeinschaft ins Treffen führen. Die RSVRL gehe vom Modell der konventionellen Geltendmachung von Ansprüchen durch den einzelnen Versicherungsnehmer aus; insoweit könnte eine „Massenschadenklausel“ als Ergänzung des in der RSV-RL formulierten Grundsatzes der freien Anwaltswahl angesehen werden. Allerdings sei jedenfalls eine Klarstellung geboten, nach welchen Kriterien die Grenzziehung zwischen einem „konventionellen Fall“ und einer „Kumulschadenssituation“ zu ziehen ist; eine Klausel, die bereits die Involvierung bloß „mehrerer Versicherungsnehmer“ genügen lässt, um den Versicherern das Auswahlrecht zuzuerkennen, sei im Sinne der Intentionen und Anforderungen der RSV-RL problematisch 21. Die Vorlagefragen waren auf die Vereinbarkeit der „Massenschadenklausel“ im Hinblick auf den Grundsatz des Art. 4 Abs. 1 lit. a der RSV-RL beschränkt. Dies überrascht insofern, als im Anlassverfahren bereits auch die Frage der Richtlinienwidrigkeit der Sprengelanwaltswahlbeschränkung des § 158k Abs. 2 VersVG angesprochen worden war. Auch nach Vorliegen des Urteils des EuGH sah der OGH keinen Anlass für eine m. E. geboten gewesene neuerliche Vorlage22. 4. Das Urteil Eschig, EuGH v. 10.9.2009 – C-199/08 a) Die Erwägungsgründe Der Gerichtshof bestätigt in erfreulicher Deutlichkeit, dass nach dem Wortlaut der Art. 3 bis 5 der RSV-RL und dem Zusammenhang der RL der Anspruch auf freie Wahl seines Rechtsvertreters jedem Versicherungsnehmer innerhalb der festgelegten Grenzen allgemein und eigenständig zusteht23. Die den Versicherten durch die Art. 4, 6 und 7 der RSV-RL verliehenen Rechte bezwecken, die Interessen des Versicherten umfassend zu schützen und beschränken sich nicht auf Fälle, in denen eine Interessenskollision entsteht. Art. 4 Abs. 1 der RSV-RL anerkenne den Anspruch des Versicherten auf die Wahl seines Vertreters; die Verwendung des Adjektivs „jeder“ und die Form des Verbs „anerkennen“ unterstreichen die allgemeine Bedeutung und die Verbindlichkeit dieser Regel. Der EuGH betont, dass diese Bestimmung das Mindestmaß an 21 Vorlagebeschluss des OGH v. 23.4.2008 – 7 Ob 26/08m. 22 OGH v. 16.12.2009 – 7 Ob 194/09v; kritisch zur geltungserhaltenden einschränkenden Auslegung des OGH, dass der Versicherte einen sprengelfremden Rechtsvertreter wählen kann, wenn sich dieser verpfl ichte, wie ein ortsansässiger zu verrechnen, da dann der kosteneinsparendc und prämiensenkende Zweck der Versicherungsbedingung gewahrt bleibe, Fenyves, ÖJZ 2010, 469. 23 Rz. 46.
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Freiheit festlegt, das dem Versicherten unabhängig von der Option der Organisationsformen nach Art. 3 Abs. 2 RSV-RL zu gewähren ist24. Entgegen der von der beklagten Versicherung und der Kommission vertretenen Auffassung 25 ist der Anspruch auf freie Wahl des Rechtsvertreters nicht an die Entstehung einer Interessenskollision geknüpft. Zwar könnten die Wörter „und zwar immer“ in der deutschen Sprachfassung des elften Erwägungsgrundes der RSV-RL dahin ausgelegt werden, dass der Anspruch auf die freie Anwaltswahl dann bestehe, wenn eine Interessenskollision besteht; doch ergibt der Vergleich der verschiedenen Sprachfassungen, die wegen der Notwendigkeit einer einheitlichen Auslegung der Gemeinschaftsrichtlinien zu berücksichtigen sind, dass die freie Anwaltswahl unabhängig von einer Interessenskollision anerkannt wird 26. Die von der Beklagten und der Kommission vorgeschlagene Auslegung würde bewirken, dass Art. 4 Abs. 1 lit. a der RSV-RL den Anwendungsbereich verlieren würde, da der Regelungsgehalt dann bereits von der Kollisionsregel in Art. 4 Abs. 1 lit. b RSV-RL abgedeckt wäre. Aus der Entstehungsgeschichte der RSV-RL lässt sich im Gegenteil schlussfolgern, dass das ursprüngliche Ziel, in allen Rechtsschutzversicherungsverträgen eine freie Wahl des Rechtsvertreters zu garantieren, die nicht durch die Entstehung einer Interessenskollision bedingt ist, sehr wohl beibehalten wurde, allerdings beschränkt auf Gerichts- und Verwaltungsverfahren. Es ergeben sich keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass mit Art. 4 Abs. 1 lit. a RSV-RL lediglich ein weiteres Instrument zur Vermeidung von Interessenskollisionen und kein eigenständiger Anspruch auf Wahl des Rechtsvertreters geschaffen werden sollte27. Schließlich könne aus Art. 5 RSV-RL, wonach Mitgliedstaaten berechtigt sind, bestimmte Fälle, die sich aus dem Einsatz von Straßenfahrzeugen ergeben, von der Anwendung des Art. 4 Abs. 1 der RSV-RL auszunehmen, nicht gefolgert werden, dass noch weitere Ausnahmen zulässig seien. Die Ausnahmeregelung sei eng auszulegen und könne nicht als Grundlage für Analogieerwägungen dienen 28. Schließlich wurde dem Argument, dass dem Richtliniengesetzgeber Massenschäden noch nicht bekannt gewesen seien, die Abfuhr erteilt: Ereignisse, die eine größere Zahl von Personen in gleicher Weise betreffen, sind kein neues Phänomen. Zum anderen könnten, selbst wenn neue Umstände auf mitgliedsstaatlicher Ebene zu einer Häufung von Sammelklagen zum Schutz der Interessen von Mitgliedern einer Personengruppe führen, solche Umstände nicht 24 25 26 27
Rz. 47 ff. Rz. 30 ff. Rz. 54 ff.; siehe auch oben Fn. 11. Rz. 57. In einem Vorschlag der Kommission aus dem Jahr 1979 nämlich war noch vorgesehen gewesen, dem Versicherten stets die freie Wahl des Rechtsanwaltes zu gestatten, wenn es geboten ist, einen Anwalt mit der Wahrung der Interessen eines Rechtsschutzversicherten zu betrauen. Siehe Art. 5 des Vorschlags für eine RL des Rates zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften über die Rechtsschutzversicherung (von der Kommission dem Rat vorgelegt am 23.7.1979), ABl. vom 7.8.1979, C 198/2 und Nachweise bei Schauer, RdW 2009/704 f. Was letztlich den Ausschlag für die geltende Fassung gegeben hat, ist nicht feststellbar. 28 Rz. 59.
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die Freiheit der Rechtsschutzversicherten beschränken, sich an einer solchen Klage zu beteiligen oder nicht zu beteiligen und gegebenenfalls einen Anwalt zu wählen 29. b) Konsequenzen Fest steht, dass die RSV-RL ohne jeden Vorbehalt jedenfalls in Bezug auf Gerichts- und Verwaltungsverfahren als Mindestgarantie das fundamentale Prinzip der freien Anwaltswahl sichert. Dies ist auf Richtlinienebene ein Ausdruck des Rechtsstaatlichkeitsprinzips der Union. E contrario Schlüsse für eine Reduktion dieses Grundsatzes oder sonstige einschränkende „Ergänzungen“ für in der RSV-RL nicht ausdrücklich genannte Fälle oder auch für neue Rechtsschutzversicherungsprodukte sind unzulässig. Dies muss insbesondere auch für Einschränkungen gelten, die Versicherer aus Produktgestaltungs-, Kostenoder Organisationsvereinfachungserwägungen für sinnvoll erachten mögen. Insofern darf, in Umkehrung der aufgeworfenen Argumente, der Grundsatz der freien Wahl des Anwaltes des Vertrauens gerade eben nicht auf dem „Altar“ merkantiler Erwägungen oder Vereinfachungen geopfert werden. Der Hintergrund der sachlich und nach dem Telos der RSV-RL nicht verständlichen Beschränkung der Mindestgarantie in Art. 4 Abs. 1 lit. a RSV-RL auf den Zusammenhang mit Gerichts- und Verwaltungsverfahren ist nicht nachvollziehbar, vermutlich das Ergebnis eines politischen Kompromisses. In der Tat lässt sich die Schutzbedürftigkeit eines Versicherungsnehmers weder sachlich noch sinnvoll nach einem rein außergerichtlichen, einem außergerichtlichen, aber schon verfahrensindizierenden oder einem nur verfahrensbezogenen Beratungs- und Vertretungsbedarf abgrenzen. Zweifelsohne ist dem Schutz des Versicherungsnehmers am besten gedient, wenn sichergestellt ist, dass er stets durch einen Rechtsvertreter seiner Wahl und seines uneingeschränkten Vertrauens beraten und vertreten wird. Ob etwa ein Vergleichsvorschlag noch außergerichtlich oder im Rahmen eines Gerichtsverfahrens im Hinblick auf die Interessen des Versicherungsnehmers zu prüfen ist, macht keinen Unterschied 30. Schließlich sind für die Durchsetzung eines Anspruchs eines Versicherungsnehmers aktiv potentiell verfahrensvorbereitende Schritte zu setzen und neben der Prüfung der Rechts- und Beweislage individuelle verfahrensstrategische Überlegungen mit einzubeziehen. Insoweit umfasst das Recht auf Anwaltswahl i. S. von Art. 4 Abs. 1 lit. a RSV-RL die Inanspruchnahme des frei zu wählenden Anwaltes, um potentiell in einem Gerichts- oder Verwaltungsverfahren zu verteidigen, zu vertreten oder die Interessen des Versicherten wahrzunehmen, also auch Vorbereitungsphasen mit der Zielsetzung einer allfälligen Verfahrenseinleitung. Gerade in dieser Phase besteht im Verhältnis des Rechtsschutzversicherten zum Rechtsschutzversicherer ein hohes Interes-
29 Rz. 63 ff.; der EuGH geht damit offenkundig vom Erfordernis eines Opt-in Modell bei Sammelklagenlösungen aus. 30 So überzeugend und zutreffend Schauer, RdW 2009, 704.
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senskollisionspotential, ist doch das Interesse des Versicherers tendenziell auf kostensparende Verfahrensvermeidung gerichtet 31. Dies wird bei der Erarbeitung einer „Doktrin“ zur Abgrenzung der Folgen des Urteiles Eschig in künftigen Massenschaden-Versicherungsbedingungen ebenso zu berücksichtigen sein, wie die Tatsache, dass es sich um einen durch das Sekundärrecht bestätigten Minimumstandard handelt, der einschränkenden Auslegungen nicht zugänglich ist. Ausgehend von einem Minimum-Standard wird auf diese Weise auch zur Qualität von Rechtsschutzversicherungsprodukten beigetragen, zumal mit „Massenschäden“ auch ein spezifisches erhöhtes Interessenkonfl iktpotential einhergeht 32. Die Generalanwältin hat in ihren Schlussanträgen zu Recht darauf hingewiesen, dass die inhaltliche Gestaltung der Abdeckung von Massenschadenrisken keineswegs die Beschränkung der freien Rechtsvertreterwahl erfordert 33.
III. Vorabentscheidungsersuchen D.A.S. Österreichische Allgemeine Rechtsschutzversicherung AG / Stark 1. Vorlagebeschluss LG Innsbruck v. 22.4.2010 zu C-293/10 Das LG Innsbruck hat im Nachhang zum Urteil Eschig die folgende Frage in Bezug auf die Vereinbarkeit der Sprengelanwaltswahlsbeschränkung des § 158k Abs. 2 VersVG mit Art. 4 der RSV-RL an den EuGH zur Vorabentscheidung herangetragen: „Ist Art. 4 Abs. 1 der RL 87/344/EWG dahin auszulegen, dass ihm § 158k Abs. 2 VersVG und eine darauf fußende, in allgemeinen Versicherungsbedingungen eines Rechtsschutzversicherers enthaltene Klausel, dass im Versicherungsvertrag vereinbart werden kann, dass der Versicherungsnehmer zu seiner Vertretung in einem Gerichts- oder Verwaltungsverfahren nur solche zur berufsmäßigen Parteienvertretung befugte Personen wählen darf, die ihren Kanzleisitz am Ort der Gerichts- oder Verwaltungsbehörde haben, die für das durchzuführende Verfahren in erster Instanz zuständig ist, widersprechen?“
Im Ausgangsverfahren klagt der Rechtsschutzversicherer eine Restprämie aus einem ehemaligen Rechtsschutzversicherungsverhältnis ein34. Herr Stark, ein Tiroler Unternehmer, stellt der Klageforderung eine höhere Gegenforderung aufrechnungsweise gegenüber, die aus einem Mehrkostenersatzanspruch für seinen frei gewählten Anwalt mit Kanzleisitz ebenfalls in Tirol nach dem österreichischen RATG für das vor dem Arbeits- und Sozialgericht in Wien, also in einem anderen Sprengel, geführte Verfahren zustünde, hätte der Versi31 Dem Autor sind in Österreich Vertragsbestimmungen einer Kooperationsvereinbarung eines Rechtsschutzversicherers für regelmäßig herangezogene Anwälte (welche im Hinblick auf die im Spannungsverhältnis zur Mandanteninteressenwahrungspfl icht des Anwaltes stehende Regelungswirkung der Klauseln entlarvend als „Kooperationspartner“ des Versicherers bezeichnet werden) bekannt, die diesen Schluss erhärten. 32 Vgl. auch Summary of the CCBE-Position on the issue of the Choice of Lawyers in Legal Expenses Insurance; Fn. 30. 33 Rz. 85f der Schlussanträge; siehe auch Fn. 11. 34 Womit sich zeigt, dass ein Streitwert von sage und schreibe nur 211,46 Euro zuzüglich Zinsen den Weg zum EuGH fi nden kann.
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cherer nicht in den ARB den Kostenersatz auf die Kosten eines am Gerichtsort ansässigen Anwaltes beschränkt 35. Ohne auf die Details des österreichischen RATG einzugehen, ist zum besseren Verständnis klarzustellen, dass das Honorar zwischen Anwalt und seinem Mandanten in Österreich grundsätzlich frei zu vereinbaren ist, daher auch eine andere Abrechnungsgrundlage als der RATG vereinbart werden kann und oft auch wird. Der RATG enthält ein System bundesgesetzlich vorbestimmter, abgestufter Tarifsätze zur transparenten Bestimmung des Kostenersatzes, den die im Prozess unterlegene Partei der obsiegenden Partei nach den Grundsätzen der zivilprozessualen Vorschriften gemäß der Entscheidung durch das erkennende Gericht zu leisten hat. Kostenersatzberechtigt im Prozess ist die Partei, nicht der Anwalt, dessen Honoraranspruch im Verhältnis zu seinem Klienten sich aus dem Mandatsvertrag ergibt. Das Kostenersatzrecht nach der ZPO ist neben dem Erfolgsprinzip von dem Grundsatz geprägt, dass nur die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung notwendigen Kosten zu ersetzen. Ein Tarifansatz des RATG sieht die Möglichkeit einer höheren Vergütung vor, wenn der Anwalt – wie im Ausgangsfall – eine Leistung an einem Ort außerhalb seines Kanzleisitzes vornimmt 36. Solche Mehrkosten durch die Bestellung eines auswärtigen Anwaltes sind im Rahmen der dem Gericht obliegenden Prüfung der zweckentsprechenden Rechtsverteidigung bei Vorliegen besonderer Gründe zu ersetzen. Dies etwa, wenn ein besonderes zu bescheinigendes Vertrauensverhältnis zum auswärtigen Anwalt besteht oder die Partei am selben Ort, wie der auswärtige Anwalt wohnt, welche beide Voraussetzungen gemäß den Ausführungen des vorlegenden Gerichtes zugunsten von Herrn Stark vorliegen. Herr Stark macht u. a. geltend, dass durch die „geografische Einschränkung“ seines Rechtes auf freie Anwaltswahl auf ihn ein psychologischer Zwang ausgeübt wurde, nicht den Anwalt seines Vertrauens, sondern einen ihm unbekannten Rechtsvertreter an einem entfernten Ort zu wählen, um nicht Mehrkosten belastet zu werden. Das vorlegende Gericht zweiter Instanz verweist darauf, dass der frei gewählte Anwalt anders als im Fall Eschig, sich nicht, wie vom Rechtsschutzversicherer gefordert, bereit erklärt hat, im Verhältnis zu seinem Mandanten zum niedrigeren „Loco-Tarif“ zu verrechnen, sodass die vom OGH in Folge des Urteils Eschig aus Kostenzweckmäßigkeitsgründen vorgenommene einschränkende, aber noch geltungserhaltende Auslegung des § 158k Abs. 2 VersVG und der darauf basierenden ARB für den Vorlagefall nicht anwendbar sei37. Zur Vermeidung von Wiederholungen kann im Übrigen auf die vorstehenden Ausführungen unter Punkt II 2. und 3. verwiesen werden. 35 Dem Anlassfall liegen die ARB 1997 zugrunde, welche einerseits den Inhalt des § 158k Abs. 2 VersVG enthalten und andererseits u. a. vorsehen, dass die angemessenen Kosten des für den Versicherungsnehmer tätigen Anwaltes im Ergebnis maximal in der Höhe des nach dem RATG für sprengelansässige Anwälte sich errechnenden Tarifs, sogenannter „Loco-Tarif“, ersetzt werden. Die „Loco-Tarif“-Bestimmung ist unverändert auch in ARB 2010 enthalten, soweit sie dem Autor bekannt sind. 36 § 23 Abs. 5 RATG. 37 Siehe auch Fn. 18, 19, 22.
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2. Anmerkungen Die Entscheidung des EuGH ist abzuwarten. Allerdings scheinen gewisse Klarstellungen zur Vorlagebegründung und zur Kostenfolgeentscheidung des OGH in der Sache Eschig38 angebracht: a) Die Ausführungen, dass im österreichischen Schrifttum keine Bedenken gegen die geografische Sprengelbeschränkung der freien Anwaltswahl geäußert worden seien, übersehen die beachtlichen und überzeugenden Veröffentlichungen, die spätestens seit dem Urteil Eschig die Argumente herausgearbeitet haben, aus denen sich die Richtlinienwidrigkeit des § 158k Abs. 2 VersVG und auch der korrespondierenden ARB wohl zwingend ergibt 39. Eine örtliche Einschränkung des Rechtes auf freie Anwaltswahl ist nicht anders zu beurteilen als die Einschränkung durch die Massenschadenklausel. b) Die Beschränkung der freien Anwaltswahl durch die Bindung an einen ortsansässigen Anwalt oder an einen solchen, der bereit sein muss, niedrigere als nach der Wertung des RATG angemessene Kosten40 zu verrechnen und den Zusatzaufwand, der mit Tätigkeiten außerhalb des Kanzleisitzes verbunden ist selbst zu tragen, es sei denn, der Mandant ersetzt die Differenz, dürfte weiters oberhalb der Ebene des Sekundärrechts bereits Bedenken in Bezug auf die Dienstleistungsfreiheit des Art. 49 AEUV begegnen. Eine solche Vorschrift hat nicht nur im nationalen Bereich eine die überörtliche anwaltliche Tätigkeit erschwerende Wirkung, sondern kann die Erbringung grenzüberschreitender anwaltlicher Dienstleistungen und damit die Wettbewerbsposition der Anwälte aus anderen Mitgliedsstaaten beeinträchtigen. Die Erwägungen des EuGH im Fall AMOK41, wonach eine (deutsche) Prozesskostenersatzregel, die vorsieht, dass die obsiegende Partei eines Gerichtsverfahrens, in dem sie von einem in einem anderen Mitgliedstaat niedergelassenen Rechtsanwalt vertreten worden ist, von der unterlegenen Partei neben den Kosten dieses Anwaltes nicht auch die Kosten eines beim angerufenen Gericht zugelassenen Einvernehmensrechtsanwaltes erstatten lassen kann, gegen Art. 49 EG (nun AEUV) und die Rechtsanwaltsdienstleistungs-RL 77/249/EWG verstößt, können auch auf diese Vorlagesache übertragen werden. Das Urteil Eschig stellt klar, dass von einer Rechtfertigung einer solchen Beschränkung der freien Anwaltswahl im Gerichtsverfahren von einem zwingenden Allgemeininteresse von vornherein keine Rede sein kann. c) Soweit in der österreichischen Literatur beharrlich das Argument wiederholt wird, die örtliche Beschränkung des Rechtes auf freie Anwaltswahl sei vergleichbar mit Lokalitätsbeschränkungen, welchen Rechtsanwälte in anderen 38 Siehe Fn. 22. 39 Dazu ist insbesondere auf Schauer, RdW 2009, 705 f. zu verweisen. Siehe auch Fn. 22 und Lehner, ZFR 2010/7, 27 f. 40 Die Ansätze des RATG gelten als angemessen. Hinzu kommt, dass die Tarifansätze des RATG auch eine soziale Komponente beinhalten und dieser bei niedrigen Streitwerten relativ gering gehaltene, oft nicht kostendeckende Beträge vorsieht, die auch in diesem Streitwertbereich den Zugang aller Bevölkerungskreise zum Recht und den Gerichten ermöglichen soll. 41 EuGH v. 11.12.2003 – C-289/02 – AMOK.
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Mitgliedsstaaten nach deren nationalen Zulassungssystemen unterliegen würden, etwa nach dem deutschen Zulassungssystem42, wird die Rechtslage und jahrzehntelange Realität der Dienstleistungs- und Niederlassungsfreiheit der europäischen Anwälte unter dem System der RL 77/249/EWG und RL 98/5/EG außer Acht gelassen; weiters eine weitgehend überholte Rechtslage unterstellt. Der Lokalisationszwang ist auch in Deutschland seit 1.8.2002 aufgehoben; eine ausschließliche Zulassung mit Lokalisierungszwang gibt es nur noch vor dem BGH43. Überdies folgt aus eventuellen berufsrechtlichen Radius- bzw. Zulassungsbeschränkungen für Höchstgerichte in anderen Mitgliedstaaten noch keinesfalls, dass dem Rechtsschutzversicherer im Verhältnis zum Versicherten die geografische Beschränkung seiner Anwaltswahl zusteht44.
IV. Abschlussüberlegung Das Recht des Versicherten nicht nur auf einen Rechtsvertreter, sondern auf den Anwalt seiner Wahl und – entscheidend – seines Vertrauens ist Ausfluss des auch auf der Ebene des Unionsrechtes Grundrechtsgeltung einnehmenden Rechtsstaatlichkeitsprinzips sowie Ausdruck der Bedeutung und Stellung des freien und unabhängigen Anwaltes als unverzichtbarer Garant für die Funktionsfähigkeit des Rechts. Es sichert dem Versicherten nicht zuletzt im Hinblick auf die Erfordernisse des Art. 6 EMRK die Chancen- und Waffengleichheit und sein rechtliches Gehör im „Kampf um sein Recht“, so dieser erforderlich ist. Die in Art. 4 Abs. 1 lit. a RSV-RL festgeschriebene Mindestgarantie der freien Anwaltswahl im Zusammenhang mit Gerichts- und Verwaltungsverfahren ist ihrerseits ein Spiegel der höheren Ebene der Unionsgrundrechte. Vergleichbares gilt für die Ebene der Rechtslage der Mitgliedsstaaten: Das deutsche Berufsrecht etwa enthält die ausdrückliche gesetzliche Bestätigung des freien Anwaltswahlrechtes in § 3 Abs. 3 BRAO. Diese Bestimmung gilt unbestritten als unmittelbar im Rechtsstaatsprinzip und damit im Verfassungsrang abgesichert, kann somit Drittwirkung auf privatrechtlicher Vereinbarungsebene entfalten. Sie genießt Vorrang vor damit kollidierenden vertraglichen Regelungen, insbesondere sind Einschränkungen und Verzichte daran zu messen45. Vor dem Hintergrund der von den Rechtsschutzversicherern ins Treffen geführten Argumente in den österreichischen Vorabentscheidungsverfahren hätte ein Blick auf die Regelungen in anderen Mitgliedstaaten der EU, etwa nach Deutschland, eines Besseren belehren können. Gemäß gefestigter Rspr. kann sich der Einzelne aus den vorgenannten Gründen seines Rechtes auf freie Anwaltswahl nicht im Voraus durch vertragliche privatrechtliche Übereinkunft begeben; weiters dürfen Rechtsschutzversicherer wegen § 3 Abs. 3 BRAO ihren Mitgliedern
42 Dieses Argument wird wiederholt unter Bezugnahme auf Migsch in Koppensteiner (Hrsg.), Österreichisches und europäisches Wirtschaftsrecht Teil 3/2, 167, vorgetragen. 43 Hüßtege, ZPO Kommentar, 2005, Rz. 1 zu § 78. 44 Zutreffend Schauer, RdW 2009, 706. 45 Koch in Henssler/Prütting, Bundesrechtsanwaltsordnung Kommentar, 3. Aufl. 2010, Rz. 30 ff. zu § 3 m. w. N.
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nicht vorschreiben, einen bestimmten Rechtsanwalt mit der Wahrnehmung ihrer Interessen zu beauftragen46. Ähnlich sieht in Frankreich die Umsetzungsvorschrift der RSV-RL in Art. L.127-3 des Code des Assurances als Ausdruck des allgemeinen Grundrechtes auch für die Rechtsschutzversicherungen ausdrücklich ein unbeschränktes freies Wahlrecht des Versicherten vor: „Tout contrat d’assurance de protection juridique stipule explicitement que, lorsqu’il est fait appel à un avocat ou à toute autre personne qualifiée par la législation ou la règlementation en vigueur pour défendre, représenter ou servir les intérêts de l’assuré, dans les circonstances prévues à l’article L.127-1, l’assuré a la liberté de choisir …“
Weiters darf in Frankreich zur Sicherstellung der Interessen des Versicherten der Rechtsschutzversicherer einen Anwalt überhaupt nur auf ausdrückliche schriftliche Anforderung des Versicherten vorschlagen; eine Honorarvereinbarung zwischen Anwalt und Rechtsschutzversicherer ist unzulässig47. An einem solchen gemeinsamen Grundwerteverständnis im Unionsrecht und auf Ebene der Mitgliedsstaaten sind alle Überlegungen hinsichtlich der Gestaltung von Vertragsbedingungen von Versicherern zu messen. Das Urteil Eschig bestätigt die Unzulässigkeit einer Beschränkung der freien Anwaltswahl zu Lasten der Rechtsschutzversicherten in Gerichts- und Verwaltungsverfahren. Darüber hinaus ist dem Urteil Eschig nichts zu entnehmen, was zukünftige Beschränkungen der freien Anwaltswahl im außergerichtlichen Vergleich rechtfertigen könnte. Einige Mitgliedstaaten haben als Ausdruck des Rechtsstaatsprinzips die freie Anwaltswahl ohne Wenn und Aber auch für den außergerichtlichen Bereich bereits im nationalen Recht verankert48. Die europäische Rechtsentwicklung sollte sich einer unionsweit im außergerichtlichen wie gerichtlichen Bereich unbeschränkten Wahl des Anwaltes des Vertrauens eines Rechtsschutzversicherten bei eventuell gleichzeitig verbesserter Transparenz der Rechtsschutzversicherungsprodukte verschreiben. De lege ferenda wäre auch für Österreich eine § 3 Abs. 3 BRAO, § 127 VVG vergleichbare ausdrückliche gesetzliche Klarstellung wünschenswert.
46 Koch (Fn. 45) Rz. 34; van Bühren, MDR 1998, 745; BGHZ 109, 153; OLG Karlsruhe, GRUR 1988, 703. 47 L.127-3 der LOI no 2007-210 vom 17.2.2007, mit welcher die Rechtsschutzversicherung novelliert wurde: „L‘assureur ne peut proposer le nom d’un avocat à l’assuré sans demande écrite de sa part“ und L.127-5-1: „Les honoraires de l’avocat sont déterminés entre ce dernier et son client, sans pouvoir faire l’objet d’un accord avec l’assureur de protection juridique“. 48 Etwa Deutschland, vgl. § 127 VVG. Siehe auch Fn. 47.
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Whistleblower Or Confidant? – The Conflict Between Anti-Money Laundering Legislation And Client Confidentiality Inhaltübersicht I. Introduction II. Outline of United Kingdom antimoney laundering legislation 1. “Gold-plating” of the European Directives 2. Reporting obligations III. Legal professional privilege 1. The general principle 2. Exception: criminal purpose 3. Can legal professional privilege be overridden by statute? IV. Legal professional privilege in antimoney laundering legislation 1. The statutory exception
2. Interpretation of Article 24: Bowman v Fels V. Protection of legal advice privilege 1. Introduction: a case study 2. Analysis under national implementing legislation 3. Community law protection of legal advice privilege 4. Protection of legal advice privilege under the Human Rights Convention VI. Conclusion 1. Policy considerations 2. Protection of a fundamental right to confidentiality?
I. Introduction In 2002, shortly after the adoption by the European Council and Parliament of the Second Anti-Money Laundering Directive, Dr Hans-Jürgen Hellwig expressed the following concerns1: “What will be the ultimate result when the process of implementation of the new Directive has been completed? There will probably be patchwork money laundering provisions that differ from country to country in many material respects. The difference may start with the defi nition of activities of a lawyer and of a serious crime which may trigger the reporting obligation. Another area for possible differences is the question whether the reporting obligation requires positive knowledge or whether mere suspicion is sufficient. Lastly, there may be differences as regards exceptions from the reporting obligation for certain types of a lawyer’s work (representation in connection with judicial proceedings, ascertaining the legal position, legal advice), which determines the scope of the secrecy obligation.”
Dr Hellwig will seldom, in the course of his long and distinguished career, have made a prediction which has proved to be more accurate than this one. All of these problems have indeed emerged in the course of implementation of the Second and Third Anti-Money Laundering Directives. But the difficulties
1 “A European ‘whistleblowers’ directive?”, 2002 European Lawyer, part 15, page 30.
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created by implementation of the Directives are not restricted to lawyers with cross-border practice. Even for lawyers whose practice does not extend to more than one member state have been affected by the confl ict between the lawyer’s obligation of confidentiality and the suspicious transaction reporting obligation imposed by implementing legislation. Nowhere is this confl ict more acutely experienced than in the United Kingdom, where the government has secured the enactment of legislation which goes far beyond what was required to meet its implementation obligations. In recognition of Dr Hellwig’s highly influential work both in the field of deontology and in relation to the impact of anti-money laundering legislation on the profession, this article will explore the extent to which the privilege which attaches in the United Kingdom to legal advice (as opposed to representation in legal proceedings) has been eroded by legislation implementing the AntiMoney Laundering Directives. It will also consider the extent to which Community law and the European Convention on Human Rights may be invoked by lawyers who seek to protect the confidentiality of information received from clients in circumstances in which court proceedings are not in progress or in contemplation.
II. Outline of United Kingdom anti-money laundering legislation 1. “Gold-plating” of the European Directives For a lawyer from another European member state familiar with the structure and terminology of the Second and Third Anti-Money Laundering Directives2, the implementing legislation enacted in the United Kingdom may be difficult to follow. This is because the national law goes further than was required in order to fulfi l the UK’s implementing obligation. There was, in other words, a significant degree of “gold-plating” which has caused serious practical difficulties for the regulated sector, and particularly for lawyers. The Second Directive was implemented by Part 7 of the Proceeds of Crime Act 2002. This Act has been subject to amendment in almost every year since it was passed. Among its most striking features are the following: (a) The defi nition of “money laundering” in the 2002 Act 3 differs from the defi nition now in the Third Directive4 in that it contains no reference to purpose or to knowledge on the part of the person carrying out an act. Money laundering under the UK legislation is a criminal offence which can be committed unintentionally.
2 Directive 91/308/EEC of 10 June 1991 (referred to in this article as “the Second Directive”) and Directive 2005/60/EC of 26 October 2005 (referred to in this article as “the Third Directive”). 3 Section 340(11). 4 Article 1(2). Although the 2002 Act was passed to implement the UK’s obligations under the Second Directive, references in this article are, for the sake of convenience, to the relevant provisions of the Third Directive.
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(b) The scope of the legislation is not restricted to “serious crimes” as in the Third Directive5. Any property, money or other benefit obtained from illegal activity, however minor, can be the subject of money laundering. So, for example, any fi nancial benefit obtained as a consequence of an under-declaration of income tax liability, or of a fraudulent claim for social security benefit, or from recovery of value added tax paid on goods used for personal and not business purposes, is defi ned as “criminal property” which is capable of being laundered6. Taken together, the effect of these definitions is that a person who is unwittingly concerned in the use or transfer of funds derived from an illegal source does not merely facilitate money laundering: he may himself be a money launderer committing a criminal offence. 2. Reporting obligations The Third Directive requires provision to be made for two distinct strategies to combat money laundering. Firstly, Article 227 requires member states to make provision for the reporting to an appropriate authority by a person in the regulated sector of his knowledge or suspicion that money laundering is being or has been committed. (The exception in Article 23(2) for information received from their client by independent legal professionals, among others, is discussed below.) Secondly, Article 248 obliges member states to require persons in the regulated sector to refrain from carrying out transactions which they know or suspect to be related to money laundering until they have reported that knowledge or suspicion to the appropriate authority, so that the authority may give instructions that the transaction is not to be carried out. In national UK legislation, the implementation of Article 22 is relatively straightforward and generally follows the substance of the Directive. Section 330 of the 2002 Act creates a criminal offence of “failure to disclose”. A person commits the offence if he knows or suspects (or has reasonable grounds 5 Article 3(4), (5). 6 The relevant defi nitions are in section 340(2) – (10) of the Proceeds of Crime Act 2002. It is not even necessary to identify specific funds or assets which represent the proceeds of crime: the benefit obtained is itself “criminal property”. So, for example, as the Law Society of England and Wales has pointed out, where the owner of commercial premises has failed to obtain a fi re and asbestos report required by statutory regulation for the sale of the premises, the proceeds of sale of the premises will be “criminal property” for the purposes of the Act: see Supplementary written evidence from the Law Society of England and Wales to the House of Lords Select Committee on the European Union – Sub-Committee F (Home Affairs) Inquiry into Money Laundering and the Financing of Terrorism (March 2009). 7 Formerly article 6 of the Second Directive. The genesis of this article is to be found in Recommendation 16 of the Forty Recommendations by the Financial Action Task Force on Money Laundering (FATF) created following the G7 World Economic Summit meeting in 1989. For a detailed account of the origins and purpose of FATF, see Shepherd, “Guardians at the Gate: The Gatekeeper Initiative and the Risk Based Approach for Transactional Lawyers” (2009) 43 Real Property, Trust and Estate Law Journal 607. 8 Formerly article 7 of the Second Directive. This article has no direct counterpart in the FATF Forty Recommendations.
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for knowing and suspecting) that another person is engaged in money laundering, but fails to report the information on which his knowledge or suspicion is based to an appropriate authority. There is an exception for information obtained in circumstances covered by legal professional privilege, discussed in more detail below. Unfortunately, the implementation of Article 24 is far from straightforward. Indeed, it might be said that the UK has departed so far from the obligations imposed by Article 24 that its national legislation should not be regarded as implementation of the Directive at all, but rather as the imposition of an entirely different and wide-ranging regime designed to bring criminal conduct – however trivial – to the attention of the authorities. A large number of new criminal offences (not required by any provision of the Directive) have been created which apply regardless of whether the person concerned is working in the regulated sector. These offences are as follows9: – concealing criminal property; – disguising criminal property; – converting criminal property; – transferring criminal property; – removing criminal property from England and Wales or Scotland or Northern Ireland; – acquiring criminal property; – using criminal property; – having possession of criminal property. Most problematic of all, section 328 creates an offence of entering into or becoming concerned in an arrangement which the person concerned knows or suspects facilitates (by whatever means) the acquisition, retention, use or control of criminal property by another person. Considerable attention has focused upon the meaning, within this provision, of the words “arrangement” and “facilitates”, to which this article returns below, and in relation to all of these offences, the broad defi nition of criminal property mentioned above must be borne in mind. In each case, there is a defence to the criminal charge if the person concerned has made a suspicious activity report to an appropriate authority10 before doing the act mentioned, and has received consent to do it. This has come to be known in the UK as the “consent” regime and is, in effect, the UK’s implementation of Article 24. There is a further defence in each case where the person concerned intended to make a report but has a reasonable excuse for not doing so11.
9 Ibid, ss 327-329. 10 E.g. the Financial Intelligence Unit of the Serious Organised Crime Agency (“SOCA”). Before 2006 the appropriate authority was the National Criminal Intelligence Service (“NCIS”). In the UK the expression “suspicious activity report” is used to refer to what FATF calls a “suspicious transaction report”. 11 See s 327(2)(b), s 328(2)(b) and s 329(2)(b).
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It will be appreciated that the list of criminal offences above is considerably broader than the terms of Article 24, which simply refers to “carrying out transactions” known or suspected to be related to money laundering. The practical consequences of these statutory provisions has been far-reaching. Although they do not, in their terms, compel the reporting of knowledge or suspicion, a person who does any of the things listed above without having received consent from the appropriate authority runs the risk of committing an offence. This has led to the making of a large number of “defensive” applications for consent by fi nancial institutions, lawyers and others whose primary concern is to ensure that they do not render themselves liable to prosecution12. The Law Society of England and Wales has recently noted13 that: “…the majority of these reports relate to minor tax evasion, small scale opportunistic mortgage fraud by individuals rather than criminal syndicates, or minor regulatory or environmental breaches uncovered during mergers and acquisitions.”
So far as lawyers are concerned, there is a further potential difficulty. The Third Directive applies to independent legal professionals only when they are acting on behalf of a client in a fi nancial or real estate transaction, or assisting in the planning or execution of a transaction listed in Article 2(3)(b). No such limitation appears in the UK provisions implementing Article 24 and doubt has arisen as to whether such a limitation can or should be read in. Finally, it should be mentioned for the sake of completeness that the prohibition on “tipping off” contained in Article 2814 has been implemented in the UK, largely in accordance with the provisions of the Directive15.
III. Legal professional privilege 1. The general principle The common law doctrine of legal professional privilege differs in certain respects from the concept of professional secrecy familiar to many continental European lawyers. It is not the purpose of this article to explore those differences. Since, however, the focus of the article is on legal professional privilege, it is necessary to understand the policy to which it gives effect. In R v Derby
12 In the year to 30 September 2009, there were 13,618 applications for consent of which 3,040 (22.3%) were from solicitors and 4 from barristers (Serious Organised Crime Agency: The Suspicious Activity Reports Regime Annual Report 2009, Annex C: see http://www.soca.gov.uk/news/151-suspicious-activity-reports-regime-annualreport-2009). The total number of suspicious activity reports made to SOCA in the year to 30 September 2009 was 228,834 (ibid, Annex B). 13 “The costs and benefits of anti-money laundering compliance for solicitors”: Response by the Law Society of England and Wales to the call for evidence in the Review of the Money Laundering Regulations 2007 (December 2009). 14 Formerly article 8 of the Second Directive. 15 Proceeds of Crime Act 2002, ss 333A – 333E, as substituted by the Terrorism Act 2000 and Proceeds of Crime Act 2002 (Amendment) Regulations 2007 (SI 2007/3398).
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Magistrates’ Court, ex parte B16, Lord Taylor of Gosforth CJ, with whose reasons the other members of the House of Lords agreed, stated: “The principle… is that a man must be able to consult his lawyer in confidence, since otherwise he might hold back half the truth. The client must be sure that what he tells his lawyer will never be revealed without his consent. Legal professional privilege is thus much more than an ordinary rule of evidence, limited in its application to the facts of a particular case. It is a fundamental condition on which the administration of justice as a whole rests.”
Legal professional privilege has been described in the House of Lords as being “a fundamental human right, long established in the common law”17. A distinction is drawn between, on the one hand, litigation privilege and, on other hand, legal advice privilege. As Lord Scott of Foscote observed in Three Rivers District Council v Governor and Company of the Bank of England (No 6)18, litigation privilege covers all documents brought into being for the purpose of litigation. Legal advice privilege, with which we are primarily concerned in this article, covers communications between lawyers and their clients whereby legal advice is sought and given. It is of interest to note that in the Three Rivers case, the Court of Appeal had expressed the view that it was less easy to understand the justification for legal advice privilege. The Master of the Rolls, Lord Phillips of Worth Matravers, had stated19: “The justification for litigation privilege is readily understood. Where, however, litigation is not anticipated it is not easy to see why communications with a solicitor should be privileged. Legal advice privilege attaches to matters such as the conveyance of real property or the drawing up of a will. It is not clear why it should. There would seem little reason to fear that, if privilege were not available in such circumstances, communications between solicitor and client would be inhibited.”
Not surprisingly, these remarks had caused concern within the legal profession in the UK, and all of the members of the Judicial Committee of the House of Lords who heard the appeal made it clear that they disagreed with them. The policy is most forcefully set out in the opinion of Lord Scott, as follows20: “…In the complex world in which we live there are a multitude of reasons why individuals, whether humble or powerful, or corporations, whether large or small, may need to seek the advice or assistance of lawyers in connection with their affairs; they recognise that the seeking and giving of this advice so that the clients may achieve an orderly arrangement of their affairs is strongly in the public interest; they recognise that in order for the advice to bring about that desirable result it is essential that the full and complete facts are placed before the lawyers who are to give it; and they recognise that unless the clients can be assured that what they tell their lawyers will not be disclosed
16 [1996] AC 487 at p 509. The nature and scope of legal professional privilege, and the policy considerations underlying it, were also reviewed comprehensively by the House of Lords in Three Rivers District Council v Governor and Company of the Bank of England (No 6) [2005] 1 AC 610. 17 R (Morgan Grenfell) v Special Commissioner [2003] 1 AC 563, Lord Hoffmann at paragraph 7. 18 [2005] 1 AC 610, paragraph 10. 19 [2004] QB 916, paragraph 39. 20 [2005] 1 AC 610, paragraph 34.
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Whistleblower Or Confidant? by the lawyers without their (the clients’) consent, there will be cases in which the requisite candour will be absent. It is obviously true that in very many cases clients would have no inhibitions in providing their lawyers with all the facts and information the lawyers might need whether or not there were the absolute assurance of non-disclosure that the present law of privilege provides. But the dicta to which I have referred all have in common the idea that it is necessary in our society, a society in which the restraining and controlling framework is built upon a belief in the rule of law, that communications between clients and lawyers, whereby the clients are hoping for the assistance of the lawyers’ legal skills in the management of their (the clients’) affairs, should be secure against the possibility of any scrutiny from others, whether the police, the executive, business competitors, inquisitive busy-bodies or anyone else… I, for my part, subscribe to this idea.”
Some of this might be regarded by a lawyer as self-evident, but it is reassuring to fi nd it affi rmed by the highest court at a time when client confidentiality is under attack on a number of fronts. 2. Exception: criminal purpose There is a well-recognised exception to legal professional privilege, including advice privilege, where information is provided, or advice sought, by a client with the intention of furthering a criminal purpose. Such information or advice does not attract privilege. This is so regardless of whether the lawyer is complicit in the client’s criminal intentions or whether the lawyer is being used as an innocent tool21. The justification given for the exception is the same as that given for the general rule: namely that it is in the interests of justice. In the case of advice received for the purpose of enabling a crime to be committed, the public interest in prevention of crime outweighs the importance of keeping lawyer/client communications confidential. 3. Can legal professional privilege be overridden by statute? The answer to this question, at least at the level of UK domestic law, is undoubtedly that privilege can be overridden by statute. This is a necessary consequence of the principle of Parliamentary sovereignty and is not affected by the categorisation of legal professional privilege as a fundamental human right. But this can only be done by express language or by necessary implication. “Parliamentary sovereignty means that Parliament can, if it chooses, legislate contrary to fundamental principles of human rights. The Human Rights Act 1998 will not detract from this power. The constraints upon its exercise by Parliament are ultimately politi21 R v Central Criminal Court ex p Francis [1989] 1 AC 346, approving R v Cox and Railton (1884) 14 QBD 153. The position is the same in Scotland: Micosta SA v Shetland Islands Council 1983 SLT 483; Kelly v Vannet 1999 JC 109. In his speech in Francis, Lord Goff of Chieveley derived support from a passage in Dickson on the Law of Evidence in Scotland (1887) at paragraph 1678: “One who consults a legal adviser, with a view to committing a fraud or other crime, makes him either an innocent instrument of his guilt or an accomplice. In neither case will so important a part of the history of the crime be excluded on account of confidentiality; for the ground of policy on which the privilege is founded in ordinary cases must give way, where preserving it would prevent crime from being detected.”
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Colin Tyre cal, not legal. But the principle of legality means that Parliament must squarely confront what it is doing and accept the political cost. Fundamental rights cannot be overridden by general or ambiguous words. This is because there is too great a risk that the full implications of their unqualified meaning may have passed unnoticed in the democratic process. In the absence of express language or necessary implication to the contrary, the courts therefore presume that even the most general words were intended to be subject to the basic rights of the individual. In this way the courts of the United Kingdom, though acknowledging the sovereignty of Parliament, apply principles of constitutionality little different from those which exist in countries where the power of the legislature is expressly limited by a constitutional document”22.
As is clear from these observations, the courts in the United Kingdom have no power to strike down a law passed by the UK Parliament on the ground that it interferes with a client’s fundamental right to confidential legal advice23. The courts do have a duty to interpret legislation in a way which is compatible with rights under the European Convention on Human Rights “so far as it is possible to do so”24. This may involve reading down a legislative provision by giving it a meaning compatible with Convention rights, even where such a meaning appears to the court to be contrary to the intention of Parliament. Where, however, the meaning is so clear that it is not possible to interpret it in a way which is compatible with Convention rights, the court may only make a “declaration of incompatibility” which does not affect the validity of the legislative provision 25.
IV. Legal professional privilege in anti-money laundering legislation 1. The statutory exception The importance of protecting legal professional privilege/professional secrecy is recognised in Recital 20 of the Third Directive26, which acknowledges that it would not be appropriate to impose an obligation to report suspicions of money laundering on lawyers when they are “ascertaining the legal position of a client or representing a client in legal proceedings” and affi rms that “There must be exemptions from any obligation to report information obtained either before, during or after judicial proceedings, or in the course of ascertaining the legal position for a client.”
Accordingly, Article 23(2)27 permits member states to exclude lawyers and others from the reporting obligation in Article 22(1) with regard to “information they receive from or obtain on one of their clients, in the course of ascertain22 R v Secretary of State for the Home Department ex p Simms[2000] 2 AC 115, Lord Hoffmann at page 131; see also R (Morgan Grenfell) v Special Commissioner (cited above), Lord Hoffmann at paragraph 8. 23 The position would be otherwise in relation to an Act of the Scottish Parliament (see the Scotland Act 1998, s 29(2)), but this is not relevant to the present article because anti-money laundering regulation is a matter whose competence is reserved to the UK Parliament (ibid, Schedule 5, s A5). 24 Human Rights Act 1998, s 3(1). 25 Ibid, s 4. 26 Formerly Recital 17 of the Second Directive. 27 Formerly Article 6(3) of the Second Directive.
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ing the legal position for their client or performing their task of defending or representing that client in, or concerning judicial proceedings, including advice on instituting or avoiding proceedings”. Although Article 23(2) is in permissive terms only, it is clear from the judgment of the European Court of Justice in Ordre des Barreaux Francophones et Germanophones v Council of Ministers 28 that any member state which failed to implement this exclusion would infringe the right to a fair trial guaranteed by Article 6 of the European Convention on Human Rights. The United Kingdom has, in any event, implemented Article 23(2) by way of an exception from the offence of failure to disclose. No criminal offence is committed by a lawyer (or by certain other professional advisers) who fails to disclose knowledge or suspicion of money laundering if the information on which his knowledge or suspicion is based was communicated or given to him by or on behalf of a client in connection with the seeking or giving of legal advice, or by a person in connection with legal proceedings or contemplated legal proceedings29. There is an exception from the exemption where information is communicated or given with the intention of furthering a criminal purpose 30. This statutory exemption is not precisely equivalent to the common law concept of legal professional privilege. Unlike the common law concept, the statutory exception does not, for example, cover information provided to a lawyer by a person other than the client himself (unless litigation is in progress or in prospect). The statutory exception does, however, appear to have the same scope as Article 23(2). By way of contrast, Article 24 of the Directive (i.e. the prohibition on carrying out transactions known or suspected to be related to money laundering without having fulfi lled the reporting requirement) contains no exception for legal professional privilege/professional secrecy. Similarly, the UK legislation implementing Article 24 31 contains no such exception. Does this omission have practical consequences with regard to lawyer/client confidentiality? 2. Interpretation of Article 24: Bowman v Fels This question was addressed by the Court of Appeal in the now well-known case of Bowman v Fels 32. This was a dispute between a man (M) and a woman (W) who had lived together in a house registered in the name of M. When they separated, W claimed a share of the value of the house. In the course of the litigation, W’s solicitor became suspicious that M had included the cost of certain work which he had carried out on the house in the VAT returns which he had submitted for his business. The solicitor considered that he was obliged to make a suspicious activity report and, in order to allow time to obtain consent
28 Case C-305/05, [2007] ECR I-5305. 29 Proceeds of Crime Act 2002, s 330(6)(b), (10). 30 Ibid, s 330(11). This exception is intended to reproduce the common law exception (R v Central Criminal Court ex p Francis [1989] 1 AC 346). 31 Proceeds of Crime Act 2002, s 327-329. 32 [2005] 1 WLR 3083.
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to proceed with the litigation, he sought and obtained a postponement of the trial of the case without informing either his client or M’s solicitor of what he was doing, or why. M’s solicitors guessed correctly why the order had been sought, and brought the matter before another judge who set aside the order and allowed the case to proceed. W’s solicitors appealed. Before the appeal was heard, the dispute was resolved. However, by now the Bar Council, the Law Society and the National Criminal Intelligence Service had been granted permission to intervene in the action and the Court of Appeal decided that the appeal should proceed in order to give guidance on the scope of the reporting obligations contained in the anti-money laundering legislation. At fi rst sight, the facts of the case seem far removed from the objectives of the European Directives – and, indeed, of the Forty Recommendations of the Financial Action Task Force (FATF) to which they give effect – namely, the prevention of the use of the fi nancial system for the laundering of the proceeds of serious organised crime. The problem arises from the very broad scope of the UK implementing legislation, as described above, and in particular section 328 which provides that a person commits an offence if he “enters into or becomes concerned in an arrangement which he knows or suspects facilitates (by whatever means) the acquisition, retention, use or control of criminal property by or on behalf of another person”. The Court of Appeal addressed two issues: fi rstly, whether action taken in the course of litigation falls within the words in section 328 just quoted; and, secondly, whether the words used override the principles underlying legal privilege and access to documents disclosed during the court process. To the relief of the legal profession in the United Kingdom, the court decided that section 328 did not apply to the ordinary conduct of legal proceedings. In so deciding, the court attached considerable weight to the recitals in the Directive, and in particular to what is now Recital 20 of the Third Directive 33. The court also noted that what is now Article 24 refers to “carrying out transactions” known or suspected to relate to money laundering, and that the use of the word “transactions” in some of the recitals contrasts with the use of the expression “legal proceedings” in Recital 20. The court concluded: “The prohibition contemplated under [Article 24] cannot in any event have been envisaged as covering any aspect of the conduct or resolution of legal proceedings, since, had that been envisaged, it seems beyond doubt that the European legislator would have applied the clearly stated policy of recitals [20 and 21] to [Article 24], as well as to [Article 22]. The protection afforded by [Article 22] to legal professionals conducting legal proceedings must have been intended to apply so as to enable such legal proceedings to be continued to their ordinary conclusion…”34.
With regard to the UK implementing provisions, the court considered that the same approach should be applied. The absence in section 328 of any express
33 Bowman v Fels was decided prior to the adoption and implementation of the Third Directive and all references in the judgment are therefore to the Second Directive. There is, however, no material difference in the provisions of the two Directives for present purposes. 34 Paragraph 60. References to the Third Directive have been substituted.
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exception for information obtained under protection of legal privilege (in contrast to the exception applicable in the regulated sector of activities) was a strong indication that the concept of “being concerned in an arrangement” should be given a restricted interpretation. Having addressed the issue under reference to the provisions of the Directive and the national implementing legislation, the court then turned to policy considerations. Reference was made to the jurisprudence of the European Court of Human Rights and of the European Court of Justice, as well as to UK domestic law, to emphasise the importance attached to lawyer/client confidentiality, especially in relation to the conduct of legal proceedings. On this aspect, the court concluded: “…Legal proceedings are a state-provided mechanism for the resolution of issues according to law. Everyone has the right to a fair and public trial in the determination of his civil rights and duties which is secured by article 6 of the European Convention on Human Rights. Parliament cannot have intended that proceedings or steps taken by lawyers in order to determine or secure legal rights and remedies for their clients should involve them in ‘becoming concerned in an arrangement which…facilitates the acquisition, retention, use or control of criminal property’, even if they suspected that the outcome of such proceedings might have such an effect”35.
The judgment of the court contains one further, very important section. The court considered whether, if it was wrong in its interpretation of section 328, the section should be read as overriding the general principle of legal professional privilege. Having acknowledged that it was possible for Parliament to do so (under reference to the observations referred to earlier in this article), the court held that the requirement of express words or necessary implication was not satisfied, and that much stronger language would have been required if legal professional privilege was to be overridden, at least in the context of legal proceedings 36. The court did not, however, require to address, and did not address, the confl ict between the wording of section 328 and the provision of legal services outside the context of litigation. Although the decision of the court in Bowman v Fels has been widely welcomed, some of the reasoning is not altogether satisfactory37. There are some difficulties in the court’s treatment of the relationship between the Directive and the national implementing legislation. One the one hand, the court recognises that in accordance with the Marleasing principle 38, the national law must so far as possible be interpreted in order to achieve the purpose pursued by the Directive, but acknowledges that the United Kingdom has deliberately gone further than it was required to do by the Directive. Yet on the other hand, the court derives support from principles of domestic law regarding legal professional privilege which, at least so far as Article 24 is concerned, fi nd no support in the terms 35 Paragraph 84. 36 Paragraphs 85-91. 37 For a detailed critique, see Atrill & Barden, “Legal Privilege and Mandatory Disclosure under the Proceeds of Crime Act 2002”, [2006] Lloyd’s Maritime and Commercial Law Quarterly 11. 38 Case C-106/89 Marleasing SA v La Comercial Internacional de Alimentación SA [1990] ECR I-4135.
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of the Directive. These difficulties emerge more clearly when one moves away from litigation to consider the effect of the anti-money laundering legislation on legal advice privilege in circumstances where litigation is not in progress or in contemplation.
V. Protection of legal advice privilege 1. Introduction: a case study At this stage in the discussion, it is useful to introduce a practical example. Consider the following situation: S, a solicitor in the United Kingdom, is consulted by a client (C) seeking advice. C has recently built an extension to his house. C’s neighbour now claims that the new building encroaches by a small distance on to her land. C wishes S to advise him on his legal position and, if the neighbour is correct, to attempt to negotiate an amicable solution which does not involve demolishing his extension. In the course of the meeting, C mentions to S that part of the cost of the extension was fi nanced by income which C has intentionally failed to disclose to the tax authorities. In this situation, S may consider that it is his professional duty to advise C to make a full disclosure of his undeclared income to the tax authorities. Certainly, S could not represent C in relation to his tax affairs without obtaining instructions to make such a disclosure. But C is not seeking advice about his tax liabilities. Can S represent him in negotiations with his neighbour without making a suspicious activity report and obtaining consent to proceed from the tax authorities? Or, to put the matter the other way round, would S breach his client’s right to confidentiality if he did make a report to the tax authorities? 2. Analysis under national implementing legislation According to the UK implementing legislation, C has committed and is continuing to commit the offence of money laundering. He has acquired and is using “criminal property” consisting of the benefit which he has obtained by evading his tax liabilities and using the money instead to enhance the value of his house 39. But what of S? The information regarding C’s tax evasion has come to him by virtue of C seeking legal advice from him. It was not given to him with the intention of furthering a criminal purpose because there is no criminal taint to C’s negotiations with his neighbour. S therefore has no duty40 to report that he knows that C is engaged in money laundering. In any event, it seems to be strongly arguable that the information has not come to him in the course of a business in the regulated sector because C is not instructing S to act for him, or assist him in planning, any transaction. But the real problem for S is section 328: the same section as was in issue in Bowman v Fels. If S accepts C’s instruction not only to advise him on his legal position with regard to his neighbour, but also to negotiate an amicable deal with her, does S “become concerned in an arrangement which he knows or suspects facilitates the retention 39 Proceeds of Crime Act 2002, ss 329(1), 340(2) – (11). 40 Under ibid, s 330.
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of criminal property” by C? It will be recalled that there is no statutory exception for legal professional privilege from the offence under section 328. Many professional advisers in S’s situation will consider this to be too great a risk to run, and will feel obliged to apply to the tax authorities41 for consent before embarking on any negotiations with C’s neighbour (or her lawyer). S will not, of course, inform C that he has made this application. Assuming that consent is granted, S will proceed to carry out C’s instructions. At some future date, C will receive an unwelcome letter from the tax authorities and may wonder how it came about that information provided confidentially to his lawyer has resulted in a demand for penalties – or even prosecution – for tax evasion42. Like Bowman v Fels itself, these circumstances seem a long way removed from the prevention of money laundering to fund organised crime. No doubt it is convenient to the tax authorities to have additional means of obtaining information about undeclared tax, but what has happened to the fundamental right of a client to confide in his lawyer knowing that what he says will not be revealed without his consent? Let us now assume that S takes the opposite view and proceeds to act for C in the discussions with his neighbour without making a “consent” disclosure. Let us further assume that in due course the tax authorities discover C’s tax evasion by other means, and that one of the consequences of this is that S is subjected to criminal prosecution for money laundering. What defence is – or ought to be – available to S in this situation? S might argue that he has a reasonable excuse for not making a disclosure because to do so would breach his obligation of client confidentiality43. In the absence of an express statutory exception in section 328 for legal professional privilege, would this argument be successful? 3. Community law protection of legal advice privilege One might begin by examining S’s position using the terms of the Third Directive itself instead of those of the national implementing legislation. The fi rst point to note is that C’s tax evasion would probably not be a “serious crime” within Article 3(5), and therefore C’s conduct would probably not be regarded as money laundering within Article 1(2), but let us assume for present purposes that C’s use of his undeclared income to help to fund his house extension does constitute money laundering. The more significant question is whether S would be subject to a reporting obligation under either Article 22 or Article 24. So far as Article 22 is concerned, S clearly has knowledge of C’s money launder41 In practice, the application would probably be made by the solicitor to the Financial Intelligence Unit at the Serious Organised Crime Agency who would, in turn, refer the matter to HM Revenue & Customs in order to determine whether consent should be granted or refused. 42 Alternatively, S could refuse to act unless C discloses his undeclared income to the authorities. A likely consequence would be that S loses his client and C instructs another solicitor, this time keeping the details of his tax affairs to himself. 43 One might comment that any professional adviser taking this line would be well advised to document his decision before taking any steps that might constitute “becoming concerned in an arrangement”, and should record clearly his reasoning in relation to the application of legal professional privilege.
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ing, but he has acquired that knowledge in the course of ascertaining the legal position for his client. Article 23 therefore applies. So in terms of the Third Directive the mere receipt of information by S does not render him subject to a reporting obligation. But what of Article 24? S may be required to refrain from “carrying out a transaction” which he knows or suspects to be related to money laundering, unless he has made a report and has not received instructions from an appropriate authority not to carry it out. As already noted, Article 24 contains no exception for legal professional privilege/professional secrecy, and there is no discussion of its predecessor44 in the judgment of the Court in OBFG. There is, however, some discussion of the absence of this exception by the Court of Appeal in Bowman v Fels45: “What was given by way of protection under [Article 23] cannot have been intended to be taken away by [Article 24]. It follows that [Article 24] must be understood in a way which does not undermine the protection expressed in Article [23(2)]. We do not believe that the absence from [Article 24] of any protection at all of the kind expressed in [Article 23(2)] can have been an oversight; or that it can have thought that the protection was implicit and did not need spelling out in [Article 24] when it had been in relation to [Article 22]. But the absence of any specific protection in respect of legal proceedings, or in respect of legal professional privilege in the broad sense of [Article 22], is a strong argument for a restricted understanding of the concepts of ‘carrying out transactions’ in [Article 24].”
By this means the Court of Appeal was able to interpret the word “arrangement” in section 328 of the UK implementing legislation as not including steps taken during the ordinary conduct of legal proceedings. In the circumstances in our example, the solicitor’s activity is not carried out in connection with actual or contemplated legal proceedings, but it goes beyond the mere passive receipt of information and giving of advice. Neither the Court of Appeal in Bowman v Fels nor the European Court of Justice in OBFG found it necessary to address this situation. If a restricted interpretation is to be given to the scope of the requirement (in pursuance of Article 24) to refrain from action until a suspicious activity report has been made, there has to be a principled basis for this. Does the scope of legal advice privilege recognised by Community law extend sufficiently far to provide that basis? In AM & S Europe Ltd v Commission46, the Court noted that Community law must take into account “the principles and concepts common to the laws of the member states concerning the observance of lawyer/client confidentiality”. Similarly, in OBFG 47, the Court asserted that “fundamental rights form an integral part of the general principles of law whose observance the Court ensures”. It is less easy to fi nd statements of this kind which are specific to legal advice not provided in connection with litigation. However, some of the observations 44 Article 7 of the Second Directive. 45 [2005] 1 WLR 3083, paragraphs 61 and 62. References to the Third Directive have been substituted. 46 Case C-155/79, [1982] ECR 1575. 47 Cited above, paragraph 29.
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of Advocate-General Slynn in AM & S Europe Ltd seem to be apposite to a situation where litigation is not in contemplation: “…There exists in all member states a recognition that the public interest and the proper administration of justice demand as a general rule that a client should be able to speak freely, frankly and fully to his lawyer… “[This principle] springs essentially from the basic need of a man in a civilised society to be able to turn to his lawyer for advice and help, and if proceedings begin, for representation; it springs no less from the advantages to a society which evolves complex law reaching into all the business affairs of persons, real and legal, that they should be able to know what they can do under the law, what is forbidden, where they must tread circumspectly, where they run risks”48.
So, too, is the observation in the judgment of the Court of First Instance in Akzo Nobel Chemicals Ltd v Commission49 that the protection of legal professional privilege “safeguards the public interest in the proper administration of justice in ensuring that a client is free to consult his lawyer without fear that any confidences which he imparts may subsequently be disclosed”. Can it be said, then, that there is a general principle of community law that confidentiality with regard to legal advice is a fundamental right protected by article 6(2) of the Treaty of Union50? It has been suggested51 that the most satisfactory analysis would be to link legal professional privilege as a general principle of Community law to the concept of a proper administration of justice at European level. This, it is argued, could cover not only cases with transnational elements but also the transposition, implementation and enforcement of Community law within national legal orders. Such an approach is not without difficulty. As the judgment of the Court in the OBFG case shows, a balancing exercise carried out between the principles underlying lawyer/client confidentiality on the one hand and the effective combating of money laundering on the other will not necessarily favour the former. Nor must it be forgotten that the Court has elsewhere affi rmed the right of member states to have differing rules to regulate the provision of legal services52. There is a risk that divergent policies among member states as to what is in the interests of the administration of justice would leave legal professional privilege vulnerable to interference by national regulation. In the United Kingdom, where the courts have no jurisdiction to declare legislation 48 At page 1654. 49 Joined Cases T-125/03 and T-253/03, [2007] ECR I-03523, paragraph 87. These passages were in turn cited by the Belgian Constitutional Court (Decision no 10/2008 of 23 January 2008, paragraphs B.7.1 – B.7.9) to emphasise that professional secrecy is a general principle which must be respected as a fundamental right. 50 “The Union shall respect fundamental rights, as guaranteed by the European Convention for the Protection of Human Rights and Fundamental Freedoms signed in Rome on 4 November 1950 and as they result from the constitutional traditions common to the Member States, as general principles of Community law.” 51 Luchtman & van der Hoeven, Case Comment (2009) 46 Common Market Law Review 301. 52 Wouters v Algemene Raad van de Nederlandse Orde van Advocaten Case C-309/99, [2002] ECR I-1577, especially paragraphs 99 and 108: a point recognised by the Belgian Constitutional Court in its decision cited above at paragraph B.7.7.
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passed by Parliament unconstitutional, there would remain a serious concern that a government with a sufficient Parliamentary majority could secure the enactment of legislation which, according to its own interpretation of the proper administration of justice, explicitly conferred a greater priority upon the prevention of money laundering, however widely defi ned, than on the safeguarding of lawyer/client confidentiality. In his Opinion in the OBFG case, the Advocate General (Poiares Maduro) noted that although professional secrecy of lawyers exists in most member states with the rank of a fundamental principle and the status of a rule of public policy, the detailed rules for its protection vary quite widely from one legal system to another. For this reason he concluded that it was necessary to turn instead to another source of protection53. 4. Protection of legal advice privilege under the Human Rights Convention It may seem odd to seek a source of protection of professional secrecy or legal professional privilege in the terms of a Convention dating only from the middle of the last century and, at least in the UK, only incorporated into domestic law as recently as 1998. The principles upon which professional secrecy and legal professional privilege are founded are very much older54. However, the Advocate General in OBFG considered that the appropriate source of protection of professional secrecy was the European Convention on Human Rights, and in particular Article 6 (right to a fair trial) and Article 8 (right to privacy). The Advocate General concluded55 that this twofold basis covered the ground for protection of professional secrecy: Article 6 would apply in the contentious, judicial and quasi-judicial context, and Article 8 would apply to confidential information entrusted by a client to his lawyer, irrespective of the context in which that takes place. In support of this view, the Advocate General referred to two judgments of the European Court of Human Rights. One56 concerned the search of a lawyer’s business premises for material which might help to identify the individual responsible for an attempt to interfere with a judge’s decision. The search itself was held to constitute a breach of the lawyer’s article 8 right to privacy, and the professional secrecy aspect is mentioned only in relation to the question whether the search was disproportionate to the pursuit of legitimate aims. In that context the Court recalled57 that
53 Opinion, paragraph 39. 54 The Advocate General observes (paragraph 36) that “it is possible to fi nd traces of [lawyers’ professional secrecy] ‘in all democracies’ and in all eras: present in the Bible, it appears again in the writings of ancient history and from century to century”. See also Lord Rodger of Earlsferry’s opinion in Three Rivers District Council (cited above, Section III.1) at paragraph 54, where he quotes a passage from the works of the Scottish jurist Sir George Mackenzie, written in 1675, explaining the public interest justification for lawyer/client confidentiality. 55 Opinion, paragraph 41. 56 Niemitz v Germany, 16 December 1992, 16 EHRR 97. 57 Judgment, paragraph 37.
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But this takes us back to legal proceedings and seems to afford an insecure foundation in Convention rights for protection of legal advice privilege. Moreover, the case is concerned with breach of the lawyer’s Article 8 rights and not those of the client. The second case to which the Advocate General referred58 concerned interception of correspondence between a client and his legal adviser. Again the interference was itself held to be a breach of Article 8, and the issue of legal professional privilege arose in the context of whether it was “necessary in a democratic society” within the meaning of Article 8(2). On this occasion, however, the European Court of Human Rights saw no need to invoke Article 6 and, referring in general terms to “the principles of confidentiality and professional privilege attaching to relations between a lawyer and his client”, held that the interference was not justified. This decision affords a useful illustration of an infringement of lawyer/client confidentiality being found to constitute a breach of the client’s Article 8 rights without the need for support from Article 6, although it should be noted that, once again, the issue in fact arose in the course of legal proceedings. The European Court of Justice in OBFG adopted much the same approach as the Advocate General with regard to Article 6 but, as already noted, had nothing to say about Article 8 and very little about advice unconnected with litigation. The Court did refer to certain judgments of the ECHR in the course of its discussion of Article 659, but omitted to refer to the cases more closely concerned with legal professional privilege to which the Advocate General had referred60. Nor does Article 8 play any significant role in the reasoning of the Belgian Constitutional Court in its judgment on the validity of the Belgian legislation implementing the Second Directive61. A greater degree of reliance is placed on Article 8 by the French Conseil d’Etat in its decision on the validity of the French legislation implementing the same provisions of the Second Directive62. The Conseil d’Etat considered that it followed from the European Court’s interpretation of the Directive in OBFG, and in particular the Court’s reliance upon what is now Recital 20 of the Third Directive63, that information received by a lawyer in the course of ascertaining the legal position for a client must be excluded from the scope of the reporting obligation, except, of course, where the lawyer knows that advice is being sought for money laundering purposes. This fi nding appears to be based upon 58 Foxley v UK, 20 June 2000, 31 EHRR 637. 59 Judgment, paragraph 31, where reference is made to Golder v UK, 21 February 1975, 1 EHRR 524; Campbell and Fell v UK, 28 June 1984, 7 EHRR 165; and Borgers v Belgium, 30 October 1991, 15 EHRR 92. 60 See further on this point Komarek, “Legal Professional Privilege and the EU’s Fight against Money Laundering”, (2008) 27 Civil Justice Quarterly 13 at page 19. 61 Decision no 10/2008 of 23 January 2008. 62 Decision of 10 April 2008. 63 See Section III.1 above.
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Article 8 as it is not specifically related to judicial proceedings64. But, as with the OBFG case in both the Court of Justice and the Belgian Constitutional Court, the discussion of Article 8 by the Conseil d’Etat takes place entirely in relation to what is now Article 22. The extent to which Article 8 must be taken into account in determining the scope of professional secrecy in relation to Article 24 is not addressed. It must therefore be recognised that the judgments given to date by the Court of Justice and by national courts in response to challenges to the validity of measures implementing the Second Directive have not provided any specific assistance on the extent to which Article 8 could be relied upon by a lawyer in the situation described above65, i.e. someone such as S in our example who has proceeded to act for his client C in discussions with his neighbour without making a “consent” disclosure.
VI. Conclusion 1. Policy considerations Prevention of the laundering of the proceeds of serious crime and of terrorist fi nancing has rightly become a priority of governments throughout the world. There is no strong argument in favour of a blanket exclusion of lawyers from the application of anti-money laundering legislation, even where they are unwittingly used as a tool by their client. That said, there are equally important policy reasons, recognised for centuries, for ensuring that a person may speak freely to his lawyer in order to obtain legal advice without being concerned that the information which he provides will be disclosed to state authorities. Where these two policy considerations come into confl ict, it is inevitable that information will be disclosed to lawyers which state authorities might well wish to know, but which nevertheless ought to remain confidential. The tendency in the enactment of UK national anti-money laundering legislation has unfortunately been to restrict the scope of lawyer/client confidentiality. As noted earlier in this article66, the FATF Recommendations themselves, while requiring the reporting by lawyers of suspicious transactions in the regulated sector, do not require the imposition of a “consent” regime. The European Directives which give effect to the FATF Recommendations do oblige Member States to require lawyers and others in the regulated sector to refrain from carrying out transactions which they suspect are related to money laundering unless they have complied with the reporting requirement, but the Directives apply only to serious crimes and do not require the criminalisation of those who fail to comply with the requirement. By virtue of its gold-plating of the Second Directive, the UK has encroached much further into lawyer/client 64 In his observations presented to the Conseil d’Etat, the Commissaire du Gouvernement made extensive reference to Article 8 and to the ECHR case law, including Niemitz and Foxley (above), as well as to the Advocate General’s Opinion on this point in OBFG. 65 Section IV.2. 66 Section II.2.
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confidentiality than was required in order to implement the Directives, and still further than was provided for in the FATF Recommendations. One might, purely as a matter of policy, take the view that a lawyer should not be at risk of criminal prosecution because he has provided legal assistance (unconnected with advice on tax liability) to a client some of whose resources have, to the lawyer’s knowledge, been obtained by means of tax evasion. If so, one may also conclude that the “consent” regime currently operated in the UK is deeply flawed and constitutes an unacceptable erosion of the fundamental right of a person to consult his or her lawyer in confidence. The Law Society of England and Wales continues to urge the UK government to replace the 2002 legislation with a less confrontational and more proportionate regime. But in the current political climate, it is doubtful whether the demands of the legal profession for recognition of these concerns will attract the sympathy of those in a position to promote amending legislation. 2. Protection of a fundamental right to confidentiality? Let us return to the example referred to earlier, and assume that S, the solicitor, accepted instructions to represent his client in negotiations with the neighbour without seeking the consent of the Serious Organised Crime Agency and, as a consequence, has been prosecuted for money laundering on the basis that he has “become concerned in an arrangement which he knows facilitates the retention of criminal property”67 by his client. He wishes to defend himself against the charge on the ground that the fact that his client has revealed his tax evasion to him in circumstances attracting legal professional privilege does not require him to seek consent before conducting negotiations on his client’s behalf. As we have seen, neither the national legislation nor Article 24 which it implements contains an express exception for legal professional privilege. So we return to the question: on what basis can he argue that legal advice privilege prevents the commission of an offence? Since we are concerned here with legislation implementing Article 24, neither the judgment of the European Court of Justice in OBFG nor the observations of the Belgian Constitutional Court and the Conseil d’Etat in the respective challenges to Belgian and French implementing legislation are of direct relevance. There is, as yet, no developed Community law concept of “proper administration of justice”. It seems, therefore, that the solicitor’s best argument depends upon the applicability of Article 8 of the European Convention on Human Rights. Although the right to privacy which has been violated is that of the client, it seems that the solicitor who is being prosecuted could claim to be a victim of the violation because he is directly affected by it68. The provisions of the national implementing legislation could then be interpreted and, if necessary, “read down” by the court to ensure compliance with Article 8. This might, for example, be achieved by attributing a restricted meaning to the expression “becoming concerned in an arrangement”, as the Court of Appeal did in Bowman v Fels with regard to the conduct and settlement of litigation. It is to be 67 Proceeds of Crime Act 2002, section 328. 68 See e.g. X, Cabales and Balkandali v UK (1982) DR vol 29, page 176.
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hoped that such a course of action would be adopted by a court faced with such a situation but, having regard to the very limited guidance currently available from Strasbourg case law, it cannot be assumed that this is what would happen. This article began with a reference to the uncertainties described by Professor Hellwig at the time of adoption of the Second Directive in 2002. Unfortunately, even in domestic professional legal practice, many of these difficulties remain unresolved69.
69 I am extremely grateful to Robin Booth, John Fish and Emma Oettinger for their very helpful comments on a draft of this article. The usual disclaimer applies.
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Größe und Zusammensetzung des Aufsichtsrats einer deutschen SE* Inhaltsübersicht I. Einleitung und Problemaufriss II. Keine Mitbestimmungsvereinbarung 1. Keine Mitbestimmung 2. Mitbestimmung aufgrund gesetzlicher Auffangregelung a) Drittelbeteiligung b) Parität III. Vereinbarung eines Mitbestimmungssystems
1. Wortlaut der einschlägigen deutschen und europäischen Normen 2. Gesetzessystematik 3. Vorstellungen und Absichten des Gesetzgebers 4. Historischer Kontext und teleologische Aspekte IV. Zusammenfassung
I. Einleitung und Problemaufriss In seiner jahrzehntelangen Beschäftigung mit dem Europäischen Recht hat der Jubilar aus den Grundfreiheiten des EG-Vertrags immer wieder Erkenntnisse abgeleitet, die beachtliche Konsequenzen für das deutsche Recht und seine Fortentwicklung haben. Zuletzt hat er sich intensiver mit der deutschen unternehmerischen Mitbestimmung auseinandergesetzt und herausgefunden, dass der Ausschluss der im Ausland tätigen Belegschaften von den Wahlen der Arbeitnehmervertreter zum Aufsichtsrat gemeinschaftsrechtswidrig ist1. Dies ist Anlass, im Folgenden ein Kernproblem der unternehmerischen Mitbestimmung bei der Europäischen Aktiengesellschaft (SE) mit Sitz in Deutschland etwas eingehender zu beleuchten. Es geht um die Größe und Zusammensetzung des Aufsichtsrats einer deutschen SE. In der Praxis spielen die dabei bestehenden rechtlichen Möglichkeiten und Begrenzungen eine große Rolle, insbesondere im Rahmen der paritätischen Mitbestimmung 2. Allianz (2005/2006) und BASF (2007/2008) haben als ein Motiv für die SE-Gründung die Möglichkeit genannt, den paritätisch mitbestimmten Aufsichtsrat von 20 Mitgliedern auf 12 Mitglieder zu verkleinern. Fresenius (2006/2007) und Porsche (2007) wollten die bisherige Größe des pari* Das Manuskript wurde im Juni 2010 abgeschlossen. Insbesondere der für Heft 6 der Zeitschrift „Der Konzern“ angekündigte Beitrag von Kiem konnte nicht mehr berücksichtigt werden. 1 Hellwig/Behme, AG 2009, 261; Hellwig/Behme, ZIP 2009, 1791; Hellwig/Behme, ZIP 2010, 871. 2 Rein zahlenmäßig überwiegen wohl die für die vorliegende Untersuchung nicht relevanten Fälle, in denen kleinere Gesellschaften durch SE-Gründung den Wechsel in das nächst intensivere Mitbestimmungssystem vermeiden wollen; siehe die Aufzählung bei Seibt, ZIP 2010, 1057.
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tätisch mitbestimmten Aufsichtsrats von 12 Mitgliedern beibehalten. Damit befanden diese Gesellschaften sich in voller Übereinstimmung mit § 17 Abs. 1 Satz 3 SEAG, der eine Teilbarkeit (gemeint ist: ohne Rest) der Mitglieder des Aufsichtsrats durch drei fordert. In der Tat wird dieses sog. Dreiteilbarkeitsgebot von vielen bisher als unabdingbar angesehen3. Das Dreiteilbarkeitsgebot erlaubt paritätisch mitbestimmten Gesellschaften, bei denen die Zahl der Mitglieder des Aufsichtsrats ja auch noch durch zwei, also insgesamt durch sechs ohne Rest teilbar sein muss, innerhalb der Grenzen des § 17 Abs. 1 SEAG die Bildung eines Aufsichtsrats nur mit 6, 12 oder 18 Mitgliedern. Als eine der ersten börsennotierten Gesellschaften mit Streubesitz hat es MAN 2009 gewagt, im Vertrauen auf die seinerzeit noch vereinzelte Gegenmeinung in der Literatur4 die starren Grenzen des § 17 Abs. 1 Satz 3 SEAG zu ignorieren und, gestützt auf die Regelungen zur Mitbestimmung in der Beteiligungsvereinbarung (§ 21 Abs. 3 SEBG), also die Mitbestimmungsvereinbarung im engeren Sinn5, einen Aufsichtsrat mit 16 Mitgliedern zu installieren. Etwa gleichzeitig hat GfK, aus der Drittelbeteiligung kommend, sich beim Formwechsel in die SE zunächst einen Aufsichtsrat mit 9 Mitgliedern, davon drei Arbeitnehmervertretern, gegeben. Nach Eintragung des Formwechsels wurde die Mitbestimmungsvereinbarung jedoch geändert; sie sah nunmehr vor, dass der Aufsichtsrat aus 10 Mitgliedern, davon vier Arbeitnehmervertretern, bestehen solle. Das im Wege des Statusverfahrens angerufene LG Nürnberg-Fürth hat kürzlich bestätigt, dass der Aufsichtsrat der GfK SE wie in der geänderten Mitbestimmungsvereinbarung vorgesehen und ohne Rücksicht auf das Dreiteilbarkeitsgebot zusammenzusetzen sei und die Satzung der GfK SE gemäß Art. 12 Abs. 4 SE-VO angepasst werden müsse6. Geben diese Entwicklungen Anlass zur Kühnheit? Kann man künftig die Beschränkungen des § 17 Abs. 1 SEAG, jedenfalls das Dreiteilbarkeitsgebot des Satzes 3, außer Acht lassen, wenn man sich auf die Mitbestimmungsvereinbarung stützen kann? Die ersten literarischen Reaktionen auf die Entscheidung
3 Ihrig/Wagner, BB 2004, 1749, 1755; Müller-Bonanni/Melot de Beauregard, GmbHR 2005, 195, 197; vor allem sodann Habersack, AG 2006, 345, 347; Habersack, ZHR 171 (2007), 613, 633; Habersack, Der Konzern 2008, 67, 71; weiterhin Rieble, NJW 2006, 2214, 2216 f.; Forst, AG 2010, 350, 357; Reichert/Brandes in MünchKomm. AktG, 2. Aufl. 2006, Art. 40 SE-VO Rz. 70; Feuerborn in KölnKomm. AktG, 3. Aufl. 2010, § 21 SEBG Rz. 51. So bisher auch der Verfasser selbst: Austmann in MünchHdb. AG, 3. Aufl. 2007, § 85 Rz. 37, Fn. 75. 4 Vor allem Oetker, ZIP 2006, 1113, 1114 ff.; Schwarz, 2006, Art. 40 SE-VO Rz. 82. Sodann unter weiter Ausdehnung der Privatautonomie Teichmann, Der Konzern 2007, 89, 94; Teichmann, AG 2008, 797, 804. Heute auch Kiefner/Friebel, NZG 2010, 537, 539; Seibt, ZIP 2010, 1057, 1061. 5 Anders als die betriebliche Mitbestimmung (§ 21 Abs. 1 und 2 SEBG) ist die unternehmerische Mitbestimmung (§ 21 Abs. 3 SEBG) nach dem klaren Wortlaut der Vorschriften außer im Sonderfall der Formwechselgründung (§ 21 Abs. 6 SEBG) kein zwingender Bestandteil der Vereinbarung. Siehe nur Oetker in Lutter/Hommelhoff, Die Europäische Gesellschaft, 2005, S. 277, 300; Austmann in MünchHdb. AG, 3. Aufl. 2007, § 85 Rz. 36. 6 LG Nürnberg-Fürth, AG 2010, 384 „GfK“ (rechtskräftig).
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des LG Nürnberg-Fürth sind überwiegend positiv7. Einige zeichnen große Spannungsbögen im Kräftefeld zwischen Satzungsautonomie (der Hauptversammlung), Privatautonomie (der Parteien der Mitbestimmungsvereinbarung) und Organisationsautonomie (des Aufsichtsrats). Was folgt, ist der Versuch, dem Problem mit dem juristischen Handwerkskasten zu Leibe zu rücken. Dafür sollen zum einfacheren Verständnis zunächst Fälle betrachtet werden, in denen eine Mitbestimmungsvereinbarung gar nicht abgeschlossen worden ist.
II. Keine Mitbestimmungsvereinbarung Wenn keine Mitbestimmungsvereinbarung zustande kommt, bleibt die neugegründete SE entweder ohne Mitbestimmung oder bildet einen Aufsichtsrat gemäß der gesetzlichen Auffangregelung. Der erste Fall, die Mitbestimmungslosigkeit, kommt in der Praxis nur vor, wenn die Gründungsgesellschaften und deren betroffene Tochtergesellschaften gar keine Arbeitnehmer beschäftigen8, also vor allem im Fall der Vorratsgründung, oder wenn die Aufgreifschwellen für die gesetzliche Auffangregelung (§ 34 Abs. 1 SEBG) nicht erreicht werden. Nur theoretisch ist der Fall, dass nur die betriebliche, nicht aber die unternehmerische Mitbestimmung in der Beteiligungsvereinbarung geregelt wird, so dass die gesetzliche Auffangregelung nicht eingreift9. Als ebenfalls theoretisch kann es angesehen werden, dass das besondere Verhandlungsgremium, in dem die Arbeitnehmer der Gründungsgesellschaften, ihrer betroffenen Tochtergesellschaften und der betroffenen Betriebe repräsentiert sind (§ 5 SEBG), die Nichtaufnahme oder den Abbruch der Verhandlungen mit der Folge beschließt, dass die gesetzliche Auffangregelung nicht zur Anwendung kommt (§ 16 Abs. 2 Satz 2 SEBG). Der zweite Fall, die Anwendung der gesetzlichen Auffangregelung, tritt ein, wenn eine Beteiligungsvereinbarung in der gesetzlich (§ 20 SEBG) vorgegebenen Zeit nicht zustande kommt oder die Parteien die Anwendung der gesetzlichen Auffangregelung positiv vereinbaren (§ 22 Abs. 1 SEBG). 1. Keine Mitbestimmung Wenn der Aufsichtsrat der SE nur aus Aktionärsvertretern zusammengesetzt wird, herrscht keine Unsicherheit über seine Größe und Zusammensetzung. Art. 40 Abs. 3 Satz 1 SE-VO bestimmt, dass die Zahl der Aufsichtsratsmitglieder oder die Regeln für ihre Festlegung durch die Satzung bestimmt werden. Gleichzeitig ermächtigt Art. 40 Abs. 3 Satz 2 SE-VO die Mitgliedsstaaten, für die SE in ihrer Jurisdiktion die Zahl der Mitglieder des Aufsichtsrats oder eine Höchst- und/oder Mindestzahl festzulegen. Von dieser Ermächtigung macht § 17 Abs. 1 SEAG in mehrfacher Hinsicht Gebrauch: In Anlehnung an § 95 Satz 1 bis 4 AktG besteht der Aufsichtsrat aus drei Mitgliedern. Die Satzung 7 Teichmann, BB 2010, 1114, 1115; Seibt, NZG 2010, 1057, 1061; Kiefner/Friebel, NZG 2010, 537, 539. A. A. Forst, AG 2010, 350, 357. 8 AG Düsseldorf, ZIP 2006, 282 „Atrium“; AG München, ZIP 2006, 1300 „Beiten Burkhard“ mit zust. Anm. Startz. A. A. Blanke, ZIP 2006, 789, 791. 9 Die Voraussetzungen des § 22 Abs. 1 Nr. 2 SEBG liegen bei Abschluss einer Vereinbarung nicht vor, auch wenn diese gemäß § 21 Abs. 1 und 2 SEBG nur das Pfl ichtprogramm, die betriebliche Mitbestimmung, regelt; dazu oben Fn. 5.
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kann diese Zahl in Abhängigkeit vom Umfang des Grundkapitals auf bis zu 9, 15 oder 21 Mitglieder erhöhen. Die Zahl muss durch drei teilbar sein. Von diesen Regeln gibt es bei fehlender Mitbestimmung keine Ausnahme, und es wird, soweit ersichtlich, auch keine Flexibilisierung dieser Regeln vertreten. Im Hinblick auf das Dreiteilbarkeitsgebot ist dieses Ergebnis allerdings de lege ferenda nicht akzeptabel. Es gibt keinen sachlichen Grund dafür, dass die Zahl der Aufsichtsratsmitglieder bei einer nicht mitbestimmten Gesellschaft durch drei teilbar sein müsste. Durch eine solche Regelung wird nicht einmal, woran man noch am ehesten denken könnte, eine Pattsituation im Aufsichtsrat vermieden, weil auch Aufsichtsräte mit 6, 12 oder 18 Mitgliedern dem Dreiteilbarkeitsgebot genügen. Historisch, und nur so ist sie zu erklären, sollte diese Regel die durch das BetrVG 1952 eingeführte und heute im DrittelbG angesiedelte Drittelbeteiligung der Arbeitnehmer im Aufsichtsrat aktienrechtlich absichern10. Schon seinerzeit hätte die überschießende Anwendung des Dreiteilbarkeitsgebots auf nicht mitbestimmte Gesellschaften gesetzlich ausgeschlossen werden sollen; diese Gesetzesänderung ist bei § 95 AktG seit einem knappen halben Jahrhundert überfällig und wäre bei § 17 Abs. 1 SEAG gleich mit zu vollziehen. 2. Mitbestimmung aufgrund gesetzlicher Auffangregelung Wenn die gesetzliche Auffangregelung eingreift, bleibt bei einer SE, die durch Formwechsel entstanden ist, diejenige Regelung zur Mitbestimmung erhalten, die in der Gesellschaft vor dem Formwechsel bestanden hat (§ 35 Abs. 1 SEBG). Bei allen anderen Gründungsformen erhalten die Arbeitnehmer das Recht, einen Teil der Mitglieder des Aufsichtsrats zu wählen; deren Zahl bemisst sich nach dem höchsten Anteil an Arbeitnehmervertretern, der in den Aufsichtsräten der Gründungsgesellschaften bestanden hat (§ 35 Abs. 2 SEBG). Die zuletzt genannte Vorschrift ist eine Proporzregel; sie spricht eindeutig von dem „Anteil“ der den Arbeitnehmern zustehenden Sitze, garantiert aber keine absolute Zahl von Sitzen11. Obwohl das Wort „Anteil“ in der Auffangregelung für die Formwechselgründung nicht erwähnt wird, wird auch § 35 Abs. 1 SEBG zu Recht als Gewährleistung des anteilsmäßigen Besitzstands, nicht einer absoluten Zahl von Sitzen gesehen12. Denn am Formwechsel ist nur eine Gründungsgesellschaft beteiligt, so dass diese den für die SE maßgeblichen „höchsten Anteil“ der Arbeitnehmersitze allein bestimmt. Der Gesetzgeber konnte deshalb abgekürzt formulieren und auf den Mitbestimmungsstandard in der Gründungsgesellschaft verweisen. Daraus ergibt sich folgendes für Größe und Zusammensetzung des Aufsichtsrats: 10 Herold, NJW 1953, 1809; Spindler in Spindler/Stilz, AktG, 2007, § 95 R z. 14. 11 Begr. RegE SEEG, BT-Drucks. 15/3405, S. 54; Habersack, AG 2006, 345, 347; Jacobs in MünchKomm. AktG, 2. Aufl. 2006, § 35 SEBG Rz. 12; Oetker in Lutter/Hommelhoff, SE-Kommentar, 2008, § 35 SEBG Rz. 16. 12 Ihrig/Wagner, BB 2004, 1749, 1755; Grobys, NZA 2005, 84, 90; Müller-Bonanni/ Melot de Beauregard, GmbHR 2005, 195, 197; Schwarz, SE-VO, 2006, Einl. Rz. 311; Habersack, AG 2006, 345, 347; Jacobs in FS K. Schmidt, 2009, S. 795, 800.
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a) Drittelbeteiligung Gemäß Art. 40 Abs. 3 SE-VO, § 17 Abs. 1 SEAG besteht der Aufsichtsrat aus drei Mitgliedern, oder, sofern die Aktionäre dies in der Satzung festlegen, einer bestimmten höheren, durch drei teilbaren Zahl, die je nach Umfang des Grundkapitals bestimmten Höchstgrenzen unterliegt. § 17 Abs. 2 SEAG sagt, dass die Beteiligung der Arbeitnehmer nach dem SEBG unberührt bleibt, die anteilsmäßige Vertretung im Aufsichtsrat nach der gesetzlichen Auffangregelung des § 35 SEBG also gewährleistet wird. Das Dreiteilbarkeitsgebot bereitet bei der Drittelbeteiligung nicht nur keine Schwierigkeiten, sondern schützt die Drittelbeteiligung sogar gegen Eigenmächtigkeiten des Satzungsgebers. Wenn beispielsweise eine AG mit einem 12-er Aufsichtsrat in eine SE umgewandelt wird, kann die Satzung der SE die Zahl der Aufsichtsratssitze fortführen und den Arbeitnehmern weiterhin 4 Sitze zukommen lassen. Die Aktionäre können aber auch entscheiden, den Aufsichtsrat auf 15 Sitze zu vergrößern (wenn die SE über ein Grundkapital von mehr als 1,5 Mio. Euro verfügt), von denen den Arbeitnehmern dann 5 Sitze zukämen, oder den Aufsichtsrat auf 9 Sitze zu verkleinern, von denen die Arbeitnehmer nur noch 3 Sitze beanspruchen könnten. Dies gilt auch bei der Formwechselgründung, weil § 35 Abs. 1 SEBG, wie gesagt13, trotz seines weniger präzisen Wortlauts genau wie § 35 Abs. 2 SEBG nur die quotale Beteiligung der Arbeitnehmer sichert. Bemerkenswert ist, dass Art. 12 Abs. 4 SE-VO die Beteiligungsrechte der Arbeitnehmer, die diese aufgrund der Auffangregelung im Aufsichtsrat haben, nicht gegen abweichende Satzungsbestimmungen schützt. Denn Art. 12 Abs. 4 SE-VO löst nach seinem unzweideutigen Wortlaut nur den Konfl ikt zwischen einer Mitbestimmungsvereinbarung und der Satzung zugunsten der Mitbestimmungsvereinbarung, indem er eine Änderung der Satzung verlangt. Wenn also der SE-Satzungsgeber auf die Idee käme, bei Formwechsel aus einer AG mit Drittelbeteiligung und bei Abwesenheit einer Mitbestimmungsvereinbarung den Aufsichtsrat ausschließlich aus Vertretern der Aktionäre zusammenzusetzen, würden die Arbeitnehmer durch Art. 12 Abs. 4 SE-VO nicht geschützt. Schutz gewährt insoweit allein der Mitbestimmungsvorbehalt in § 17 Abs. 2 SEAG, wonach die Beteiligung der Arbeitnehmer nach dem SEBG von der Satzungsregelung nicht berührt wird; eine entgegenstehende Satzungsregelung wäre ipso jure nichtig14. Insoweit hat § 17 Abs. 2 SEAG im Bereich der gesetzlichen Auffangregelung eine eigenständige Bedeutung neben Art. 12 Abs. 4 SE-VO. b) Parität Wenn eine der Gründungsgesellschaften der paritätischen Mitbestimmung unterliegt, sind die Gestaltungsmöglichkeiten für den SE-Satzungsgeber eingeschränkt. Das Dreiteilbarkeitsgebot des § 17 Abs. 1 Satz 2 SEAG i. V. m. dem Paritätsgebot der gesetzlichen Auffangregelung (§ 35 SEBG) verlangt, wie
13 Siehe oben II 2 vor a bei Fn. 12. 14 Und zwar gemäß § 23 Abs. 5 Satz 1 AktG, Art. 9 Abs. 1 lit. c ii SE-VO wegen Verstoßes gegen das zwingende Gesetzesrecht des § 35 SEBG.
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oben erläutert15, Teilbarkeit durch 6, so dass innerhalb der Höchstgrenzen des § 17 Abs. 1 Satz 4 SEAG der Aufsichtsrat nur 6, 12 oder 18 Mitglieder haben kann. § 17 Abs. 2 SEAG erlaubt dem Satzungsgeber keine Abweichung von diesen strengen Vorgaben, insbesondere vom Dreiteilbarkeitsgebot, weil die gesetzliche Auffangregelung des SEBG den Arbeitnehmern nur anteilsmäßige Repräsentanz im Aufsichtsrat gewährt, nicht aber eine bestimmte Zahl von Sitzen, und diese anteilsmäßige Repräsentanz bei Parität in den drei Varianten 6, 12 oder 18 dargestellt werden kann16. Von den Aufsichtsratsgrößen, die § 7 Abs. 1 MitBestG zur Verfügung stellt (12, 16 oder 20), kann also in der SE bei Eingreifen der gesetzlichen Auffangregelung nur der 12-er Aufsichtsrat „fortgesetzt“ werden, während bei einem ehemaligen 20-er Aufsichtsrat in jedem Fall in absoluter Zahl Sitze verloren gehen und bei einem ehemaligen 16-er Aufsichtsrat, je nach Entscheidung des SE-Satzungsgebers, Sitze in absoluter Zahl verloren gehen oder hinzugewonnen werden.
III. Vereinbarung eines Mitbestimmungssystems Die spannende Frage lautet nun, ob die Gestaltungsmöglichkeiten zunehmen, wenn die Verhandlungen über das Mitbestimmungsmodell erfolgreich mit einer Mitbestimmungsvereinbarung im Sinne von § 21 Abs. 3 SEBG abgeschlossen werden. In der Praxis ist diese Frage am bedeutendsten wohl für den Transport der paritätischen Mitbestimmung von den Gründungsgesellschaften in die SE. Viele werden ein großes Interesse daran haben, dabei den Beschränkungen des Dreiteilbarkeitsgebots auf eine Aufsichtsratsgröße von 6, 12 oder 18 Mitgliedern zu entgehen. MAN hat dies erfolgreich getan, indem sie der MAN SE einen Aufsichtsrat mit 16 Mitgliedern gegeben hat. Dass andere Gesellschaften die Umwandlung in die SE gar nicht erst versucht haben, weil die Transaktionsrisiken ihnen mit Beibehaltung ihrer bisherigen Aufsichtsratsgröße von 16 oder 20 Mitgliedern zu groß erschienen, wird man vermuten dürfen. Die Frage der Flexibilisierung stellt sich aber auch für die Schaffung von Mitbestimmungsmodellen, die sich nicht in die Schemata Drittelbeteiligung oder Parität pressen lassen. Dies zeigt der Eingangs erwähnte Fall des LG Nürnberg-Fürth17, in dem, von der Drittelbeteiligung kommend, ein Aufsichtsrat mit 10 Mitgliedern gebildet wurde, dem 4 Arbeitnehmervertreter angehören. 1. Wortlaut der einschlägigen deutschen und europäischen Normen Die Öffnungsklausel gegenüber den Beschränkungen des § 17 Abs. 1 SEAG, insbesondere gegenüber dem Dreiteilbarkeitsgebot, ist der Mitbestimmungsvorbehalt in § 17 Abs. 2 SEAG, der die „Beteiligung der Arbeitnehmer nach dem SE-Beteiligungsgesetz … unberührt“ lässt. Wenn das Mitbestimmungsmodell 15 Siehe oben I. 16 A. A. Seibt, ZIP 2010, 1057, 1062 unter Hinweis darauf, dass auch die gesetzliche Auffangregelung eine Beteiligung der Arbeitnehmer nach dem SEBG i. S. v. § 17 Abs. 2 SEAG sei. Das ist sicher richtig, trägt m. E. aber nicht die Schlussfolgerung, weil auch unter dem Dreiteilbarkeitsgebot immerhin drei Varianten für die Aufsichtsratsgröße verbleiben. 17 AG 2010, 384 „GfK“.
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vereinbart wird, also in dem vom Gesetzgeber beabsichtigten Normalfall, fi nden sich die Vorschriften nicht im Gesetz selbst, sondern in einem darauf beruhenden Vertrag zwischen den Gründungsgesellschaften, vertreten durch deren Vorstände, und dem besonderen Verhandlungsgremium der §§ 5 ff. SEBG, in dem die Arbeitnehmer repräsentiert sind. Selbstverständlich kann man nicht alles, was die Vertragsparteien nach zähem Ringen in ihrem Vertragswerk niederlegen, ohne weitere Prüfung als Regelung der Arbeitnehmerbeteiligung „nach“ dem SEBG ansehen18 und an der Durchbrechungswirkung des § 17 Abs. 2 SEAG teilhaben lassen. Aber man kann mindestens das darunter subsumieren, was den Regelungsauftrag des § 21 Abs. 3 SEBG erfüllt und den Mindestinhalt der Mitbestimmungsvereinbarung darstellt. Dazu gehört gemäß § 21 Abs. 3 Nr. 1 SEBG die Festlegung der „Zahl“ der von den Arbeitnehmern zu wählenden Aufsichtsratsmitglieder. Nun ist die Festlegung einer „Zahl“ von Arbeitnehmervertretern im Aufsichtsrat offensichtlich etwas anderes als die von der gesetzlichen Auffangregelung in § 35 Abs. 2 SEBG vorgeschriebene Ableitung der Mitgliederzahl aus einem vorgegebenen (nämlich dem höchsten) „Anteil“ der Arbeitnehmervertreter in den Vorgängergremien. Wenn der Anteil vorgegeben ist, wird das Mitbestimmungsniveau der Gründungsgesellschaften in jedem Fall gesichert, gleichgültig in welcher Größe die SE-Satzung den Aufsichtsrat bildet. Anders verhält es sich mit der Festlegung einer Zahl von Arbeitnehmervertretern: Welchen Einfluss diese im Gremium haben, hängt von der Größe des Gremiums ab. Um den Regelungsauftrag von § 21 Abs. 3 SEBG (Festlegung des Mitbestimmungssystems) zu erfüllen, muss die Mitbestimmungsvereinbarung also neben der Zahl der Arbeitnehmervertreter auch die Größe des Aufsichtsrats festlegen. Und diese darf dann wegen des Mitbestimmungsvorbehalts in § 17 Abs. 2 SEAG vom Dreiteilbarkeitsgebot abweichen. Zu Recht wird darauf hingewiesen, dass mit dem SEBG europäisches Recht, nämlich die SE-RL, in deutsches Recht umgesetzt wird und deshalb bei der Auslegung der deutschen Umsetzungsnormen ein Blick in die europarechtliche Grundlage hilfreich und sogar – unter dem Gebot richtlinienkonformer Auslegung des nationalen Rechts – erforderlich sein kann19. § 21 Abs. 3 SEBG geht zurück auf Art. 4 Abs. 2 lit. g SE-RL. Auch dort ist von der „Zahl“ der Arbeitnehmervertreter die Rede, die in einer Mitbestimmungsvereinbarung festgelegt werden soll. Und auch alle weiteren Sprachfassungen der SE-RL verwenden in Art. 4 Abs. 2 lit. g einen Begriff, der dem deutschen Wort „Zahl“ entspricht20.
18 Zu den möglichen Regelungsgegenständen siehe unten III 2 am Anfang. 19 Statt vieler Oetker in Lutter/Hommelhoff, Die Europäische Gesellschaft, 2005, S. 277, 281 f. 20 Forst, AG 2010, 350, 355. Das von Forst und ihm folgend Seibt, ZIP 2010, 1057, 1060, konstatierte Sprachenwirrwarr entsteht nur, weil Art. 4 Abs. 2 lit. g SE-RL ohne Weiteres mit dem Wortlaut der Legaldefi nition von Mitbestimmung in Art. 2 lit. k SE-RL (der in sich wieder in allen Sprachfassungen konsistent ist) in Beziehung gesetzt wird. Das ist aber ein erfolgloses systematisches Argument, auf das gleich eingegangen wird.
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2. Gesetzessystematik In systematischer Hinsicht richten die Gegner der durch den Wortlaut unterstützen Gestaltungsfreiheit in der Mitbestimmungsvereinbarung den Blick auf die Legaldefi nition in § 2 Abs. 12 SEBG, die praktisch wortgleich aus Art. 2 lit. k SE-RL abgeleitet worden ist21. Darin wird Mitbestimmung defi niert als das Recht, einen „Teil“ der Mitglieder des Aufsichtsrats zu bestellen. Dieser systematische Hinweis ist in der Tat wichtig, vor allem angesichts der Zurückhaltung des Gesetzgebers bei der Festlegung des Vereinbarungsinhalts in § 21 Abs. 3 SEBG. Denn selbstverständlich können die Parteien der Mitbestimmungsvereinbarung nicht alles regeln, was ihnen in den Sinn kommt, sondern sie müssen sich schon einmal mit Fragen der Mitbestimmung befassen 22, und nur solche Regelungen werden durch den Mitbestimmungsvorbehalt in § 17 Abs. 2 SEAG geschützt. Beispielsweise ist es den Parteien der Mitbestimmungsvereinbarung versagt, in die Organisationsautonomie des Aufsichtsrats oder die Satzungsautonomie der Hauptversammlung einzugreifen und Festlegungen zu Sitzungsfrequenz, Ladungsfristen, Arbeitssprache, Ausschüssen und Zustimmungsvorbehalten zu treffen 23. Allerdings zeigt schon der Wortlaut von § 21 Abs. 3 SEBG, dass zu der in § 2 Abs. 12 SEBG defi nierten Mitbestimmung mehr gehört als nur die Festlegung eines „Teils“ der Mitglieder des Aufsichtsrats, die von den Arbeitnehmern zu wählen sind. § 21 Abs. 3 Nr. 2 SEBG verlangt von der Mitbestimmungsvereinbarung außerdem die Regelung des Wahlverfahrens, Nr. 3 will auch die Rechte der Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat festgelegt wissen. Dass die Defi nition der Mitbestimmung in § 2 Abs. 12 SEBG sich auf die anteilsmäßige Beteiligung der Arbeitnehmer im Aufsichtsrat beschränkt, sagt also noch nichts darüber, wie diese anteilsmäßige Beteiligung durch eine Mitbestimmungsvereinbarung im Einzelnen sichergestellt werden kann. Die Festlegung einer absoluten Zahl von Arbeitnehmervertretern im Verhältnis zur Gesamtgröße des Aufsichtsrats, wie dies vom Wortlaut des § 21 Abs. 3 Nr. 1 SEBG nahe gelegt wird, wird von der Mitbestimmungsdefi nition offenbar noch umfasst. Ein anderes systematisches Gegenargument stützt sich auf Art. 40 Abs. 3 Satz 1 SE-VO, wonach die „Zahl“ der Mitglieder des Aufsichtsrats durch die Satzung bestimmt wird; diese Vorschrift sei gegenüber dem Mitbestimmungsvorbehalt in § 17 Abs. 2 SEAG höherrangiges Recht, wie auch noch einmal in Art. 9 Abs. 1 SE-VO klargestellt werde24. So ganz absolut steht Art. 40 Abs. 3 Satz 1 SE-VO allerdings nicht da. Satz 2 der Vorschrift öffnet diese sogleich wieder für Eingriffe durch die Mitgliedsstaaten, indem diese ermächtigt werden, für die in ihrer Jurisdiktion ansässigen SE die Zahl der Aufsichtsratsmitglieder oder deren Höchst- und/oder Mindestzahl festzulegen. Auf diese Ermächtigungs21 Habersack, AG 2006, 345, 351 ff.; Forst, AG 2010, 350, 355. 22 Reichert/Brandes in MünchKomm. AktG, 2. Aufl. 2006, Art. 40 SE-VO Rz. 70; Habersack, AG 2006, 345, 351; Oetker in FS Konzen, 2006, S. 635, 649 f.; Austmann in MünchHdb. AG, 3. Aufl. 2007, § 85 Rz. 37. 23 Habersack, AG 2006, 347, 349 f.; Habersack, ZHR 171 (2007), 613, 631, 634; Austmann in MünchHdb. AG, 3. Aufl. 2007, § 85 Rz. 37. Teilweise großzügiger Seibt, ZIP 2010, 1057, 1061. Noch weitergehend Teichmann, AG 2008, 797, 800 ff. 24 Jacobs in FS K. Schmidt, 2009, S. 795, 804; Forst, AG 2010, 350, 356.
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norm stützt sich § 17 Abs. 1 SEAG, aber auch der Mitbestimmungsvorbehalt in § 17 Abs. 2 SEAG sollte diese Ermächtigungsnorm für sich in Anspruch nehmen können. Entscheidender aber ist, dass Art. 40 Abs. 3 SE-VO sich gar nicht mit dem Rangverhältnis zwischen Satzung und Mitbestimmungsvereinbarung befasst, sondern nur mit der Kompetenzabgrenzung zwischen den Organen der SE, und in diesem Kompetenzsystem dem Satzungsgeber, also der Hauptversammlung, die Festlegung der Aufsichtsratsgröße überlässt. Die Hauptversammlung hat insoweit umzusetzen, was die Parteien der Mitbestimmungsvereinbarung innerhalb der ihnen von § 21 Abs. 3 SEBG verliehenen Kompetenz regeln. Dies sagt ausdrücklich Art. 12 Abs. 4 SE-VO. Indem die entsprechenden Regelungen der Mitbestimmungsvereinbarung Satzungsrang erhalten, rücken sie in der Normenhierarchie des Art. 9 Abs. 1 SE-VO ganz weit nach oben, nämlich gleich hinter die Bestimmungen der SE-VO (lit. b). Für die in die Satzung aufgenommenen Regelungen der Mitbestimmungsvereinbarung bedürfte es also nicht einmal des Mitbestimmungsvorbehalts in § 17 Abs. 2 SEAG; solche Regelungen würden den auf niedrigerer Hierarchiestufe stehenden § 17 Abs. 1 SEAG (Art. 9 Abs. 1 lit. c i SE-VO) schon aufgrund der Normenhierarchie des Art. 9 SE-VO schlagen. Ein letzter systematischer Einwand bleibt zu behandeln: Erhalten die Vorstände der Gründungsgesellschaften unangemessenen Einfluss auf Größe und Zusammensetzung des Aufsichtsrats, wenn sie diese Parameter gemeinsam mit dem besonderen Verhandlungsgremium in der Mitbestimmungsvereinbarung festlegen können 25? Eine solche Besorgnis ist im Ergebnis unbegründet. Denn letztlich haben es die Aktionäre der Gründungsgesellschaften in der Hand, welchen Einfluss sie Vorstand und Arbeitnehmern vermittels der Mitbestimmungsvereinbarung geben wollen. Bei einer Verschmelzungsgründung (Art. 23 Abs. 2 Satz 2 SE-VO) und einer Holding-Gründung (Art. 32 Abs. 6 Unterabs. 2 Satz 2 SE-VO) kann die Hauptversammlung jeder Gründungsgesellschaft die Eintragung der SE davon abhängig machen, dass die Mitbestimmungsvereinbarung von ihr ausdrücklich genehmigt wird. Im Übrigen und bei allen anderen Gründungsformen haben die Hauptversammlungen der Gründungsgesellschaften die Möglichkeit, die Gründung der SE insgesamt abzulehnen, wenn ihnen das in der Mitbestimmungsvereinbarung niedergelegte Mitbestimmungssystem nicht behagt26. Im Ergebnis führt die systematische Betrachtung jedenfalls nicht auf sicheren Grund und Boden. Der Wortlaut von § 21 Abs. 3 SEBG weist den Parteien der Mitbestimmungsvereinbarung sehr deutlich das Recht zu, die Zahl der Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat und damit zwangsläufig auch die Größe des 25 Diese Besorgnis wird vor allem artikuliert von Kiem, ZHR 171 (2007), 713, 718; Kiem, ZHR 173 (2009), 156, 178; Windbichler in FS Canaris, Bd. II, 2007, S. 1423, 1430; Henssler, ZHR 173 (2009), 222, 238 f.; Forst, AG 2010, 350, 357; Seibt, ZIP 2010, 1057, 1064. Ebenso de lege ferenda bei einer Ausweitung der Verhandlungslösung auf rein deutsche Vorgänge Hommelhoff, ZGR 2010, 48, 57 f. 26 Kiefner/Friebel, NZG 2010, 537, 539. Darüber hinaus fordert de lege ferenda Hommelhoff, ZGR 2010, 48, 58 die Beteiligung von Aufsichtsratsmitgliedern an den Verhandlungen über das Mitbestimmungssystem; ihm folgend Seibt, ZIP 2010, 1057, 1064.
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Aufsichtsrats festzulegen, und diese Festlegungen schlagen die starren Grenzen des § 17 Abs. 1 SEAG. Aus dem systematisch nicht ganz einfachen Zusammenspiel der verschiedenen einschlägigen deutschen und europäischen Rechtsnormen ergibt sich jedenfalls kein durchgreifendes Gegenargument. 3. Vorstellungen und Absichten des Gesetzgebers Die Parallelen zwischen § 17 Abs. 1 SEAG und § 95 Satz 1 bis 4 AktG einerseits sowie § 17 Abs. 2 SEAG und § 95 Satz 5 AktG andererseits sind frappierend. Zunächst stellt der Gesetzgeber einen Rahmen für die Größe des Aufsichtsrats auf (einschließlich des Dreiteilbarkeitsgebots), um dann abweichende Regelungen des Mitbestimmungsrechts zuzulassen und diesen Regelungen Vorrang vor Aktienrecht und Satzung zu gewähren. § 17 SEAG entspricht der Intention des Gesetzgebers, das ihm vertraute Aktienrechtsregime so weit wie möglich auf die deutsche SE zu übertragen 27. Dies gilt gerade auch im Hinblick auf Größe und Zusammensetzung des Aufsichtsrats28. Der Unterschied liegt lediglich darin, dass das Mitbestimmungsrecht der AG in Gesetzen niedergelegt ist, insbesondere im DrittelbG und im MitBestG, während gesetzliche Regelungen über das Mitbestimmungssystem der deutschen SE sich nur in der Auffangregelung des § 35 SEBG fi nden und es im Normalfall in einer auf Gesetz (§ 21 Abs. 3 SEBG) beruhenden Mitbestimmungsvereinbarung enthalten ist. Dieser Unterschied ist aber für die hier behandelten Themen nicht wesentlich29. Er verliert weiter an Bedeutung, wenn man sich vor Augen führt, dass auch das Mitbestimmungssystem der AG durch Privatrechtsakt verändert werden kann und auch dann noch das Dreiteilbarkeitsgebot des § 95 Satz 3 AktG schlägt. Denn gemäß § 7 Abs. 1 Satz 2 MitbestG kann die Satzung einer AG bestimmen, dass statt des gesetzlich an sich vorgeschriebenen 12-er Aufsichtsrats ein 16-er oder 20-er Aufsichtsrat gebildet wird und dass an die Stelle eines gesetzlich an sich vorgesehenen 16-er Aufsichtsrat ein 20-er Aufsichtsrat tritt. Die Differenzierung zwischen einem gesetzlichen und einem auf Gesetz beruhenden Mitbestimmungssystem ist also nicht überzeugend. 4. Historischer Kontext und teleologische Aspekte Um die Europäische Aktiengesellschaft wurde mehr als 40 Jahre lang gerungen. Kodifi zierungsversuche scheiterten immer wieder an unterschiedlichen Auffassungen der Mitgliedsstaaten über die unternehmerische Mitbestimmung. Den Durchbruch brachte der erstmals 1989 in einem Richtlinienentwurf auftauchende Gedanke, das Mitbestimmungsmodell von den Unternehmensleitungen und den Arbeitnehmervertretern aushandeln zu lassen30. Der Vorrang der Verhandlungslösung – insbesondere vor der gesetzlichen Auffangregelung, die schon ihrem Namen nach nur subsidiär eingreift – wird demgemäß sehr 27 Begr. RegE SEEG, BT-Drucks. 15/3405, S. 31. Dazu Ihrig/Wagner, BB 2004, 1749, 1753. Ebenso schon zum DiskussionsE Hoffmann-Becking, ZGR 2004, 355, 363. 28 Begr. RegE SEEG, BT-Drucks. 15/3405, S. 35 f. 29 Siehe oben III 1 am Anfang und III 2 am Anfang. 30 Austmann in MünchHdb. AG, 3. Aufl. 2007, § 83 Rz. 8 f. m. w. N.
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prominent im achten Erwägungsgrund der SE-RL festgeschrieben. Der Gedanke der Flexibilisierung hat der SE ins Leben geholfen und sollte nicht ohne Not durch eine tradierte, im Einzelnen an die Bedürfnisse der SE nicht angepasste und vom Gesetzgeber bestimmt auch nicht bis ins Letzte durchdachte starre Regelung, wie sie sich in § 17 Abs. 1 SEAG fi ndet, konterkariert werden. Die Flexibilisierung der Mitbestimmung ist wichtig, weil das, was in einem Mitgliedsstaat politisch akzeptabel ist, in einem anderen Mitgliedsstaat Verweigerungshaltungen hervorruft. Und auch innerhalb Deutschlands wirkt die Flexibilisierung der Mitbestimmung katalytisch für die Verbreitung der SE, denn was bei einer Gesellschaft funktioniert, muss bei der nächsten noch lange nicht durchsetzbar sein. Die Rigidität von § 17 Abs. 1 SEAG, insbesondere seines Dreiteilungsgebots, schützt die Aktionäre nicht etwa, wie mancher hoffen mag, gegen eine uferlose Ausbreitung der Mitbestimmung – dies haben die Aktionäre selbst in der Hand, indem sie das Mitbestimmungsmodell oder gleich die ganze SE-Gründung ablehnen können –, sondern behindert schlicht die Ausbreitung der Gesellschaftsform SE in Deutschland. Nicht jede große, paritätisch mitbestimmte Gesellschaft kann es sich leisten, im Zuge der Umwandlung in eine SE den Aufsichtsrat auf 18, 12 oder gar 6 Mitglieder zu verkleinern. Viele werden an der angestammten Aufsichtsratsgröße gemäß MitbestG festhalten müssen, weil sonst nicht genügend Sitze für die Berücksichtigung der verschiedenen Interessengruppen zur Verfügung stehen. Dies ist offensichtlich für die Arbeitnehmerbank, die bei der Umwandlung in eine SE gemäß den Regelungen der Mitbestimmungsvereinbarung, hilfsweise gemäß § 36 SEBG internationalisiert wird. Fortan sind nicht nur die deutschen Arbeitnehmer im Aufsichtsrat repräsentiert, sondern auch die in anderen Mitgliedsstaaten beschäftigten Arbeitnehmer gemäß dem Verhältnis der Arbeitnehmerzahlen in allen Mitgliedsstaaten31. Da kann es schon einmal sein, dass nicht nur die deutschen Arbeitnehmer insgesamt Sitze an ihre ausländischen Kollegen abgeben müssen, sondern auch der eine oder andere deutsche Gewerkschaftsvertreter seinen Sitz im Aufsichtsrat verliert. Das Problem beschränkt sich aber nicht auf die Arbeitnehmerbank. Auch auf Anteilseignerseite ist möglicherweise verschiedenen Interessengruppen Raum zu geben. Dann kann es vorkommen, dass die SE auch deshalb einen 20-er Aufsichtsrat erhalten muss, weil die Aktionäre 10 Sitze benötigen und mit 9 die SE-Gründung partout nicht durchsetzbar ist. Es spricht nichts dafür, dass der 20-er Aufsichtsrat an dem reliktischen Dreiteilbarkeitsgebot des § 17 Abs. 1 Satz 3 SEAG scheitern sollte. Vielmehr ist es sinnvoll, eine solche Größe und Zusammensetzung des Aufsichtsrats über den Mitbestimmungsvorbehalt in § 17 Abs. 2 SEAG und eine entsprechende Mitbestimmungsvereinbarung zu etablieren. Die Gegner solcher Flexibilität werfen an dieser Stelle gern ein, dass es dann auch konsequent wäre, die anderen Schranken des § 17 Abs. 1 SEAG einzurei-
31 So jedenfalls bei Eingreifen der gesetzlichen Auffangregelung, § 36 Abs. 1 Satz 2 SEBG. Beispiele bei Austmann in MünchHdb. AG, 3. Aufl. 2007, § 85 Rz. 43; Oetker in Lutter/Hommelhoff, SE-Kommentar, 2008, § 36 SEBG Rz. 6 f.
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ßen, z. B. die Beschränkung der Zahl der Aufsichtsratsmitglieder auf höchstens 2132. Das wäre aber eine äußerst mechanistische Betrachtung der Zusammenhänge. Die gesetzliche Festlegung der Höchstzahl von Aufsichtsratsmitgliedern, genau gesprochen der drei Höchstzahlen für die drei verschiedenen Größenkategorien von SE, ist sinnvoll, weil sie die Arbeitsfähigkeit des Gremiums sicherstellt und Erfahrung und Vermutung dagegen sprechen, dass diese bei größeren Gremien noch zu gewährleisten ist. Die gesetzliche Mindestzahl von drei Aufsichtsratsmitgliedern ergibt sich daraus, dass gemäß Art. 9 Abs. 1 lit. c ii SE-VO i. V. m. § 108 Abs. 2 Satz 3 AktG mindestens drei Aufsichtsratsmitglieder an der Beschlussfassung teilnehmen müssen33. Deshalb kann die Mitbestimmungsvereinbarung aufgrund von § 17 Abs. 2 SEAG im Ergebnis nur das Dreiteilbarkeitsgebot des § 17 Abs. 1 SEAG durchbrechen.
IV. Zusammenfassung Wenn eine SE keiner Mitbestimmung unterliegt oder das Mitbestimmungsmodell sich nach der gesetzlichen Auffangregelung des § 35 SEBG richtet, wird die Größe des Aufsichtsrats allein durch die Satzung bestimmt. Die Satzung muss § 17 Abs. 1 SEAG beachten, insbesondere das Dreiteilbarkeitsgebot des Satzes 3. Wenn paritätische Mitbestimmung gilt, kann der Aufsichtsrat also nur aus 6, 12 oder 18 Mitgliedern bestehen. Die Geltung des Dreiteilbarkeitsgebots für nicht mitbestimmte SE (und AG, § 95 Satz 3 AktG) ist allerdings rechtspolitisch nicht akzeptabel und sollte bei nächster Gelegenheit abgeschafft werden. Eine Mitbestimmungsvereinbarung gemäß § 21 Abs. 3 SEBG ist nicht an das Dreiteilbarkeitsgebot gebunden. Insoweit, aber auch nur insoweit, wird § 17 Abs. 1 SEAG von seinem Abs. 2 i. V. m. der Mitbestimmungsvereinbarung durchbrochen. Nicht nur die Zusammensetzung, sondern auch die Größe des Aufsichtsrats wird in diesem Fall in den Mindest- und Höchstgrenzen des § 17 Abs. 1 SEAG von der Mitbestimmungsvereinbarung festgelegt 34. Die Satzung der SE hat dieses Mitbestimmungsmodell gemäß Art. 12 Abs. 4 SE-VO zu inkorporieren. Wenn die Aktionäre ein solches Mitbestimmungsmodell nicht wünschen, müssen sich die Hauptversammlungen der Gründungsgesellschaften bei Verschmelzung- und Holding-Gründung das Recht vorbehalten, die Mitbestimmungsvereinbarung zu genehmigen; im Übrigen und bei allen anderen Gründungsformen steht es ihnen frei, die SE-Gründung insgesamt abzulehnen, um das von ihnen nicht gewünschte Mitbestimmungsmodell zu verhindern.
32 Habersack, AG 2006, 345, 353; Habersack, ZHR 171 (2007), 613, 633. 33 Im Ergebnis ebenso Paefgen in KölnKomm. AktG, 3. Aufl. 2010, Art. 40 SE-VO Rz. 97; Seibt, ZIP 2010, 1057, 1058. 34 Meine gegenteilige Auffassung in MünchHdb. AG, 3. Aufl. 2007, § 85 Rz. 37, gebe ich auf.
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Gesellschaften aus nicht privilegierten Drittstaaten im Internationalen Privatrecht: „Utopia Limited; oder: Die Blüten des Fortschritts“ Inhaltsübersicht Prolog I. Erster Akt II. Zweiter Akt III. Dritter Akt 1. Chancen und Risiken 2. Niederlassungsfreiheit 3. Ausstrahlung
IV. Vierter Akt 1. Confoederatio Helvetica 2. Kanalinsel Jersey V. Fünfter Akt 1. Der Kampf um das maßgebende Recht 2. Für und Wider Epilog
Prolog Der nachfolgende Beitrag ist Hans-Jürgen Hellwig in kollegialer Verbundenheit aus Anlass seines 70. Geburtstages gewidmet. Als Fachanwalt für Handels- und Gesellschaftsrecht, Vorsitzender des Company Law Committee des Council of the Bars and Law Societies of the European Union (CCBE), Mitglied des Vorstands des Deutschen Anwaltsvereins (DAV), Mitglied des Council der International Bar Association (IBA), Honorarprofessor für Europäisches Gesellschaftsrecht an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg und Autor hat sich der Jubilar um die (Fort-)Entwicklung und die Vermittlung des Europäischen Gesellschaftsrechts große Verdienste erworben. Die – dem Anlass entsprechend heiter umrahmten und getreu William S. Gilberts Libretto bisweilen sarkastisch überspitzt formulierten – Ausführungen mögen zum besseren Verständnis einer nach wie vor ungeklärten Frage des Internationalen Gesellschaftsrechts beitragen: Wie soll aus Sicht des deutschen Rechts das Gesellschaftsstatut von Gesellschaften bestimmt werden, die weder in einem EU/EWR-Mitgliedstaat noch in einem völkerrechtlich bzw. staatsvertraglich privilegierten Land, also in einem sog. „nicht privilegierten Drittstaat“ gegründet worden sind?
I. Erster Akt „A Company Limited? What may that be? The term, I rather think, is new to me.“ Diese Worte stammen nicht von einem Handwerksmeister aus Frankfurt am Main, dem sein Berater gerade die Gründung einer englischen Limited („private company limited by shares“) empfohlen hat. Es sind vielmehr die Worte von King Paramount I., dem König des fiktiven südpazifischen Inselreichs Utopia, 117
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in der 1893 in London uraufgeführten komischen Oper von William S. Gilbert und Arthur Sullivan „Utopia Limited; or, The Flowers of Progress“ oder – frei ins Deutsche übersetzt – „Utopie Limited; oder: die Blüten des Fortschritts“. Am Ende des ersten Aktes der Oper empfängt der König von Utopia („A King of autocratic power we“) seine von einem Studienaufenthalt am Girton College1 der Universität Cambridge zurückgekehrte älteste Tochter, Prinzessin Zara. Der König hatte sie zur Ausbildung nach England geschickt in der Hoffnung, sie werde dort lernen, wie man Utopia nach dem Vorbild des viktorianischen England zivilisierter gestalten könne. Zara ist in Begleitung von sechs britischen Gentlemen („The Flowers of Progress“): Captain Fitzbattleaxe (von der britischen Armee), Sir Bailey Barre (Q.C. und MP), Lord Dramaleigh (ein British Lord Chamberlain), Mr. Blushington (vom County Council), Mr. Goldbury (ein company promoter, später Comptroller of the Utopian Household) und Captain Sir Edward Corcoran (KCB, Royal Navy). Jeder der sechs Herren ist aufgerufen, dem König einen Rat zu geben, wie dieser sein Land verbessern könne. Der Rat der Herren lautet: Captain Fitzbattleaxe: Lord Dramaleigh: Captain Corcoran: Sir Bailey Barre: Mr. Blushington:
„Increase your army!“ „Purify your court!“ „Get up your steam and cut your canvas short!“ „To speak on both sides teach your sluggish brains!“ „Widen your thoroughfares, and flush your drains!“
Mr. Goldbury’s Rat ist der eines typischen company promoter: „Utopia’s much too big for one small head – I’ll float it as a Company Limited!“ Der König fragt erstaunt: „Company Limited? What may that be? The term, I rather think, is new to me.“ Mr. Goldbury erwidert: „Some seven men form an Association (If possible, all Peers and Baronets), They start off with a public declaration To what extent they mean to pay their debts. That’s called their Capital; if they are wary They will not quote it at a sum immense. The fi gure’s immaterial – it may vary From eighteen million down to eighteen pence. I should put it rather low; The good sense of doing so Will be evident at once to any debtor. When it’s left to you to say
1 Girton College wurde im Jahre 1869 als erstes residential college für Frauen an der University of Cambridge gegründet.
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Gesellschaften aus nicht privilegierten Drittstaaten im IPR
What amount you mean to pay, Why, the lower you can put it at, the better.“ Auf die Bekräftigung des Chors „When it’s left to you to say What amount you mean to pay, Why, the lower you can put it at, the better.“ fährt Mr. Goldbury fort: „They then proceed to trade with all who’ll trust ’em Quite irrespective of their capital (It’s shady, but it’s sanctified by custom); Bank, Railway, Loan, or Panama Canal. You can’t embark on trading too tremendous It’s strictly fair, and based on common sense If you succeed, your profits are stupendous And if you fail, pop goes your eighteen pence. Make the money-spinner spin! For you only stand to win, And you’ll never with dishonesty be twitted. For nobody can know, To a million or so, To what extent your capital’s committed!“ Und der Chor wiederholt: „For nobody can know, To a million or so, To what extent your capital’s committed!“ Mr. Goldbury erläutert weiter: „If you come to grief, and creditors are craving (For nothing that is planned by mortal head Is certain in this Vale of Sorrow – saving That one’s Liability is Limited), Do you suppose that signifies perdition? If so, you’re but a monetary dunce You merely file a Winding-Up Petition, And start another Company at once! Though a Rothschild you may be In your own capacity, As a Company you’ve come to utter sorrow But the Liquidators say, ‚Never mind – you needn’t pay,‘ So you start another company to-morrow!“
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Der Chor hebt wiederholend hervor: „But the Liquidators say, ‚Never mind – you needn’t pay,‘ So you start another company to-morrow!“ Der König beginnt, dem Rat von Mr. Goldbury etwas abzugewinnen: „Well, at first sight it strikes us as dishonest, But if it’s good enough for virtuous England The first commercial country in the world It’s good enough for us.“ Doch des Königs weise Berater Scaphio und Phantis, beide Richter am Obersten Gerichtshof von Utopia, sowie Tarara (der „Public Exploder“) warnen: „You’d best take care Please recollect we have not been consulted.“ Der König aber missachtet ihren Einwand: „And do I understand you that Great Britain Upon this Joint Stock principle is governed?“ Mr. Goldbury erwidert wahrheitsgemäß: „We haven’t come to that, exactly – but We’re tending rapidly in that direction. The date’s not distant.“ Der König darauf euphorisch: „We will be before you! We’ll go down in posterity renowned As the First Sovereign in Christendom Who registered his Crown and Country under The Joint Stock Company’s Act of Sixty-Two.“ Unter dem Beifall der Anwesenden – mit Ausnahme von Scaphio und Phantis sowie Tarara – beschließt der König, sein Land und jeden einzelnen Bürger nach dem englischen Companies Act von 1862 in eine Gesellschaft mit beschränkter Haftung (limited liability company) umzuwandeln. Er ist überzeugt davon, der Nachwelt (posterity) damit etwas Gutes zu hinterlassen: „Henceforward, of a verity, With Fame ourselves we link We’ll go down to Posterity Of sovereigns all the pink!“ Scaphio und Phantis sowie Tarara hadern: „If you’ve the mad temerity Our wishes thus to blink, You’ll go down to Posterity, Much earlier than you think!“ 120
Gesellschaften aus nicht privilegierten Drittstaaten im IPR
Doch Prinzessin Zara, ihr Freund Captain Fitzbattleaxe sowie ihre jüngeren Schwestern Nekaya und Kalyba sind sich einig: „And as for our posterity We don’t care what they think!“
II. Zweiter Akt Das Königreich Utopia verwandelt sich in eine Replika Britanniens, die „noch perfekter“ (more perfect) als das Vorbild ist: Utopia errichtet eine Armee, eine Marine und ein Gerichtswesen, verfeinert Literatur und Drama und inkorporiert – dem Rat von Mr. Goldbury folgend – das Königreich und jeden einzelnen Bürger. Aus Utopia wird Utopia Limited. Der König und die Flowers of Progress bejubeln ihren vermeintlichen Erfolg („Society has quite forsaken all her wicked courses“). Und das Volk, angetan von Englands Moden und Sitten, besingt die neue Herrlichkeit („Eagle high in cloudland soaring“). Scaphio und Phantis, des Königs Weise und Oberste Richter, sind außer sich, denn sie fürchten um ihre Macht und ihren Einfluss („With fury deep we burn“). Sie verlangen, dass der König die Veränderungen zurücknehme. Als er sich weigert, erinnern sie ihn daran, dass sie Macht über sein Leben haben („If you think that when banded in unity“). Doch der König weist darauf hin, dass sie eine Gesellschaft mit beschränkter Haftung nicht in die Luft jagen können. Scaphio und Phantis schmieden daraufhin einen Komplott mit Tarara, den „Public Exploder“, um die Uhr zurück zu drehen („With wily brain upon the spot“). Die jungen Prinzessinnen Nekaya und Kalyba treffen unterdessen auf Mr. Goldbury und Lord Dramaleigh, die den Töchtern des Königs erzählen, dass englische Mädchen nicht so zurückhaltend („demure“) seien wie die Utopierinnen, sondern herzlich und Spaß liebend („A wonderful joy our eyes to bless“). Die Prinzessinnen sind angetan von der Aussicht, einige der „verstaubten Regeln“ („musty and fusty rules“) ablegen zu können, unter denen sie aufgewachsen sind („Then I may sing and play?“). Zwischenzeitlich haben Scaphio und Phantis das Volk von Utopia überzeugt, dass die Veränderungen nicht zu ihrem Vorteil seien („Upon our sea-girt land“). Gefragt vom König, was falsch gelaufen sei, antwortet Scaphio: Da es keinen Krieg mehr gebe, seien Armee und Marine überflüssig („Our pride and boast – the Army and the Navy – have both been reconstructed and remodeled upon so irresistible a basis that all the neighboring nations have disarmed – and War’s impossible!“). Das County Council habe ein derart gutes Gesundheitswesen entwickelt, dass die Ärzte ohne Arbeit seien, hungern würden und stürben. Und die von Sir Bailey Barre überarbeiteten Gesetze seien so wirksam, dass es keine Kriminalität und keine Prozesse mehr gebe, was Gerichte und Anwälte arbeitslos mache. Scaphio: „In short – Utopia, swamped by dull Prosperity“. Das Volk verlangt daraufhin von seinem König, die Änderungen rückgängig zu machen. Paramount I. fragt seine Tochter Zara um Rat. Sir Bailey Barre erinnert sie, dass man das „wichtigste Element“ („most essential element“) britischer Zivilisation vergessen habe: das parlamentarische Regierungssystem („Government by Party“). Das Zwei-Parteien-System vermenge die Interessen 121
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beider Seiten dergestalt, dass es keinen Fortschritt gebe („No political measures will endure, because one Party will assuredly undo all that the other Party has done“). Das führe am Ende zu dem Glück, dass alle erstrebten. Das Volk ist überwältigt vor Freude. Scaphio und Phantis werden wegen Verabredung zum Sturz des Königs ins Gefängnis geworfen. Aus der „Monarchy Limited“ wird eine „Limited Monarchy“ („From this moment Government by Party is adopted, with all its attendant blessings, and henceforward Utopia will no longer be a Monarchy Limited, but, what is a great deal better, a Limited Monarchy!“). Der Vorhang fällt, während die Menschen auf der Bühne singend „the little group of isles beyond the wave“ – Britannien! – preisen.
III. Dritter Akt Etwas mehr als 100 Jahre später ist die Vision von Gilbert und Sullivan Wirklichkeit: Englisches Gesellschaftsrecht ist zu einem wichtigen „Exportartikel“ Großbritanniens auch und gerade innerhalb der EU geworden 2. Company promoter (à la Mr. Goldbury) auf beiden Seiten des Ärmelkanals bieten Gesellschaften englischen Rechts feil („I’ll float it as a Company Limited!“). Die englische Limited („private company limited by shares“) steht im Mittelpunkt des Interesses, wenn in Deutschland über die Wahl einer ausländischen, der GmbH vergleichbaren Gesellschaftsform nachgedacht wird 3. Die Gründung einer Limited ist schnell und unbürokratisch, der Gründungaufwand niedrig4. Ein Mindestkapital wie bei der GmbH deutschen Rechts („musty and fusty rules“?) ist nicht erforderlich („They start off with a public declaration – To what extent they mean to pay their debts. That’s called their Capital; if they are wary – They will not quote it at a sum immense. The figure’s immaterial – it may vary – From eighteen million down to eighteen pence. I should put it rather low; The good sense of doing so – Will be evident at once to any debtor.
2 Zu der Vorstellung von Recht als einem (im- bzw. exportierbaren) „Produkt“ siehe Note [Harry First], Law for Sale: A Study of the Delaware Corporation Law of 1967, 117 U.Pa.L.Rev. 861 (1969); Romano, Law as a Product: Some Pieces of the Incorporation Puzzle, 1 J. L. Econ. & Org. 225 (1985). Aus deutscher Sicht Eidenmüller, Recht als Produkt, JZ 2009, 641; Teichmann, „Law as a Product“ – Regulatory Competition in the Common Market and the European Private Company, in Bartmann (Hrsg.), European Company Law in Accelerated Progress, 2006, S. 145. 3 Wertet man die Rechtsprechung der vergangenen Jahre aus, sind Gesellschaften aus England, dem Fürstentum Liechtenstein und den USA für unternehmerische Tätigkeiten in Deutschland besonders beliebt: Weller, Internationales Unternehmensrecht 2010 – IPR-Methodik für grenzüberschreitende gesellschaftsrechtliche Sachverhalte, ZGR 2010, 679, 683. Siehe aber auch den Text bei Fn. 61–85. 4 Vgl. Fleischer in MünchKomm. GmbHG, Bd. I, 2010, Einl. Rz. 310. Zu Einzelheiten der Limited siehe Triebel/von Hase/Melerski, Die Limited in Deutschland. Leitfaden für die Unternehmens- und Beratungspraxis, 2006; Just, Die englische Limited in der Praxis – Einschließlich Ltd. & Co. KG, 3. Aufl. 2008; Brinkmeier/Mielke, Die Limited (Ltd.): Recht, Steuern, Beratung, 2007; Heckschen, Private Limited Company. Gründung, Führung, Besteuerung in Deutschland, 2006; Volb, Die Limited, 2007; Silberberger/Schwendemann, Vorteile der englischen Limited. Praxisvergleich zum GmbH-Recht, 2007; Segner/Matuszok, Die Limited oder Mini-GmbH, 2008; Leske, Mini-GmbH, Limited oder klassische GmbH?: Grundlagen, Rechtsformwahl, Mustersatzungen, 2009.
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When it’s left to you to say – What amount you mean to pay, Why, the lower you can put it at, the better.“). Sprachliche Hürden sind aufgrund der weiten Verbreitung der englischen Sprache leichter zu überwinden als im Falle von Gesellschaften aus anderssprachigen Rechtsordnungen; viele Berater auf dem europäischen Kontinent haben ihre Kenntnisse der englischen Verhältnisse – wie Prinzessin Zara – in renommierten englischen Colleges erworben oder arbeiten mit englischen Beratern zusammen. Die fortschreitende Digitalisierung und Elektronisierung des Rechtsverkehrs erleichtern die Gründung einer Limited durch ausländische Gründer heute ebenfalls5. 1. Chancen und Risiken Die Verwendung einer Limited in Deutschland birgt, wie alles im Leben, für die Betroffenen Chancen und Risiken. So schnell und unbürokratisch wie sie gegründet werden kann, kann eine Limited auch liquidiert werden („You merely file a Winding-Up Petition, And start another Company at once! Though a Rothschild you may be – In your own capacity, As a Company you’ve come to utter sorrow – But the Liquidators say, ‚Never mind – you needn’t pay,‘ So you start another company to-morrow!“). Wie bei der GmbH deutschen Rechts lässt sich die Haftung auf die übernommene Einlage beschränken („If you come to grief, and creditors are craving [For nothing that is planned by mortal head – Is certain in this Vale of Sorrow – saving That one’s Liability is Limited], Do you suppose that signifies perdition?“). Da ein Kapitaleinsatz nicht erforderlich ist („They then proceed to trade with all who’ll trust ’em – Quite irrespective of their capital [It’s shady, but it’s sanctified by custom]; Bank, Railway, Loan, or Panama Canal. You can’t embark on trading too tremendous – It’s strictly fair, and based on common sense – If you succeed, your profits are stupendous – And if you fail, pop goes your eighteen pence.“), gibt es keine (komplexen) Kapitalaufbringungs- und Kapitalerhaltungsvorschriften („And you’ll never with dishonesty be twitted. For nobody can know, To a million or so, To what extent your capital’s committed!“). Als Vorteil gilt, dass Änderungen der Satzung und Anteilsübertragungen nicht der notariellen Form bedürfen („Then I may sing and play?“). Eine institutionalisierte Teilhabe der Belegschaft bzw. ihrer Vertreter an den unternehmerischen Entscheidungen oder deren Überwachung (Mitbestimmung) ist der englischen Limited fremd. Allerdings dürfen, das zeigt der Fall Utopia, bei der Entscheidung zugunsten einer englischen Limited die wesentlichsten Elemente („most essential elements“) im Umfeld des Rechts der Limited nicht übersehen werden. So wird bei Fehlverhalten in der Krise oder in der Insolvenz das Prinzip der beschränkten Haftung durchbrochen (Stichworte: lifting the corporate veil, also Haftungsdurchgriff auf die Mitglieder der Limited, und fraudulent trading bzw. wrongful trading, also Haftungsdurchgriff auf ihre directors und shadow directors). „Schwarzen Schafen“ unter den directors droht die Disqualifi zierung (directors’
5 Rehm in Eidenmüller (Hrsg.), Ausländische Kapitalgesellschaften im deutschen Recht, 2004, S. 328–329.
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disqualification)6. Da sich das Innenrecht der Limited mit tatsächlichem Verwaltungssitz in Deutschland nach englischem Recht richtet7, besteht ferner – u. U. teurer – Beratungsbedarf durch Kenner des englischen Rechts. Zusätzliche Kosten entstehen durch doppelte Buchführungs- und Publizitätsverpfl ichtungen8. Hinzu kommt: Unternehmerische Aktivitäten ohne Eigenkapital werden häufig nicht möglich sein; Fremdkapital ist in der Praxis nur gegen persönliche Sicherheiten (z. B. Bürgschaften) erhältlich. Mangels verlässlicher Quellen und Statistiken ist die genaue Anzahl englischer Limited mit tatsächlichem Verwaltungssitz oder Zweigniederlassung außerhalb ihres Gründungsstaates nicht bekannt. Klar ist: Die englische Limited mit tatsächlichem Verwaltungssitz in Deutschland ist weit verbreitet („Utopia, swamped by dull Prosperity“). In Deutschland waren am 1.1.2010 insgesamt 17.551 Limited englischen Rechts im Handelsregister eingetragen. Am 1.1.2009 waren es 17.524, was einer Zunahme von 0,2 % entspricht9. Der Anteil der britischen Limited an dem Gesamtbestand der „Rechtsform ausländischen Rechts HRB“ betrug am 1.1.2010 89,8%, am 1.1.2009 88,6%10. Die Verwendungsmöglichkeiten der Limited sind vielfältig. Die – in Großbritannien beliebte und weit verbreitete – Limited eignet sich als Komplementärin einer deutschen Kommanditgesellschaft („Ltd. & Co. KG“)11. Die Limited wird eingesetzt zur „Auslagerung“ bestimmter Betriebsrisiken im Rahmen von Betriebsaufspaltungen. Sie fi ndet Verwendung für kurzfristige Vorhaben („But the Liquidators say, ‚Never mind – you needn’t pay,‘ So you start another company to-morrow!“) oder einzelne Kundenbeziehungen, zur Erprobung neuer Produkte oder Umsetzung von Preisstrategien am Markt (z. B. Preisdifferenzierungen). Man fi ndet die Limited als Konzerngesellschaft internationaler Unternehmen12, aber auch als Auffanggesellschaft im Rahmen von Insolvenz6 Triebel in Triebel/von Hase/Melerski (Fn. 4), S. 38–47; C. Mößle, Gläubigerschutz beim Zuzug ausländischer Gesellschaften aus der Sicht des englischen Rechts, 2006, S. 71–142; Schmidt-Ehemann, Die Haftung bei Insolvenz einer EU-Auslandsgesellschaft, 2010, S. 193–220. Zum deutschen Recht siehe nur Uwe H. Schneider, Die Pfl ichten des Geschäftsführers in der Krise der GmbH: Zwölf Handlungsanweisungen an den Geschäftsführer zur Haftungsvermeidung, GmbHR 2010, 57. 7 Siehe dazu näher unten bei Fn. 42. 8 Fleischer in MünchKomm. GmbHG (Fn. 4), Einl. Rz. 312. Zu Einzelheiten der Rechnungslegungspfl ichten ausländischer EU-Gesellschaften mit effektivem Verwaltungssitz in Deutschland siehe Weis, Rechnungslegungspfl ichten von EU-Scheinauslandsgesellschaften im Land ihrer tatsächlichen wirtschaftlichen Betätigung: Insbesondere im Hinblick auf in Deutschland tätige englische Limiteds, 2009. 9 Siehe Kornblum, Bundesweite Rechtstatsachen zum Unternehmens- und Gesellschaftsrecht (Stand 1.1.2010), GmbHR 2010, 739, 746; vgl. Fleischer in MünchKomm. GmbHG (Fn. 4), Einl. Rz. 218–221. 10 Kornblum (Fn. 9), GmbHR 2010, 739, 746. 11 Die Zahl der eingetragenen Ltd. & Co. KG betrug am 1.1.2010 5.038, am 1.1.2009 5.032, was einer Zunahme um 0,1 % entspricht. Siehe Kornblum, Die UG hat die Ltd. überholt, GmbHR 2010, R53. Rechtsvergleichend zu der „ausländischen Kapitalgesellschaft & Co. KG Ebke, The Limited Partnership and Transnational Combinations of Business Forms: „Delaware Syndrome“ Versus European Community Law, 22 Int’l Law. 191 (1988). 12 Vgl. Horn, Deutsches und europäisches Gesellschaftsrecht und die EuGH-Rechtsprechung zur Niederlassungsfreiheit – Inspire Art, NJW 2004, 893, 900.
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verfahren („And as for our posterity – We don’t care what they think!“). Man setzt sie ein zur Aushebelung deutscher Mitbestimmungsregeln13 sowie – aufgrund ihres internationalen Bekanntheitsgrades von Kanada über Südafrika bis nach Hongkong – für die Durchführung internationaler Geschäfte. 2. Niederlassungsfreiheit Die Ausbreitung der Limited in der EU wurde ermöglicht durch die Rechtsprechung des EuGH zur Niederlassungsfreiheit der Gesellschaften (Art. 49, 54 AEUV). Nach den Entscheidungen des EuGH in den Zuzugsfällen Centros14, Überseering15 und Inspire Art16 können Gesellschaften aus EU-Mitgliedstaaten heute ihren tatsächlichen Verwaltungssitz (real seat, siège réel) in Deutschland haben, ohne dadurch ihren rechtlichen Status als ausländische Gesellschaft zu verlieren. Damit ist – jedenfalls für die entschiedenen Fallgruppen – kollisionsrechtlich der Übergang von der in Deutschland traditionell geltenden Sitztheorie17 zu der anglo-amerikanisch geprägten liberalen Gründungstheorie (incorporation principle) vollzogen; getreu den Worten Goethes: „Die wahre Liberalität ist Anerkennung“18. Die Zustimmung zu der von dem EuGH angestoßenen „Revolution im Internationalen Gesellschaftsrecht“19 ist innerhalb der EU – zu Recht! – groß („Eagle high in cloudland soaring“). In den Worten von König Paramount I.: „… if it’s good enough for virtuous England – The first commercial country in the world – It’s good enough for us“, zumal auch ein anderer großer Binnenmarkt – die Vereinigten Staaten von Amerika – kollisi-
13 Zu dem Fall der Air Berlin plc siehe Hommelhoff, Mitbestimmungsvereinbarungen zur Modernisierung der deutschen Unternehmensmitbestimmung – zum Gesetzesentwurf des Arbeitskreises „Unternehmerische Mitbestimmung“, ZGR 2010, 48, 55. Während im Jahr 2006 17 in Deutschland ansässige Unternehmen mit mindestens 500 Beschäftigten sich mittels einer ausländischen Rechtsform – wie zum Beispiel einer britischen Limited oder einer niederländischen besloten vennootschap (B.V.) – dem deutschen Mitbestimmungsrecht entziehen konnten, sind es nach den Feststellungen der Hans-Böckler-Stiftung mittlerweile 37. Siehe Böckler Impuls 5/2010, abrufbar unter http://www.boeckler.de/32014_103069.html (zuletzt abgerufen am 10.10.2010). Die SPD-Fraktion im Deutschen Bundestag fordert zwecks Verhinderung „mitbestimmungsfreier Zonen für Unternehmen ausländischer Rechtsform in Deutschland“ die „demokratische Teilhabe von Belegschaften und ihren Vertretern an unternehmerischen Entscheidungen [zu] stärken“ und hat daher am 15.6.2010 den Antrag eingebracht, der Deutsche Bundestag möge beschließen, die deutsche Mitbestimmung gesetzlich auf Unternehmen ausländischer Rechtsform mit Verwaltungssitz oder Zweigniederlassung in Deutschland bzw. deutsche Personengesellschaften mit ausländischem Komplementär zu erstrecken. Siehe BT-Drucks. 17/2122 v. 16.6.2010, S. 2. 14 EuGH v. 9.3.1999 – Rs. C-212/97, Slg. 1999, I-1459 (Centros ./. Erhvervs- og Selkskabsstyrelsen). 15 EuGH v. 5.11.2002 – Rs. C-208/00, Slg. 2002, I-9919 (Überseering BV ./. Nordic Construction Company Baumanagement GmbH). 16 EuGH v. 30.9.2003 – Rs. C-167/01, Slg. 2003, I-10155 (Kamer van Koophandel en Fabrieken voor Amsterdam ./. Inspire Art Ltd.). 17 Zuletzt BGH, DStR 2010, 1040, 1043 (betr. eine türkische Gesellschaft). 18 Vgl. Ebke, Überseering: „Die wahre Liberalität ist Anerkennung“, JZ 2003, 927, 933. 19 Ebke, The European Conflict-of-Corporate-Laws Revolution: Überseering, Inspire Art and Beyond, 38 Int’l Law. 813 (2004).
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onsrechtlich auf die Gründungstheorie (internal affairs doctrine) setzt20. und zwar sowohl gegenüber Gesellschaften aus anderen US-Bundesstaaten 21 als auch gegenüber Gesellschaften aus dem Ausland 22. Eine Abwehr ungeliebter Limited ist in der EU niederlassungsrechtlich so gut wie unmöglich („… – and War’s impossible!“)23: Mit Rechtsinstituten wie „Umgehung“ (circumvention) gemeinschaftsrechtlicher bzw. deutscher Regelungen oder „Missbrauch“ (abuse) von Europäischem Gemeinschaftsrecht oder aus dem Gesichtspunkt des „Betrugs“ (fraud) ist Gesellschaften aus EUMitgliedstaaten innerhalb der EU aus Gründen der Niederlassungsfreiheit (Art. 49, 54 AEUV) kaum zu begegnen 24. Sonderanknüpfungen zwingender Normen 25 oder Sondervorschriften für ausländische EU-Gesellschaften mit tatsächlichem Verwaltungssitz im Inland, die die Niederlassungsfreiheit der Gesellschaft „unterbinden, behindern oder weniger attraktiv machen“26, sind im Lichte von Inspire Art27 nach dem „4-Faktoren-Test“ (Gebhard) ebenfalls kaum zu rechtfertigen 28.
20 Zur Geschichte der internal affairs doctrine in den USA siehe Buxbaum, The Origins of the American „Internal Affairs“ Doctrine in the Corporate Conflict of Laws, in FS für Gerhard Kegel, 1987, S. 75; siehe ferner Ebke, Der Einfluss des US-amerikanischen Rechts auf das Internationale Gesellschaftsrecht in Deutschland und Europa: Rezeption oder Abwehr?, in Ebke/Elsing/Großfeld/Kühne (Hrsg.), Das deutsche Wirtschaftsrecht unter dem Einfluss des US-amerikanischen Rechts, 2011, S. 175, 182–185. 21 Siehe nur CTS Corp. v. Dynamics Corp. of America, 481 U.S. 69, 88 (1987) („The beneficial free market system depends at its core upon the fact that a corporation – except in the rarest situations – is organized under, and governed by, the law of a single jurisdiction, traditionally the corporate law of the state of its incorporation“); Shaffer v. Heitner, 433 U.S. 186, 188 Fn. 44 (1977) („The rationale for the general rule appears to be based more on the need for a uniform und certain standard to govern the internal affairs of a corporation than on the perceived interest of the State of incorporation“). 22 Siehe etwa McDermott, Inc. v. Lewis, 531 A.2d 206 (Del. 1987) (Panama); Hausman v. Buckley, 299 F.2d 696 (2d Cir. 1962), cert. denied, 369 U.S. 885 (1962) (Venezuela). 23 Zu corporate wars im Internationalen Privatrecht in den USA siehe Kozyris, Corporate Wars and Choice of Law, 1985 Duke L.J. 1. 24 BGH, DB 2010, 1581, 1582 (betr. eine Gesellschaft nach dem Recht der British Virgin Islands). Zu Einzelheiten siehe Kjellgren, On the Border of Abuse: The Jurisprudence of the European Court of Justice on Circumvention, Fraud and Other Misuses of Community Law, Eur.Bus.L.Rev. 11 (2000), 179; Schammo, Arbitrage and Abuse of Rights in the EC Legal System, Eur.L.J. 14 (2008), 351; Sorensen, Abuse of Rights in Community Law: A Principle of Substance or Merely Rhetoric?, Com. Mkt. L. Rev. 43 (2006), 423; Schön, Der „Rechtsmissbrauch“ im Europäischen Gesellschaftsrecht, in FS für Herbert Wiedemann, 2002, S. 1271. 25 Zu dem Begriff der „zwingenden Normen“ siehe Art. 9 Abs. 1 der Rom I-VO (ABl. EU Nr. L 177 v. 4.7.2008, S. 6); ähnlich schon EuGH v. 23.11.1999, verb. Rs. C-369/96 und C-376/96, Slg. 1999, I-8498, 8512 (Rz. 30) (Arblade ./. Leloupe). 26 EuGH v. 30.11.1995 – Rs. C-55/94, Slg. 1993 I-4165 (Rz. 37) (Gebhard v. Consiglio dell’Ordine degli Avvocati e Procuratori di Milano). 27 EuGH v. 30.9.2003 – Rs. C-167/01, Slg. 2003, I-10155 (Kamer van Koophandel en Fabrieken voor Amsterdam ./. Inspire Art Ltd.). 28 Siehe nur Ebke, CENTROS – Some Realities and Some Mysteries, 48 Am.J.Comp.L. 623, 643 (2000); Spahlinger in Spahlinger/Wegen, Internationales Gesellschaftsrecht in der Praxis, 2005, S. 51–52.
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Die Rechtslage in der EU unterscheidet sich dadurch grundlegend von den Verhältnissen in den USA. Dort ist die Vereinbarkeit der Gesetze gegen Scheinauslandsgesellschaften (outreach statutes) mit der US-amerikanischen Bundesverfassung bis heute ungeklärt: Die Gerichte des Bundesstaates Delaware (Kapitalgesellschaftsrechtsexportstaat!) halten die Überlagerung des Gesellschaftsstatuts ihrer eigenen Gesellschaften selbst bei starkem Bezug zum Bundesstaat Kalifornien durch Vorschriften des kalifornischen Gesellschaftsrechts29 für verfassungswidrig30; Gerichte in Kalifornien (Kapitalgesellschaftsrechtsimportstaat!) sehen das nicht so31. Die Folge: ein race to the courthouse! Während die (Minderheits-)Gesellschafter ihr Recht regelmäßig in Kalifornien suchen, suchen die Geschäftsleiter der betroffenen Delaware-Gesellschaften Schutz bei Gerichten in Delaware 32. Nur der United States Supreme Court scheint keine Gelegenheit zu erhalten, die Frage zu entscheiden. Der deutsche Gesetzgeber hat angesichts der Rechtsprechung des EuGH letztlich nur die Wahl, sich auf den vom EuGH in Centros, Überseering und Inspire Art eröffneten „Regulierungswettbewerb der Gesellschaftsrechtsordnungen“33 einzulassen und das Recht der GmbH, einem echten „Erfolgsmodell“ und „Exportschlager“ des deutschen Rechts, zu „modernisieren“ („MoMiG & Beyond“), um dem im Trend liegenden Import ausländischer Gesellschaftsrechtsformen nach Art der englischen Limited (aber auch Gesellschaftsformen aus anderen Ländern wie den USA 34 oder dem Fürstentum Liechtenstein35, von Inseln mit Sonderstatus in der EU wie die Isle of Man36 oder die Kanalinsel Jersey37 oder gar 29 Nach § 2115 Cal.Corp.Code betreffen die auf Scheinauslandsgesellschaften anzuwendenden kalifornischen Vorschriften u. a. die Zusammensetzung des board of directors, die jährliche board-Wahl, die Pfl ichten und Haftung der directors und officers, die Aktionärsklagen, Haftungsfreistellungen und D&O-Versicherungen, die Kapitalerhaltungspfl ichten, Barabfi ndungsrechte, Reorganisationen, Buchführungspfl ichten sowie die Einsichtsrechte. 30 VantagePoint Venture Partners 1996 v. Examen, Inc., 871 A.2d 1108 (Del. 2005); Draper v. Gardner Defi ned Plan Trust, 625 A.2d 859 (Del. 1993); McDermott v. Lewis, 531 A.2d 206 (Del. 1987); Arden-Mayfair, Inc. v. Louart Corp., 385 A.2d 3 (Del.Ch. 1978). 31 Wilson v. Louisiana-Pacific Resources, Inc. 138 Cal.App.3d 216, 187 Cal.Rptr. 852 (1982); Valtz v. Penta Inv. Corp., 139 Cal.App.3d 803, 188 Cal.Rptr. 922 (1983); Nedlloyd Lines B.V. v. Superior Court of San Mateo County, 3 Cal.4th 459, 472 Fn. 13, 11 Cal. Rptr. 330, 351 Fn. 13, 834 P.2d 1148, 1169 Fn. 13 (Cal. 1992); offen gelassen in Kruss v. Booth, Case No. G 041738 (Cal.App. 4th Dist., June 11, 2010). 32 Eindrucksvolle Beispiele für einen solchen „Ansturm auf die Gerichte“ in Kalifornien und Delaware sind Western Air Lines, Inc. v. Sobieski, 191 Cal.App.2d 399, 12 Cal. Rptr. 719 (Cal.App. 1961), Louart v. Arden-Mayfair, Civ.No. C-192-091 (Super.Ct. of Los Angeles, May 1, 1978) und VantagePoint Venture Partners 1996 v. Examen, Inc., 871 A.2d 1108, 1117 (Del. 2005). Siehe dazu Ebke (Fn. 20), S. 187–189. 33 Ebke, Unternehmensrecht und Binnenmarkt – E pluribus unum?, RabelsZ 62 (1998), 196, 207–216 (Dritte Ernst-Rabel-Vorlesung, 1992). Zur ökonomischen Analyse des Regulierungswettbewerbs siehe Heine, Regulierungswettbewerb der Gesellschaftsrechtsordnungen, 2004; Kirchner, Zur Ökonomie des legislatorischen Wettbewerbs im europäischen Gesellschaftsrecht, in FS für Ulrich Immenga, 2004, S. 607; zusammenfassend Fleischer in MünchKomm. GmbHG (Fn. 4), Einl. Rz. 222–226 m. w. N. 34 BGH, JZ 2005, 298; BGH, RIW 2004, 787; BGH, WM 2003, 699. 35 BGH, JZ 1980, 649 m. Anm. Ebke/Neumann; BGH, WM 1979, 692, 693; BGH, IPRspr. 1977 Nr. 128; OLG Stuttgart, NJW 1965, 1139; AG Hamburg, AWD 1965, 177. 36 OLG Hamburg, BB 2007, 1519. 37 BGHZ 151, 204.
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aus fernen Oasenländern wie die Cayman Islands oder Panama) etwas entgegen zu setzen („Our pride and boast – the Army and the Navy – have both been reconstructed and remodeled upon so irresistible a basis that all the neighboring nations have disarmed –“). Dieser Weg bedeutet nicht automatisch einen „race to the bottom“ (Cary); denn es ist keineswegs ausgeschlossen, dass sich „seriöse“ Gesellschaftsformen wie die deutsche GmbH gegen „hochfl iegende“ (lofty) Kapitalgesellschaftsformen aus anderen Staaten am Ende „am Markt“ durchsetzen werden („race for the top“) (Winter). Dass der Ansatz des deutschen Gesetzgebers Erfolg versprechend ist, zeigt die rasante Zunahme der „haftungsbeschränkten Unternehmergesellschaft“ (UG), die „die britische Ltd. im Jahr 2009 nicht nur eingeholt, sondern überholt und regelrecht ‚abgehängt‘ “ hat 38. Kollisionsrechtliche Liberalität in Europa kennt aber auch niederlassungsrechtliche Grenzen: Für Wegzugsfälle hat der EuGH in der ungarisch-italienischen Rechtssache Cartesio 39 – zur Überraschung selbst von Generalanwalt Poiares Maduro 40 und auch des Verfassers41 – Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit durch den Gründungsstaat europarechtlich für zulässig erachtet. Der Ausbreitung englischer Limited innerhalb der EU tut diese Entscheidung des EuGH allerdings keinen Abbruch. Denn England folgt traditionell der Gründungstheorie; diese gestattet englischen Gesellschaften die Verlegung ihres tatsächlichen Verwaltungssitzes (real seat) in das Ausland unter Wahrung ihrer englischen Identität42. Und ein EU-Ausland darf – wie gesagt – der zuziehenden englischen Gesellschaft niederlassungsrechtlich keinen Riegel vorschieben; es muss sie als Gesellschaft englischen Rechts anerkennen. 38 Kornblum (Fn. 9), GmbHR 2010, 739, 746; vgl. Fleischer in MünchKomm. GmbHG (Fn. 4), Einl. Rz. 221. 39 EuGH v. 16.12.2008 – Rs. C-210/06, Slg. 2008, I-9641 (Cartesio Oktató és Szolgáltató bt). 40 GA Poiares Maduro stellt in Rz. 31 seiner Schlussanträge vom 22.5.2008 in der Rs. C-210/06 (Cartesio Oktató és Szolgáltató bt) fest (Fn. 39): „Im Ergebnis bin ich der Auffassung, dass beim derzeitigen Stand des Gemeinschaftsrechts unmöglich argumentiert werden kann, dass die Mitgliedstaaten völlig frei über ‚Leben und Tod‘ der nach ihrem nationalen Recht gegründeten Gesellschaften verfügen können, ohne dass die Folgen für die Niederlassungsfreiheit zu berücksichtigen wären. Andernfalls würde den Mitgliedstaaten der ‚Freibrief‘ erteilt, nach Belieben die ‚Todesstrafe‘ über eine nach ihrem Recht gegründete Gesellschaft zu verhängen, nur weil diese sich zur Ausübung ihrer Niederlassungsfreiheit entschließt“. 41 Siehe Ebke in Hopt/von Hippel/Anheier/Then/Ebke/Reimer/Vahlpahl, Feasibility Study on a European Foundation Statute, Final Report, 2008, S. 129: „In light of the Court’s holdings in Hughes de Lasteyrie du Saillant v. Ministère de l’Èconomie, des Finances et de l’Industrie and Cadbury Schweppes it is … inconceivable that the Court would construe a corporation’s freedom of establishment guaranteed by Articles 43 and 48 of the EC Treaty in the event of a cross-border transfer of the real seat, principal place of business or center of administration to another country („emigration“ or „exit“ case) more restrictively than in an „immigration“ or „entry“ case such as Überseering or Inspire Art. To be sure, the negation by a Member State of the right of a cross-border transfer of the actual center of administration, principal place of business or real seat („emigration“) and the requirement to reincorporate in the other Member State (i.e., the state of establishment) would be tantamount to outright negation of freedom of establishment that Articles 43 and 48 of the EC Treaty are intended to ensure.“ 42 Ebke, The European Conflict-of-Corporate-Laws Revolution: Überseering, Inspire Art and Beyond, Eur.Bus.L.Rev. 16 (2005), 9, 14; C. Mößle (Fn. 6), S. 31.
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3. Ausstrahlung Die „Blüten des kollisionsrechtlichen Fortschritts“ („Flowers of Progress“) Centros43, Überseering44 und Inspire Art 45 breiteten sich rasch aus. Die Ausweitung der niederlassungsrechtlichen Grundsätze über das Territorium der EU hinaus ist in Art. 31, 34 EWRV vorgezeichnet. Die niederlassungsrechtlichen Grundsätze der Rechtsprechung des EuGH gelten daher heute auch für Gesellschaften aus den EWR-Staaten (Fürstentum Liechtenstein, Island und Norwegen)46. Es geht noch weiter. Drei Zivilsenate des BGH haben unterdessen mit Hilfe verschiedener Bestimmungen des Freundschafts-, Handels- und Schiffahrtsvertrages (FHSV) zwischen Deutschland und den USA aus dem Jahre 1954 Kapitalgesellschaften (corporations) aus Kalifornien47, Delaware48 und Florida49 mit tatsächlichem Verwaltungssitz in Deutschland in den Genuss der – vom EuGH in die EU eingeführten – freiheitlichen Regelungsphilosophie der Gründungstheorie kommen lassen50. Die Begründungen der Senate sind unterschiedlich; nicht alle ihre Ausführungen vermögen zu überzeugen51. Die drei Entscheidungen basieren aber letztlich auf der Annahme, dass der über 50 Jahre alte deutschamerikanische Freundschaftsvertrag Gesellschaften aus den Vertragsstaaten eine Niederlassungsfreiheit „gleicher Art und Güte“ wie Art. 49, 54 AEUV (ex Art. 43, 48 EGV) garantiert52. Besonders deutlich wird diese Einschätzung, wenn
43 EuGH v. 9.3.1999 – Rs. C-212/97, Slg. 1999, I-1459 (Centros ./. Erhvervs- og Selkskabsstyrelsen). 44 EuGH v. 5.11.2002 – Rs. C-208/00, Slg. 2002, I-9919 (Überseering BV ./. Nordic Construction Company Baumanagement GmbH). 45 EuGH v. 30.9.2003 – Rs. C-167/01, Slg. 2003, I-10155 (Kamer van Koophandel en Fabrieken voor Amsterdam ./. Inspire Art Ltd.). 46 BGHZ 164, 148. Siehe auch Baudenbacher/Buschle, Niederlassungsfreiheit für EWRGesellschaften nach Überseering, IPRax 2004, 236 (zu dem Urteil der Vorinstanz, OLG Frankfurt a. M.). 47 BGH, JZ 2005, 298. 48 BGH, RIW 2004, 787. 49 BGH, WM 2003, 699. 50 Zu Einzelheiten dieser Rechtsprechung siehe Ebke, Conflicts of Corporate Laws and the Treaty of Friendship, Commerce and Navigation between the United States of America and the Federal Republic of Germany, in FS für Peter Hay, 2005, S. 119; Schurig, Das deutsch-amerikanische internationale Gesellschaftsrecht im Fahrwasser des europäischen?, in FS für Peter Hay, 2005, S. 369; Dammann, Amerikanische Gesellschaften mit Sitz in Deutschland, RabelsZ 68 (2004), 607. Zu der Frage der Anerkennung japanischer Gesellschaften mit tatsächlichem Verwaltungssitz in Deutschland nach dem deutsch-japanischen Handels- und Schiffahrtsvertrag von 1927 (RGBl. II 1927, 1088) siehe Sandrock, Japanische Gesellschaften mit Verwaltungssitz in Deutschland, in Großfeld/Yamauchi/Ehlers/Ishikawa (Hrsg.), Probleme des deutschen, europäischen und japanischen Rechts, 2006, S. 85. 51 Ebke, Gesellschaften aus Delaware auf dem Vormarsch: Der BGH macht es möglich, RIW 2004, 740; Ebke (Fn. 50), S. 119; Paal, Deutsch-Amerikanischer Freundschaftsvertrag und genuine link, Ein ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal auf dem Prüfstand, RIW 2005, 735. 52 Kruchen, Europäische Niederlassungsfreiheit und „inländische“ Kapitalgesellschaften im Sinne von Art. 19 Abs. 3 GG, 2009, S. 212.
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der VIII. Zivilsenat des BGH bei seiner Auslegung des Art. XXV Abs. 5 Satz 2 FHSV ausdrücklich auf die Entscheidung des EuGH in Überseering verweist53. Der BGH schafft mit seiner Rechtsprechung zum FHSV gleichsam einen „transatlantischen Binnenmarkt“54 für Gesellschaften aus den beiden Vertragsstaaten, in dem aus den USA zuziehende Kapitalgesellschaften in Deutschland kollisionsrechtlich genauso behandelt werden wie Gesellschaften aus EU/EWR-Mitgliedstaaten (jedenfalls hinsichtlich der Anerkennung ihrer Rechtsfähigkeit und der Haftung ihrer Organe) – eine rechtspolitisch und wirtschaftlich sinnvolle Lösung, die dogmatisch aber auf wackeligen Beinen steht und deren Auswirkungen im Einzelnen unklar sind. Den Wegzug deutscher Gesellschaften (d. h. die identitätswahrende Verlegung des tatsächlichen Verwaltungssitzes) in die USA ermöglicht der deutsche Gesetzgeber durch die Streichung des zweiten Absatzes von § 5 AktG a. F. und § 4a GmbHG a. F.55; Überraschungen wie im Falle Cartesio 56 werden dadurch vermieden.
IV. Vierter Akt Es bleibt die Frage: Wie soll aus Sicht des deutschen Rechts das Gesellschaftsstatut von Gesellschaften bestimmt werden, die weder in einem EU/EWRMitgliedstaat noch in einem völkerrechtlich bzw. staatsvertraglich privilegierten Land, also in einem sog. „nicht privilegierten Drittstaat“ gegründet worden sind? Diese Frage führt wissenschaftlich zurück zu den Grundfragen des „Kampfes“ zwischen Sitz- und Gründungstheorie57. Eine Expertengruppe hat zu diesem Fragenkreis im Auftrag des Deutschen Rats für IPR und in Abstimmung mit dem Bundesjustizministerium (BMJ) Vorschläge zur Reform des Internationalen Gesellschaftsrechts erarbeitet58. Die Empfehlungen der 53 BGHZ 153, 353, 358. Kritisch dazu aus entstehungsgeschichtlicher Sicht Ebke (Fn. 51), RIW, 2004, 740, 741; Paal (Fn. 51), RIW 2005, 735, 738; Jestädt, WuB 2003, II N. Art. XXV FHSV 1.03, S. 636–638. 54 Siehe Seelinger, Gesellschaftskollisionsrecht und Transatlantischer Binnenmarkt, 2010. 55 So jedenfalls die heute herrschende Ansicht in der Literatur. Siehe dazu statt aller Franz, Internationales Gesellschaftsrecht und deutsche Kapitalgesellschaften im Inund Ausland, BB 2009, 1250, 1251; Zimmer/Naendrup, Das Cartesio-Urteil des EuGH: Rück- oder Fortschritt für das Internationale Gesellschaftsrecht?, NJW 2009, 545, 550; Brakalova/Barth, Nationale Beschränkungen des Wegzugs von Gesellschaften innerhalb der EU bleiben zulässig, DB 2009, 213, 216; Hueck/Fastrich in Baumbach/ Hueck, 19. Aufl. 2010, § 4a GmbHG Rz. 11; Weller in MünchKomm. GmbHG, Bd. I, 2010, Einl. Rz. 379. 56 EuGH v. 16.12.2008 – Rs. C-210/06, Slg. 2008, I-9641 (Cartesio Oktató és Szolgáltató bt). 57 Siehe dazu eingehend Großfeld in Staudinger, EGBGB, Internationales Gesellschaftsrecht, Neubearb. 1998, Rz. 16 ff. Zu dem Internationalen Gesellschaftsrecht der Personengesellschaften siehe Walden, Das Kollisionsrecht der Personengesellschaften im deutschen, europäischen und US-amerikanischen Recht, 2001. Zum Kollisionsrecht der Stiftung siehe Geisler, Die selbständige Stiftung im Internationalen Privatrecht, 2008. 58 Sonnenberger (Hrsg.), Vorschläge und Berichte zur Reform des europäischen und deutschen internationalen Gesellschaftsrechtes, vorgelegt im Auftrag der zweiten Kommission für Internationales Privatrecht, Spezialkommission Internationales Gesellschaftsrecht, 2007.
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Kommission bilden die Grundlage für den Referentenentwurf eines Gesetzes zum Internationalen Privatrecht der Gesellschaften, Vereine und juristischen Personen, der Anfang 2008 vorgelegt wurde59. Der Referentenentwurf spricht sich für die Aufgabe der Sitztheorie und die Hinwendung zu der Gründungstheorie auch gegenüber Gesellschaften aus nicht privilegierten Drittstaaten aus60. Wenn Art. 10 Abs. 1 EGBGB-RefE Gesetz werden würde, würden in Deutschland kollisionsrechtlich im Grundsatz „amerikanische Verhältnisse“ einkehren. Doch die internationalgesellschaftsrechtlichen Mühlen des BMJ stehen – trotz breiter Zustimmung zu dem Referentenentwurf – derzeit still; das Schicksal des Entwurfs ist ungewiss. 1. Confoederatio Helvetica Um der „Willensbildung des Gesetzgebers“ nicht vorzugreifen (judicial selfrestraint!)61, hat der II. Zivilsenat des BGH es in der deutsch-schweizerischen Rechtssache Trabrennbahn abgelehnt, seine internationalgesellschaftsrechtliche Rechtsprechung gegenüber Gesellschaften aus nicht privilegierten Drittstaaten zu ändern; er hat daher auf die klagende schweizerische Aktiengesellschaft mit tatsächlichem Verwaltungssitz in Deutschland wie bisher die Sitztheorie angewandt62. Die Begründung des Senats ist (fast) schulmäßig: Eine Pfl icht zur Anwendung der Gründungstheorie ergebe sich in casu weder aus dem EWR-Abkommen noch aus dem „Abkommen zwischen der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten einerseits und der Schweizerischen Eidgenossenschaft andererseits über die Freizügigkeit“ vom 21.6.199963; aus dem Allgemeinen Übereinkommen über den Handel mit Dienstleistungen (GATS)64 und der EMRK folge ebenfalls keine Pfl icht zur Anerkennung der schweizerischen Aktiengesellschaft mit tatsächlichem Verwaltungssitz in Deutschland65.
59 RefE Internationales Gesellschaftsrecht, abrufbar unter: http://www.bmj.de/fi les//2751/ RefE Gesetz zum Internationalen Privatrecht der Gesellschaften, Vereine und juristischen Personen.pdf. 60 Kruchen (Fn. 52), S. 246–247; Weller in MünchKomm. GmbHG (Fn. 55), Einl. Rz. 334 und 374. 61 Siehe auch OLG Hamburg, BB 2007, 1519, 1521: Das Gericht lässt in seiner Urteilsbegründung Sympathie für eine Hinwendung zu der Gründungstheorie erkennen; gleichwohl lehnt es in casu die Anwendung der Gründungstheorie auf eine Gesellschaft von der Isle of Man mit der Begründung ab, es sei „nicht Aufgabe eines Instanzgerichts, der einheitlichen Rechtsentwicklung vorzugreifen“. 62 BGH, BB 2009, 14 mit Aufsatz Lieder/Kliebisch, Nichts Neues im Internationalen Gesellschaftsrecht: Anwendbarkeit der Sitztheorie auf Gesellschaften aus Drittstaaten?, BB 2009, 338 = DStR 2009, 59 m. Anm. Goette. Zur Schweizer Sicht der Dinge Schnyder, Keine Erstreckung der europarechtlichen Niederlassungsfreiheit auf Gesellschaften schweizerischen Rechts: Zugleich Anmerkung zu BGH, Urteil vom 27.10.2008, II ZR 158/06 – Trabrennbahn, GPR 2009, 227; Girsberger/Rodriguez, Die Sitzverlegung im europäischen Gesellschaftsrecht, SZIER 2004, 559, 572–576; Vischer, Die Bestimmung des Personalstatuts einer Gesellschaft – Auswirkungen der Urteile des EuGH i. S. Überseering und Inspire Art Ltd. aus schweizerischer Sicht, in FS für Ernst A. Kramer, 2004, S. 985. 63 ABl. EG Nr. L 114 v. 30.4.2002, S. 6. 64 BGBl. II 1994, S. 1643. 65 BGH, DStR 2009, 59, 61.
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Ein „Sonderrecht“ für schweizerische Aktiengesellschaften lehnt der Senat ausdrücklich ab: Die Schweiz habe sich in einer Volksabstimmung „bewusst“ gegen die im EWR-Abkommen eröffnete europäische Niederlassungsfreiheit entschieden; diese Entscheidung könne „von den deutschen Gerichten nicht unbeachtet gelassen werden“66 (Volenti non fit iniuria?). Eine „nur“ für die Schweiz geltende Ausnahme (die das Gericht auf den Gedanken der comitas, die Achtung fremder staatlicher Interessensphären sowie das Bemühen um internationalen Entscheidungseinklang hätte stützen können!) komme „aus Gründen der Rechtssicherheit“ nicht in Betracht; dann müsse nämlich auch bei anderen Staaten jeweils geprüft werden, ob „ihre Rechtsordnung so weit den europäischen Standards angeglichen wäre, dass man sie wie einen EUMitgliedstaat“ behandeln könne67. Aus Sicht eines Gerichts mag das zuletzt genannte Argument verständlich sein; denn nach welchen Kriterien sollen Richter die Höhe der „Standards“ (welche genau?) auf beiden Seiten beurteilen – etwa im Falle der Isle of Man68, Sambias69, Serbiens70, Singapurs71, Südafrikas72 oder Chinas? Problematisch sind aber die Folgen des Urteils im Trabrennbahn-Fall: Eine Aktiengesellschaft schweizerischen Rechts mit tatsächlichem Verwaltungssitz in Deutschland ist nach der Trabrennbahn-Entscheidung des II. Zivilsenats des BGH als „rechtsfähige Personengesellschaft deutschen Rechts zu behandeln, nämlich als offene Handelsgesellschaft oder Gesellschaft bürgerlichen Rechts, die keiner Eintragung in ein deutsches Register bedürfen“73. Déjà-vu in Deutschlands Internationalem Gesellschaftsrecht: „Spaltung der Rechtspersönlichkeit“ à la Jersey!74 2. Kanalinsel Jersey In seiner Jersey-Entscheidung hatte der II. Zivilsenat des BGH die sog. „eingeschränkte Sitztheorie“75 entwickelt, um die Sitztheorie vor dem – vom VII. Zivilsenat des BGH im Falle Überseering eingeleiteten76 – Ausspruch der Europarechtswidrigkeit zu bewahren („You’d best take care – Please recollect we have not been consulted.“)77. Das „Ablenkungsmanöver“ des II. Zivilsenats des BGH war – wie wir wissen – nicht erfolgreich. Der EuGH ließ sich bei sei66 67 68 69 70 71 72 73 74
BGH, DStR 2009, 59, 61. BGH, DStR 2009, 59, 61. OLG Hamburg, BB 2007, 1519. BayObLG, RIW 2003, 387, 388. AG Ludwigsburg, ZIP 2006, 1507. BGH, ZIP 2009, 2385. OLG Köln, ZIP 2007, 935. BGH, DStR 2009, 59, 62. Vgl. BGHZ 151, 204. Zu Gesellschaften, die nach dem Recht der British Virgin Islands gegründet wurden, siehe BGH, DB 2010, 1581, 1582. 75 BGH, DStR 2009, 59, 62. 76 Siehe den Vorlagebeschluss des VII. Zivilsenats des BGH, RIW 2000, 555; zu der Entscheidung der Vorinstanz: OLG Düsseldorf, JZ 2000, 203 m. Anm. Ebke. 77 Zu Einzelheiten des „Ablenkungsmanövers“ des II. Zivilsenats des BGH im Falle Jersey siehe Ebke, Überseering und Inspire Art: Die Revolution im Internationalen Gesellschaftsrecht und ihre Folgen, in FS für Reinhold Thode, 2005, S. 593, 611–612; Henze, Europäisches Gesellschaftsrecht in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, DB 2003, 2159, 2164.
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ner Entscheidung in der Rechtssache Überseering nicht beirren78. Und der VII. Zivilsenat des BGH folgte den Vorgaben des EuGH79. Das bedeutete allerdings nicht das Ende der „eingeschränkten Sitztheorie“ (Jersey). Entgegen der Auffassung der Revision vertritt der II. Zivilsenat des BGH im Falle Trabrennbahn die Ansicht, dass die Jersey-Rechtsprechung „nicht auf Gesellschaften mit Satzungssitz auf der Insel Jersey oder in ähnlichen zur Europäischen Union gehörenden Gebieten mit einem Sonderstatus beschränkt“ ist80. Eine Gesellschaft aus Singapur wurde kürzlich deshalb der schweizerischen Aktiengesellschaft gleich behandelt81. Die Folge: Chiasmus pur!82 Die rechtlichen Probleme liegen auf der Hand: Nach der Jersey-Regel wird die ausländische Kapitalgesellschaft, wie der VII. Zivilsenat des BGH zu Recht kritisch bemerkt hat, „in eine andere Gesellschaftsform mit besonderen Risiken, wie z. B. Haftungsrisiken, gedrängt“83. Das hat weit reichende Folgen, die über die unbeschränkte persönliche Haftung der Gesellschafter hinaus gehen und die Gläubiger der ausländischen Gesellschaft betreffen (Statutenverdoppelung!): Die Spaltung der Rechtspersönlichkeit führt zu kaum lösbaren Problemen, insbesondere internationalprozess- und internationalvollstreckungsrechtlicher Art84. Eine solche Kollisionsnorm würde – innerhalb der EU angewandt – einen „Verstoß gegen die Niederlassungsfreiheit darstellen“85.
V. Fünfter Akt Sollten wir die gegenwärtige Spaltung des deutschen Gesellschaftskollisionsrechts überwinden? Ist eine Kollisionsregel, die in Europa (sprich: EU/EWR) im 78 EuGH v. 5.11.2002 – Rs. C-208/00, Slg. 2002, I-9919 (Überseering BV ./. Nordic Construction Company Baumanagement GmbH). 79 BGH, RIW 2003, 474. Siehe auch OLG Celle, GmbHR 2003, 532; OLG Zweibrücken, GmbHR 2003, 530. 80 BGH, DStR 2009, 59, 62. 81 BGH, ZIP 2009, 2385. Siehe ferner BGH, DStR 2010, 1040 (Festhalten an der Sitztheorie im Verhältnis zu einer türkischen Gesellschaft mit Verwaltungssitz in der Türkei). 82 Während das europäische Gemeinschaftsrecht innerhalb der EU die Möglichkeit des Zuzugs (sprich: der grenzüberschreitenden identitätswahrenden Verlegung des tatsächlichen Verwaltungssitzes) von EU-Kapitalgesellschaften verlangt (Centros, Überseering und Inspire Art) und Beschränkungen des Wegzugs (sprich: der Verlegung des tatsächlichen Verwaltungssitzes über die Grenze) gestattet (Daily Mail und Cartesio), verbietet das deutsche Recht Schweizer Kapitalgesellschaften den Zuzug nach Deutschland, erlaubt umgekehrt aber deutschen Aktiengesellschaften und GmbH den Wegzug in die Schweiz (§ 4a GmbHG, § 5 AktG). 83 BGH, RIW 2003, 474, 475. Kritisch auch Haar, Konsolidierung des Binnenmarktes in der aktuellen Rechtsprechung des EuGH zum europäischen Gesellschaftsrecht, GPR 2010, 187, 188 („…diese Lösung [erscheint] keineswegs frei von Zweifeln und zur Vermeidung der ‚gespaltenen Lösung‘ im Verhältnis zu Drittstaaten reformbedürftig …“). 84 Mit Recht kritisch dazu Walden, Niederlassungsfreiheit, Sitztheorie und der Vorlagebeschluss des VII. Zivilsenats des BGH v. 30.3.2000, EWS 2001, 256; Binz, Die Rechtsstellung von Kapitalgesellschaften aus Nicht-EU/EWR/USA-Staaten mit Verwaltungssitz in Deutschland, BB 2005, 2361, 2363–2365; siehe ferner Meilicke, Die Niederlassungsfreiheit nach „Überseering“: Rückblick und Ausblick nach Handelsrecht und Steuerrecht, GmbHR 2003, 793, 800–801; Kruchen (Fn. 52), S. 236–237. 85 So der VII. Zivilsenat des BGH, RIW 2003, 474, 475.
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Lichte der Niederlassungsfreiheit richtigerweise glänzt und auch im Verhältnis zu Gesellschaften aus den USA sowie anderen staatsvertraglich privilegierten Ländern zum Tragen kommt, nicht auch „Gold“ richtig für den Rest der Welt? 1. Der Kampf um das maßgebende Recht Einen allgemeinen völkerrechtlichen Grundsatz, der Deutschland verpflichtet, die Rechtsfähigkeit einer im Ausland wirksam gegründeten Gesellschaft im Inland anzuerkennen, gibt es nicht86. Aus multilateralen Abkommen wie GATS, WTO und EMRK folgt ebenfalls keine Anerkennungsverpflichtung87, wie der II. Zivilsenat des BGH in der Rechtssache Trabrennbahn bestätigt hat88. Die Rom I-VO89 und die Rom II-VO90 enthalten insoweit ebenfalls keine Vorgaben; sie nehmen nämlich Fragen des Gesellschaftsrechts aus ihrem Anwendungsbereich weitgehend aus91. Bilaterale Abkommen mit kollisionsrechtlichem „Gehalt“ nach Art des deutsch-amerikanischen Freundschaftsvertrages von 1954 sind Ausnahmen92; sie bilden allerdings eine interessante Alternative93 zu einem einseitigen Verzicht auf die Sitztheorie („Schutztheorie“94) in Gestalt des Übergangs zu der Gründungstheorie, wie ihn Art. 10 EGBGB-RefE vorsieht. Sollten wir also im Verhältnis zu Gesellschaften aus nicht privilegierten Drittstaaten an der Sitztheorie festhalten und sie nur fallweise staatsvertraglich aufgeben bzw. modifi zieren (vgl. Art. 3 Nr. 2 EGBGB)? Eine verfassungsrechtliche Verpfl ichtung zur kollisionsrechtlichen Gleichbehandlung von EU/EWR/USA-Gesellschaften und Gesellschaften aus nicht
86 Jestädt, Niederlassungsfreiheit und Gesellschaftskollisionsrecht, 2005, S. 234; Ebke, Überseering und Inspire Art: Auswirkungen auf das Internationale Gesellschaftsrecht aus der Sicht von Drittstaaten, in Sandrock/Wetzler (Hrsg.), Deutsches Gesellschaftsrecht im Wettbewerb der Rechtsordnungen, 2004, S. 101, 113–114; Kruchen (Fn. 52), S. 219–220. 87 Zu Einzelheiten siehe Sebastian Müller, Der Zuzug von Kapitalgesellschaften aus Drittstaaten, 2011. 88 BGH, DStR 2009, 59, 61. 89 Art. 1 Abs. 2 lit. f Rom I-VO nimmt „Fragen betreffend das Gesellschaftsrecht, das Vereinsrecht und das Recht der juristischen Personen, wie die Errichtung durch Eintragung oder auf andere Weise, die Rechts- und Handlungsfähigkeit, die innere Verfassung und die Auflösung von Gesellschaften, Vereinen und juristischen Personen sowie die persönliche Haftung der Gesellschafter und der Organe für die Verbindlichkeiten einer Gesellschaft, eines Vereines oder einer juristischen Person“ aus dem Anwendungsbereich der Verordnung aus. 90 Art. 1 Abs. 2 lit. d der Rom II-VO nimmt „außervertragliche Schuldverhältnisse, die sich aus dem Gesellschaftsrecht, dem Vereinsrecht und dem Recht der juristischen Personen ergeben, wie die Errichtung durch Eintragung oder auf andere Weise, die Rechts- und Handlungsfähigkeit, die innere Verfassung und die Auflösung von Gesellschaften, Vereinen und juristischen Personen, die persönliche Haftung der Gesellschafter und der Organe für eine Verbindlichkeit einer Gesellschaft, eines Vereins oder einer juristischen Person sowie die persönliche Haftung der Rechnungsprüfer gegenüber einer Gesellschaft oder ihren Gesellschaftern bei der Pfl ichtprüfung der Rechnungslegungsunterlagen“ aus dem Anwendungsbereich der Verordnung aus. 91 Siehe aber Weller (Fn. 3), ZGR 2010, 679, 695–706. 92 Spahlinger in Spahlinger/Wegen (Fn. 28), S. 64–65; Kruchen (Fn. 52), S. 220–222. 93 Ebke (Fn. 18), JZ 2003, 927, 930. 94 Großfeld in Staudinger (Fn. 57), IntGesR Rz. 33 und 53.
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privilegierten Drittstaaten besteht jedenfalls nicht95. In der Literatur fi nden sich daher Stimmen, die für die grundsätzliche Beibehaltung der Sitztheorie plädieren („Upon our sea-girt land“)96. Die Autoren sind skeptisch gegenüber einer parteiautonomen Wahl des Rechts durch die Gründer; für sie sichert die Sitztheorie Wertungen des – oft zwingenden – inländischen Gesellschafts- und Unternehmensrechts und erreicht durch die Anknüpfung an den tatsächlichen Verwaltungssitz einen Gleichlauf zwischen den gesellschafts- und unternehmensrechtlichen Wertungen und der kollisionsrechtlichen Wertung. In der Tat gewährleistet die Sitztheorie, dass regelmäßig das Recht desjenigen Staates zur Geltung kommt, der von den Aktivitäten der Gesellschaft am meisten betroffen ist. Und sie schafft ein level playing field, indem sie für eine gesellschaftsrechtliche Gleichbehandlung aller schwerpunktmäßig im Inland tätigen Gesellschaften unabhängig von ihrer Herkunft sorgt97. Besonders nachdrücklich („With fury deep we burn“) und nachhaltig ist Gerhard Kegels Plädoyer für die Sitztheorie aus dem Jahre 1999: „Das Natürliche und Anständige ist die Anknüpfung an den Verwaltungssitz …. Wohin kommen wir, wenn bei uns jeder Klempner, Malermeister oder Dachdecker als private company englischen Rechts oder gar nach dem Gesellschaftsrecht von Bophuthatswana agieren darf? … Zwar verlieren Antike und Christentum an Boden, aber Gemeinverträglichkeit muss erhalten bleiben, sonst gibt ein Staat oder eine Staatengemeinschaft sich auf. Daher keine weiche Welle, sondern Schutz der Bürger“98. Andere Autoren befürworten in Fällen des Zuzugs aus nicht privilegierten Drittstaaten dagegen die Hinwendung zu der parteiautonome Rechtswahlfreiheit gewährenden Gründungstheorie („Eagle high in cloudland soaring“)99. Die
95 Ebke (Fn. 18), JZ 2003, 927, 930; Jestädt (Fn. 86), S. 234. 96 Siehe etwa Jestädt (Fn. 86), S. 255–256 („Plädoyer für die Sitztheorie“); Kindler, in MünchKomm. BGB, Bd. 11, 5. Aufl. 2010, IntGesR Rz. 455 ff. Großerichter, Ausländische Kapitalgesellschaften im deutschen Rechtsraum: Das deutsche Internationale Gesellschaftsrecht und seine Perspektiven nach der Entscheidung „Überseering“, DStR 2003, 159, 168. 97 Vgl. zu diesem Aspekt Ebke, The „Real Seat“ Doctrine and the Conflict of Corporate Laws, 36 Int’l Law. 1015, 1027–1028 (2002) („The real seat doctrine stresses the importance of uniform treatment … by requiring that all corporations having their principal place of business, or real seat, in a particular state be incorporated under that state’s law. Thereby, the doctrine creates a level playing field …“). 98 Kegel, Editorial, EWS 1999, Heft 8. 99 Siehe etwa Dierksmeier, Kapitalgesellschaften aller Länder willkommen! Die deutsche GmbH im Wettbewerb der Rechtsformen 2010, in Ebke/Elsing/Großfeld/Kühne (Hrsg.), Das deutsche Wirtschaftsrecht unter dem Einfluss des US-amerikanischen Rechts, 2011, S. 205, 215; Leible/Hoffmann, Cartesio – fortgeltende Sitztheorie, grenzüberschreitender Formwechsel und Verbot materiellrechtlicher Wegzugsbeschränkungen, BB 2009, 58, 62 („Die besseren Gründe sprechen dafür, in Deutschland … zur Gründungstheorie überzugehen“); Kruchen (Fn. 52), S. 247–249; Eidenmüller, Urteilsanmerkung, JZ 2003, 526, 528; Eidenmüller, Wettbewerb der Gesellschaftsrechte in Europa, ZIP 2002, 2233, 2244; Kieninger, Internationales Gesellschaftsrecht nach „Centros“, „Überseering“ und „Inspire Art“: Antworten, Zweifel und offene Fragen, ZEuP 2004, 685, 702–703; Kieninger, Anmerkung, NJW 2009, 292, 293; Balthasar, Gesellschaftsstatut und Gläubigerschutz: Ein Plädoyer für die Gründungstheorie, RIW 2009, 221, 223 ff.
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international einheitliche Anknüpfung des Gesellschaftsstatuts sei „oberstes Gebot“100. Bei Bedarf könne die Gründungstheorie zum Beispiel mit Hilfe von Sonderanknüpfungen nach Art der Sandrock’schen Überlagerungstheorie101 eingeschränkt werden102. Ist eine Kombination von Gründungs- bzw. Registrierungsortanknüpfung und Überlagerungstheorie – wie in einigen Bundesstaaten der USA103 – das „Modell der Zukunft“ für Gesellschaften aus nicht privilegierten Drittstaaten? 2. Für und Wider Die Gründungstheorie setzt vergleichbare gesellschaftsrechtliche Verhältnisse voraus; massive Regelungsgefälle verzerren den „Wettbewerb der Gesellschaftsrechtsordnungen“ und können zur Gründung von Scheinauslandsgesellschaften (pseudo-foreign corporations, formeel buitenlandse vennootschappen), also Unternehmen ausländischer Rechtsform mit tatsächlichem Verwaltungssitz oder Zweigniederlassung in Deutschland bzw. deutschen Personengesellschaften mit ausländischer Komplementärin, führen. Solchen Gesellschaften ist letztlich nur mit Sonderanknüpfungen und „Überlagerungen“ beizukommen104, will man nicht verzichten auf die Durchsetzung von nationalen Wertungen, die einer Rechtsordnung lieb, wenn auch bisweilen (wie beispielsweise die unternehmerische Mitbestimmung oder die Kapitalaufbringungs- und Kapitalerhaltungsvorschriften) teuer geworden sind. Das zeigen von „Rechtsimporten“ besonders betroffene Staaten wie Kalifornien105, New York106, die Niederlande107 und die Schweiz108. Die Korrelation von Freizügigkeit und Stand des Gesellschaftsrechts hat der EuGH bereits in seiner ersten Entscheidung zur Nieder100 Behrens in Ulmer/Habersack/Winter (Hrsg.), GmbHG Großkommentar, Bd. 1, 2005, Einl. B Rz. 36. Siehe auch OLG Hamburg, BB 2006, 2487, 2488 („Rechtssicherheit, Rechtsklarheit und Einheitlichkeit der Anknüpfung im Internationalen Gesellschaftsrecht“). 101 Zu Einzelheiten siehe Sandrock, Die Schrumpfung der Überlagerungstheorie. Zu den zwingenden Vorschriften des deutschen Sitzrechts, die ein fremdes Gründungsstatut überlagern können, ZVglRWiss 102 (2003), 447, 502–504; Sandrock, Niederlassungsfreiheit und Internationales Gesellschaftsrecht, EWS 2005, 529; grundlegend zu der Überlagerungstheorie Sandrock, Die Multinationalen Korporationen im Internationalen Privatrecht, BerDtGesVölkR 1978, 169; Sandrock, Ein amerikanisches Lehrstück für das Kollisionsrecht der Kapitalgesellschaften, RabelsZ 42 (1978), 227. 102 Zu weiteren Einzelheiten siehe L. Hübner, Die kollisionsrechtliche Behandlung von Gesellschaften aus „nicht-privilegierten“ Drittstaaten, 2011; siehe auch das Plädoyer für ein „auf der Gründungstheorie basierendes Schutzsystem“ von S. Müller (Fn. 87). 103 Vgl. Ebke (Fn. 42), Eur.Bus.L.Rev. 16 (2005), 9, 30–31; Ebke (Fn. 20), S. 186–188. 104 Zu Einzelheiten siehe etwa Weller in MünchKomm. GmbHG (Fn. 55), Einl. Rz. 444–480. 105 Siehe dazu Ebke (Fn. 42), Eur.Bus.L.Rev. 16 (2005), 9, 30–31. 106 Siehe dazu Ebke (Fn. 42), Eur.Bus.L.Rev. 16 (2005), 9, 31. 107 Zu Einzelheiten siehe de Kluiver, De wet formeel buitenlandse vennootschappen op de tocht?, WPNR 1999, 527; Timmerman, Das niederländische Gesellschaftsrecht im Umbruch, in FS für Marcus Lutter, 2000, S. 173, 184–185. Zu der Anwendbarkeit des niederländischen Gesetzes vom 17.12.1997 gegen Scheinauslandsgesellschaften aus einem anderen EU-Mitgliedstaat siehe EuGH v. 30.9.2003 – Rs. C-167/01, Slg. 2003, I-10155 (Kamer van Koophandel en Fabrieken voor Amsterdam ./. Inspire Art Ltd.). 108 Vgl. dazu Schnyder (Fn. 62), GPR 2009, 227, 229.
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lassungsfreiheit der Gesellschaften (Daily Mail) betont109. Seit Überseering mag innerhalb der EU Rechtsangleichung für die Niederlassungsfreiheit nicht mehr konstitutiv sein, sondern nur dazu dienen, den Gebrauch der Niederlassungsfreiheit zu erleichtern110. Außerhalb der EU stellt sich die Lage aber anders dar. Dass die Gesellschaftsrechte nicht einmal innerhalb Europas vergleichbar, geschweige denn austauschbar sind, wissen wir spätestens seit den „Liechtenstein“-Fällen111. Nach wie vor bestehen innerhalb der EU große Unterschiede gerade bezüglich der „internen Angelegenheiten“ (internal affairs) von Kapitalgesellschaften; das Scheitern der 5. gesellschaftsrechtlichen Richtlinie ist bezeichnend. Noch größer sind die Unterschiede, wenn es um „Oasenländer“ (z. B. Bahamas, Cayman Islands oder Panama)112 oder ferne Inselreiche mit eigennützigen Regelungsinteressen (z. B. die Cook Islands, St. Kitts and Nevis – „the little group of isles beyond the wave – so tiny, you might almost wonder where it is“)113 geht. Probleme anderer Art gibt es mit Staaten, die über ein wenig entwickeltes Gesellschaftsrecht verfügen. Schutzdefi zite sind bei Anwendung der Gründungstheorie jedenfalls unausweichlich. Kontrollinstrumente, die die gesellschaftsrechtlichen Regelungen zur Absicherung der Interessen von shareholders, stakeholders und sonstigen Dritten ergänzen können (wie der market for corporate control114 und das Informationsmodell115), entfalten nicht bei allen Gesellschaften Wirkungen – insbesondere nicht bei börsenunabhängigen Gesellschaften116.
109 EuGH v. 27.9.1988 – Rs. 81/87, Slg. 1988, 5483 (Rz. 25) (The Queen and H.M. Treasury and Commissioner of Inland Revenue ex parte Daily Mail and General Trust Plc): Der Gerichtshof betont, dass Art. 49 und 54 AEUV (ex Art. 52 und 58 EWGV) „beim derzeitigen Stand des Gemeinschaftsrechts einer Gesellschaft, die nach dem Recht eines Mitgliedstaats gegründet ist und in diesem ihren satzungsmässigen Sitz hat, nicht das Recht gewähren, den Sitz ihrer Geschäftsleitung in einen anderen Mitgliedstaat zu verlegen“) (Hervorhebung des Verf.). 110 Vgl. Ebke (Fn. 18), JZ 2003, 927, 928 Fn. 26 (dort, S. 933, auch zu dem mittelbaren Rechtsangleichungsdruck der Entscheidung des EuGH in Überseering). 111 Siehe BGH, JZ 1980, 649 mit Anm. Ebke/Neumann; BGH, WM 1979, 692, 693; BGH, IPRspr. 1977 Nr. 128; OLG Suttgart, NJW 1965, 1139; AG Hamburg, AWD 1965, 177. Zu Einzelheiten der „Liechtenstein“-Fälle siehe Großfeld, Praxis des Internationalen Privat- und Wirtschaftsrechts, 1975, S. 64–67. 112 Großfeld in Staudinger (Fn. 57), IntGesR Rz. 33 und 53. 113 Die Cook Islands sind seit 1989 Heimathafen vieler sog. Asset Protection Trusts. Zu Einzelheiten siehe Hermann, Assest Protection Trusts, 2011. 114 Ebke, Unternehmenskontrolle durch Gesellschafter und Markt, in Sandrock/Jäger, Internationale Unternehmenskontrolle und Unternehmenskultur, 1994, S. 7, 25–28. 115 Umfassend Henne, Information und Corporate Governance, 2011. Der Gedanke des Gläubigerschutzes mittels Information und Transparenz fi ndet sich bereits in der Centros-Entscheidung des EuGH: Ebke, Das Schicksal der Sitztheorie nach dem Centros-Urteil des EuGH, JZ 1999, 656, 659; Ebke (Fn. 28), 48 Am.J.Comp.L. 623, 646–647 (2000) („disclosure-based, as opposed to a company-law based, approach to creditor protection“); Merkt, Das Centros-Urteil des Europäischen Gerichtshofs – Konsequenzen für den nationalen Gesetzgeber, VGR 2 (2000), 111, 118–119 und 126–127. 116 Zu der Anwendung der IFRS auf börsenunabhängige Gesellschaften siehe Ebke/ Luttermann/Siegel (Hrsg.), Internationale Rechnungslegungsstandards für börsenunabhängige Unternehmen?, 2007.
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Ob der Schutz berechtigter inländischer Interessen bei Anknüpfung an den Gründungsort mit Hilfe von Sonderanknüpfungen so effektiv gewährleistet werden kann, wie einige Autoren meinen117, erscheint in vielen Fällen zumindest fraglich118. Die Verhandlungen im Rahmen der Schaffung des Entwurfs eines Gesetzes zum Internationalen Privatrecht der Gesellschaften, Vereine und juristischen Personen zeigen, wie schwierig es selbst für Experten ist, eine Einigkeit über die Voraussetzungen einer Sonderanknüpfung „zwingender Normen“119 des Gesellschafts- und Unternehmensrechts zu erzielen und sie zu kodifi zieren; von den mittels Sonderanknüpfung konkret zur Geltung zu bringenden nationalen Regelungen des Gesellschafter-, Gläubiger- und Arbeitnehmerschutzes ganz zu schweigen. Jedenfalls gilt: Sonderanknüpfungen sind maßvoll zu handhaben, will man die Grundentscheidung zugunsten der Anknüpfung an den Gründungsort nicht unterlaufen. Je mehr Sonderanknüpfungen erforderlich werden, desto weniger sinnvoll ist der Übergang zur Gründungstheorie als Grundanknüpfungsregel! Entsprechendes gilt für Forderungen nach einem genuine link der ausländischen Gesellschaft mit ihrem Gründungsstaat. Je intensiver die Verbindung mit dem Gründungsstaat danach sein soll, desto mehr nähert man sich faktisch der Sitztheorie an120. Zurückhaltung ist außerdem geboten bezüglich der Anwendung des (negativen) ordre public (Art. 6 EGBGB). Die Vorbehaltsklausel kann nur in besonders krassen, stoßenden Fällen zum Zuge kommen, insbesondere bei Unvereinbarkeit der Anwendung des ausländischen Rechts mit nationalen Grundrechten121. Ein „ungezügelter“ Rückgriff (Cardozo) auf den (negativen) ordre public würde bei Geltung der Gründungstheorie mehr „Liberalität“ im Kollisionsrecht vortäuschen als dann wirklich besteht. Nicht zu unterschätzen sind darüber hinaus Probleme bei der Ermittelbarkeit ausländischen Rechts (vgl. § 293 ZPO) sowie der Suche nach einem möglichen „Ersatzrecht“122, die Verlagerung von Entscheidungskompetenzen auf Gutachter123, das Problem der
117 Siehe etwa Behrens, Das Internationale Gesellschaftsrecht nach dem ÜberseeringUrteil des EuGH und den Schlussanträgen zu Inspire Art, IPRax 2003, 193, 206; Behrens (Fn. 100), Einl. B Rz. 36 a. E. („begrenzte Sonderanknüpfungen“) sowie die Nachw. in Fn. 102. 118 Ebke (Fn. 18), JZ 2003, 927, 930. 119 Siehe oben Fn. 25. 120 Zu dem in der Entscheidung des BGH, RIW 2004, 787, angesprochenen genuine linkErfordernis siehe Ebke (Fn. 55), S. 134–135; Paal (Fn. 51), RIW 2005, 735; Neumann, Das genuine link-Kriterium – Ein zusätzliches ungeschriebenes Merkmal in Art. XXV Abs. 5 S. 2 des deutsch-(US)amerikanischen Handelsvertrages, 2006. 121 Vgl. Kropholler, Internationales Privatrecht, 6. Aufl. 2006, S. 246 (für eine „zurückhaltende Handhabung“). 122 Zu der vergleichbaren Frage des Vorgehens bei Nichtermittelbarkeit ausländischen Kollisionsrechts siehe Ebke, Die Anknüpfung der Rechtsnachfolge von Todes wegen nach niederländischem Kollisionsrecht. Zum Rückgriff auf die „wahrscheinlichste Anknüpfung“ bei nicht sicher feststellbarem Inhalt ausländischer Kollisionsregeln, RabelsZ 48 (1984), 319, 335–337. 123 Ebke (Fn. 122), RabelsZ 48 (1984), 319, 340.
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Kosten124 und nicht zuletzt die Frage der Erfassbarkeit ausländischen Rechts (Stichwort: „Sprache, Zeichen und Recht“)125. Natürlich hat auch die Sitztheorie Schwächen. Dazu gehört, dass es angesichts der Globalisierung der Wirtschaft und der neuen Kommunikationsmittel schwierig sein kann, den tatsächlichen Verwaltungssitz zu bestimmen126. Andererseits kommen auch Sonderanknüpfungen ohne eine Konkretisierung des notwendigen Inlandsbezugs der ausländischen Gesellschaft (nexus oder contacts) nicht aus. Welche Schwierigkeiten sich diesbezüglich ergeben können, hat der Court of Appeal von Kalifornien im Falle Kruss v. Booth127 für die Bestimmungen des kalifornischen Gesellschaftsrechts gegen Scheinauslandsgesellschaften („outreach statute“ – § 2115 Cal.Corp.Code) unlängst klar und deutlich ausgesprochen128. Außerdem trägt die Fortführung der gegenwärtigen Spaltung des deutschen Gesellschaftskollisionsrechts sicher nicht zu einer Vereinfachung dieses Rechtsgebiets bei129; insbesondere dann nicht, wenn man das System fallweise um bilaterale Staatsverträge ergänzt. Doch: komplex war Internationales Gesellschaftsrecht schon immer; die Komplexität des Rechts wächst mit der Komplexität der Sachverhalte, die es zu regeln bestimmt ist. Das ist letztlich der Preis der Internationalität und der Globalisierung. Man kann andererseits trefflich darüber streiten, ob das Modell des Referentenentwurfs ein Mehr an Rechtssicherheit bedeutet, wie von einigen Autoren angenommen wird130; immerhin haben die betroffenen Unternehmen, ihre Berater und die Gerichte keinerlei Erfahrung mit einem Gesellschaftskollisionsrecht, das sich von der Jahrzehnte lang praktizierten Sitztheorie fundamental unterscheidet. Umgekehrt zeigt die Tatsache, dass die – zugegebenermaßen unnachgiebigen – Rechtsfolgen („Sanktionen“131) der Sitztheorie in Fällen, in denen eine ausländische Kapitalgesellschaft ihren tatsächlichen Verwaltungssitz in Deutschland hat, in der Vergangenheit selten zum Tragen gekommen sind, wie einfach und flexibel Unternehmen und ihre Berater auf die Auswirkungen der Sitztheorie reagieren können. Verbleibenden Problemen (z. B. steuerlicher132,
124 Siehe hierzu das „Streitgespräch“ zwischen Altmeppen (Schutz vor „europäischen“ Kapitalgesellschaften, NJW 2004, 97, 98) und Sandrock (Sitztheorie contra Savigny, BB 2004, 897, 900–901) über die Herausforderungen der Gerichte bezüglich der Ermittlung, Auslegung und Anwendung ausländischen Rechts. 125 Siehe dazu grundlegend Großfeld, Rechtsvergleichung, 2001; Großfeld, Kernfragen der Rechtsvergleichung, 1996; Großfeld, Zeichen und Zahlen im Recht, 1993. 126 Behrens (Fn. 100), Einl. B Rz. 23. Zu der Bestimmung des „tatsächlichen Verwaltungssitzes“ siehe BGHZ 97, 269, 272. 127 Kruss v. Booth, Case No. G 041738 (Cal.App. 4th Dist., June 11, 2010). 128 Siehe dazu näher Ebke (Fn. 20), S. 188. 129 Vgl. Leible/Hoffmann (Fn. 99), BB 2009, 58, 62; Behrens (Fn. 100), Einl. B Rz. 26. 130 Kruchen (Fn. 52), S. 247 („mehr Rechtssicherheit“). 131 Siehe dazu kritisch Knobbe-Keuk, Umzug von Gesellschaften in Europa, ZHR 154 (1990), 325, 356. 132 Zu der Rolle des Steuerrechts siehe Melerski in Triebel/von Hase/Melerski (Fn. 4), S. 343–378; siehe ferner Ostertun/Reimer, Wegzugsbesteuerung – Wegzugsberatung, 2007, S. 123–246; Niemeyer, Der Schutz inländischer Gläubiger bei Errichtung grenzüberschreitender Niederlassungen, 2006, S. 205–255.
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insolvenzrechtlicher133 oder strafrechtlicher134 Art) kann man mit den Instrumenten des jeweils verursachenden Rechtsgebiets begegnen.
Epilog Gründungstheorie oder Sitztheorie, Schein oder Sein? – das war hier die Frage. Sollen wir auf Gesellschaften aus nicht privilegierten Drittstaaten die Gründungstheorie anwenden – selbst auf die Gefahr hin, dass die Zahl der Scheinauslandsgesellschaften (pseudo-foreign corporations, formeel buitenlandse vennootschappen) in Deutschland zunimmt? Oder sollen wir in solchen Fällen an der Sitztheorie festhalten und die Anerkennung des „Seins“ einer Gesellschaft aus einem nicht privilegierten Drittstaat davon abhängig machen, ob die betreffende Gesellschaft ihre geschäftlichen Aktivitäten schwerpunktmäßig in ihrem Gründungsstaat oder im Inland (Aufnahmestaat) ausübt, und damit für alle im Inland tätigen Gesellschaften unabhängig von ihrer Herkunft ein level playing field schaffen? Das höchste deutsche Zivilgericht hat sich entschieden; es wendet bei Auseinanderfallen von Satzungs- und tatsächlichem Verwaltungssitz einer nicht privilegierten drittstaatlichen Gesellschaft weiterhin die „Sitztheorie à la Jersey“ an und überlässt grundlegende Kurskorrekturen dem Gesetzgeber – getreu den Worten von Justice Benjamin Nathan Cardozo: „A change so revolutionary, if expedient, must be wrought by legislation“135. In der Literatur steigt unterdessen die Zahl der Befürworter einer Anknüpfung an den Gründungs- bzw. Registrierungsort; berechtigte Interessen des Rechts am Sitz der tatsächlichen Verwaltung könnten mit Hilfe von Sonderanknüpfungen zur Geltung gebracht werden. Doch: wissen wir genau, worauf wir uns einlassen, wenn wir die „Blüten des Fortschritts“ des Gesellschaftskollisionsrechts innerhalb von EU und EWR externalisieren und sie in einem völlig anderen rechtlichen Umfeld zur Geltung bringen? Haben wir vielleicht – wie Utopia bei Übernahme der Limited – das „wichtigste Element“ („most essential element“) übersehen? Erfassen wir wirklich vollumfänglich, was sich hinter dem Rechtskleid einer ausländischen Gesellschaft, dem „unbekannten Wesen“, und dem Buchstaben des Gesetzes ihres Heimatlandes verbirgt?
133 Zu der Rolle des Insolvenzrechts siehe Schmidt-Ehemann (Fn. 6); S. Mayer, Insolvenzantragspfl icht und Scheinauslandsgesellschaften, 2008; Barthel, Deutsche Insolvenzantragspfl icht und Insolvenzverschleppungshaftung in Scheinauslandsgesellschaften nach dem MoMiG, 2009; Heil, Die Insolvenzantragspfl icht und Insolvenzverschleppungshaftung bei der Scheinauslandsgesellschaft in Deutschland, 2008. 134 Nuys, Die englische Limited als faktische GmbH im strafrechtlichen Sinne? Gedanken zur strafrechtlichen Verantwortlichkeit des directors in der Insolvenz der Limited als Beitrag zu Grund und Grenzen der wirtschaftlichen/faktischen Betrachtungsweise im Strafrecht, 2009. 135 Ultramares Corporation v. Touche & Co., 174 N.E. 441, 447 (1931).
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Wie schreibt doch Wilhelm Busch zu „Schein und Sein“:
Mein Kind, es sind allhier die Dinge, Gleichwohl, ob große, ob geringe, Im wesentlichen so verpackt, Daß man sie nicht wie Nüsse knackt. Wie wolltest du dich unterwinden, Kurzweg die Menschen zu ergründen. Du kennst sie nur von außenwärts. Du siehst die Weste, nicht das Herz.
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Der Gesellschafterausschuss der KGaA Inhaltsübersicht I. Grundlagen 1. Wachsende Beliebtheit der KGaA 2. Organisationsverfassung der KGaA im Überblick 3. Gründe für die Einrichtung eines Gesellschafterausschusses II. Zulässigkeit des Gesellschafterausschusses 1. Grundsatz 2. Konkretisierung
III. Besetzung des Gesellschafterausschusses 1. Grundsatz 2. Aktienrechtliche Bestellungshindernisse a) Grundsatz b) § 100 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 AktG im Besonderen IV. Fazit
I. Grundlagen 1. Wachsende Beliebtheit der KGaA Die KGaA erfreut sich gewisser Beliebtheit, seit der BGH es vor nunmehr 13 Jahren zugelassen hat, dass nicht nur natürliche Personen die Stellung eines persönlich haftenden Gesellschafters einnehmen können1, und der Gesetzgeber diese Erkenntnis in der fi rmenrechtlichen Vorschrift des § 279 Abs. 2 AktG bestätigt hat2. Belief sich die Anzahl der Gesellschaften in der Rechtsform der KGaA bis in die erste Hälfte der 90er Jahre des vergangenen Jahrhunderts auf rund 303, so kann heute von deutlich über 200 Gesellschaften dieser Rechtsform ausgegangen werden4. Die Gründe für diese Entwicklung liegen auf der Hand: Durch Wahl der Rechtsform der KGaA lassen sich Haftungsbegrenzung und Zugang zum organisierten Kapitalmarkt (mithin die der Rechtsform der AG eigenen Vorteile) mit der die Personengesellschaft kennzeichnenden Gestaltungsfreiheit verbinden5, was nicht nur, aber vor allem für Familiengesellschaften und familiendominierte Publikumsgesellschaften von besonderem Interesse 1 BGHZ 134, 392 = NJW 1997, 1923; Hüffer, 8. Aufl. 2008, § 278 AktG Rz. 9. 2 Art. 8 Nr. 5 Handelsrechtsreformgesetz vom 22.6.1998, BGBl. I S. 1474; zuvor bereits BGHZ 134, 392, 401 = NJW 1997, 1923; Hommelhoff in Die GmbH & Co. KGaA nach dem Beschluss BGHZ 134, 392, ZHR-Beiheft 67, 1998, S. 9, 10 f. 3 Vgl. Assmann/Sethe in Großkommentar zum AktG, 4. Aufl. 2001, Vor § 278 AktG Rz. 44 ff.; Sethe, Die personalistische Kapitalgesellschaft mit Börsenzugang, 1995, S. 561. 4 Vgl. Herfs in Münchener Handbuch des Gesellschaftsrechts, Band 4: Aktiengesellschaft, 3. Aufl. 2007, § 75 Rz. 4 mit weit. Nachw.; s. ferner Flick/Schulte, F.A.Z. vom 20.12.2005, S. 25, die von ca. 400 Gesellschaften sprechen; speziell zu dem MitbestG unterliegenden Gesellschaften s. Ulmer/Habersack in Ulmer/Habersack/Henssler, Mitbestimmungsrecht, 2. Aufl. 2006, § 1 MitbestG Rz. 34. 5 MünchHdb/Herfs (Fn. 4), § 75 Rz. 5; Schlitt, Die Satzung der Kommanditgesellschaft auf Aktien, 1999, S. 3 ff.
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ist6. Unter organisations- und mitbestimmungsrechtlichen Gesichtspunkten bedeutsam ist, dass bei der KGaA Stellung und Funktionen des Aufsichtsrats deutlich schwächer ausgebildet sind als diejenigen des aktienrechtlichen Aufsichtsrats7. Ungeachtet des Umstands, dass sich die relative Einflusslosigkeit der Kommanditaktionäre in entsprechenden Kursabschlägen widerspiegeln dürfte8, machen diese Gegebenheiten die Rechtsform der KGaA auch für große Gesellschaften attraktiv. 2. Organisationsverfassung der KGaA im Überblick Zurückzuführen sind die angedeuteten Besonderheiten darauf, dass die KGaA auch in rechtlicher Hinsicht Elemente der Aktiengesellschaft mit denen der Kommanditgesellschaft verbindet. Nach § 278 Abs. 1 AktG ist die KGaA nämlich eine Gesellschaft mit eigener Rechtspersönlichkeit (und damit juristische Person), bei der mindestens ein Gesellschafter – der persönlich haftende Gesellschafter oder Komplementär – den Gesellschaftsgläubigern unbeschränkt haftet und die übrigen Gesellschafter – die Kommanditaktionäre – an dem in Aktien zerlegten Grundkapital beteiligt sind, ohne persönlich für die Gesellschaftsschulden zu haften. Nach heute herrschender Ansicht handelt es sich bei der KGaA nicht um eine bloße Spielart der Aktiengesellschaft, sondern um eine eigenständige Gesellschaftsform9, was es freilich nicht ausschließt, von einer prägenden Dominanz aktienrechtlicher Züge auszugehen10. Dem entspricht es, dass die KGaA zwar über einen Aufsichtsrat, im Gegensatz zur AG aber nicht über einen Vorstand verfügt, Geschäftsführung und Vertretung vielmehr den Komplementären obliegen, ferner, dass sich nach § 278 Abs. 2 AktG das Rechtsverhältnis der Komplementäre untereinander und gegenüber der Gesamtheit der Kommanditaktionäre sowie gegenüber Dritten nach den Vorschriften des HGB über die Kommanditgesellschaft – und damit nach §§ 161 ff. HGB – bestimmt, während § 278 Abs. 3 AktG im Übrigen die Geltung der Vorschriften des Ersten Buches des AktG über die Aktiengesellschaft anordnet, soweit sich nicht aus §§ 279 ff. AktG oder aus dem Fehlen eines Vorstands ein anderes ergibt. Gilt somit insbesondere hinsichtlich der Kapitalstruktur der KGaA der Primat des Aktienrechts und damit auch der in § 23 Abs. 5 AktG geregelte 6 GroßkommAktG/Assmann/Sethe (Fn. 3), Vor § 278 AktG Rz. 58 ff.; Habersack in Wilhelmi/Tröger, Rechtsfragen der Familiengesellschaften, 2006, S. 19, 23 ff. 7 Dazu noch unter I. 2.; zusammenfassend Binz/Sorg, DB 1997, 313 ff. – BGHZ 134, 392, 400 = NJW 1997, 1923 sieht für die Kapitalgesellschaft & Co. KGaA de lege lata weder Anlass noch Raum für eine Ausweitung der geschriebenen Mitwirkungsbefugnisse des Aufsichtsrats: „Es kann nicht Aufgabe der Gerichte sein, den auf politischem Wege gefundenen Mitbestimmungskompromiß durch eine – wie auch immer geartete – Rechtsfortbildung zu korrigieren“; kritisch dazu Ulmer/Habersack (Fn. 4), § 1 MitbestG Rz. 40 f. 8 Zum Formwechsel der Fresenius Medical Care von der AG in die KGaA s. BörsenZeitung vom 21.12.2005, S. 9. 9 BGHZ 134, 392, 398 = NJW 1997, 1923. 10 Hüffer (Fn. 1), § 278 AktG Rz. 3; Bachmann in Spindler/Stilz, 2007, § 278 AktG Rz. 1; a. A. GroßkommAktG/Assmann/Sethe (Fn. 3), § 278 AktG Rz. 9; Mertens/Cahn in Kölner Kommentar zum AktG, 2. Aufl. 2004, Vor § 278 AktG Rz. 10 ff.; näher zur historischen Entwicklung K. Schmidt in Bayer/Habersack, Aktienrecht im Wandel, Bd. II: Grundsatzfragen des Aktienrechts, 2007, § 26.
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Grundsatz der Satzungsstrenge, so richtet sich die Führungsstruktur nach dem Personengesellschaftsrecht11. Für den Satzungsgeber besteht deshalb hinsichtlich der Organisationsverfassung in weitem Umfang Gestaltungsfreiheit, da die Verweisung des § 278 Abs. 2 AktG insbesondere §§ 109, 163 HGB umfasst. Hiervon betroffen ist im Grundsatz auch das Rechtsverhältnis zwischen den Komplementären und dem Aufsichtsrat. Zwar muss die KGaA nach § 278 Abs. 3, §§ 95 ff. AktG über einen Aufsichtsrat verfügen, dem die Überwachung (nebst Beratung) der Geschäftsführung unterliegt (und nicht entzogen werden kann) und dem nach § 287 Abs. 3 AktG die Komplementäre nicht angehören können12. Vorbehaltlich entsprechender Satzungsregelungen13 bleiben freilich die Kompetenzen des Aufsichtsrats der KGaA deutlich hinter denjenigen des Aufsichtsrats der AG zurück. Insbesondere fehlt dem KGaA-Aufsichtsrat die dem AG-Aufsichtsrat eigene Personalhoheit hinsichtlich der Mitglieder des Geschäftsführungs- und Vertretungsorgans. Da nämlich die KGaA keinen Vorstand hat, Geschäftsführung und Vertretung vielmehr den Komplementären obliegen, gelangen nach § 278 Abs. 2 AktG die Vorschriften der §§ 161, 114 ff., 125 ff. HGB und mit diesen Vorschriften der Grundsatz der Selbstorganschaft zur Anwendung14; § 31 Abs. 1 Satz 2 MitbestG stellt dies für mitbestimmte Gesellschaften klar15. In der Folge fehlt dem Aufsichtsrat auch die Geschäftsordnungskompetenz des § 77 Abs. 2 Satz 1 AktG16. Auch ist der Aufsichtsrat der KGaA abweichend von § 111 Abs. 4 Satz 2 AktG weder verpflichtet noch berechtigt, von sich aus bestimmte Arten von Geschäften an seine Zustimmung zu binden; das ist nach § 278 Abs. 2 AktG i. V. m. § 164 HGB vielmehr Sache der Kommanditaktionäre. Die Aufgaben auch des mitbestimmten Aufsichtsrats der KGaA sind daher im Wesentlichen rein überwachender Natur17. Dem die KGaA kennzeichnenden Fehlen der Personalkompetenz sowie der Befugnis, durch Einführung von Zustimmungsvorbehalten an der Geschäftsführung der Gesellschaft zu partizipieren, entsprechen wiederum die deutlich über die Befugnisse der Hauptversammlung einer AG hinausgehenden Befugnisse der Hauptversammlung der KGaA18. Hervorzuheben sind das Recht zur Feststellung des Jahresabschlusses (§ 286 Abs. 1 AktG) und die
11 So zu Recht BGHZ 134, 392, 396; ferner GroßkommAktG/Assmann/Sethe (Fn. 3), Vor § 278 AktG Rz. 54 ff., § 278 AktG Rz. 5; Perlitt in Münchener Kommentar zum AktG, 3. Aufl. 2010, Vor § 278 AktG Rz. 31 ff.; Hüffer (Fn. 1), § 278 AktG Rz. 18 f. 12 Zur Unabdingbarkeit der Überwachungsaufgabe des Aufsichtsrats s. GroßkommAktG/Assmann/Sethe (Fn. 3), § 287 AktG Rz. 44; MünchKommAktG/Perlitt (Fn. 11), § 287 AktG Rz. 7. 13 Näher zu Gestaltungsmöglichkeiten GroßkommAktG/Assmann/Sethe (Fn. 3), § 287 AktG Rz. 44 ff.; Hüffer (Fn. 1), § 278 AktG Rz. 19. 14 Hüffer (Fn. 1), § 278 AktG Rz. 15; zum Grundsatz der Selbstorganschaft s. noch unter II. 2. mit Nachw. in Fn. 35. 15 Ulmer/Habersack (Fn. 4), § 31 MitbestG Rz. 4. 16 Hüffer (Fn. 1), § 278 AktG Rz. 12, 15; KölnKommAktG/Mertens/Cahn (Fn. 10), § 287 AktG Rz. 12. 17 KölnKommAktG/Mertens/Cahn (Fn. 10), § 278 AktG Rz. 12 ff.; GroßkommAktG/ Assmann/Sethe (Fn. 3), Vor § 287 AktG Rz. 6, § 287 AktG Rz. 32 ff.; Joost, ZGR 1998, 334, 336 ff. 18 Näher GroßkommAktG/Assmann/Sethe (Fn. 3), § 278 AktG Rz. 93 ff.; MünchKommAktG/Perlitt (Fn. 11), § 278 AktG Rz. 198 ff.
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sich aus § 278 Abs. 2 AktG, § 164 HGB ergebenden Mitsprachebefugnisse in Angelegenheiten der Geschäftsführung. 3. Gründe für die Einrichtung eines Gesellschafterausschusses Insbesondere die der KGaA eigene Verlagerung von in der AG dem Aufsichtsrat zukommenden Zuständigkeiten und Befugnissen auf die Hauptversammlung kann es nahelegen, Kompetenzen der Hauptversammlung zwar nicht auf den Aufsichtsrat, wohl aber auf ein durch die Satzung19 geschaffenes weiteres – fakultatives – Organ, etwa einen Gesellschafterausschuss oder einen Beirat, zu übertragen 20. Zu derlei Gestaltung können mehrere Erwägungen Anlass geben. Namentlich bei der börsennotierten Gesellschaft kann es darum gehen, die Zuständigkeiten der Hauptversammlung und damit zugleich das Risiko unbegründeter, gleichwohl belastender oder blockierender Anfechtungsklagen zu verringern. Ist der Aufsichtsrat der KGaA mitbestimmt, so mag dies wiederum dagegen sprechen, ihn mit zusätzlichen Kompetenzen auszustatten. Letztlich sind es also wieder die beiden wesentlichen Gravamina des geltenden Aktienrechts21, denen in der KGaA durch satzungsmäßige Einrichtung eines Gesellschafterausschusses oder eines vergleichbaren Organs begegnet werden könnte. Dieser Befund legt es nahe, im Rahmen eines Hans-Jürgen Hellwig gewidmeten Beitrags der Frage der Zulässigkeit eines solchen fakultativen Organs sowie einigen Fragen im Zusammenhang mit Kompetenzen und Zusammensetzung des Organs nachzugehen. Dabei soll der Gesellschafterausschuss, mithin ein Gremium, in dem wesentliche Aktionäre oder Aktionärsgruppen repräsentiert sind, im Vordergrund des Interesses stehen. Immerhin am Rande ist indes auch auf andere Organe, etwa Beiräte mit Beratungs-, Repräsentations- oder Schlichtungsfunktion, einzugehen.
II. Zulässigkeit des Gesellschafterausschusses 1. Grundsatz Die einleitend skizzierten Grundsätze über Rechtsnatur und Organisationsstruktur der KGaA erlauben die Feststellung, dass die Einrichtung eines zusätzlichen – Gesellschafterausschuss, Beirat oder auch Verwaltungsrat genannten – Organs durch die Satzung zulässig ist, soweit die dem Organ zugewiesenen Aufgaben in den durch § 278 Abs. 2 AktG eröffneten Regelungsbereich fallen und somit der das Personengesellschaftsrecht beherrschende Grundsatz der
19 Zum „schuldrechtlichen“ Beirat der KGaA s. Assmann/Sethe, Festschrift für Lutter, 2000, S. 251, 256; allgemein Schürnbrand, Organschaft im Recht der privaten Verbände, 2007, S. 55 ff. mit umf. Nachw. 20 Zum Organ im Allgemeinen und zum fakultativen Organ im Besonderen s. Schürnbrand (Fn. 19), S. 30 ff., 49 ff. 21 Vgl. Habersack, AG 2009, 1, 12 f.; speziell zu den konzeptionellen Schwächen des deutschen Mitbestimmungsrechts Hellwig/Behme, AG 2009, 261 ff.; Hellwig/Behme, ZIP 2009, 1791 ff.
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Vertragsfreiheit Platz greift22. Dies entspricht der heute ganz herrschenden Ansicht und darf auch auf die Billigung durch den II. Zivilsenat des BGH hoffen, nachdem dieser in BGHZ 134, 392, 396 zu Recht ausgeführt hat, dass die Führungsstruktur der KGaA dem Personengesellschaftsrecht unterliegt. Gegenstimmen sind ganz vereinzelt geblieben 23 und können im Lichte von BGHZ 134, 392, 396 als überholt angesehen werden 24. Dies hat auch für mitbestimmte Gesellschaften zu gelten 25. Das Mitbestimmungsrecht knüpft, wie nicht zuletzt § 31 Abs. 1 Satz 2 MitbestG zeigt, an die durch das Aktienrecht vorgegebene Organisationsverfassung der KGaA an und nimmt es deshalb nicht nur hin, dass die Kompetenzen des Aufsichtsrats der KGaA hinter denjenigen des AG-Aufsichtsrats zurückbleiben, sondern akzeptiert zugleich die im Bereich der Führungsstruktur der KGaA vorgegebene Gestaltungsfreiheit. 2. Konkretisierung Selbstverständlich bewendet es auch für die KGaA dabei, dass den Komplementären, dem Aufsichtsrat oder der Hauptversammlung zwingend zugewiesene Aufgaben und Befugnisse nicht auf ein fakultatives Organ übertragen werden können 26, weshalb sich beispielsweise der Aufsichtsrat nicht seiner Überwachungsaufgabe begeben kann. Dem Aufsichtsrat oder der Hauptversammlung nicht zwingend zugewiesene Aufgaben und Befugnisse sowie Aufgaben und Befugnisse, die dem Aufsichtsrat oder der Hauptversammlung zwar nicht durch dispositives Recht zugewiesen sind, indes aufgrund der im Rahmen des § 278 Abs. 2 AktG bestehenden Gestaltungsfreiheit zugewiesen werden könnten, können hingegen auch dem fakultativen Organ zugewiesen werden 27. So ist es statthaft, einen Gesellschafterausschuss oder Beirat zu dem Zweck einzurichten, den Entscheidungsspielraum der Geschäftsführung zu beschränken, die entsprechenden Mitspracherechte indes nicht beim Aufsichtsrat oder bei der Hauptversammlung anzusiedeln 28. Dem Gesellschafterausschuss oder Beirat 22 GroßkommAktG/Assmann/Sethe (Fn. 3), § 278 AktG AktG Rz. 91 ff.; Assmann/ Sethe, Festschrift für Lutter, 2000, S. 251, 257 ff.; MünchKommAktG/Perlitt (Fn. 11), § 287 Rz. 87 ff.; MünchHdb/Herfs (Fn. 4), § 78 Rz. 65a; Schlitt (Fn. 5), S. 216; Spindler/Stilz/Bachmann (Fn. 10), § 278 AktG Rz. 20, § 287 AktG Rz. 29 ff.; K. Schmidt in K. Schmidt/Lutter, 2008, § 287 AktG Rz. 23 f.; Kallmeyer, DStR 1994, 977, 979 f.; Martens, AG 1982, 113, 114 ff.; zu mitbestimmten Gesellschaften s. sogleich im Text. 23 Mertens in Kölner Kommentar zum AktG, 1. Aufl. 1971 ff., § 278 AktG Rz. 96. 24 S. denn auch KölnKommAktG/Mertens/Cahn (Fn. 10), § 278 AktG Rz. 55, § 287 AktG Rz. 26 ff. 25 Assmann/Sethe, Festschrift für Lutter, 2000, S. 251, 264 f.; Joost, ZGR 1998, 334, 343; MünchKommAktG/Perlitt (Fn. 11), § 287 AktG Rz. 87; MünchHdb/Herfs (Fn. 4), § 78 Rz. 62; Raiser/Veil, MitbestG und DrittelbG, 5. Aufl. 2009, § 25 MitbestG Rz. 147; Ulmer/Habersack (Fn. 4), § 25 MitbestG Rz. 142; a. A. noch Ulmer in Hanau/Ulmer, MitbestG, 1981, § 25 MitbestG Rz. 142. 26 K. Schmidt/Lutter/K. Schmidt (Fn. 22), § 287 AktG Rz. 23; Spindler/Stilz/Bachmann (Fn. 10), § 287 AktG Rz. 29; MünchKommAktG/Perlitt (Fn. 11), § 278 AktG Rz. 90 f.; KölnKommAktG/Mertens/Cahn (Fn. 10), § 287 AktG Rz. 28; MünchHdb/ Herfs (Fn. 4), § 78 Rz. 65a; s. dazu auch unter III. 27 Assmann/Sethe, Festschrift für Lutter, 2000, S. 251, 260; Spindler/Stilz/Bachmann (Fn. 10), § 287 AktG Rz. 29 f.; MünchHdb/Herfs (Fn. 4), § 78 Rz. 67 mit weit. Nachw. 28 KölnKommAktG/Mertens/Cahn (Fn. 10), § 287 AktG Rz. 29; MünchHdb/Herfs (Fn. 4), § 78 Rz. 67; Ulmer/Habersack (Fn. 4), § 25 MitbestG Rz. 142.
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können deshalb namentlich Zustimmungsrechte in Bezug auf Maßnahmen der Geschäftsführung eingeräumt werden 29. Auch kann dem fakultativen Organ das Recht übertragen werden, über die Auswahl und Aufnahme von persönlich haftenden Gesellschaftern zu entscheiden30. Schließlich erscheint es statthaft, dem fakultativen Organ Aufgaben zu übertragen, die, wie namentlich die Überwachung und Beratung der Geschäftsführung, auch dem Aufsichtsrat obliegen, solange nur die Zuständigkeit und Befugnisse des Aufsichtsrats unberührt bleiben31. Unzulässig wäre zwar auch eine bloß faktische Verdrängung des Aufsichtsrats 32. Verhält es sich freilich so, dass die Kompetenzen und Befugnisse des Aufsichtsrats nicht berührt werden, es vielmehr allein darum geht, dem Vorstand zusätzlich zu der Überwachung und Beratung durch den Aufsichtsrat einen Dialog mit den Aktionären (oder einem Teil der Aktionäre) zu ermöglichen und ihn einer zusätzlichen Überwachung zu unterstellen, so lassen sich Bedenken unter dem Gesichtspunkt der §§ 278 Abs. 3, 111 AktG nicht herleiten33. In diesem Zusammenhang gilt es auch zu berücksichtigen, dass es dem Aufsichtsrat obliegt, einer etwaigen schleichenden Aushöhlung seiner Kompetenzen zu begegnen, insbesondere durch Geltendmachung seiner Informationsrechte, durch hinreichende Sitzungsfrequenz sowie vermittels seiner satzungsmäßigen Rechte 34.
III. Besetzung des Gesellschafterausschusses 1. Grundsatz Die gesellschaftsvertragliche Gestaltungsfreiheit gilt nicht nur hinsichtlich der Errichtung, sondern auch hinsichtlich der Besetzung des fakultativen Gesellschaftsorgans. Die Satzung kann deshalb nicht nur bestimmen, wer die Mitglieder des Organs zu bestellen hat; vorbehaltlich des Grundsatzes der Selbstorganschaft 35 und der Bestellungshindernisse des § 100 Abs. 2 AktG36 kann sie vielmehr auch bestimmen, wer Mitglied des Organs sein kann37. Mitbestimmungsrechtliche Besonderheiten bestehen insoweit nicht; die Mitbestimmung der Arbeitnehmer verwirklicht sich im Aufsichtsrat der KGaA, nicht dagegen in dem fakultativen Gesellschaftsorgan.
29 Vgl. die Nachw. in voriger Fn. 30 Assmann/Sethe, Festschrift für Lutter, 2000, S. 251, 261; MünchHdb/Herfs (Fn. 4), § 78 Rz. 68; MünchKommAktG/Perlitt (Fn. 11), § 278 AktG Rz. 68; a. A. KölnKommAktG/Mertens/Cahn (Fn. 10), § 287 AktG Rz. 30. Näher Cahn, AG 2001, 579 ff. 31 MünchKommAktG/Perlitt (Fn. 11), § 287 AktG Rz. 90. 32 Vgl. BGH NJW 1982, 1817. 33 Kritisch gegenüber „Schattenaufsichtsräten“ aber Assmann AG 1997, 50, 56 f. 34 Näher zu den insoweit bestehenden Pfl ichten des Aufsichtsrats der AG Habersack in Münchener Kommentar zum AktG, 3. Aufl. 2008, Vor § 95 AktG Rz. 16 f., § 111 AktG Rz. 47 f.; Habersack, ZSR 124 (2005) II, 533, 552 ff.; Hommelhoff, ZHR 143 (1979), 288, 298 ff. 35 Zu ihm im vorliegenden Zusammenhang Spindler/Stilz/Bachmann (Fn. 10), § 287 AktG Rz. 32; KölnKommAktG/Mertens/Cahn (Fn. 10), § 287 AktG Rz. 29; allg. Schäfer in Staub, HGB, 5. Aufl. 2009, § 109 HGB Rz. 33 f.; Schürnbrand (Fn. 19), S. 242 ff. 36 Zu ihnen sogleich unter III. 2. 37 GroßkommAktG/Assmann/Sethe (Fn. 3), § 287 AktG Rz. 111.
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2. Aktienrechtliche Bestellungshindernisse a) Grundsatz Die Vorschrift des § 100 AktG regelt für die Aufsichtsratsmitglieder der AG persönliche Voraussetzungen und Hinderungsgründe; sie fi ndet nach § 278 Abs. 2 AktG auch auf den Aufsichtsrat der KGaA Anwendung38. Gleichfalls auf die KGaA Anwendung fi ndet § 105 Abs. 1 AktG, nach § 278 Abs. 3 AktG freilich mit der Maßgabe, dass in Ermangelung eines Vorstands der KGaA nur Prokuristen und Generalbevollmächtigte von der Mitgliedschaft im Aufsichtsrat ausgeschlossen sind. Ergänzend bestimmt allerdings § 287 Abs. 3 AktG, dass persönlich haftende Gesellschafter nicht Mitglieder des Aufsichtsrats sein können, was zutreffender Ansicht zufolge auch für die Mitglieder des Vertretungsorgans von Komplementärgesellschaften zu gelten hat 39. Die Frage, ob die genannten Bestellungshindernisse auch für den Gesellschafterausschuss oder ein vergleichbares fakultatives Gesellschaftsorgan Geltung beanspruchen, lässt sich richtiger Ansicht nach nur von Fall zu Fall beantworten40. Maßgebend ist die Funktion des Organs. Hat er die Geschäftsführung zu überwachen oder die Interessen der Kommanditaktionäre zu vertreten, so sprechen gute Gründe für die analoge Anwendung des § 287 Abs. 3 AktG; völlig zweifelsfrei ist freilich auch dies nicht, wird doch die Überwachungsaufgabe des Aufsichtsrats durch die Existenz eines zusätzlichen Organs nicht berührt41. Hingegen widerspricht es keinesfalls dem Schutzzweck des § 287 Abs. 3 AktG, wenn Komplementäre oder deren gesetzlichen Vertreter einem Schlichtungsgremium oder einem reinen Beratungsgremium angehören42. Was das Bestellungshindernis des § 100 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AktG anbelangt, so ist es auf fakultative Organe nicht entsprechend anwendbar; ist nämlich die Einrichtung des Organs freiwillig, so spricht nichts dagegen, mit der Wahrnehmung der Organfunktion Personen zu betrauen, die in zehn oder gar mehr Aufsichtsräten vertreten sind. Entsprechendes gilt für § 100 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 AktG 43; in der börsennotierten KGaA muss es deshalb möglich sein, dass Komplementäre oder Mitglieder des Vertretungsorgans von Komplementärgesellschaften auch unabhängig von einem Wahlvorschlag von Aktionären, die mehr als 25 Prozent der Stimmrechte an der Gesellschaft halten, in einen Gesellschafterausschuss oder einen Beirat wechseln. Was das Bestellungshindernis des § 100 38 S. statt aller GroßkommAktG/Assmann/Sethe (Fn. 3), § 287 AktG Rz. 9. 39 K. Schmidt/Lutter/K. Schmidt (Fn. 22), § 287 AktG Rz. 9, Hüffer (Fn. 1), § 287 AktG Rz. 4, Mertens, Festschrift für Ulmer, 2003, S. 419 ff., jew. mit weit. Nachw., auch zu weitergehenden Ansichten; offen gelassen von BGH ZIP 2006, 177, 178 f. 40 Vgl. für § 287 Abs. 3 AktG und für die Stimmverbote des § 285 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1, 2 AktG GroßkommAktG/Assmann/Sethe (Fn. 3), § 287 AktG Rz. 112; a. A. MünchKommAktG/Perlitt (Fn. 11), § 285 AktG Rz. 27, 29, § 287 AktG Rz. 98. 41 Dazu unter II. 2., dort auch zur Pfl icht des Aufsichtsrats, einer schleichenden Aushöhlung seiner Befugnisse zu begegnen. 42 Zutr. GroßkommAktG/Assmann/Sethe (Fn. 3), § 287 AktG Rz. 112; Schlitt (Fn. 5), S. 217. – Zur Erstreckung der Stimmverbote aus § 285 Abs. 1 Satz 2 AktG auf die Bestellung der Mitglieder eines Gesellschafterausschusses, dem Aufgaben gemäß § 287 Abs. 1 Satz 2 AktG zukommen, s. neben Assmann/Sethe und Schlitt noch MünchHdb/Herfs (Fn. 4), § 78 Rz. 69. 43 Zu diesem Bestellungshindernis s. Krieger, Festschrift für Hüffer, 2010, S. 521 ff.
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Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AktG anbelangt, so lassen sich die zu § 287 Abs. 3 AktG angestellten Erwägungen heranziehen. Das in § 100 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 AktG geregelte Verbot der Überkreuzverflechtung schließlich wirft eine Reihe von Fragen auf, denen im Folgenden gesondert nachzugehen ist. b) § 100 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 AktG im Besonderen aa) Nach §§ 100 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3, 278 Abs. 2 AktG kann nicht Mitglied des Aufsichtsrats der KGaA sein, wer gesetzlicher Vertreter einer anderen Kapitalgesellschaft ist, deren Aufsichtsrat ein Komplementär der KGaA angehört. Übertragen auf den Gesellschafterausschuss der KGaA könnte danach nicht zum Mitglied bestellt werden, wer gesetzlicher Vertreter einer anderen Kapitalgesellschaft ist, deren Aufsichtsrat ein Komplementär angehört. Dem Komplementär wäre auch insoweit ein Mitglied des Vertretungsorgans der Komplementärgesellschaft gleichzustellen44. Die Frage, ob §§ 100 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3, 278 Abs. 3 AktG insoweit analoge Anwendung fi nden45, ist, soweit ersichtlich, bislang höchst- und obergerichtlich nicht entschieden. Im Schrifttum herrscht die Ansicht vor, dass § 100 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 AktG auf andere Organe als den Aufsichtsrat nicht entsprechend anzuwenden ist46. Auch der Verfasser hat sich dieser herrschenden Meinung angeschlossen47, dies allerdings eher beiläufig, so dass sich nun die Gelegenheit bietet, die Richtigkeit der seinerzeit eingenommenen Position zu überprüfen. bb) Wortlaut und systematische Stellung des § 100 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 AktG sprechen allerdings klar dafür, den Anwendungsbereich der Vorschrift auf den Aufsichtsrat zu begrenzen. Neben Wortlaut und Systematik sind bekanntlich Entstehungsgeschichte und Sinn und Zweck der gesetzlichen Regelung zu berücksichtigen; beide Elemente der Auslegung sind im Allgemeinen durchaus geeignet, ein an Wortlaut und systematischer Stellung orientiertes Ergebnis der Auslegung zu relativieren oder gar zu korrigieren. Was zunächst die Entstehungsgeschichte des § 100 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 AktG betrifft, so ist die Vorschrift erst auf Empfehlung des Rechtsausschusses in das Aktiengesetz 1965 eingestellt worden48. In dem Ausschussbericht ist zugleich zum Zweck der Neuregelung das Folgende ausgeführt49: „In dem neuen Abs. 2 Nr. 3 wird die sog. Überkreuzverflechtung verboten. Danach kann nicht Mitglied des Aufsichtsrats sein, wer gesetzlicher Vertreter einer anderen Kapitalgesellschaft … ist, deren Aufsichtsrat ein Vorstandsmitglied der Gesellschaft 44 Vgl. die Nachw. in Fn. 39 zur vergleichbaren Problematik betreffend § 287 Abs. 3 AktG. 45 Zur davon zu unterscheidenden Frage, ob auch die Mitgliedschaft in einem freiwillig gebildeten Aufsichtsrat einer anderen Kapitalgesellschaft dem Verbot der Überkreuzverflechtung unterliegt, s. MünchKommAktG/Habersack (Fn. 34), § 100 AktG Rz. 31 mit umf. Nachw. 46 Konow, DB 1966, 849, 850; Spindler in Spindler/Stilz, 2007, § 100 AktG Rz. 25; Mertens in Kölner Kommentar zum AktG, 2. Aufl. 1995, § 100 AktG Rz. 25; wohl auch Hopt/Roth in Großkommentar zum AktG, 4. Aufl. 2005, § 100 AktG Rz. 63. 47 MünchKommAktG/Habersack (Fn. 34), § 100 AktG Rz. 31. 48 Vgl. Kropff, Aktiengesetz, 1965, S. 136. 49 Kropff, Aktiengesetz, 1965, S. 136.
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Der Gesellschafterausschuss der KGaA angehört. Das bisher nicht bestehende Verbot erscheint erforderlich, um Gefahren, die sich aus der Überkreuzverflechtung für die Überwachung des Vorstands durch den Aufsichtsrat ergeben können, vorzubeugen. Außerdem ist zu erwarten, dass sich bei einem Verbot der Überkreuzverflechtung der für Aufsichtsratsmandate in Betracht kommende Personenkreis erweitern wird. Es ist gesellschaftspolitisch unerwünscht, dass die Aufsichtsratsmandate der Aktionäre nur durch einen verhältnismäßig kleinen Kreis von Personen ausgeübt werden.“
Ausweislich des Berichts des Rechtsausschusses soll § 100 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 AktG somit vor allem der Gefahr einer Beeinträchtigung der Überwachungstätigkeit des Aufsichtsrats vorbeugen: Wer selbst andere Personen überwacht, darf nicht seinerseits in einer anderen Gesellschaft von einer der überwachten Personen überwacht werden50. Soweit der Ausschlusstatbestand darüber hinaus dafür sorgen soll, dass sich der für die Wahrnehmung von Aufsichtsratsmandaten in Betracht kommende Personenkreis erweitert, dürfte es sich zwar nur um einen untergeordneten Zweck handeln; gänzlich ausblenden lässt er sich freilich nicht. Entscheidend ist deshalb, ob (primärer und sekundärer) Zweck des § 100 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 AktG die Anwendung der Vorschrift auch auf einen Gesellschafterausschuss der KGaA gebieten. Diese Frage ist zu verneinen. Um mit dem auf Erweiterung des Kreises möglicher Aufsichtsratsmitglieder gerichteten Schutzzweck des § 100 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 AktG zu beginnen, so geht er im Zusammenhang mit einem Gesellschafterausschuss ins Leere: Soweit die Aktionäre einer KGaA von der Möglichkeit zur Bildung eines Ausschusses Gebrauch machen, der primär Aufgaben und Funktionen der Hauptversammlung – und damit der Versammlung der Kommanditaktionäre – wahrzunehmen hat, liegt es in der Natur der Sache (und muss es deshalb statthaft sein), dass diesem Ausschuss Aktionäre oder deren gesetzliche Vertreter angehören. Einer Ausweitung des Personenkreises möglicher Ausschussmitglieder setzt mit anderen Worten schon die dem Ausschuss immanente Begrenzung auf die Mitgliedschaft von Aktionären Schranken. Es bleibt der primäre, nämlich auf Sicherung einer effi zienten Überwachung der Geschäftsführung gerichtete Zweck des § 100 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 AktG. Insoweit ist zunächst von Bedeutung, dass der Gesellschafterausschuss den Aufsichtsrat nicht zu verdrängen vermag, die Pflichtaufgaben des Aufsichtsrats, wie sie sich aus Gesetz und Satzung ergeben, vielmehr durch die Einrichtung eines Gesellschafterausschusses nicht berührt werden. Eine Delegation der Aufgaben im rechtlichen Sinne – und damit eine Ersetzung der Überwachung durch den Aufsichtsrat durch eine solche durch den Gesellschafterausschuss – ist zwar ohnehin nicht möglich. Aber auch eine faktische Verdrängung des Aufsichtsrats durch den Gesellschafterausschuss ist im Allgemeinen schon mit Blick auf die Haftungsrisiken, denen sich die Mitglieder des Aufsichtsrats bei zu nachlässiger Erledigung ihrer Pfl ichtaufgaben ausgesetzt sehen, nicht zu erwarten51. Im Falle eines Gesellschafterausschusses kommt hinzu, dass sich 50 Hüffer (Fn. 1), § 100 AktG Rz. 6; MünchKommAktG/Habersack (Fn. 34), § 100 AktG Rz. 27. 51 Vgl. bereits unter II. 2., dort auch zur Pfl icht des Aufsichtsrats, einer schleichenden Aushöhlung seiner Befugnisse zu begegnen.
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dessen Aufgaben typischerweise von denen des Aufsichtsrats unterscheiden und schon deshalb eine Verdrängung des Aufsichtsrats nicht zu befürchten ist. So dürfte es den Regelfall bilden, dass der Gesellschafterausschuss Aufgaben wahrnimmt, die an sich der Hauptversammlung obliegen, von dieser indes durch die Satzung auf ein anderes Organ – eben den Gesellschafterausschuss – delegiert werden können; hierunter fällt namentlich die Ausübung von Zustimmungsvorbehalten in Bezug auf Maßnahmen der Geschäftsführung. Aus Sicht des Aufsichtsrats – und das ist im Zusammenhang mit § 100 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 AktG die entscheidende Perspektive – macht es aber keinen Unterschied, ob die den Kommanditaktionären zustehenden Befugnisse durch die Hauptversammlung oder durch ein Organ ausgeübt werden, das seine Befugnisse von dem nach dispositivem Recht berufenen Organ (der Hauptversammlung) herleitet. cc) Was sonstige fakultative Organe betrifft, so ist nach den unter III. 2. a) getroffenen Feststellungen auf die Organfunktion abzustellen. Besteht diese primär in der Überwachung der Geschäftsführung, so mag dies für die entsprechende Anwendung des § 100 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 AktG sprechen52. Auch insoweit muss freilich beachtet werden, dass die gesetzlichen Aufgaben des Aufsichtsrats auch durch Errichtung eines Beirats nicht berührt werden, so dass allein eine zusätzliche Kontrolle der Geschäftsführung in Frage steht. Zumal mit Blick auf den ohnehin etwas diffusen Schutzzweck des Überkreuzverflechtungsverbots dürfte dies doch eher gegen dessen Erstreckung auf fakultative Organe sprechen.
IV. Fazit Die Gestaltungsfreiheit, die das Recht der KGaA in Fragen der Führungsstruktur der Gesellschaft gewährt, bewährt sich auch im Zusammenhang mit der Etablierung zusätzlicher Organe. Die Satzung kann einen Gesellschafterausschuss oder einen Beirat einrichten und diesem im Rahmen des zwingenden Rechts der KGaA – und damit vorbehaltlich zwingender Kompetenzen der Komplementäre, der Hauptversammlung und des Aufsichtsrats – Aufgaben der obligatorischen Organe übertragen oder neue Aufgaben zuweisen. Die Bestellungshindernisse des § 100 Abs. 2 Satz 1 AktG fi nden jedenfalls auf einen Gesellschafterausschuss, der im Wesentlichen dispositive Aufgaben der Hauptversammlung wahrnimmt und damit partiell an deren Stelle tritt, keine Anwendung. Durch Wahl der Rechtsform der KGaA und Errichtung eines Gesellschafterausschusses lassen sich mithin Anfechtungsrisiken verringern, ohne dass dies mit einer Ausweitung der Aufgaben des (mitbestimmten) Aufsichtsrats einher gehen müsste. Die Bemühungen um ein zeitgemäßes Recht der Beschlussmängel und der unternehmerischen Mitbestimmung53 dürfen hierdurch natürlich nicht eingestellt werden; es ist zu hoffen, dass sich HansJürgen Hellwig auch künftig an der Reformdiskussion beteiligt54. 52 In diesem Sinne MünchKommAktG/Habersack (Fn. 34), § 100 AktG Rz. 31; zu weit. Nachw. s. Fn. 46. 53 Dazu namentlich Arbeitskreis Beschlussmängelrecht, AG 2008, 617 ff.; Arbeitskreis Unternehmerische Mitbestimmung, ZIP 2009, 885 ff. 54 Zur Notwendigkeit einer Reform des Mitbestimmungsrechts s. Hellwig/Behme, AG 2009, 261 ff.; Hellwig/Behme, ZIP 2009, 1791 ff.
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Wirksamkeit der Beschlüsse der Hauptversammlung bei späterer Protokollierung Inhaltsübersicht I. Fragestellung II. Abschluss der Beurkundung
III. Wirksamkeit der beurkundeten Beschlüsse
I. Fragestellung Jeder Beschluss der Hauptversammlung einer börsennotierten AG ist durch eine über die Verhandlung notariell aufgenommene Niederschrift zu beurkunden, § 130 Abs. 1 Satz 1 AktG. Die notarielle Niederschrift bekundet keine Willenserklärungen, sondern die tatsächliche Wahrnehmung des Notars über die in seiner Anwesenheit gefassten Beschlüsse. Es handelt sich deshalb nicht um die Beurkundung von Willenserklärungen nach § 8 BeurkG, sondern um eine „sonstige Beurkundung“ durch die Niederschrift einer Tatsachenerklärung des Notars nach § 37 BeurkG. In der Niederschrift hat der Notar den Ort und den Tag der Verhandlung, die Art und das Ergebnis der Abstimmungen und die Feststellungen des Vorsitzenden über die gefassten Beschlüsse anzugeben und die Niederschrift unter Angabe seines Namens zu unterschreiben, § 130 Abs. 2 Satz 1 und Abs. 4 AktG. Fehlt die Niederschrift oder hat sie nicht den vorgenannten notwendigen Inhalt, so sind die in der Hauptversammlung gefassten Beschlüsse nichtig, § 241 Nr. 2 AktG. In aller Regel verfasst der Notar schon vor Beginn der Hauptversammlung einen Entwurf seines Protokolls, den er während der Hauptversammlung durch handschriftliche oder stenografische Aufzeichnungen vervollständigt. Der Notar ist nicht verpfl ichtet, das Protokoll schon während der Hauptversammlung fertigzustellen und sogleich nach deren Ende zu unterzeichnen, sondern er kann den Beurkundungsvorgang auch erst einige Zeit später nach kritischer Durchsicht seiner Aufzeichnungen abschließen1. Demgemäß sind in der Praxis alternativ die folgenden Abläufe anzutreffen: (1) Der Notar unterzeichnet noch am Tage der Hauptversammlung die endgültige Niederschrift und übermittelt der Gesellschaft umgehend eine Ausfertigung oder beglaubigte Abschrift. 1 Das ist heute wohl unbestritten, siehe BGHZ 180, 9, 13, Rz. 9 „Deutsche Bank/ Kirch“ = NZG 2009, 342, 343; Werner in Großkomm. AktG, 4. Aufl. 1993, § 130 AktG Rz. 45; Kubis in MünchKomm. AktG, 2. Aufl. 2004, § 130 AktG Rz. 15; Ziemons in K. Schmidt/Lutter, 2008, § 130 AktG Rz. 36; Preuß in Armbrüster/Preuß/ Renner, 5. Aufl. 2009, § 37 BeurkG Rz. 25; Butzke in Obermüller/Werner/Winden, Die Hauptversammlung der AG, 4. Aufl. 2001, S. 460 f.; Eylmann, ZNotP 2005, 300, 301; Krieger in FS Priester, 2007, S. 387, 400.
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(2) Der Notar verfasst und unterzeichnet die endgültige Niederschrift erst einige Tage nach der Hauptversammlung unter kritischer Verwendung seines Entwurfs und seiner Aufzeichnungen und erteilt anschließend Ausfertigungen und Abschriften der Urkunde. (3) Der Notar unterzeichnet vorsorglich schon unmittelbar nach dem Ende der Hauptversammlung den während der Hauptversammlung ergänzten Entwurf der Niederschrift, gibt dieses Dokument aber nicht aus der Hand, sondern überprüft den Text in den folgenden Tagen und erstellt schließlich eine neue Reinschrift, die er unterzeichnet und von der er Ausfertigungen und Abschriften erteilt Nachfolgend sollen zu diesen Fallgestaltungen zwei Fragen näher untersucht werden: – Ab welchem Zeitpunkt liegt eine Beurkundung der Beschlüsse der Hauptversammlung vor? – Wie wirkt sich eine erst einige Zeit nach der Hauptversammlung abgeschlossene Beurkundung auf den Zeitpunkt der Wirksamkeit der Beschlüsse der Hauptversammlung und auf die inzwischen erfolgten Akte zur Ausführung der Beschlüsse aus? Mit der ersten Frage hat sich der BGH in seiner Entscheidung vom 16.2.2009 befasst, die eine Fallgestaltung betraf, wie sie vorstehend zu (3) skizziert wurde2. Darauf ist nachstehend zu II. näher einzugehen. Die nachstehend zu III. behandelte zweite Frage wurde bislang, soweit ersichtlich, in Rechtsprechung und Schrifttum noch nicht erörtert. Sie hat erhebliche praktische Bedeutung, wie die folgenden Beispiele zeigen: Nehmen wir an, dass in der Hauptversammlung sämtliche Aufsichtsratsmitglieder neu gewählt worden sind. Nach der Hauptversammlung fasst der neu besetzte Aufsichtsrat in seiner konstituierenden Sitzung weitreichende Beschlüsse, z. B. durch die Bestellung neuer Vorstandsmitglieder und die Zustimmung zu einem Unternehmenskauf. Sind und bleiben solche Beschlüsse des Aufsichtsrats nichtig, weil die Aufsichtsratsmitglieder zur Zeit der Beschlussfassung mangels Beurkundung des Wahlbeschlusses der Hauptversammlung noch nicht im Amt waren? Und ein zweites Beispiel: Der Beschluss der Hauptversammlung über die Gewinnverwendung wird der allgemeinen Übung entsprechend am folgenden Tag durch Auszahlung der Dividende ausgeführt, und die Aktien werden von diesem Zeitpunkt an folgerichtig „ex Dividende“ notiert. Ist und bleibt die Dividendenauszahlung mangels abgeschlossener Beurkundung des Gewinnverwendungsbeschlusses rechtsgrundlos, weil der Gewinnauszahlungsanspruch der Aktionäre nicht nur noch nicht fällig, sondern mangels wirksamen Gewinnverwendungsbeschlusses noch gar nicht entstanden war?
2 BGHZ 180, 9, 13 ff., Rz. 7 ff.
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Wirksamkeit der HV-Beschlüsse bei späterer Protokollierung
II. Abschluss der Beurkundung Im Fall (1) wird der Beurkundungsvorgang sogleich nach dem Ende der Hauptversammlung abgeschlossen, so dass eine wirksame Beurkundung erfolgt ist, bevor die Beschlüsse der Hauptversammlung durch Ausführungsakte umgesetzt werden. Damit stellt sich in diesem Fall nicht die Frage einer etwa fehlenden Rechtsgrundlage wegen späterer Protokollierung. Umgekehrt liegt im Fall (2) eine wirksame Urkunde erst einige Tage nach der Hauptversammlung vor, so dass die Beschlüsse der Hauptversammlung bis dahin gemäß § 241 Nr. 2 AktG nichtig sind und die rechtliche Grundlage der zuvor vorgenommenen Ausführungsakte in Frage steht. Schwieriger zu beurteilen ist der vom BGH behandelte Fall (3), der einer verbreiteten und sinnvollen Übung entspricht. Durch die vorsorgliche Unterzeichnung des ersten Dokuments will der Notar sicherstellen, dass die Beschlüsse der Hauptversammlung auch für den Fall wirksam beurkundet sind, dass er durch Krankheit, Unfall oder Tod nicht mehr zur Fertigstellung der Reinschrift in der Lage sein sollte 3. Auch in dem entschiedenen Fall war der Notar so verfahren. Nach Fertigstellung der Reinschrift und der Erteilung von Ausfertigungen und Abschriften der Reinschrift hatte er das erste Dokument nicht in seiner Akte aufbewahrt, sondern entsorgt. Ein Strafsenat des OLG Frankfurt nahm an, der Notar habe damit den Tatbestand einer Urkundenunterdrückung nach § 274 Abs. 1 Nr. 1 StGB erfüllt4. Ganz anders sahen das die Zivilgerichte: Das LG Frankfurt meinte, der Abschluss einer Hauptversammlungsniederschrift sei beurkundungsrechtlich erst dann eingetreten, wenn die Urkunde mit dem Willen des Notars, insbesondere durch Erteilung von Ausfertigungen, in den Rechtsverkehr gelangt ist. Deshalb könne der Notar auch nach Abschluss der Niederschrift ohne weiteres Änderungen vornehmen und sei auch nicht gehindert, eine weitere Urkunde mit der Folge zu errichten, dass auch diese wirksam ist5. Im Berufungsverfahren vertrat der zuständige Zivilsenat des OLG Frankfurt die Auffassung, es liege in jedem Fall eine wirksame Beurkundung der Beschlüsse der Hauptversammlung vor, und zwar entweder durch die erste, nicht mehr vorliegende Niederschrift oder durch die später gefertigte Niederschrift6. Der BGH setzte den Schlusspunkt mit seiner Entscheidung vom 16.2.20097. In dem Bestreben, sowohl das seit Jahrzehnten übliche und bewährte zweistufige Verfahren der Protokollierung zu rechtfertigen und zugleich den Verdacht eines Urkundendelikts aus der Welt zu schaffen8, bejahte auch er eine wirksame Beurkundung der Beschlüsse der betreffenden Hauptversammlung, 3 Zu dieser Praxis siehe Priester, DNotZ 2006, 403, 417 f.; Kanzleiter, DNotZ 2007, 804; Winkler, 16. Aufl. 2008, § 44a BeurkG Rz. 36; Preuß (Fn. 1), § 37 BeurkG Rz. 26; Krieger in FS Priester S. 387, 400; Butzke (Fn. 1), S. 460; Goette, DStR 2009, 2602, 2604; auch Eylmann, ZNotP 2005, 300. 4 2. Strafsenat des OLG Frankfurt, Beschl. v. 29.11.2006, NJW 2007, 1221 f. 5 Urt. v. 21.12.2005, ZIP 2005, 335, 337. 6 Urt. v. 17.7.2007, ZIP 2007, 1463, 1464. 7 BGHZ 180, 9, 13 ff. 8 Dass dies für den 2. Zivilsenat des BGH wesentlich war, macht Goette, DStR 2009, 2602, 2604 deutlich. Vgl. auch Preuß (Fn. 1), § 44a BeurkG Rz. 24 zum „historischen Kontext“.
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und zwar durch die in den Verkehr gegebene Reinschrift der Urkunde. Solange der Notar die von ihm erstellte Niederschrift nicht in den Verkehr gegeben habe, sei es ihm unbenommen, die Niederschrift, auch wenn er bereits eine Fassung unterzeichnet hat, in Reinschrift als das „eigentliche Protokoll“ neu zu erstellen, zu unterzeichnen und durch Ausfertigungen und Abschriften in den Verkehr zu geben. Bis dahin sei der Beurkundungsvorgang noch nicht abgeschlossen. Urkunde im Sinne des Gesetzes sei – so heißt es im ersten Leitsatz der Entscheidung – erst die von dem Notar autorisierte, unterzeichnete und in den Verkehr gegebene Endfassung der Niederschrift. Die Entscheidung des BGH hat, was die Zulässigkeit des Verfahrens der Notare betrifft, für wohltuende Rechtssicherheit gesorgt, so dass die Notare auch künftig gemäß Fall (3) prozedieren können und, so ist hinzuzufügen, auch verfahren sollten, wenn es nicht möglich oder nicht sinnvoll ist, die Urkunde sogleich nach der Hauptversammlung fertigzustellen und in den Verkehr zu geben. Der BGH hat zwar, weil es in dem entschiedenen Fall nicht darauf ankam, offen gelassen, ob im Todesfall des Notars die vorsorgliche Unterzeichnung zu einer gültigen Niederschrift im Sinne des § 130 AktG führen kann9. Aber er würde das sicherlich ebenfalls bejahen, wenn es darauf ankommt und sich zumindest feststellen lässt, dass der Notar ausdrücklich oder konkludent die Anweisung hinterlassen hat, von der vorsorglich erstellten Niederschrift Ausfertigungen und Abschriften zu erteilen, falls er zu einer Überarbeitung nicht mehr in der Lage ist10. Offenbar meinte der BGH, er könne den Vorwurf einer Urkundenunterdrückung nur dann mit Sicherheit ausschließen, wenn er als „Urkunde im Sinne des Gesetzes“ erst und nur die in den Verkehr gegebene Endfassung der Niederschrift qualifi ziert. Damit gerät allerdings auch für die Fallgestaltung (3) die nachstehend zu III. zu erörternde Frage ins Blickfeld, wie sich eine erst geraume Zeit nach der Hauptversammlung abgeschlossene Beurkundung auf den Zeitpunkt der Wirksamkeit der Hauptversammlungsbeschlüsse und die Akte zu ihrer Ausführung auswirkt. Es spricht einiges dafür, dass der BGH mit seiner Feststellung im ersten Leitsatz, Urkunde im Sinne des Gesetzes sei erst die in den Verkehr gegebene Niederschrift, die sich den Entscheidungsgründen nicht in dieser Deutlichkeit entnehmen lässt, über das Ziel hinausgeschossen ist. Um den strafrechtlichen Tatbestand der Urkundenunterdrückung auszuräumen, wäre es nicht notwendig gewesen, die zivilrechtliche Beurkundung erst bei der Erteilung einer Ausfertigung oder Abschrift des zweiten Dokuments als vollendet anzusehen. Für den Tatbestand der Urkundenunterdrückung nach § 274 Abs. 1 Nr. 1 StGB fehlte es nämlich bezüglich des ersten Dokuments, das der Notar nicht in den Verkehr gegeben hatte, selbst bei Bejahung der strafrechtlichen Qualität einer Urkunde i. S. v. § 267 Abs. 1 StGB jedenfalls an dem weiteren Erfordernis, dass die Urkunde dem Täter „entweder überhaupt nicht oder nicht ausschließlich 9 BGHZ 180, 9, 15 f., Rz. 11. 10 Vgl. Bohrer, NJW 2007, 2019, 2021; Kanzleiter, DNotZ 2007, 804, 811. Weitergehend Ludwig, ZNotP 2008, 345, 349. Die erste Niederschrift enthält die wirksame Beurkundung unter der aufschiebenden Bedingung des „Notfalls“.
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gehört.“ Solange der Notar das Dokument nicht in den Verkehr gegeben hat, sondern es bei sich behält, um es gegebenenfalls zu überarbeiten, „gehört“ es noch ihm, weil er in diesem Stadium noch alleiniger Herr des Verfahrens ist und noch kein fremdes Recht zur Beweisführung mit diesem Schriftstück begründet wurde11. Und auch zur beurkundungsrechtlichen Rechtfertigung der Neufassung in einer „Reinschrift“ war es nicht nötig, dem ersten unterzeichneten Dokument die Qualität einer abgeschlossenen Niederschrift im Sinne des Beurkundungsrechts abzusprechen. Die Frage, bis wann eine unterzeichnete Niederschrift noch korrigiert und durch eine neue Niederschrift ersetzt werden kann, ist von der Frage zu unterscheiden, wann (erstmals) eine beurkundungsrechtlich abgeschlossene Niederschrift vorliegt. Diese beiden Fragen werden in der Entscheidung des BGH nicht deutlich genug auseinandergehalten. So führt der BGH aus, solange der Notar das unterzeichnete Dokument nicht in den Verkehr gegeben hat, sei „der Beurkundungsvorgang noch nicht i. S. des § 44a Abs. 2 BeurkG abgeschlossen“12. Soll mit „Beurkundungsvorgang“ zusätzlich zum Abschluss der Niederschrift auch die in § 44a Abs. 2 BeurkG geregelte Änderung oder Berichtigung umfasst sein? In einer Reihe von Stellungnahmen, die vor der Entscheidung des BGH erschienen sind, wurde überzeugend dargelegt, dass der Notar auch bei Annahme einer abgeschlossenen Niederschrift in Gestalt des unterzeichneten ersten Dokuments berechtigt bleibt, diese Niederschrift zu berichtigen und durch eine zweite „Reinschrift“ zu ersetzen, die er dann in den Verkehr gibt. Entweder folgt dies daraus, dass die Änderungsregeln des § 44a Abs. 2 BeurkG, die auf die Beurkundung von Willenserklärungen zugeschnitten sind, ohnehin nicht auf Tatsachenbekundungen nach § 37 BeurkG anwendbar sind13, oder es handelt sich bei dem zweiten Dokument um eine besondere zweite Niederschrift nach § 44a Abs. 2 Satz 3 BeurkG, die richtig gesehen keine erneute Abhaltung der Hauptversammlung voraussetzt14. Deshalb ist auch nach der Entscheidung des BGH zu fragen: Hat der Notar nicht schon mit der Unterzeichnung des ersten Dokuments eine Niederschrift abgeschlossen und – wenn auch unter dem Vorbehalt der Überprüfung vor Herausgabe – eine wirksame Urkunde geschaffen, so dass schon zu diesem Zeitpunkt die Wirksamkeit der protokollierten Beschlüsse eintritt? Die Frage, ob der Notar berechtigt ist, seine (vorläufige) Urkunde zu korrigieren und durch eine neue Reinschrift zu ersetzen, ist dann nur noch eine Frage, inwieweit bei Niederschriften nach § 37 BeurkG nachträgliche Berichtigungen zulässig sind und ob dafür die Regeln des § 44a Abs. 2 BeurkG beachtet werden müssen. In der Tat wurde jedenfalls bis zur Entscheidung des BGH vom 16.2.2009 im Schrifttum die Auffassung vertreten, dass bei der im Fall (3) skizzierten Praxis
11 Vgl. Maaß, ZNotP 2007, 326, 328; Kanzleiter, DNotZ 2007, 804, 808; Freund in MünchKomm. StGB, 2006, § 274 StGB Rz. 17. 12 BGHZ 180, 9, 15 Rz. 11. 13 So Winkler, 16. Aufl. 2008, § 44a BeurkG Rz. 36 ff. und Wolfsteiner, ZNotP 2005, 376, 377, die eine entsprechende Anwendung von § 164 ZPO befürworten. 14 So Krieger, NZG 2003, 366, 368 f.; anders Butzke (Fn. 1), S. 461 Rz. 23 und Hüffer, 9. Aufl. 2010, § 130 AktG Rz. 11a.
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mit der vom Notar unterzeichneten ersten Fassung der Niederschrift bereits eine vollgültige Urkunde entstanden ist, und auch einige vom BGH für seine Auffassung zitierte Autoren gehen davon aus, dass mit der Unterzeichnung der Erstfassung der Niederschrift bereits ein Abschluss der Niederschrift erreicht ist, da alle in § 37 BeurkG und § 130 AktG aufgeführten zwingenden Erfordernisse einer notariellen Niederschrift über die Beschlüsse der Hauptversammlung erfüllt sind15. Diese Niederschrift ist zwar, solange der Notar keine Ausfertigung oder beglaubigte Abschrift aus der Hand gibt, noch ein, wie der BGH sagt, „Internum“. Aber für die Wirksamkeit der in der Niederschrift bekundeten Beschlüsse kann es ausreichen, dass bereits ein vom Notar unterzeichnetes entsprechendes Dokument existiert, auch wenn er davon noch keine Ausfertigungen und Abschriften erteilt hat. Sieht man die Dinge so, ergibt sich auch im Fall (3) ebenso wie im Fall (1) nicht das Problem, das nachfolgend zu III. untersucht wird, nämlich die erst später erreichte Wirksamkeit der gefassten Beschlüsse, nachdem diese bereits ausgeführt worden sind.
III. Wirksamkeit der beurkundeten Beschlüsse Die Beschlüsse der Hauptversammlung sind, solange sie nicht beurkundet sind, nichtig, § 241 Nr. 2 AktG. Solange die Beurkundung nicht abgeschlossen ist, „bleibt die Nichtigkeit gemäß § 241 Nr. 2 AktG in der Schwebe“ – so die Formulierung des BGH16. Dagegen mag man einwenden, dass das Aktienrecht nicht die Kategorie der schwebenden Nichtigkeit eines fehlerhaften Hauptversammlungsbeschlusses kennt. Wohl aber gibt es die schwebende Unwirksamkeit eines Beschlusses der Hauptversammlung, der nach Inhalt und Verfahren fehlerfrei zustande gekommen ist, dessen Rechtswirkungen aber erst eintreten, wenn eine weitere zu dem Beschluss hinzutretende tatbestandliche Voraussetzung erfüllt ist17. Typische Beispiele für die im Gesetz nicht besonders geregelte Kategorie der unwirksamen Beschlüsse sind Beschlüsse, die zu ihrer Wirksamkeit noch eines Sonderbeschlusses einer betroffenen Aktiengattung oder einer behördlichen Genehmigung oder der Eintragung in das Handelsregister bedürfen18. Bei näherem Hinsehen zeigt sich, dass es sich bei dem nach Inhalt und Verfahren fehlerfrei gefassten und vom Versammlungsleiter ordnungsgemäß festgestellten, aber noch nicht beurkundeten Hauptversammlungsbeschluss um einen Fall der Unwirksamkeit handelt. Der noch nicht protokollierte Beschluss ist nicht etwa fehlerhaft und deshalb nichtig, sondern er ist noch nicht wirksam, also schwebend unwirksam19. Wenn der BGH von einer schwebenden Nichtigkeit spricht, liegt dies an der Terminologie des § 241 AktG, die nicht zwischen 15 Winkler, 16. Aufl. 2008, § 37 BeurkG Rz. 32; Lerch, 3. Aufl. 2006, § 37 BeurkG Rz. 7; ebenso mit Nachdruck Preuß (Fn. 1), § 37 BeurkG Rz. 26, § 44a BeurkG Rz. 24 und im Ansatz auch Ludwig, ZNotP 2008, 345, 347 f.; anders Bohrer, NJW 2007, 2019, 2020. 16 BGHZ 180, 9, 17, Rz. 14. 17 Grundlegend A. Hueck, Anfechtbarkeit und Nichtigkeit von Generalversammlungsbeschlüssen bei Aktiengesellschaften, 1924, S. 73 ff. 18 Hüffer in MünchKomm. AktG, 2. Aufl. 2001, § 241 AktG Rz. 166; Schwab in K. Schmidt/Lutter, 2008, § 241 AktG Rz. 2. 19 So zutreffend Krieger, NZG 2003, 366, 369 und bereits Heinsheimer, JW 1927, 2975.
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Nichtigkeit und Unwirksamkeit unterscheidet, obwohl es sich insbesondere bei den meisten der im ersten Satzteil vor Nr. 1 genannten Fälle um Fälle der Unwirksamkeit handelt20. Der noch nicht beurkundete Hauptversammlungsbeschluss ist somit vor seiner Beurkundung schwebend unwirksam, nach Abschluss der Beurkundung wird er – unterstellt, er wurde nach Inhalt und Verfahren fehlerfrei gefasst und festgestellt – endgültig wirksam. Was bedeutet das für die Rechtswirkungen, die der Beschluss entfalten soll? Treten sie mit Abschluss der Beurkundung nur ex nunc ein oder wirkt der Beschluss zurück auf den Zeitpunkt der vom Notar bekundeten Feststellung des Beschlusses? Es ist erstaunlich, dass sich zu dieser Frage, soweit ersichtlich, noch niemand näher geäußert hat, weder in der Rechtsprechung noch im aktienrechtlichen Schrifttum. Vermutlich geht man unausgesprochen und ohne weiteres davon aus, dass der Zeitpunkt der Protokollierung nicht maßgeblich sein kann für die Frage, ab wann der Beschluss gelten soll, und deshalb die Protokollierung als Wirksamkeitserfodernis auf den Zeitpunkt der Beschlussfassung zurückwirkt. Aber dieses Ergebnis bedarf der Begründung. Im Aktiengesetz sucht man vergeblich nach einer allgemeinen Regel, ab wann die Rechtswirkungen eines Hauptversammlungsbeschlusses eintreten, falls die endgültige Wirksamkeit des Beschlusses durch das zusätzlich erforderliche Tatbestandselement erst einige Zeit nach der Hauptversammlung erreicht wird. Eine allgemeine Regel enthält dagegen das BGB in § 184 Abs. 1 für die Fälle der schwebenden Unwirksamkeit eines Rechtsgeschäfts wegen fehlender Zustimmung eines Dritten: „Die nachträgliche Zustimmung (Genehmigung) wirkt auf den Zeitpunkt der Vornahme des Rechtsgeschäfts zurück, soweit nicht ein anderes bestimmt ist.“ Die Rückwirkung gilt gleichermaßen für Verpfl ichtungs- wie für Verfügungsgeschäfte, also insbesondere auch für die Verfügung eines Nichtberechtigten, die nach § 185 Abs. 2 BGB wirksam wird, wenn der Berechtigte sie genehmigt. Die Rückwirkung ist ausnahmsweise ausgeschlossen, wenn die Vertragspartner dies vereinbart haben, aber auch dann, wenn sich Einschränkungen der Rückwirkungen aus dem Gesetzeszweck ergeben, z. B. wird die Verjährung der Ansprüche aus dem Rechtsgeschäft nicht rückwirkend, sondern ex nunc in Gang gesetzt21. § 184 Abs. 1 AktG enthält einen allgemeinen Rechtsgedanken, der z. B. auch bei einer für die Wirksamkeit des Rechtsgeschäfts erforderlichen behördlichen Genehmigung anzuwenden ist; auch in diesem Fall ist von einer Rückwirkung auf den Zeitpunkt der Vornahme des Rechtsgeschäfts auszugehen, es sei denn, der Zweck des gesetzlichen Genehmigungsvorbehalts steht einer Rückwirkung entgegen 22. Es spricht viel dafür, die Regel des § 184 Abs. 1 BGB auch auf schwebend unwirksame Gesellschafterbeschlüsse anzuwenden. In der – soweit ersicht-
20 Nämlich § 217 Abs. 2 Satz 3 und 4, § 228 Abs. 2 Satz 1, § 234 Abs. 3 Satz 1 und § 235 Abs. 2 Satz 1 AktG. Vgl. Hüffer (Fn. 18), § 241 AktG Rz. 24; Karsten Schmidt in Großkomm. AktG, 4. Aufl. 1996, § 241 AktG Rz. 16. 21 Ellenberger in Palandt, 69. Aufl. 2010, § 184 BGB Rz. 2. 22 BGH, NJW 1969, 1246; OLG Hamm, NJW 1961, 560; Schramm in MünchKomm. BGB, 5. Aufl. 2006, vor § 182 BGB Rz. 27.
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lich – einzigen Abhandlung, die sich mit diesem Thema befasst, vertritt Berg 23 die Auffassung, für das Beschlussrecht der privatrechtlichen Verbände gelte § 184 Abs. 1 BGB unmittelbar; ein gesetzlicher Ausschluss der Rückwirkung sei nicht ersichtlich. Im Regelfall sei deshalb von der Rückwirkung auszugehen, es sei denn, die Rückwirkung ist im Gesellschafterbeschluss ausgeschlossen worden oder der Rückwirkung sind sachlich Grenzen gesetzt. Insbesondere seien Verjährungsfristen erst ab dem Zeitpunkt der Genehmigungserklärung zu berechnen, da vorher Ansprüche aus dem zunächst schwebend unwirksamen Geschäft nicht geltend gemacht werden konnten. So laufe beispielhaft die Verjährung des Dividendenanspruchs aus einem Gewinnverwendungsbeschluss, der noch der Zustimmung eines Gesellschafters bedarf, nicht während des Schwebezustands des zustimmungsbedürftigen Beschlusses. Auch für den zur Wirksamkeit eines Beschlusses zusätzlich erforderlichen Sonderbeschluss einer Gesellschaftergruppe will Berg analog § 184 Abs. 1 BGB die Rückwirkung auf den Zeitpunkt des Hauptbeschlusses bejahen. Dasselbe soll nach Berg im Ergebnis für die Rückwirkung einer behördlichen Genehmigung gelten, während er für die Rechtswirkungen eines eintragungsbedürftigen Beschlusses aus den gesetzlichen Regelungen in § 181 Abs. 3 AktG und § 54 Abs. 3 GmbHG entnimmt, dass die Rechtswirkung des Beschlusses mit der Eintragung nur ex nunc eintritt. Ob sich der eintragungsbedürftige Beschluss selbst abweichend von der gesetzlichen Regel Rückwirkung beilegen kann, sei jedenfalls bei Regelungen, die für die Außenbeziehungen der Gesellschaft von Bedeutung sind, zu verneinen. Speziell zur Frage einer Rückwirkung der nachträglichen Protokollierung von Hauptversammlungsbeschlüssen nimmt Berg leider nicht Stellung. Die Antwort erschließt sich aber mit hinreichender Gewissheit, wenn man den Fall der schwebenden Unwirksamkeit wegen einer noch ausstehenden Protokollierung mit den übrigen Fällen der schwebenden Unwirksamkeit von fehlerfrei gefassten Hauptversammlungsbeschlüssen vergleicht. Da ist zunächst der Fall eines für die Wirksamkeit des Hauptversammlungsbeschlusses zusätzlich erforderlichen Sonderbeschlusses. Berg will für diesen Fall eine Rückwirkung bejahen. Allerdings schreibt das Aktiengesetz Sonderbeschlüsse nur zu solchen Hauptversammlungsbeschlüssen vor, die zu ihrer Wirksamkeit außerdem noch der Eintragung bedürfen. Das gilt insbesondere für Beschlüsse der Hauptversammlung zur Einschränkung oder Aufhebung des Vorzugs der Vorzugsaktionäre nach § 141 Abs. 1 AktG, bei denen es sich notwendig um satzungsändernde Beschlüsse handelt24. In einem solchen Fall kann es dahinstehen, ob der Sonderbeschluss der Aktiengattung auf den Zeitpunkt der Fassung des Hauptversammlungsbeschlusses zurückwirkt, da die Eintragung der Satzungsänderung erst erfolgt, wenn beide Beschlüsse vorliegen. Wenn man davon einmal absieht, kann man im Fall einer zusätzlich erforderlichen Zustimmung bestimmter Aktionäre zweifeln, ob die Zustimmung zurückwirkt, da es sich immerhin um ein zusätzliches materielles Element
23 Thomas Berg, Schwebend unwirksame Beschlüsse privatrechtlicher Verbände, 1994, S. 219 ff. 24 Hüffer, 9. Aufl. 2010, § 141 AktG Rz. 2.
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handelt, dass zu der Beschlussfassung hinzukommen muss. Ganz anders die nachfolgende Protokollierung: Sie hat keinen eigenen materiellen Gehalt, sondern hält nur tatsächlich fest, wie beschlossen wurde. Die zweite Fallgruppe betrifft Beschlüsse, die zu ihrer Wirksamkeit einer behördlichen Genehmigung bedürfen. So konnten Mehrstimmrechte nach der – inzwischen gestrichenen – Vorschrift des § 12 Abs. 2 Satz 2 AktG a. F. als Ausnahme von dem grundsätzlichen Verbot von Mehrstimmrechten mit behördlicher Genehmigung geschaffen werden. Ohne die Genehmigung war der entsprechende Hauptversammlungsbeschluss schwebend unwirksam. Aber auch in diesem Beispielsfall konnte die Frage einer Rückwirkung der Genehmigung im Ergebnis dahinstehen, da Mehrstimmrechte nur durch satzungsändernden Beschluss geschaffen werden konnten, so dass die Rechtswirkungen des Beschlusses ohnehin erst mit der nachfolgenden Eintragung eintreten konnten. Dasselbe gilt auch im Fall der Geschäftsplanänderung einer Versicherungs-AG im Wege der Satzungsänderung nach § 13 i. V. m. § 5 VAG. Auch in diesem Fall ist die behördliche Genehmigung Voraussetzung für die Eintragung der Satzungsänderung, so dass auch hier offen bleiben kann, ob die Genehmigung analog § 184 Abs. 1 BGB auf den Zeitpunkt des Hauptversammlungsbeschlusses zurückwirkt oder der Zweck des gesetzlichen Genehmigungserfordernisses einer solchen Rückwirkung entgegensteht. Wenn man auch bei dieser Fallgruppe zunächst von dem Erfordernis der Eintragung absieht, zeigt sich wiederum der gravierende Unterschied zur nachträglichen Protokollierung: Die behördliche Genehmigung ist ein zusätzliches materielles Erfordernis, und deshalb kann je nach dem gesetzlichen Zweck des Genehmigungsvorbehalts eine Rückwirkung der Genehmigung ausgeschlossen sein. Es bleibt der dritte im Schrifttum als typisches Beispiel für schwebend unwirksame Beschlüsse genannte Fall, nämlich der Fall des eintragungsbedürftigen und deshalb bis zur Eintragung schwebend unwirksamen Hauptversammlungsbeschlusses. Eine von der Hauptversammlung beschlossene Satzungsänderung wird nach § 181 Abs. 3 AktG erst wirksam, wenn sie in das Handelsregister eingetragen worden ist. Mit der Eintragung wird der bis dahin schwebend unwirksame Beschluss der Hauptversammlung endgültig wirksam. Wenn aus § 181 Abs. 3 AktG zu schließen wäre, dass bei dem zusätzlichen Wirksamkeitserfordernis der Eintragung eine Rückwirkung stets ausgeschlossen ist, müsste man sich fragen, ob analog § 181 Abs. 3 AktG auch bei der für die Wirksamkeit erforderlichen nachfolgenden Protokollierung eine Rückwirkung ausgeschlossen ist. Aber dieser Schluss wäre aus mehreren Gründen verfehlt. Zunächst ist festzustellen, dass sich der Gesetzestext des § 181 Abs. 3 AktG nicht explizit zur Rückwirkung äußert und – anders als § 148 Abs. 3 AktG 1937 – nach dem herrschenden Verständnis der Norm eine Rückwirkung nicht ausschließt. Ob eine von der Hauptversammlung intendierte Rückwirkung möglich ist, bestimmt sich nach den allgemeinen Grundsätzen des Vertrauensschutzes, also danach, ob der Rückwirkung ein schutzwürdiges Vertrauen der Aktionäre, betroffener Dritter oder der Allgemeinheit in die Verbindlichkeit der eingetragenen Satzungsbestimmung entgegensteht. Im Einzelnen wird danach differenziert, ob es sich um eine Satzungsänderung mit oder ohne Außenwirkung handelt. Wenn sich die Satzungsänderung auf das Innenverhältnis der 161
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Gesellschaft beschränkt, ist eine Rückwirkung möglich; eine Änderung mit Außenwirkung wie z. B. eine Änderung der Bestimmungen über das Geschäftsjahr, die Vertretungsmacht, den Unternehmensgegenstand etc. kann dagegen nicht rückwirkend in Kraft gesetzt werden 25. Das Wirksamkeitserfordernis der Registereintragung steht also nicht in jedem Fall einer Rückwirkung entgegen. Schon aus diesem Grund kann man nicht analog § 181 Abs. 3 AktG eine Rückwirkung im Fall der nachträglichen Protokollierung ausschließen. Ein zweiter Grund kommt hinzu: Die Protokollierung des Hauptversammlungsbeschlusses hat verglichen mit der Eintragung im Handelsregister eine ungleich geringere Bedeutung. Vor der Eintragung des Beschlusses erfolgt eine Prüfung durch den Registerrichter, während der Notar in der Niederschrift lediglich kritiklos bekundet, was er in der Hauptversammlung wahrgenommen hat. Die Hauptversammlungsniederschrift muss zwar zum Register eingereicht werden, aber die Einreichung ist für das Wirksamwerden des Beschlusses ohne Belang. Und schließlich gibt es einen dritten Grund, der ausschlaggebend sein dürfte: Es gibt bei der Protokollierung anders als bei der Registereintragung kein schutzwürdiges Interesse der Aktionäre oder betroffener Dritter oder der Allgemeinheit, dass der Beschluss nur ex nunc mit der Protokollierung und nicht ex tunc mit Wirkung ab dem Zeitpunkt der Feststellung des Beschlusses wirksam wird. Im Ergebnis spricht deshalb der Vergleich mit den übrigen Fällen schwebend unwirksamer Hauptversammlungsbeschlüsse deutlich dafür, dass eine erst einige Zeit nach der Hauptversammlung abgeschlossene Beurkundung analog § 184 Abs. 1 BGB auf den Zeitpunkt der Feststellung des in der Urkunde wiedergegebenen Beschlusses zurückwirkt. Dass eine solche Rückwirkung dem Willen der Hauptversammlung entspricht, steht ohnehin außer Zweifel.
25 Wiedemann in Großkomm. AktG, 4. Aufl. 1994, § 179 AktG Rz. 163 ff.; Holzborn in Spindler/Stilz, 2007, § 181 AktG Rz. 42 ff.; Stein in MünchKomm. AktG, 2. Aufl. 2005, § 181 AktG Rz. 74 ff.
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Der Mehrheitsaktionär als abhängiges Aufsichtsratsmitglied? Inhaltsübersicht I. Einleitung 1. Der unabhängige Finanzexperte im Aufsichtsrat 2. Zur Fragestellung und ihrem Anlass 3. Die Empfehlung der Europäischen Kommission II. Unabhängigkeit nach geltendem Recht 1. Vorgaben durch das AktG 2. Vorgaben durch den DCGK III. Zum Unabhängigkeitsbegriff nach Maßgabe der Abschlussprüferrichtlinie und des BilMoG IV. Funktionale Ableitung des Unabhängigkeitsbegriffs 1. Grundlage
2. Die Unabhängigkeit vom Vorstand 3. Interessenunabhängigkeit 4. Die Beteiligung an der AG a) Wertungen des DCGK und der EU-Empfehlung b) Besondere Legitimation und Eignung der Großaktionäre zur Überwachung 5. Zwischenergebnis V. Die Belange der Minderheitsaktionäre 1. Rechtspolitisches Anliegen 2. Die Lösung des Österreichischen Corporate Governance-Kodex (ÖCGK) VI. Schlussbemerkung
I. Einleitung 1. Der unabhängige Finanzexperte im Aufsichtsrat Mit dem Gesetz zur Modernisierung des Bilanzrechts („BilMoG“)1 ist das Anforderungsmerkmal der „Unabhängigkeit“ eines Aufsichtsratsmitglieds, das der Deutsche Corporate Governance Kodex („DCGK“) schon seit geraumer Zeit kennt, in das Aktiengesetz aufgenommen worden 2. Nach § 100 Abs. 5 AktG muss bei kapitalmarktorientierten Gesellschaften i. S. d. § 264d HGB mindestens ein „unabhängiges“ Mitglied des Aufsichtsrats über Sachverstand auf den Gebieten Rechnungslegung oder Abschlussprüfung verfügen. Hat die Gesellschaft einen Prüfungsausschuss eingerichtet, muss diesem gemäß § 107 Abs. 4 AktG mindestens ein solcher „unabhängiger Finanzexperte“ angehören. Der
1 BGBl. I 2009, 1102. Neben dem Ziel, ein wettbewerbsfähiges deutsches Bilanzrecht auch für kleine und mittlere Unternehmen zur Verfügung zu stellen, ist das Gesetz vom Gesetzgeber auch zum Anlass genommen worden, verschiedene durch die Abschlussprüferrichtlinie (RL 2006/43/EG) notwendig gewordene aktienrechtliche Vorgaben umzusetzen. Dazu gehört die Einführung des unabhängigen Finanzexperten. 2 Vgl. zur Thematik Diekmann/Bidmon, NZG 2009, 1087 ff.; Jaspers, AG 2009, 607 ff.; Bröcker/Mosel, GWR 2009, 132 ff.; Bürgers/Schilha, AG 2010, 221 ff.; Staake, ZIP 2010, 1013 ff.
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Aufsichtsrat einer kapitalmarktorientierten Aktiengesellschaft muss nunmehr also jedenfalls über ein unabhängiges Mitglied verfügen. Damit setzt sich eine Entwicklung fort, die durch die Empfehlung der EU-Kommission vom 5.2.2005 zu den Aufgaben nichtgeschäftsführender Direktoren/Aufsichtsratsmitgliedern börsennotierter Gesellschaften sowie zu den Ausschüssen des Verwaltungs-/ Aufsichtsrats3 besondere Brisanz gewonnen und mit den einschlägigen Empfehlungen der DCGK bereits einen ersten Niederschlag in dem von börsennotierten Gesellschaften zu beachtenden Regelungsrahmen gefunden hat, wenn auch nur auf der Ebene des vom Kodex gesetzten, so genannten „soft law“. 2. Zur Fragestellung und ihrem Anlass Die Frage, um welche Unabhängigkeit – von wem oder was – es dabei geht, ist angesichts der Unbestimmtheit des Begriffs Gegenstand einer jedenfalls für das deutsche Recht offenen Diskussion4. Die folgenden Überlegungen sind der Frage gewidmet, ob Anlass und Rechtfertigung dafür besteht, in diese Diskussion auch den nach geltendem Recht vorrangig dem Konzernrecht überantworteten Ausgleich der Interessen von Mehrheits- und Minderheitsaktionären5 hineinzutragen. Ist der substantiell oder gar mit Mehrheit beteiligte Aktionär, den die Hauptversammlung in den Aufsichtsrat wählt, unabhängig, oder macht ihn seine Beteiligung an der Gesellschaft zu einem abhängigen Aufsichtsratsmitglied? Ist also der Gesetzgeber im Begriff, an den bis dato allseits abgelehnten6 „Banning-Beschluss“ des OLG Hamm7 anzuknüpfen? Anlass, dieser Frage nachzugehen, besteht deshalb, weil die Gesetzesmaterialien zum BilMoG für eine Konkretisierung dessen, was das Gesetz mit Unabhängigkeit meint, unter anderem auch auf die EU-Empfehlung verweisen: „Weitere Hinweise auf Aspekte, die für die Beurteilung der Unabhängigkeit eines sachverständigen Aufsichtsratsmitglieds eine Rolle spielen können… [lassen sich] Ziffer 13.1. und Anhang II der […] Kommissionsempfehlung entnehmen“8. Die EU-Empfehlung postuliert indessen in klaren Worten, dass der Besitz einer Kontrollmehrheit die Unabhängigkeit kategorisch ausschließen soll: Wer als unabhängig gelten will, „darf keinesfalls ein Anteilseigner mit einer Kontrollbeteiligung sein oder einen solchen vertreten…“9. Der Kon3 Empfehlung zu den Aufgaben von nicht geschäftsführenden Direktoren/Aufsichtsratsmitgliedern börsennotierter Gesellschaften sowie zu den Ausschüssen des Verwaltungs-/Aufsichtsrats (2005/162 EG), ABl. EG L 52 v. 25.2.2005 („EU-Empfehlung“). 4 Vgl. z. B. Hüffer, ZIP 2006, 637 ff.; Lieder, NZG 2005, 569 ff.; Lutter, EuZW 2009, 799, 804. 5 Habersack, ZHR 168 (2004), 373, 377 f.; Lieder, Der Aufsichtsrat im Wandel der Zeit, Diss. Jena 2006, S. 707 f.; Bürgers/Schilha, AG 2010, 221 ff. 6 Hoffmann-Becking in Münchener Hdb. des Gesellschaftsrechts, Bd. 4: Aktiengesellschaft, 3. Aufl. 2007, § 30 Rz. 18; Hüffer, 9. Aufl. 2010, § 101 AktG Rz. 4; E. Vetter, BB 2005, 1689, 1691; vgl. auch Begr. RegEntw. zu § 101 AktG, bei Kropff, Textausgabe AktG 1965, S. 138. 7 OLG Hamm, ZIP 1986, 1554. 8 Begr. RegE BilMoG, BT-Drucks. 16/10067, 102. 9 Vgl. Anhang II Nr. 1 (d) EU-Empfehlung, dazu näher noch unten. Maßgeblich soll dabei der Kontrollbegriff von Art. 1 Abs. 1 der Siebenten Richtlinie 83/349/EWG des Rates sein.
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trollbegriff bestimmt sich dabei nach der Konzernbilanzrichtlinie10. Demnach ist es gerade der Mehrheitsaktionär11, der samt seinen Vertretern als abhängig angesehen wird12. 3. Die Empfehlung der Europäischen Kommission Ausgehend von der internationalen Corporate Governance-Diskussion13, insbesondere aber aufgrund des Berichts der High Level Group14 sowie des Aktionsplans der Europäischen Kommission15 ist die Unabhängigkeit von Mitgliedern des Aufsichtsrats das zentrale Thema der EU-Empfehlung. Das dahinter stehende rechtspolitische Anliegen der Kommission ist klar, wie sich aus dem siebten der Erwägungsgründe ergibt, die der EU-Empfehlung zugrunde liegen. Danach wird die Präsenz unabhängiger Vertreter im Verwaltungs-/Aufsichtsrat allgemein als eine Möglichkeit angesehen, wie die Interessen der Aktionäre und der anderen Stakeholder geschützt werden können. In Gesellschaften mit Mehrheitsaktionären richte sich das Augenmerk in diesem Zusammenhang darauf, wie gewährleistet werden kann, dass die Gesellschaft so geführt wird, dass die Interessen der Minderheitsaktionäre hinreichend geschützt werden. Es soll also, wenn nicht ausschließlich, so jedenfalls auch, bei dem Unabhängigkeitspostulat um den Schutz der Minderheit vor der Mehrheit gehen. Damit spricht die EU-Empfehlung ein Problemfeld an, dessen Lösung in Deutschland grundsätzlich dem Konzernrecht überantwortet ist. Denn die Minderheitsbelange sind durch konzernrechtliche Schutzinstrumente, die die Einflussnahme auf die Unternehmensleitung beschränken und den Ausgleich zugefügter Nachteile gewährleisten, grundsätzlich angemessen abgesichert16. Gemäß Ziff. 4 der EU-Empfehlung soll dem Aufsichtsrat „eine ausreichende Zahl unabhängiger nicht geschäftsführender Mitglieder angehören, um sicherzustellen, dass mit Interessenkonflikten, in welche Mitglieder der Unternehmensleitung involviert sind, ordnungsgemäß verfahren wird“. Dem Nominierungsausschuss, dem Vergütungsausschuss und dem Prüfungsausschuss sollen sogar mehrheitlich unabhängige Aufsichtsratsmitglieder angehören17. Nach Ziff. 13.1 der EU-Empfehlung gilt ein Mitglied der Unternehmensleitung als
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Siebente Richtlinie 83/3497EWG v. 13.6.1983, ABl. EG Nr. L 193. Vgl. Art. 1 Abs. 1 der Siebenten Richtlinie oder gleichbedeutend § 290 II HGB. Hüffer, ZIP 2006, 637, 641. Zur Entwicklung der Diskussion siehe Hopt in Hommelhoff/Hopt/v. Werder (Hrsg.), Handbuch Corporate Governance, 2. Aufl. 2009, S. 39 ff. Vgl. auch die Aufsatzsammlungen von Hopt, Kanda, Roe, Wymeersch, Prigge (Hrsg.), Comparative Corporate Governance, 1998; McCahery, Moerland, Raaijmakers, Renneboog (Hrsg.), Corporate Governance Regimes: Convergence and Diversity, 2002; Hopt, Wymeersch, Kanda, Baum (Hrsg.), Corporate Governance in Context, 2005. Report High-Level-Expert Group, Kapitel III Corporate Governance, insb. 4.1. Die Rolle der nicht geschäftsführenden Direktoren/Aufsichtsräte. Mitteilung zur Modernisierung des Gesellschaftsrechts und Verbesserung der Corporate Governance in der Europäischen Union – Aktionsplan KOM(2003) 284 endg. Habersack, ZHR 168 (2004), 373, 377 f.; Lieder, NZG 2005, 569, 571; Lieder, Der Aufsichtsrat im Wandel der Zeit, Diss. Jena 2006, S. 707 f.; Bürgers/Schilha, AG 2010, 221 ff. Vgl. Anhang I 2.1 (2) S. 1; 3.1 (2) S. 2; 4.1 S. 2 EU-Empfehlung.
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unabhängig, „wenn es in keiner geschäftlichen, familiären oder sonstigen Beziehung zu der Gesellschaft, ihrem Mehrheitsaktionär oder deren Geschäftsführung steht, die einen Interessenkonflikt begründet, der sein Urteilsvermögen beeinflussen könnte“. Für die Beurteilung der Unabhängigkeit sollen auf einzelstaatlicher Ebene Kriterien festgelegt werden. Die endgültige Entscheidung über die Unabhängigkeit oder deren Fehlen soll indessen beim Verwaltungsbzw. Aufsichtsrat liegen, der diese Entscheidung auf Grundlage der Empfehlung und der nationalen Regelungen zu treffen habe. Zur Konkretisierung ist dem Kommissionspapier ein Anhang II beigegeben, der einen Mindestkriterienkatalog für die Prüfung der Unabhängigkeit enthält. Zum Teil gibt dieser für das dualistische System konzeptionelle Selbstverständlichkeiten wieder. Er enthält aber insbesondere auch die soeben wiedergegebene kategorische Aussage zur fehlenden Unabhängigkeit des Kontrollaktionärs. Wer selbst Mehrheitsaktionär oder diesem (als Vertreter) eng verbunden ist, so ersichtlich die Meinung der Kommission, könne nicht die notwendige innere Unabhängigkeit aufbringen, um die Geschäftsleitung vollständig neutral zu überwachen18. In der Literatur wird dazu mit guten Gründen die Auffassung vertreten, dass die europäischen Vorgaben im deutschen Rechtssystem nicht strikt anzuwenden seien, soweit die in der EU-Empfehlung aufgelisteten Unabhängigkeitskriterien über die Empfehlungen des DCGK hinausgehen19. Dem ist zuzustimmen. Eine schematische Anwendung der europäischen Vorgaben, die der Tradition der monistischen Führungssysteme entstammen 20, passt für die deutsche Aktiengesellschaft mit ihrer dualistischen Führung nicht21. Dies bedeutet zwar nicht, dass die EU-Empfehlungen ignoriert werden könnten. Es ist jedoch jede Vorgabe anhand der nationalen Gegebenheiten in rechtlicher sowie tatsächlicher Hinsicht auszulegen und auf ihre Eignung hin zu überprüfen.
II. Unabhängigkeit nach geltendem Recht 1. Vorgaben durch das AktG Nach den aktienrechtlichen Vorgaben ist die Unabhängigkeit keine Amtsvoraussetzung eines Aufsichtsratsmitglieds, solange dieses nicht den Platz des „unabhängigen Finanzexperten“ im Gremium einnehmen soll. Dies liegt nicht etwa daran, dass etwaige, über die §§ 100, 105 AktG hinausgehende Inkompatibilitätsvorschriften nicht zur Debatte standen. Vielmehr wurde deren Kodifizierung im Vorfeld des KonTraG22 intensiv diskutiert. Entsprechende Vorschläge wurden jedoch mit dem Argument verworfen, dass der Hauptversammlung die Entscheidung darüber überlassen bleiben sollte, welche Personen dem Aufsichtsrat angehören und ob Aufsichtsratsmitglieder im Falle eines entstehenden
18 Langenbucher, ZGR 2007, 571, 589. 19 Lieder, NZG 2005, 569, 570; Lanfermann/Röhricht, BB 2009, 887; Gruber, NZG 2008, 12, 13; Lutter, EuZW 2009, 799, 804; vgl. auch Kropff in FS K. Schmidt, 2009, S. 1023, 1026 f. 20 Hopt, ZIP 2005, 461, 468; Maul/Lanfermann, DB 2004, 2407, 2409. 21 Lieder, NZG 2005, 569, 570. 22 Gesetz zur Kontrolle und Transparenz im Unternehmensbereich, BGBl. I 1998, 786.
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Interessenkonfl ikts abberufen werden sollten 23. Die Ansicht, es gäbe einen ungeschriebenen Rechtssatz, der die Unabhängigkeit als Amtsvoraussetzung beinhalte24, war schon immer schwer zu begründen 25. Ihr wurde mit der negativen Entscheidung durch das KonTraG endgültig der Boden entzogen 26. In der Tat ist für das deutsche Recht die Forderung nach Unabhängigkeit der Mitglieder des Aufsichtsrats zunächst überraschend. Das Aufsichtsratsamt ist nach § 111 Abs. 5 AktG zwingend ein höchstpersönliches. Jedwede Weisungsgebundenheit scheidet aus27. Instrumentarien, die darauf zielen, das Aufsichtsratsmitglied bei der Ausübung seines Amtes an den Willen eines Dritten zu binden, sind unzulässig 28. Die Aufsichtsratsmitglieder haben ihr Amt in eigener Verantwortung wahrzunehmen. Sie sind ausschließlich dem Unternehmensinteresse verpfl ichtet29. Sie sind in diesem Sinne per defi nitionem unabhängig. Indessen ist nicht daran vorbeizukommen, dass ungeachtet dieser rechtlichen Abschirmung jedenfalls faktisch exogene Faktoren in vielfältiger Weise auf die Willensbildung des einzelnen Mitglieds und damit auf die Entscheidungsfi ndung im Aufsichtsrat insgesamt einwirken können. Deshalb erscheint es im Ausgangspunkt legitim, wenn nicht sogar geboten, das Anforderungsprofi l für bestimmte (§ 100 Abs. 5 AktG, § 107 Abs. 4 AktG) oder „ausreichend viele“ (Ziff. 5.4.2 DCGK) Mitglieder des Aufsichtsrats um die Forderung nach Unabhängigkeit zu erweitern mit dem Ziel, einer für die Aufsichtsratstätigkeit negativen Einflussnahme aufgrund unerwünschter Abhängigkeiten vorzubeugen. Die hier interessierende Frage ist nur, ob und warum gerade die Aktionärsstellung geeignet sein soll, die Existenz von etwa der Aufsichtsratstätigkeit abträglichen Negativeinflüssen zu vermuten. Diese Frage stellt sich umso mehr deshalb, weil der Gesetzgeber den Aktionär mit signifikanter Beteiligung gerade jüngst in einem Paradefall möglicher Abhängigkeit, nämlich bei dem Wechsel eines Vorstandsmitglieds in den Aufsichtsrat, mit einem besonderen Privileg ausgestattet hat. Nach dem mit dem VorstAG30 in das Gesetz aufgenommenen § 100 Abs. 4 Abs. 2 Nr. 4 AktG kann Mitglied des Aufsichtsrats grundsätzlich nicht sein, wer in den letzten zwei Jahren Vorstandsmitglied derselben börsennotierten Gesellschaft war. Ausnahmsweise anderes gilt indessen dann, wenn die Wahl auf Vorschlag von Aktionären erfolgt, die mehr als 25 % der Stimmrechte an der Gesellschaft halten. Sind wesentliche Eigentümer der Auffassung, dass sie auf die Kenntnisse und Fähigkeiten eines verdienten Vorstandes nicht verzichten wollen, so die Begründung in den Gesetzesmaterialien überzeugend, sei es nicht Aufgabe des Gesetzes, ihnen dies zu verwehren31.
23 KonTraG, BT-Drucks. 13/9712, 17. 24 Lutter, ZHR 145 (1981), 224, 246 ff.; Lutter, ZHR 159 (1995), 287, 303. 25 Ablehnend daher BGHZ 39, 116, 123; OLG Schleswig, ZIP 2004, 1143, 1144; Ulmer, NJW 1980, 1603, 1604; Wirth, ZGR 2005, 327, 343 ff. 26 So Hüffer, ZIP 2006, 637, 638; Langenbucher, ZGR 2007, 571, 585. 27 Lutter/Krieger, Rechte und Pfl ichten des Aufsichtsrats, 5. Aufl. 2008, § 12 Rz. 822. 28 Hüffer, 9. Aufl. 2010, § 111 AktG Rz. 23. 29 Allg. Meinung, vgl. nur Dreher, JZ 1990, 896, 897; Ulmer, NJW 1980, 1603, 1605; Kort, ZIP 2008, 717, 720 sowie unten VI. 1. 30 Gesetz zur Angemessenheit der Vorstandsvergütung, BGBl. I 2009, 2479. 31 BT-Drucks. 16/433, 18; eingehend dazu Krieger in FS Hüffer, 2009, S. 521 ff. und Sünner, AG 2010, 111 ff.
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2. Vorgaben durch den DCGK Abgesehen von § 100 Abs. 5 AktG und § 107 Abs. 4 AktG nimmt sich lediglich der DCGK des Themas der Unabhängigkeit von Aufsichtsratsmitgliedern an. Der Kodex enthält in seiner geltenden Fassung32 in Ziffer 5.3.2 Satz 3 für den Vorsitzenden des Prüfungsausschusses die Anregung, er „sollte unabhängig und kein ehemaliges Vorstandsmitglied der Gesellschaft sein, dessen Bestellung vor weniger als zwei Jahren endete“. Generell sollen nach der Empfehlung in Ziffer 5.4.2 Satz 1 des Kodex dem Aufsichtsrat eine nach seiner Einschätzung ausreichende Anzahl unabhängiger Mitglieder angehören. Was der Kodex mit Unabhängigkeit meint, bestimmt der Folgesatz: „Ein Aufsichtsratsmitglied ist als unabhängig anzusehen, wenn es in keiner geschäftlichen oder persönlichen Beziehung zu der Gesellschaft oder deren Vorstand steht, die einen Interessenkonflikt begründet.“ Darüber hinaus enthält der Kodex Bestimmungen, die sich mit der Behandlung von Interessenkonflikten, Wettbewerbslagen und der Nähe zum Vorstand befassen. Dem Aufsichtsrat sollen nicht mehr als zwei ehemalige Mitglieder des Vorstands angehören und Aufsichtsratsmitglieder sollen keine Organfunktionen oder Beratungsaufgaben bei wesentlichen Wettbewerbern des Unternehmens ausüben (Ziff. 5.4.2 Satz 3 DCGK). Nach Ziff. 5.4.1 DCGK soll bei Wahlvorschlägen auch auf potenzielle Interessenkonfl ikte geachtet werden. Ein Aufsichtsratsmitglied soll Interessenkonfl ikte, insbesondere solche, die auf Grund einer Beratung oder Organfunktion bei Kunden, Lieferanten, Kreditgebern oder sonstigen Geschäftspartnern entstehen können, auch dem Aufsichtsrat gegenüber offenlegen (Ziff. 5.5.2). Wesentliche und nicht nur vorübergehende Interessenkonfl ikte in der Person eines Aufsichtsratsmitglieds sollen nach Ziff. 5.5.3 Satz 2 DCGK zur Beendigung des Mandats führen. Zwingend sind die Kodex-Vorgaben bekanntlich nicht. Gemäß § 161 AktG ist nach dem Complyor-Explain-Prinzip aber, soweit es sich um Empfehlungen handelt, publik zu machen, ob der Kodex eingehalten wurde und falls nein, warum nicht 33. Dass hierbei höchste Sorgfalt geboten ist, beweist nicht zuletzt ein Blick auf die jüngere Rechtsprechung des BGH zur Anfechtbarkeit von Hauptversammlungsbeschlüssen34. Danach kann unter Umständen die Unrichtigkeit der gemäß § 161 AktG vom Vorstand und Aufsichtsrat abzugebenden Entsprechenserklärung wegen der darin liegenden Verletzung von Organpfl ichten zur Anfechtbarkeit der gleichwohl gefassten Entlastungsbeschlüsse führen, soweit die Organmitglieder die Unrichtigkeit kannten oder kennen mussten35. Festzuhalten ist, dass nach den Regeln des DCGK ein Aufsichtsratsmitglied, das eine Beteiligung an der Gesellschaft hält oder einen Anteilseigner mit einer Beteiligung vertritt, nicht aufgrund dieses Umstands als abhängig einzustufen
32 Fassung vom 18.6.2009. Die nachfolgend genannten Ziffern des DCGK bleiben von der Neufassung des Kodex 2010 unberührt 33 Vgl. zu den Einzelheiten Hüffer, 9. Aufl. 2010, § 161 AktG Rz. 14 ff. 34 BGH, NZG 2009, 342 ff. („Kirch/Deutsche Bank“); BGH, AG 2009, 824 ff. („Umschreibungsstopp“). 35 BGH, NZG 2009, 342.
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ist 36. Die Regierungskommission hat eine entsprechende Regelung bewusst nicht aufgenommen. Eine Übernahme des Kriteriums wurde abgelehnt, weil nur die Unabhängigkeit vom Vorstand und vom übrigen Management erreicht werden sollte, nicht jedoch von einem Mehrheitsaktionär37. Die Kodexkommission hat auch bei der aktuellen Neufassung des Kodex (2010) von einer entsprechenden Ergänzung des Kodex abgesehen. Angesichts der Aktualität des Themas belegt dies, dass die Kodexkommission nach wie vor der Überzeugung ist, dass die Beziehung zum Mehrheitsaktionär der Gesellschaft die Unabhängigkeit des Aufsichtsratsmitglieds nicht berührt. Es verbietet sich daher, die dargestellten Unterschiede zwischen der EU-Empfehlung und dem DCGK im Wege der Auslegung der einzelnen Kodex-Empfehlungen zugunsten der EU-Empfehlung aufzuheben38. Ein Aufsichtsratsmitglied, das eine Kontrollbeteiligung an der Gesellschaft hält, ist, ebenso wie dessen Vertreter, nach den Regelungen des DCGK als unabhängig anzusehen.
III. Zum Unabhängigkeitsbegriff nach Maßgabe der Abschlussprüferrichtlinie und des BilMoG Anders als der Kodex enthalten weder die Abschlussprüferrichtlinie noch das neu gefasste AktG eine Legaldefi nition des Unabhängigkeitsbegriffs. § 100 Abs. 5 AktG lässt sich jedoch entnehmen, dass Unabhängigkeit mehr bedeutet als die bloße Nichtteilhabe an der Geschäftsleitung. Denn wenn § 100 Abs. 5 AktG verlangt, dass zumindest ein Mitglied des Aufsichtsrats als zusätzliches Eignungskriterium unabhängig sein muss, folgt daraus, dass sich Unabhängigkeit nicht in Erfüllung der Inkompatibilitätsregel des § 105 Abs. 1 AktG erschöpfen kann39. Weiteres Auslegungsmaterial enthält weder das AktG noch die Abschlussprüferrichtlinie, was im Hinblick auf die Richtlinie nicht überrascht. Diese überlässt es nämlich ausdrücklich den nationalen Gesetzgebern, den Begriff der Unabhängigkeit zu konkretisieren, und bietet lediglich die Hilfestellung gemäß dem Erwägungsgrund 24 an, wonach sich die Mitgliedstaaten auf die EU-Empfehlung berufen können. Der BilMoG-Gesetzgeber ist dem Auftrag nicht nachgekommen und hat es unterlassen, den Begriff der Unabhängigkeit zu defi nieren und dadurch Rechtssicherheit zu schaffen40.
36 Habersack, AG 2008, 98, 105; Kremer in Ringleb/Kremer/Lutter/v. Werder, Deutscher Corporate Governance Kodex, Kommentar, 4. Aufl. 2010, Rz. 1038; Lieder, NZG 2005, 569, 571; Kropff in FS K. Schmidt, 2009, S. 102, 126 f. 37 Cromme, Corporate Governance – Stand und Entwicklungen in Deutschland und Europa, Rede anlässlich der 5. Konferenz Deutscher Corporate Governance Kodex in Berlin am 23.6.2006; siehe in Bezug zur entsprechenden angelsächsischen Diskussion Baums (Hrsg.), Bericht der Regierungskommission Corporate Governance, 2001, Rz. 55, wonach „Unabhängigkeit“ zum einen die persönliche Unabhängigkeit von den Executive Directors und vom Management und zum anderen das persönliche Nichtbetroffensein vom wirtschaftlichen Wohlergehen der Gesellschaft, z. B. als Lieferant oder Finanzdienstleister, bedeute. 38 Gofferje, Unabhängigkeit als persönliche Voraussetzung für Aufsichtsratsmitglieder, Diss. Freiburg 2007, S. 167. 39 Jaspers, AG 2009, 607, 608. 40 Deshalb zu Recht kritisch Jaspers, AG 2009, 607, 608.
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Lediglich die Begründung des Regierungsentwurfs zum BilMoG nimmt sich der Frage an, liefert für die Eingrenzung des Unabhängigkeitsbegriffs aber auch nur Anhaltspunkte, die eher vage bleiben. Hiernach sollen bei dem Tatbestandsmerkmal der Unabhängigkeit insbesondere Gesichtspunkte wie unmittelbare oder mittelbare geschäftliche, fi nanzielle oder persönliche Beziehungen zur Geschäftsführung zu beachten sein, da diese eine Besorgnis der Befangenheit begründen können, die der Wahrnehmung der Aufsichtsfunktion entgegensteht41. Danach steht die Unabhängigkeit immer dann im Zweifel, wenn ein Aufsichtsratsmitglied über eine besondere Beziehung zur Geschäftsleitung verfügt, also „vorstandsabhängig“ ist42. Obwohl man aufgrund der gewählten Formulierung („insbesondere“) in dieser Umschreibung keine abschließende Defi nition sehen kann43, bleibt an dieser Stelle festzuhalten, dass die Gesetzesmaterialien die Aktionärsstellung oder eine Nähe zu dieser nicht als einen die Unabhängigkeit ausschließenden Umstand nennen. Damit könnte es sein Bewenden haben, wenn nicht in der Begründung auch noch lapidar festgestellt würde, dass sich „weitere Hinweise auf Aspekte, die für die Beurteilung der Unabhängigkeit eines sachverständigen Aufsichtsratsmitglieds eine Rolle spielen können, […] Ziff. 13.1. und Anhang II der […] Kommissionsempfehlung entnehmen“ lassen44.
IV. Funktionale Ableitung des Unabhängigkeitsbegriffs 1. Grundlage Unabhängigkeit im Allgemeinen meint das Fehlen von Abhängigkeit des Entscheidungsträgers; Unabhängigkeit will also, anders gewendet, die Freiheit der Entscheidung sichern. Dieser Grundgedanke ist „denkbar allgemein“45, er bedarf im Hinblick auf den Aufsichtsrat der näheren Konkretisierung. Nach der Rechtsprechung des BVerfG 46 und des BGH47 sowie der einhelligen Meinung der Literatur48 sind die Mitglieder des Aufsichtsrats bei ihrer Amtsführung allein dem Unternehmensinteresse49 verpfl ichtet. Der Vorrang des Unternehmensinteresses als Entscheidungskriterium betrifft in erster Linie die Wahrnehmung der auf die Geschäftsführung des Vorstands zielende Überwachungs- und Kontrollaufgabe des Aufsichtsrats, umfasst aber alle Rechte und Pfl ichten der 41 42 43 44 45 46 47 48 49
Begr. RegE BilMoG, BT-Drucks. 344/08, 223. Siehe hierzu IV. 2. Jaspers, AG 2009, 607, 608. Begr. RegE BilMoG, BT-Drucks. 16/0067, 102. So Druey in FS Doralt, 2004, S. 151, 153. BVerfGE 34, 103, 112; 50, 290, 374. BGHZ 36, 296, 306; 64, 325, 330 f.; 71, 40, 46; 83, 144, 149; 83, 319, 327; 135, 244, 255. Dreher, JZ 1990, 896, 897; Ulmer, NJW 1980, 1603, 1605; Kort, ZIP 2008, 717, 720. Der Deutsche Corporate Governance Kodex (DCGK) hat das Unternehmensinteresses seit jeher als Handlungsmaxime für die Unternehmensverwaltung herausgestellt (Ziff. 5.5.1 Satz 1 DCGK). Seit seiner letzten Überarbeitung unternimmt er auch den Versuch einer inhaltlichen Begriffsbestimmung. Nach dem neugefassten Abs. 2 der Präambel verweist der DCGK auf „die Verpflichtung von Vorstand und Aufsichtsrat, im Einklang mit den Prinzipien der sozialen Marktwirtschaft für den Bestand des Unternehmens und seine nachhaltige Wertschöpfung zu sorgen (Unternehmensinteresse)“.
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Aufsichtsratsmitglieder50. Dabei soll die Unabhängigkeit gewährleisten, dass die Aufsichtsratsmitglieder unvoreingenommen und objektiv ermitteln, was das Unternehmensinteresse ist51 und welche Handlungsmaxime im Einzelfall hieraus abzuleiten ist52. Die Unabhängigkeit soll verhindern, dass die Aufsichtsratsmitglieder insoweit Eigen- oder Fremdinteressen unangemessen und auf Kosten des stets übergeordneten Unternehmensinteresses berücksichtigen. Die Unabhängigkeit zielt also auf die Gewährleistung sachlicher Entscheidungen53. Demgegenüber bergen Interessenkonfl ikte, deren Ursprung verschiedener Art sein kann, die Gefahr in sich, dass sich das Aufsichtsratsmitglied bei seiner Amtsausübung von unternehmensfremden Zielen leiten lässt. In diesem Sinne sind Aufsichtsratsmitglieder richtigerweise dann unabhängig, wenn sie weder vorstands- noch interessenabhängig sind54. 2. Die Unabhängigkeit vom Vorstand Die Vorstandsunabhängigkeit ist bei einer fehlenden persönlichen Abhängigkeit der Aufsichtsräte vom Vorstand oder von einzelnen seiner Mitglieder gegeben55. Die Effektivität der Überwachungstätigkeit kann infrage gestellt sein, wenn keine hinreichende Distanz zwischen den Kontrolleuren und den zu Kontrollierenden gegeben ist, die Aufsichtsratsmitglieder also nicht unabhängig vom Vorstand sind56. An der gebotenen Unabhängigkeit kann es etwa fehlen, wenn Aufsichtsräte zu Vorständen persönliche Beziehungen pflegen57. Denn es kann zumindest nicht ausgeschlossen werden, dass die Existenz solcher Beziehungen, die familiärer oder außerfamiliärer Natur sein können, einem professionellen Kontrollverhältnis entgegensteht und zu einer suboptimalen Überwachungsleistung der Aufsichtsratsmitglieder führt. Kontrollschädliche Vorstandsabhängigkeiten können auch außerhalb von persönlichen Verbundenheiten auftreten, z. B. wenn die Aufsichtsratsmitglieder ihr Mandat den Vorstandsmitgliedern verdanken oder für dessen Verlängerung auf die Gunst
50 Kremer in Ringleb/Kremer/Lutter/v. Werder, Deutscher Corporate Governance Kodex, Kommentar, 4. Aufl. 2010, Rz. 1117; Semler/v. Schenck, Arbeitshandbuch für Aufsichtsratsmitglieder, 3. Aufl. 2009, § 12 Rz. 92. 51 Das „Unternehmensinteresse“ stellt einen der „schillerndsten Begriffe der modernen Gesellschaftsrechtswissenschaft“ dar, so Matthießen, Stimmrecht und Interessenkollision im Aufsichtsrat, Diss. Köln 1989, S. 388. Vgl. zur Thematik auch Brinkmann, Unternehmensinteresse und Unternehmensrechtskultur, Diss. Frankfurt/Bern 1983; Clemens Unternehmensinteresse – Betriebswirtschaftliche Begründung einer juristischen Norm, Diss. Frankfurt 1983; Jürgenmeyer, Das Unternehmensinteresse, Diss. Heidelberg 1984; Koch, Das Unternehmensinteresse als Verhaltensmaßstab der Aufsichtsratsmitglieder im mitbestimmten Aufsichtsrat einer Aktiengesellschaft, Diss. Frankfurt 1983 sowie Teubner, ZHR 149 (1985), 470 ff. 52 v. Werder/Wieczorek, DB 2007, 297, 298. 53 Druey in FS Doralt, 2004, S. 151, 163. 54 Zutr. v. Werder/Wieczorek, DB 2007, 297, 299. 55 v. Werder/Wieczorek, DB 2007, 297, 299. 56 Vgl. Oetker in Hommelhoff/Hopt/v. Werder (Hrsg.), Handbuch Corporate Governance, 2. Aufl. 2009, S. 277, 283; Lutter, EuZW 2009, 799, 804. 57 Aus rechtsvergleichender Perspektive vgl. Meder, Die persönliche Unabhängigkeit der Aufsichtsratsmitglieder und Directors in börsennotierten Aktiengesellschaften, Diss. Frankfurt 2010.
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der Vorstände angewiesen sind58. Eine Vorstandsabhängigkeit kann auch bestehen, wenn das Aufsichtsratsmitglied zur Gesellschaft eine Geschäftsbeziehung in bedeutendem Umfang unterhält oder aber vom Unternehmen entgeltliche Leistungen erhält, die über die Grundvergütung für die erbrachte Organtätigkeit hinausgehen, weil der Vorstand aufgrund seiner Geschäftsführungsbefugnis auf diese Rechtsbeziehungen Einfluss nehmen kann59. Dass die Unabhängigkeit des Aufsichtsrats vom Vorstand sicherzustellen ist, lässt sich dem geltenden Recht klar entnehmen. Dem Aktienrecht geht es um die Sicherstellung der Unabhängigkeit des Aufsichtsrats ohne Einflussnahmen durch den Vorstand oder Rücksichtnahmen auf Belange des Vorstands. Das überrascht angesichts der auf die Vorstandstätigkeit bezogenen Kontroll- und Überwachungsaufgabe, die dem Aufsichtsrat zugewiesen ist, nicht. § 105 Abs. 1 AktG verbietet es, dass ein Aufsichtsratsmitglied zugleich dem Vorstand angehört. § 100 Abs. 2 Nr. 2 AktG schließt eine Überkreuzverflechtung innerhalb von Konzernstrukturen aus. Die Unabhängigkeit des Aufsichtsrats vom Vorstand soll zudem durch die §§ 114, 115 AktG gesichert werden60. Im unmittelbaren Zusammenhang mit der persönlichen Unabhängigkeit von Aufsichtsratsmitgliedern steht § 124 Abs. 3 Satz 1 Halbsatz 2 AktG. Während grundsätzlich Vorstand und Aufsichtsrat die Pflicht obliegt, zu jedem Tagesordnungspunkt, zu dem die Hauptversammlung einen Beschluss fassen soll, einen Vorschlag zur Beschlussfassung zu unterbreiten, weist die Regelung das Vorschlagsrecht und die Vorschlagspflicht bei der Wahl von Aufsichtsratsmitgliedern ausschließlich dem Aufsichtsrat zu. Damit soll der Gefahr vorgebeugt werden, dass die Aufsichtsratsmitglieder deshalb in eine Abhängigkeit zum Vorstand geraten, weil sie ihr Mandat Mitgliedern der Geschäftsführung verdanken oder für dessen Verlängerung auf deren Unterstützung angewiesen sind61. 3. Interessenunabhängigkeit Die Interessenunabhängigkeit dient der unvoreingenommenen Verfolgung des Unternehmensinteresses62. Dabei geht es um das Risiko, dass eine Entscheidung im Aufsichtsrat durch andere Interessen beeinflusst wird als denjenigen des Unternehmens, für das die Entscheidung zu treffen ist63. Die Gefahr einer solchen Interessenabhängigkeit besteht namentlich bei Vertretern von Arbeitnehmern, Hausbanken, Lieferanten, Kunden und sonstigen Geschäftspartnern des Unternehmens64; sie besteht in ausgeprägter Form bei Wettbewerbern der Gesellschaft. Auch bei einem kontrollierenden Aktionär bzw. dessen Vertretern kann die Gefahr eines Interessenkonfl ikts in Betracht kommen, da die Interessen maßgeblich beteiligter Aktionäre nicht notwendigerweise parallel
58 v. Werder/Wieczorek, DB 2007, 297, 300; Roth/Wörle, ZGR 2004, 565, 578; Ulmer, AcP 202 (2002), 143, 161; Meder, DStR 2008, 1242, 1243. 59 Lieder, NZG 2005, 569, 570. 60 Kort, ZIP 2008, 717, 722. 61 v. Werder/Wieczorek, DB 2007, 297, 300; Meder, DStR 2008, 1242, 1243. 62 v. Werder/Wieczorek, DB 2007, 297, 299. 63 So allgemein Druey in FS Doralt, 2004, S. 151, 154. 64 v. Werder/Wieczorek, DB 2007, 297, 300.
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zu dem Unternehmensinteresse laufen müssen65. Allerdings müssen dann weitere, besondere Umstände zur Mitgliedschaft hinzutreten. Demgegenüber ist nicht ersichtlich, warum Großaktionäre als per se interessenabhängig und damit als nicht unabhängig im Sinne des AktG und des DCGK anzusehen sein sollen66. Jedenfalls existiert keine gesetzliche Vorschrift, die etwa mehrheitlich beteiligte Aktionäre daran hindert, selbst oder über Vertreter dem Aufsichtsrat anzugehören67 und Schlüsselpositionen im Aufsichtsrat einzunehmen. Im Gegenteil: Das Recht, die Anteilseignervertreter im Aufsichtsrat mit einfacher Mehrheit zu wählen oder in diesen zu entsenden (§ 101 Abs. 1 und Abs. 2 AktG) und die Privilegierung von Konzernmandaten (§ 100 Abs. 2 AktG) sind Ausdruck der gesetzlichen Anerkennung der Repräsentanz des Mehrheitsaktionärs im Aufsichtsrat. In diesem Zusammenhang verdient auch Beachtung, dass der Gesetzgeber bei den Unabhängigkeitsregelungen für Abschlussprüfer in diesem Kontext besonders streng ist. Gemäß § 319 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 HGB ist ein Wirtschaftsprüfer nämlich von der Abschlussprüfung u. a. bereits dann ausgeschlossen, wenn er oder eine Person, mit der er seinen Beruf gemeinsam ausübt, Anteile an der zu prüfenden Kapitalgesellschaft besitzt. 4. Die Beteiligung an der AG Dass die Beteiligung an der Gesellschaft, gleich in welchem Umfang, keine Vorstandsabhängigkeit im vorgenannten Sinne indiziert, liegt auf der Hand. Die Beziehung zwischen Anteilseigner, Mehrheits- oder Kontrollaktionär und Gesellschaft ist auch keine geschäftliche Beziehung im Sinne von Ziff. 5.4.2 Satz 2 DCGK68, wie Hoffmann-Becking es jüngst für möglich gehalten hat69, und erst recht keine, die einen Interessenkonfl ikt begründet. Fraglich könnte allenfalls sein, ob die Aktionärsstellung eine Interessenbindung nahelegt, von der zu vermuten ist, dass sie in Widerspruch zum Unternehmensinteresse steht. Tatsächlich richtig ist indessen das Gegenteil. Die Beteiligung an der Gesellschaft indiziert gerade keinen Widerspruch mit dem Unternehmensinteresse, sondern erlaubt bis zum Beweis des Gegenteils vielmehr die Vermutung einer Interessenausrichtung, die mit dem Unternehmensinteresse in Übereinstimmung steht. Zwar ist zuzugeben, dass die Interessen des Großaktionärs nicht zwangläufig mit dem Unternehmensinteresse im Einklang stehen müssen70. So ist es etwa vorstellbar, dass die kurzfristigen Ziele bloß vorübergehend investierter Großanleger dem langfristig zu bestimmenden Unternehmensinteresse zuwiderlaufen71. Die bloße Möglichkeit eines solchen Interessenkonflikts rechtfertigt aber nicht, die Unabhängigkeit des jeweiligen Aufsichtsratsmitglieds per se zu verneinen. Das ergibt sich bei näherem Zusehen auch aus den Wertungen des DCGK und der EU-Empfehlung. 65 v. Werder/Wieczorek, DB 2007, 297, 301. 66 Vgl. hierzu sogleich unter IV. 4. a). 67 Ausdrücklich LG Mannheim, AG 1991, 29, 30; Maushake, Audit Committees, Diss. Köln 2009, S. 353. 68 So auch Lieder, NZG 2005, 569, 571. 69 Hoffmann-Becking in FS Hüffer, 2009, S. 337, 349 f. 70 Hüffer, ZIP 2006, 637, 642; Spindler, ZIP 2005, 2033, 2041. 71 v. Werder/Wieczorek, DB 2007, 297, 301.
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a) Wertungen des DCGK und der EU-Empfehlung Obwohl der DCGK die Mehrheitsaktionärseigenschaft nicht in Bezug zur Unabhängigkeit setzt72, lassen sich seine Vorgaben im vorliegenden Kontext fruchtbar machen. Ziff. 5.4.2 Satz 2 DCGK gibt für die Feststellung der Unabhängigkeit ein rechtlich geordnetes Verfahren vor, das eine zweistufige Prüfung beinhaltet73. Auf der ersten Stufe ist zu ermitteln, ob zwischen dem jeweiligen Aufsichtsratsmitglied und der Gesellschaft oder ihrem Vorstand eine geschäftliche oder persönliche Beziehung besteht. Steht das Aufsichtsratsmitglied in keiner solchen Beziehung, ist die Unabhängigkeitsprüfung beendet. Besteht eine Beziehung, muss auf der zweiten Stufe untersucht werden, ob die Beziehung einen Interessenkonflikt begründet. Daraus folgt, dass nicht jede relevante Beziehung die Unabhängigkeit aufhebt, da andernfalls ein zweistufiger Prüfungsaufbau überflüssig wäre. Zwar besteht im Falle des Vorliegens einer Beziehung die Möglichkeit eines Interessenkonfl ikts. Ob ein solcher tatsächlich gegeben ist, muss jedoch anhand der Umstände im jeweiligen Einzelfall festgestellt werden. Reduziert man den Inhalt von Ziff. 13.1 der EU-Empfehlung, also deren zentrale Unabhängigkeitsregelung, auf den vorliegenden Untersuchungsgegenstand, ist ein Mitglied des Aufsichtsrats einer Gesellschaft unabhängig, „wenn es in keiner geschäftlichen, familiären oder sonstigen Beziehung zu […] ihrem Mehrheitsaktionär […] steht, die einen Interessenkonflikt begründet, der sein Urteilsvermögen beeinflussen könnte“. Dem lässt sich zunächst einmal entnehmen, dass die EU-Kommission ebenso wie der Kodex einen mehrstufigen Prüfungsaufbau vorsieht und nicht beim Vorliegen einer der genannten Beziehungen zum Mehrheitsaktionär bereits automatisch die Unabhängigkeit verneint74. Das wird von einem der Folgesätze der EU-Empfehlung weiter untermauert. Die EU-Empfehlung sagt selbst, dass ihre Vorgaben nicht unumstößliche Kriterien darstellen, bei deren Vorliegen schlechterdings von einer Abhängigkeit ausgegangen werden muss75. Nach Ziff. 13.2 Satz 1 der EU-Empfehlung handelt es sich lediglich um die leitlinienartige Beschreibung von „Beziehungen oder Umständen, die man normalerweise als materielle Interessenkonflikte potenziell herbeiführend anerkennt“. Nach Ziff. 13.2 Satz 3 der EU-Empfehlung kann der Aufsichtsrat bei seinen Überlegungen, ob ein Mitglied unabhängig ist, diese Frage selbst dann verneinen, wenn an sich alle Abhängigkeitskriterien erfüllt sind, aber aufgrund besonderer Umstände, die mit seiner Person oder der Gesellschaft zusammenhängen, als unabhängig angesehen werden kann. Dem ist zuzustimmen: Genau wie nicht jede persönliche Beziehung zu einem Vorstandsmitglied zwingend zur Abhängigkeit des Aufsichtsratsmitglieds führt76, wäre eine schematische Beantwortung der entsprechende Frage bei einem Mehrheitsaktionär nicht richtig. Wer das anders sieht, verwischt 72 Siehe hierzu II. 2. 73 Hüffer, ZIP 2006, 637, 641. 74 Bei einer strengen Auslegung der Regelung soll die Unabhängigkeitsuntersuchung offenbar anhand einer dreistufigen Prüfung ablaufen, da ansonsten der letzte Relativsatz der Regelung überflüssig wäre. 75 Gruber, NZG 2008, 12, 13. 76 Vgl. hierzu Meder, Die persönliche Unabhängigkeit der Aufsichtsratsmitglieder und Directors, Diss. Frankfurt 2010, S. 111 ff.
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den Unterschied zwischen der Möglichkeit einer Abhängigkeit und einer tatsächlichen Abhängigkeit und läßt die dargelegten Wertungen der EU- und der Kodex-Kommission außer Acht. Eine relevante Interessendivergenz ist also nicht per se aus dem Anteilsbesitz abzuleiten. Freilich kann sie sich aus einer relevanten Drittbeziehung ergeben, die mit der Anteilseignerstellung zusammenfallen mag, aber nicht muss. Dass demgegenüber die Höhe des Anteilsbesitzes für die Frage der Unabhängigkeit oder Abhängigkeit eines Aufsichtsratsmitglieds irrelevant ist, ergibt sich im Übrigen auch daraus, dass die Stimmkraft im Aufsichtsrat unabhängig ist von der Höhe der Beteiligung, über die das Aufsichtsratsmitglied oder derjenige, dem es sein Amt verdankt, verfügt. b) Besondere Legitimation und Eignung der Großaktionäre zur Überwachung Die (Groß-)Aktionäre sind wie keine andere Interessengruppe legitimiert, als Aufsichtsratsmitglieder den Vorstand, der über die Verwendung des von ihnen zur Verfügung gestellten Risikokapitals entscheidet, zu überwachen77. Angesichts der Funktion des Aufsichtsrats wäre eine generelle Mandatsversagung ebenso wie die Versagung von Schlüsselpositionen für diese Personengruppe geradezu kontraproduktiv. Gerade der Anteilsbesitz der Aufsichtsratsmitglieder erweist sich für die ihnen obliegende Kontrollaufgabe nämlich als besonders wertvoll78. Mit zunehmenden Anteilsbesitz steigt das Interesse des Anteilsinhabers an der Gesellschaft und damit einhergehend das Interesse an einer effi zienten Managementüberwachung. Das viel zitierte Collective-ActionProblem, das in Gesellschaften mit breit gestreutem Aktienbesitz auftritt und dazu führt, dass der einzelne Anteilsinhaber aufgrund seines Kosten-NutzenKalküls nur einen geringen Anreiz zur Managementüberwachung verspürt, da der Aufwand für die Informationsbeschaffung und deren Verarbeitung sowie die Koordination mit den anderen Anteilseignern und die Einleitung etwaiger Kontrollmaßnahmen prohibitiv hoch ist79, liegt in Gesellschaften mit einem (kontrollierenden) Großaktionär gerade nicht vor80. Ab einer gewissen Anteilsbeteiligung verfügt der Aktionär über einen derart hohen Kontrollanreiz, dass er geradezu als Garant für eine wirksame Managementüberwachung bezeichnet werden kann81. Deshalb ist das Principal-Agent-Problem82 bei Gesellschaften 77 Lieder, Der Aufsichtsrat im Wandel der Zeit, Diss. Jena 2006, S. 707 f.; Kropff in FS K. Schmidt, 2009, S. 1023, 1026 f. 78 Maushake, Audit Committees, Diss. Köln 2009, S. 354; Malik, Die neue Corporate Governance, 3. Aufl. 2002, S. 211. 79 Vgl. zum Collective-Action-Problem Levmore, Monitors and Freeriders in Commercial and Corporate Settings, Yale L. J. 92 (1982), 49, 53 f.; Easterbrook/Fischel, Voting in Corporate Law, J. L. & Econ. 26 (1983), 395–427; Coffee, Unstable Coalitions: Corporate Governance as a Multi-Player Game, GEO. L. J. 78 (1990), 1495, 1532 sowie Ruffner, Die ökonomischen Grundlagen eines Rechts der Publikumsgesellschaft, 2000, S. 174 ff. 80 Ähnlich Wackerbarth, ZGR 2005, 686, 715. 81 Maushake, Audit Committees, Diss. Köln 2009, S. 354. 82 Grundlegend Jensen/Meckling, Theory of the Firm: Managerial Behavior, Agency Costs and Ownership Structure, J. Fin. Econ. 3 (1976), 305, 308.
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mit einem Großaktionär ganz entscheidend entschärft83. Die Leitungsmacht des Groß- oder Mehrheitsaktionärs ist bei einer ökonomischen Betrachtung also eine Garantie dafür, dass das Management der Gesellschaft effi zient und bestmöglich überwacht wird, Agency Costs 84 reduziert werden und eine zu große Macht des Managements unmittelbar nicht entsteht85. Das gilt in dieser Allgemeinheit allerdings nur, wenn der Großaktionär seine potentiell gegebene Überwachungsmöglichkeit auch effi zient ausführen kann, indem er selbst im Kontrollorgan sitzt und dort Schlüsselpositionen, z. B. in wichtigen Ausschüssen, einnimmt oder sich entsprechend vertreten lässt86. Andernfalls würde man die Aufsicht über das Management weitgehend dem so genannten Markt für Unternehmenskontrolle überlassen. Damit verbindet sich die Annahme, dass der Kapitalmarkt selbst eine Kontrollfunktion gegenüber dem Management übernimmt87. Ökonomische Überlegungen sagen bei schlechten Leistungen des Managements ein Sinken des Aktienkurses und damit die Gefahr einer feindlichen Übernahme voraus. Der Markt für Unternehmenskontrolle unterwirft das Management einem ständigen Disziplinierungsdruck88, die Interessen der Aktionäre nicht zu missachten, und reduziert danach insofern den Principal-Agent-Konfl ikt89. Abgesehen davon, dass man indessen – selbst bei liquiden Wertpapiermärkten – voice nicht einfach durch exit90 ersetzen und die Kontrolle allein dem Markt überlassen kann91, würde aber auch das Konzept der Marktkontrolle durch ein Verdrängen von Mehrheitsaktionären aus den Kontrollpositionen im Aufsichtsrat erheblich gestört. Das Konzept basiert nämlich gerade darauf, dass der Erwerber in der übernommenen Gesellschaft etwas ändern, namentlich das Management auswechseln kann. Insofern wird der (Mehrheits-)Aktionär jedoch beschränkt, wenn man ihm den Weg in den Aufsichtsrat und dessen Schlüsselpositionen erschwert92. 5. Zwischenergebnis Danach ist festzuhalten, dass die Beteiligung an der Gesellschaft für sich genommen keinen Anlass gibt, die Unabhängigkeit des Repräsentanten des Aktionärs im Aufsichtsrat in Frage zu stellen. Vielmehr müssen weitere 83 Davies, ZGR 2001, 268, 290; Säcker, BB 2004, 1462, 1464. 84 Allgemein hierzu Jensen/Meckling, Theory of the Firm: Managerial Behavior, Agency Costs and Ownership Structure, J. Fin. Econ. 3 (1976), 305–360; Jensen, Agency Costs of Free Cash Flow, Corporate Finance and Takeovers, Am. Econ. Rev. 76 (1986), 323–339. 85 Wackerbarth, ZGR 2005, 686, 716. 86 Wackerbarth, ZGR 2005, 686, 717. 87 Grundlegend hierzu Manne, Mergers and the Market for Corporate Control, J. Political Economy 73 (1965), 110, 113. Vgl. auch Easterbrook/Fischel, Corporate Control Transactions, Yale L. J. 91 (1982), 698–731. 88 Ruffner, Die ökonomischen Grundlagen eines Rechts der Publikumsgesellschaft, 2000, S. 132. 89 Rock, AG 1995, 291, 293. 90 Zur Balance zwischen externer und interner Kontrolle grundlegend Hirschman, Exit, Voice and Loyalty, 1970. 91 Buxbaum, The Internal Division of Powers in Corporate Governance, Calif. L. Rev. 73 (1985) 1671–1734. 92 Wackerbarth, ZGR 2005, 686, 712.
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Umstände hinzutreten, die die Vermutung rechtfertigen, dass der durch die Mitgliedschaft grundsätzlich indizierte Gleichklang mit dem Unternehmensinteresse durch sachwidrige Fremdeinflüsse aufgehoben ist.
V. Die Belange der Minderheitsaktionäre 1. Rechtspolitisches Anliegen Eine andere Frage ist, ob man dem rechtspolitischen Anliegen der EU-Empfehlung nähertreten und zumindest auf Kodexebene Vorkehrungen dafür treffen möchte, dass bei Gesellschaften mit Streubesitz der Mehrheitsaktionär nicht sämtliche Sitze im Aufsichtsrat und in dessen Ausschüssen für sich beansprucht. Dafür mag man Gründe anführen können, doch sollte in diesem Kontext darauf geachtet werden, dass nicht künstlich ein Interessengegensatz zwischen verschiedenen Gruppen von Anteilseignern aufgebaut wird, den es über weite Strecken nicht gibt, da ein Interessengleichlauf besteht93. Darüber hinaus ist zu beachten, dass jedwede Einschränkung des Mehrheitsaktionärs, sich oder seine Vertreter in den Aufsichtsrat zu wählen, das im Rahmen der Unternehmensmitbestimmung genau austarierte Verhältnis zwischen Arbeitsnehmer- und Anteilseignervertreter stören kann94. Eine entsprechende Vorgabe würde nämlich je nach Sachlage die Möglichkeit eröffnen, gegen den Willen der Anteilseigner über das im Unternehmen investierte Kapital zu entscheiden95. Mit Recht ist deshalb vor dem Hintergrund des deutschen Mitbestimmungsrechts davon Abstand genommen worden, gesetzlich oder auf Ebene des Kodex die Aufnahme eines Minderheitsvertreters in den Aufsichtsrat verbindlich vorzugeben96. 2. Die Lösung des Österreichischen Corporate Governance-Kodex (ÖCGK) Wollte man dennoch das rechtspolitische Anliegen der EU-Kommission aufgreifen, sollte rechtstechnisch der ÖCGK als Regelungsvorbild dienen. Nach diesem hat der Umstand, dass ein Aufsichtsratsmitglied zugleich Anteilseigner mit einer Beteiligung von mehr als 10 % oder dessen Vertreter ist, keine Auswirkungen auf dessen Unabhängigkeit97, wie sich aus dem Gefüge der Ziff. 53, 54 ÖCGK ergibt: Gemäß Ziff. 53 Abs. 1 ÖCGK soll die Mehrheit der Anteilseignervertreter im Aufsichtsrat unabhängig sein. Nach Abs. 1 von Ziff. 54 ÖCGK
93 BDI/bankenverband/DAI/DIHK/GDV: Gemeinsame Stellungnahme zu den Entwürfen der Generaldirektion Binnenmarkt der Europäischen Kommission für eine Empfehlung zur „Stärkung der Rolle von nicht geschäftsführenden Direktoren und Aufsichtsratsmitgliedern“ sowie zur „Förderung einer geeigneten Regelung für die Vergütung von Direktoren“, NZG 2004, 1052. 94 So zu Recht Gofferje, Unabhängigkeit als persönliche Voraussetzung für Aufsichtsratsmitglieder, Diss. Freiburg 2007, S. 249 f. 95 Beyer, Minderheitenvertreter im Aufsichtsrat, Diss. 2001, geht von einer Überwindbarkeit der mitbestimmungsrechtlichen Probleme durch Stimmbindung der Minderheitenvertreter aus, S. 366, 376 ff. 96 Ausführlich hierzu Hopt/Roth in Großkomm. AktG, 4. Aufl. 2005, § 101 AktG Rz. 57. 97 Ein ähnliches Regelungsgefüge fi ndet sich im Finnischen Corporate GovernanceKodex; siehe dort Empfehlung 13, 14.
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soll bei Gesellschaften mit einem Streubesitz von mehr als 20 % unter diesen unabhängigen Mitgliedern mindestens eine Person sein, die nicht Anteilseigner mit einer Beteiligung von mehr als 10 % ist oder dessen Interessen vertritt. Besteht die Anteilseignerseite beispielsweise aus zehn Personen, müssen sechs von diesen unabhängig sein (Ziff. 53 Abs. 1 ÖCGK). Von diesen sechs Personen, darf eine Person kein Anteilseigner mit einer Beteiligung von mehr als 10 % oder dessen Vertreter sein (Ziff. 54 Abs. 1 ÖCGK), was im Umkehrschluss bedeutet, dass die restlichen fünf unabhängigen Mitglieder Anteilseigner mit einer Beteiligung in genannter Höhe oder dessen Vertreter sein dürfen, ohne den Status eines unabhängigen Aufsichtsratsmitglieds zu verlieren. Regelungstechnisch werden damit klar abgegrenzte Tatbestände formuliert und die mit der Unbestimmtheit des Unabhängigkeitsbegriffs verbundenen Rechtsunsicherheiten vermieden98.
VI. Schlussbemerkung Zusammenfassend ist festzuhalten: 1. Die Beteiligung an der Aktiengesellschaft ist kein Tatbestand, der es rechtfertigen könnte, von einer fehlenden Unabhängigkeit des Aktionärs oder seines Repräsentanten im Aufsichtsrat auszugehen. Im Gegenteil: Die Beteiligung an der Gesellschaft indiziert Deckungsgleichheit mit dem Unternehmensinteresse. 2. Die Unabhängigkeit des Aufsichtsratsmitglieds kann durch exogene Interessenbindungen aufgehoben sein, insbesondere bei einer wirtschaftlichen Interessenbindung, die mit dem Unternehmensinteresse nicht in Deckung zu bringen ist und deshalb Anlass zu der Annahme gibt, dass das Aufsichtsratsmitglied sich bei seiner Amtsführung vorrangig an dieser Interessenbindung und nicht am Unternehmensinteresse orientieren wird. Liegt es so, wie etwa bei einem Wettbewerber der Gesellschaft, ist es indessen irrelevant, ob der Aktionär oder sein Repräsentant im Aufsichtsrat zugleich eine Beteiligung an der Gesellschaft hält, insbesondere ist es kein taugliches Abgrenzungsmerkmal, zwischen Kontrollbeteiligung einerseits und einer Beteiligung unterhalb der Kontrollschwelle andererseits zu differenzieren. Die Mitgliedschaft in der Gesellschaft ist überhaupt kein relevantes Datum, soweit es um die Frage der Unabhängigkeit oder Abhängigkeit von Aufsichtsratsmitgliedern geht.
98 § 87 Abs. 4 öAktG normiert ein Wahlverfahren, das gewährleistet, dass auch tatsächlich ein Minderheitsvertreter in den Aufsichtsrat gewählt werden kann: „Wenn dieselbe Hauptversammlung wenigstens drei Aufsichtsratsmitglieder zu wählen hat und sich vor der Abstimmung über die letzte zu besetzende Stelle ergibt, dass wenigstens ein Drittel aller abgegebenen Stimmen bei allen vorangegangenen Wahlen zugunsten derselben Person, aber ohne Erfolg abgegeben wurde, muss diese Person ohne weitere Abstimmung als für die letzte Stelle gewählt erklärt werden, sofern sie auch für diese Stelle kandidiert. Diese Bestimmung ist so lange nicht anzuwenden, als sich im Aufsichtsrat ein Mitglied befindet, das auf diese Art durch die Minderheit gewählt wurde.“ Ausführlich hierzu Kalss in MünchKomm. AktG, 3. Aufl. 2008, § 101 AktG Rz. 103 ff.
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3. Es mag rechtspolitisch wünschenswert erscheinen, in Gesellschaften mit Aktionären, die eine Kontrollbeteiligung halten, sicher zu stellen oder zumindest im Sinne eines Comply-or-Explain-Systems anzustreben, dass im angemessenen Umfang die Minderheitsaktionäre im Aufsichtsrat repräsentiert sind, der Mehrheitsaktionär also nicht den gesamten Aufsichtsrat besetzt. Will man dieses Anliegen verfolgen, sollte dies indessen nicht unter dem denkbar unscharfen und in diesem Zusammenhang der Sache nach unpassenden Begriff der Unabhängigkeit geschehen. Mit Recht wählt der ÖCGK einen anderen Regelungsmechanismus.
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Beschaffung von restricted shares zur Vergütung von Führungskräften Inhaltsübersicht I. Einführung II. Erfüllung mit zurückerworbenen eigenen Aktien 1. Rückerwerb und Wiederausgabe nach § 71 Abs. 1 Nr. 2 AktG a) Zulässigkeit von Aktienvergütungsprogrammen auf Grundlage von § 71 Abs. 1 Nr. 2 AktG b) Praktische Grenzen der Nutzung für Aktienvergütungsprogramme 2. Rückerwerb und Wiederausgabe nach § 71 Abs. 1 Nr. 8 AktG a) Entsprechende Anwendung von § 186 Abs. 3, 4 AktG b) Entsprechende Anwendbarkeit von § 193 Abs. 2 Nr. 4 AktG?
III. Erfüllung mit neuen Aktien aus einer Kapitalerhöhung 1. Aktienausgabe auch an Vorstandsmitglieder 2. Barkapitalerhöhung nach § 204 Abs. 3 Satz 1 AktG 3. Sachkapitalerhöhung 4. Bezugsrechtsausschluss IV. Kombinationslösung: Verwendung eigener Aktien aus Kapitalerhöhung 1. Grundzüge des Verfahrens 2. Voraussetzungen des Erwerbs und der Verwendung eigener Aktien 3. Voraussetzungen der Kapitalerhöhung V. Zusammenfassung der Ergebnisse
I. Einführung Ein verbreitetes Vergütungselement bei der Vergütung von Vorstandsmitgliedern und sonstigen Führungskräften einer (börsennotierten) Aktiengesellschaft sind Aktien der Gesellschaft. Zwar sind an bestimmte Erfolgsziele geknüpfte „Aktienoptionsprogramme“1, die seit Mitte der 1990er Jahre eine große Rolle gespielt hatten 2, selten geworden. Zweifel an der Motivationswirkung, die Sorge vor negativen Anreizen in Form einer Fokussierung auf die nicht nachhaltige Steigerung des Börsenkurses, Kritik an unzureichender Transparenz und die Befürchtung unangemessen hoher Bezüge 3 haben zu Skepsis gegenüber diesem
1 Bei Aktienoptionsprogrammen sind Führungskräfte zum Bezug von Aktien zu einem im Vorfeld bestimmten Preis berechtigt (aber nicht verpfl ichtet). Zu Aktienoptionsprogrammen etwa Holzborn in Marsch-Barner/Schäfer, Handbuch börsennotierte AG, 2. Aufl. 2009, § 53 Rz. 1 ff. 2 Nähere Angaben zur Verbreitung von Stock Options in Deutschland und im Ausland bei von Rosen/Leven in Harrer, Mitarbeiterbeteiligungen und Stock-Option-Pläne, 2. Aufl. 2004, Rz. 57 ff.; Kohler, ZHR 161 (1997), 246, 249 ff.; Claussen, WM 1997, 1825, 1826; Käpplinger, Inhaltskontrolle von Aktienoptionsplänen, 2003, S. 15 f.; Scheuer, Aktienoptionen als Bestandteil der Arbeitnehmervergütung in den USA und der Bundesrepublik Deutschland, 2004, S. 15 ff. 3 Vgl. zu diesen Kritikpunkten etwa Fuchs in MünchKomm. AktG, 2. Aufl. 2005, § 192 AktG Rz. 69 ff.; Lutter, ZIP 2003, 737, 739 ff.
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Vergütungsmodell geführt4. Beliebt ist heute aber die Gewährung von Aktien der Gesellschaft ohne spezielles Erfolgsziel, allerdings verbunden mit der Verpfl ichtung des Begünstigten, die Aktien langfristig zu halten, also eine Vergütung mittels Aktien mit mehrjähriger Veräußerungssperre5. Alternativ werden die Aktien nicht sofort mit mehrjähriger Veräußerungssperre übertragen, sondern umgekehrt erst nach einer mehrjährigen Wartefrist gewährt (sind dann aber sofort frei verfügbar). Dies läuft wirtschaftlich auf das Gleiche hinaus. In beiden Fällen wird auch von „restricted shares“ gesprochen. Auch im Übrigen sind die derzeit üblichen Gestaltungsformen solcher Vergütungsmodelle unterschiedlich. Manche Gesellschaften gewähren ihren Führungskräften jährlich eine bereits im Vorfeld festgelegte Anzahl an Aktien der Gesellschaft. In anderen Fällen erhalten Führungskräfte einen Teil des von anderen Erfolgselementen abhängigen Jahresbonus in Aktien „ausgezahlt“, die sie sodann einige Jahre halten müssen, bevor sie darüber verfügen dürfen. Wieder andere Gesellschaften legen es ihren Führungskräften nahe oder verpfl ichten sie, in bestimmtem Umfang selbst Aktien der Gesellschaft am Markt zu erwerben und honorieren dieses Investment mit der Zusage, nach Ablauf einer mehrjährigen Haltefrist zusätzlich Aktien zu gewähren6. In allen Fällen hat die Gesellschaft oft ein Wahlrecht, ob sie den entstandenen Anspruch des Begünstigten in Aktien oder in Geld erfüllt (der Begünstigte hat dann also „nur“ einen Anspruch auf Erhalt von Aktien oder Geld). Ziel solcher Regelungen ist es, ein langfristiges Investment der Führungskräfte in Aktien der Gesellschaft herbeizuführen und auf diese Weise ein wirtschaftliches Interesse an einer langfristig positiven Entwicklung des Aktienkurses zu erzeugen. Solche Gestaltungsformen sollen also dazu beitragen, die Vergütungsstruktur der Gesellschaft auf eine nachhaltige Unternehmensentwicklung auszurichten, wie § 87 Abs. 1 Satz 2 AktG es seit Inkrafttreten des VorstAG7 für Vorstandsmitglieder börsennotierter Aktiengesellschaften verlangt8. Allen Vergütungsmodellen, die auf restricted shares beruhen, ist die Frage gemein, wie sich die Gesellschaft für diese Zwecke geeignete Aktien verschafft. 4 Vgl. dazu nur Ringleb in Ringleb/Kremer/Lutter/v. Werder, Deutscher Corporate Governance Kodex, 3. Aufl. 2008, Rz. 751. 5 Anders als bei Aktienoptionsprogrammen erhält der Begünstigte restricted shares ohne monetäre Gegenleistung in Form eines vorher festgelegten Preises. Zu diesen und weiteren, im folgenden wichtigen Unterschieden zwischen Aktienoptionsprogrammen und restricted shares siehe II. 2. b) aa). 6 Beispiel: Das Vorstandsmitglied kann bis zu 50 % des Jahresbonus zum Erwerb von Aktien der Gesellschaft verwenden, die mindestens für die Dauer von vier Jahren zu halten sind. Nach Ablauf der Haltefrist gewährt die Gesellschaft dem Vorstandsmitglied für je drei von diesem erworbene Aktien der Gesellschaft eine weitere Aktie. 7 Gesetz zur Angemessenheit der Vorstandsvergütung v. 31.7.2009, BGBl. I, S. 2509. 8 Es handelt sich zwar nicht um einen variablen Vergütungsbestandteil mit mehrjähriger Bemessungsgrundlage i. S. v. § 87 Abs. 1 Satz 3 AktG. Aber eine Regelung, wonach ein erfolgsabhängiger Jahresbonus in Form von Aktien gewährt wird oder vollständig oder zu einem erheblichen Teil in Aktien der Gesellschaft angelegt werden muss und die so erworbenen Aktien erst nach einer mehrjährigen Sperrfrist veräußert werden können, steht einem variablen Vergütungsbestandteil mit mehrjähriger Bemessungsgrundlage gleich, da das variable Vergütungselement (Jahresbonus) auch bei dieser Gestaltung während der mehrjährigen Sperrfrist an negativen Entwicklungen teilnimmt, vgl. Hoffmann-Becking/Krieger, Beilage zu NZG 2009, Heft 26, Rz. 24.
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Beschaffung von restricted shares zur Vergütung von Führungskräften
In Betracht kommen die Verwendung eigener Aktien (dazu unter II.), eine Erfüllung mit neuen Aktien aus einer Kapitalerhöhung (dazu unter III.) oder aber eine Kombination aus diesen Lösungen (dazu unter IV.). Insbesondere die Verwendung eigener Aktien und die „Kombinationslösung“ stoßen auf rechtliche Schwierigkeiten. Die drei Modelle sollen im Folgenden dargestellt werden. Dabei wird der Schwerpunkt auf Vergütungsmodelle zugunsten von Führungskräften gelegt, die unmittelbar für die (börsennotierte) Aktiengesellschaft tätig sind. Nur am Rande erwähnt werden an einigen Stellen zusätzliche Fragen im Hinblick auf Organmitglieder und sonstige Führungskräfte von Tochtergesellschaften, die mit Aktien der Muttergesellschaft vergütet werden sollen.
II. Erfüllung mit zurückerworbenen eigenen Aktien Als Grundlage für den Erwerb und die Verwendung eigener Aktien im Rahmen von aktienbasierten Vergütungsprogrammen kommen die Erlaubnistatbestände nach § 71 Abs. 1 Nr. 2 und Nr. 8 AktG in Betracht. Mit den jeweiligen rechtlichen Vorgaben in Einklang zu bringen – und im Folgenden stets sauber zu unterscheiden – sind der (Rück-)Erwerb der eigenen Aktien einerseits und die Wiederausgabe bzw. Verwendung der Aktien durch die Gesellschaft zur Erfüllung von Vergütungsansprüchen von Führungskräften andererseits. 1. Rückerwerb und Wiederausgabe nach § 71 Abs. 1 Nr. 2 AktG Die Gesellschaft darf eigene Aktien nach § 71 Abs. 1 Nr. 2 AktG erwerben, wenn die Aktien Personen, die im Arbeitsverhältnis zu der Gesellschaft (oder einem mit ihr verbundenen Unternehmen) stehen oder standen, zum Erwerb angeboten werden sollen. a) Zulässigkeit von Aktienvergütungsprogrammen auf Grundlage von § 71 Abs. 1 Nr. 2 AktG Nicht einhellig beantwortet wird, ob § 71 Abs. 1 Nr. 2 AktG nur den Erwerb eigener Aktien erlaubt, die den Mitarbeitern im Rahmen der „klassischen“ Mitarbeiterbeteiligung durch „Belegschaftsaktien“ zum Kauf angeboten werden sollen, oder ob auch die Bedienung von Aktienvergütungsprogrammen zulässiger Erwerbszweck sein kann. Die Frage wird in der Literatur zwar nicht für restricted shares, wohl aber für Aktienoptionsprogramme erörtert: Teilweise wird angenommen, dass der Erwerb eigener Aktien zur Bedienung eines Aktienoptionsprogramms nicht auf § 71 Abs. 1 Nr. 2 AktG gestützt werden könne. Dies ergebe sich zunächst aus der Gesetzesformulierung, wonach Voraussetzung ist, dass die Aktien den Begünstigten „zum Erwerb“ angeboten werden sollen. Davon sei nur eine Übertragung der Aktien durch Verkehrsgeschäft erfasst, an dem es bei Aktienoptionsprogrammen fehle. Die Notwendigkeit eines Verkehrsgeschäfts ergebe sich daraus, dass jedenfalls der Erwerb durch die Gesellschaft durch ein Verkehrsgeschäft zu erfolgen habe (diese Prämisse wird allerdings nicht begründet) und es kaum angenommen werden könne, dass der Erwerbsbegriff in derselben Vorschrift in unterschiedlichem Sinne 183
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verwandt werde9. Auch der ursprüngliche Zweck des § 71 Abs. 1 Nr. 2 AktG, die unkomplizierte Ausgabe von „klassischen“ Belegschaftsaktien zu fördern, gebiete die Anwendung auf Aktienbezugsprogramme nicht. Außerdem könne andernfalls § 193 Abs. 2 Nr. 4 AktG umgangen werden, dessen entsprechende Anwendung in § 71 Abs. 1 Nr. 8 Satz 5 AktG angeordnet wird10. Darüber hinaus diene § 71 Abs. 1 Nr. 2 AktG dem sozialpolitischen Ziel der Umverteilung von Produktivvermögen, nicht aber der Unterstützung der Schaffung von Leistungsanreizen durch Aktienoptionsprogramme11. Die richtige Gegenmeinung hält den Erwerb eigener Aktien zum Zwecke der Bedienung von Aktienoptionsprogrammen im Rahmen von § 71 Abs. 1 Nr. 2 AktG für möglich. Das Wortlautargument, wonach ein „Erwerb“ durch Verkehrsgeschäft vorliegen müsse, greift nicht, weil nach herrschender Meinung im Rahmen von § 71 Abs. 1 Nr. 2 AktG sogar Gratisaktien ausgegeben werden können12, so dass erst Recht die Ausgabe zur Bedienung von Optionen möglich sein muss13. Die Gefahr, dass § 193 Abs. 2 Nr. 4 AktG unterlaufen wird, besteht nicht. Die entsprechende Anwendung dieser Vorschrift im Rahmen von § 71 Abs. 1 Nr. 8 Satz 5 AktG ist nach wohl herrschender Meinung vor allem wegen des zu befürchtenden Interessenkonfl ikts bei der Begünstigung von Organwaltern erforderlich, die aber im Rahmen von § 71 Abs. 1 Nr. 2 AktG ohnehin nicht als Begünstigte in Betracht kommen14. Auch die Begrenzung der Norm auf sozialpolitische Ziele überzeugt nicht, weil dies zwar zweifellos ein Motiv für die Einführung der Vorschrift gewesen ist, sich in deren Wortlaut aber nicht niedergeschlagen hat15. Es bleibt allerdings festzuhalten, dass bis zu einer Klarstellung durch den Gesetzgeber oder zumindest einer obergerichtlichen Entscheidung für die Praxis ein rechtliches Risiko besteht, dass ein Gericht den Erwerb eigener Aktien zur Wiederausgabe als variable Vergütungskomponente für unzulässig halten 9 Hüffer, ZHR 161 (1997), 214, 220 f., ihm folgend auch Wiesner in MünchHdb. AG, 3. Aufl. 2007, § 15 Rz. 13; Zitzewitz, Stock Options, 2003, S. 89; zweifelnd auch Rieckers in Spindler/Stilz, 2007, § 192 AktG Rz. 55; i. E. auch Bezzenberger in K. Schmidt/Lutter, 2008, § 71 AktG Rz. 60. 10 Hüffer, ZHR 161 (1997), 214, 220 f. unter Hinweis auf Begr. zum RefE des KonTraG, Stand: 22.11.1996, S. 27 f.: Erweiterung zulässigen Eigenerwerbs durch § 71 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AktG sei „nicht gedacht“ für Aktienoptionspläne; vgl. – etwas zurückhaltender – auch Hüffer, 9. Aufl. 2010, § 71 AktG Rz. 12. 11 Weiß, Aktienoptionspläne für Führungskräfte, 1999, S. 242 ff. 12 Vgl. dazu etwa Merkt in Großkomm. AktG, 4. Aufl. 2007, § 71 AktG Rz. 198; Lutter/ Drygala in KölnKomm. AktG, 3. Aufl. 2009, § 71 AktG Rz. 82; i. E. auch Cahn in Spindler/Stilz, 2007, § 71 AktG Rz. 64. 13 Weiß, Aktienoptionspläne für Führungskräfte, 1999, S. 242 f., der aber im Ergebnis die Anwendbarkeit von § 71 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AktG auf Aktienoptionspläne aus anderen, sozialpolitischen Gründen ablehnt. 14 Umnuß/Ehle, BB 2002, 1042, 1043; Martens, AG 1997, Sonderheft August, 83, 84. Zur Ratio der Verweisung auf § 193 Abs. 2 Nr. 4 AktG in § 71 Abs. 1 Nr. 8 Satz 5 AktG siehe aber noch unten II. 2. b) bb). 15 Oechsler in MünchKomm. AktG, 3. Aufl. 2008, § 71 AktG Rz. 138; vgl. i. E. auch schon – allerdings ohne Begründung – Uwe H. Schneider, ZIP 1996, 1772; i. E. auch Cahn in Spindler/Stilz, 2007, § 71 AktG Rz. 64; Wieneke in Bürgers/Körber, 2008, § 71 AktG Rz. 19, der aber „aus Gründen der Rechtssicherheit“ einen „(zusätzlichen) Beschluss nach § 71 Abs. 1 Nr. 8 AktG“ empfiehlt.
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könnte16. Zwischen Aktienoptionsprogrammen und restricted shares besteht insofern kein Unterschied. b) Praktische Grenzen der Nutzung für Aktienvergütungsprogramme Selbst wenn man mit der wohl herrschenden Meinung § 71 Abs. 1 Nr. 2 AktG als ausreichende Grundlage ansieht, um eigene Aktien zum Zweck der Wiederausgabe als variable Vergütungskomponenten zu erwerben, ist die Norm bei näherer Betrachtung in der Praxis zur Umsetzung von aktienbasierten Vergütungsmodellen nur bedingt geeignet. aa) Nach herrschender Meinung besteht für die Gewährung von Aktien an Arbeitnehmer der Gesellschaft eine immanente Volumenbeschränkung. Diese Überlegung beruht auf der sozialpolitischen Natur der Vorschrift, dem fehlenden Erfordernis der Beteiligung der Hauptversammlung, dem bei Wiederausgabe der Aktien bestehenden gesetzlichen Bezugsrechtsausschluss und der – in gewissem Umfang – bestehenden Zulässigkeit der Wiederausgabe der Aktien unterhalb des Börsenkurses ohne Möglichkeit der Anfechtung nach § 255 Abs. 2 AktG. Nach einer vereinzelten engen Auffassung besteht ein Zusammenhang zwischen § 71 Abs. 1 Nr. 2 AktG und den Regelungen über die steuerliche Begünstigung des verbilligten Erwerbs eigener Aktien (§ 3 Nr. 39 EStG, der den aufgehobenen § 19a EStG a. F. ersetzt); danach würde sich der zulässigerweise zu gewährende Vorteil in einer Größenordnung von derzeit 360 Euro im Jahr pro begünstigtem Mitarbeiter bewegen. Nach anderer Auffassung ergibt sich eine Begrenzung aus dem in der Unternehmenspraxis Üblichen und Angemessenen17. Eine genaue Grenzziehung ist nicht möglich. Es besteht aber jedenfalls die Gefahr, dass Vorteile in Form verbilligter oder ohne monetäre Gegenleistung ausgegebener Aktien, deren Umfang das Volumen herkömmlicher Belegschaftsaktienprogramme deutlich übersteigt, von § 71 Abs. 1 Nr. 2 AktG nicht gedeckt wären. Vereinzelt wird darüber hinaus vertreten, dass aufgrund des sozialpolitischen Zwecks des Ausnahmetatbestandes eine möglichst breite Beteiligung der Arbeitnehmer geboten sei, wie dies § 3 Nr. 39 EStG (anders als noch § 19a EStG a. F.) für eine steuerliche Begünstigung verlangt18. Auch das ist problematisch, wenn Aktien als Vergütung (nur) für Führungskräfte eingesetzt werden sollen. bb) Darüber hinaus und vor allem bezieht sich die Erlaubnis in § 71 Abs. 1 Nr. 2 AktG nur auf den Erwerb eigener Aktien zur Wiederausgabe an (aktive und ehemalige) Arbeitnehmer. Die Vorschrift hat ihren Vorläufer in § 65 AktG 1937 in der Fassung des Gesetzes über die Kapitalerhöhung aus Gesellschaftsmitteln und über die Gewinn- und Verlustrechnung19, der geschaffen wurde, um den
16 Zu den Rechtsfolgen eines solchen Verstoßes siehe allgemein Lutter/Drygala in KölnKomm. AktG, 3. Aufl. 2009, § 71 AktG Rz. 245 ff. 17 Hüffer, 9. Aufl. 2010, § 71 AktG Rz. 12; Oechsler in MünchKomm. AktG, 3. Aufl. 2008, § 71 AktG Rz. 132. 18 Schroeder, Finanzielle Unterstützung des Aktienerwerbs, 1995, S. 222; a. A. Merkt in Großkomm. AktG, 4. Aufl. 2007, § 71 AktG Rz. 198. 19 Gesetz über die Kapitalerhöhung aus Gesellschaftsmitteln und über die Gewinn- und Verlustrechnung v. 23.12.1959, BGBl. I, S. 789. Vgl. zur Entstehungsgeschichte auch Oechsler in MünchKomm. AktG, 3. Aufl. 2008, § 71 AktG Rz. 134.
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Erwerb von Belegschaftsaktien zu begünstigen. Wortlaut und Gesetzeszweck schließen es aus, die Vorschrift auf Organmitglieder zu erstrecken 20. Insoweit kommt für eine Bedienung mit eigenen Aktien nur eine Ermächtigung gemäß § 71 Abs. 1 Nr. 8 AktG in Betracht. 2. Rückerwerb und Wiederausgabe nach § 71 Abs. 1 Nr. 8 AktG Damit kommt als Grundlage für eine aktienbasierte Vergütung mittels eigener Aktien in praxi oft nur § 71 Abs. 1 Nr. 8 AktG in Frage. Gemäß dessen Satz 1 darf eine Gesellschaft eigene Aktien aufgrund einer höchstens fünf Jahre geltenden Ermächtigung der Hauptversammlung erwerben. Der erste Schritt, also der Erwerb der Aktien auf Grundlage dieser Vorschrift, ist regelmäßig unproblematisch. Zwar gilt dabei, wie das Gesetz klarstellt, die allgemeine Pfl icht alle Aktionäre unter gleichen Voraussetzungen gleich zu behandeln (§ 71 Abs. 1 Nr. 8 Satz 3 i. V. m. § 53a AktG). Dem wird jedoch, wie ebenfalls gesetzlich klargestellt wird, durch einen Erwerb über die Börse genügt (§ 71 Abs. 1 Nr. 4 AktG). Im Übrigen macht die Vorschrift – abgesehen von einem hier nicht relevanten Verbot des Erwerbs zum Zweck des Handels in eigenen Aktien (§ 71 Abs. 1 Nr. 8 Satz 2 AktG) – keine Vorgaben hinsichtlich des Erwerbszwecks. Das Problem liegt in der Wiederausgabe (das Gesetz spricht von „Veräußerung“) der so erworbenen eigenen Aktien als restricted shares an ausgewählte Führungskräfte. Diese Übergehung der Aktionäre und Veräußerung außerhalb der Börse setzt einen Hauptversammlungsbeschluss voraus und erfordert darüber hinaus und vor allem nach dem Gesetzeswortlaut die „entsprechende“ Anwendung von § 186 Abs. 3, 4 und § 193 Abs. 2 Nr. 4 AktG. Was bedeutet dies im Zusammenhang mit Vergütungsmodellen auf der Basis von restricted shares? a) Entsprechende Anwendung von § 186 Abs. 3, 4 AktG Aufgrund der entsprechenden Anwendung von § 186 Abs. 3, 4 AktG muss ein Hauptversammlungsbeschluss, der den Vorstand ermächtigt, eigene Aktien anders als über die Börse oder durch Angebot an alle Aktionäre zu veräußern, bestimmten förmlichen Anforderungen (Bekanntmachung, Vorstandsbericht, Mehrheiten) genügen, wie sie an einen Ausschluss des Bezugsrechts bei einer Kapitalerhöhung zu stellen sind. Darüber hinaus verlangen Rechtsprechung und Literatur, dass ein Bezugsrechtsausschluss sich auch materiell rechtfertigen lässt und der damit verbundene Eingriff in die Interessen der Aktionäre verhältnismäßig ist21. Eine solche sach20 Allgemeine Meinung, vgl. etwa Hüffer, 9. Aufl. 2010, § 71 AktG Rz. 12; Oechsler in MünchKomm. AktG, 3. Aufl. 2008, § 71 AktG Rz. 132; Kort, NZG 2008, 823, 824; Weiß, Aktienoptionspläne für Führungskräfte, 1999, S. 240 ff. m. w. N. 21 BGHZ 71, 40, 46 – Kali & Salz; BGHZ 83, 319, 320 – Holzmann; BGHZ 125, 239, 241 – Deutsche Bank; eingehend Lutter in KölnKomm. AktG, 2. Aufl. 1995, § 186 AktG Rz. 59 ff.; Peifer in MünchKomm. AktG, 2. Aufl. 2005, § 186 AktG Rz. 71 ff.; Hüffer, 9. Aufl. 2010, § 186 AktG Rz. 25 ff.; Krieger in MünchHdb. AG, 3. Aufl. 2007, § 56 Rz. 76 ff.
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liche Rechtfertigung wird man bei der Ermächtigung, eigene Aktien anders als über die Börse oder durch Angebot an alle Aktionäre zu veräußern, ebenfalls fordern müssen 22. Die Möglichkeit eines erleichterten Bezugsrechtsausschlusses nach § 186 Abs. 3 Satz 4 AktG steht für die hier in Rede stehenden Gestaltungen nicht zur Verfügung, weil die Ausgabe von Aktien mit erleichtertem Bezugsrechtsausschluss nur zulässig ist, wenn sie gegen Bareinlagen erfolgt und der Ausgabebetrag den Börsenpreis nicht wesentlich unterschreitet. Bei aktienbasierten Vergütungen hingegen liegt die Gegenleistung für die Gewährung der Aktien in der Arbeitsleistung der Führungskräfte, es erfolgt also keine Bareinlage. Die sachliche Rechtfertigung der Aktiengewährung ist gleichwohl meist unproblematisch. Denn die Gewährung von Aktien mit mehrjähriger Veräußerungssperre ist eine Vergütungskomponente mit langfristiger Anreizwirkung und Risikocharakter, die im Interesse des Unternehmens liegt und sogar durch Ziff. 4.2.3 Abs. 3 DCGK in der bis zum 17.6.2009 bestehenden Fassung empfohlen wurde. Dass überwiegende Interessen der Aktionäre entgegen stehen könnten, ist angesichts des im Verhältnis zum Gesamtvolumen der ausgegebenen Aktien geringen Anteils eigener Aktien, der hierfür benötigt wird, in aller Regel auszuschließen. b) Entsprechende Anwendbarkeit von § 193 Abs. 2 Nr. 4 AktG? Das Problem liegt in der Verweisung von § 71 Abs. 1 Nr. 8 Satz 5 AktG auf § 193 Abs. 2 Nr. 4 AktG. Die Vorschrift bestimmt, dass bei Beschlüssen der Hauptversammlung nach § 192 Abs. 2 Nr. 3 AktG – d. h. bei Beschlüssen über die „Gewährung von Bezugsrechten“ an Arbeitnehmer und Mitglieder der Geschäftsführung der Gesellschaft oder eines verbundenen Unternehmens – in dem Beschluss bestimmte Festsetzungen zu erfolgen haben. Festzusetzen sind die Aufteilung der Bezugsrechte auf Mitglieder der Geschäftsführung und Arbeitnehmer, Erfolgsziele, Erwerbs- und Ausübungszeiträume und eine Wartezeit für die erstmalige Ausübung (mindestens vier Jahre). Die Frage ist nun, ob § 193 Abs. 2 Nr. 4 AktG auf die hier betroffenen Gestaltungen entsprechend anwendbar ist. Dies setzt voraus, dass bei Vergütungen mittels restricted shares eine „Gewährung von Bezugsrechten“ erfolgt. Dieses Tatbestandsmerkmal ist denkbar unscharf. Jedenfalls dann, wenn die getroffenen Vereinbarungen den Begünstigten einen Anspruch auf Übertragung von Aktien gewähren (und nicht bloß einen Anspruch auf Aktien oder deren Wert in Geld, den die Gesellschaft nach Wahl erfüllen kann), liegt es allerdings nicht völlig fern, den Anspruch auf Gewährung von Aktien als „Bezugsrecht“ iS von § 192 Abs. 2 Nr. 3 AktG anzusehen und deshalb bei einer am Gesetzeswortlaut orientierten Auslegung zu verlangen, dass der Hauptversammlungsbeschluss die Festsetzungen nach § 193 Abs. 2 Nr. 4 AktG enthalten müsse. Aber selbst wenn die Gesellschaft sich die Ersetzungsbefugnis vorbehält, anstelle von Aktien eine Barzahlung zu gewähren, stellt sich die Frage, ob der Zweck von § 193 Abs. 2 Nr. 4 AktG die dort genannten Festsetzungen erfordert.
22 Reichert/Harbarth, ZIP 2001, 1441/1142; Lutter/Drygala in KölnKomm. AktG, 3. Aufl. 2009, § 71 AktG Rz. 181.
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Unseres Erachtens sprechen gute Gründe dafür, die Übertragung der Erfordernisse des § 193 Abs. 2 Nr. 4 AktG im einen wie im anderen Fall zu verneinen, weil die Gewährung von restricted shares keine „Gewährung von Bezugsrechten“ im Sinne der Vorschrift darstellt. aa) Die §§ 192 Abs. 2 Nr. 3, 193 Abs. 2 Nr. 4 AktG wurden im Jahre 1998 durch das Gesetz zur Kontrolle und Transparenz im Unternehmensbereich (KonTraG) eingeführt. Zweck dieser Neuregelung war es, die Gewährung von Aktienoptionen an Vorstände der Gesellschaften zu erleichtern. Bis zu dieser Neuregelung stand der Praxis nur eine „Umwegkonstruktion“ über die Gewährung von Optionsanleihen oder Wandelschuldverschreibungen zur Verfügung, die der Gesetzgeber als kompliziert und nicht völlig gesichert ansah. Durch die Regelung des § 192 Abs. 2 Nr. 3 AktG wurde es deshalb zugelassen, schlichte Bezugsrechte (naked warrants) auszugeben und für diese ein bedingtes Kapital zu schaffen. § 193 Abs. 2 Nr. 4 AktG will sicherstellen, dass die wesentlichen Elemente eines solchen Aktienoptionsplans von der Hauptversammlung geregelt werden. Zur Begründung heißt es in den Gesetzesmaterialien, dies sei zweckmäßig, „da die begünstigten Organe befangen sein dürften“23. Sowohl in der Begründung des Regierungsentwurfs als auch in dem Bericht des Rechtsausschusses hierzu wird immer wieder deutlich, dass es dem Gesetzgeber darum ging, Aktienoptionsprogramme zu erfassen. Die Begründung des Gesetzentwurfs spricht über Seiten von nichts anderem als davon, dass § 192 Abs. 2 Nr. 3 AktG Aktienoptionsprogramme zulassen wolle und § 193 Abs. 2 Nr. 4 AktG den Zweck habe, die wesentlichen Eckdaten des Optionsprogramms durch Hauptversammlungsbeschluss regeln zu lassen 24. Folgerichtig wird auch in der Literatur eine Anwendung dieser Vorschriften allein im Zusammenhang mit Aktienoptionsplänen erörtert25. Mit der Gesetzesformulierung „Gewährung von Bezugsrechten“ sind mit anderen Worten – zumindest in erster Linie – Aktienoptionspläne gemeint. § 71 Abs. 1 Nr. 8 Satz 5 AktG soll sicherstellen, dass die inhaltlichen Anforderungen des § 193 Abs. 2 Nr. 4 AktG auch dann eingehalten werden müssen, wenn die gewährten Bezugsrechte i. S. v. § 192 Abs. 2 Nr. 3 AktG nicht durch Übertragung neuer Aktien im Rahmen eines bedingten Kapitals, sondern durch eigene Aktien bedient werden. Die Vorschrift will nichts weiter, als für beide Beschaffungsformen (bedingtes Kapital, Eigenerwerb) das Sicherheitsniveau anzugleichen 26. Auch in diesem Zusammenhang spricht die Gesetzesbegründung nur davon, dass eigene Aktien „zur Bedienung von Aktienoptionen für
23 Begr. RegE KonTraG, abgedruckt bei Ernst/Seibert/Stuckert, KonTraG u. a., 1998, S. 79. 24 Vgl. Begr. RegE KonTraG, abgedruckt bei Ernst/Seibert/Stuckert, KonTraG u. a., 1998, S. 78 bis 82. 25 Vgl. nur Hüffer, 9. Aufl. 2010, § 192 AktG Rz. 15 ff.; Veil in K. Schmidt/Lutter, 2008, § 192 AktG Rz. 18 ff.; Oechsler in MünchKomm. AktG, 3. Aufl. 2008, § 71 AktG Rz. 258 ff.; Merkt in Großkomm. AktG, 4. Aufl. 2007, § 71 AktG Rz. 286 ff.; Frey in Großkomm. AktG, 4. Aufl. 2001, § 192 AktG Rz. 93 ff.; Fuchs in MünchKomm. AktG, 2. Aufl. 2005, § 192 AktG Rz. 62 ff. 26 Begr. RegE KonTraG, abgedruckt bei Ernst/Seibert/Stuckert, KonTraG u. a., S. 49.
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Geschäftsleitungsmitglieder und Führungskräfte des Unternehmens verwendet werden“ können 27. Bei den hier interessierenden Gestaltungen geht es jedoch nicht um Aktienoptionspläne. Aktienoptionen zeichnen sich dadurch aus, dass dem Optionsinhaber das Recht gewährt wird, bei Eintritt bestimmter Voraussetzungen (Erfolgsziele, Wartezeit) Aktien der Gesellschaft gegen Zahlung eines im Vorhinein festgelegten Optionspreises zu beziehen. Sie bieten die Chance, bei Fälligkeit Aktien der Gesellschaft zu einem unter dem dann aktuellen Börsenpreis liegenden Optionspreis beziehen zu können. Entwickelt sich der Börsenpreis negativ und liegt er im Fälligkeitszeitpunkt unter dem Optionspreis, sind die Optionen wertlos. Demgegenüber ist die Zusage, einer Führungskraft als eine Vergütungskomponente Aktien der Gesellschaft mit mehrjähriger Veräußerungssperre zu gewähren von weiteren Voraussetzungen unabhängig. Der Begünstigte erhält die zugesagten Aktien in jedem Fall und braucht dafür keinen Preis zu zahlen, darf sie allerdings erst nach Ablauf der Haltefrist veräußern. In der Zwischenzeit kann der Wert der Aktien mit dem Börsenpreis fallen oder steigen, anders als bei einer Aktienoption kann dieses Vergütungselement jedoch nicht dadurch seinen Wert verlieren, dass der Börsenpreis unter einen zuvor festgelegten Optionspreis fällt. Dass dies eine andere Gestaltung als eine Aktienoption ist, kam auch in Ziff. 4.2.3 DCGK (a. F.) zum Ausdruck, der in seinen Fassungen vom 21.5.2003, 2.6.2005, 12.12.2006, 14.6.2007 und 6.6.2008 Aktienoptionen auf der einen Seite und Aktien der Gesellschaft mit mehrjähriger Veräußerungssperre auf der anderen Seite als unterschiedliche Formen variabler Vergütungskomponenten mit langfristiger Anreizwirkung und Risikocharakter nannte. Gleiches gilt für Vereinbarungen, nach denen das Vorstandsmitglied oder die sonstige Führungskraft nicht Aktien mit mehrjähriger Veräußerungssperre erhält, sondern bei denen von der Gesellschaft zugesagt wird, nach Ablauf eines mehrjährigen Zeitraums eine bestimmte Menge von Aktien der Gesellschaft zu gewähren. Wirtschaftlich handelt es sich dabei um nichts anderes, als um eine Form der Aktienvergütung mit mehrjähriger Veräußerungssperre, nur dass die Fälligkeit des Anspruchs aufgeschoben ist und der Anspruch zumeist für gewisse Fälle des vorzeitigen Ausscheidens aus den Diensten der Gesellschaft unter einer auflösenden Bedingung steht. Der entscheidende Unterschied zu Aktienoptionen liegt auch bei diesen Vergütungszusagen darin, dass das Vorstandsmitglied keinen Optionspreis für die Aktien zahlen muss und die Werthaltigkeit des Anspruchs damit nicht davon abhängt, dass der Börsenpreis im Fälligkeitszeitpunkt oberhalb eines im Vorhinein festgelegten Optionspreises liegt. Durch das Fehlen eines Optionspreises zeichnen sich schließlich auch Zusagen aus, bei denen ein Teil des Jahresbonus in Aktien gewährt wird oder gewährt werden kann oder bei denen das Vorstandsmitglied „Gratisaktien“ erhält, wenn
27 Begr. RegE, a. a. O. (Fn. 26).
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es aus eigenen Mitteln freiwillig Aktien der Gesellschaft erwirbt und diese über einen mehrjährigen Zeitraum hält. bb) Dass es sich bei den hier interessierenden Gestaltungen nicht um Aktienoptionspläne handelt, genügt allerdings für sich genommen noch nicht für die Annahme, dass deshalb § 193 Abs. 2 Nr. 4 AktG nicht entsprechend anwendbar ist. Denn auch wenn der Gesetzgeber bei § 193 Abs. 2 Nr. 4 AktG nur Aktienoptionen vor Augen hatte, wäre eine Erstreckung der Regelung auf andere Formen der Aktienvergütung naheliegend, wenn unter Berücksichtigung des vom Gesetz verfolgten Schutzzwecks auch solche Vergütungsformen mit einer „Gewährung von Bezugsrechten“ einhergehen. Der Schutzzweck freilich ist bis heute nicht geklärt. § 193 Abs. 2 Nr. 4 AktG ist in erster Linie eine Kompetenznorm, deren wesentliche Bedeutung darin liegt, die Festlegung der Eckdaten des Optionsplans der Hauptversammlung zu überlassen. Diese Kompetenzregelung haben die Gesetzesverfasser mit dem Hinweis begründet, die Anteilseigner müssten die wesentlichen Eckdaten im Hauptversammlungsbeschluss deshalb selbst regeln, weil die begünstigten Organe befangen sein dürften 28. Diese Begründung war jedoch schon im Regierungsentwurf des KonTraG überholt. Sie stammt noch aus dem Referentenentwurf, der es ursprünglich zulassen wollte, Aktienoptionspläne sowohl für den Vorstand als auch für den Aufsichtsrat aufzulegen, so dass die Gefahr einer unzureichenden Kontrolle des Vorstands durch den Aufsichtsrat bestanden hätte29. Der Regierungsentwurf und die spätere Gesetzesfassung haben aber festgelegt, dass der Aufsichtsrat nicht Begünstigter eines Aktienoptionsplans sein kann, und zwar nach richtiger herrschender Meinung in höchstrichterlicher Rechtsprechung und Literatur auch dann nicht, wenn die Bedienung der Aktienoptionen nicht aus einer bedingten Kapitalerhöhung erfolgt, sondern mittels eigener Aktien30. Damit traf die Begründung, die der Gesetzgeber für die Hauptversammlungskompetenz gegeben hatte, schon bei Erlass des Gesetzes nicht mehr zu 31. Es ist offensichtlich, dass diese unrichtige Erwägung der Entwurfsverfasser nicht dazu herhalten kann, den Anwendungsbereich der Vorschrift auf Gestaltungen zu erstrecken, für die der Gesetzgeber sie nicht gedacht hatte. In der Literatur wird in diesem Zusammenhang gelegentlich bemerkt, die Regelung des § 193 Abs. 2 Nr. 4 AktG rechtfertige sich zwar nicht aus dem Gedanken der Befangenheit der begünstigten Organe, wohl aber daraus, dass die Aktionäre von einer Kapitalverwässerung betroffen seien32. Dieser Gedanke kann die strengen Anforderungen des § 193 Abs. 2 Nr. 4 AktG, wonach gesetzlich 28 Begr. RegE KonTraG, abgedruckt bei Ernst/Seibert/Stuckert, KonTraG u. a., 1998, S. 79. 29 Vgl. Referentenentwurf KonTraG, abgedruckt in ZIP 1996, 2129, 2137; so auch Rieckers in Spindler/Stilz, 2007, § 193 AktG Rz. 20. 30 BGH, NJW 2004, 1109 ff. Siehe auch die Hinweise bei Hüffer, 9. Aufl. 2010, § 71 AktG Rz. 19h. 31 Zutreffend Hüffer, 9. Aufl. 2010, § 193 AktG Rz. 7; Rieckers in Spindler/Stilz, 2007, § 193 AktG Rz. 20. 32 Hüffer, 9. Aufl. 2010, § 193 AktG Rz. 7; Fuchs in MünchKomm. AktG, 2. Aufl. 2005, § 193 AktG Rz. 18; Rieckers in Spindler/Stilz, 2007, § 193 AktG Rz. 20.
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zwingend Erfolgsziele, Erwerbs- und Ausübungszeiträume und eine Wartezeit für die erstmalige Ausübung von mindestens vier Jahren festzulegen sind, aber ebenfalls nicht begründen. Zu einer Kapitalverwässerung im Sinne einer Quotenverwässerung führt jede Kapitalerhöhung mit Bezugsrechtsausschluss, und um hiervor zu schützen, genügt das Erfordernis des Hauptversammlungsbeschlusses und der sachlichen Rechtfertigung des Bezugsrechtsausschlusses. Die Gefahr der Wertverwässerung durch einen zu niedrigen Ausgabekurs besteht in jedem Fall des Bezugsrechtsausschlusses; ihr begegnet das Gesetz durch den Anfechtungsgrund des § 255 Abs. 2 Satz 1 AktG und die – haftungsbewehrte – Verpfl ichtung des Vorstands, bei Ausnutzung eines genehmigten Kapitals mit Ermächtigung zum Bezugsrechtsausschluss keinen unangemessen niedrigen Ausgabebetrag zugrunde zu legen33. Der Grund für die strengen zusätzlichen Erfordernisse des § 193 Abs. 2 Nr. 4 AktG dürfte darin liegen, dass Aktienoptionspläne in ihrer Ausgestaltung besonders sensibel und mit der erhöhten Gefahr behaftet sind, den Begünstigten durch eine zu anspruchslose Ausgestaltung Zufallsgewinne (windfall profits) zu ermöglichen und ihre Zielsetzung zu verfehlen34. Solche Gefahren bestehen bei Gewährung von Aktien mit mehrjähriger Veräußerungssperre aber nicht in vergleichbarem Maße, weil es in diesem Zusammenhang keine Erfolgsziele gibt. Und ein solcher Schutzgedanke lässt sich auch nicht auf Gestaltungen übertragen, bei denen ein Teil des Jahresbonus in Aktien „ausgezahlt“ wird. Denn der Unterschied zur „normalen“ Gewährung von Aktien mit mehrjähriger Veräußerungssperre besteht in diesen Fällen nur darin, dass die Gewährung der Aktien zusätzlich von der Erreichung der für den Jahresbonus festgelegten Erfolgsziele abhängt. Für die Erfolgsziele des Jahresbonus aber ist nicht die Hauptversammlung zuständig, und es ist kein Grund ersichtlich, ihre Festlegung in die Hände der Hauptversammlung zu legen, nur weil die Gesellschaft nicht in Geld, sondern in Aktien mit einer mehrjährigen Veräußerungssperre zahlt. Das gilt umso mehr, nachdem das VorstAG durch Änderung von § 87 AktG die Zuständigkeit des Aufsichtsrats auch für „anreizorientierte Vergütungszusagen wie z. B. Aktienbezugsrechte“ ausdrücklich betont und deren Angemessenheit durch die neuen Regelungen in § 87 Abs. 1 und 2, § 116 Satz 3 AktG zusätzlich absichert. cc) Zu beachten ist schließlich ein weiterer Gesichtspunkt: Würde man die Gewährung von restricted shares den Anforderungen des § 193 Abs. 2 Nr. 4 AktG unterwerfen, wäre diese Form der Vergütung nicht mehr möglich. Denn § 193 Abs. 2 Nr. 4 AktG verlangt, dass alle in dieser Vorschrift genannten Festsetzungen gemacht werden. Insbesondere müssen also auch Erfolgsziele festgelegt werden35. Es ist aber gerade ein Charakteristikum der Vergütung durch restricted shares, dass diese von Erfolgszielen unabhängig ist. Ein Gesetzesverständnis, welches auch diese Form der Vergütung den Erfordernissen des 33 Stilz in Spindler/Stilz, 2007, § 255 AktG Rz. 7 m. w. N. 34 Vgl. dazu nur Fuchs in MünchKomm. AktG, 2. Aufl. 2005, § 192 AktG Rz. 68 ff. 35 Die herrschende Meinung versteht § 193 Abs. 2 Nr. 4 AktG dahingehend, dass es tatsächlich ein Erfolgsziel geben muss. Die Feststellung im HV-Beschluss, dass es „kein Erfolgsziel gibt“, wäre also nicht zulässig, vgl. Marsch-Barner in Bürgers/Körber, 2008, § 193 AktG Rz. 10.
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§ 193 Abs. 2 Nr. 4 AktG unterstellen wollte, würde diese Vergütungsform daher ausschließen. Dass der Gesetzgeber dies gewollt hätte, kann nicht angenommen werden. Dafür gibt es keinen irgendwie gearteten Hinweis, vielmehr steht im Gegenteil fest, dass es dem Gesetzgeber darum ging, Aktienoptionspläne zu erfassen. Das war und ist auch das Verständnis des Deutschen Corporate Governance Kodex, der in Ziff. 4.2.3 Abs. 3 über Jahre hinweg Aktien mit mehrjähriger Veräußerungssperre als eine Form der variablen Vergütung mit langfristiger Anreizwirkung und Risikocharakter vorsah36. Dass die aktuelle Fassung des Kodex diese Vergütungsform nicht mehr besonders nennt, geht darauf zurück, dass die Regelung an die neuen Strukturerfordernisse des § 87 Abs. 1 AktG angepasst wurde. Es ist jedoch kein Anhaltspunkt dafür erkennbar, dass der Kodex die Zulässigkeit von Aktien mit mehrjähriger Veräußerungssperre neuerdings in Zweifel zöge. dd) Man kann all diesen Erwägungen allerdings entgegenhalten, dass die Anforderungen des § 193 Abs. 2 Nr. 4 AktG nach dem ausdrücklichen Gesetzeswortlaut für alle Beschlüsse nach § 192 Abs. 2 Nr. 3 AktG gelten und dass sich diese Vorschrift ohne weitere Einschränkung auf die „Gewährung von Bezugsrechten an Arbeitnehmer und Mitglieder der Geschäftsführung“ bezieht. An diesen Wortlaut anknüpfend könnte man sich auf den Standpunkt stellen, dass jede Gewährung von Bezugsrechten an Arbeitnehmer und Mitglieder der Geschäftsführung nur zulässig sei, wenn dabei die Hauptversammlung einen Beschluss mit dem Inhalt des § 193 Abs. 2 Nr. 4 AktG gefasst habe. Dies müsste dann auch im Rahmen der in § 71 Abs. 1 Nr. 8 AktG vorgesehenen entsprechenden Anwendung gelten. Eine solche am Wortlaut des Gesetzes orientierte Argumentation könnte sich jedoch allein auf Vergütungszusagen beziehen, durch welche den Begünstigten ein Rechtsanspruch gerade auf Gewährung von Aktien eingeräumt würde. Man könnte exakt das gleiche wirtschaftliche Ergebnis jedoch auch durch Gestaltungsalternativen erreichen, bei denen die Gesellschaft den Begünstigten einen nach dem Kurswert der Aktien zu berechnenden Geldanspruch einräumt und sich nur die Ersetzungsbefugnis vorbehält, den Anspruch statt durch Zahlung in Geld durch Gewährung von Aktien zu erfüllen. In diesem Fall ließe sich nicht einmal mehr bei einer allein am Wortlaut orientierten Gesetzesauslegung davon sprechen, dass den Begünstigten ein „Bezugsrecht“ eingeräumt werde, und es gäbe dementsprechend nicht einmal mehr im Wortlaut des Gesetzes einen Ansatz dafür, die Verwendung eigener Aktien nur unter den Anforderungen des § 193 Abs. 2 Nr. 4 AktG zuzulassen. Dann aber macht es auch keinen Sinn, an der vorgenannten Argumentation für die Fälle festzuhalten, in denen dem Begünstigten ein Anspruch auf Gewährung von Aktien eingeräumt wird. ee) Gegen diese Ansicht spricht auch nicht ihre Folge, dass bei bestimmten Vergütungsmodellen die vorgesehene Gewährung von Aktien nicht aus bedingtem Kapital erfolgen darf (weil den Anforderungen des § 193 Abs. 2 Nr. 4 AktG nicht genügt werden kann), wohl aber aus eigenen Aktien nach § 71 Abs. 1 Nr. 8 36 Vgl. noch Deutscher Corporate Governance Kodex in der Fassung vom 14.6.2007, abgedruckt bei Ringleb/Kremer/Lutter/v. Werder, Deutscher Corporate Governance Kodex, 3. Aufl. 2008.
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AktG. Die nur „entsprechende“ Anwendung von § 193 Abs. 2 Nr. 4 AktG bei der Ausgabe eigener Aktien ermöglicht ein Begriffsverständnis, wonach die entsprechende Anwendung von § 193 Abs. 2 Nr. 4 AktG nur für solche Fälle erforderlich ist, für die auch ein bedingtes Kapital nach § 193 Abs. 2 Nr. 4 AktG geschaffen werden könnte. Nichts anderes ist wie dargestellt auch der Zweck der Verweisung. ff) Das alles spricht für die Annahme, dass die Verweisung auf § 193 Abs. 2 Nr. 4 AktG in § 71 Abs. 1 Nr. 8 Satz 5 AktG nur Aktienoptionspläne erfasst, nicht jedoch Aktien mit mehrjähriger Veräußerungssperre und andere Gestaltungen auf der Grundlage von restricted shares, bei denen den Begünstigten keine Option, sondern ein fester Anspruch eingeräumt wird, als eines der Vergütungselemente Aktien der Gesellschaft zu erhalten.
III. Erfüllung mit neuen Aktien aus einer Kapitalerhöhung Neben einer Verwendung eigener Aktien der Gesellschaft kommt als Alternative die Gewährung neuer Aktien in Betracht, die im Zuge einer Kapitalerhöhung geschaffen werden müssten. Da eine bedingte Kapitalerhöhung nach dem oben Gesagten mangels Einhaltung der Anforderungen von § 193 Abs. 2 Nr. 4 AktG ausscheidet, kann man eine reguläre Kapitalerhöhung nach §§ 182 ff. AktG oder die Ausnutzung eines genehmigten Kapitals nach §§ 202 ff. AktG in Erwägung ziehen. Für die Praxis wäre der Weg der regulären Kapitalerhöhung allerdings umständlich, da er jedes Jahr einen neuen Hauptversammlungsbeschluss mit all seinen Unwägbarkeiten, insbesondere der Gefahr mutwilliger Anfechtungsklagen, nötig machen würde. Die Praxis wird daher in erster Linie ein genehmigtes Kapital nutzen. Ein solches genehmigtes Kapital könnte entweder eine nach dem besonderen Verfahren des § 204 Abs. 3 Satz 1 AktG zur erbringende „Bareinlage“ oder eine Sacheinlage durch Einbringung eines Barausgleichsanspruchs vorsehen37. 1. Aktienausgabe auch an Vorstandsmitglieder Nicht abschließend geklärt ist die Frage, ob es überhaupt zulässig ist, in Ausnutzung eines genehmigten Kapitals (sei es durch Barkapitalerhöhung oder Sachkapitalerhöhung) neue Aktien an Vorstandsmitglieder der Gesellschaft auszugeben. Nach einer Ansicht in der Literatur ist dies unzulässig. Die Ermächtigung zur Kapitalerhöhung kann nur dem Vorstand eingeräumt werden, § 202 Abs. 1 und § 204 Abs. 1 Satz 1 AktG. Mithin entscheidet der Vorstand über das „Ob“ der Kapitalerhöhung und ihre Bedingungen, soweit der Hauptversammlungsbeschluss keine Festsetzungen enthält (§ 204 Abs. 1 AktG). Der Vorstand würde daher, so die Argumentation dieser Autoren, Teile seiner Vergütung selbst festlegen und dabei durch den Aufsichtsrat nur in Form der Zustimmung bzw. ihrer Verweigerung kontrolliert werden. Dies sei im Hinblick auf die Perso37 Eine „normale“ Barkapitalerhöhung scheidet aus, weil die Begünstigten für den Erhalt der Aktien keine monetäre Gegenleistung erbringen.
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nalkompetenz des Aufsichtsrats gegenüber dem Vorstand bedenklich38. Nach einer anderen Ansicht macht dieser Umstand die Nutzung eines genehmigten Kapitals hinsichtlich der Aktienoptionen von Vorstandsmitgliedern zwar „untunlich“, aber nicht unzulässig39. Diese Vorbehalte sind nicht begründet. Die der Aktienausgabe zugrunde liegende Vergütungszusage für die Vorstandsmitglieder wird vom Aufsichtsrat gemacht. Insofern ist die Kompetenzordnung eingehalten. Die Ausnutzung des genehmigten Kapitals durch den Vorstand dient nur noch der technischen Umsetzung bzw. der Erfüllung bereits bestehender Ansprüche. Der Inhalt dieser Ansprüche und damit die Bedingungen der Aktienausgabe aus dem genehmigten Kapital stehen bereits abschließend fest. Das gilt jedenfalls so lange, wie bereits das genehmigte Kapital selbst die Ausgabekonditionen so genau festlegt, dass darüber keine Entscheidung mehr zu treffen ist, sondern nur noch der Aufsichtsrat die Entscheidung treffen muss, ob die Gesellschaft von ihrer Ersetzungsbefugnis Gebrauch macht und statt der Barzahlung die Gewährung von Aktien wählt. Ein Problem ergibt sich allenfalls, wenn der Aufsichtsrat die Gewährung von Aktien wählt und der Vorstand sich weigert, das genehmigte Kapital auszunutzen. Das wird in der Praxis kaum geschehen, so dass das Problem theoretischer Natur ist. Man wird aber davon auszugehen haben, dass der Vorstand zur Umsetzung der Vorgaben des Aufsichtsrats in Anlehnung an den Gedanken des § 83 Abs. 2 AktG verpfl ichtet ist. 2. Barkapitalerhöhung nach § 204 Abs. 3 Satz 1 AktG Weist ein Jahresabschluss, der mit einem uneingeschränkten Bestätigungsvermerk versehen ist, einen Jahresüberschuss aus, so können Aktien an Arbeitnehmer der Gesellschaft auch in der Weise ausgegeben werden, dass die auf sie zu leistende Einlage aus dem Teil des Jahresüberschusses gedeckt wird, den nach § 58 Abs. 2 AktG Vorstand und Aufsichtsrat in andere Gewinnrücklagen einstellen könnten, § 204 Abs. 3 Satz 1 AktG. Das Verfahren gilt als Barkapitalerhöhung, auch wenn es sich in der Sache um eine Kapitalerhöhung aus Gesellschaftsmitteln handelt40, bei der das Bezugsrecht der Aktionäre zugunsten der Arbeitnehmer der Gesellschaft ausgeschlossen wird. Erforderlich ist eine Ermächtigung durch die Hauptversammlung unter ausdrücklicher Einbeziehung von § 204 Abs. 3 Satz 1 AktG. Das Verfahren hat den Vorteil, dass die Begünstigten keine Zahlung für den Erhalt der Aktien erbringen müssen. Der Nachteil besteht in der Verringerung des Jahresüberschusses zu Lasten der Aktionäre. Außerdem ist § 204 Abs. 3 38 Götze, Aktienoptionen für Vorstandsmitglieder und Aktionärsschutz, 2001, S. 39; Ettinger, Stock-Options, 1999, S. 52; Tegtmeier, Die Vergütung von Vorstandsmitgliedern in Publikumsaktiengesellschaften, 1998, S. 338; Zeidler, NZG 1998, 789, 791; Zitzewitz, Stock Options, 2003, S. 77; kritisch auch Hüffer, ZHR 161 (1997), 214, 221: „allenfalls in Ausnahmefällen“. 39 Baums in FS Claussen, 1997, S. 3, 34 f. 40 Hüffer, 9. Aufl. 2010, § 204 AktG Rz. 12; Krieger in MünchHdb. AG, 3. Aufl. 2007, § 58 Rz. 62; Lutter in KölnKomm. AktG, 2. Aufl. 1995, § 204 AktG Rz. 34.
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Satz 1 AktG nur zugunsten von Arbeitnehmern der Gesellschaft anwendbar. Für die Gewährung von Aktien an Vorstandsmitglieder der Gesellschaft gilt die Norm nicht41. Darüber hinaus besteht nicht die Möglichkeit zur steuerlichen Absetzbarkeit des Börsenwertes der neuen Aktien bei kostenloser Weitergabe an die Begünstigten42. Für die Praxis ist das Verfahren deshalb nur bedingt interessant. 3. Sachkapitalerhöhung Soweit eine Barkapitalerhöhung ausscheidet (insbesondere für Vorstandsmitglieder der Gesellschaft) oder nicht gewollt ist, bleibt nur die Möglichkeit der Sachkapitalerhöhung. Erforderlich ist dazu zunächst ein tauglicher Einlagegegenstand, der von den Begünstigten eingebracht wird. Daran fehlt es bei Gestaltungen, in denen die Gesellschaft sich verpflichtet, dem Begünstigten Aktien zu gewähren (und nicht wahlweise deren Gegenwert in Geld zu vergüten). Zwar ist eine solche Zusage eine Form der Vergütung erbrachter Arbeitsleistungen, so dass man erwägen könnte, als einlagefähige Forderung einen solchen Vergütungsanspruch anzusehen. Das scheitert jedoch daran, dass bei dieser Gestaltung den Begünstigten keine von dem Anspruch auf Gewährung der Aktien getrennte Forderung auf Vergütung von Arbeitsleistungen zusteht; Inhalt des Vergütungsanspruchs ist vielmehr gerade die Gewährung von Aktien. Dieser Anspruch ist jedoch kein tauglicher Sacheinlagegegenstand. Vielmehr ist anerkannt, dass sogar existierende Aktien nicht als Sacheinlage eingebracht werden können43; viel weniger kann es zulässig sein, einen Anspruch auf Gewährung von Aktien als Sacheinlage einzulegen. Anders ist es bei Gestaltungen, in denen der Begünstigte einen auf Barzahlung gerichteten Vergütungsanspruch besitzt, den die Gesellschaft statt durch Barzahlung durch Gewährung von Aktien erfüllen kann (Ersetzungsbefugnis). In einem solchen Fall ist es möglich, dass der Begünstigte die ihm zustehende Geldforderung als Sacheinlage einbringt. Ein ähnliches Verfahren liegt dem Aktientantiemeprogramm der Deutsche Börse AG auf der Grundlage eines Beschlusses der Hauptversammlung am 11.5.2007 zugrunde44.
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Hüffer, 9. Aufl. 2010, § 204 AktG Rz. 13. Vgl. Krieger in MünchHdb. AG, 3. Aufl. 2007, § 58 Rz. 65. Peifer in MünchKomm. AktG, 2. Aufl. 2005, § 183 AktG Rz. 14. Im Vorstandsbericht zu diesem Beschluss heißt es: „Aufsichtsrat und Vorstand schlagen vor, das genehmigte Kapital auch für die Ausgabe neuer Aktien an Vorstände und ausgewählte Mitarbeiter in Führungs- und Schlüsselpositionen der Gesellschaft und der mit ihr verbundenen Unternehmen im Sinne der §§ 15 ff. AktG im Rahmen eines Aktientantiemeprogramms (im Folgenden „ATP“) zu nutzen … Durch das ATP wird die Gesellschaft in die Lage versetzt, als Bestandteil der variablen erfolgsabhängigen Vergütung nicht mehr nur Bargeld, sondern Aktien der Gesellschaft zu gewähren. Wie bisher werden auf der Basis der erreichten Ziele und Geschäftsergebnisse die Bonusbudgets zugeteilt und bei Vorstandsmitgliedern durch den Aufsichtsrat sowie bei den leitenden Angestellten durch den Vorstand individuelle Boni festgelegt. Der Bonus wird dann bei den Vorständen der Gesellschaft zu einem Anteil nicht in bar ausbezahlt, sondern in eine bestimmte Anzahl Aktien umgerechnet. Bei den anderen Berechtigten wird ein Zielwert, der auf dem Bonus und der Performance der Berechtigten im abgelaufenen Geschäftsjahr beruht, festgelegt. Die Anzahl der
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Zur leichteren Abwicklung könnten die Begünstigten ihre Barausgleichsansprüche zunächst an ein Kreditinstitut abtreten, das die gebündelten Forderungen einlegt und die dafür erhaltenen neuen Aktien an die Mitarbeiter verteilt. Es ist allgemein anerkannt, dass im Rahmen einer Sachkapitalerhöhung auch Forderungen eingebracht werden können. Nach zutreffender Meinung kann es sich dabei auch um Forderungen gegen die AG handeln45. Voraussetzung der Einlagefähigkeit ist die Feststellbarkeit des wirtschaftlichen Wertes, § 27 Abs. 2 Halbsatz 1 AktG; das ist bei einem Barleistungsanspruch unproblematisch. Erforderlich ist weiterhin die volle Werthaltigkeit der Forderungen; diese ist gegeben, wenn die Gesellschaft in der Lage wäre, die eingebrachten Forderungen auch ohne Kapitalerhöhung durch Barausgleich zu erfüllen. Nicht einheitlich beurteilt wird, ob der Einlagegegenstand aktivierungsfähig sein muss46. Die Frage kann jedoch dahinstehen. Zwar würde der eingebrachte Zahlungsanspruch von der Gesellschaft nicht bilanziert. Dies läge aber nicht an der mangelnden Bilanzierungsfähigkeit dieses Anspruchs, sondern daran, dass es sich um eine Forderung gegen die Gesellschaft handelt, die bei der Einbringung durch Konfusion erlischt. Auch die Vertreter der Auffassung, dass die Aktivierungsfähigkeit Voraussetzung der Einlagefähigkeit sei, fordern nicht, dass es tatsächlich zu einer Aktivierung kommt. Andernfalls müssten sie die Einlagefähigkeit von Forderungen gegen die AG generell verneinen. Ausreichend ist deshalb auch nach dieser Ansicht die abstrakte Bilanzierungsfähigkeit. Gegen die Einlagefähigkeit spricht auch nicht § 27 Abs. 2 Halbsatz 2 AktG. Danach können Verpfl ichtungen zu Dienstleistungen nicht Sacheinlagen sein. Vorliegend geht es aber nicht um die Einbringung einer Verpflichtung zur Erbringung künftiger Dienstleistungen, sondern einer Geldforderung, die aufgrund bereits erbrachter Dienst- bzw. Arbeitsleistungen entstanden ist. Auf diesen Fall ist Aktien ergibt sich aus der Division des Bonusanteils bzw. des Zielwerts durch den Börsenkurs der Gesellschaft zum Zeitpunkt der Festlegung des Bonus bzw. des Zielwerts. Weder der umgerechnete Bonus noch die Aktienanzahl werden im Zeitpunkt der Festlegung des Bonus bzw. des Zielwerts geleistet. Vielmehr erfolgen Leistungen vorbehaltlich der weiteren Ausgestaltung in der Regel nach Ablauf von zwei Jahren nach ihrer Gewährung („Wartezeit“) … Nach Ablauf der Wartezeit erfolgt zunächst eine Umrechnung der ursprünglichen Aktienzahl in einen Zahlungsanspruch, indem die ursprüngliche Aktienanzahl mit dem zum Zeitpunkt des Ablaufs der Wartefrist aktuellen Börsenkurs der Aktie der Gesellschaft multipliziert wird. Die Gesellschaft hat dann das Recht, zu wählen und an die Teilnehmer des ATP entweder gegen Einbringung dieses Zahlungsanspruches die ursprünglich vereinbarte und errechnete Anzahl Aktien der Gesellschaft zu liefern oder den Zahlungsanspruch in bar auszugleichen“ (Hervorhebung durch Verfasser). 45 BGHZ 110, 47, 60; Pentz in MünchKomm. AktG, 3. Aufl. 2008, § 27 AktG Rz. 29; Hüffer, 9. Aufl. 2010, § 27 AktG Rz. 25; Röhricht in Großkomm. AktG, 4. Aufl. 1996, § 27 AktG Rz. 80; Polley in Heidel, Aktienrecht und Kapitalmarktrecht, 2. Aufl. 2007, § 27 AktG Rz. 15; a. A. Arnold in KölnKomm. AktG, 3. Aufl. 2009, § 27 AktG Rz. 54; Bayer in K. Schmidt/Lutter, 2008, § 27 AktG Rz. 14. 46 Für Aktivierungsfähigkeit als Minimum der Einlagefähigkeit etwa Groh, DB 1988, 514, 519; Knobbe-Keuk, ZGR 1980, 214, 217; Lutter, Kapital, Sicherung der Kapitalaufbringung und Kapitalerhaltung, 1964, S. 231 f.; für Übertragbarkeit und wirtschaftlicher Verwertbarkeit der Vermögensposition als ausreichendes Kriterium Arnold in KölnKomm. AktG, 3. Aufl. 2009, § 27 AktG Rz. 44; Pentz in MünchKomm. AktG, 3. Aufl. 2008, § 27 AktG Rz. 18 f.; Röhricht in Großkomm. AktG, 4. Aufl. 1996, § 27 AktG Rz. 22 ff.; Hüffer, 9. Aufl. 2010, § 27 AktG Rz. 22; Bayer in K. Schmidt/Lutter, 2008, § 27 AktG Rz. 10 f.
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§ 27 Abs. 2 Halbsatz 2 AktG weder dem Wortlaut noch der Ratio nach anwendbar. Durch die Vorschrift sollen insbesondere Risiken, die mit der Person des Dienstverpflichteten zusammenhängen (Tod, Dienstunfähigkeit usw.), vermieden werden47. Dieses Risiko besteht nicht, weil die persönlichen Leistungen bereits erbracht wurden. Es ist anerkannt, dass der Rechtsgedanke des § 255 Abs. 2 AktG nicht nur für Barkapitalerhöhungen gilt, sondern auch auf Sachkapitalerhöhungen zu übertragen ist48. Es ist deshalb erforderlich, einen angemessenen Ausgabebetrag für die neuen Aktien festzusetzen. In aller Regel wird es sich empfehlen, auf den aktuellen Börsenkurs abzustellen49. Die Anzahl der dem Begünstigten zustehenden neuen Aktien ergibt sich also aus der Höhe des eingelegten Geldleistungsanspruchs geteilt durch den Börsenkurs. Bei Ausgabe von Aktien gegen Sacheinlagen hat eine Prüfung durch einen oder mehrere Prüfer stattzufi nden, § 205 Abs. 5 Satz 1 AktG. Gemäß § 205 Abs. 4 AktG gelten bestimmte formelle Erleichterungen für die Einlage von Geldforderungen, die Arbeitnehmern der Gesellschaft aus einer ihnen von der Gesellschaft eingeräumten Gewinnbeteiligung zustehen. Zu beachten ist, dass diese Erleichterung nicht im Hinblick auf Vorstandsmitglieder gilt. 4. Bezugsrechtsausschluss Der Hauptversammlungsbeschluss zur Schaffung des genehmigten Kapitals muss das Bezugsrecht der Aktionäre ausschließen oder den Vorstand zum Ausschluss des Bezugsrechts ermächtigen. Wie bei der Unterlegung von Aktienvergütungsprogrammen mit eigenen Aktien kann – weder bei einem Direktausschluss des Bezugsrechts durch den Hauptversammlungsbeschluss noch bei einer Ermächtigung an den Vorstand, das Bezugsrecht auszuschließen – von § 186 Abs. 3 Satz 4 AktG Gebrauch gemacht werden, weil die Ausgabe der restricted shares nicht gegen Bareinlagen erfolgt.
IV. Kombinationslösung: Verwendung eigener Aktien aus Kapitalerhöhung 1. Grundzüge des Verfahrens In der Praxis wird im Zusammenhang mit der Ausgabe von Belegschaftsaktien teilweise eine „Kombinationslösung“ gewählt, die eine Kombination aus der Verwendung eigener Aktien und einer Kapitalerhöhung darstellt. Hierzu wird zunächst eine Barkapitalerhöhung durchgeführt. Die neuen Aktien werden – da
47 Hüffer, 9. Aufl. 2010, § 27 AktG Rz. 29. 48 Hüffer, 9. Aufl. 2010, § 255 AktG Rz. 1. 49 Zu der in jedem Fall einer Kapitalerhöhung aus genehmigtem Kapital möglicherweise auftretenden Frage, ob eine Ausnahme zu machen ist, wenn besondere Umstände vorliegen, die dafür sprechen, dass der innere Wert der Aktien den Börsenkurs übersteigt, vgl. etwa Hüffer, 9. Aufl. 2010, § 255 AktG Rz. 8.
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die Gesellschaft die Aktien nicht selbst zeichnen darf (§ 56 Abs. 1 AktG) – unter Ausschluss des Bezugsrechts der Altaktionäre von einem Kreditinstitut auf der Grundlage eines Geschäftsbesorgungsvertrages mit der Gesellschaft gezeichnet. Das Kreditinstitut veräußert die neuen Aktien sodann an die Gesellschaft zurück. Die Aktien werden dadurch zu eigenen Aktien. Die Gesellschaft gibt diese eigenen Aktien an ihre Mitarbeiter aus50. Dieses übliche Verfahren51 hat gegenüber der Wiederausgabe eigener Aktien den Vorteil, dass es (abgesehen von der Erfüllung des Provisionsanspruchs des Kreditinstituts) nicht zu einem Liquiditätsabfluss bei der Gesellschaft kommt. Der an das Kreditinstitut geleistete Erwerbspreis für die eigenen Aktien entspricht der kurz zuvor von diesem erhaltenen Einlage. Wirtschaftlich belastet ist deshalb nicht die Gesellschaft, sondern „nur“ die Altaktionäre, deren Beteiligung durch die Schaffung der neuen Aktien ohne realen Zufluss von Vermögenswerten und die exklusive Ausgabe der Aktien an die Mitarbeiter „verwässert“ wird. Darüber hinaus besteht gegenüber der Gewährung von Aktien unmittelbar aus einer Kapitalerhöhung aus Sicht der Gesellschaft ein steuerlicher Vorteil, weil bei Wiederausgabe der eigenen Aktien ohne monetäre Gegenleistung deren voller Wert (entsprechend dem Börsenkurs) als Betriebsausgabe steuerlich geltend gemacht werden kann52. 2. Voraussetzungen des Erwerbs und der Verwendung eigener Aktien Diese Konstruktion muss zunächst den Anforderungen für den Erwerb und die Verwendung eigener Aktien genügen. Hierfür sind, wenn nicht ausnahmsweise § 71 Abs. 1 Nr. 2 AktG genutzt werden kann, die Voraussetzungen von § 71 Abs. 1 Nr. 8 AktG einzuhalten.
50 Vgl. etwa Hüffer, 9. Aufl. 2010, § 202 AktG Rz. 29; Krieger in MünchHdb. AG, 3. Aufl. 2007, § 58 Rz. 65. Denkbar ist auch eine indirekte Konstruktion in der Weise, dass ein beauftragtes Kreditinstitut im Rahmen einer Kapitalerhöhung neu ausgegebene Aktien erwirbt und diese an die Begünstigten weiterreicht (Durchgangslösung). Danach erstattet die Gesellschaft dem Kreditinstitut den von diesem für die neuen Aktien gezahlten Ausgabebetrag. 51 In der Hauptversammlung der Deutsche Börse AG am 14.5.2003 wurde z. B. folgender (später nicht angefochtener) Beschluss gefasst: „Der Vorstand wird ermächtigt, dass Grundkapital … zu erhöhen (Genehmigtes Kapital II) … Darüber hinaus wird der Vorstand ermächtigt, mit Zustimmung des Aufsichtsrats das Bezugsrecht … auszuschließen, um die neuen Aktien unmittelbar oder nach Zeichnung durch ein Kreditinstitut und Rückerwerb durch die Gesellschaft mittelbar an Arbeitnehmer der Gesellschaft … unter Ausschluss der Mitglieder des Vorstands der Deutsche Börse AG … auszugeben“ (Hervorhebung durch Verfasser). In dem entsprechenden Vorstandsbericht heiß es: „Aufgrund der vorliegenden Ermächtigung können Aktien derart an die Arbeitnehmer begeben werden, dass unter Verwendung des genehmigten Kapitals II die Aktien zunächst von einer Emissionsbank zum Börsenkurs gezeichnet werden, die Deutsche Börse AG diese zum gleichen Preis gemäß § 71 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AktG von der Bank erwirbt und sie sodann an die Arbeitnehmer zu einem Vorzugskurs veräußert.“ 52 Richter/Gittermann, AG 2004, 277 f.; Cahn in Spindler/Stilz, 2007, § 71 AktG Rz. 65; vgl. aber den Hinweis auf § 42 AO bei Lutter/Drygala in KölnKomm. AktG, 3. Aufl. 2009, § 71 AktG Rz. 83.
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Dabei stellt sich die Frage, ob es mit dem für den Erwerb geltenden Gleichbehandlungsgrundsatz (§ 71 Abs. 1 Nr. 8 Satz 3 AktG) vereinbar ist, dass Aktien nicht über die Börse, sondern allein von dem eingeschalteten Kreditinstitut erworben werden. Das Gleichbehandlungsgebot schließt eine Ungleichbehandlung nicht völlig aus, sondern gestattet diese bei Vorliegen eines sachlichen Grundes53. Nach verbreiteter Ansicht soll es allerdings nicht ausreichen, dass der Vorstand die Einhaltung des Gleichbehandlungsgebots prüft und feststellt54. Das Gleichbehandlungsgebot konkretisiere sich nämlich im Hinblick auf den Erwerb eigener Aktien in einem Andienungsrecht der Aktionäre55. Ein solches Andienungsrecht könne nur durch einen Hauptversammlungsbeschluss ausgeschlossen werden56. Der Beschluss bedürfe freilich nur einer einfachen Mehrheit57, und die konkrete Entscheidung über den Ausschluss des Andienungsrechts könne von der Hauptversammlung auf den Vorstand delegiert werden58. Diese Ansicht ist indes nicht überzeugend. Wenn das angebliche Andienungsrecht Ausfluss des Gleichbehandlungsgrundsatzes sein soll, dann kann es auch nur insoweit bestehen, wie der Gleichbehandlungsgrundsatz reicht. Da dieser Grundsatz sachlich gerechtfertigte Differenzierungen erlaubt, kann er auch einem Direkterwerb eigener Aktien von einzelnen Aktionären nicht entgegenstehen, wenn es dafür eine sachliche Rechtfertigung gibt. Für die Notwendigkeit, das angebliche Andienungsrecht durch Beschluss der Hauptversammlung auszuschließen, gibt das Gleichbehandlungsgebot keinen Ansatz, mag es auch in der Praxis empfehlenswert und unproblematisch sein, im Hauptversammlungsbeschluss klarzustellen, dass die Gesellschaft ermächtigt wird, die neuen Aktien aus der Kapitalerhöhung vom Kreditinstitut zurückzuerwerben. Das dabei eingreifende Erfordernis der sachlichen Rechtfertigung ist bei der Kombinationslösung identisch mit dem gleichen Erfordernis, das für den Bezugsrechtsausschluss bei der zugrundeliegenden Kapitalerhöhung gilt. Im einen wie im anderen Fall ergibt sich die Rechtfertigung aus der Zielsetzung, die Aktien zu Vergütungszwecken einzusetzen.
53 Lutter/Drygala in KölnKomm. AktG, 3. Aufl. 2009, § 71 AktG Rz. 174; Leuering, AG 2007, 435, 436; a. A. aber zu § 71 AktG (individueller Rückerwerb außerhalb der Börse jedenfalls bei einem sog. „negotiated repurchase“ – mit dem man die hier vorliegende Konstellation allerdings nicht unbedingt vergleichen kann – unvereinbar mit dem Gleichbehandlungsgebot) Huber in FS Kropff, 1997, S. 103, 116; von Rosen/Helm, AG 1996, 434, 439; Peltzer, WM 1998, 322, 329; Hüffer, 9. Aufl. 2010, § 71 AktG Rz. 19k. 54 Oechsler in MünchKomm. AktG, 3. Aufl. 2008, § 71 AktG Rz. 327; a. A. (gegen ein Andienungsrecht und damit für die Möglichkeit zur „Feststellung“ der Einhaltung des Gleichbehandlungsgrundsatzes allein durch den Vorstand ohne Beteiligung der Hauptversammlung) Wastl, DB 1997, 461, 463; Baum, ZHR 167 (2003), 580, 595; Cahn in Spindler/Stilz, 2007, § 71 AktG Rz. 121; Bezzenberger in K. Schmidt/Lutter, 2008, § 71 AktG Rz. 30. 55 Oechsler in MünchKomm. AktG, 3. Aufl. 2008, § 71 AktG Rz. 97; Lutter/Drygala in KölnKomm. AktG, 3. Aufl. 2009, § 71 AktG Rz. 174. 56 Oechsler in MünchKomm. AktG, 3. Aufl. 2008, § 71 AktG Rz. 98. 57 Oechsler in MünchKomm. AktG, 3. Aufl. 2008, § 71 AktG Rz. 98; Habersack, ZIP 2004, 1121, 1126; a. A. Lutter/Drygala in KölnKomm. AktG, 3. Aufl. 2009, § 71 AktG Rz. 175 (3/4-Mehrheit erforderlich gemäß § 186 AktG analog). 58 Habersack, ZIP 2004, 1121, 1126; Paefgen, ZIP 2002, 1509, 1511; a. A. Lutter/Drygala in KölnKomm. AktG, 3. Aufl. 2009, § 71 AktG Rz. 174.
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Für die Verwendung der Aktien und die Vereinbarkeit mit den Erfordernissen des § 71 Abs. 1 Nr. 8 AktG gilt das oben Gesagte. 3. Voraussetzungen der Kapitalerhöhung Folgt man den Überlegungen zu § 71 AktG, scheitert die Kombinationslösung nicht an den Beschränkungen für den Erwerb und die Verwendung eigener Aktien. Allerdings könnte der Rückkauf der Aktien bzw. die Erstattung des Ausgabebetrags an das Kreditinstitut im Zusammenhang mit der vorangehenden Kapitalerhöhung problematisch sein. Von einer im Vordringen befi ndlichen Meinung in der Literatur, die namentlich von Tollkühn geprägt wurde, wird die Kombinationslösung als bedenklich angesehen, weil es an der Erfüllungswirkung der Zahlung der Einlageleistung auf die Kapitalerhöhung durch das Kreditinstitut gemäß § 362 BGB fehle. Eine wirksame Erfüllung von Einlageverpflichtungen setzt voraus, dass die geleistete Einlage zur freien Verfügung des Vorstands steht. Voraussetzung für die freie Verfügbarkeit ist u. a., dass erstens die Mittel der AG vorbehaltlos und risikolos zufl ießen und zweitens der Vorstand bei der Verwendung der Mittel frei ist. Ein vorbehaltloser und risikoloser Zufluss erfordere mindestens, dass der Einleger seine Verfügungsmacht über die von ihm geleisteten Barmittel endgültig und ohne Vorbehalt zugunsten der Gesellschaft aufgibt59. Hieran fehle es, wenn der Vorstand auf Grund vorheriger Zusicherung den Betrag alsbald wieder zurückzahle60. Die Tilgungswirkung werde durch jedes Rechtsgeschäft oder jede andere Maßnahme zwischen Gesellschaft und Zeichner verhindert, mit denen der Erfüllungserfolg, also das endgültige Vermögensopfer des Zeichners, zu seinen Gunsten aufgehoben, abgeschwächt oder in anderer Weise rückgängig gemacht werden solle61. Dies sei bei der Kombinationslösung der Fall, weil vorgesehen sei, dass die Aktien vom Zeichner durch die Gesellschaft zurück erworben werden sollen62. Außerdem sei unsicher, ob der Vorstand bei der Verwendung der Mittel frei ist. Diese müssten für den Vorstand frei verfügbar im Sinne von § 36 Abs. 2 Satz 1 AktG i. V. m. §§ 188 Abs. 2, 203 Abs. 3 AktG sein. Der freien Verfügbarkeit können im Rahmen einer Kapitalerhöhung insbesondere Verwendungsabreden entgegenstehen, wenn sie unmittelbar oder mittelbar dazu bestimmt sind, die eingezahlten Mittel an den Einleger zurückfl ießen zu lassen63. Dies sei vorliegend problematisch, weil vorgesehen sei, dass die Aktien vom Zeichner durch
59 So in anderem Zusammenhang BGHZ 113, 335, 348 f. 60 So allgemein zur Kapitalerhöhung Lutter in KölnKomm. AktG, 2. Aufl. 1995, § 188 AktG Rz. 12. 61 So allgemein zur Kapitalerhöhung Wiedemann in Großkomm. AktG, 4. Aufl. 1995, § 188 AktG Rz. 13. 62 Tollkühn, NZG 2004, 594, 595 f. 63 BGH, NJW 1991, 226, 227; OLG Köln, NZG 2001, 615.
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die Gesellschaft zurück erworben werden sollen. Der Kaufpreis für die Aktien sei daher von vorneherein dazu bestimmt, an den Einleger zurückzufl ießen64. Darüber hinaus liege ein Fall des § 56 Abs. 3 AktG vor. Danach kann sich ein Zeichner, der Aktien für Rechnung der Gesellschaft übernommen hat, nicht darauf berufen, dass er die Aktien nicht für eigene Rechnung übernommen hat. Das Kreditinstitut bleibe daher zur Leistung der nicht wirksam erbrachten Einlage verpfl ichtet65. Die herrschende Meinung geht demgegenüber von der Zulässigkeit der Kombinationslösung aus. In der Regel erfolgt allerdings ein bloßer Verweis auf die gängige Praxis und damit keine Begründung und keine Diskussion der von der dargestellten Mindermeinung angeführten Bedenken66. Richter/Gittermann, die der herrschenden Meinung folgen, setzen sich in einem Beitrag mit den von der Mindermeinung aufgeworfenen Fragen ausführlich auseinander ohne diese jedoch zu zitieren, vermutlich, weil der Aufsatz von Tollkühn etwa zeitgleich erschienen ist. In der Zahlung des Zeichnungsbetrages durch das Kreditinstitut liege eine wirksame Einlageleistung mit Erfüllungswirkung zur endgültigen freien Verfügung des Vorstands67. Insbesondere gebe es keine unzulässige Verwendungsabrede über die künftige Verwendung des eingelegten Betrages. Verwendungsabreden mit dem Einleger stünden der freien Verfügung des Vorstands nur entgegen, wenn sie entweder eine Scheinzahlung bezweckten oder als verdeckte Sacheinlage einzuordnen seien. Beides sei hier nicht der Fall. Der von dem Kreditinstitut gezahlte Betrag sei dazu bestimmt, endgültig dem Vermögen der Gesellschaft zuzufließen, auch wenn damit später die neuen Aktien von dem Kreditinstitut erworben und bezahlt werden sollen. Eine verdeckte Sacheinlage scheide aus, weil sowohl die neuen Aktien als auch der Kaufpreisanspruch des Kreditinstituts aus dem Verkauf der Aktien keine einlagefähigen Gegenstände darstellen würden. Die neuen Aktien entstehen erst mit Eintragung der Durchführung der Kapitalerhöhung, während die Bareinlagepfl icht bereits mit Zeichnung der neuen Aktien durch das Kreditinstitut begründet wird. Die Kaufpreisforderung der Bank aus der Veräußerung der Aktien sei regelmäßig aufschiebend bedingt durch die Eintragung der Durchführung der Kapitalerhöhung68. Die Praxis hält bislang an der Kombinationslösung fest. Das Verfahren ist aber wegen der unklaren Rechtslage nicht ohne Risiko. Man könnte allerdings an eine „Ersatzkonstruktion“ denken, bei der das Kreditinstitut die neuen Aktien auf der Basis eines Kaufvertrages mit den Begünstigten an diese weitergibt und
64 Tollkühn, NZG 2004, 594, 595 f.; ihm folgend Cahn in Spindler/Stilz, 2007, § 71 AktG Rz. 65; Oechsler in MünchKomm. AktG, 3. Aufl. 2008, § 71 AktG Rz. 327; Lutter/ Drygala in KölnKomm. AktG, 3. Aufl. 2009, § 71 AktG Rz. 83. 65 Tollkühn, NZG 2004, 594, 596 f.; ihm folgend Cahn in Spindler/Stilz, 2007, § 71 AktG Rz. 65; Oechsler in MünchKomm. AktG, 3. Aufl. 2008, § 71 AktG Rz. 327. 66 Vgl. z. B. Knepper, ZGR 1985, 419, 434; Klein/Braun, BB 1986, 673, 676; Lutter in KölnKomm. AktG, 2. Aufl. 1995, § 202 AktG Rz. 30; Krieger in MünchHdb AG, 3. Aufl. 2007, § 58 Rz. 65; Bayer in MünchKomm. AktG, 2. Aufl. 2005, § 202 AktG Rz. 107; Hirte in Großkomm. AktG, 4. Aufl. 2001, § 202 AktG Rz. 186. 67 Richter/Gittermann, AG 2004, 277 ff. 68 Richter/Gittermann, AG 2004, 277, 281 ff.
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die Gesellschaft in Erfüllung ihrer Verpfl ichtung gegenüber den Begünstigten den von diesen geschuldeten Kaufpreis zahlt. Zu beachten bleibt auch auf der Basis der Ansicht, die das geschilderte Verfahren für zulässig ansieht, dass eine Anfechtung eines Beschlusses über eine Kapitalerhöhung gegen Einlagen, bei der das Bezugsrecht ausgeschlossen worden ist, u. a. darauf gestützt werden kann, dass der sich aus dem Erhöhungsbeschluss ergebende Ausgabebetrag oder der Mindestbetrag, unter dem die neuen Aktien nicht ausgegeben werden sollen, unangemessen niedrig ist, § 255 Abs. 2 AktG. Es ist anerkannt, dass der Rechtsgedanke dieser Vorschrift entsprechend auch für die Ausnutzung eines genehmigten Kapitals durch den Vorstand unter Ausschluss des Bezugsrechts gilt, d. h. auch bei Ausnutzung eines genehmigten Kapitals muss der Vorstand, will er seine Pfl ichten nicht verletzen, einen angemessenen Ausgabebetrag festlegen69. Die neuen Aktien müssen also zu einem angemessenen Ausgabebetrag ausgegeben werden. Der Börsenkurs hat nach inzwischen deutlich herrschender Meinung zumindest die Vermutung der Angemessenheit für sich und kann deshalb in aller Regel als angemessener Ausgabebetrag angesetzt werden70. Anders kann es sich allerdings ausnahmsweise verhalten, wenn besondere Umstände vorliegen, die dafür sprechen, dass der innere Wert der Aktien den Börsenkurs übersteigt71. In einer solchen Situation könnte es erforderlich werden, auf die Kapitalerhöhung zu verzichten und eigene Aktien zu gewähren.
V. Zusammenfassung der Ergebnisse 1. Aktienoptionsprogramme sind neuerdings seltener geworden. Statt dessen haben Vergütungsmodelle auf der Basis von restricted shares an Bedeutung gewonnen. Dabei gewährt die Gesellschaft den begünstigten Mitarbeitern (i. d. R. Vorstandsmitglieder und sonstige Führungskräfte) als Vergütungsbestandteil Aktien mit mehrjähriger Veräußerungssperre. Alternativ werden die Aktien nicht sofort mit mehrjähriger Veräußerungssperre übertragen, sondern umgekehrt erst nach einer mehrjährigen Wartefrist gewährt (sind dann aber sofort frei verfügbar). Anders als bei Aktienoptionsprogrammen hängt die Gewährung nicht von der Erreichung eines bestimmten Erfolgsziels ab. 2. Zur Bedienung der Ansprüche der Begünstigten kommen eigene Aktien der Gesellschaft in Betracht, die nach § 71 AktG zurück erworben wurden. a) Aktienvergütungsprogramme können nach richtiger Meinung mit eigenen Aktien bedient werden, die auf der Grundlage von § 71 Abs. 1 Nr. 2 AktG erworben wurden. Wegen einer schwer zu fassenden Volumenbeschrän69 BGHZ 136, 133, 141 – Siemens/Nold; OLG Karlsruhe, AG 2003, 444, 447; Hüffer, 9. Aufl. 2010, § 204 AktG Rz. 5; Krieger in MünchHdb. AG, 3. Aufl. 2007, § 58 Rz. 32; Hirte in Großkomm. AktG, 4. Aufl. 2001, § 203 AktG Rz. 91; grundlegend Cahn, ZHR 164 (2000), 113 ff. 70 Hüffer, 9. Aufl. 2010, § 255 AktG Rz. 5; Stilz in Spindler/Stilz, 2007, § 255 AktG Rz. 21 m. w. N.; ähnlich Tettinger, Materielle Anforderungen an den Bezugsrechtsausschluss, 2003, S. 69 ff. 71 Hüffer, 9. Aufl. 2010, § 255 AktG Rz. 8.
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kung und der Beschränkung der Zulässigkeit auf Aktiengewährungen an Arbeitnehmer (also nicht an Vorstandsmitglieder), ist die Nutzbarkeit aber in der Praxis beschränkt. b) Aktien, die als restricted shares verwendet werden sollen, können auf der Grundlage eines Ermächtigungsbeschlusses der Hauptversammlung nach § 71 Abs. 1 Nr. 8 AktG erworben werden. c) Im Hinblick auf die Wiederausgabe der Aktien als restricted shares gelten die Anforderungen an einen Bezugsrechtsausschluss bei der Kapitalerhöhung gemäß § 186 Abs. 3, 4 AktG entsprechend. d) § 193 Abs. 2 Nr. 4 AktG ist trotz der Verweisung in § 71 Abs. 1 Nr. 8 Satz 5 AktG nicht entsprechend anwendbar, weil diese Vorschrift die „Gewährung von Bezugsrechten“ voraussetzt. Sie gilt deshalb zwar für Aktienoptionspläne, aber weder nach dem Gesetzeswortlaut noch nach dem Sinn und Zweck des Gesetzes für aktienbasierte Vergütungen auf der Basis von restricted shares. 3. Neben einer Verwendung eigener Aktien kommt die Gewährung neuer Aktien aus einer Kapitalerhöhung in Betracht, wobei in aller Regel die Nutzung von genehmigten Kapitalia vorzugswürdig sein wird gegenüber regulären Kapitalerhöhungen. Die Nutzung eines bedingten Kapitals scheidet aus. a) Ein genehmigtes Kapital kann auch zur Ausgabe von Aktien an Vorstandsmitglieder genutzt werden, obwohl der Vorstand über die Ausnutzung des Kapitals entscheidet. Die Personalkompetenz des Aufsichtsrats wird dadurch nicht beeinträchtigt. Die Ausnutzung des Kapitals durch den Vorstand ist nur die technische Umsetzung der bereits unter Mitwirkung des Aufsichtsrats getroffenen Vergütungsvereinbarung mit den Vorstandsmitgliedern. b) Eine Barkapitalerhöhung nach § 204 Abs. 3 Satz 1 AktG ist zwar denkbar. Das Verfahren führt aber zu einer Minderung des ausschüttbaren Gewinns, weil es sich in der Sache um eine Kapitalerhöhung aus Gesellschaftsmitteln handelt. Außerdem ist dabei nur die Gewährung von Aktien an Arbeitnehmer (also nicht auch an Vorstandsmitglieder) zulässig. Für die Praxis ist das Verfahren deshalb nur bedingt interessant. c) Bei einer Sachkapitalerhöhung kommt als tauglicher Einlagegegenstand ein Anspruch des Begünstigten gegen die Gesellschaft auf Vergütung seiner Arbeitsleistung entweder in Geld oder – nach Wahl der Gesellschaft – in Aktien in Betracht. Demgegenüber fehlt es an einem tauglichen Einlagegegenstand, wenn der Begünstigte Anspruch gerade auf die Gewährung von Aktien hat (und die Gesellschaft nicht wahlweise deren Gegenwert in Geld vergüten darf). d) Der Hauptversammlungsbeschluss zur Schaffung des genehmigten Kapitals muss das Bezugsrecht ausschließen bzw. den Vorstand zu einem entsprechenden Ausschluss ermächtigen. 4. In der Praxis wird im Zusammenhang mit der Ausgabe von Belegschaftsaktien die Verwendung eigener Aktien kombiniert mit einer vorangegangenen Kapitalerhöhung.
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a) Im Hinblick auf den Erwerb und die Verwendung der eigenen Aktien stellen sich ähnliche Fragen wie bei dem dargestellten Vorgehen ohne Kapitalerhöhung. Eine Besonderheit besteht allerdings darin, dass die Aktien nicht nach § 71 Abs. 1 Nr. 8 Satz 4 AktG über die Börse erworben werden (sondern von dem eingeschalteten Kreditinstitut), so dass sich Fragen hinsichtlich der Gleichbehandlung der Aktionäre stellen. b) Nach einer Ansicht soll es bei der vorangehenden Kapitalerhöhung an einer wirksamen Erfüllung der Einlageverpfl ichtung fehlen, weil die Gesellschaft aufgrund einer unzulässigen Verwendungsabrede den von dem Kreditinstitut erhalten Betrag alsbald an dieses zum Erwerb der Aktien zurückzahlt. Die herrschende Gegenansicht geht von der Erfüllung der Einlageverpfl ichtung aus, weil es vorliegend insbesondere an dem für eine unzulässige Verwendungsabrede erforderlichen „Scheingeschäft“ fehle und auch keine verdeckte Sacheinlage vorliege. Wegen der unklaren Rechtslage ist das „Kombinationsverfahren“ nicht ohne Risiko.
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Mehrstufige Vertretung Inhaltsübersicht I. Grundlagen 1. Meinungsstand 2. Stellungnahme 3. Abgrenzungen und Ausnahmen 4. Gesamtvertretung 5. Delegation bei Einzelvertretung II. Einzelheiten
1. Erteilung der Vollmacht 2. Selbstkontrahieren 3. Willensmängel und Kenntnis 4. Dauer und Widerruf der Vollmacht 5. Vertretung ohne Vertretungsmacht 6. Eigenhaftung des Vertreters III. Ergebnisse
Das Phänomen der Untervertretung ist alt. Ebenso alt sind die Bemühungen um ihr Verständnis oder ihre Konstruktion. Der Streit geht darum, ob der Untervertreter notwendig unmittelbarer Vertreter des Geschäftsherrn (Prinzipals) ist oder ob er je nach seinem Auftreten direkter Vertreter des Prinzipals oder Vertreter des Hauptvertreters in dessen Eigenschaft als Vertreter des Prinzipals ist. Erstaunlicherweise werden einige Fragen, die sich aus der Gestaltung der Untervertretung ergeben, offenbar nicht thematisiert. Diese Fragen sind von beträchtlicher praktischer Bedeutung. Ihnen soll in diesen Hans-Jürgen Hellwig gewidmeten Zeilen nachgegangen werden.
I. Grundlagen 1. Meinungsstand Der BGH hält zwei Arten der Untervertretung für möglich. Bei der einen sei der Untervertreter unmittelbarer Vertreter des Prinzipals (unmittelbare Untervertretung, Direktvertretung), bei der anderen sei er Vertreter des Vertreters und dieser vertrete, so selbst vertreten, den Prinzipal (mittelbare Untervertretung, Durchgangsvertretung)1. Die einschlägigen Entscheidungen des BGH sind deutlich an dem Thema der Zuordnung der Haftung gemäß § 179 BGB orientiert. In der ersten Entscheidung 2 hatte der dann verklagte Uhrmacher von einem Kunden eine nach dessen Erklärung einem Dritten (Prinzipal) gehörende, diesem aber gestohlene Uhr nebst einem gefälschten Verkaufsauftrag des Prinzipals entgegengenommen und unter Darlegung seiner Legitimationsgrundlagen an den späteren Kläger verkauft. Dieser hatte die Uhr an den Prinzipal/Eigentümer herausgeben müssen und klagte jetzt gegen den Uhrmacher auf Ersatz des gezahlten Kaufpreises wegen Fehlens einer Vertretungsmacht für den Prinzipal. Der BGH führte entsprechend der damaligen herrschenden Lehre die beiden Möglichkeiten für die Gestaltung der Untervertretung aus und wertete das 1 BGHZ 32, 250; 68, 391; ebenso schon RGZ 108, 405. 2 BGHZ 32, 250, 253 ff.
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Auftreten des Uhrmachers dahin, dass er als Vertreter seines Kunden aufgetreten sei. Wenn hier überhaupt ein Vertretungsverhältnis für den Prinzipal anzunehmen sei, würden – bei bestehender Vertretungsmacht – die Wirkungen „gleichsam gemäß den beiden Vollmachtsverhältnissen durch den (Haupt-)Vertreter hindurch“ gehen. Da der Beklagte namens seines Kunden aufgetreten sei, habe er nicht ohne Vertretungsmacht gehandelt. Der BGH bestätigt mit dieser Begründung die Klageabweisung durch die Vorinstanz. Ob überhaupt eine Vertretung des Prinzipals vorlag, machte der BGH merkwürdigerweise davon abhängig, wie der Kunde gegenüber dem Beklagten aufgetreten war, im eigenen Namen oder im Namen des Prinzipals. Richtigerweise konnte es dafür aber nur darauf ankommen, wen der Beklagte gegenüber dem Kläger als Vertragspartei bezeichnet hatte: seinen Kunden oder den Prinzipal. In einem anderen Fall3 hatte ein Kraftfahrer, der von einem für den beklagten Verlag tätigen Zeitschriftenwerber gelegentlich mit Fahrten beauftragt worden war, namens des Verlags einen Kraftfahrzeugmietvertrag abgeschlossen, ohne offenzulegen, dass er für den Zeitschriftenwerber tätig war. Der vertragsschließende Kraftfahrer hatte zwar – wie nach dem Sachverhalt anzunehmen ist – mit Vollmacht des Zeitschriftenwerbers gehandelt, diesem fehlte jedoch die Vertretungsmacht für den Verlag. Der BGH hielt den Kraftfahrer auf dieser Grundlage gemäß § 179 BGB für verantwortlich, weil er die mehrstufige Vertretung nicht aufgedeckt hatte. In der Begründung wiederholte er die beiden Möglichkeiten der Gestaltung einer mehrstufigen Vertretung. Während die ältere Literatur überwiegend beide Formen der Untervertretung für möglich hielt4, lehnt die Literatur heute die Annahme einer „Durchgangsvertretung“, d. h. einer Vertretung des Vertreters als Durchgangsstation überwiegend ab5. Denn ein solcher Durchgangsvertreter sei im Recht der Stellvertretung nicht vorgesehen. Bestehe sowohl die Hauptvollmacht wie auch die Untervollmacht, so sei das Geschäft ein solches des Prinzipals und nicht des Hauptvertreters6. Auch werde dem Rechtsverkehr die Unterscheidung im allgemeinen unverständlich sein7.
3 BGHZ 68, 391. 4 Flad in Planck’s Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, 4. Aufl. 1913, § 167 BGB Rz. 8, § 179 BGB Rz. 3; Coing in Staudingers Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, 11. Aufl. 1957, § 167 BGB Rz. 32; Müller-Freienfels, Die Vertretung beim Rechtsgeschäft, 1955, S. 28 ff.; ebenso Palm in Erman, BGB, 12. Aufl. 2008, § 167 BGB Rz. 41; weitere Nachweise bei Gerlach, Die Untervollmacht, 1967, S. 15 ff.; a. M. v. Tuhr, Der allgemeine Teil des Deutschen Bürgerlichen Rechts, Bd. II 2, 1918, S. 411 Fn. 231. 5 Flume, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, Bd. II, Das Rechtsgeschäft, 1965, § 49, 5; Medicus, Allgemeiner Teil des BGB, 9. Aufl. 2006, Rz. 951; Schilken in Staudinger, BGB (Bearb. 2004), § 167 BGB Rz. 62; Schramm in Münchner Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, 5. Aufl. 2006, § 167 BGB Rz. 95 ff.; Leptien in Soergel, BGB, 13. Aufl. 1999, § 167 BGB Rz. 60; ausführlich Gerlach (Fn. 4) S. 44 ff., 106 ff.; Gernhuber, JZ 1960, 605; a. M. Palm (Fn. 4), § 167 BGB Rz. 41; Bous, RNotZ 2004, 483; unklar Bork, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Gesetzbuchs, 2. Aufl. 2006, Rz. 1447 einerseits und Rz. 1452 andererseits. Bereits die Fragestellung missbilligen Bous (a. a. O.), S. 484 sowie Müller-Freienfels (Fn. 4), S. 29; dagegen Flume (a. a. O.), § 49, 5 Fn. 46. 6 Flume (Fn. 5), § 49, 5. 7 Flume (Fn. 5), § 49, 5.
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2. Stellungnahme Stellvertretung bedeutet, dass die Wirkungen des Vertreterhandelns auf den Vertretenen bezogen werden. Dieser handelt dadurch jedoch nicht8. Würde die Untervertretung als Durchgangsvertretung verstanden, so würden die – wenn auch nur für eine gedankliche Sekunde – beim Hauptvertreter eingetretenen Wirkungen auf den Prinzipal übertragen. So scheint der BGH – auch mit der Formulierung der durch den Hauptvertreter hindurchgehenden Wirkungen – die mittelbare Untervertretung tatsächlich zu verstehen. Diesem Verständnis des BGH entspricht es, dass er die Frage, ob überhaupt ein Vertretungsverhältnis zum Prinzipal bestand, nicht danach entscheidet, wen der Untervertreter dem Vertragspartner als Geschäftsherrn bezeichnete, sondern danach, wie der Hauptvertreter dem Untervertreter gegenüber aufgetreten war. Eine solche Art des Durchgangsvertretung wäre schon mit dem für die Stellvertretung geltenden Offenheitsgrundsatz unvereinbar. Es gibt aber auch keine Vorschrift, nach welcher die zunächst bei dem Hauptvertreter eingetretenen Wirkungen – auch unter der Voraussetzung der Offenlegung des „endgültigen“ Geschäftsherrn – auf einen hinter dem Hauptvertreter stehenden Prinzipal übertragen würden. Nach § 164 BGB wirkt die von dem Vertreter abgegebene Willenserklärung unmittelbar für und gegen den Vertretenen, ist aber nicht dessen Willenserklärung. Im Grundsatz ist daher der heute in der Literatur herrschenden Meinung zu folgen. Danach gibt es – grundsätzlich – nur die Direktvertretung. Das Verständnis als Durchgangsvertretung ist eine Fehlkonstruktion9, die freilich in der Regel unschädlich ist. Dieses Verständnis der Untervertretung wird durch die einhellige Meinung bestätigt, wonach der Hauptbevollmächtigte zur Erteilung einer Untervollmacht nur befugt ist, wenn ihm dies gestattet ist10. Wäre der Untervertreter Vertreter des Hauptvertreters – oder könnte er es sein – so wäre nicht ohne weiteres einsichtig, weshalb der Hauptvertreter sich nicht selbst sollte vertreten lassen können. Der Begründung bedürfte also, dass und warum eine Untervertretung nicht zulässig ist, während es umgekehrt bei einer Direktvertretung gerade einer Begründung für die Zulässigkeit der Untervertretung bedarf, auch wenn deren Zulässigkeit sich oft aus der Auslegung der Vollmacht ergeben wird11. Dazu müsste die Hauptvollmacht einengend dahin ausgelegt werden, dass sie nur persönlich ausgeübt werden kann, also nur gilt, wenn der Hauptbevollmächtigte in Person handelt.
8 Schramm (Fn. 5), § 167 BGB Rz. 96. 9 Leptien (Fn. 5), § 167 BGB Rz. 60 bezeichnet den „Vertreter des Vertreters“ als „Fehlbegriff“; so auch eingehend Siebenhaar, AcP 162 (1963) 354 ff. 10 Das nehmen auch diejenigen an, die eine mittelbare Untervertretung für möglich halten, so Palm (Fn. 4), § 167 BGB Rz. 40. 11 Schramm (Fn. 5), § 167 BGB Rz. 102 m. w. N.
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3. Abgrenzungen und Ausnahmen Die bisherigen Ausführungen haben vornehmlich die rechtsgeschäftliche – gewillkürte – Vertretung im Auge. Für die gesetzliche, namentlich die organschaftliche Vertretung gilt möglicherweise anderes. (a) (Haupt-)Vertreter kann nicht nur eine natürliche Person sein, sondern auch eine juristische Person oder eine andere rechtsfähige Gesellschaft z. B. eine Personenhandelsgesellschaft, oder auch ein Kaufmann im Sinne eines kaufmännischen Unternehmens. Solche Fälle sind keineswegs selten. Man denke nur an die Versicherungsagentur als Hauptvertreter12. (b) Ist der Hauptvertreter eine juristische Person oder andere Handelsgesellschaft, die nur durch ihre Organe handeln kann, so wäre die Annahme einer Direktvertretung des Vollmachtgebers durch die Organe des Hauptvertreters verfehlt. Nach der herrschenden Organtheorie handelt die juristische Person durch ihre Organe oder deren Handeln wird der juristischen Person als eigenes Handeln zugerechnet. Das Handeln des Vorstands „ist kein Handeln für den Verein, sondern Handeln des Vereins“13. Handelt die juristische Person dabei als Vertreter eines Dritten, so vertreten ihre Organe den Dritten nicht unmittelbar, sondern über die juristische Person. Da diese durch ihre Organe selbst handelt, liegt in der Annahme einer Durchgangsvertretung für diesen Fall keine Ausnahme von dem Grundsatz. Eine entsprechende Lage besteht, wenn die juristische Person selbst gesetzlicher Vertreter ist, wie im Fall der typischen GmbH & Co. KG. Die Prokuristen der Komplementär-GmbH sind deren Prokuristen, nicht die der KG. Wäre – außerhalb der organschaftlichen Vertretung der Komplementär-GmbH – nur eine Direktvertretung der KG möglich, so müsste Prokura bei der KG erteilt werden mit der Folge, dass die KG durch einen gesamtvertretungsberechtigten Geschäftsführer der Komplementärin gemeinsam mit einem Prokuristen nicht wirksam vertreten wäre, sofern nicht zusätzlich auch Prokura in der GmbH erteilt ist. (c) In gleicher Weise sollten die Fälle behandelt werden, in denen der rechtsgeschäftliche Hauptvertreter nicht durch seine Organe, aber durch Prokuristen oder Handlungsbevollmächtigte handelt. Wird der Hauptvertreter organschaftlich durch ein gesamtvertretungsberechtigtes Organmitglied und einen Prokuristen vertreten, so liegt immer noch organschaftliche Vertretung vor14. Wird dagegen der Hauptvertreter durch zwei Prokuristen vertreten, so ist dies eine rechtsgeschäftliche Vertretung. Damit ändert sich zwar die Qualität der Vertretung des Geschäftsherrn durch die Prokuristen, jedoch wäre es unverständlich, wenn diese Änderung der Qualität der Vertretung auch eine Änderung in der Identität des Vertretenen zur Folge hätte. Auch bei der Vertretung durch zwei Prokuristen bleibt es deshalb dabei, dass die Prokuristen den Hauptvertreter 12 Beispiel von Bork (Fn. 5), Rz. 1449. 13 Ellenberger in Palandt, BGB, 69. Aufl. 2010, § 26 BGB Rz. 2; allgemein zur Organtheorie siehe K. Schmidt, Gesellschaftsrecht, 4. Aufl. 2002, § 10 I 2; Flume, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, Bd. I 2, Die juristische Person, 1983, S. 377 ff. 14 BGHZ 13, 61, 64; Uwe H. Schneider in Scholz, GmbH-Gesetz, 10. Aufl. 2007, § 35 GmbHG Rz. 71; Habersack in GroßKomm. AktG, 4. Aufl. 2002, § 78 AktG Rz. 46; siehe auch RGZ 134, 303.
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vertreten und das Geschäft für den Prinzipal deshalb insoweit aufgrund einer Durchgangsvertretung wirksam wird. Folgt man dem, so sollte gleiches auch für den Fall gelten, dass der Hauptvertreter aufgrund einer Handlungs- oder sonstigen Generalvollmacht vertreten wird. Anders als bei der Spezialuntervollmacht erscheint das Handeln des Prokuristen oder Handlungsbevollmächtigten des Hauptvertreters in diesen Fällen als Handeln des Hauptvertreters. Die Annahme einer Direktvertretung würde – ganz anders als im Fall der Spezialuntervollmacht – im Verkehr nicht verstanden und wäre in hohem Maße gekünstelt. Sie müsste annehmen, dass in der Erteilung der Prokura oder Handlungsvollmacht immer auch eine Untervollmacht namens des Prinzipals, d. h. namens aller gegenwärtigen und – noch gar nicht identifi zierten – künftigen Kunden des Hauptvertreters liegt. Umgekehrt müsste sie in der Erteilung der Hauptvollmacht immer auch die Erteilung einer – direkten – Vollmacht an die zu diesem Zeitpunkt bereits bestellten Prokuristen und Handlungsbevollmächtigten des Hauptvertreters sehen. Diese Konstruktion könnte ganz offensichtlich der Wirklichkeit nicht gerecht werden. (d) Eine mittelbare Untervertretung sollte deshalb in allen Fällen anerkannt werden, in denen das Handeln des Untervertreters als Handeln des Hauptvertreters erscheint und wahrgenommen wird. Das ist typischerweise dann der Fall, wenn für den Hauptvertreter sein gesetzlicher oder organschaftlicher Vertreter, ein Prokurist oder Handlungsbevollmächtigter auftritt. 4. Gesamtvertretung Ist der Hauptvertreter Gesamtvertreter, so ergeben sich besondere Fragen. (a) Für typische Fälle der organschaftlichen Gesamtvertretung ist ausdrücklich gesetzlich anerkannt, dass mehrere Gesamtvertreter einen von ihnen ermächtigen können, bestimmte Geschäfte allein vorzunehmen15. Das wird als allgemeiner Grundsatz verstanden, der auch in den Fällen gilt, für die das nicht ausdrücklich geregelt ist, so z. B. für die GmbH16. Nach ganz herrschender Auffassung liegt darin nicht etwa eine Bevollmächtigung des Einzelnen zur Vertretung der anderen Gesamtvertreter17, und nach hM auch keine Vollmacht der Gesellschaft mit der Folge, dass der Ermächtigte nicht als Organ, sondern als Bevollmächtigter handeln würde18. Vielmehr führt eine solche Ermächtigung nach h. M. zur Einzelvertretungsmacht für die bezeichneten Geschäfte19.
15 Z. B. § 125 Abs. 2 Satz 2 HGB, § 78 Abs. 4 AktG, § 25 Abs. 3 GenG. 16 Zöllner/Noack in Baumbach/Hueck, GmbHG, 19. Aufl. 2010, § 35 GmbHG Rz. 120 m. w. N.; BGH, NJW-RR 1986, 778 für die rechtsgeschäftliche Vertretung einer GbR. 17 Insoweit übereinstimmend Flume (Fn. 13), S. 362, 364; anders allerdings BGH, ZIP 2010, 185, 187. 18 Uwe H. Schneider (Fn. 14), § 35 GmbHG Rz. 55; ausführlich Mertens in Kölner Kommentar zum AktG, 2. Aufl. 1996, § 78 AktG Rz. 56; a. M. Flume (Fn. 13), S. 362; für die GbR wohl auch BGH NZG 2004, 345. 19 BGHZ 64, 72; Uwe H. Schneider (Fn. 14), § 35 GmbHG Rz. 55: „Organschaftlicher Akt“; Fleischer in Spindler/Stilz, AktG, 2007, § 78 AktG Rz. 35; dagegen ausführlich Schwarz, NZG 2001, 529 und ZGR 2001, 744: Ausübungsermächtigung.
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Die Ermächtigung zur Einzelvertretung ist zu unterscheiden von der zeitlich gestaffelten Beteiligung der Gesamtvertreter an dem Vertretergeschäft und der Frage, ob die Beteiligung der anderen Gesamtvertreter nur durch Erklärung gegenüber dem Geschäftspartner oder auch durch bloße Zustimmung gegenüber dem handelnden Vertreter erfolgen kann 20. Das Verständnis der Ermächtigung zur Einzelvertretung ist nach wie vor strittig 21. Die übliche Beschreibung als „organschaftlicher Akt“ verzichtet auf eine konkrete Einordnung unter sonst geläufige Institute. Jede einzelne der vorgeschlagenen Konstruktionen – ob als Vollmacht der Gesellschaft, als Vollmacht des einen Organmitglieds an das andere, als Veränderung der Vertretungsregelung durch das Vertretungsorgan selbst, als Übertragung (Delegation) von Vertretungsbefugnis durch einzelne Gesamtvertreter auf den Ermächtigen oder als Ausübungsermächtigung – müsste ohne ausdrückliche gesetzliche Zulassung an der Unvereinbarkeit mit Grundsätzen der Gesellschaftsverfassung scheitern. Die Konstruktion sollte sich deshalb an den sachgerechten Folgen orientieren. Dies sind die Konsequenzen dafür, – wer für die Ermächtigung zuständig ist, insbesondere, ob die Ermächtigung durch Mitglieder in vertretungsberechtigter Zahl erforderlich ist, oder es genügt, dass zusammen mit dem Ermächtigten die erforderliche Zahl zusammenkommt, – wer für den Widerruf der Ermächtigung zuständig ist und schließlich – ob es der Ermächtigung im Wege steht, wenn die Ermächtigung ein Geschäft zwischen der Gesellschaft und dem Ermächtigenden zum Gegenstand haben soll. All dem ist hier nicht weiter nachzugehen. Für unsere Überlegungen ist nur eines festzuhalten: Da die Einzelermächtigung ohne ausdrückliche gesetzliche Zulassung (oder deren analoge Anwendung) nicht möglich wäre, kann sie nicht als Modell oder Grundlage dafür dienen, andere Gestaltungen einer Vertretung des Gesamtvertreters oder des organschaftlichen Vertreters in dieser Eigenschaft anzuerkennen 22. Ob Gesamtbevollmächtigte in gleicher Weise einen von ihnen ermächtigen können, ist durch Auslegung der Vollmacht zu ermitteln 23.
20 Dazu Leptien (Fn. 5), § 164 BGB Rz. 29; Schramm (Fn. 5), § 164 BGB Rz. 85 ff.; Flume (Fn. 5), § 49, 5. 21 Siehe insbesondere die grundlegenden Ausführungen von Schwarz in NZG 2001, 529 sowie ZGR 2001, 744. 22 Auch die Konstruktion als „Ausübungsermächtigung“ (Schwarz, NZG 2001, 529; ZGR 2001, 744) ist nur aufgrund der ausdrücklichen gesetzlichen Zulassung möglich. Denn die Unübertragbarkeit der organschaftlichen Vertretung schließt auch eine Ausübungsermächtigung aus. Deshalb kann ein einzelvertretungsberechtigtes – oder auch das einzige – Mitglied des Vertretungsorgans selbstverständlich einen Dritten nicht ermächtigen, seine Vertretungsmacht auszuüben. 23 BGH, NJW-RR 1986, 778 nimmt eine solche Möglichkeit für die – gesellschaftsvertraglich – von einer GbR erteilte Gesamtvertretungsvollmacht als allgemeinen Rechtsgrundsatz, nicht durch Auslegung der Vollmacht, an.
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(b) Von der Ermächtigung eines Gesamtvertreters durch die anderen zur Einzelvertretung ist die Bevollmächtigung durch einen der Gesamtvertreter zu unterscheiden. Wird die „Vollmacht“ an den anderen Gesamtvertreter erteilt, so kann sie nur als Ermächtigung zur Einzelvertretung Bestand haben und ist in eine Einzelermächtigung umzudeuten. Denn: „Die Vertretung des Organs bei der Willensbildung und -erklärung ist rechtlich ausgeschlossen“24.
Bei der unechten Gesamtvertretung – einem Fall der organschaftlichen Vertretung 25 – vertritt deshalb der Prokurist nicht den an dem Geschäft nicht mitwirkenden Gesamtvertreter, sondern die Gesellschaft unmittelbar. Die unechte Gesamtvertretung ist eine eigenständige Gestaltung der gesetzlichen Vertretung und nicht eine Mischform aus gesetzlicher und rechtsgeschäftlicher Vertretung 26. Deshalb kann nicht einer von mehreren Gesamtvertretern seine (allein nicht bestehende) Vertretungsmacht allgemein oder auch nur für einen Einzelfall auf einen Dritten durch Vollmacht delegieren. (c) Es bleibt dann die Frage, ob im Falle einer gewillkürten Gesamtvertretung (Gesamtvertretungsvollmacht) einer der Gesamtbevollmächtigten Untervollmacht in dem Sinne erteilen kann, dass er bei der Vertretung des Prinzipals durch den anderen vertreten wird. Eine Untervollmacht im üblichen Sinne kann dies nicht sein, weil der einzelne Gesamtvertreter allein keine Vertretungsmacht hat und deshalb auch keine Untervollmacht erteilen kann. Er müsste jedenfalls zu einer solchen „partiellen“ Untervollmacht autorisiert sein. Dagegen bestehen keine grundsätzlichen Bedenken. Ist eine solche Autorisierung erteilt, so ist sie dahin zu verstehen, dass die Gesamtvertreter jeweils Einzelvertretungsmacht haben, den Prinzipal bei der Erteilung von solchen „partiellen“ Untervollmachten zu vertreten. Durch die „partielle“ Untervollmacht würde der Unterbevollmächtigte autorisiert, gemeinsam mit dem anderen Gesamtvertreter oder einem von diesem in gleicher Weise bestellten Unterbevollmächtigten zu vertreten. 5. Delegation bei Einzelvertretung In einem offenbaren Gegensatz zu dem soeben Dargelegten scheinen einige Entscheidungen des BGH zu stehen, bei denen es jeweils um die Erteilung einer Generalvollmacht ging. (a) Zunächst entwickelte der Bundesgerichtshof die Auffassung, eine Generalvollmacht der GmbH sei unzulässig: In BGHZ 34, 27 hatte einer von zwei gesamtvertretungsberechtigten Geschäftsführern dem anderen Generalvollmacht erteilt, ihn als Geschäftsführer zu vertreten. Der BGH hielt dies nicht mit der Begründung der früheren Entscheidung für unmöglich, dass eine Vertretung des Organs bei der Willensbildung und -erklärung nicht möglich sei. Vielmehr hielt er die Vollmacht deshalb für 24 So wörtlich BGHZ 13, 61, 65. 25 Siehe oben Fn. 14. 26 BGHZ 13, 61, 64 f.
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nichtig, weil sie zu weit reiche. Jenseits der Grenzen der Einzelermächtigung könnten die Geschäftsführer den Umfang ihrer Vertretungsmacht nicht selbst bestimmen. Ein gesamtvertretungsberechtigter Geschäftsführer könne deshalb „seine Vertretungsmacht nicht einem anderen übertragen oder diesen bevollmächtigen, ihn in seiner Eigenschaft als Mitgeschäftsführer allgemein zu vertreten“27.
Die Vollmacht des einen (für sich allein nicht vertretungsberechtigten) Geschäftsführers könne auch nicht als Generalvollmacht der Gesellschaft umgedeutet werden. Denn auch eine solche Generalvollmacht sei, wie bereits das Reichsgericht28 entschieden habe, unzulässig. In einem späteren vom Bundesgerichtshof entschiedenen Fall war die Vollmacht eindeutig namens der GmbH von deren einzigem Geschäftsführer mit den Worten erteilt worden „hiermit bevollmächtigen wir …, die Firma A GmbH allein zu vertreten und für die Gesellschaft in unbeschränkter Höhe bei Geschäften gleich welcher Art, insbesondere bei banküblichen Geschäften tätig zu werden“29.
Der BGH wertete diese Vollmacht aus Gründen, die sich aus dem mitgeteilten Sachverhalt nicht erschließen, als den Versuch einer Übertragung der Geschäftsführeraufgaben. Dies sei unzulässig, denn es könne dem Geschäftsführer „nicht erlaubt sein, seine Aufgaben und die Verantwortung für deren Erfüllung voll auf einen anderen abzuwälzen.“ An der Richtigkeit dieses Satzes besteht gewiss kein Zweifel; ob der Sachverhalt die Anwendung dieses Satzes rechtfertigte, kann hier dahinstehen. Im Vordergrund der Entscheidung steht die – vom Berufungsgericht zur Abgrenzung von vorangegangenen Entscheidungen bejahte – vom BGH aber verneinte Frage, ob eine solche Vollmacht an einen Dritten, der nicht Geschäftsführer ist, mit Zustimmung aller Gesellschafter zulässig sei. (b) In zwei weiteren Entscheidungen glaubte der Bundesgerichtshof dann, gerade in der Konstruktion einer Untervertretung den Weg zur Abgrenzung von den vorgenannten Entscheidungen zu fi nden. Die erste dieser Entscheidungen stammt aus dem Jahr 1978. Zwei – jeweils einzelvertretungsberechtigte – Geschäftsführer hatten einem Dritten umfassende Vollmacht erteilt, „sie … in ihrer Eigenschaft als Geschäftsführer zu vertreten.“ Der BGH hält diese Vollmacht grundsätzlich für wirksam. Denn im Unterschied zu der zuletzt genannten Entscheidung sei die Vollmacht nicht „auf eine unmittelbare Vertretung der GmbH, sondern lediglich auf ein Handeln in (Unter-)Vollmacht des oder der Geschäftsführer gerichtet“30. Dass eine solche Generaluntervollmacht zur mittelbaren Vertretung der Gesellschaft zulässig sei, ergebe sich, so der BGH, eindeutig aus § 46 Nr. 7 GmbHG31. Die in dieser Vorschrift genannten Prokuristen und Handlungsbevollmächtigten sind
27 28 29 30 31
BGHZ 34, 27, 30; Hervorhebung nur hier; siehe auch BGH, NJW 1988, 1199, 1200. RGZ 86, 262. BGH, NJW 1977, 199; Hervorhebung nur hier. BGH, WM 1978, 1047. BGH, WM 1978, 1047, 1048.
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jedoch solche der GmbH und nicht solche des Geschäftsführers. Sie vertreten unmittelbar die GmbH, nicht den Geschäftsführer32. Die Besonderheit des Falles liegt dann für den BGH jedoch darin, dass der Bevollmächtigte im Zeitpunkt der Erteilung der Vollmacht (noch) – gesamtvertretungsberechtigter – Geschäftsführer war. Daraus leitete der BGH dann wieder ab, dass die Vollmacht zunächst nichtig gewesen sei, und erst später, nach der Beendigung der Geschäftsführerstellung des Bevollmächtigten durch das Verhalten der beiden einzelvertretungsberechtigten Geschäftsführer als Duldungsvollmacht Wirksamkeit erlangt habe. Eine Vollmacht soll danach wirksam sein, wenn sie einem Dritten erteilt wird, während eine inhaltsgleiche Vollmacht, die einem gesamtvertretungsberechtigten Mit-Geschäftsführer erteilt wird, aus diesem Grunde nichtig sein soll33. In der zweiten Entscheidung aus dem Jahre 2002 knüpfte der BGH an die soeben genannte Entscheidung an34. Hier hatte eine 70-jährige Geschäftsfrau, die auch alleinvertretungsberechtigte Geschäftsführerin der dann verklagten GmbH war, ihrem Sohn umfassende Generalvollmacht erteilt, die ihn auch zu ihrer Vertretung in ihrer Eigenschaft als Geschäftsführerin der von ihr vertretenen Unternehmen autorisieren sollte. Aufgrund dieser Vollmacht war dann 15 Jahre später der streitige Vertrag abgeschlossen worden. Das Berufungsgericht hatte die Vollmacht für unwirksam gehalten, weil sie eine unzulässige Übertragung von Organbefugnissen darstelle. Der BGH entschied gegenteilig, denn es sei „in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs geklärt, dass gegen die Zulässigkeit einer solchen allgemeinen Handlungsvollmacht, die … nicht auf die unmittelbare Vertretung der GmbH, sondern lediglich auf ein Handeln in (Unter-)Vollmacht des oder der Geschäftsführer gerichtet ist, keine Bedenken bestehen“; zur Begründung verwies er auf die soeben erörterte Entscheidung aus dem Jahr 1978. In einer Urteilsbesprechung drückt K. Schmidt sein Erstaunen über den Notar aus, der die Vollmacht beurkundet und nicht bemerkt hatte, dass nur die GmbH und nicht die Geschäftsführerin die Vollmacht erteilen konnte 35. Noch erstaunlicher ist, dass auch der BGH die Vollmacht nicht etwa korrigierend als Vollmacht der GmbH ausgelegt hat, sondern gerade in der Gestaltung als Vollmacht der Geschäftsführerin das für die Wirksamkeit der Vollmacht maßgebliche Kriterium sah. Die Begründung dieser beiden Entscheidungen kann nicht überzeugen. Sie sind mit dem vom BGH in anderen Entscheidungen betonten Grundsatz unvereinbar, dass die Vertretung des Organs bei der Willensbildung und -erklärung rechtlich ausgeschlossen ist 36. Es wäre auch unverständlich, wenn die Geschäftsführer die Grenzen ihrer Befugnisse dadurch erweitern könnten, dass sie sich persönlich in ihrer Stellung als Vertreter der Gesellschaft vertreten lassen könnten. Das kann auch nicht mit der Überlegung begründet werden, aufgrund der so 32 33 34 35 36
So zur Prokura bei der unechten Gesamtvertretung ausdrücklich BGHZ 13, 61, 64 f. So auch BGH, NJW 1988, 1199, 1200. BGH, NJW-RR 2002, 1325. K. Schmidt, JuS 2003, 95, 96. BGHZ 13, 61, 65.
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konstruierten Durchgangsvertretung handle der Geschäftsführer und bleibe deshalb für die Maßnahmen des Bevollmächtigten verantwortlich. Denn die Vollmacht könnte nicht bewirken, dass der auf ihrer Grundlage vertretene Geschäftsführer durch den (Unter-)Vertreter selbst handelt 37. Außerdem bleibt der Geschäftsführer auch für die Maßnahmen des von der GmbH direkt Bevollmächtigten verantwortlich. Es muss daher bei dem Grundsatz verbleiben, dass die Vertretung des Vertretungsorgans im Sinne einer Durchgangsvertretung nicht möglich ist.
II. Einzelheiten Aus den dargelegten Grundsätzen ergeben sich einige Konsequenzen für die Behandlung der mehrstufigen Vertretung. 1. Erteilung der Vollmacht Die Untervollmacht ist eine Untervollmacht des Prinzipals, die er, vertreten durch den Hauptvertreter, erteilt. Die in der Praxis – auch in notariellen Urkunden – häufige abweichende Formulierungen, wonach der Hauptvertreter (oder „XY“ handelnd als Geschäftsführer) die Vollmacht erteilt, steht nicht entgegen. Solche Vollmachten sind Vollmachten des Prinzipals. Nach der üblichen Formel in notariellen Urkunden, wonach der Erschienene „handelnd wie angegeben“ die beurkundeten Erklärungen abgebe, werden die Erklärungen namens des so Vertretenen abgegeben. Anderes gilt, wenn Hauptbevollmächtigter eine Organisation ist, bei der von vornherein feststeht, dass sie durch andere handelt, gleichviel, ob es sich dabei um ihre Organe, Prokuristen oder Handlungsbevollmächtigte handelt. All diese Vertretungsverhältnisse sind keine Untervollmachten, sondern Vollmachten, den Hauptvertreter zu vertreten. Erteilt eine juristische Person als Hauptvertreter eine Spezialvollmacht zu ihrer Vertretung aufgrund der Hauptvollmacht, so ist diese Vollmacht wegen ihres konkreten Bezugs zu der Hauptvollmacht als Vollmacht des Prinzipals, also als Direktvollmacht und nicht als Durchgangsvollmacht in dem Sinne zu behandeln, dass auf ihrer Grundlage der Hauptbevollmächtigte durch den Unterbevollmächtigten handelt. Will der Prinzipal in solchen Fällen seine Vertretung durch Prokuristen oder Handlungsbevollmächtigte der Hauptbevollmächtigten ausschließen, so muss er in der Hauptvollmacht zum Ausdruck bringen, dass die Vollmacht nur gilt, wenn der Hauptbevollmächtigte in Person oder seinerseits organschaftlich vertreten handelt. Mangels einer solchen Begrenzung bedarf es in solchen Fällen nicht einer Autorisierung zur Erteilung einer Untervollmacht, und zwar unabhängig davon, ob die Befähigung zur Vertretung des Hauptvertreters vor oder nach Erteilung der Hauptvollmacht begründet, also die Prokura oder Handlungsvollmacht vorher oder nachher erteilt wird.
37 Oben S. 211.
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2. Selbstkontrahieren In allen Fällen der Untervertretung reicht die Vertretungsmacht des Untervertreters nicht weiter als diejenige des Hauptvertreters 38. Darüber besteht Einigkeit, und zwar unabhängig von der Ausgestaltung der Untervertretung. Das hat auch Auswirkungen auf die Wirkungsweise des sogenannten Verbots des Selbstkontrahierens gemäß § 181 BGB. Über den Umweg einer Untervollmacht kann der Hauptbevollmächtigte seine eigene Vertretungsvollmacht nicht erweitern.39 Kann er das Geschäft wegen § 181 BGB nicht selbst abschließen, so kann er dazu auch keine wirksame Untervollmacht erteilen. (a) Ermächtigen mehrere Gesamtvertreter einen von ihnen zur Vornahme des Geschäfts, so wird der Prinzipal bei diesem Geschäft nicht durch den Ermächtigenden, sondern allein durch den Ermächtigten vertreten. Schließt dieser das Geschäft für den Prinzipal mit dem ermächtigenden Gesamtvertreter ab, so liegt kein Fall des Selbstkontrahierens vor40. Das ist nach der Konstruktion richtig. Die Frage ist aber anders zu stellen: Ist die Ermächtigung wirksam oder scheitert sie an § 181 BGB? Wird die Ermächtigung als organschaftlicher Akt verstanden41, so kommt die Anwendung des § 181 BGB nicht in Betracht. Der Bundesgerichtshof sieht auch keine Notwendigkeit, § 181 BGB analog anzuwenden, da der ermächtigte Gesamtvertreter anders als ein Untervertreter nicht an Weisungen des Ermächtigenden gebunden ist42. (b) Ist der Hauptbevollmächtigte (einschließlich eines Organvertreters) nicht von den Beschränkungen des § 181 BGB befreit, so wird daraus vielfach gefolgert, dass er auch einem Unterbevollmächtigten eine Befreiung von diesem Verbot nicht erteilen könne43. Diese Schlussfolgerung geht jedoch zu weit. Denn hierbei geht es um etwas anderes. Der Grund dafür, weshalb die Beschränkungen des § 181 BGB auch im Falle der Einschaltung eines Untervertreters gelten, liegt nicht in einer Umgehung44 oder in der allgemeinen Ähnlichkeit der Lage eines Interessenkonfl ikts45, sondern darin, dass der Hauptbevollmächtigte, auch wenn er die Untervollmacht im Namen des Prinzipals erteilt, über diese Untervollmacht am Zustandekommen des Geschäfts beteiligt bleibt46, oder genauer: Die Vollmacht des Hauptbevollmächtigten erstreckt sich mangels einer Gestattung des Selbstkontrahierens nicht auf ein Geschäft mit ihm selbst; deshalb kann er für dieses Geschäft auch keine Untervollmacht erteilen47. 38 Palm (Fn. 4), § 167 BGB Rz. 40; Leptien (Fn. 5), § 167 BGB Rz. 61. 39 BGHZ 64, 72, 74; 91, 334, 336; BGH, NJW 1991, 691, 692; heute allg. M., Palm (Fn. 4), § 181 BGB Rz. 15; Schramm (Fn. 5), § 181 BGB Rz. 24; Schilken (Fn. 5), § 181 BGB Rz. 36; Flume (Fn. 5), § 48, 4. 40 BGHZ 64, 72, abl. Zöllner/Noack (Fn. 16), § 35 GmbHG Rz. 135 m. w. N.; siehe auch K. Schmidt (Fn. 13), § 48 II 3 b. 41 Uwe H. Schneider (Fn. 14), § 35 GmbHG Rz. 55. 42 BGHZ 64, 72, 76 f.; zust. Uwe H. Schneider (Fn. 14), § 35 GmbHG Rz. 94. 43 BayObLG, BB 1993, 746, 747; Ellenberger (Fn. 13), § 181 BGB Rz. 18; Palm (Fn. 4), § 181 BGB Rz. 25; Leptien (Fn. 5), § 167 BGB Rz. 61. 44 So Palm (Fn. 4), § 181 BGB Rz. 15. 45 So z. B. Schramm (Fn. 5), § 181 BGB Rz. 24 ff. 46 Flume (Fn. 5), § 48, 4; Schilken (Fn. 5), § 181 BGB Rz. 36. 47 Auf diesen Gesichtspunkt stellt BGHZ 68, 72, 74, wenn auch in etwas anderem Zusammenhang, mit Recht ab.
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Erteilt der Hauptbevollmächtigte Untervollmacht, ein konkret bezeichnetes Geschäft entweder mit dem Unterbevollmächtigten selbst oder mit einem von dem Unterbevollmächtigten vertretenen Dritten abzuschließen, so betrifft die Untervollmacht ein Geschäft, das der Hauptbevollmächtigte hätte abschließen können. Mit der Bevollmächtigung für dieses Geschäft überschreitet der Hauptbevollmächtigte seine Vertretungsmacht also nicht48. Anders mag es sein, wenn der Hauptbevollmächtigte eine allgemeine Untervollmacht mit Gestattung des Selbstkontrahierens erteilt. Damit gäbe der Hauptbevollmächtigte dem Unterbevollmächtigten namens des Prinzipals eine Macht, die er selbst nicht hat. (c) Der Prokurist wird zwar durch die Geschäftsführer bestellt. Dennoch gilt die Prokura nicht als Untervollmacht in dem hier erörterten Sinn. Deshalb kann der Prokurist die Gesellschaft in Geschäften mit dem Geschäftsführer oder einem von dem Geschäftsführer vertretenen Dritten vertreten, auch wenn der Geschäftsführer von den Beschränkungen des § 181 BGB nicht befreit ist49. Eine besondere Problematik ergibt sich bei der GmbH & Co. KG für Geschäfte zwischen dieser und dem Geschäftsführer der Komplementär-GmbH. Nach der Rechtsprechung des BGH bedarf es für ein solches Geschäft der Gestattung des Selbstkontrahierens auf der Ebene der KG50. Es genügt dafür nicht, dass dem Geschäftsführer auf der Ebene der GmbH das Selbstkontrahieren gestattet ist51. Nach der hier vertretenen Auffassung handelt zwar die Komplementär-GmbH durch ihren Geschäftsführer (und in diesem Verhältnis ist dann das Selbstkontrahieren gestattet). Ein Geschäft zwischen der GmbH und der KG liegt nicht vor. § 181 BGB ist jedoch – mindestens analog – anzuwenden, wenn die GmbH durch eine Person handelt, die gleichzeitig Geschäftsgegner ist. Daraus folgt dann gleichzeitig, dass die Befreiung des Geschäftsführers auf der Ebene der GmbH nicht genügen kann. Denn die Beschränkung des § 181 ergibt sich auf der Ebene der Vertretung der KG: Die GmbH kann ohne Befreiung die KG nicht vertreten, wenn sie selbst durch eine Person handelt, die mit dem Geschäftspartner identisch ist. 3. Willensmängel und Kenntnis (a) Für Willensmängel kommt es bei dem Vertretergeschäft auf den Willensmangel beim Vertreter an (§ 166 Abs. 1 BGB). Im Falle der Untervertretung ist also der Willensmangel des Untervertreters maßgeblich. Das gilt auch, wenn die Untervertretung als Durchgangsvertretung verstanden wird. Denn der Hauptvertreter wird bei dem Abschluss nur durch den Untervertreter tätig. Bei ihm kann ein gemäß § 166 Abs. 1 BGB relevanter Irrtum nur in der Person des handelnden Untervertreters vorliegen.
48 So mit Recht LG München, NJW-RR 1989, 979; zust. Schmidt-Ott, ZIP 2007, 943, 945; s. auch Palm (Fn. 4) § 181 BGB Rz. 25; a. M. Harder, AcP 170 (1970), 295, 304. 49 BGHZ 91, 334. 50 BGHZ 58, 105. 51 So auch OLG Düsseldorf, NZG 2005, 131, das dann jedoch meint, die GmbH könnte, vertreten durch den Geschäftsführer, die Zustimmung zum Selbstkontrahieren als Geschäftsführungsmaßnahme erteilen; dazu Schmidt-Ott, ZIP 2007, 943, 945.
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(b) Auch soweit die Folgen der Willenserklärung durch Kenntnis oder Kennenmüssen gewisser Umstände beeinflusst werden, kommt es nach § 166 Abs. 1 BGB darauf an, ob der Vertreter die Umstände kannte oder kennen musste. Bei der Direktvertretung kommt es danach nur auf Kennen oder Kennenmüssen beim Untervertreter an, während bei der Durchgangsvertretung auch Kennen oder Kennenmüssen des Hauptvertreters dem Prinzipal zugerechnet wird und demgemäß schädlich ist. Der Unterschied dürfte im Ergebnis gering sein, weil nach den Grundsätzen der Wissenszurechnung52 auch im Falle der Direktvertretung die Kenntnis des Hauptvertreters im Regelfall zugerechnet wird. (c) Gemäß § 166 Abs. 2 BGB schadet dem Vertretenen auch seine eigene Kenntnis, wenn der Vertreter nach seiner Weisung gehandelt hat. Für den Fall der Untervertretung kann sich hieraus eine besondere Fragestellung für den Fall ergeben, dass der Hauptvertreter, der bestimmte Umstände kennt oder kennen muss, eine Weisung an den Untervertreter erteilt und der Untervertreter aufgrund dieser Weisung das Geschäft abschließt. Soweit die Vertretung als Durchgangsvertretung verstanden wird, folgt die Zurechnung des Wissens des Hauptvertreters beim Vertretenen für diesen Fall bereits aus § 166 Abs. 1 BGB. Handelt der Untervertreter direkt für den Prinzipal, so ändert sich das Ergebnis – auch außerhalb der sonstigen Grundsätze der Wissenszurechnung – nicht: in diesem Fall ist die Weisung dem Prinzipal zuzurechnen. Wenn der Hauptvertreter die Umstände kannte oder kennen musste, wird dies daher gemäß § 166 Abs. 1 BGB dem Prinzipal zugerechnet, so dass er im Verhältnis zu dem Untervertreter in der Lage des § 166 Abs. 2 BGB ist. 4. Dauer und Widerruf der Vollmacht Die Abhängigkeit der Untervollmacht von der Hauptvollmacht wirft besondere Fragen auf, wenn die Hauptvollmacht, nicht aber die Untervollmacht, von vornherein befristet ist oder widerrufen wird. Auf den ersten Blick müsste die Vertretungsmacht des Untervertreters bei Annahme einer Durchgangsvertretung zwingend vom Fortbestand der Hauptvollmacht abhängen, während sich dies bei Annahme einer Direktvertretung jedenfalls nicht zwingend ergibt53. Davon, wie der Untervertreter auftritt, könnte es danach abhängen, ob er (noch) Vertretungsmacht hat oder nicht. (a) Ist die „Untervollmacht“ eine (zweite) namens des Prinzipals erklärte Hauptvollmacht, so ist Dauer und Bestand der (ersten) Hauptvollmacht für die Untervollmacht grundsätzlich ohne Belang54. Das ist ganz offensichtlich angemessen, wenn die Vollmacht namens der juristischen Person von dem Vertretungsorgan erteilt wird: der Bestand der Vollmacht ist nicht von Fortbestand der Organstellung abhängig. Bei der rechtsgeschäftlichen Vertretung des Prinzipals ist zu prüfen, ob sich die Berechtigung zur Erteilung von Untervollmachten auch darauf erstreckt, eine über die Laufzeit der Hauptvollmacht hinausreichende 52 Siehe nur Schramm (Fn. 5), § 166 BGB Rz. 17 ff. 53 Gegen die Annahme solcher zwingenden Folgen im Ergebnis mit Recht Bous, RNotZ 2004, 483, 485 ff. 54 Schilken (Fn. 5), § 181 BGB Rz. 68; Leptien (Fn. 5), § 167 BGB Rz. 61; a. M. Gerlach (Fn. 4), S. 56, 76.
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Untervollmacht zu erteilen. Die Frage ist vor allem für zeitlich befristete Hauptvollmachten relevant. Unbeschränkte Untervollmachten werden in diesem Fall jedenfalls an die Laufzeit der Hauptvollmacht gebunden sein55. Anderes mag für eine reine Vollzugsvollmacht im Rahmen eines von dem Hauptvertreter aufgrund der Hauptvollmacht vorgenommenen Geschäftes gelten56. (b) Im Falle der Durchgangsvertretung ist die Macht des Untervertreters zur Vertretung des Prinzipals selbstverständlich von dem Fortbestand der Hauptvollmacht abhängig57. Nach der hier vertretenen Auffassung ist dies nur relevant, wenn der Hauptvertreter organschaftlich oder durch Generalbevollmächtigte vertreten wird. (c) Beim Widerruf der Vollmacht ist zu differenzieren. Wo eine Durchgangsvertretung stattfi ndet, können Hauptvollmacht und Untervollmacht fraglos gesondert nämlich im ersten Fall vom Prinzipal, im zweiten vom Hauptvertreter widerrufen werden. Für die „Untervollmacht“ zur Direktvertretung steht jedenfalls dem Prinzipal das Widerrufsrecht zu58. Aber auch der Hauptvertreter kann sie – aufgrund seiner Hauptvertretungsmacht, wenn diese fortbesteht – widerrufen59. Problematisch ist der Fall, dass dem Prinzipal die Untervollmacht nicht bekannt ist und er deshalb nur die Hauptvollmacht gegenüber dem Hauptbevollmächtigten widerruft. In diesem Fall muss die Auslegung der Hauptvollmacht und der in ihr ausdrücklich oder implizit enthaltenen Autorisierung zur Erteilung von Untervollmachten ergeben, ob und inwieweit die Untervollmacht an den Fortbestand der Hauptvollmacht gebunden sein muss60. Eine Differenzierung nach dem Gegenstand der Untervollmacht – Abschlussoder bloße Vollzugsvollmacht61 – ist hier durchaus möglich. 5. Vertretung ohne Vertretungsmacht Der Ausgangspunkt für die Rechtsprechung, in der Gestaltung der Untervertretung zu differenzieren, zielt auf die sachgerechte Zuordnung der Haftung des vollmachtlosen Untervertreters. Angemessene Folgen scheinen sich hier in der Tat auf den ersten Blick zwanglos zu ergeben, wenn danach unterschieden wird, ob der Untervertreter als Vertreter des Hauptvertreters oder als Vertreter des Prinzipals aufgetreten ist. Indessen sind die Folgen nicht zwingend an dieses Auftreten geknüpft. (a) Kann der Untervertreter den Prinzipal deshalb nicht vertreten, weil die Untervollmacht nicht besteht oder mangelhaft ist, so handelt der Untervertreter ohne Vertretungsmacht und ihn trifft unbedenklich die Haftung aus § 179 BGB.
55 Leptien (Fn. 5), § 167 BGB Rz. 61; siehe auch Schilken (Fn. 5), § 167 BGB Rz. 68. 56 Siehe die Beispiele bei Bous, RNotZ 2004, 483, 487 f. 57 Dazu Bous, RNotZ 2004, 483, 486 mit Vorschlägen zur Lösung der Untervollmacht vom Fortbestand der Hauptvollmacht. 58 Schilken (Fn. 5), § 167 BGB Rz. 69. 59 Schilken (Fn. 5), § 167 BGB Rz. 69. 60 Bous, RNotZ, 483, 486 ff. 61 Siehe oben S. 217 f.
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(b) Problematisch ist dagegen der Fall, dass die Untervollmacht besteht, aber die Hauptvollmacht nicht oder nicht mehr besteht. Auch in diesem Fall kann der Untervertreter den Prinzipal nicht vertreten. Nach der Rechtsprechung haftet in diesem Fall nur der Untervertreter, wenn er direkt für den Prinzipal aufgetreten ist62, während (nur) der Hauptvertreter haften soll, wenn der Untervertreter als Durchgangsvertreter für den Hauptvertreter aufgetreten ist63. Die Literatur differenziert anders. Nach einer Meinung haftet der Untervertreter für das Fehlen der Hauptvollmacht selbst dann, wenn er als Durchgangsvertreter aufgetreten ist64. Nach wohl herrschender Auffassung haftet der Untervertreter, welcher die Mehrstufigkeit seines Vertretungsverhältnisses offenlegt, unabhängig von der Konstruktion der Untervertretung nicht, wenn der Mangel der Vertretungsmacht auf dem Verhältnis zwischen Hauptbevollmächtigtem und Prinzipal beruht65. Denn mit der Offenlegung der Ableitung seiner Vertretungsmacht habe er deutlich gemacht, dass er für den Bestand der Hauptvollmacht nicht haften kann. In diesem Fall soll dann der Hauptvertreter gemäß § 179 BGB – im Falle der Direktvertretung analog – haften66. (c) Beschränkt man die Fälle der Durchgangsvertretung wie hier auf die Fälle der organschaftlichen Vertretung oder der Generalvertretung des Hauptvertreters, so handelt dieser und er, und nur er haftet, wenn der Vertretungsmangel seine Vertretungsmacht betrifft. Dies ist dann auch ganz offensichtlich das sachgerechte Ergebnis. Das sollte auch für die Haftung aus Art. 8 WG gelten. In einem vom BGH entschiedenen Fall hatte der Geschäftsführer der Komplementär-GmbH einer – mangels Betriebs eines Grundhandelsgeschäftes vor Eintragung im Handelsregister – noch nicht und auch später nicht mehr entstandenen GmbH & Co. KG einen Wechsel ausgestellt67. Der BGH hielt den Geschäftsführer aus Art. 8 WG für verpfl ichtet. Offenbar hatte der Geschäftsführer den Wechsel – wie üblich – unmittelbar im Namen der GmbH & Co. KG unterzeichnet und bei der Unterschrift nicht – wie es nach der hier vertretenen Auffassung korrekt ist – als Ausstellerin die GmbH & Co. KG vertreten durch die GmbH und diese vertreten durch den Geschäftsführer angegeben. Hätte er in dieser Weise gezeichnet, so wäre der Tatbestand des Art. 8 WG nicht erfüllt gewesen: Die Unterschrift im Sinne des Art. 8 ist diejenige der GmbH, die durch ihren für sie vertretungsberechtigten Geschäftsführer gehandelt hatte. (d) Legt der Untervertreter die Ableitung seiner – vermeintlichen – Vertretungsmacht nicht offen, so ist seine Haftung aus § 179 BGB ebenfalls unproblematisch.
62 63 64 65
BGHZ 68, 391. BGHZ 32, 250. Leptien (Fn. 5), § 167 BGB Rz. 62; Palm (Fn. 4), § 167 BGB Rz. 44. Schilken (Fn. 5), § 167 BGB Rz. 73; Schramm (Fn. 5), § 167 BGB Rz. 99; Flume (Fn. 5), § 49, 5; Bork (Fn. 5), Rz. 1452; Larenz/Wolf, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, 9. Aufl. 2004, § 49 Rz. 31; Medicus (Fn. 5), Rz. 996. 66 Flume (Fn. 5), § 49, 5; Larenz/Wolf (Fn. 65), § 49 Rz. 31; Schilken (Fn. 5), § 167 BGB Rz. 73; Schramm (Fn. 5), § 167 BGB Rz. 99. 67 BGHZ 59, 179, 185; die Entscheidung beruht aber darauf, dass die bis zur Eintragung bestehende GbR nach damaliger Rechtsprechung nicht rechtsfähig und deshalb auch nicht wechselfähig war.
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Legt er die Ableitung seiner vermeintlichen Vertretungsmacht offen, so sollte das Ergebnis nicht davon abhängen, ob er unmittelbar für den Vertretenen oder – nach der hier vertretenen Auffassung in einer falsa demontratio – für den Hauptvertreter auftritt. Mit den bereits genannten Literaturstimmen sollte in diesem Fall § 179 BGB dahin ausgelegt werden, dass die Haftung den Hauptvertreter und nur diesen trifft. Das ergibt sich zwar nicht aus dem Wortlaut des § 179 BGB. Das BGB regelt aber die Untervertretung überhaupt nicht. Die sachgerechte Lösung des ungeregelten Falls hat konkret an der Wirkungsnorm des § 179 BGB anzusetzen und nicht die Grundsätze des Vertretungsrechts insgesamt zu verbiegen. 6. Eigenhaftung des Vertreters Auch den vertretungsberechtigten Vertreter kann eine Eigenhaftung wegen culpa in contrahendo treffen68. Diese Haftungsnorm knüpft nicht direkt an ein Vertreterhandeln an. Allerdings setzt diese Haftung typischerweise ein Handeln desjenigen voraus, der „in besonderem Maße Vertrauen für sich in Anspruch nimmt.“ Im Falle der Untervertretung kann dies auch der Hauptvertreter sein, selbst wenn – bei Annahme der Direktvertretung – er selbst nicht unmittelbar an dem Geschäftsabschluss beteiligt war. In den Fällen, für die hier eine Durchgangsvertretung angenommen wird, ist klar, dass der Hauptvertreter sachgerechter Adressat einer Haftung aus § 311 Abs. 3 BGB ist – möglicherweise neben dem unmittelbar handelnden Untervertreter.
III. Ergebnisse 1. Rechtsgeschäftliche Untervertretung ist im Regelfall nur im Wege der sogenannten Direktvertretung möglich. 2. Anderes gilt, wenn der Hauptvertreter durch gesetzliche Vertreter, Prokuristen oder Handlungsbevollmächtigte handelt. In diesem Fall erscheint das Auftreten der handelnden natürlichen Personen als Handeln des Hauptvertreters. Dem soll die rechtliche Behandlung folgen. 3. Ein gesetzlicher Vertreter kann sich nicht in dieser Eigenschaft aufgrund Spezialvollmacht von einem Anderen vertreten lassen. Eine solche Vollmacht ist nur als Vollmacht des Vertretenen möglich und deshalb nur unter den für eine solche Vollmacht geltenden Voraussetzungen wirksam. 4. Den Untervertreter trifft die Haftung des Vertreters ohne Vertretungsmacht, wenn die Untervollmacht nicht besteht oder mangelhaft ist oder wenn er die Ableitung zu einer Vertretungsmacht von einem Hauptvertreter nicht offengelegt hat. Hat er die Ableitung offengelegt und besteht die Untervollmacht, nicht aber die Vertretungsmacht des Hauptvertreters, so haftet der Untervertreter – auch im Falle der Direktvertretung – nicht aus § 179 BGB, wenn das Geschäft für den Prinzipal deshalb nicht wirksam wird, weil dem Hauptvertreter die Vertretungsmacht fehlt. In diesem Fall haftet der Hauptvertreter aufgrund einer entsprechenden Anwendung des § 179 BGB. 68 § 311 Abs. 3 BGB.
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Zur Zukunft des gesellschaftsrechtlichen Kapitalschutzes in Europa Inhaltsübersicht I. Einleitung II. Kritik an der Kapitalrichtlinie III. Modelle 1. Dereguliertes Grundkapitalmodell (Delaware) a) Inhalt des Konzepts aa) Aufbringung des Grundkapitals bb) Ausschüttungen cc) Kapitalerhaltung dd) Vertraglicher Selbstschutz („covenants“) ee) Rolle der Hauptversammlung b) Kostenanalyse c) Effektive Lösung aus Sicht der Unternehmenspraxis? 2. Modell ohne Grundkapital (Kalifornien, Australien, Kanada, Neuseeland) a) Inhalt des Konzepts aa) Kapitalsystem bb) Ausschüttungen cc) Schutz des Gesellschaftsvermögens dd) Vertraglicher Selbstschutz („covenants“) ee) Rolle der Hauptversammlung
b) Kostenanalyse c) Effektive Lösung aus Sicht der Unternehmenspraxis? 3. Dominanz des Solvenztests a) Inhalt des Konzepts b) Kostenanalyse c) Effektive Lösung aus Sicht der Unternehmenspraxis? IV. Vergleichende Zusammenfassung 1. Kosten 2. Gesellschaftsrechtliche Grundelemente a) Das Prinzip der Haftungsbeschränkung b) Grundkapital/Nennwertaktien – Eigenkapital/nennwertlose Aktien c) Bestimmung und Sicherungen der Einlage d) Verwendung des von den Aktionären eingezahlten Kapitals e) Kapitalerhöhungen f) Berechnung des ausschüttungsfähigen Betrags, Offenlegung und Haftung g) Kapitalerhaltung h) Rechte der Hauptversammlung V. Ergebnis
I. Einleitung Ist eine Reform der 2. Richtlinie (EU-Kapitalrichtlinie)1 notwendig? Und wenn ja, wie müsste sie aussehen? Bedürfte es einer vollumfänglichen Reform in Anlehnung an Drittstaatenmodelle, die kein Grundkapitalsystem vorsehen? Oder wären neue zusätzliche Regelungen im Hinblick auf Ausschüttungen
1 Zweite Richtlinie des Rates vom 13.12.1976 (77/91/EWG), ABl. EG Nr. L 26/1 vom 31.1.1977 und Änderungsrichtlinie 2006/68/EG vom 6.9.2006, ABl. EU Nr. L 264/32 vom 25.9.2006.
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ausreichend? Das waren die Fragen, die im Zusammenhang mit der 2. Richtlinie in den letzten Jahren diskutiert und zu denen von unterschiedlichen Expertengruppen Reformvorschläge unterbreitet worden sind 2. Die Europäische Kommission hatte im Jahr 2008 verlautbart, dass sie in naher Zukunft keine Änderungen der 2. Richtlinie vornehmen wird. Zur Begründung beruft sie sich darauf, dass die 2. Richtlinie flexible Lösungen anbiete und mit ihr nur geringe Kosten verbunden seien3. Diese Aussagen sollen im Folgenden unter Heranziehung von Ergebnissen einer EU-Machbarkeitsstudie aus dem Jahre 2008 überprüft werden. Dabei werden Alternativmodelle herangezogen, die in Drittstaaten existieren (Australien, Delaware, Kalifornien, Kanada und Neuseeland)4, sowie ein in der Literatur vorgeschlagenes Konzept (Modell der Rickford-Gruppe5). Darauf aufbauend soll ein Beitrag für eine längerfristige Aussage zur Reformbedürftigkeit der 2. Richtlinie geleistet werden. Da sich der Jubilar in seiner anwaltlichen Laufbahn stets mit Fragen des Gesellschaftsrechts insbesondere auch auf EU-Ebene und dort in seiner Funktion als Leiter der deutschen CCBE-Delegation (Delegation des Council of Bars and Law Societies of Europe), Vizepräsident der CCBE und schließlich Präsident der CCBE befasst hat, hoffen wir, dass der Beitrag auf sein Interesse stößt. Im Rahmen dieser Prüfung sollen im Folgenden, nachdem in einem ersten Punkt nochmals auf die Kritik an der Kapitalrichtlinie eingegangen wird (s. unter II.), die einschlägigen Drittstaatenmodelle, die ihr Vorbild in den Rechtsordnungen von Delaware, Kalifornien, Australien, Kanada und Neuseeland nehmen, und das von der Rickford-Gruppe vorgeschlagene „Dominanzmodell“ untersucht werden (s. unter III.). Im Anschluss daran werden die wesentlichen Inhalte der Elemente unter Vergleich mit der Kapitalrichtlinie analysiert (s. unter IV.), bevor unter Verwendung der Ergebnisse im Rahmen einer rechtsvergleichenden Untersuchung Aussagen im Hinblick auf die Notwendigkeit der Reform der 2. Richtlinie getroffen werden (s. unter V.).
II. Kritik an der Kapitalrichtlinie Die Kritiker der Kapitalrichtlinie haben sich im Wesentlichen auf vier Punkte gestützt: Die zu hohen Kosten, die mangelnde Flexibilität, die Ineffi zienz 2 Vgl. zu diesen Reformvorschlägen im Überblick Lanfermann/Röhricht, BB-Special 5/2007 zu Heft 17, 8 (10 ff.); Fuchs/Stibi, BB 2007, 93 (94 ff.); Pellens/Jödicke/Schmidt, Der Konzern 2007, 427 (430 ff.); KPMG, Feasibility study on an alternative to the capital maintenance regime, Main Report, 2008, abrufbar unter http://ec.europa.eu/ internal_market/company/capital/index_en.htm (Stand: 28.4.2010), S. 269 ff. 3 Vgl. Stellungnahme der Generaldirektion Binnenmarkt der EU-Kommission, abrufbar unter: http://ec.europa.eu/internal_market/company/docs/capital/feasbility/marktposition_en.pdf (Stand: 28.04.2010), S. 1 f. 4 Diese Drittstaatenmodelle wurden in der von der Europäischen Kommission in Auftrag gegebenen EU-Machbarkeitsstudie ausführlich aus rechtlicher und ökonomischer Sicht analysiert. Vgl. KPMG, Feasibility study on an alternative to the capital maintenance regime, 2008, abrufbar unter http://ec.europa.eu/internal_market/company/capital/ index_en.htm (Stand: 28.4.2010). Zu den Kernergebnissen der Studie vgl. Schruff/ Lanfermann, WPg 2008, 1099; Lanfermann/Richard, Der Aufsichtsrat, Heft 3/2008, 39; Maul/Richard, Status: Recht 2008, 169. 5 Vgl. Rickford, European Business Law Review 2004, 921.
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mit Blick auf den Gläubigerschutz6 und das mangelnde Zusammenspiel der Ausschüttungsregeln mit den Rechnungslegungsvorschriften7. Unter Kostengesichtspunkten haben die Kritiker insbesondere das Mindestkapital, das Nennwertsystem, die Prüfung bei der Erbringung von Sacheinlagen, die Kapitalherabsetzung und das Verbot der Financial Assistance als überflüssige Kostenverursacher ausgemacht, die bei einem Wechsel zu einem alternativen Drittstaaten-Modell vermieden werden könnten8. Gleichzeitig argumentierten die Kritiker, dass die Abschaffung dieser Kostenauslöser, insbesondere des Nennwertsystems, mehr Flexibilität mit sich bringen würde9. Über die zu hohe Kostenverursachung hinaus ist dem Mindestkapital10 und den Regelungen zur Kapitalerhaltung Ineffi zienz mit Blick auf den Gläubigerschutz bescheinigt worden, da das Kapital als Kapitalreserve zu gering und nicht der wirtschaftlichen Lage des jeweiligen Unternehmens angepasst sei. Schließlich ist ein bedeutender Kritikpunkt in der unzureichenden Berücksichtigung von Rechnungslegungsaspekten im EU-Kapitalschutzsystem gesehen worden, wobei dieser vorrangig das mangelhafte Zusammenspiel von gesellschaftsrechtlichen Ausschüttungsregeln und den durch den Einfluss der IFRS-Rechnungslegung stärker informationsorientiert ausgelegten Rechnungslegungsvorgaben betrifft. Die zunächst dargestellten Fragen nach den Kosten, der Effi zienz und dem Schutz der Aktionäre und Gläubiger sollen im Folgenden – wie eingangs 6 Zur Kritik in der Literatur vgl. z. B. Armour, Modern Law Review 2000, 355; Enriques/ Macey, Cornell Law Review 2001, 1165; Kahan, Legal Capital Rules an the Structure of Corporate Law: Some Observations on the Difference Between European and U.S. Approaches, in Hopt/Wymeersch (Hrsg.), Capital Markets and Company Law, 2003, S. 145 ff.; Kübler, The Rules of Capital under Pressure of the Securities Markets, in Hopt/Wymeersch (Hrsg.), Capital Markets and Company Law, 2003, S. 95 ff.; Kübler, ZHR 1995, 550; Kübler, Aktie, Unternehmensfi nanzierung und Kapitalmarkt, 1989; Mülbert/Birke, European Business Organization Law Review 2002, 695; Wymeersch, Company Law in Europe and European Company Law, in Referate für den 1. Europäischen Juristentag, 2001, S. 85 ff.; Grunewald/Noack, GmbHR 2005, 189; Grundmann, Europäisches Gesellschaftsrecht, 2004, S. 143 ff.; vgl. zur Funktion des Grundkapitals und Kritik am Mindest- und Festkapital auch Koll-Möllenhoff, Das Prinzip des festen Grundkapitals im europäischen Gesellschaftsrecht, 2004, S. 43 ff.; Wilhelmi, GmbHR 2006, 13, 14 ff.; zur Kritik aus England vgl. Micheler, ZGR 2004, 324, 330 ff. Andere Autoren betonen die Stärken des bestehenden Systems und sprechen sich gegen grundlegende Eingriffe aus. Vgl. dazu z. B. Bezzenberger, Das Kapital der Aktiengesellschaften, 2005, S. 191 ff.; Schön, Der Konzern 2005, 162; Arbeitsgruppe Europäisches Gesellschaftsrecht, ZIP 2003, 863. 7 Rickford, European Business Law Review 2004, 919 ff. (Rickford-Gruppe); Boschma/ Lennarts/Schutte-Veenstra, Alternative Systems for Capital Protection, Final Report 2005 (Niederländische Gruppe); Lutter, ZGR 2006, Sonderheft 17 (Lutter-Gruppe); Enriques/Macey, Creditors versus Capital Formation: The Case aigainst the European Legal Capital, Cornell Law Review, 86 (2001), 1165; Maul/Lanfermann/Richard, AG 2010, 279 f., Mülbert/Birke, EBOR 3 (2002), 695; Fuchs/Stibi, BB 2007, 93, 94 ff.; Lanfermann/Röhricht, BB Special 5/2007, 8, 10 ff.; Pellens/Jödicke/Schmidt, Der Konzern 2007, 427, 430 ff. 8 Vgl. High Level Group, Report of the High Level Group of Company Law Experts on a Modern Regulatory Framework for Company Law in Europe, 2002, abrufbar unter: http://ec.europa.eu/internal_market/company/docs/modern/report_en.pdf (Stand: 28.04.2010), S. 89, 91; Rickford, Reforming capital, S. 929. 9 Vgl. High Level Group (Fn. 8), S. 89, 91; Rickford, Reforming capital, S. 929, 944. 10 Vgl. High Level Group (Fn. 8), S. 88, 95 ff.; Rickford, Reforming capital, S. 931, 938, 947.
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beschrieben – näher untersucht werden. Hingegen wird auf das mangelnde Zusammenspiel der Kapitalrichtlinie und den Rechnungslegungsvorschriften in diesem Beitrag nicht näher eingegangen11.
III. Modelle Bei den im Folgenden näher zu untersuchenden Modellen wird unterschieden zwischen dem deregulierten Grundkapitalmodell, das sein Vorbild in Delaware hat, und verschiedenen Modellen ohne Grundkapital, wobei auf diejenigen in Kalifornien, Australien, Kanada und Neuseeland zurückgegriffen wird. Hinzu tritt in dieser letzten Kategorie das auf den Vorschlag der Rickford-Gruppe zurückgehende Modell der Dominanz des Solvenztests, das auch auf das Grundkapitalsystem verzichtet. 1. Dereguliertes Grundkapitalmodell (Delaware) a) Inhalt des Konzepts aa) Aufbringung des Grundkapitals Die Ausschüttungsregelungen in Delaware sind in ein Grundkapitalsystem eingebettet. Auch bei diesem wird über Nennwertaktien ein bestimmter Betrag der Einlage dem Grundkapital zugeschlagen, und es besteht die Möglichkeit des Agios. Zudem verfügt es über Regelungen zur Kapitalaufbringung. So wird entsprechend der Regelung des § 152 Delaware General Corporation Law (DGCL) zwischen Bar- und Sacheinlagen unterschieden, wobei als Sacheinlagen nur materielle und immaterielle Vermögenswerte sowie sonstige vermögenswerte Vorteile für die Gesellschaft („any benefit to the corporation“) in Betracht kommen, nicht hingegen zukünftige Dienstleistungen12. Auch ist die Werthaltigkeit der Einlagen zu prüfen, wobei das Recht von Delaware eine Prüfung durch die Direktoren vorsieht, wenn nicht die Satzung dieses Recht den Aktionären überträgt (§ 153(a) DGCL)13. Trotz dieser gleichen Ansätze weist das Grundkapitalsystem von Delaware zahlreiche Abweichungen zu demjenigen der 2. Richtlinie auf. Dieses unterscheidet sich von der 2. Richtlinie zunächst dadurch, dass es wegen der weitergehenden Ausschüttungsmöglichkeiten aufgrund der sogenannten „nimble dividends“ trotz einer Unterbilanz zu Ausschüttungen des Gewinns des aktuellen oder vorhergehenden Geschäftsjahres kommen kann14, das Grundkapital also nicht stets vor Ausschüttungen geschützt ist. Vielmehr wird hier die Befriedi11 S. hierzu mit weiteren Nachweisen Maul/Lanfermann/Richard, AG 2010, 279 ff. 12 In zahlreichen US-Bundesstaaten, welche die Vorschriften des Model Business Corporation Act (MBCA) umgesetzt haben, ist dies hingegen möglich (§ 6.21(b) MBCA). 13 Vgl. KPMG, Feasibility study on an alternative to the capital maintenance regime, Annexes – Part I, 2008, S. 177 ff., 180. 14 Vgl. dazu ausführlicher Kapitel III. 1. a) bb). Es ist aber darauf hinzuweisen, dass solche exzessiven Ausschüttungen gegebenenfalls gegen insolvenzrechtliche Vorschriften und „case law“ verstoßen und das persönliche Haftungsrisiko der Mitglieder des board of directors erhöhen. Vgl. KPMG, Feasibility study on an alternative to the capital maintenance regime, Main Report, 2008, S. 161.
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gung der Dividendenerwartungen der Aktionäre vor die Auffüllung eines Vermögenspuffers gestellt. Weiter ist zu sehen, dass das Aufgeld („surplus“) nach dem „legal capital“-Konzept15 von Delaware ohne jegliche Einschränkung für Ausschüttungen zur Verfügung steht. Auch insoweit bestehen daher Unterschiede zu den mitgliedstaatlichen Lösungen, die zu weiten Teilen das Agio nur unter beschränkten Bedingungen oder überhaupt nicht für Ausschüttungen zur Verfügung stellen16. Darüber hinaus ist festzustellen, dass im Gesellschaftsrecht von Delaware das Grundkapital der Gesellschaft regelmäßig sehr gering ausfällt. Dies hängt zunächst damit zusammen, dass das „board of directors“ bei der Ausgabe von Aktien nach § 154 DGCL festlegen kann, dass nur ein Teil des Verkaufserlöses als „capital“ und der Rest als „surplus“ ausgewiesen wird und ein gesetzliches Mindestkapital nicht existiert. Hinzu kommt, dass in Delaware neben Nennwertaktien („par value shares“), aus deren Summe sich das capital ergibt, auch nennwertlose Aktien („no-par shares“) ausgegeben werden können, was nach der 2. Richtlinie so nicht möglich ist. Denn werden ausschließlich nennwertlose Aktien ausgegeben, kann sogar ein „capital“ von Null ausgewiesen werden17. Theoretisch ist es daher möglich, dass nach Vornahme einer Ausschüttung keinerlei Eigenkapital verbleibt. Ein ähnliches Ergebnis lässt sich auch bei Aktien mit Nennwert erzielen, wenn dieser sehr niedrig festgesetzt wird, wobei in der Unternehmenspraxis von Delaware Aktien mit sehr geringem Nennwert vorzuherrschen scheinen (Bandbreite: 0,0001 US-$ bis 0,1 US-$). Dass überhaupt Nennwertaktien verwendet werden, wird mit steuerlichen Vorteilen gegenüber nennwertlosen Aktien begründet18. bb) Ausschüttungen Im Rechtssystem von Delaware sind als Ausschüttungsrestriktionen19 zwei alternative Testverfahren vorgesehen. Eine Gesellschaft kann einerseits Dividenden aus dem „surplus“, d. h. dem Überschuss der Netto-Vermögenswerte über das Grundkapital („capital“), ausschütten („surplus test“ bzw. „capital impairment test“)20. Andererseits sind Dividendenausschüttungen unter bestimmten Voraussetzungen selbst dann zulässig, wenn die Gesellschaft 15 Vgl. dazu ausführlich Merkt/Göthel, US-amerikanisches Gesellschaftsrecht, 2. Aufl. 2006, S. 263 ff. 16 S, insoweit die Lösung von Deutschland durch § 57 AktG, KPMG, Feasibility study on an alternative to he capital maintenance regime, Annexes – Part I, S. 91, zu der vergleichbaren Lösung in Polen s. a. a. O., S. 118, zur Lösung der fair value transfers in Schweden s. a. a. O., S. 238 f.; zur Lösung in Frankreich, die u. a. auf den „abus de biens et du credit“ abstellt, s. a. a. O., S. 58. 17 Vgl. Gevurtz, Corporation Law, 2000, S. 158; KPMG, Feasibility study on an alternative to the capital maintenance regime, Main Report, 2008, S. 161. 18 Vgl. KPMG, Feasibility study on an alternative to the capital maintenance regime, Main Report, 2008, S. 162. Vgl. zu den steuerlichen Vorteilen Drexler/Black/Sparks, Delaware Corporation Law and Practice, 2006, § 6.01. 19 Vgl. dazu ausführlich und mit Rechtsprechungsnachweisen KPMG, Feasibility study on an alternative to the capital maintenance regime, Annexes – Part I, 2008, S. 197 ff.; Richard, Kapitalschutz der Aktiengesellschaft. Eine rechtsvergleichende und ökonomische Analyse deutscher und US-amerikanischer Kapitalschutzsysteme, 2007, S. 112 ff., 217 ff. 20 Vgl. im Einzelnen Maul/Lanfermann/Richard, AG 2010, 279, 283.
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keinen „surplus“ mehr aufweist. Sie kann dann Gewinne des aktuellen und vorhergehenden Geschäftsjahrs in Form von „nimble dividends“ ausschütten („net profits test“)21. Sonderregelungen existieren für sogenannte „wasting assets corporations“, die im Rahmen des „net profit tests“ bestimmte Abschreibungen bei der Ermittlung des ausschüttungsfähigen Gewinns nicht berücksichtigen müssen 22. Weitere Beschränkungen können sich aus der Satzung ergeben (§ 170(a) DGCL). Im Gegensatz zu den meisten anderen Einzelstaaten und dem Model Business Corporation Act (MBCA)23 ist in Delaware ein Solvenztest nicht explizit vorgeschrieben. Allerdings verstoßen die Mitglieder des „board of directors“ gegen ihre Treuepfl icht gegenüber den Gläubigern, wenn sie trotz der Insolvenz der Gesellschaft eine Ausschüttung veranlassen 24. Zudem ergibt sich eine Pfl icht zur Berücksichtigung von Solvenzbetrachtungen aus dem Delaware „fraudulent transfer law“25. cc) Kapitalerhaltung Dieser eingeschränkte Schutz des Gesellschaftsvermögens setzt sich bei dem Erwerb eigener Aktien fort. Die dabei zu beachtenden gesellschaftsrechtlichen Vorschriften entsprechen im Wesentlichen denjenigen für Dividendenausschüttungen, indem sie für den Erwerb eigener Aktien einen Bilanztest („surplus test“) verlangen (§ 160 (a) DGCL), und der durch die Rechtsprechung vorgesehen Solvenztest einzuhalten ist. Und gerade ersterer Test eröffnet der Unternehmensleitung aufgrund der Möglichkeit der Neubewertung zu Marktwerten einen weiten Spielraum. Auch hinsichtlich der Anzahl der rückkaufbaren Aktien existiert keine Beschränkung, so dass es theoretisch ausreicht, wenn nach dem Aktienrückkauf noch ein Aktionär mit einer Aktie übrig bleibt26. Handelt es sich um eine in den USA börsennotierte Gesellschaft, sind allerdings umfangreiche Veröffentlichungspfl ichten zu beachten 27. Weiter bestehen im Hinblick auf die „fi nancial assistance“ und die Kapitalherabsetzungen weniger Schutzmechanismen als dies nach der 2. Richtlinie der Fall ist. Finanzielle Unterstützungen sind in Delaware ohne Einschränkungen
21 Vgl. im Einzelnen Maul/Lanfermann/Richard, AG 2010, 279, 283. 22 Vgl. KPMG, Feasibility study on an alternative to the capital maintenance regime, Main Report, 2008, S. 169 ff. Vgl. dazu grundlegend bereits Morawetz, A Treatise on the Law of Private Corporations, 2. Aufl. 1886, S. 415 ff. 23 Vgl. zum Kapitalschutz des MBCA ausführlich KPMG, Feasibility study on an alternative to the capital maintenance regime, Main Report, 2008, S. 155 ff.; Richard, Kapitalschutz der Aktiengesellschaft. Eine rechtsvergleichende und ökonomische Analyse deutscher und US-amerikanischer Kapitalschutzsysteme, 2007, S. 94 ff., 216 f., jeweils mit zahlreichen weiteren Nachweisen. 24 LaSalle Nat. Bank v. Perelman, 82 F. Supp. 2d 279 (D. Del. 2000); Pereira v. Cogan, 294 B.R. 449 (S.D. N.Y. 2003). Zu einer Beurteilung des Gläubigerschutzes im Gesellschaftsrecht Delawares vgl. auch Fleischer, RIW 2005, 92. 25 Vgl. im Einzelnen Maul/Lanfermann/Richard, AG 2010, 279, 284. 26 Vgl. KPMG, Feasibility study on an alternative to the capital maintenance regime, Annexes – Part I, 2008, S. 192. 27 Vgl. KPMG, Feasibility study on an alternative to the capital maintenance regime, Annexes – Part I, 2008, S. 193 f.
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möglich 28 und Kapitalherabsetzungen unter weniger weitreichenden Bedingungen. Im Hinblick auf letztere sieht das Recht von Delaware zunächst vor, dass sie von dem „board of directors“ mit einfacher Mehrheit ohne Zustimmung der Aktionäre und ohne öffentliche Bekanntmachung beschlossen werden können. Für die Herabsetzung stehen dann gemäß § 244 DGCL verschiedene Möglichkeiten zur Verfügung. Beispielsweise kann das „capital“ dadurch verringert werden, dass ausgegebene Aktien eingezogen werden (§ 244(a)(1) DGCL). Weiterhin können bestimmte Beträge vom „capital“ zum „surplus“ transferiert werden, so z. B. der Teil des „capital“, der die Summe der Aktiennennwerte übersteigt, sowie der komplette im „capital“ ausgewiesene Anteil des Verkaufserlöses der nennwertlosen Aktien (§ 244(a)(4) DGCL)29. Darüber hinaus eröffnet § 242(a) (3) DGCL im Wege der Satzungsänderung die Möglichkeit, die Nennwerte der Aktien herabzusetzen oder Nennwertaktien in nennwertlose Aktien umzuwandeln. In diesen Fällen ist allerdings die mehrheitliche Zustimmung der Aktionäre erforderlich (§ 242(b)(1) DGCL). Für alle diese Verfahren ist weiter erforderlich, dass die Vermögenswerte im Anschluss an die Kapitalherabsetzung und die ggf. nachfolgende Ausschüttung des sich dabei erhöhenden „surplus“ die Schulden decken müssen. Zu sehen ist insoweit zudem, dass die Regelungen von eingeschränkter Relevanz sind, da das „capital“ in der Unternehmenspraxis regelmäßig so gering ist, dass es kaum noch etwas herabzusetzen gibt 30. Insgesamt kann festgehalten werden, dass dem grundsätzlich vor Ausschüttungen geschützten Kapital keine nennenswerte Pufferfunktion aus Sicht der Gläubiger zukommt, es durch die Nutzung von „nimble dividends“ zu einer mangelnden Auffüllung einer Unterbilanz kommen kann und dem „board of directors“ auch ansonsten ein hoher Spielraum in der Ausschüttungspolitik zukommt. Dennoch haben die im Rahmen der EU-Machbarkeitsstudie für ein alternatives Kapitalschutzsystem befragten Unternehmen – jeweils auf Basis des aktuellsten US-GAAP-Konzernabschlusses – hohe Eigenkapitalquoten in Höhe von 43 % bis 86 % aufgewiesen. Bis auf ein verschwindend geringes „capital“ bestand das Eigenkapital dieser Unternehmen aus „surplus“ und Gewinnrücklagen („retained earnings“). Die befragten Unternehmensvertreter hatten insoweit aber darauf aufmerksam gemacht, dass andere Regeln und gesetzliche Bestimmungen (z. B. Haftung und insolvenzrechtliche Vorschriften) sowie Marktkräfte diesen Spielraum stark einschränken31. Zu den genannten insolvenzrechtlichen Regelungen zählen diejenigen des „fraudulent transfer act“32. Hiernach können u. a. Dividendenausschüttungen nach Anfechtung für 28 Vgl. KPMG, Feasibility study on an alternative to the capital maintenance regime, Annexes – Part I, 2008, S. 194. 29 Vgl. zu den verschiedenen Möglichkeiten ausführlich KPMG, Feasibility study on an alternative to the capital maintenance regime, Annexes – Part I, 2008, S. 195 f.; Black, Corporate Dividends and Stock Repurchases, 2006, § 2.26 bis 2.30. 30 Vgl. KPMG, Feasibility study on an alternative to the capital maintenance regime, Main Report, 2008, S. 178. Vgl. auch Bauer, Gläubigerschutz durch eine formelle Nennkapitalziffer – Kapitalgesellschaftsrechtliche Notwendigkeit oder überholtes Konzept?, 1995, S. 224. 31 Vgl. KPMG, Feasibility study on an alternative to the capital maintenance regime, Main Report, 2008, S. 163. 32 Vgl. hierzu auch Booth in Das Kapital der Aktiengesellschaft in Europa, ZGR Sonderheft Nr. 17, 2006, S. 717, 737, sowie Engert, Kapitalgesellschaften ohne gesetzliches
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unwirksam erklärt werden, in denen die Gesellschaft mit der Absicht handelte, Gläubiger zu schädigen, was vermutet wird, wenn die Gesellschaft insolvent war oder dies kurz nach der Transaktion geworden ist (§ 1304, 1304(a) und 1304(b) des Delaware Statutory State Law). Im Ergebnis steht den Gläubigern und Aktionären daher ein Instrument zu, mit dem sie regulierend eingreifen können, auch wenn dieses regelmäßig erst spät – bei Insolvenz – eingreift und nur denen hilft, die tatsächlich anfechten. Ein vergleichbares Konzept kennt die 2. Richtlinie nicht. Jedoch existieren bspw. in Deutschland ähnliche Ansätze. Hinzuweisen ist insoweit auf die – allerdings nur für die GmbH zur Anwendung gelangende – Illiquiditätsverursacherhaftung nach § 64 Satz 3 GmbHG; sowie – auch wenn sie einen Eingriff seitens des Gesellschafters voraussetzt – die durch die Rechtsprechung etablierte Existenzvernichtungshaftung33. Weiter schützen die „fraudulent transfer“ Regelungen in bestimmten Fallgestaltungen auch vor verdeckten Gewinnzuwendungen. Denn nach den §§ 1304 und 1304(a) des Delaware Statutory State Law kann eine Transaktion angefochten werden, welche die Gesellschaft eingeht, ohne einen angemessenen Wert dafür zu erhalten und die Gesellschaft (1) entweder in ein Geschäft involviert war oder ist, und die verbleibenden Vermögenswerte der Gesellschaft unverhältnismäßig gering im Vergleich zu diesem sind oder (2) die Gesellschaft davon ausgehen musste, dass sie die Schulden nicht begleichen kann, wenn sie fällig werden (§ 1304, 1304(a) des Delaware Statutory State Law)34. Zudem ist insoweit auf die durch den Sarbanes-Oxley Act eingeführten Regeln zu „related transactions“ zu verweisen, wonach Mittelzuwendungen an nahestehende Personen offengelegt werden müssen35. Im Vergleich zur europäischen Lösung, die neuerdings über die 4. Richtlinie Offenlegungspfl ichten im Anhang vorsieht, gehen diese Vorgaben weiter. Im Vergleich zur deutschen Lösung des § 57 AktG handelt es sich bei den Delaware-Regelungen um ein später ansetzendes Mittel; auch ist festzustellen, dass durch die Aktionäre und Gläubiger Gestaltungsrechte ausgeübt werden müssen. dd) Vertraglicher Selbstschutz („covenants“) Weiter spielen in Delaware „covenants“, d. h. der vertragliche Selbstschutz mittels Vertragsklauseln, durch die der Kreditnehmer für die Dauer des Kredits dem Gläubiger gegenüber zu einem bestimmten Verhalten verpfl ichtet wird, im Hinblick auf den Gläubigerschutz eine zentrale Rolle. In Delaware fordern zahlreiche Langzeitkreditgeber (Banken und Anleihegläubiger) und Vorzugsaktionäre vertragliche Begrenzungen auch im Hinblick auf Dividendenausschüttungen und andere Formen der Ausschüttung. Typische Vereinbarungen Kapital: Lehren aus dem US-amerikanischen Recht, in Lutter (Hrsg.), Das Kapital der Aktiengesellschaft in Europa, ZGR-Sonderheft Nr. 17, 2006, S. 743, 767. 33 BGH, NJW 2007, 2689 – TRIHOTEL; BGHZ 176, 204 – Gamma; BGH, NJW-RR 2008, 629; BGH, NJW-RR 2008, 1417; BGH, NZG 2009, 545 – Sanitary. 34 Vgl. KPMG, Feasibility study on an alternative to the capital maintenance regime, Annexes – Part I, 2008, S. 186 ff.; WCC Holding Corp., 171 B.R. 972, Bankr. N.D. Tex. 1994. 35 Vgl. KPMG, Feasibility study on an alternative to the capital maintenance regime, Annexes – Part I, 2008, S. 189.
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dieser Art betreffen die Beschränkung von Dividendenausschüttungen oder den Rückerwerb eigener Aktien bis das Gesellschaftsvermögen eine gewisse Höhe erreicht hat, die Verpfl ichtung der Gesellschaft, bestimmte Bilanztests durchzuführen bzw. fi nanzielle Kennzahlen einzuhalten sowie die Beschränkung von Neuverschuldungen, Kapitalausgaben und Investitionen36. ee) Rolle der Hauptversammlung Im Hinblick auf die Hauptversammlung ist weiter festzustellen, dass ihr in Delaware eine geringere Rolle im Vergleich zum Konzept der 2. Richtlinie zukommt. Bei Kapitalerhöhungen sind die Aktionäre weitgehend ausgeschaltet, da diese regelmäßig durch das „board“ erfolgen, das auf der Grundlage einer Ermächtigung in der Satzung aktiv wird (§ 242a DGCL)37. Ad-hocZustimmungserfordernisse der Aktionäre ergeben sich daher regelmäßig nur aus den Vorschriften der Börsen38. Die in diesem Zusammenhang wichtigen Bezugsrechte, die es den Altaktionären ermöglichen, anteilig an der Kapitalerhöhung teilzunehmen, bestehen in Delaware nicht per Gesetz, sondern können nur durch die Satzung („opt in“) eingeräumt werden. Zudem hat die Hauptversammlung keine Stimmrechte beim Erwerb eigener Aktien oder der Gewinnfeststellung. b) Kostenanalyse Die Kostenanalyse der EU-Machbarkeitsstudie in Delaware hat ergeben, dass die mit dem Kapitalschutzsystem verbundenen Kosten für Ausschüttungen oder den Erwerb eigener Aktien gemessen an der Größe der befragten Delaware Corporations mit weniger als 6.000 US-$ nicht signifikant hoch sind 39. Echte Kapitalerhöhungen mit Satzungsänderungen kommen relativ selten zum Einsatz, da die untersuchten Delaware Corporations regelmäßig über ein hohes genehmigtes Kapital („authorized capital“) verfügen, mit dem das „board“ relativ einfach das Eigenkapital („stated capital“) erhöhen kann. Für Aktienrückkäufe ergeben sich bei Delaware Corporations in der Regel auch keine besonde-
36 Vgl. KPMG, Feasibility study on an alternative to the capital maintenance regime, Main Report, 2008, S. 180 ff. Zur Ausgestaltung und Verbreitung von dividend covenants vgl. ausführlich z. B. Leuz/Deller/Stubenrath, Accounting and Business Research 1998, 111, 115 ff.; Begley/Freedman, Accounting Horizons 2004, 81; Richard, Kapitalschutz der Aktiengesellschaft. Eine rechtsvergleichende und ökonomische Analyse deutscher und US-amerikanischer Kapitalschutzsysteme, 2007, S. 196 ff. 37 Vgl. KPMG, Feasibility study on an alternative to the capital maintenance regime, Annexes – Part I, 2008, S. 183. 38 Hiervon werden nach den Regelungen der New York Stock Exchange bspw. Aktienausgaben erfasst, die nahestehende Personen betreffen, bei denen es um mehr als 1 % der Aktien geht, oder die mehr als 20 % der Stimmrechte umfassen, s. KPMG, Feasibility study on an alternative to the capital maintenance regime, Annexes – Part I, 2008, S. 184; ähnliche Regelungen sieht der NASDAQ vor, s. KPMG, Feasibility study on an alternative to the capital maintenance regime, Annexes – Part I, 2008, S. 184 f. 39 Vgl. KPMG, Feasibility study on an alternative to the capital maintenance regime, Main Report, 2008, S. 161 ff.
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ren Mehraufwendungen, da die Rückkaufsvoraussetzungen denen der regulären Ausschüttung gleichen. Für die Beachtung von „covenants“ im Zusammenhang mit Kreditverträgen hängen die entsprechenden Aufwendungen von den vereinbarten Bedingungen im Rahmen der Kreditverträge ab. c) Effektive Lösung aus Sicht der Unternehmenspraxis? Insgesamt gilt, dass das Modell der weitgehenden Deregulierung (Delaware) dem „board“ einen hohen Spielraum einräumt und den präventiven Schutz der Aktionäre und Gläubiger tendenziell eher vernachlässigt. Der Schutz des durch die Aktionäre aufgebrachten Kapitals weist erhebliche Lücken auf, auch wenn insoweit auf ein formales Grundkapitalsystem abstellt wird. Die Möglichkeit, das Grundkapital sehr gering zu halten, das von den Aktionären eingezahlte Kapital zu überwiegenden Teilen in das Agio zu buchen, die Agiotage (d. h. die sofortige Ausschüttung des Agios nach Erhalt) und der mangelnde Zwang zur Beseitigung einer Unterbilanz vor einer Ausschüttung bei Nutzung von „nimble dividends“ lassen dieses Modell wie eine „Hülle ohne Kern“ erscheinen. Bei der Kapitalaufbringung wird ein vergleichbarer Schutz wie durch die 2. Richtlinie erreicht, indem u. a. die Einbringung von Dienstleistungen verboten ist und zumindest eine Prüfungspfl icht des „boards“ bei Sacheinlagen besteht. Im Hinblick auf den Schutz des übrigen Gesellschaftsvermögens ist zu unterscheiden zwischen der Eindämmung möglicherweise zu hoher Ausschüttungen, denen auf Basis von Informationsbilanzen (wie etwa bei USGAAP-Abschlüssen) im Vergleich zur deutschen Rechtslage eine besondere Bedeutung zukommt, und der Behandlung nicht drittgleicher Geschäfte (u. a. bei Ausschüttungen an nahestehende Personen denkbar). Im Hinblick auf ersteren Bereich bietet das Recht von Delaware mit den allerdings im Insolvenzrecht anzusiedelnden „fraudulent transfer rules“, d. h. der Anfechtungsmöglichkeiten von zur Insolvenz führenden Ausschüttungen, ein aktionärs- und gläubigerschützendes Instrument. Es muss aber auch gesehen werden, dass der Schutz spät ansetzt, was hier insbesondere hervorzuheben ist, als sonst nur wenige weitere gesetzliche Maßnahmen präventiv eingreifen und die „fraudulent transfer rules“ nur denen helfen, die tatsächlich anfechten. Unabhängig davon erscheint dieses Mittel im Hinblick auf die weitere Entwicklung des EU-Gesellschaftsrechts aber als interessant, zumal das europäische Recht ein solches Instrument nicht kennt, und sich bspw. in Deutschland mit der zur GmbH entwickelten Existenzvernichtungshaftung40 und der z. T. in der Literatur angenommen Pfl icht des Vorstandes, für die Liquiditätssicherung der Gesellschaft zu sorgen41, vergleichbare Grundgedanken feststellen lassen. Im Hinblick auf die Behandlung nicht drittgleicher Geschäfte (u. a. bei Ausschüttungen an nahestehende Personen denkbar) stellt das Recht von Delaware wieder auf Anfechtungsmöglichkeiten sowie Offenlegungspfl ichten ab. Dieses Problem wird durch den EU-Gesetzgeber alleine durch Offenlegungspfl ichten 40 BGH, NJW 2007, 2689 – TRIHOTEL; BGHZ 176, 204 – Gamma; BGH, NJW-RR 2008, 629; BGH, NJW-RR 2008, 1417; BGH, NZG 2009, 545 – Sanitary. 41 Fleischer, Handbuch des Vorstandsrechts, 2006, § 7 Rz. 43; Hopt in Großkomm. AktG, 4. Aufl. 2003, § 93 AktG Rz. 96; Scheffler in FS Goerdeler, 1987, S. 469, 472.
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im Anhang geregelt. Allerdings fi nden sich in den nationalen Regelungen der Mitgliedstaaten zusätzliche bzw. weitergehende Regelungen, wobei z. B. die deutsche Lösung des § 57 AktG früher ansetzt und nicht erst die Ausübung von Gestaltungsrechten verlangt. Darüber hinaus wird in Delaware der Erwerb eigener Aktien an die gleichen Voraussetzungen wie Dividendenausschüttungen gebunden, wenngleich in Delaware im Bereich der Ausschüttungsregeln viel Spielraum besteht. Hinzu kommt insoweit noch der vertragliche Selbstschutz („covenants“), von dem unmittelbar aber nicht notwendigerweise alle Gläubiger partizipieren, und der nicht gesellschaftsrechtlich vorgegeben wird. Im Ergebnis weist dieses Modell im Hinblick auf das von den Aktionären aufgebrachte Kapital nur einen geringen Schutz auf und beinhaltet mit Blick auf den Bereich des sonstigen Gesellschaftsvermögens mit den Regelungen zum Erwerb eigener Aktien, den Vorschriften für drittgleiche Geschäfte und den Anfechtungsregeln bei zur Insolvenz führenden Ausschüttungen brauchbare Ansätze. Der Umstand aber, dass nachträglich gestaltbare „Übertreibungen“ der Rechnungslegungsergebnisse neben dem Solvenztest nur durch die „fraudulent transfer rules“ angegangen werden, lässt die Frage aufkommen, ob die genannten „fraudulent transfer rules“ wegen dieses bestehenden sehr hohen Spielraums in Delaware überstrapaziert werden. 2. Modell ohne Grundkapital (Kalifornien, Australien, Kanada, Neuseeland) a) Inhalt des Konzepts Die gesellschaftsrechtlichen Regelungen in Kalifornien, Kanada, Australien und Neuseeland haben zunächst gemeinsam, dass sie weder über ein formales Grundkapital noch über Nennwertaktien oder formale Kapitalherabsetzungsvorschriften verfügen, was aber in der Mehrzahl der Staaten nicht dazu führt, dass das durch die Aktionäre bei Gründung oder Kapitalerhöhung eingezahlte Kapital ausgeschüttet werden kann. Auffallend ist weiter, dass alle Staaten über Regelungen verfügen, die eine ordnungsgemäße Aufbringung des Kapitals sichern, indem u. a. besondere Regelungen für die Einbringung von Sacheinlagen gelten und zukünftige Dienstleistungen in der Mehrheit der Staaten untersagt sind. Für den weitergehenden Schutz des Gesellschaftsvermögens wird in allen Staaten der Erwerb eigener Aktien durch Unterwerfung dieser Transaktion unter die Ausschüttungsregeln bzw. ihnen vergleichbare Regelungen abgestellt. Zudem kommen in Kalifornien die „fraudulent transfer rules“ zur Anwendung, die Ausschüttungen und mittelbare Zuwendungen an nahestehende Personen bei Insolvenzreife und ggf. zuvor unterbinden. Hinzu kommen „covenants“, durch die bspw. Ausschüttungen auf privatrechtlicher Basis beschränkt werden. Die Beschränkung der fi nanziellen Unterstützung spielt in zwei Staaten eine Rolle; auch stehen der Hauptversammlung häufig weniger Rechte zu. aa) Kapitalsystem Es bestehen trotz des Mangels an einem formalen Grundkapitalsystem in der Mehrheit der in der EU-Machbarkeitsstudie untersuchten Staaten Regelungen, wonach das durch die Aktionäre aufgebrachte Kapital nicht bzw. nur unter 231
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engen Voraussetzungen ausgeschüttet werden kann, es also vergleichbar dem „Grundkapital“ im europäischen Recht geschützt wird. So ist in Kanada42 und Australien43 eine Ausschüttung der Einlagen, die unter „contributed capital“ oder „share capital“ verbucht werden, unzulässig, da dort Ausschüttungen nur aus den „retained earnings“ vorgenommen werden können. Dabei wird der gesamte von den Aktionären eingebrachte Betrag mangels Aufspaltung in Kapital und Agio in die Position „contributed capital“ oder „share capital“ eingebucht und daher vor Ausschüttungen geschützt, was weiter geht als in den meisten EU-Mitgliedstaaten. In Kalifornien besteht im Grundsatz auch eine solche Ausschüttungssperre im Hinblick auf die „retained earnings“. Diese kann nur durchbrochen werden, wenn der Solvenztest erfüllt ist und die Eigenkapitalquote nach der Ausschüttung bei mindestens 20 % liegt (sog. „solvency margin“)44. Demgegenüber besteht in Neuseeland die theoretische Möglichkeit der Ausschüttung des für die Aktien Eingebrachten, solange der Solvenztest erfüllt ist45. Auf Basis der Befragungsergebnisse im Rahmen der EU-Machbarkeitsstudie scheinen die Möglichkeiten in der Unternehmenspraxis kaum genutzt zu werden. Zudem verfügen alle Staaten – vergleichbar der 2. Richtlinie – über Regelungen zur Kapitalaufbringung. Neben Bareinlagen können Sacheinlagen eingebracht werden. Unzulässig ist generell die Einbringung von sogenannten „promissory notes“ (verbriefte Geldforderungen) mit Ausnahme Neuseelands; zudem bestehen wie auch in Europa Einschränkungen bei der Einbringung von zukünftigen Dienstleistungen in Kalifornien und Kanada: In Kalifornien sind sie nicht zulässig46 und in Kanada nur, wenn es die Satzung vorsieht47. In Australien gilt auch für diese Fälle der durch die Rechtsprechung weiter entwickelte Grundsatz, wonach der der Sacheinlage zugesprochene Wert „fair“ sein muss48. Die Überprüfung, ob die Einlage werthaltig ist, obliegt in diesem Modell dem „board“49, das für die ordnungsgemäße Erfüllung seiner Pflicht haftet, aber auch sachverständige Dritte heranziehen kann. Zu der Frage, welche Maßstäbe bei der Prüfung anzuwenden sind, haben sich unterschiedliche Grundsätze herausgebildet: In Kalifornien hat das „board“ aufgrund seiner Treuepfl ichten im 42 Vgl. KPMG, Feasibility study on an alternative to the capital maintenance regime, Annexes – Part I, 2008, S. 201, 202. 43 Vgl. KPMG, Feasibility study on an alternative to the capital maintenance regime, Annexes – Part I, 2008, S. 217. 44 Vgl. KPMG, Feasibility study on an alternative to the capital maintenance regime, Annexes – Part I, 2008, S. 183. Vgl. dazu auch Maul/Lanfermann/Richard, AG 2010, 279, 288. 45 Vgl. KPMG, Feasibility study on an alternative to the capital maintenance regime, Annexes – Part I, 2008, S. 236. 46 Vgl. KPMG, Feasibility study on an alternative to the capital maintenance regime, Annexes – Part I, 2008, S. 209, 210. 47 Vgl. KPMG, Feasibility study on an alternative to the capital maintenance regime, Annexes – Part I, 2008, S. 242. 48 Vgl. KPMG, Feasibility study on an alternative to the capital maintenance regime, Annexes – Part I, 2008, S. 257. 49 In Kalifornien kann diese Zuständigkeit über die Satzung auf die Hauptversammlung übertragen werden (§ 409(c) California Corporations Code), vgl. KPMG, Feasibility study on an alternative to the capital maintenance regime, Annexes – Part I, 2008, S. 213.
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Interesse der Aktionäre zu handeln50, in Kanada51 und Australien52 hat es sich an dem Grundsatz des „fairen Preises“ zu orientieren und in Neuseeland53 hat es die Sacheinlagen zum aktuellen Marktwert zu bewerten. Bei mangelhafter Festsetzung haftet in allen Staaten das „board of directors“54. bb) Ausschüttungen Die gesellschaftsrechtlichen Ausschüttungsrestriktionen in Kalifornien55, Kanada56, Australien57 und Neuseeland 58, die im Rahmen der EU-Machbarkeitsstudie aus rechtlicher und ökonomischer Sicht detailliert analysiert worden sind, weisen – bei teilweise erheblichen Unterschieden im Detail – gemeinsame Grundprinzipien auf: Die Gewinnverwendungskompetenz liegt regelmäßig bei den Mitgliedern des „board of directors“, die bei der Bestimmung der Ausschüttungshöhe sowohl einen Solvenztest als auch einen Bilanztest beachten müssen59. Beide Testverfahren sind gesellschaftsrechtlich verankert und sind gleichzeitig zu beachten. Der Ausschüttungsbegriff ist in diesen außereuropäischen Staaten weit gefasst. Nicht nur bei Dividendenzahlungen, sondern auch bei anderen Formen der Ausschüttung von Vermögenswerten der Gesellschaft an die Aktionäre (z. B. Aktienrückkauf, Kapitalherabsetzung) sind grundsätzlich dieselben Restriktionen zu berücksichtigen. Der Solvenztest ist im jeweiligen Gesellschaftsrecht dieser Staaten knapp und in nahezu identischer Weise kodifi ziert60. Eine Ausschüttung kann nur erfolgen, wenn die Gesellschaft auch im Anschluss daran ihre im gewöhnlichen Geschäftsverlauf fällig werdenden Verbindlichkeiten begleichen kann. Die Ausgestaltung des Bilanztests ist in den außereuropäischen Staaten weniger einheitlich. Die bei der Durchführung des Bilanztests zu beachtenden 50 Vgl. KPMG, Feasibility study on an alternative to the capital maintenance regime, Annexes – Part I, 2008, S. 214. 51 Vgl. KPMG, Feasibility study on an alternative to the capital maintenance regime, Annexes – Part I, S. 242. 52 Vgl. KPMG, Feasibility study on an alternative to the capital maintenance regime, Annexes – Part I, S. 257. 53 Vgl. KPMG, Feasibility study on an alternative to the capital maintenance regime, Annexes – Part I, 2008, S. 291, 292. 54 In Kalifornien kann der Aktionär direkt Klage gegen das Boardmitglied erheben (Beachtung der business judgement rule), vgl. KPMG, Feasibility study on an alternative to the capital maintenance regime, Annexes – Part I, 2008, S. 214; in Kanada haftet das „board“ gegenüber der Gesellschaft, vgl. KPMG, Feasibility study on an alternative to the capital maintenance regime, Annexes – Part I, 2008, S. 242, zu Neuseeland vgl. KPMG, Feasibility study on an alternative to the capital maintenance regime, Annexes –Part I, 2008, S. 292. 55 Vgl. KPMG, Feasibility study on an alternative to the capital maintenance regime, Main Report, 2008, S. 187 ff., Annexes – Part I, S. 223 ff., 230 ff. 56 Vgl. KPMG, Feasibility study on an alternative to the capital maintenance regime, Main Report, 2008, S. 206 ff., Annexes – Part I, S. 246 ff. 57 Vgl. KPMG, Feasibility study on an alternative to the capital maintenance regime, Main Report, 2008, S. 222 ff., Annexes – Part I, S. 266 f., 273 ff. 58 Vgl. KPMG, Feasibility study on an alternative to the capital maintenance regime, Main Report, 2008, S. 241 ff., Annexes – Part I, S. 295 ff., 301 ff. 59 Vgl. im Einzelnen Maul/Lanfermann/Richard, AG 2010, 279, 287 f. 60 Vgl. Maul/Lanfermann/Richard, AG 2010, 279, 287.
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Rechnungslegungsnormen61 werden von Kalifornien (grundsätzlich US-GAAP) und Australien (IFRS) vorgegeben. In Kanada und Neuseeland hingegen kann die Unternehmensleitung für Zwecke der Ausschüttungsbemessung von den ansonsten zu beachtenden Canadian GAAP bzw. IFRS abweichen und eine Neubewertung der Aktiva und Passiva durchführen. Das Ausmaß der Ausschüttungsrestriktionen und damit einhergehend die Beschränkung des Handlungsspielraums der Unternehmensleitung in ihrer Ausschüttungspolitik wird zudem entscheidend von den gesellschaftsrechtlichen Kapitalaufbringungsregeln bestimmt. Während beispielsweise in Neuseeland eine Ausschüttung zulässig ist, solange die Aktiva die Schulden übersteigen und somit im Extremfall nur noch ein Eigenkapital von 1 NZ-$ übrig bleibt62, ist in Kalifornien, Kanada und Australien das bei der Aktienemission aufgebrachte Kapital („contributed capital“) grundsätzlich vollständig ausschüttungsgesperrt63. Zudem kommt – wie auch in Delaware – den insolvenzrechtlichen „fraudulent transfer rules“ im Ergebnis eine ausschüttungsbeschränkende Funktion zu. cc) Schutz des Gesellschaftsvermögens Weiter wird der Schutz des Gesellschaftsvermögens in allen untersuchten Staaten beim Erwerb eigener Aktien fortgesetzt. In allen Staaten kommen insoweit Regelungen zur Anwendung, die vergleichbar mit denen sind, die für Ausschüttungen zur Anwendung kommen. In Kalifornien ist die Durchführung des „equity solvency test“ und des „retained earnings test“ Voraussetzung für den Erwerb eigener Aktien. Alternativ kann die Gesellschaft eigene Aktien erwerben, wenn der „quantitative solvency test“ und der „liquidity test“ eingehalten werden64. In Kanada ist der Erwerb eigener Aktien erlaubt, wenn die Satzung dies gestattet und der auch für Ausschüttungen anwendbare Solvenztest eingehalten wird. In Neuseeland ist er bei Einhaltung des Solvenztest und bestimmter Offenlegungspfl ichten möglich65. In Australien setzt der Erwerb neben dem Solvenztest einen einfachen Beschluss der Hauptversammlung voraus, wenn mehr als 10 % der Stimmrechte in einem Zeitraum von 12 Monaten betroffen sind bzw. einen Sonderbeschluss oder einen einstimmigen Beschluss,
61 Zum Zusammenspiel von Ausschüttungsregeln und Rechnungslegungsvorschriften vgl. ausführlich Lanfermann/Richard, DB 2008, 1925; Pellens/Brandt/Richard, DB 2006, 2021, jeweils mit zahlreichen weiteren Nachweisen. 62 Insoweit weist das Gesellschaftsrecht von Neuseeland eine starke Ähnlichkeit zu den Einzelstaatenrechten in den USA auf, die den MBCA übernommen haben: Nach § 6.40(c)(2) MBCA müssen die Aktiva die Schulden mindestens decken, d. h. im Extremfall darf das Eigenkapital 0 US-$ betragen. Vgl. auch KPMG, Feasibility study on an alternative to the capital maintenance regime, Main Report, 2008, S. 158; Gevurtz, Corporation Law, 2000, S. 162. 63 Vgl. KPMG, Feasibility study on an alternative to the capital maintenance regime, Main Report, 2008, S. 183. 64 Vgl. KPMG, Feasibility study on an alternative to the capital maintenance regime, Annexes – Part I, 2008, S. 224. 65 Vgl. KPMG, Feasibility study on an alternative to the capital maintenance regime, Main Report, 2008, S. 249.
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wenn ein selektiver Erwerb geplant ist66. Hinzuweisen ist weiter darauf, dass die untersuchten Staaten für den Erwerb eigener Aktien mit Ausnahme von Australien keinen Beschluss der Hauptversammlung verlangen und allesamt keine Höchstgrenzen im Hinblick auf die Anzahl der zu erwerbenden Aktien vorsehen. Handelt es sich um eine in den USA börsennotierte Gesellschaft, sind allerdings umfangreiche Veröffentlichungspfl ichten zu beachten67. Kein einheitliches Konzept lässt sich im Hinblick auf die fi nanzielle Unterstützung ausmachen. Kalifornien68 und Kanada69 kennen keine solchen Regelungen, während Australien und Neuseeland strenge materielle Regelungen vorweisen, die u. a. verlangen dass die Transaktion der Gesellschaft keinen Schaden zufügt und im Interesse der Gesellschafter ist, wobei zudem ein Solvenztest einzuhalten ist70. Im Hinblick auf den Schutz des Gesellschaftsvermögens vor überhöhten Ausschüttungen als solchen bestehen in den untersuchten Staaten unterschiedliche Ansätze. In Kalifornien existiert – wie in Delaware – das Instrument der „fraudulent transfers“, wodurch u. a. Dividendenausschüttungen für unwirksam erklärt werden, in denen die Gesellschaft mit der Absicht handelte, Gläubiger zu schädigen (§ 3439.04 Californian Civil Code)71. In Kanada kann versucht werden, Verminderungen des Gesellschaftsvermögens mit einer gesetzlich niedergelegten „oppression remedy“ entgegenzutreten (§ 241 Canada Business Corporations Act (CBCA)). Hiernach kann ein Gericht beispielsweise Ausschüttungen annullieren, wenn die Gesellschaft bzw. das „board“ in einer Weise gehandelt hat, die unterdrückend und unfairerweise nachteilig für den Antragsteller war72. In Australien wird insoweit auf Regelungen gebaut, die dem „board“ eine eigene Vorteilnahme untersagen sowie allgemein auf Insolvenzverschleppungsregelungen73. Zudem kommen in den genannten Staaten die Regelungen zum Solvenztest zur Anwendung. Im Ergebnis gilt also auch hier mehrheitlich ein insolvenznaher Schutz. Ähnliche Ansätze verfolgen die in Deutschland zur GmbH eingeführte Illiquiditätsverursacherhaftung nach § 64 Satz 3 GmbHG und die durch die Rechtsprechung etablierte Existenzvernich66 Vgl. KPMG, Feasibility study on an alternative to the capital maintenance regime, Main Report, 2008, S. 228. 67 Vgl. KPMG, Feasibility study on an alternative to the capital maintenance regime, Annexes – Part I, 2008, S. 193 f. 68 Vgl. KPMG, Feasibility study on an alternative to the capital maintenance regime, Annexes – Part I, 2008, S. 228. 69 Vgl. KPMG, Feasibility study on an alternative to the capital maintenance regime, Annexes – Part 1, 2008, S. 247. 70 Zu Australien vgl. im Einzelnen KPMG, Feasibility study on an alternative to the capital maintenance regime, Annexes – Part I, 2008, S. 267; zu Neuseeland vgl. im Einzelnen KPMG, Feasibility study on an alternative to the capital maintenance regime, Annexes – Part I, 2008, S. 297. 71 Vgl. KPMG, Feasibility study on an alternative to the capital maintenance regime, Annexes – Part I, 2008, S. 220; vgl. auch Booth, in Das Kapital der Aktiengesellschaft in Europa, ZGR Sonderheft Nr. 17, 2006, 717, 737, sowie Engert, in Das Kapital der Aktiengesellschaft n Europa, ZGR Sonderheft Nr. 17, 743, 767. 72 Vgl. KPMG, Feasibility study on an alternative to the capital maintenance regime, Annexes – Part I, 2008, S. 244 f. 73 Vgl. KPMG, Feasibility study on an alternative to the capital maintenance regime, Annexes – Part I, 2008, S. 260 ff.
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tungshaftung74, wobei diese nicht zum Schutz vor zu hohen Ausschüttungen auf der Grundlage von Informationsbilanzen entwickelt worden sind. Im Hinblick auf die Problematik der nicht drittgleichen Geschäfte (u. a. bei Geschäfte mit nahestehenden Personen denkbar) existieren wiederum unterschiedliche Lösungen. In Kalifornien werden wie in Delaware die „fraudulent transfer rules“ herangezogen, wonach Ausschüttungen an Gesellschafter angefochten werden können, für die die Gesellschaft nicht einen ausreichenden Gegenwert erhalten hat, und die Gesellschaft insolvent oder mit einem unverhältnismäßig geringen Eigenkapital ausgestattet war75. Außerdem existieren hier Regelungen, wonach Transaktionen mit nahestehenden Personen offengelegt werden müssen76. In Kanada sind insoweit zum Teil in den unterschiedlichen Provinzen Offenlegungsregelungen für börsennotierte Gesellschaften vorhanden77. In Australien existieren strengere Regelungen insoweit, als bei der Weitergabe von fi nanziellen Vorteilen an nahestehende Personen unter anderem ein Beschluss der Aktionäre erforderlich ist, wenn durch die Weitergabe dieses fi nanziellen Vorteils das Interesse der Mitglieder der Gesellschaft gefährdet wäre78. In Neuseeland ist es einem Direktor untersagt, die Gesellschaft zu Transaktionen zu veranlassen, durch die er einen Vorteil hat. Zudem hat jeder Direktor dem „board“ gegenüber seine Interessen offenzulegen und sie sind in ein eigenes Register aufzunehmen. Die Lösungen unterscheiden sich von der europäischen, die neuerdings über die 4. Richtlinie Offenlegungspfl ichten im Anhang vorgibt, und auch von der deutschen Lösung, die jegliche Ausschüttungen im Hinblick auf nicht drittgleicher Geschäfte verbietet (§ 57 AktG), aber auch hier sind klare Schutzgedanken zu sehen. dd) Vertraglicher Selbstschutz („covenants“) Zudem ist der vertragliche Selbstschutz verbreitet. Banken und andere institutionelle Investoren, die einen hohen Kredit über eine längere Periode an Gesellschaften ausgeben, schützen sich dadurch, dass sie vertragliche Grenzen z. B. im Hinblick auf Dividendenausschüttungen, den Erwerb eigener Aktien, Kapitalausgaben und Investitionen durchsetzen und dazu beispielsweise die Einhaltung bestimmter Bilanzkennzahlen vorsehen79. In Kanada ist in diesem Zusammenhang festzustellen, dass die Zahl dieser Verträge in der jüngeren Vergangenheit insbesondere im Rahmen von Private Equity Transaktionen (wo „investment grade corporate bonds“ oft zu „junk bonds“ reduziert wer-
74 BGH, NJW 2007, 2689 – TRIHOTEL; BGHZ 176, 204 – Gamma; BGH, NJW-RR 2008, 629; BGH, NJW-RR 2008, 1417; BGH, NZG 2009, 545 – Sanitary. 75 Vgl. KPMG, Feasibility study on an alternative to the capital maintenance regime, Annexes – Part I, 2008, S. 219 f. 76 Vgl. KPMG, Feasibility study on an alternative to the capital maintenance regime, Annexes – Part I, 2008, S. 221. 77 Vgl. KPMG, Feasibility study on an alternative to the capital maintenance regime, Annexes – Part I, 2008, S. 245. 78 Vgl. KPMG, Feasibility study on an alternative to the capital maintenance regime, Annexes – Part I, 2008, S. 265. 79 Vgl. KPMG, Feasibility study on an alternative to the capital maintenance regime, Annexes – Part I, 2008, S. 238 f.
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den) aufgrund des zusätzlichen Investments durch die Private Equity Gesellschaften und die unsicheren wirtschaftlichen Zeiten erheblich zugenommen hat. Zudem ist in Kanada darauf hingewiesen worden, dass die Gläubiger mit geringen Forderungen im Fall der Insolvenz der Gesellschaft regelmäßig nicht geschützt sind, da das noch verbliebene Geld nur für die geschützten Großkreditgeber reicht. ee) Rolle der Hauptversammlung Im Hinblick auf die Rechte der Hauptversammlung ist festzustellen, dass ihr zum Teil eine geringere Rolle im Vergleich zum Konzept der 2. Richtlinie zukommt. Bei Kapitalerhöhungen sind die Aktionäre in zwei der vier untersuchten Staaten weitgehend ausgeschaltet: In Kalifornien und Kanada80 erfolgen die Kapitalerhöhungen im Ergebnis durch das „board“, das auf der Grundlage einer Satzungsermächtigung handeln kann81, wobei allerdings in Kalifornien die Besonderheit besteht, dass die Satzung die Ausgabeautorität der Hauptversammlung übertragen kann82. In Australien83 und Neuseeland84 ist demgegenüber für die Kapitalerhöhung sowie für die Ausgabe neuer Aktien grundsätzlich die Zustimmung der Aktionäre erforderlich. Ad-hoc-Zustimmungserfordernisse der Aktionäre können sich weiter aus den Vorschriften der Börsen ergeben85. Die außerdem in diesem Zusammenhang wichtigen Bezugsrechte, die es den Altaktionären ermöglichen, anteilig an der Kapitalerhöhung teilzunehmen, sind in den untersuchten Staaten nicht einheitlich geregelt: In Neuseeland86 und Australien87 bestehen per Gesetz Bezugsrechte; sie können nur durch die Satzung oder einen Hauptversammlungsbeschluss eingeschränkt werden. In Kalifornien88 und Kanada89 bestehen Bezugsrechte nicht per se, sondern können nur aufgrund der Satzung eingeräumt werden. Zudem hat die Hauptversamm80 KPMG, Feasibility study on an alternative to the capital maintenance regime, Annexes – Part I, 2008, S. 213. 81 KPMG, Feasibility study on an alternative to the capital maintenance regime, Annexes- Part I, 2008, S. 215 zu Kalifornien. 82 KPMG, Feasibility study on an alternative to the capital maintenance regime, Annexes – Part I, 2008, S. 215. 83 KPMG, Feasibility study on an alternative to the capital maintenance regime, Annexes – Part I, 2008, S. 292. 84 KPMG, Feasibility study on an alternative to the capital maintenance regime, Annexes – Part I, 2008, S. 293. 85 Hiervon werden nach den Regelungen der New York Stock Exchange bspw. Aktienausgaben erfasst, die nahestehende Personen betreffen, bei denen es um mehr als 1 % der Aktien geht, oder, die mehr als 20 % der Stimmrechte umfassen, s. KPMG, Feasibility study on an alternative to the capital maintenance regime, Annexes – Part I, 2008, S. 184; ähnliche Regelungen sieht der NASDAQ vor, s. KPMG, Feasibility study on an alternative to the capital maintenance regime, Annexes – Part I, 2008, S. 184 f. 86 KPMG, Feasibility study on an alternative to the capital maintenance regime, Annexes – Part I, 2008, S. 294. 87 KPMG, Feasibility study on an alternative to the capital maintenance regime, Annexes – Part I, 2008, S. 260. 88 KPMG, Feasibility study on an alternative to the capital maintenance regime, Annexes – Part I, 2008, S. 219. 89 KPMG, Feasibility study on an alternative to the capital maintenance regime, Annexes – Part I, 2008, S. 244.
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Silja Maul/Georg Lanfermann/Marc Richard
lung mit Ausnahme von Australien in keinem der Staaten Stimmrechte beim Erwerb eigener Aktien oder der Gewinnfeststellung. b) Kostenanalyse Die EU-Machbarkeitsstudie hat eine Reihe der unter diese Kategorie fallenden Modelle untersucht, die in einer solchen Form in Kalifornien, Neuseeland, Australien und Neuseeland existieren. Sie verzichten auf das gesetzliche Mindestkapital und stellen stattdessen erhöhte Solvenzanforderungen an die betroffenen Unternehmen. Zur Feststellung der Kosten sind in der EU-Machbarkeitsstudie Kernprozesse defi niert worden, wobei deren rechtlichen Anforderungen in Prozessschritte gefasst und dabei die durch die rechtlichen Vorschriften typischerweise entstehenden Mehrkosten gemessen worden sind. Insgesamt wiesen die im Rahmen der Erhebung festgestellten durchschnittlichen Prozesskosten dieser Unternehmen auf keine besonderen Kostenbelastungen hin: Kalifornien [€]
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2.000
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Ausschüttung
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Erwerb eigener Aktien
50.000
Keine Daten
3.550 bis 32.500
Keine Daten
Kapitalherabsetzung
Keine Daten
Keine Daten
Keine Daten
Keine Daten
Einzug von Aktien
Keine Daten
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Keine Daten
Keine Daten
208.000
46.800
Keine Daten
Keine Daten
Prozess Kapitalerhöhung
Vertraglicher Schutz („covenants“)
Australien Neuseeland [€] [€]
Quelle: KPMG, Feasibility Study, Main Report, S. 268.
Für regelmäßig wiederkehrende Prozesse, insbesondere Ausschüttungen aber auch Kapitalerhöhungen, ließen sich nicht signifikante Mehrkosten in den Drittstaaten feststellen. Im Hinblick auf den Erwerb eigener Aktien stand nur eingeschränktes Datenmaterial zur Verfügung, aus dem sich aber im Ergebnis nur wenig signifikante Mehrbelastungen für die Unternehmen ergaben. Lediglich für den Erwerb eigener Aktien in Kalifornien sowie für „covenants“ in Kalifornien und Neuseeland sind erhöhte Werte festzustellen. Diese resultieren jedoch aus unternehmensindividuellen Gegebenheiten, die keine allgemeinen Rückschlüsse auf eine systemimmanente Belastung zulassen. Jedoch ist auch hier – wie im Delaware Modell – darauf hinzuweisen, dass im Krisenfalle durch drohende Haftungssanktionen für das Management erhöhte Befolgungskosten auftreten können. Grund hierfür ist, dass nicht vollständig klare Anforderungen zu weiteren Absicherungen über zusätzliche Berechnungen und externe Gutachten führen. Zudem ist zu bemerken, dass im Rahmen der Erhebungen zur EUMachbarkeitsstudie auf unternehmensindividueller Basis keine Feststellungen 238
Zur Zukunft des gesellschaftsrechtlichen Kapitalschutzes in Europa
zu der Belastung durch einen besonderen bilanzbezogenen Solvenzmargentest getroffen werden konnten, da dieser nur in einer wirtschaftlich angespannten Situation des Unternehmens zum Tragen kommt. c) Effektive Lösung aus Sicht der Unternehmenspraxis? Das kalifornische Modell ist klar strukturiert und weist in zahlreichen Bereichen effektive Lösungen zum Schutz der Gläubiger auf; dies gilt in verschiedenen Bereichen in geringerem Maße als für die Lösungen in Australien, Kanada und Neuseeland. Das durch die Aktionäre aufgebrachte Kapital wird in Australien und Kanada sowie in Kalifornien, soweit bei letzterem nicht eine Eigenkapitalquote von 20 % erreicht wird (solvency margin), auch ohne formales Grundkapital in vergleichbarer Weise wie durch die 2. Richtlinie geschützt: Es ist ausschüttungsgesperrt und auch eine „Agiotage“ scheidet aus. Auch wird dieser Schutz des Kapitals in Kalifornien nicht durch die bilanziellen Regelungen ausgehöhlt, was anders in Kanada und Neuseeland ist, wo Neubewertungen zu Marktwerten möglich sind. Weiter bestehen im Hinblick auf die Kapitalaufbringung in Kalifornien ebenso wie in Kanada und Australien vergleichbare Grundideen; so ist etwa die Erbringung von zukünftigen Dienstleistungen untersagt bzw. nur eingeschränkt möglich und müssen Sacheinlagen auf ihre Werthaltigkeit hin durch das „board“ geprüft werden. Im Hinblick auf den Schutz des Gesellschaftsvermögens ist wiederum zu unterscheiden. In Bezug auf die Eindämmung zu hoher Ausschüttungen, die auf Grundlage einer Informationsbilanz tendenziell eher möglich sind, bietet das Recht von Kalifornien mit den „fraudulent transfer rules“ ebenso wie Delaware ein aktionärs- und gläubigerschützendes Mittel, das einen brauchbaren Ansatz für ein EU-Modell bietet. Darüber hinaus geht in Kalifornien von den gesellschaftsrechtlich zu beachtenden Bilanz- und Solvenztests eine kapital- und gläubigerschützende Wirkung aus. Die anderen untersuchten Staaten verfügen hier über keine weitergehenden speziellen Regelungen. Im Hinblick auf die Behandlung nicht drittgleicher Geschäfte (u. a. bei Ausschüttungen an nahestehende Personen denkbar), denen ebenfalls etwas mehr Bedeutung bei der Zugrundelegung einer Informationsbilanz zukommen kann, stellt das Recht von Kalifornien wie das von Delaware wieder auf Anfechtungsmöglichkeiten sowie Offenlegungspfl ichten ab. In Neuseeland wird hier mit Offenlegungspfl ichten und einem Register, in dem die Interessen der Direktoren vermerkt werden müssen, sowie dem Verbot von Geschäften, durch die ein Direktor Vorteile erlangen kann, gearbeitet. Hinzu kommen in Kalifornien und den übrigen Staaten – neben den „covenants“ – Regelungen zum Erwerb eigener Aktien, die mehrheitlich an die Ausschüttungsregelungen anknüpfen. Insgesamt weist das vorstehend beschriebene Modell zum Teil präventive Mechanismen auf und schränkt den Spielraum der Mitglieder des „board“ sowohl bei der Verwendung des von den Aktionären eingezahlten Kapitals als auch bei Ausschüttungsentscheidungen stärker ein als im „Delaware Modell“. Die gesellschaftsrechtlichen Pfeiler zur Stabilisierung der Ausschüttungen setzen – wie in Delaware – mit den Anfechtungsrechten erst bei drohender Insolvenz an. Auch hier könnte der Schutz der Gläubiger und Aktionäre durch 239
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bessere Informationsrechte gestärkt werden. Ebenso könnten die Mitspracherechte der Aktionäre stärker ausgeprägt sein. 3. Dominanz des Solvenztests Das durch die Rickford-Gruppe90 vorgeschlagene Modell, das durch eine Dominanz des Solvenztests gekennzeichnet ist, nimmt in weitem Umfang Abkehr von dem Modell der 2. Richtlinie und sieht zur Lösung der bisher in der EU bestehenden Ausschüttungsproblematik eine Solvenztestlösung vor, die eine Ausschüttung auf Grundlage eines Solvenztests auch dann zulässt, wenn der Bilanztest nicht bestanden wird, aber bestimmte Offenlegungskriterien eingehalten werden. Gesellschaftsrechtlich soll der Vorschlag in ein System ohne Grundkapital eingebettet sein. a) Inhalt des Konzepts Herzstück des Solvenztest-Modells und des gesamten Konzepts ist ein sog. „two-stage distribution test“, der der Solvenz der Gesellschaft letztlich Vorrang vor deren Ertragslage einräumt. Dieser zweistufige Test, der aus einem Solvenztest und einem begleitenden Bilanztest besteht, dient dazu, den höchstmöglichen Betrag für die Ausschüttung von Dividenden zu ermitteln. Er soll darüber hinaus auf weitere Formen der Ausschüttung angewendet werden, wie den Erwerb eigener Aktien und Interimsdividenden. Der durchzuführende Solvenztest beinhaltet zunächst ein kurzfristiges Liquiditätserfordernis und beruht auf einer Liquiditätsanalyse. Hiernach darf eine Ausschüttung durchgeführt werden, wenn die Direktoren bestätigen, dass die Gesellschaft in dem Jahr, das der Ausschüttung folgt, in der Lage ist, alle fälligen Schulden zu begleichen91. Der zweite Teil des Solvenztests bezieht sich auf die Bestätigung der Lebensfähigkeit der Gesellschaft. Auch hier ist anhand einer Liquiditätsanalyse durch die Direktoren festzustellen, dass die Gesellschaft bei einem regulären Geschäftsverlauf in der Lage sein wird, für die voraussehbare Zukunft ihre Schulden begleichen zu können. Bei der Analyse des Liquiditätsbedarfs löst sich die Rickford Gruppe allerdings von der Bilanz der Gesellschaft, indem auch Eventualverbindlichkeiten, künftig entstehende Verbindlichkeiten und künftige Vermögensmehrungen einbezogen werden können. Somit besteht für die Direktoren, insbesondere bei der Bestätigung der längerfristigen, auf die voraussehbare Zukunft angelegten Lebensfähigkeit ein erhöhter Einschätzungsspielraum92. Zusätzlich zum Solvenztest ist bei der Ermittlung des Ausschüttungsbetrages auch der Jahresabschluss der Gesellschaft zu berücksichtigen, wobei der geforderte Bilanztest jedoch keine materielle Ausschüttungsrestriktion darstellt. Nach dem von der Rickford-Gruppe vorgeschlagenen Bilanztest besteht der Grundsatz, dass nur das Nettoaktivvermögen der Gesellschaft ausgeschüttet werden darf, nicht uneingeschränkt. Denn eine solche Ausschüttung soll möglich sein, solange die Direktoren darlegen, aus welchen Gründen sie eine Ausschüttung trotz Unter-
90 Vgl. Rickford, European Business Law Review 2004, 921. 91 Vgl. Rickford, European Business Law Review 2004, 980. 92 Vgl. Lanfermann/Röhricht, BB 2007, 11.
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schreitung des Nettoaktivvermögens für gerechtfertigt halten. Der Bilanztest erhöht somit nur durch formale Offenlegungs- bzw. Begründungspfl ichten die Anforderungen an eine Ausschüttung, die die Direktoren aber im Ergebnis zu einem disziplinierten Verhalten bewegen sollen93. Dies gilt von der Ausrichtung auch für die von den Direktoren abzugebenden Solvenzbescheinigung und die an diese Bescheinigung gekoppelte Haftung der Direktoren, die für eine schuldhafte Fehleinschätzung der Finanzlage der Gesellschaft eine persönliche Haftung treffen soll94. Daneben tritt im Modell der Rickford-Gruppe eine mögliche Haftung wegen Insolvenzverschleppung 95. Kennzeichnend für das Modell ist neben dieser besonderen Betonung des Solvenztests, dass für die ansonsten in der 2. Richtlinie genutzten Instrumente des Gläubigerschutzes regelmäßig wenig Raum verbleibt. Durch die Rickford-Gruppe wird nämlich ein gesellschaftsrechtliches Modell vorgeschlagen, welches das Nennwertsystem aufgibt und sich echter nennwertloser Aktien bedient, das kein Grund- und Mindestkapital verlangt und das Agio ebenso wie das anfangs oder im Rahmen von Kapitalerhöhungen eingebrachte Kapital nicht vor Ausschüttungen schützt. Weiter soll auf das Verbot der Einbringung von Dienstleistungen verzichtet werden und soll die Expertenprüfung bei der Einbringung von Sacheinlagen aufgegeben werden, wobei letztere durch die Offenlegung der entsprechenden Verträge und den eingezahlten Betrag im Register ausgeglichen werden soll96. Im Hinblick auf die Kapitalerhaltung soll bei dem Erwerb eigener Aktien neben der Zustimmung der Hauptversammlung allein auf den „two-stage-distribution test“ abgestellt werden. Auf das Verbot der Financial Asstistance soll verzichtet werden. Das „board“ soll jedoch bestimmten fiduciary duties unterliegen, wonach seine Mitglieder im besten Interesse der Gesellschaft zu handeln haben97. Im Hinblick auf die weitere Frage, wie der Schutz der Aktionäre in diesem Modell auszugestalten ist, schlägt die Rickford-Gruppe – wie die 2. Richtlinie – vor, dass bei Kapitalerhöhungen und dem Erwerb eigener Aktien die Zustimmung durch die Hauptversammlung erforderlich ist und Bezugsrechte bei der Einbringung von Sacheinlagen bestehen. Hinzukommen soll zudem die „wrongful trading rule“. b) Kostenanalyse Auch bei der Analyse des Rickford-Modells ist die EU-Machbarkeitsstudie zu keinen eindeutigen Ergebnissen zu den Kostenwirkungen dieses Ansatzes auf die Unternehmen gekommen. Dies liegt in wesentlichen Punkten an den wenig detaillierten Vorgaben dieses Modells. Es lässt sich aber feststellen, dass Rickford die wesentlichen kostenträchtigen Elemente der Kapitalschutzprozesse intakt belässt, insbesondere Vorbereitungshandlungen hinsichtlich von Hauptversammlungsbeschlüssen. Es ergibt sich wiederum ein Szenario, bei der
93 94 95 96 97
Vgl. Rickford, European Business Law Review 2004, 980. Vgl. Rickford, European Business Law Review 2004, 980. Vgl. Rickford, European Business Law Review 2004, 984. Vgl. Rickford, European Business Law Review 2004, 983. Vgl. Rickford, European Business Law review 2004, 987.
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die Ausgestaltung des Solvenztests die Kostenbelastung für die Unternehmen bestimmt98. c) Effektive Lösung aus Sicht der Unternehmenspraxis? Bei der Beurteilung der Effi zienz dieses Modells muss eine der Kernfragen sein, ob die hohe Beliebigkeit im Rahmen der Ausschüttungen, die daher rührt, dass der Bilanztest in seiner Bedeutung gemindert wird und vorrangig Solvenzbetrachtungen mit Annahmen über die Zukunft des Unternehmens im Vordergrund stehen, durch andere Instrument abgefangen werden kann. Die Instrumente des Gesellschaftsrechts bieten hier keine tragfähige Grundlage, um die Unsicherheiten bei der Ausschüttung aufzufangen. Die Haftung des „boards“ für mangelhafte Solvenzerklärungen ist – wie bereits erwähnt – ein schwacher Anker. Auch die Nutzung einer „wrongful trading rule“ ist nicht ausreichend, da sie die Beliebigkeiten im Vorfeld nicht korrigieren kann. Letztlich fehlt es durch die mangelnde Pufferfunktion des eingezahlten Kapitals und Agios substanziell an solchen bilanziell ausgerichteten Stützen, die auf den Unternehmensergebnissen der Vergangenheit beruhen. Im Ergebnis scheidet daher das Dominanz-Modell in der von Rickford propagierten Form als möglicher Reformvorschlag aus.
IV. Vergleichende Zusammenfassung Bevor der Frage nachgegangen wird, in welchen Bereichen die Kapitalrichtlinie zu reformieren ist, sollen die wesentlichen Ergebnisse zu den Kosten (s. unter 1.) und den existierenden Grundelementen zum Schutz der Aktionäre und Gläubiger vor einem Verlust des Gesellschaftsvermögens der untersuchten Drittstaatenmodelle (Delaware, Kalifornien, Australien, Kanada und Neuseeland) mit denjenigen der 2. Richtlinie verglichen werden. 1. Kosten Die Untersuchung hat gezeigt, dass die Kosten der Unternehmen, die aus den Kapitalschutzvorschriften resultieren, kein ausschlaggebender Entscheidungsfaktor bei der Bestimmung eines aus Unternehmenssicht optimalen Kapitalschutzsystems sein können99. Bei einem Vergleich der bei EU-Unternehmen durch die gesetzliche Regelung entstehenden Mehrkosten und denen in Drittstaaten entstehenden Kosten ließen sich keine gravierenden Unterschiede feststellen: je untersuchtem Prozess entstanden Mehrkosten von durchschnittlich weniger als 30.000,00 Euro. Letztlich sind die durch die Kapitalschutzsysteme induzierten laufenden zusätzlichen Kosten für die Unternehmen nicht von besonderer Tragweite; erst im Falle von Unternehmenskrisen mögen sich hier stärkere Veränderungen in der Belastung der Unternehmen wahrnehmen las98 Vgl. KPMG, Feasibility study on an alternative to the capital maintenance regime, Main Report, 2008, S. 280 ff. 99 Vgl. KPMG, Feasibility study on an alternative to the capital maintenance regime, Main Report, 2008, S. 1.
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sen. Dies gilt insbesondere bei Modellen, die auf zukünftigen Prognosen beruhen und daher bei entsprechenden Sanktionen zu detaillierten umfangreichen Handlungsabläufen und Dokumentationspfl ichten führen. 2. Gesellschaftsrechtliche Grundelemente Im Rahmen des Vergleichs der Grundelemente, die die untersuchten Alternativmodelle (Kalifornien, Australien, Kanada und Neuseeland) und die 2. Richtlinie auszeichnet, ist wie folgt zu unterscheiden: a) Das Prinzip der Haftungsbeschränkung Vorab ist festzustellen, dass für alle untersuchten Systeme von Aktiengesellschaften charakteristisch ist, dass die persönliche Haftung der Aktionäre für die Schulden der Aktiengesellschaft ausgeschlossen ist. Es haftet vielmehr nur die Gesellschaft als juristische Person für die Verbindlichkeiten, so dass Haftungsrückhalt und Kreditgrundlage die Vermögenswerte bzw. das Eigenkapital der Gesellschaft sind, die ihr zunächst bei der Gründung in Form von Bar- und Sacheinlagen der Aktionäre, durch Thesaurierungen von Gewinnen im Rahmen der operativen Geschäftstätigkeit und ggf. durch Kapitalerhöhungen zufl ießen100. Insoweit ist für alle untersuchten Systeme – einschließlich derer ohne Grundkapital – selbstverständlich, dass die Grundlage zur Bildung des festgelegten Eigenkapitals die Verpfl ichtungen der Gesellschafter zur Leistung entsprechender Einlagen ist. Es kann nur derjenige, der eine Einlage leistet, auch Gesellschafter werden. b) Grundkapital/Nennwertaktien – Eigenkapital/nennwertlose Aktien Von den untersuchten Drittstaaten existiert allein in Delaware ein Grundkapitalmodell. Die überwiegende Anzahl der untersuchten Staaten, namentlich Kalifornien, Australien, Kanada und Neuseeland halten ein solches Grundkapitalsystem hingegen nicht vor. Dort werden die von den Aktionären eingezahlten Mittel in eine vorgegebene Eigenkapitalposition eingebucht, z. B. unter der Bezeichnung „share capital“, „contributed capital“ oder einfach „capital“. Das weitere Merkmal des europäischen Systems, welches sich dadurch auszeichnet, dass das Grundkapital in Nennwertaktien oder unechte nennwertlose Aktien zerlegt wird, fi ndet sich mit Ausnahme von Delaware in den untersuchten Drittstaatenmodellen nicht. Hier wird vielmehr mit nennwertlosen Aktien gearbeitet. c) Bestimmung und Sicherungen der Einlage Unabhängig von der Frage, ob das System über ein Grundkapital verfügt oder nicht, ist von den Aktionären im Rahmen der Gründung die Höhe des Eigenkapitals, über das die Gesellschaft verfügen soll, in der Satzung der Gesell100 Vgl. Lutter, Kapital, Sicherung der Kapitalaufbringung und -erhaltung in den Aktienund GmbH-Rechten der EWG, 1964, S. 40.
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schaft festzulegen. Anders als nach der 2. Richtlinie ist in den Drittstaaten ein gesetzliches Mindestkapital nicht vorgeschrieben; zum Teil existieren aber Grundsätze, wonach die Gesellschaft für ihren Geschäftsumfang ausreichend kapitalisiert sein muss. Weiter bestehen in den untersuchten Drittstaaten Sicherungen, die erreichen sollen, dass das Eigenkapital der Gesellschaft auch tatsächlich zugeführt wird (Kapitalaufbringung). Im Hinblick auf die Höhe des aufzubringenden Kapitals besteht kein Mindestbetrag, jedoch ist auch in den Drittstaatenmodellen ohne Grundkapital der durch die Gründer festgelegte Beitrag zu zeichnen und zu übernehmen. Weiter wird überall zwischen Barund Sacheinlagen unterschieden und für Sacheinlagen eine Werthaltigkeitsprüfung vorgesehen, die in den untersuchten Drittstaaten – anders als nach der 2. Richtlinie – allein durch das „board“ zu absolvieren ist. In zwei der untersuchten Staaten ist überdies die Erbringung von zukünftigen Dienstleistungen untersagt und in einem weiteren nur eingeschränkt möglich, was vor dem Hintergrund der zum Teil geforderten Reformen der 2. Richtlinie interessant ist. Auch insoweit besteht zwischen den untersuchten Modellen eine gewisse Kongruenz. Schließlich sind Sanktionen in Form von Haftungstatbeständen im Hinblick auf nicht ordnungsgemäße Kapitalaufbringung in allen untersuchten Drittstaaten vorhanden. d) Verwendung des von den Aktionären eingezahlten Kapitals In Bezug auf die Frage, wie das durch die Aktionäre eingezahlte Kapital verwendet werden darf, ist feststellbar, dass dieser Betrag in Kalifornien, Australien und Kanada – auch ohne formales Grundkapital – in vergleichbarer Weise wie durch die 2. Richtlinie geschützt wird: Es ist in Australien und Kanada stets ausschüttungsgesperrt und in Kalifornien, solange nicht eine Eigenkapitalquote von 20 % erreicht wird („solvency margin“), wobei hier unter dem eingezahlten Kapital in allen Staaten – darauf ist zudem hinzuweisen – auch der Betrag fällt, der nach der 2. Richtlinie unter den Begriff des Agios subsumiert wird. Auch in Delaware, das dem Grundkapitalmodell folgt, ist das mit Blick auf das Grundkapital Eingezahlte ausschüttungsgesperrt, während aber hier eine Agiotage möglich ist. Zu sehen ist insoweit weiter, dass in dem einzigen Staat, in dem eine Ausschüttung des durch die Aktionäre Eingezahlten per Gesetz nicht untersagt wird (Neuseeland), von der Möglichkeit der Ausschüttung dieses Betrages in der Praxis wohl kein Gebrauch gemacht wird, da ein solches Vorgehen sozusagen als Vorstufe zur Insolvenz der Gesellschaft angesehen wird. Im Ergebnis zeigt sich also, dass der Betrag, den die Aktionäre für den Erhalt ihrer Aktien an die Gesellschaft leisten, in der Mehrzahl der untersuchten Staaten per Gesetz vor Ausschüttungen gesichert ist. e) Kapitalerhöhungen Bei den Kapitalerhöhungen, durch die zu einem späteren Zeitpunkt weiteres Eigenkapital zugeführt wird, ist zunächst festzustellen, dass sowohl nach den Regelungen der untersuchten Drittstaatenmodelle als auch der 2. Richtlinie der Betrag des Kapitals bzw. die Anzahl der Aktien, um die erhöht werden soll, festzusetzen ist und dass entweder die Aktionäre direkt oder über eine zuvor erteilte 244
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Ermächtigung der Kapitalerhöhung zustimmen. Hier sind in den untersuchten Drittstaaten abweichend von der 2. Richtlinie aber zum Teil auch Ermächtigungen in der Satzung ausreichend, die ohne eine Mindestsumme oder eine Mindestlaufzeit zu nennen, Kapitalerhöhungen zulassen können. Auch bei den Bezugsrechten, die es den Altaktionären ermöglichen, anteilig an der Kapitalerhöhung teilzunehmen, variieren die Vorgaben. Während solche Bezugsrechte in den EU-Staaten zwingend für Barkapitalerhöhungen vorgeschrieben sind, können sie in den Drittstaaten nur aufgrund der Satzung eingeräumt werden. f) Berechnung des ausschüttungsfähigen Betrags, Offenlegung und Haftung In allen untersuchten Rechtsordnungen bestehen zudem Regelungen, um den ausschüttungsfähigen Betrag zu berechnen. Dabei werden in Europa und den untersuchten Drittstaaten unterschiedliche Methoden benutzt. Während die 2. Richtlinie insoweit auf die Verteilung eines Gewinns im geprüften Einzelabschluss abstellt, der nach den Rechnungslegungsregeln der Bilanzrichtlinie zu ermitteln ist, arbeiten die untersuchten Drittstaaten regelmäßig mit zwei oder mehr Testverfahren zur Ermittlung des ausschüttungsfähigen Betrages. Dabei lassen sich grundsätzlich zwei Ebenen unterscheiden. Ausgangspunkt ist meist eine Berechnungsmethode, die auf den aktuellen Gewinn und die Gewinnrücklagen („retained earnings“) abstellt. Teilweise sind Ausschüttungen auch aus dem so genannten „surplus“ (Überschuss der Netto-Vermögenswerte über das „stated capital“) möglich. In einem Staat (Neuseeland) sind Ausschüttungen de lege lata darüber hinaus selbst dann noch zulässig, wenn die Gesellschaft im Anschluss daran so gut wie kein Eigenkapital aufweist. Diese bilanzorientierten Tests sind zum Teil per Gesetz auf Bilanzen anzuwenden, die unter Beachtung verbindlicher Rechnungslegungssysteme (z. B. US-GAAP, IFRS) aufzustellen sind. Teilweise wird es aber auch als zulässig angesehen, von einer Rechnungslegung auf Basis von historischen Anschaffungs- und Herstellungskosten abzuweichen und andere Bilanzierungsmethoden zu nutzen, soweit diese unter den Umständen vernünftig sind („other method that is reasonable in the circumstances“). Unterschiede ergeben sich zudem hinsichtlich der Frage, ob und inwieweit konzernspezifische Sachverhalte zwingend zu berücksichtigen sind. Auf einer zweiten Ebene ist bei der Bestimmung des ausschüttungsfähigen Betrags in den untersuchten Drittstaaten anders als nach der Kapitalrichtlinie ein sog. Solvenztest durchzuführen, der teilweise per Gesetz, teilweise aufgrund der Rechtsprechung angewendet wird. Seine Ausgestaltung variiert im Einzelnen; im Grundsatz sind Ausschüttungen untersagt, wenn die Gesellschaft durch die Ausschüttung nicht mehr in der Lage wäre, ihre im gewöhnlichen Geschäftsverlauf fällig werdenden Verbindlichkeiten zu zahlen. Darüber hinaus besteht in Neuseeland und Kanada für das „board“ die Verpfl ichtung, eine Solvenzerklärung abzugeben und offenzulegen. Überall in den untersuchten Staaten ist weiter festzustellen, dass die „board“-Mitglieder für eine Verletzung der mit dem Solvenztest in Zusammenhang stehenden Pfl ichten gegenüber der Gesellschaft haften, wobei regelmäßig die „business judgement rule“ anzuwenden ist. Nur in Kanada besteht die Haftung der „board“-Mitglieder direkt gegenüber den Gläubigern. Die untersuchten Staaten enthalten zudem
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Regelungen, die sich damit beschäftigen, welches Organ den verteilungsfähigen Gewinn vorschlägt und ob und inwieweit er der Zustimmung der Aktionäre bedarf. Insoweit bestehen Unterschiede gerade im Hinblick auf die Einbeziehung der Hauptversammlung. g) Kapitalerhaltung Im Hinblick auf die Kapitalerhaltung ist wie folgt zu unterscheiden: Der Erwerb eigener Aktien, durch den den Aktionären ihre Einlage zurückgezahlt wird, wird in allen untersuchten Rechtsordnungen der Drittstaaten geregelt. Wiederum existieren gleiche Ansätze, aber auch Unterschiede. Während in Europa unter anderem auf den Erhalt des Nettoaktivvermögens (d. h. Aktiva abzüglich Schulden), die volle Einzahlung der Aktien, Begrenzungen in der Menge und die Zustimmung der Hauptversammlung abgestellt wird101, werden in den Drittstaaten Aktienrückkäufe mit anderen Formen der Ausschüttung weitestgehend gleich gestellt und denselben Regelungen, namentlich dem Bilanz- und dem Solvenztest unterworfen. Zumindest bei der Nutzung des Bilanztests bestehen dabei gleiche Ansatzpunkte. Im Hinblick auf die Behandlung nicht drittgleicher Geschäfte (u. a. bei Ausschüttungen an nahestehende Personen denkbar), stellen die Rechtssysteme von Delaware und Kalifornien auf Anfechtungsmöglichkeiten sowie Offenlegungspfl ichten ab. In Neuseeland sind die Interessen der „board“-Mitglieder offenzulegen und es existiert ein Verbot von Geschäften, durch die ein Direktor Vorteile erlangen kann. Dieses Problem wird durch den EU-Gesetzgeber bisher allein durch Offenlegungspfl ichten im Anhang geregelt (s. Vorgaben der revidierten 4. Richtlinie). Allerdings fi nden sich in den nationalen Vorschriften der Mitgliedstaaten zusätzliche bzw. weitergehende Regelungen, wobei z. B. die deutsche Lösung des § 57 AktG früher ansetzt und nicht erst die Ausübung von Gestaltungsrechten verlangt. Die fi nanzielle Unterstützung, die es Aktiengesellschaften untersagt, bspw. Darlehen oder andere Unterstützungen zum Erwerb ihrer Aktien zu gewähren, wird hauptsächlich in den EU-Staaten behandelt. In den Drittstaaten sind Regelungen bzw. Rechtsprechung nur vereinzelt anzutreffen. Das Instrument der Kapitalherabsetzung spielt nur in den Staaten eine Rolle, die über ein Grundkapital verfügen. In den anderen Staaten, insbesondere den Drittstaaten, wird das auf die Aktien eingezahlte Vermögen auf andere Weise reduziert, entweder durch eine Verringerung der Aktienanzahl oder durch Ausschüttungen, wobei bestimmte Ausschüttungsrestriktionen zwingend zu beachten sind. Besonderheiten bestehen im Hinblick auf den Schutz des Gesellschaftsvermögens weiter insoweit, als die Rechte von Delaware und Kalifornien – weitergehend als die Kapitalrichtlinie – mit den „fraudulent transfer rules“ eine Regelung beinhalten, durch die Ausschüttungen, die u. a. zur Insolvenz der Gesellschaft führen würden, beispielsweise durch die Gläubiger und Insolvenzverwalter angefochten werden können. Hier bestehen in Deutschland im Ansatz vergleichbare Grundideen. So wird von der hM in der Literatur aus den allgemeinen Sorgfaltspfl ichten des Vorstandes (§ 93 AktG) abgeleitet, dass ihm im
101 S. insoweit auch die Änderungsrichtlinie 2006/68/EG vom 6.9.2006.
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Rahmen seiner Finanzverantwortung in erster Linie die Aufgabe obliegt, für die Liquiditätssicherung der Gesellschaft zu sorgen102, was bezogen auf den Fall einer Ausschüttung bedeuten würde, dass der Vorstand diese Sorgfaltspfl icht verletzen würde, wenn er eine Ausschüttung vorschlagen und auf Beschluss der Hauptversammlung auch durchführen würde (§ 175 AktG), die unter Nutzung von zu „hohen“ bilanziellen Ergebnissen des IFRS-Abschlusses zur Illiquidität der Gesellschaft führen würde103. Hinzuweisen ist in diesem Zusammenhang noch auf die bereits erwähnte Illiquiditätshaftung und die Existenzvernichtungshaftung, die in Deutschland aber nicht zur Lösung der IFRS-Problematik entwickelt worden ist und systematisch anders angelegt ist. Erstere sieht eine konkretisierte Pflicht zur Vermeidung von Zahlungen an Gesellschafter vor, die zur Insolvenz der Gesellschaft führen, gilt aber nur für die GmbH (§ 64 Satz 3 GmbHG in der durch das MoMiG geänderten Fassung). Die zweite setzt auch bei Zahlungen an Gesellschafter an, die zur Insolvenz führen104, und wird von der hM in der Literatur auch auf die AG angewendet105. Diese Grundgedanken ebenso wie das Bedürfnis nach einer Grenze für zu weit gehende Ausschüttungen legen es nahe, im europäischen Gesellschaftsrecht einen explizit formulierten gedanklichen Rahmen für vorsichtige Ausschüttungsentscheidungen zu schaffen. Als besonders ausgereift erscheinen insoweit die im schwedischen Gesellschaftsrecht mittels der „prudence rule“ niedergelegten Regelungen, die ohne Weiteres im bestehenden System der 2. EU-Richtlinie verwirklicht werden könnten106. Neben den gesetzlich vorgesehenen Schutzmechanismen sind verschiedene Instrumente des vertraglichen Selbstschutzes („covenants“) in den untersuchten Drittstaaten besonders ausgeprägt, über das sich regelmäßig verhandlungsstarke Gläubiger durch Vertrag unter anderem auch direkt oder indirekt vor einer unsachgemäßen Verteilung des Vermögens sichern. h) Rechte der Hauptversammlung Im Hinblick auf die Rechte der Hauptversammlung ist in den untersuchten Drittstaaten ein gemischtes Bild festzustellen. In der überwiegenden Anzahl der untersuchten Staaten kommen der Hauptversammlung weniger Rechte als nach der 2. Richtlinie zu. Bei Kapitalerhöhungen sind die Aktionäre in der Mehrzahl der untersuchten Staaten weitgehend ausgeschaltet. Jedoch bestehen in einigen Staaten Ad-hoc-Zustimmungserfordernisse für bestimmte Fälle der Ausgabe neuer Aktien. Die außerdem in diesem Zusammenhang wichtigen Bezugsrechte bestehen in drei der fünf untersuchten Staaten nicht per se, sondern können nur aufgrund der Satzung eingeräumt werden. Weiter ist festzustellen, dass die Hauptversammlung in der überwiegenden Zahl der untersuchten Drittstaaten nicht über Stimmrechte beim Erwerb eigener Aktien oder der Gewinnfeststel102 Fleischer, Handbuch des Vorstandsrechts, 2006, § 7 Rz. 43; Hopt in Großkomm. AktG, 4. Aufl. 2003, § 93 AktG Rz. 96; Scheffler in FS Goerdeler, 1987, S. 469, 472. 103 Hennrichs, ZGR 2008, 361. 104 BGH, NJW 2007, 2689 – TRIHOTEL; BGHZ 176, 204 – Gamma; BGH, NJW-RR 2008, 629; BGH, NJW-RR 2008, 1417; BGH, NZG 2009, 545 – Sanitary. 105 Vgl. statt aller Hüffer, 9. Aufl. 2010, § 1 AktG Rz. 26; Van Hulle/Maul/Drindhausen, Handbuch zur Europäischen Gesellschaft, 2007, S. 279. 106 S. hierzu im Einzelnen Maul/Lanfermann/Richard, AG 2010, 285 f.
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lung verfügt. Hier sieht die 2. Richtlinie für den ersten Fall eine qualifi zierte Zustimmungspfl icht vor und überlässt bei der Gewinnverwendung die Entscheidung den Mitgliedstaaten.
V. Ergebnis Im Ergebnis hat sich gezeigt, dass eine Hinwendung zu einem alternativen gesellschaftsrechtlichen Modell ohne Grundkapital aus Sicht der Unternehmen weniger Vorteile mit sich bringt als vielseits gedacht. Neben dem Umstand, dass mit alternativen Modellen – ausweislich der EU-Machbarkeitsstudie für ein alternatives Kapitalschutzsystem – keine kostengünstigere Lösung erreicht werden kann, hat sich auch gezeigt, dass die untersuchten Drittstaatenmodelle, auch wenn sie nicht über ein Grundkapitalsystem verfügen, in vielerlei Hinsicht der Kapitalrichtlinie gleichen. Feststellbar ist insoweit im Hinblick auf die Frage des Grundkapitals, dessen Notwendigkeit immer wieder bestritten worden war, dass in drei von vier untersuchten alternativen Drittstaatenmodellen die von den Aktionären geleisteten Einlagen ausschüttungsgesperrt sind. Ebenso sticht hervor, dass die Elemente, die die Sicherung der Kapitalaufbringung bei der Kapitalrichtlinie ausmachen, in der Mehrzahl der untersuchten Drittstaaten vorhanden sind (Unterschiede, wie die zusätzliche Prüfung durch einen Sachverständigen, erscheinen hier nicht relevant). Dies verdeutlicht nochmals, dass die wesentliche Aussage der 2. Richtlinie, einen nicht ausschüttbaren Puffer an Kapital vorzuhalten und dessen tatsächliche Aufbringung sicherzustellen, auch in der Mehrzahl der Drittstaaten als üblicher und vergleichbarer Weg existiert. Da diesem im Ergebnis auch eine aktionärs- und gläubigerschützende Funktion nicht abgestritten werden kann, erscheint die Kapitalrichtlinie vor diesem Hintergrund nicht als reformbedürftig. Auch die Möglichkeit der Nutzung echter nennwertloser Aktien als solcher rechtfertigt eine Reform nicht. Wie eine insoweit im Rahmen der EU-Machbarkeitsstudie für ein alternatives Kapitalschutzmodell ausführliche Untersuchung der Folgen der Einführung echter nennwertloser Aktien gezeigt hat107, sind diese behaupteten Vorteile nennwertloser Aktien weitaus geringer als sie zum Teil dargestellt worden sind. Auch konnte die Befragung der Unternehmen im Rahmen der EU-Machbarkeitsstudie insoweit keine entscheidend anderen Ergebnisse liefern, sodass auch aus diesem Grund die Einführung echter nennwertloser Aktien nicht als unbedingt erforderlich angesehen werden kann. Mehr Reformbedarf ist hingegen bei der Frage, wie das an die Aktionäre ausschüttbare Vermögen zu berechnen ist, zu sehen, da in Europa in immer größerem Umfang für Ausschüttungszwecke auf Informationsbilanzen nach IFRS-Grundsätzen abgestellt wird. Insoweit hat der Vergleich zu den Drittstaatenmodellen gezeigt, dass diese bereits über Instrumente verfügen, um Korrekturen von ergebnismäßigen „Übertreibungen“ durch starke Informationsorientierung, z. B. im Rahmen von Fair-value-Bewertungen, vorzunehmen. Ähnliches fi ndet sich in einigen EU-Mitgliedstaaten, bei denen für Ausschüt107 Vgl. KPMG, Feasibility study on an alternative to the capital maintenance regime, Main Report, 2008, S. 410 ff.
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tungszwecke explizite Rückrechnungen oder Solvenzbetrachtungen stattfinden, auch wenn die Rechnungslegung auf der 4. Richtlinie basiert108. Hierbei wäre zu überlegen, ob nicht ein im europäischen Gesellschaftsrecht explizit formulierter gedanklicher Rahmen für vorsichtige Ausschüttungsentscheidungen geschaffen werden sollte. Solche Ansätze existieren etwa bereits im schwedischen Gesellschaftsrecht mit der „prudence rule“109 oder in Deutschland mit der Rechtsprechung zum existenzvernichtenden Eingriff.110 Im Hinblick auf den Schutz des Gesellschaftsvermögens über das bei der Unternehmensgründung eingezahlte Kapital hinaus ist feststellbar, dass der Erwerb eigener Aktien in den Drittstaaten und Europa zum Teil vergleichbaren Schutzvorkehrungen unterworfen wird, wobei mit der Nutzung des Solvenztests in den Drittstaaten ein ergänzendes Mittel für primär durch Gesellschaftsrecht bestimmte vorsichtige Ausschüttungsentscheidungen genutzt wird, was in die Reformüberlegungen Einzug nehmen sollte. Auch die Grundüberlegungen der „fraudulent transfers“, die über das in Europa vorhandene hinausgehen, erscheinen als Ergänzung für das europäische Recht erstrebenswert, nicht nur weil die Untersuchungen in den Unternehmen der betroffenen Drittstaaten gezeigt haben, dass dieses Anfechtungsrecht als effi ziente Stütze angesehen wird. Vielmehr erscheint es als eine der grundlegenden Regelungen des Gesellschaftsrechts, dass Ausschüttungen, die die Insolvenz der Gesellschaft nach sich ziehen können, nicht gerechtfertigt sein können. Insoweit erscheint daher zumindest eine Regelung, die den Vorstand verpflichtet, keine Ausschüttungen vorzunehmen, die zur Illiquidität der Gesellschaft führen, als sinnvoll, soll nicht die weitere Stufe der Anfechtungsrechte betreten werden. Insgesamt wird daher die Notwendigkeit einer umfassenden Reform der 2. Richtlinie durch die Hinwendung zu einem grundkapitallosen Drittstaatenmodell durch diese Untersuchung und auch durch die EU-Machbarkeitsstudie für ein alternatives Kapitalschutzsystem nicht gestützt. Dies wird zudem durch eine im Rahmen der EU-Machbarkeitsstudie durchgeführte Umfrage bei 3.578 Unternehmen untermauert, die bestätigt hat, dass das gesellschaftsrechtliche Gesamtsystem der 2. Richtlinie als solches als funktionsfähig angesehen und nicht grundsätzlich in Frage gestellt wird111. Dennoch darf die Auswirkung von informationsorientierten bilanziellen Ausschüttungsgrundlagen auf die Wirksamkeit des europäischen Kapitalschutzsystems, wie es in der 2. Richtlinie angelegt ist, und die damit verbundenen Gefahren für Aktionäre und Gläubiger nicht unterschätzt werden, da es gemessen an der Finanzlage des Unternehmens zu übermäßigen Ausschüttungen kommen kann. Hier besteht weiterhin dringender Handlungsbedarf, auch wenn eine solche Ergänzung unter Beibehaltung der 2. Richtlinie erfolgen sollte112.
108 109 110 111
Vgl. hierzu im Einzelnen Maul/Lanfermann/Richard, AG 2010, 279. S. Maul/Lanfermann/Richard, AG 1010, 279, 285 S. Fn. 33. Vgl. KPMG, Feasibility study on an alternative capital maintenance regime, Main Report, 2008, S. 3. 112 Zu Lösungsansätzen in diesem Bereich vgl. Maul/Lanfermann/Richard, AG 2010, 279 ff.
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Transnationale Sitzverlegung von Kapitalgesellschaften im primären Binnenmarktrecht nach der Lissabonner Reform Inhaltsübersicht I. Der Rahmen des positivierten Primärrechts des Binnenmarkts für die transnationale Sitzverlegung von Gesellschaften nach der Lissabonner Vertragsreform 1. Die positivierten Vorschriften a) Binnenmarktrechtliche Freiverkehrsvorschriften b) Die ursprüngliche Verhandlungsvorschrift c) Die Rechtsetzungsermächtigungen 2. Der Zusammenhang der Vorschriften a) Die überholte Streitfrage des Verhältnisses von Niederlassungsfreiheit und Vereinbarungen b) Das Verhältnis von Niederlassungsfreiheit und Kapitalverkehrsfreiheit II. Die Rechtsprechung des EuGH zur transnationalen Sitzverlegung bis „Cartesio“ im Licht der Grundfreiheiten 1. Der erste judikative Zugriff: Die Nichtanwendbarkeit der Niederlassungsfreiheit auf Wegzugsregeln a) Der „Daily Mail“-Sachverhalt
b) Entscheidung und Kritik 2. Liberalisierung des Zuzugs und der Hereinverschmelzung a) Gemeinsamkeiten der Sachverhalte b) Gemeinsamkeiten im Entscheidungsmuster 3. Die Liberalisierung des Wegzugs a) Der „Cartesio“-Sachverhalt b) Die zwei Dimensionen der Entscheidung des EuGH c) Zusammenfassung III. Die unionsrechtlichen Perspektiven der transnationalen Sitzverlegung nach „Cartesio“ 1. Konsequenzen aus dem Stand der Rechtsprechung a) Die Liberalisierungskonsequenz b) Die Liberalisierungstragweite c) Konsequenzen für das mitgliedstaatliche, insbesondere deutsche Recht 2. „Cartesio“ als Endstation oder Etappenstation für Beschränkungen im Licht der Dogmatik der binnenmarktlichen Grundfreiheiten? 3. Rolle des Sekundärrechts
Die transnationale Sitzverlegung von Kapitalgesellschaften in der Entwicklung des primären Binnenmarktrechts in diesem Beitrag zu erörtern, der Hans-Jürgen Hellwig – dem zum Richteramt befähigten1, der Wissenschaft verbundenen 2, 1 Es ist der große Vorzug und Wettbewerbsvorteil der deutschen Anwälte im internationalen Vergleich, dass sie dank des Modells der Voll- und Einheitsjuristenausbildung die Befähigung zum Richteramt, also zu der herausfordernden Praxisaufgabe der methodisch professionellen Streitentscheidung, als Schlüsselqualifikation für alle volljuristischen Berufe innehaben. 2 Die Ernennung von Hans-Jürgen Hellwig zum Honorarprofessor fiel in das Dekanat des Verf. im Jahre 2000, der koinzidenterweise bereits zehn Jahre zuvor als Mitglied
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in der Kommunalpolitik erprobten3 und die europäische Integration begleitenden4 Rechtsanwalt5 – gewidmet ist, gibt das langjährige Interesse des Jubilars an Fragen des Europäischen Gesellschaftsrechts ebenso Anlass wie die jüngste einschlägige Judikatur des EuGH. Es ist eine primärrechtliche Teilfrage des Gesellschaftsrechts im Kontext und der Dynamik des europäischen Wirtschaftsordnungsrechts6, des Binnenmarktrechts7 und des Gemeinschaftsprivatrechts8. Auch mit der grenzüberschreitenden Sitzverlegung geht es im weitesten Sinne um eine „Cartographie juridique“, die sich freilich deutlich von derjenigen unterscheidet, die den Vater des Jubilars beschäftigt9. Spannt man in der Rechtsprechung des EuGH zur transnationalen Sitzverlegung im Binnenmarkt zunächst den Bogen von „Daily Mail“10 zu „Cartesio“11, so sind mehrere Vorbemerkungen angebracht12. Erstens markieren diese beiden Urteile des EuGH einen Zeitraum von zwanzig Jahren der Rechtsprechung zur innergemeinschaftlichen Niederlassungsfreiheit des EG-Vertrages. Für ein Gesamtbild sind daher nicht nur diese beiden Entscheidungen zu berücksichtigen. Dazwischen liegen namentlich die Entscheidungen „Centros“13, „Überseering“14,
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des Senats der Universität Trier an der Ernennung des Vaters des Jubilars, des in Heidelberg habilitierten Fritz Hellwig, zum Honorarprofessor im Bereich der Geschichte der Kartographie und der Historischen Wirtschaftsgeographie mitgewirkt hatte. Hans-Jürgen Hellwig wirkt zugleich im Vorstand der Vereinigung von Förderern und Freunden der Johann-Wolfgang-Goethe Universität Frankfurt. Stadtverordnetenvorsteher und Stadtältester der Stadt Frankfurt/Main; vgl. „HansJürgen Hellwig wird Stadtältester“, in: FAZ.NET v. 13.12.2009. Davon zeugt namentlich auch sein langjähriges Engagement in führender Position im CCBE, zu dessen Präsident er im Jahre 2004 gewählt wurde. Als Darstellung seiner kautelarjuristischen Gestaltungstätigkeit vgl. Hans-Jürgen Hellwig, Gesellschaftsrecht in der Gestaltung, in Peter Hommelhoff/Peter-Christian Müller-Graff/Peter Ulmer (Hrsg.), Die Praxis der rechtsberatenden Berufe, 1999, S. 59 ff. mit der Beschreibung des Reizes der gesellschaftsrechtlichen Beratung auf S. 62: „Sie ist abwechslungsreich und vielgestaltig wie das menschliche Leben“. Seine anwaltliche Tätigkeit begleitet ein führendes anwaltsverbandliches Engagement namentlich im Vorstand des DAV und im CCBE. Vgl. zu diesem Rahmen Peter-Christian Müller-Graff, Gesellschaftsrecht im Kontext und in der Dynamik des europäischen Wirtschaftsordnungsrechts, in Peter-Christian Müller-Graff/Christoph Teichmann (Hrsg.), Europäisches Gesellschaftsrecht auf neuen Wegen, 2010, S. 9 ff. Vgl. hierzu Peter-Christian Müller-Graff, Die Verdichtung des Binnenmarktrechts zwischen Handlungsfreiheiten und Sozialgestaltung, in EuR Beiheft 1/2002, 7, 38. Zu diesem Zusammenhang schon Karl Friedrich Kreuzer, Die Europäisierung des Internationalen Privatrechts – Vorgaben des Gemeinschaftsrechts, in Peter-Christian Müller-Graff (Hrsg.), Gemeinsames Privatrecht in der Europäischen Gemeinschaft, 2. Aufl. 1999, S. 457, 514 ff. Siehe Fritz Hellwig, Tyberiade und Augenschein – Forensische Kartographie im 16. Jahrhundert, in Jürgen F. Baur/Peter-Christian Müller-Graff/Manfred Zuleeg (Hrsg.), Europarecht – Energierecht – Wirtschaftsrecht, Festschrift für Bodo Börner, 1992, S. 805 ff. EuGH, Slg.1988, 5483. EuGH, ZIP 2009, 24. Der Text des Beitrags fußt auf dem Schlussvortrag, den Verf. am 9.10.2009 in der Europäischen Rechtsakademie in Trier auf der Jahrestagung zum Internationalen Privat- und Wirtschaftsrecht gehalten hat. EuGH, Slg. 1999, I-1459. EuGH, Slg. 2002, I-9919.
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„Inspire Art“15 und „Sevic“16. Das daneben aufgewachsene Sekundärrecht der Sitzverlegung europäischer Gesellschaftsformen (EWIV17, SE18, SCE19) komplettiert das einschlägige Bild des Unionsrechts. Zweitens betraf von den beiden erstgenannten Urteilen nur die „Daily-Mail“-Entscheidung aus dem Jahre 1988 eine Kapitalgesellschaft, nämlich eine PLC englischen Rechts. Demgegenüber handelt das „Cartesio“-Urteil von einer Personengesellschaft, nämlich einer betéti társaság (Kommanditgesellschaft ungarischen Rechts), ohne dass diese Entscheidung deshalb jedoch irrelevant für Kapitalgesellschaften wäre. Drittens ist bei einer Sitzverlegung bekanntlich zu beachten, ob es um den Verwaltungssitz oder den Satzungssitz geht. Und viertens hat jede transnationale Sitzverlegung janusköpfig zwei Gesichter: den Wegzug aus einem Mitgliedstaat und den Zuzug in einen anderen Mitgliedstaat20. Der nachfolgende Beitrag konzentriert sich auf drei Fragen: den Rahmen des positivierten Primärrechts der transnationalen Sitzverlegung von Gesellschaften nach Inkrafttreten des Reformvertrags von Lissabon (I), die Beurteilung der Rechtsprechung des EuGH in diesem Rahmen (II) und schließlich die unionsrechtlichen Entwicklungsperspektiven der transnationalen Sitzverlegung nach „Cartesio“ (III).
I. Der Rahmen des positivierten Primärrechts des Binnenmarkts für die transnationale Sitzverlegung von Gesellschaften nach der Lissabonner Vertragsreform Für die transnationale Sitzverlegung von Gesellschaften ist primärrechtlich ein vom Vertrag von Lissabon leicht modifi zierter Kranz positivierter Vorschriften (1) und deren Verhältnis zueinander maßgeblich (2). 1. Die positivierten Vorschriften In dem bis zum 30.11.2009 geltenden positiven Primärrecht ging es im wesentlichen um drei Gruppen von Vorschriften: erstens die binnenmarktrechtlichen Freiverkehrsvorschriften, also die Niederlassungsfreiheit (Art. 43 EGV im allgemeinen und Art. 48 EGV speziell für Gesellschaften) und die Kapitalverkehrsfreiheit (Art. 56 EGV); zweitens die Verhandlungsvorschrift des Art. 293 EGV sowie drittens die drei Rechtsetzungsermächtigungen der EG (Art. 44, 95 und 308 EGV). Mit dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon am 1.12.200921 15 16 17 18 19 20
EuGH, Slg. 2003, I-10155. EuGH, Slg. 2005, I-10805. VO (EWG) 2137/85, ABl. 1985 L 199/1 ff. VO (EG) 2157/2001, ABl. 2001 L 294/1 ff. VO (EG) 1435/2003, ABl. 2003 L 207/1 ff. Vgl. dazu z. B. Peter-Christian Müller-Graff, Niederlassungsfreiheit, in Rudolf Streinz, EUV/EGV, Kommentar, Art. 48 Rz. 17 ff., 20 ff. m. w. N.; jüngste Bestandsaufnahme Walter Bayer/Jessica Schmidt, Grenzüberschreitende Sitzverlegung und grenzüberschreitende Restrukturierungen nach MoMiG, Cartesio und Trabrennbahn, ZHR 173 (2009), 735, 737 ff., 742 ff. 21 Zu diesem Vertrag vgl. z. B. Peter-Christian Müller-Graff, Der Vertrag von Lissabon auf der Systemspur des Europäischen Primärrechts, integration 2008, 123 ff.
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reduzierten sich diese Vorschriften auf zwei Gruppen und erhielten eine neue Nummerierung. a) Binnenmarktrechtliche Freiverkehrsvorschriften Niederlassungsfreiheit und Kapitalverkehrsfreiheit werden trotz der Verschleierung des (in Art. 3 Abs. 3 EUV, Art. 119 AEUV sowie dem Protokoll (Nr. 27) über den Binnenmarkt und den Wettbewerb enthaltenen) Antlitzes der unionalen Wirtschaftsverfassung durch den Lissabonner Reformvertrag 22 unverändert gewährleistet. Art. 49 AEUV verbietet Beschränkungen der freien Niederlassung von Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats. Art. 54 AEUV erklärt diese Freiheit auf diejenigen Gesellschaften für anwendbar, die nach den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats gegründet wurden und ihren Satzungssitz, ihre Hauptverwaltung oder ihre Hauptniederlassung innerhalb der Gemeinschaft haben. Art. 63 AEUV verbietet alle Beschränkungen des Kapitalverkehrs zwischen Mitgliedstaaten. Allen drei Vorschriften gemeinsam ist ihre Rechtsnatur, ihr Schutzgehalt und ihre konditionierte Einschränkbarkeit. Denn sie sind erstens unmittelbar anwendbar23. Zweitens unterfallen den verbotenen Beschränkungen nicht nur diskriminierende Vorschriften, sondern nach der billigenswerten modernen Rechtsprechung des EuGH alle Maßnahmen, die den Gebrauch dieser Freiheiten einschränken oder „weniger attraktiv“ machen 24. Dies ist sinnfällig im Licht des auf Privatautonomie und Wettbewerb zielenden binnenmarktlichen (und darin zugleich wirtschaftsordnungsrechtlichen) Konzepts des komparativen Kostenvorteils, das durch die textliche Verlagerung des unionalen Ziels eines Systems, das den Wettbewerb vor Verfälschungen schützt, aus dem Eingangsbereich der Zielartikel25 in ein Protokoll26 nicht verändert wird 27. Und drittens sind alle drei Gewährleistungen unter bestimmten Voraussetzungen einschränkbar. b) Die ursprüngliche Verhandlungsvorschrift Bis zum 30.11.2009 stand neben den Freiverkehrsvorschriften die Verhandlungsvorschrift des Art. 293 EGV. Sie war weder unmittelbar anwendbar noch – wie nicht selten missverständlich zu lesen oder präsumiert – eine „Ermächtigung“ der EG noch eine ausschließliche Befugnis der Mitgliedstaaten 28. Sie besagte 22 Vgl. dazu Peter-Christian Müller-Graff, Das verschleierte Antlitz der Lissabonner Wirtschaftsverfassung, ZHR 173 (2009), 443 ff. 23 Zu den Vorgängervorschriften: Artt. 43, 48 (EuGH, Slg. 1974, 631; Peter-Christian Müller-Graff, a. a. O. [Fn. 20], Art. 43 Rz. 1); Art. 56 EGV (EuGH, Slg.1995, I-4821; Michael Sedlaczek, ebda., Art. 56 Rz. 27). 24 Z. B. EuGH, Slg. 1995, I-4165 Tz. 37 (Gebhard); Slg. 2002, I-787 (Portugaia). 25 Bislang Art. 3 Abs. 1 lit. g EGV. 26 Protokoll (Nr. 27) über den Binnenmarkt und den Wettbewerb. 27 Vgl. Peter-Christian Müller-Graff, a. a. O. (Fn. 22). 28 Zutreffend Ivo E. Schwarz, in Hans von der Groeben/Hans Boeckh/Jochen Thiesing (Hrsg.), Kommentar zum EWG-Vertrag, 2. Aufl. 1974, Art. 220 unter I 1 (S. 624: „Art. 220 begründet keine Kompetenz der Gemeinschaft zur Rechtsetzung“) sowie unter III 1 (S. 628: „Weder aus den veröffentlichten Materialien noch aus dem Wortlaut des Art. 220 lassen sich Anhaltspunkte dafür entnehmen, daß die Vertrags-
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textlich lediglich, dass die Mitgliedstaaten, soweit erforderlich, untereinander Verhandlungen einleiten, um zugunsten ihrer Angehörigen u. a. sicherzustellen: die Beibehaltung der Rechtspersönlichkeit bei Verlegung des Sitzes von einem Staat in einen anderen und die Möglichkeit der Verschmelzung von Gesellschaften, die den Rechtsvorschriften verschiedener Mitgliedstaaten unterstehen. Art. 293 EGV war in Fortsetzung des seinerzeitigen Art. 220 EWGV, der (möglicherweise wegen Zeitnot29) erst 14 Tage vor der Unterzeichnung in den Vertragstext aufgenommen worden war, in jedem Fall als eine von den Vertragspartnern vorgezeichnete politische Perspektive zu verstehen und nach Ansicht der überwiegenden Auffassung im Schrifttum als gemeinschaftsrechtliche Verpfl ichtung aller Mitgliedstaaten zur entsprechenden Wahrnehmung ihrer völkerrechtlichen Vertragsschließungskompetenz zu deuten30. Auch wenn man dieser Ansicht folgt, war die Vorschrift in kompetenzrechtlicher Hinsicht im Grunde überflüssig. Sie wurde vom Vertrag von Lissabon aufgehoben. c) Die Rechtsetzungsermächtigungen Schließlich sind für die transnationale Sitzverlegung von Gesellschaften primärrechtlich potentiell noch vier Rechtsetzungsermächtigungen maßgeblich: Art. 50 Abs. 2 lit.g AEUV (ex-Art. 44 Abs. 2 lit. g EGV), Art. 114 AEUV (exArt. 95 EGV), Art. 81 Abs. 2 lit. c AEUV (ex-Art. 65 lit. b EGV) und Art. 352 AEUV (ex-Art. 308 EGV). Sie stehen in aufsteigender Abstraktheit zueinander. Art. 50 Abs. 2 lit. g AEUV ermächtigt die Union sachgebietlich konkret zur Koordinierung der Schutzbestimmungen, die in den Mitgliedstaaten den Gesellschaften im Interesse der Gesellschafter sowie Dritter vorgeschrieben sind, um diese Bestimmungen gleichwertig zu gestalten. Art. 114 AEUV enthält die allgemeine Ermächtigung der Union, Maßnahmen zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten zu erlassen, welche die Errichtung und das Funktionieren des Binnenmarktes zum Gegenstand haben. Unklar ist, ob oder inwieweit die im Bereich der ziviljustiziellen Zusammenarbeit angesiedelte unionale Kompetenz zur Sicherstellung der Vereinbarkeit der in den Mitgliedstaaten geltenden Kollisionsnormen und Vorschriften zur Vermeidung von Kompetenzkonfl ikten (Art. 81 Abs. 2 lit. c AEUV) für die Frage der transschließenden die dort erwähnten spezifisch kollisionsrechtlich-zwischenrechtlichen Fragen Überei nkommen der Mitgliedstaaten vorbehalten wollten, um dabei die formelle Einschaltung der nationalen Gesetzgeber sicherzustellen“ und „Die Funktion der Vorschrift besteht nicht darin, Zuständigkeiten zu übertragen, festzuschreiben oder abzugrenzen. Vielmehr ist es ihre Aufgabe, die völlig unabhängig von Art. 220 bestehende völkerrechtliche Vertragschließungsbefugnis der Mitgliedstaaten in eine gemeinschaftsrechtliche Verpfl ichtung zum Vertragschluß zu verwandeln und dadurch im Interesse der Gemeinschaft zu mobilisieren, um konkrete, in Art. 220 verbindlich festgelegte Ziele der Gemeinschaft zu erreichen – ‚soweit erforderlich‘, soweit also die Gemeinschaft diese ihre Ziele nicht mit Hilfe ihr zugewiesener Befugnisse verwirklicht.“). 29 So Ivo E. Schwartz, ebda., Art. 220 unter III 1 (S. 627 f.: „Man wußte anscheinend nicht so rasch und nicht genau genug, was in bezug auf die diversen Sachverhalte noch einer Regelung bedurfte und was nicht, sei es, daß das nationale Recht genügte oder bereits Staatsverträge vorlagen, sei es, daß der EWG-Vertrag selbst oder Maßnahmen auf Grund seiner Ermächtigungen ausreichen würden.“). 30 So Ivo E. Schwarz, ebda., Art. 220 unter II (S. 626) m. w. N.
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nationalen Sitzverlegung eine rechtspolitische Handlungsgrundlage für die Union darstellen kann. Art. 352 AEUV ermächtigt die Union zum Erlass von Vorschriften, um eines der Ziele der Verträge zu verwirklichen. Alle genannten Ermächtigungsgrundlagen bleiben vom Reformvertrag von Lissabon in ihrer materiellrechtlichen Substanz unberührt. Dies gilt entgegen der Annahme des Bundesverfassungsgerichts in seinem Lissabon-Urteil31 auch für die textlich geänderte sog. Abrundungskompetenz des Art. 352 AEUV, da auch bereits die Vorgängervorschrift (Art. 308 EGV) nach ganz überwiegender Auffassung und Praxis zur Verwirklichung aller Vertragsziele anwendbar war32. 2. Der Zusammenhang der Vorschriften Die Frage nach dem Verhältnis dieser Vorschriften zueinander beinhaltete bis zum Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon zwei Streitfragen, von denen sich eine mit der Vertragsreform erledigt hat. a) Die überholte Streitfrage des Verhältnisses von Niederlassungsfreiheit und Vereinbarungen Die erste Streitfrage betraf das Verhältnis von Art. 48 EGV und Art. 293 EGV. Erst in jüngerer Zeit hatte Friedrich Kübler wieder die (umstrittene) These erinnert, dass wegen Art. 293 EGV die Niederlassungsfreiheit kein Recht auf freie Inkorporation im Gemeinsanen Markt gewährleiste 33. Indes sicherte Art. 293 EGV den Mitgliedstaaten keine „domaine reservé“. Vielmehr war er wegen der Niederlassungsfreiheit so zu verstehen, dass die grenzüberschreitende Freizügigkeit von Gesellschaften rechtspolitisch nicht nur von der Gemeinschaft nach Art. 44 EGV durch supranationale Richtlinien, sondern auch von den Mitgliedstaaten durch herkömmliche völkerrechtliche Übereinkommen gefördert werden konnte und sollte. Das Gemeinschaftsrecht sperrte diesen Weg nicht, sondern benannte ihn, ohne ihn allerdings der ausschließlichen Zuständigkeit der Mitgliedstaaten vorzubehalten34. Zweitens wurde das Verhandlungsmodell nur mit den Worten „soweit erforderlich“ angesprochen. Dies beinhaltete auch die Möglichkeit, dass sich eine Vereinbarung erübrigen konnte, soweit schon primärrechtlich eine zufriedenstellende Lösung verwirklichbar war. Und drittens war eine Sicht, die für die Themen des Art. 293 EGV die unmittelbare Anwendbarkeit des Art. 48 EGV ausschließen wollte (so der EuGH in „Daily Mail“35) vertragssystematisch nicht zwingend. Denn auch die bloße Existenz der binnenmarktfi nalen Angleichungskompetenz des seinerzeitigen Art. 95 EGV (jetzt: Art. 114 AEUV) und deren rechtspolitische Aktivierbarkeit schloss (schließt) nicht die unmittelbare Anwendbarkeit der Vorschriften über die 31 Urteil v. 30.6.2009, Tz. 327. 32 Vgl. dazu z. B. ausführlich Ivo E. Schwarz, in Hans von der Groeben/Jürgen Schwarze (Hrsg.), EUV/EGV, Kommentar, 6. Aufl. 2003, Art. 308 EGV Rz. 83 ff., 147 ff., 163 ff. 33 Vgl. Friedrich Kübler, Die Transformation des Europäischen Gesellschaftsrechts, in Charlotte Gaitanides/Stefan Kadelbach/Carlos Rodriguez Iglesias (Hrsg.), Europa und seine Verfassung, Festschrift für Manfred Zuleeg, 2005, S. 559, 560. 34 Vgl. Ivo E. Schwarz, a. a. O. (Fn. 28). 35 EuGH, a. a. O. (Fn. 10).
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Warenverkehrsfreiheit aus. Anders gesagt: die unmittelbare Anwendbarkeit der transnationalen Freiheitsgewährleistungen ist nicht schon grundsätzlich davon abhängig, dass bereits eine Harmonisierung oder gegenseitige Anerkennung von Schutzstandards durch die Gemeinschaft oder die Mitgliedstaaten erfolgt ist. Mit dem Wegfall von Art. 293 EGV infolge der Lissabonner Vertragsreform kann das Verhandlungsmodell ohnehin nicht mehr gegen die unmittelbare Anwendbarkeit der Artt. 49, 54 AEUV in Fällen der transnationalen Sitzverlegung ins Feld geführt werden. b) Das Verhältnis von Niederlassungsfreiheit und Kapitalverkehrsfreiheit Von der Vertragsreform nicht erledigt ist allerdings die Frage nach dem Verhältnis von Niederlassungsfreiheit und Kapitalverkehrsfreiheit in transnational relevanten Unternehmensfällen36. Hier sind mehrere Konstellationen zu unterscheiden, ohne diese in diesem Zusammenhang jedoch vertiefen zu müssen. Erstens gibt es die reinen transnationalen Mobilitätsfälle, in denen es um Beschränkungen von Lokationsentscheidungen bestehender Unternehmen geht. Deshalb ist bei ihnen der Gewährleistungsbereich der Artt. 49, 54 AEUV angesprochen. Um diese geht es bei der transnationalen Sitzverlegung. Davon zu unterscheiden sind die Investitionsfälle, in denen Beschränkungen sowohl unternehmenspolitische Investitionen als auch bloßes Kapitalanlageverhalten (Portfolio-Investitionen) betreffen können. Da der kleinste gemeinsame Nenner für die Verwirklichung beider Zielsetzungen eine Kapitalinvestition ist, spricht manches dafür, Beschränkungen primär an Art. 63 AEUV zu messen, wie es der EuGH im Fall der Goldenen Aktien tut 37. Die Akzentsetzung auf die Kapitalinvestition erspart eine Unterscheidung nach der Motivation und unnötige Beweis- und Abgrenzungsschwierigkeiten. Ob dieser Ansatz auch in der unionsrechtlichen Gewährleistung des (in einem eigenen Normkontext stehenden) freien Kapitalverkehrs im Verhältnis zu Drittstaaten sinnfällig ist 38, ist nicht Gegenstand des vorliegenden Themas. Inwieweit daneben eine unternehmensbezogene Fallgruppe konturierbar ist, in denen zwischen schwerpunktmäßiger Anwendung einer der beiden betroffenen Grundfreiheiten oder paralleler Anwendung beider zu entscheiden ist, ist noch nicht hinreichend geklärt 39, wird im Zusammenhang mit der vorliegenden Fragestellung aber, soweit erkennbar, jedenfalls bislang nicht relevant.
36 Hierzu Peter-Christian Müller-Graff, Einflußregulierungen in Gesellschaften zwischen Binnenmarktrecht und Eigentumsordnung, in Festschrift für Peter Ulmer (hrsg. von Mathias Habersack, Peter Hommelhoff, Uwe Hüffer, Karsten Schmidt), 2003, S. 929, 933 ff.; Martin Nettesheim, Unternehmensübernahmen durch Staatsfonds: Europarechtliche Vorgaben und Schranken, ZHR 172 (2008), 729, 748 ff. 37 So z. B. EuGH, Slg. 2002, I-4731 (Kommission/Portugal); Slg. 2002, I-4781 (Kommission/Frankreich); Slg. 2002, I-4809 (Kommission/Belgien); Slg. 2003, I-4581 (Kommission/Spanien). 38 Vgl. Peter-Christian Müller-Graff, Die Europäische Wirtschaftsverfassung in der Herausforderung grenzüberschreitender Unternehmensübernahmen, in Ernst-Joachim Mestmäcker/Wernhard Möschel/Martin Nettesheim (Hrsg.), Verfassung und Politik im Prozess der europäischen Integration, 2008, S. 195, 218 ff. 39 Hier besteht noch Klärungsbedarf; vgl. dazu auch Martin Nettesheim (Fn. 36), 748 ff.
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II. Die Rechtsprechung des EuGH zur transnationalen Sitzverlegung bis „Cartesio“ im Licht der Grundfreiheiten In dem aufgezeigten, von den Mitgliedstaaten durch Vereinbarung und Ratifikation gezogenen und legitimierten primärrechtlichen Rahmen bewegt sich die Rechtsprechung des EuGH zur grenzüberschreitenden Sitzverlegung. Grob geschichtet vollzog sie sich bislang in drei Etappen. 1. Der erste judikative Zugriff: Die Nichtanwendbarkeit der Niederlassungsfreiheit auf Wegzugsregeln Die erste Etappe dieser Entwicklung ist gekennzeichnet vom ersten judikativen Zugriff durch die Entscheidung „Daily Mail“40. a) Der „Daily Mail“-Sachverhalt Deren Sachverhalt ist bekannt. Es ging um eine Aktiengesellschaft englischen Rechts, die in London registrierte Daily Mail and General Trust PLC, die in Aktien investierte. Sie unterlag im Falle der Veräußerung von Vermögen der britischen Wertzuwachssteuer. Um diese zu vermeiden, wollte sie im Jahre 1984 ihren steuerlich relevanten Gesellschaftssitz ohne Liquidation in die Niederlande verlegen, in denen die Besteuerung erst auf den Wertzuwachs nach Sitzverlegung erfolgt wäre, und beantragte die nach britischem Recht dazu erforderliche Zustimmung der Steuerbehörde. Diese blieb aus. Daher klagte Daily Mail auf Feststellung, dass die Niederlassungsfreiheit des EG-Vertrages sie berechtige, den Sitz ihrer Geschäftsleitung ohne Genehmigung in die Niederlande zu verlegen. b) Entscheidung und Kritik Der EuGH verneinte dieses Recht. Er stellte darauf ab, dass eine Gesellschaft jenseits der nationalen Rechtsordnung, die ihre Gründung und Existenz regele, keine Realität habe41. Hinsichtlich der erforderlichen Verknüpfung der Gründung einer Gesellschaft mit dem nationalen Gebiet und deren nachträglichen Änderung bestünden aber erhebliche Unterschiede im Recht der Mitgliedstaaten42. Diese Unterschiede verursachten für die Sitzverlegung Probleme. Der (seinerzeit maßgebliche) Art. 220 EWGV zeige, dass der Vertrag diese nicht schon durch die Bestimmungen über die Niederlassungsfreiheit als gelöst betrachte43. Daraus folgerte das Urteil, dass die transnationale Sitzverlegung unter Beibehaltung der Rechtsform nur mittels Rechtsetzung oder eines gesonderten Abkommens gewährleistet werden könne, nicht aber nach (dem seinerzeitigen) Artt. 52, 58 EWGV (heute Artt. 49, 54 AEUV)44.
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EuGH, a. a. O. (Fn. 10). Ebda., Tz. 19. Ebda., Tz. 20. Ebda., Tz. 23. Ebda., Tz. 23.
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Diese Begründung erntete zu Recht Kritik45. Denn erstens ist am Realitätsaxiom zwar richtig, dass eine Gesellschaft das Geschöpf einer Rechtsordnung ist. Indes besagt dies noch nicht, dass die Anknüfungskriterien der Beurteilung anhand der Vorschriften über die Niederlassungsfreiheit per se entzogen sein müssen. Und zweitens überzeugt auch nicht der Gedanke, die Möglichkeit eines Abkommens blockiere die unmittelbare Anwendbarkeit der Vorschriften, die die Niederlassungsfreiheit primärrechtlich gewährleisten. Überzeugender war es, im seinerzeitigen Art. 220 EWGV die Wegweisung für eine Erleichterung zu sehen, nicht aber eine pauschale Sperre, Sitzverlegungsfragen mittels der Niederlassungsfreiheit zu beurteilen. 2. Liberalisierung des Zuzugs und der Hereinverschmelzung Erst zehn Jahre nach diesem ersten Zugriff der Rechtsprechung kam wieder judikative Bewegung in den Fragenbereich der transnationalen Sitzverlegung von Gesellschaften mit einer niederlassungsrechtlich begründeten Liberalisierung des Zuzugs und der Hereinverschmelzung von Gesellschaften. a) Gemeinsamkeiten der Sachverhalte Die diesen Entscheidungen zugrunde liegenden Sachverhalte sind bekannt. In „Centros“ verweigerten die dänischen Behörden einer in England eingetragenen Gesellschaft die Eintragung einer Zweigniederlassung in Dänemark46. In „Überseering“ verneinten zwei deutsche Gerichte die Rechts- und Parteifähigkeit einer als aus den Niederlanden zugezogen beurteilten Gesellschaft47. In „Inspire Art“ verpfl ichtete ein niederländisches Gesetz Auslandsgesellschaften, spezielle Regelungen im Interesse des inländischen Verkehrsschutzes einzuhalten48. In „Sevic“ wies ein deutsches Registergericht die Eintragung 45 Kritisch z. B. Peter Behrens, Die grenzüberschreitende Sitzverlegung von Gesellschaften in der EWG, IPrax 1989, 354, 361; Otto Sandrock/Andreas Austmann, Das Internationale Gesellschaftsrecht nach der Daily Mail-Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs: Quo vadis?, RIW 1989, 249 ff.; Jan Wouters, in Maastricht Journal of European and Comparative Law 1994, 179. 46 EuGH, a. a. O. (Fn. 13); zur Entscheidung vgl. z. B. Peter Behrens, das Internationale Gesellschaftsrecht nach dem Centros-Urteil des EuGH, IPrax 1999, 232; Ulrich Forsthoff, Niederlassungsrecht für Gesellschaften nach dem Centros-Urteil des EuGH: Eine Bilanz, EuR 2000, 167 ff. 47 EuGH, a. a. O. (Fn. 14); zur Entscheidung vgl. z. B. Peter Behrens, Das internationale Gesellschaftsrecht nach dem Überseering-Urteil des EuGH und den Schlussanträgen zu Inspire Art, IPrax 2003, 193 ff.; Horst Eidenmüller, Wettbewerb der Gesellschaftsrechte in Europa, ZIP 2002, 2233 ff.; Harald Halbhuber, Das Ende der Sitztheorie als Kompetenztheorie – Das Urteil des Europäischen Gerichtshofs in der Rechtssache C-209/00 (Überseering), ZEuP 2003, 418 ff. 48 EuGH, a. a. O. (Fn. 15); zur Entscheidung vgl. z. B. Peter Behrens, Gemeinschaftsrechtliche Grenzen der Anwendung inländischen Gesellschaftsrechts auf Auslandsgesellschaften nach Inspire Art, IPrax 2004, 20 ff.; Christoph Binge/Ulrich Thölke, „Everything goes!“? – Das deutsche Internationale Gesellschaftsrecht nach „Inspire Art“, DNotZ 2004, 21 ff.; Horst Eidenmüller, Mobilität und Restrukturierung von Unternehmen im Binnenmarkt, JZ 2004, 24 ff.; Stefan Leible, Wie inspiriert ist „Inspire Art“?, EuZW 2003, 677 ff.; Christoph Wetzler, Nationales Gesellschaftsrecht im Wettbewerb, GPR 2003/2004, 84 ff.
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der Verschmelzung einer in Luxemburg ansässigen Aktiengesellschaft auf eine deutsche Aktiengesellschaft zurück49. Die Sachverhalte hatten ihr gemeinsames Muster darin, dass es um behindernde Regeln des Zuzugsstaates bzw. des Verschmelzungsstaates ging. Zweitens stand in keinem der drei ersten Fälle der Existenzverlust der Gesellschaft nach dem Recht des Gründungsstaats zur Debatte. Anders gesagt: in jedem dieser Fälle wurde von der Zulässigkeit einer formwahrenden Sitzverlegung oder (bei „Centros“) der Zweigniederlassung ausgegangen. Und drittens ging es in allen drei ersten Fällen um die Verlagerung des Verwaltungssitzes oder die Errichtung einer Zweigniederlassung, nicht aber um die Verlegung des Satzungssitzes. b) Gemeinsamkeiten im Entscheidungsmuster In allen vier Fällen folgte die Entscheidung auch demselben gemeinschaftsrechtlichen Muster im Einklang mit der allgemeinen Dogmatik der Marktgrundfreiheiten des EG-Vertrages50, ohne dies hier im einzelnen vertiefen zu müssen51. Der EuGH sah erstens in den Regeln des Zuzugs- bzw. des Verschmelzungsstaats eine tatbestandliche Beschränkung der Niederlassungsfreiheit (jeweils überzeugend); und er sah zweitens in keinem der Fälle eine Rechtfertigung aus zwingenden Gründen des nationalen Allgemeininteresses (jeweils gut vertretbar oder einleuchtend). 3. Die Liberalisierung des Wegzugs Die jüngste Etappe der Rechtsprechung ist das „Cartesio“-Urteil52, das sich erstmals nach „Daily Mail“ wieder mit der Frage der niederlassungsrechtlichen Wegzugsfreiheit befasst.
49 EuGH, a. a. O. (Fn. 16); zur Entscheidung z. B. Walter Bayer/Jessica Schmidt, Der Schutz der grenzüberschreitenden Verschmelzung durch die Niederlassungsfreiheit, ZIP 2006, 210 ff.; Hartwin Bungert, Grenzüberschreitende Verschmelzungsmobilität – Anmerkung zur Sevic-Entscheidung des EuGH, BB 2006, 53 ff.; Eva-Maria Kieninger, Grenzüberschreitende Verschmelzungen in der EU – das SEVIC-Urteil des EuGH, EWS 2006, 49 ff.; Roland Schmidtbleicher, Verwaltungssitzverlegung deutscher Kapitalgesellschaften in Europa: „Sevic“ als Leitlinie für „Cartesio“, BB 2007, 613 ff.; Christoph Teichmann, Binnenmarktmobilität von Gesellschaften nach „Sevic“, ZIP 2006, 355 ff. 50 Zu dieser Dogmatik vgl. z. B. Peter-Christian Müller-Graff, Die Verdichtung des Binnenmarktrechts zwischen Handlungsfreiheiten und Sozialgestaltung, in EuR Beiheft 1/2002, 7, 36 ff. 51 Vgl. dazu neben den bereits bei der jeweiligen Entscheidung Genannten übersichtlich zu den ersten drei Entscheidungen die zusammenfassenden Analysen von Christoph Teichmann, Binnenmarktkonformes Gesellschaftsrecht, 2006, S. 86 ff., 89 ff., 95 ff. sowie zur „Sevic“-Entscheidung Teichmann, Binnenmarktmobilität von Gesellschaften nach „Sevic“, ZIP 2006, 355 ff.; jeweils m. w. N. 52 A. a. O. (Fn. 11); zur Entscheidung z. B. Walter Bayer/Jessica Schmidt, a. a. O. (Fn. 20); Philipp Bollacher, Keine Verletzung der Niederlassungsfreiheit durch nationale Beschränkungen des Wegzugs von Gesellschaften, RIW 2009, 150 ff.; Maria Brakalova/Daniel Barth, Nationale Beschränkungen des Wegzugs von Gesellschaften innerhalb der EU bleiben zulässig, DB 2009, 213 ff.; José A. Campos, Das Ende der gegenwärtigen Wegzugsbesteuerung – Der zweite Blick auf Cartesio, BB 2009, 870 ff.;
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Transnationale Sitzverlegung von Kapitalgesellschaften
a) Der „Cartesio“-Sachverhalt Der „Cartesio“-Sachverhalt hat mit demjenigen in „Daily Mail“ gemeinsam, dass es wiederum um die transnationale Verlegung des Verwaltungssitzes einer Gesellschaft ging. Er unterscheidet sich aber dadurch, dass es diesmal nicht nur um Konditionen der Sitzverlegung ging, sondern um die Grundsatzfrage der Existenzerhaltung bei Wegzug. Im „Daily Mail“-Sachverhalt verweigerte die britische Steuerbehörde die Genehmigung, schlug aber zur Ermöglichung den Verkauf eines wesentlichen Teils des Aktienbesitzes vor. Demgegenüber verlegte im „Cartesio“-Sachverhalt die Gesellschaft „Cartesio“ ihren Verwaltungssitz nach Italien und beantragte in Ungarn die entsprechende Eintragung. Dies wurde abgelehnt, da nach ungarischem Recht der Ort der Hauptverwaltung für das auf die Gesellschaft anwendbare Recht maßgeblich ist. Dies hat mehrere Konsequenzen. Erstens: Wenn die Hauptverwaltung in ein anderes Land verlegt wird, verliert eine Gesellschaft ungarischen Rechts diese Eigenschaft. Zweitens: Die Gesellschaft kann sich nach ungarischem Recht auch nicht in eine Gesellschaft des Zuzugstaats umwandeln, sondern muss sich auflösen. Drittens: den Gesellschaftern steht eine Neugründung nach den Regeln des Zuzugstaates frei. Dies ist eine klare Regelung. Indes stellte sich die Frage, ob sie mit der Niederlassungsfreiheit vereinbar ist. b) Die zwei Dimensionen der Entscheidung des EuGH Zur Beantwortung dieser Frage knüpft der EuGH am Realitätsaxiom (oder Existenzkriterium) in der „Daily Mail“-Entscheidung an, wonach eine Gesellschaft keine Realität jenseits der Rechtsordnung habe, die ihre Gründung und Exstenz regele53. Ob für die dazu erforderliche Verknüpfung der Satzungssitz genüge oder es auch auf den Verwaltungssitz ankomme, wird vom EuGH unter Verweis auf die alternativen Anknüpfungselemente in Art. 48 EGV (jetzt: Art. 54 AEUV) und mangels gemeinschaftsrechtlicher Rechtsetzung oder gesonderter Vereinbarung zwischen den Mitgliedstaaten erneut dem nationalen Recht vorbehalten54. Ralf Frenzel, Immer noch keine Wegzugsfreiheit für Gesellschaften im Europäischen Binnenmarkt – die Cartesio-Entscheidung des EuGH, EWS 2009, 158 ff.; Peter Kindler, Ende der Diskussion über die so genannte Wegzugsfreiheit, NZG 2009, 130 ff.; Jan Knop, Die Wegzugsfreiheit nach dem Carstesio-Urteil des EuGH, DZWiR 2009, 147 ff.; Stefan Leible/Jochen Hoffmann, Cartesio – fortgeltende Sitztheorie, grenzüberschreitender Formwechsel und Verbot materiellrechtlicher Wegzugsbeschränkungen, BB 2009, 58 ff.; Walter G. Paefgen, „Cartesio“: Niederlassungsfreiheit minderer Güte, WM 2009, 529 ff.; Martin Schmidt-Kessel, Niederlassungsfreiheit gestattet Wegzugsbeschränkungen, GPR 2009, 26 ff.; Rolf Sethe/Katharina Winzer, Der Umzug von Gesellschaften in Europa nach dem Cartesio-Urteil, WM 2009, 536 ff.; Christoph Teichmann, Cartesio: Die Freiheit zum formwechselnden Wegzug, ZIP 2009, 393 ff.; Daniel Zimmer/Christoph Naendrup, Das Cartesio-Urteil des EuGH: Rück- oder Fortschritt für das internationale Gesellschaftsrecht?, NJW 2009, 545 ff.; als Analyse der Schlussanträge von GA Maduro siehe Zoltán Nemessányi, Cartesio ergo sum, ZfRV 2008, 264 ff.; zum Vorabentscheidungsantrag Béla Knof/Sebastian Mock, Identitätswahrender Umzug deutscher Kapitalgesellschaften in Europa: zugleich Anmerkungen zum Vorabentscheidungsersuchen des ungarischen Regionalgerichts Szeged vom 5.5.2006 und zu OLG München, Beschluss vom 4.10.2007, GPR 2008, 134 ff. 53 EuGH (Fn. 11), Tz. 104. 54 EuGH (Fn. 11), Tz. 108–109.
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Damit belässt er aber folgerichtig auch die Frage in der Autonomie des nationalen Rechts, ob eine Gesellschaft ihren Sitz in einen anderen Mitgliedstaat unter Beibehaltung ihrer Gesellschaftsform verlegen kann. Daraus folgert der EuGH, dass die Niederlassungsfreiheit keinen Schutz gegen den Verlust der Rechtsform auf Grund von Regeln der Gründungsordnung bietet. Auch in dieser, noch vor der Vertragsreform von Lissabon ergangenen Entscheidung verweist er auf den Weg eines Abkommens nach Art. 293 EGV55. Indes bleibt der EuGH in der „Cartesio“-Entscheidung nicht bei dieser Aussage stehen. Er differenziert56. Er trennt das Verbot der Mitnahme der Gesellschaftsform vom Gebot der Auflösung und Liquidation. Damit öffnet er mit der Niederlassungsfreiheit dem Wegzug von Gesellschaften einen Freiheitsspalt. Er entnimmt dem Art. 43 EGV das Recht zur Sitzverlegung unter Änderung des maßgeblichen Gesellschaftsrechts. Das Urteil artikuliert also das Recht zur Umwandlung in eine Gesellschaftsform, die dem nationalen Recht des Aufnahmestaats unterliegt, vorausgesetzt, die Gesellschaft erfüllt die Anknüpfung des Zuzugsstaates. Dies bedeutet, dass im Verständnis der Niederlassungsfreiheit durch den EuGH ein Staat der wegziehenden Gesellschaft zwar die Anwendbarkeit des eigenen Gesellschaftsrechts verweigern, sie aber nicht auch zur Auflösung zwingen darf57. c) Zusammenfassung Im Ergebnis enthält das „Cartesio“-Urteil für die niederlassungsrechtliche Beurteilung zum einen eine Unterscheidung zwischen der (niederlassungsrechtlich nicht gewährleisteten) formwahrenden Sitzverlegung und der (niederlassungsrechtlich unter bestimmten Voraussetzungen ermöglichten) formwechselnden Sitzverlegung. Es enthält hingegen zum anderen keine Unterscheidung zwischen Verwaltungssitz und Satzungssitz58.
III. Die unionsrechtlichen Perspektiven der transnationalen Sitzverlegung nach „Cartesio“ Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage nach den Perspektiven für die grenzüberschreitende Sitzverlegung von Kapitalgesellschaften nach „Cartesio“ und dem Inkrafttreten des Reformvertrages von Lissabon. Hierfür sind drei Eckpunkte maßgeblich: die Konsequenzen aus dem Stand der Rechtsprechung, deren Überzeugungskraft im Licht der Dogmatik der binnenmarktrechtlichen Grundfreiheiten und die Rolle des Sekundärrechts. 1. Konsequenzen aus dem Stand der Rechtsprechung Aus dem Stand der Rechtsprechung ergeben sich mehrere Konsequenzen.
55 56 57 58
EuGH (Fn. 11), Tz. 114. EuGH (Fn. 11), Tz. 111 ff. Christoph Teichmann (Fn. 52), 393, 394. Ebda.
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a) Die Liberalisierungskonsequenz Erstens ist bereits deutlich geworden, dass die „Cartesio“-Entscheidung keineswegs bei „Daily Mail“ stehen bleibt. Zwar wiederholt das „Cartesio“-Urteil den plausiblen Gedanken, dass eine Gesellschaft ein Geschöpf einer einzelnen Rechtsordnung ist und folgert daraus, dass eine Sitzverlegung unter Beibehaltung der nationalen Rechtsform nicht allein aus Gemeinschaftrecht gewährleistet ist. Jedoch darf einer wegziehenden Gesellschaft ein identitätswahrender Wechsel in eine Rechtsform des Aufnahmestaats vom Wegzugsstaat nicht versperrt werden. Dies bedeutet: Wäre „Daily Mail“ seinerzeit in eine niederländische Gesellschaftsform gewechselt, hätte das englische Recht, unbeschadet zwingender Erfordernisse des britischen Steuersystems, jedenfalls nicht Auflösung und Liquidation vorschreiben dürfen. b) Die Liberalisierungstragweite Zweitens lassen sich dem Stand der Rechtsprechung, wie er sich aus der „Cartesio“-Entscheidung ergibt, mehrere allgemeine Folgerungen zur Tragweite des Art. 49 AEUV entnehmen. Sie enthält, wie schon erwähnt, weder im Sachverhalt noch in der Begründung Anhaltspunkte, um zwischen der Verlegung von Satzungssitz und Verwaltungssitz zu unterscheiden59, betrifft allerdings im konreten Fall die Verlegung des Verwaltungssitzes60. Ebensowenig lassen sich dem Urteil Ansatzpunkte für eine Unterscheidung zwischen Personen- und Kapitalgesellschaften entnehmen, wiewohl es im konkreten Fall allein um eine Kommanditgesellschaft ging. Erkennbar ist aber eine geringere niederlassungsrechtliche Prüfungstiefe von Wegzugsregeln. c) Konsequenzen für das mitgliedstaatliche, insbesondere deutsche Recht Drittens lassen sich unter dem Gesichtspunkt der unionsrechtlichen Systemstimmigkeit aus dem Stand der Rechtsprechung für die transnationale Sitzverlegung grundsätzliche Konsequenzen für das mitgliedstaatliche und speziell für das deutsche Recht auch für die Kapitalgesellschaften ziehen. Während ein Wegzug des Verwaltungssitzes von GmbH oder AG seit der (insoweit im Kern gründungstheoretisch unterlegten61) Reform des Sitzrechts durch das MoMiG62 im Interesse deren globaler Mobilität jedenfalls auf Seiten des deutschen Rechts (unbeschadet möglicher zulässiger Beschränkungen des
59 So auch ausdrücklich Walter Bayer/Jessica Schmidt (Fn. 20), 756. 60 Zum sprachlichen Missverständnis der ungenauen englischen Übersetzung des ungarischen Wortes székhely, das Satzungs- und Verwaltungssitz umfasste, Walter Bayer/Jessica Schmidt (Fn. 20), 755 f. 61 Zutreffend Walter Bayer/Jessica Schmidt (Fn. 20), 749 ff. 62 Gesetz zur Modernisierung des GmbH-Rechts und zur Bekämpfung von Missbräuchen (MoMiG) v. 23.10.2008, BGBl. I, 2026.
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Zuzugsstaats63) anders als nach ungarischem KG-Recht unproblematisch ist64, lässt sich für nationale Gesellschaftsformen eine Rechtsprechung und Lehre nicht mehr aufrechterhalten, die den Beschluss über die Verlegung des Satzungssitzes als Auflösungsbeschluss65 oder als nichtigen Beschluss66 ansieht67 (für europäische Gesellschaftsformen besteht die Möglichkeit der Satzungssitzverlegung bereits kraft positivierten Europarechts innerhalb der EU und des EWR68). Dies gilt jedenfalls, wenn zwei Bedingungen erfüllt sind: die vom Zuzugsstaat vorgesehene Zulässigkeit des Wechsels in eine Rechtsform des Zuzugsstaats und das Fehlen zwingender Allgemeininteressen des Wegzustaats. In beiderlei Hinsicht können hier allerdings Schwierigkeiten enstehen, die neue rechtliche Fragenfelder für das nationale Kollisionsrecht und materielle Recht im Licht des Unionsrechts eröffnen. Sie sind jüngst systematisch feingliedrig namentlich von Christoph Teichmann69 und von Walter Bayer und Jessica Schmidt70 aufgefächert worden und hier nicht zu erörtern.
63 Insoweit kommt es auf dessen Internationales Gesellschaftsrecht an, das im Falle eines Mitgliedstaats der EU oder des EWR mit der Niederlassungsfreiheit vereinbar sein muss. 64 § 5 AktG, § 4a GmbHG erfordern zur Gründung nur die Belegenheit des Satzungssitzes im Inland: Sitz der Gesellschaft ist der Ort im Inland, den die Satzung/der Gesellschaftsvertrag bestimmt. Dies ermöglicht die Nutzung dieser Gesellschaftsformen durch Unternehmen mit Verwaltung im Ausland; zu dieser Intention der Reform Walter Bayer/Jessica Bayer (Fn. 20), 751; Walter G. Paefgen (Fn. 52), 529; Daniel Zimmer/Christoph Naendrup (Fn. 52), 548. 65 So z. B. OLG Düsseldorf, NZG 2001, 506; OLG Hamm, NZG 2001, 563. 66 So z. B. Uwe Hüffer, Aktiengesetz, 9. Aufl. 2010, § 5 AktG Rz. 5. 67 So zu Recht Christoph Teichmann (Fn. 52), 402; Walter Bayer/Jessica Schmidt (Fn. 20), 762; Caspar Behme/Nicolas Nohlen, „Entscheidung überraschend für die Praxis“, BB 2009, 14; Ralf Frenzel (Fn. 52), 163 f.; Stefan Leible/Jochen Hoffmann (Fn. 52), 62; Walter G. Paefgen (Fn. 52), 529; Daniel Zimmer/Christoph Naendrup (Fn. 52), 548. 68 Zu diesem Recht der Satzungssitzverlegung vgl. Art. 13 EWIV-VO, 8 SE-VO, Art. 7 SCE-VO; projektiert auch vom Vorschlag einer SPE (Art. 35 SPE-VO). 69 Vgl. dazu die fi lgranen Überlegungen von Christoph Teichmann (Fn. 52), 402 f., der (1.) zum einen in einem Zuzugsstaat der EU, der den identitätswahrenden Wechsel in eine seiner Rechtsformen nicht ausdrücklich vorsieht, einen solchen in Folgerung der „Sevic“-Entscheidung eröffnet, wenn die zuziehende Gesellschaft bereit ist, die inländischen Gründungsvoraussetzungen zu erfüllen (ebenso u. a. Walter Bayer/ Jessica Schmidt (Fn. 20), 759 f. m. w. N.), und (2.) zum anderen dem Wegzugsstaat die Sicherung zwingender Interessen des Gläubiger-, Minderheiten- und Arbeitnehmerschutzes (auch der Mitbestimmung) durch grobschlächtige Maßnahmen verweigert (das ist stimmig zur allgemeinen Dogmatik und Rechtsprechung der Marktgrundfreiheiten; ähnlich Walter Bayer/Jessica Schmidt (Fn. 20), 757). Er erkennt damit im deutschen Recht (folgerichtig) eine Lücke und schlägt vor, diese aus dem System des innerstaatlichen und europäischen Gesellschaftsrechts zu schließen: zum Schutz der Gesellschafter das Erfordernis des Gesellschafterbeschlusses mit Dreiviertelmehrheit bei Sitzverlegung (in Analogie zu Art. 37 Abs. 7 SE-VO; § 122a i. V. m. § 50 bzw. 65 UmwG) und ein Austrittsrecht der überstimmten Gesellschafter gegen Barabfi ndung (in Analogie zu § 12 SEAG, § 122j UmwG); zum Schutz der Gläubiger ein Recht auf Sicherheitsleistung bei glaubhaft gemachter Gefährdung (§ 13 SEAG; § 122j UmwG) und die Bescheinung der ordnungsgemäßen Sitzverlegung durch das zuständige Handelsregister (Analogie zu § 122k Abs. 2 UmwG); zum Schutz der Mitbestimmung das Verhandlungsverfahren (Analogie zur SE-Richtlinie und zum SE-Beteiligungsgesetz); ähnlich Walter Bayer/Jessica Schmidt (Fn. 20), 757 ff. 70 A. a. O. (Fn. 20), 752 ff.
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2. „Cartesio“ als Endstation oder Etappenstation für Beschränkungen im Licht der Dogmatik der binnenmarktlichen Grundfreiheiten? Die Frage drängt sich auf, ob mit „Cartesio“ die Endstation der primärrechtlichen Aussagen zu Wegzugsbeschränkungen gesetzt ist. Dies ist im Licht der Dogmatik der binnenmarktlichen Grundfreiheiten jedoch zweifelhaft71. Hier bestehen Bedenken. Das Urteil schwenkt nicht auf die Linie ein, die dafür plädiert, der Niederlassungsfreiheit auch das Recht zur formwahrenden Verlegung von Verwaltungssitz und/oder Satzungssitz gegen nationales Recht zu gewähren72. Dafür gibt es jedoch mehrere Gesichtspunkte. Erstens hilft „Cartesio“ nur in Fällen des formwechselnden Wegzugs, der aber schon dann ausscheidet, wenn ein Zuzugsstaat einen formwechselnden Zuzug nicht kennt73 und diese Lage auch nicht unter Aktivierung der „Sevic“-Rechtsprechung kompensiert werden kann74. Umgekehrt bedeutet aber der Entzug der Gesellschaftsform durch den Gründungsstaat bei Sitzverlegung, sei es der Verwaltungssitz oder der Satzungssitz („Todesstrafe“ für das nationale Rechtsgeschöpf75), entgegen des Einwands fehlender niederlassungsrechtlicher Mobilitätsrelevanz eines Umwandlungserfordernisses mit Statutenwechsel76 zweifelsohne eine – den Wechsel in einen anderen Mitgliedstaat unattraktiv gestaltenden – Beschränkung der grenzüberschreitenden Handlungsfreiheit77. Zweitens überzeugt es daher im Licht der Dogmatik der Grundfreiheiten nicht, die Frage des Entzugs der Gesellschaftsform von vornherein – gewissermaßen als unionsrechtsfreie Vorfrage – aus der Beurteilung nach der Niederlassungsfreiheit auszuklammern und damit auch die Frage der Rechtfertigbarkeit dieser Regel zu umgehen. Art. 293 EGV war kein stichhaltiges Argument und ist nach der Lissabonner Reform ohnehin nicht mehr verfügbar. Drittens liegt in einem derartigen Vorgehen methodisch auch eine Diskrepanz zur unionsrechtlich angezeigten Behandlung des Wegzugs natürlicher Personen. Nicht zentral ist hierfür zwar der nur eine Modalität des Wegzugs betreffende Fall einer Wegzugsbesteuerung, die gegen die Niederlassungsfreiheit verstößt78. 71 Dies lassen auch die im Verfahren „Cartesio“ weiter gehenden Schlussanträge von GA Maduro erkennen; vgl. ZIP 2006, 1067. 72 So z. B. Horst Eidenmüller (Fn. 48), 32. 73 Christoph Teichmann (Fn. 52), 403. 74 Vgl. zu den Voraussetzungen (und Grenzen) einer derartigen Kompensation aus den Überlegungen der „Sevic“-Entscheidung Christoph Teichmann oben Fn. 69. 75 Vgl. Schlussanträge von GA Maduro in der Rechtssache „Cartesio“, ZIP 2006, 1967 Tz. 31. 76 So z. B. Wolfgang Däubler/Johannes Heuschmid, Cartesio und MoMiG – Sitzverlagerung ins Ausland und Unternehmensbestimmung, NZG 2009, 493, 494. 77 So auch EuGH (Fn. 11) Tz. 111, 113; vgl. schon Christoph Teichmann (Fn. 48), 357, 362; Martin-Schmid-Kessel (Fn. 52), 29; Walter Bayer/Jessica Schmidt (Fn. 11), 753 ff., 756, die für den Beschränkungstatbestand der Niederlassungsfreiheit zu Recht genügen lassen, dass mit der Verlegung zugleich ein Wechsel des anwendbaren Rechts einhergeht; a. A. Wolfgang Däubler/Johannes Heuschmid (Fn. 76), 494; zurückhaltend auch Peter Kindler, Internationales Gesellschaftsrecht 2009: MoMiG, Trabrennbahn, Cartesio und die Folgen, IPrax 2009, 189, 192 f. 78 EuGH, Slg. 2004, I-2409 (de Lasteyrie du Saillant); dazu Jens Kleinert, Erneute klare Absage an Wegzugsbeschränkungen durch EuGH und Kommission, NJW 2004, 2425.
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Würde ein Mitgliedstaat aber die Niederlassung in einem anderen Mitgliedstaat mit dem Verlust der Staatsangehörigkeit belegen, müsste eine derartige Regel im Recht der Niederlassungsfreiheit überprüft werden79. Tatsächlich orakelt die „Cartesio“-Entscheidung, Regeln der Gründung und Auflösung von Gesellschaften seien dem Gemeinschaftsrecht nicht entzogen80. Viertens ist es stimmig, nicht nur Regeln der Auflösung und Liquidation der Niederlassungsfreiheit zu unterstellen, sondern auch den Verlust der Rechtsform. Denn auch in den Anknüpfungsregeln für den Fortbestand einer Gesellschaft in ihrer spezifischen Rechtsform sind Unterschiede möglich, die stärker oder geringer belastend wirken und damit im Licht der Dogmatik der Grundfreiheiten eine Rechtfertigung aus zwingenden Allgemeininteressen sowie eine Verhältnismäßigkeitsprüfung geradezu herausfordern: so etwa, wenn ein Mitgliedstaat als Anknüpfung an seine Rechtsordnung sowohl den Satzungssitz als auch den Sitz der Hauptverwaltung im Inland verlangt81. Hier stellt sich in einer Rechtfertigungsprüfung nicht nur die Frage nach dem verfolgten Schutzzweck, sondern auch die Frage der Erforderlichkeit (für welchen genauen Zweck?) im Vergleich zu weniger einschneidenden Anforderungen wie namentlich dem alleinigen Erfordernis des Satzungssitzes. Fünftens sind selbst bei der Gründung einer Gesellschaft nationale Regeln keineswegs gänzlich immun gegenüber einer Überprüfung anhand der Niederlassungsfreiheit82. So widerspräche dem Art. 49 AEUV ein mitgliedstaatliches Erfordernis, dass sich unter den Gründern einer Gesellschaft mindestens ein Inländer befi nden muss83. Gleiches lässt sich aber auch für ein Erfordernis annehmen, dass die Hauptverwaltung im Inland liegt. Eine derartige operative Beschränkung ist nur einleuchtend und rechtfertigbar, wenn dafür ein überzeugender zwingender Grund benennbar ist84. Dieser Frage hat sich der EuGH in „Cartesio“ nicht gestellt, sondern sich mit dem Hinweis auf die Gleichwertigkeit der drei Anknüpfungsmerkmale einer Gesellschaft in Art. 48 EGV (Satzungssitz, Hauptverwaltungssitz, Hauptniederlassungssitz) begnügt, die allerdings eine ganz andere Frage regeln, nämlich diejenige des erforderlichen Gemeinschaftsbezugs für die Anwendbarkeit der Niederlassungsfreiheit85. Schließlich besteht kein Grund, das Erfordernis der Anknüpfung an die Regeln eines Staates bei der Gründung pauschal auch für Fragen des Fortbestands bei Sitzverlegung für maßgeblich zu erachten86. Denn zwar ist eine Gründung und Existenz nicht ohne Rückbindung an eine nationale Rechtsordnung möglich. 79 Vgl. Peter-Christian Müller-Graff, Niederlassungsfreiheit, in Rudolf Streinz (Hrsg.), EUV/EGV. Kommentar, 2003, Art. 48 Rz. 19. 80 EuGH (Fn. 11), Tz. 112. 81 Ebenso Christoph Teichmann (Fn. 52), 398, 400. 82 Vgl. EuGH (Fn. 10), Tz. 112: „keinesfalls irgendeine Immunität des nationalen Rechts über die Gründung und Auflösung von Gesellschaften im Hinblick auf die Vorschriften des EG-Vertrags über die Niederlassungsfreiheit“. 83 Zutreffend Christoph Teichmann (Fn. 52), 399. 84 Ebda., 399 f. 85 Treffend ebda., 400. 86 Ähnlich Albrecht Randelzhofer/Ulrich Forsthoff, in Eberhard Grabitz/Meinhard Hilf (Hrsg.), das Recht der Europäischen Union, Art. 48 Rz. 12; Christoph Teichmann (Fn. 52), 400.
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Indes steht diese Frage nicht zur Debatte, wenn es um den Fortbestand einer Gesellschaft allein bei Wegzug geht. Erneut zu überdenken ist hierbei allerdings das Problem der dadurch möglichen Rechtswahlfreiheit (im Spektrum der mitgliedstaatlichen Gesellschaftsformen), die sich aus Sicht der grundfreiheitlichen Dogmatik im Spannungsfeld von Freiheit und beschränkenden zwingenden Allgemeininteressen bewegt87. Im Licht der inneren Systemrationalität der Niederlassungsfreiheit ist es daher auch keineswegs gewiss, dass mit „Cartesio“ bereits das letzte judikative Wort zu Wegzugsbeschränkungen gesprochen ist. 3. Rolle des Sekundärrechts Allerdings ist offensichtlich, dass die Beseitigung von Wegzugsbeschränkungen durch die Rechtsprechung auf der Grundlage der Artt. 49, 54 AEUV nur mühsam mittels zahlreicher Vorlageverfahren und bestenfalls schrittweise, wenn überhaupt, möglich ist88. Deshalb kann hier das Sekundärrecht eine hilfreiche Rolle spielen89, um die Barrieren zu überwinden, die auch nach „Cartesio“ bestehen. Zwar ist für rechtspolitische Maßnahmen alternativ immer noch eine Vereinbarung zwischen allen Mitgliedstaaten denkbar, falls Art. 50 Abs. 2 lit. g AEUV in der kompetentiellen Grauzone zwischen Art. 3 Abs. 1 lit. b AEUV und Art. 4 Abs. 2 lit. a AEUV nicht der ausschließlichen Zuständigkeit zugeordnet wird oder die noch zu lösenden Fragen Art. 4 Abs. 2 lit. j AEUV i. V. m. Art. 81 Abs. 2 lit. c AEUV und damit der geteilten Zuständigkeit zugewiesen werden. Jedoch ist der Weg eines derartigen Abkommens mehr als ein halbes Jahrhundert nicht beschritten worden, wirkt beim heutigen Stand der europäischen Rechtsgemeinschaft überholt und fi ndet nach der Lissabonner Vertragsreform in den Allgemeinen und Schlussbestimmungen auch keine ausdrückliche Erwähnung mehr. Mit dem Erlass eines Sekundärrechtsakts, von dessen Vorarbeiten in Gestalt der 14. Richtlinie (Sitzverlegung) die Kommission indes (gegen das Votum zahlreicher Autoren) (zunächst?) Abstand genommen hat, ließe sich über den derzeitigen Stand der Rechtsprechung zum Primärrecht hinaus gehend zum einen die formwechselnde Sitzverlegung gewährleisten, soweit Zuzugstaaten diese derzeit nicht vorsehen und auch nicht im Licht der „Sevic“-Entscheidung gewähren müssen. Zugleich könnte der Sekundärrechtsakt eine formwahrende Sitzverlegung eröffnen, die derjenigen der europäischen Gesellschaftsformen gleichkäme. Noch vor einem Sekundärrechtsakt könnte der deutsche Gesetzge87 Kontrovers wird hier bekanntlich bereits die Frage eines anerkennungswerten Interesses gesehen, den Satzungssitz unter Beibehaltung des bisherigen Statuts grenzüberschreitend verlegen zu können; dafür z. B. Horst Eidenmüller (Fn. 48), 32; dagegen z. B. Stefan Leible, Niederlassungsfreiheit und Sitzverlegungsrichtlinie, ZGR 2004, 531, 553 f. 88 Dieses Problem benennt auch Christoph Teichmann (Fn. 52), 404. 89 Zu dem sekundärrechtlichen Aufgabentableau vgl. schon Stefan Leible (Fn. 87), 557 f.; s. auch Uwe Grohmann/Nancy Gruschinske, Die identitätswahrende grenzüberschreitende Satzungssitzverlegung in Europa – Schein oder Realität?, GmbHR 2008, 27 ff.
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ber für den Geltungsbereich seines Rechts zur Lösung der damit verbundenen kollisionsrechtlichen Fragen durch eigene Initiative ein wegweisendes Modell schaffen90. Die endgültige Wegebnung der transnationalen Sitzverlegung durch das primäre und/oder sekundäre Binnenmarktrecht bleibt daher eine Aufgabe.
90 So zu Recht Walter Bayer/Jessica Schmidt (Fn. 20), 772 ff.; zur Formung des Gemeinschaftsrechts aus mitgliedstaatlichen Lösungsmodellen vgl. Peter-Christian MüllerGraff, Die Einwirkung nationalen Rechts auf das Europäische Gemeinschaftsrecht, in Festschrift für Horst Konzen (hrsg. von Barbara Dauner-Lieb, Peter Hommelhoff, Matthias Jacobs/Dagmar Kaiser/Christoph Weber), 2006, S. 583 ff.
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More stick than carrot – Kritische Betrachtung einiger Maßnahmen zur Verbesserung der Corporate Governance Inhaltsübersicht I. Einleitung II. Die Entwicklung der Vorstandsbezüge seit 1987 III. Die Ursachen dieser Entwicklung 1. Alte und neue Entscheidungskompetenz hinsichtlich der Vorstandsbezüge 2. Die personelle Verquickung der betrieblichen mit der unternehmerischen Mitbestimmung und deren Missbrauchspotential 3. Übertragung von Vertragsangelegenheiten des Vorstandes vom Personalausschuss auf das Plenum IV. Einzelne Corporate Governance Änderungen aus jüngerer Zeit und ihre Bewertung
1. Die cooling-off-Periode beim Übertritt vom Vorstand in den Aufsichtsrat 2. Die obligatorische Selbstbeteiligung des in Anspruch genommenen Organmitgliedes bei der D&O Versicherung 3. Verdeutlichung der Begriffe der „Angemessenheit“ und „Nachhaltigkeit“ bei der Festsetzung der Vorstandsbezüge 4. Verdeutlichung der Haftung des Aufsichtsrates bei Verstößen gegen das Angemessenheitsgebot bei der Festsetzung von Vorstandsbezügen V. Sind der Gesetzgeber und die DCGKKommission auf dem richtigen Wege?
I. Einleitung Die Ursachen der Bankenkrise sind inzwischen vielfältig untersucht und dargestellt worden1. Als eine der wesentlichen Ursachen glaubt man Struktur und Höhe der „Banker Boni“ ausgemacht zu haben 2, also derjenigen Vergütungsbestandteile, die in direkter Relation zu den fi nanziellen Erfolgen stehen, die die durch die Boni Begünstigten erzielen. Der Gesetzgeber sieht das Hauptübel dieser Boni darin, dass sie für Erfolge gezahlt wurden, denen jeweils nur eine relativ kurze Zeitspanne, also etwa ein Jahr, zugrunde lag und keinerlei Rückforderungsmöglichkeit bestand, wenn in der folgenden Abrechnungsperiode Verluste zu verzeichnen waren, die die Erfolge des Vorjahres u. U. bei Weitem übertrafen. Der Gesetzgeber tritt diesem Phänomen im Wesentlichen entgegen, indem er nunmehr bei der Gewährung von Banker Boni „Nachhaltigkeit“ verlangt, worunter er im Wesentlichen ver-
1 Vgl. Hans-Werner Sinn, Kasino Kapitalismus, 2009, S. 15 ff. 2 Vgl. die Bundestagsdebatte am 20.3.2009, Stenographischer Bericht der 212. Sitzung. Abgeordneter Poß, S. 23014; Abgeordneter Dyckmann, S. 23016 reSp; Christine Scheel, S. 23021 liSp; Alfred Hartenbach, parlamentarischer Staatssekretär, S. 23022.
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steht, dass Grundlage der Berechnung des jeweiligen Bonus nicht nur ein Jahr, sondern mehrere Jahre sein sollten3. Corporate Governance als Thema ist „in“, nicht zuletzt seit Beginn der Finanzkrise; letztlich ist die Gestaltung von Corporate Governance, mag sie auch teilweise auf „soft law“ wie den Regeln der DCGK beruhen, eine ähnliche Aufgabe wie sie der Gesetzgeber zu lösen hat: Er muss die menschliche Natur, „the human factor“ in seine Überlegungen mit einbeziehen4. Das ist aber ein Gebiet, das weder von der Jurisprudenz noch von der Betriebswirtschaft genügend durchleuchtet wird, und wozu es zusätzlich der Humanbiologie bedarf, insbesondere der Berücksichtigung dessen, wie der Mensch von der Evolution geformt wurde5. Es gibt Beispiele dafür, dass der Gesetzgeber dies (bewusst?) beachtet hat6; Beachtung heißt hier, dass er die Missbrauchsmöglichkeit erkannt und diese weitgehend zu neutralisieren versucht hat, ebenso wie er negative Wechselwirkungen mit anderen Rechtsregeln oder Rechtsinstituten zu vermeiden sucht. Hieran fehlt es häufig bei neu erdachten Regeln der Corporate Governance und dies ist das Thema dieses Beitrages.
II. Die Entwicklung der Vorstandsbezüge seit 1987 Die Vorstandsbezüge haben sich seit 1987 völlig von der Entwicklung der Bezüge der anderen Leistungsträger eines Unternehmens losgelöst und einen einsamen Höhenflug angetreten. Dies ist erstaunlich und verstörend7, weil überhaupt nicht zu erkennen ist, worin denn auf einmal die Mehrleistung des Vorstandes
3 Siehe auch § 193 Abs. 4 AktG neu. 4 Dieser Gedanke kommt im Mitbestimmungsurteil des Bundesverfassungsgerichtes vom 1.3.1979, BVerfGE 50, 290 zum Ausdruck; dort billigt das Bundesverfassungsgericht zwar (vorläufig und vorbehaltlich möglicher späterer besserer Erkenntnisse) die Überlegungen des Gesetzgebers in Bezug auf das Mitbestimmungsgesetz, weist aber ausdrücklich auf den vorläufigen Charakter dieser Billigung hin und mahnt mögliche Korrekturen an, falls sich die vorläufige Annahme, die vom Gesetzgeber gewählte Regelung sei akzeptabel, als unrichtig erweisen sollte. Das Bundesverfassungsgericht sagte, dass die Prognose des Gesetzgebers „vertretbar“ sei, „mag sie sich später auch teilweise oder gänzlich als Irrtum erweisen, so dass der Gesetzgeber zur Korrektur verpfl ichtet ist“ (a. a. O. S. 335). „Geschwächt werden die Befugnisse (der Anteilseigner) zur Kontrolle der Unternehmensleitung und zu personalpolitischen Entscheidungen“ (a. a. O. S. 349). Bei nachhaltiger Beeinträchtigung der Funktionsfähigkeit der (mitbestimmten) Unternehmen wäre der Gesetzgeber zur Korrektur verpfl ichtet (a. a. O. S. 352 unten). Siehe dazu den Fall Volkswagen. Diese Nachbesserungspfl icht ist der Gesetzgeber bedauerlicherweise nicht nachgekommen. Vgl. Peltzer in FS Karsten Schmidt, 2009, S. 1243, 1245; Peltzer in FS Eberhard Schwark, 2009, S. 707 ff. 5 Siehe dazu Felix von Cube, Fordern statt Verwöhnen, 2007, S. 25 ff. 6 Ein Beispiel hierfür ist § 114 AktG, siehe dazu unten III. 2. 7 Hellwig, Gutachter der V. Abteilung Wirtschaftsrecht beim 64. Deutschen Juristentag im September 2002 in Berlin formuliert (Thesen der Gutachter S. III Ziff. 9): „Die vielfach exzessiven Praktiken bei Aktienoptionen für Vorstandsmitglieder und ihre nicht ausreichende Transparenz haben auf das Vertrauen der Anleger besonders zerstörerisch gewirkt. Dasselbe gilt für überhöhte und nicht hinreichend transparente Vorstandsvergütungen (einschließlich Abfi ndungen) insgesamt.“
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im Verhältnis zu anderen Leistungsträgern des Unternehmens liegen sollte. Die folgende Tabelle zeigt die Entwicklung8. Jahr 1987 1997 2007
Arbeitnehmereinkommen 22.966 EUR 30.103 EUR 33.583 EUR
Steigerungsrate 1987–2007 Vorstandsvergütung: Arbeitnehmereinkommen:
546 % 46 %
Vorstandsvergütung DAX-Unternehmen 439.000 EUR 870.000 EUR 2.836.000 EUR
Quotient 1 : 19 1 : 29 1 : 84
(p. a. 27,30 %) (p. a. 2,31 %)
Die Entwicklung ist deswegen verstörend, weil sie offen, ja zynisch, eine und vielleicht die wichtigste ideelle Grundlage der freien und sozialen Marktwirtschaft preisgibt, nämlich das Prinzip der Leistungsgerechtigkeit. Es kann nicht sein, dass ein Vorstandsmitglied 1987 das 19fache eines „normalen“ Arbeitnehmers verdiente und 20 Jahre später das 84fache, und dass beides dem Ideal der Leistungsgerechtigkeit entsprechen soll. Dies ist auch nicht so, vielmehr wird das Prinzip der Leistungsgerechtigkeit unverhüllt aufgegeben. Dagegen helfen auch nicht Einwände, dass der berühmte Rennfahrer X oder der populäre Tennisstar Y ja noch viel mehr verdienten. Gewiss, aber sie sind ja auch die Spitze ihrer Sportart, wer wollte es ihnen dort gleich tun, sie sind zudem Vorbilder und die werbende Wirtschaft ist bereit, hohe Summen zu zahlen, um sich ihr Image zu Nutze machen zu dürfen. Auch der reiche Erbe, der allenfalls durch Playboy-Allüren auffällt, ist mit dem Ideal der Marktwirtschaft nicht unvereinbar. Seine Vorfahren waren eben tüchtige Leute und das – ohnehin durch die Erbschaftsteuer stark eingeschränkte – Erbrecht ist integraler Bestandteil der freien Marktwirtschaft: Die Sorge nicht nur für sich selbst und die Familie, sondern auch für die Nachkommen ist ein starkes agens für den Leistungswillen der Marktteilnehmer. Die Entwicklung, die die Vorstandsbezüge in den letzten 20 Jahren genommen hat, ist ein klares Marktversagen. Die höheren Bezüge für Manager in den USA gab es schon – in einem gänzlich anderen wirtschaftlichen und sozialen Umfeld – Jahrzehnte bevor die deutschen Vorstandsbezüge ihren einsamen Höhenflug antraten. Hat also die freie Marktwirtschaft in Bezug auf die Festlegung der Bezüge ihres eigenen Spitzenpersonals versagt? Ja, eindeutig und diesen Ursachen ist nachzugehen.
8 Entnommen einem Handout zu einem Vortrag von Baums am 3.11.2009 bei einer Vortragsveranstaltung der Polytechnischen Gesellschaft in Frankfurt. Baums seinerseits hat als Quelle angegeben: „Schwalbach, Vergütungsstudie 2008; Bundesministerium für Soziales und Arbeit. Statistisches Jahrbuch 2008; eigene Berechnung“. Die Entwicklung ist in letzter Zeit – auch in Tabellenform – oft gezeigt worden, so dass hier diese wenigen Kernzahlen genügen sollen.
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III. Die Ursachen dieser Entwicklung 1. Alte und neue Entscheidungskompetenz hinsichtlich der Vorstandsbezüge Die bisherige Entscheidungskompetenz für Vertragsangelegenheiten des Vorstandes lag regelmäßig nicht beim Plenum des Aufsichtsrates, sondern beim Personalausschuss, der sich aus drei bis vier Mitgliedern zusammensetzte, von denen ein oder zwei Arbeitnehmervertreter waren. Meist bekleideten die Arbeitnehmervertreter, soweit sie nicht Gewerkschaftsvertreter waren, auch hervorgehobene Positionen in der betrieblichen Mitbestimmung. Was lag für sie dementsprechend näher, als beide Sphären zu verknüpfen und auf Entgegenkommen des Vorstandes in Fragen der betrieblichen Mitbestimmung 9 zu reagieren, in dem Wünsche des Vorstandes auf Erhöhung von dessen Bezügen unterstützt wurden10? Meist trug der Vorstandsvorsitzende die Wünsche des Vorstandes vor, regelmäßig unterstützt durch das Gutachten einer Beratungsgesellschaft, aus dem sich ergab, dass die Bezüge des Vorstandes der X AG weit unter den Bezügen der Vorstände der internationalen Konkurrenz lagen11. Der Wunsch wurde unterstützt durch eine beschwörende Warnung, dass N. N., der eine Schlüsselposition im Vorstand einnahm, abgeworben zu werden drohte. Die Anteilseignervertreter im Personalausschuss wollten kein Risiko eingehen und schließlich war es nicht ihr Geld, und die Zustimmung fiel ihnen umso leichter, als ja auch die Arbeitnehmervertreter aus vollem Herzen einwilligten. So fiel eine Bastion nach der anderen und am Schluss war kein Halten mehr und konnten die Vorstände, nachdem die ganze Front zerbröckelt war, immer mit Erfolg auf eine andere, vergleichbare deutsche Gesellschaft hinweisen, die ihren Spitzenleuten höhere Bezüge zahlte12.
9 Vgl. dazu §§ 80 und 87 Betriebsverfassungsgesetz. 10 Das mindestens in dieser Form nicht vorausgesehene Missbrauchspotential der unternehmerischen Mitbestimmung für Zwecke der betrieblichen Mitbestimmung ist ein typisches Beispiel für die fehlende Voraussicht des Gesetzgebers. Ein Gesetz, das Missbrauchsmöglichkeiten eröffnet, wird missbraucht! Jüngstes Beispiel aus der Praxis des Verfassers ist das inzwischen in das BGB inkorporierte (§§ 312 ff. und 355 ff. BGB) Haustürwiderrufsgesetz. Millionäre, die sich Mitte der 90er Jahre des vorigen Jahrhunderts mit hohen Beträgen an einer Immobilien KG in den neuen Bundesländern beteiligten, und die entsprechenden Beitrittserklärungen zur eigenen Bequemlichkeit in Gegenwart von Vertretern der Vertriebsorganisation bei sich zu Hause zeichneten, versuchen nunmehr noch nach eineinhalb Jahrzehnten unter Berufung auf die angebliche Haustürwiderrufssituation aus dem verunglückten Engagement herauszukommen – zum Schaden der Gläubiger und Mitgesellschafter (vgl. den Vorlagebeschluss des II. Senates des BGH vom 5.5.2008 an den EuGH in ZIP 2008, 1018 und die Rückäußerung der Generalanwältin des EuGH in ZIP 2009, 1902 ff.). 11 Es gibt aber keinen funktionierenden internationalen Managermarkt, siehe Thüsing, ZGR 2003, 457, 465 ff.; Kort in Fleischer, Handbuch des Vorstandsrechts, 2006, § 3 Rz. 10. 12 Das Ganze war auch ein Beispiel dafür, welche unerwünschten Nebenfolgen neue Regelungen haben können. Die Transparenz der Bezüge jedes einzelnen Vorstandsmitgliedes führt zu einem „race to the top“, nicht nur innerhalb einzelner Vorstände, sondern auch zwischen vergleichbaren Gesellschaften.
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Hinzu kam, dass erfahrungsgemäß Vorstands- und Aufsichtsratbezüge sich – wenn auch zeitverschoben – im Allgemeinen parallel entwickeln, so dass „Großzügigkeit“ bei den Vorstandsbezügen langfristig auch für den Aufsichtsrat selbst kein Schade war. Die unheilvolle Entwicklung wurde zusätzlich dadurch gefördert, dass die Entscheidung darüber im kleinen Personalausschuss und nicht im Plenum des Aufsichtsrates fiel; hinzu kam, dass der Personalausschussvorsitzende, regelmäßig der Aufsichtsratvorsitzende, der ihm auferlegten Pfl icht, dem Plenum zu berichten, teilweise nur sehr unzureichend nachkam13. Im Lichte dieser Erfahrung ist die Entscheidung des Gesetzgebers, dem Personalausschuss die Kompetenz über Vertragsangelegenheiten des Vorstandes zu entziehen und auf das Plenum zurückzuverlagern14, ein richtiger Schritt15. Im Plenum ist die Wahrscheinlichkeit, dass sich ein kritischer Kopf (oder auch ein chronischer Störenfried) zu Worte meldet und dass sich dazu dann eine vertiefte Diskussion ergibt – statt eines mehr oder minder stummen Abnickens in einem kleinen Ausschuss – viel größer. Hinzu kommt, dass das „ins Kraut schießen“ der Vorstandsbezüge und deren pharaonenhafte Höhe Unmut in breiten Kreisen erregt hat, und die Wahrscheinlichkeit, dass diese (durchaus berechtigte) Ablehnung auch einzelne Mitglieder einer größeren Gruppe bewegt, viel höher ist als bei einer kleinen Gruppe. Der Unmut mag dabei im Einzelfall auch durchaus auf Neid im Motivbündel beruhen16. Das verschlägt nichts, denn es liegt auf der Hand, dass Bezüge von zig Millionen für den Vorstandsvorsitzenden einer Automobilfabrik, der seinen Aktionären Milliarden gekostet hat, inakzeptabel sind und Millionenbezüge bei gleichzeitiger Entlassung zahlreicher Mitarbeiter Verstöße gegen Anstand und Solidarität in der Leistungsgemeinschaft darstellen, als welche eine Handelsgesellschaft anzusehen ist. 13 § 107 Abs. 3 letzter Satz AktG. Dem Verfasser sind Fälle bekannt geworden, dass Aufsichtsratmitglieder von DAX-Gesellschaften, die nicht Mitglieder des Personalausschusses waren, die Höhe der Bezüge des Vorstandes nicht kannten und darüber konsterniert waren, als das Thema in der HV zur Sprache kam. 14 Vgl. BT-Drucksache 16/13433, S. 7 Ziffer 4. Durch die Änderung von § 107 Abs. 3 Satz 3 AktG dürfen Vertragsangelegenheiten des Vorstandes nicht mehr auf einen Ausschuss delegiert werden. 15 Der Verfasser hat diese Maßnahme bereits in der Börsen-Zeitung vom 2.6.2005 in einem Artikel unter der Überschrift „Vorstandsbezüge gehen den gesamten Aufsichtsrat an“ angemahnt. 16 Mit dem Neidvorwurf gegen Missbilligung der überhöhten Vorstandsbezüge ist so mancher Kritiker mundtot gemacht worden. Zu Unrecht, wie einer der bekanntesten Neidforscher (Schoeck, Der Neid, 2. Aufl. 1968, S. 75) meint, da Neid sich meist nur an kleinen Besserstellungen des Beneideten entzündet, von denen der Neider glaubt, dass sie ihm zu Unrecht vorenthalten worden seien. Überdies ist die Leistungs-/ Belohnungsgerechtigkeit ein Strukturmerkmal von menschlichen Zusammenschlüssen zur Erreichung eines gemeinsamen Ziels (einer „Sozietät“ in der Terminologie der Evolutionsliteratur), deren dauerhafte Missachtung zur Sprengung des Zusammenschlusses führen kann. (Vgl. Felix von Cube, Lust an Leistung, 10. Aufl. 2003, S. 107). Der Neid trägt zudem möglicherweise dazu bei, die Leistungsgerechtigkeit besser durchzusetzen.
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2. Die personelle Verquickung der betrieblichen mit der unternehmerischen Mitbestimmung und deren Missbrauchspotential Einer der schwersten Konstruktionsfehler der Mitbestimmung der Arbeitnehmer ist das Nebeneinander der betrieblichen Mitbestimmung nach dem Betriebsverfassungsgesetz17 und dem MitbestG 1976 und deren Verquickung. Der Arbeitnehmerflügel des Aufsichtsrates, dessen unternehmensangehörige Mitglieder meistens auch hohe Funktionäre der betrieblichen Mitbestimmung sind18, können bei der Verhandlung über Fragen der betrieblichen Mitbestimmung das Druckpotential des Aufsichtsrates einsetzen. Bei dieser Konstellation ist die Waffengleichheit, dass „even level playing field“ nicht mehr gegeben: Die fordernden Vertreter der betrieblichen Mitbestimmung sind eindeutig im Vorteil, und zwar auch ohne dass auf die Einflussmöglichkeiten bei der nächsten Verlängerung der Bestellung des Gegenüber irgendwie hingewiesen werden muss. Gewiss, die Anteilseignerseite hat bei Personalentscheidungen den Stichentscheid, von dem aber regelmäßig, wenn überhaupt nur mit größter Zurückhaltung Gebrauch gemacht wird; überdies ist ein Arbeitsdirektor, der nur mit den Stimmen der Anteilseigner gewählt wird, auf Dauer nicht haltbar. Umgekehrt sind die Vertreter der betrieblichen Mitbestimmung gegen sie betreffende negative Maßnahmen des Managements umfassend geschützt19. In Bezug auf diese Vorgänge gibt es eine sehr weitgehende Omertà 20. Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Urteil vom 1.3.1977 deutlich auf eine mögliche Fehlergeneigtheit des Gesetzes hingewiesen 21, es aber gleichwohl, gewissermaßen „auf Probe“ passieren lassen. die Überprüfung durch die 2. Biedenkopf-Kommission 22 ging wie erwartet – und von der Politik auch wohl erhofft – aus wie das Hornberger Schießen 23. Im Ergebnis besteht also folgende Situation: Das Bundesverfassungsgericht hat das Mitbestimmungs17 Vgl. insbesondere die Möglichkeit nach §§ 80 und 87 Betriebsverfassungsgesetz. 18 Z. B. Vorsitzender des Konzernbetriebsrates (wie Volkert bei VW) oder Vorsitzender oder Angehöriger von Betriebsräten oder Gesamtbetriebsräten. 19 Vgl. §§ 101 und 119 Betriebsverfassungsgesetz. Allerdings ist auch die Begünstigung von Betriebsratmitgliedern verboten – Betriebsrat ist ein unentgeltlich auszuübendes Ehrenamt, aber der Bezahlungsgrundsatz für Betriebräte nach § 37 Abs. 4 Betriebsverfassungsgesetz (der ja ohnehin nur die Untergrenze festlegt) wird „in der Praxis weit ausgelegt“. Vgl. BGH, ZIP 2009, 2110, 2112 Rz. 33. 20 Bei noch im Amt befi ndlichen Vorstandsmitgliedern ist das nur zu verständlich. Die Vertreter der Wissenschaft haben häufig insoweit keinen Zugang. So dringen im Wesentlichen nur durch pensionierte Vorstandsmitglieder, die nach ihrem Ausscheiden nicht in den Aufsichtsrat gewählt wurden, Nachrichten hierüber nach außen. Vgl. Manfred Gentz (ausgeschiedenes Vorstandsmitglied von Daimler Chrysler) in Bitburger Gespräche Jahrbuch 2006/I S. 33 ff.); Neubürger in Hommelhoff/Hopt/v. Werder (Hrsg.) Handbuch Corporate Governance, S. 177 ff., 189 ff. Neubürger war Finanzvorstand der Siemens AG. Aus der Wissenschaft vgl. Klosterkemper in FS Wissmann, 2007, S. 456, 462 ff.; v. Werder, DBW 2004, 229, 233; vgl. weiter Stiftung Marktwirtschaft/Frankfurter Institut „Unternehmensmitbestimmung ohne Zwang“, Schriftenreihe Band 47/2007, verfasst von den Mitgliedern des Kronberger Kreises. 21 Vgl. Fn. 4. 22 Vgl. Hans-Böckler-Stiftung „Ergebnis der Biedenkopf-Kommission“ Regierungskommission zur Modernisierung der deutschen Mitbestimmung, Februar 2007. 23 Die Biedenkopf-Kommission bestand aus jeweils drei Mitgliedern der Wissenschaft, der Anteilseigner und der Arbeitnehmerseite. Bei Nichteinigung sollte jede der drei
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gesetz gewissermaßen nur auflösend bedingt als verfassungsmäßig passieren lassen 24. Neben dem oben dargestellten gravierenden Missbrauch führt die enge Verknüpfung zwischen betrieblicher und unternehmerischer Mitbestimmung in der Praxis dazu, dass in der knappen Zeit, die für die 4 – 5 Aufsichtsratsitzungen im Jahr zur Verfügung steht, viel zu viel über Fragen der betrieblichen Mitbestimmung gesprochen wird, die in einer Aufsichtsratsitzung überhaupt nichts zu suchen haben. Um dem Diktum des Bundesverfassungsgerichtes nach einer erforderlichen Überprüfung nachzukommen, ist von der Politik, die andere Sorgen hat, zurzeit nichts zu erwarten. Die Wissenschaft schlägt im Wesentlichen die Verhandlungslösung vor25. Eine gründliche wissenschaftliche Überprüfung der seit 1978 praktizierten Verflechtung zwischen unternehmerischer und betrieblicher Mitbestimmung ist bedauerlicherweise nicht in Sicht. Dabei hat der Gesetzgeber an anderer Stelle bewiesen, dass er das Problem voneinander abhängigen Vertragspartnern durchaus gesehen hat und zu lösen versteht. Der Vorstand kann Beratungsaufträge ja auch an einzelne Aufsichtsratmitglieder vergeben, und wenn diese Situation nicht streng reglementiert würde, wären der Korruption einzelner Aufsichtsratmitglieder durch den Vorstand Tür und Tor geöffnet. Am Einfachsten und Wirkungsvollsten wäre ein generelles Verbot derartiger Verträge, das umso naheliegender wäre, als Beratungsgegenstand n i c h t sein darf, was in den Bereich der gesetzlichen Pfl ichten des Aufsichtsrates fällt; Gesetzgeber26 und Rechtsprechung 27 versuchen indessen auch ohne ein absolutes Verbot den Missbrauch zu verhindern: Gegenstand eines Beratungsvertrages dürfen nur Gegenstände sein, die nicht die gesetzlichen Aufgabengebiete des Aufsichtsrates berühren, der gesamte Aufsichtsrat muss im Vorhinein dem Beratungsvertrag zustimmen, der seinerseits Beratungsgegenstand und dessen Honorierung genau festzuhalten hat und jede Umgehung, etwa durch Zwischenschaltung einer Gesellschaft, sind ausgeschlossen. Die Situation, deren Gefahren auf diese Weise einigermaßen in Schranken gehalten wird 28, entspricht ziemlich genau der Verzahnung von betrieblicher und unternehmerischer Mitbestimmung. In beiden Fällen stehen sich Vorstand und Aufsichtsrat (Arbeitnehmerbank) gegenüber und geht es im Wesentlichen darum, dass der Aufsichtsrat am Hebel der personellen Maßnahmen (Verlän-
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Gruppen ein gesondertes Votum abgeben. So geschah es, die drei Voten waren unvereinbar und alles blieb beim Alten. Vgl. Fn. 4. Vgl. Arbeitskreis Unternehmerische Mitbestimmung, ZIP 2009, 858; weiterhin Hommelhoff, ZIP 2009, 1785; Teichmann, ZIP 2009, 1787; Kraushaar, ZIP 2009, 1789; Hellwig/Behme, ZIP 2009, 1791. Vgl. §§ 113 und 114 AktG. BGHZ 168, 188 ff.; BGHZ 170, 60 ff.; Peltzer, ZIP 2007, 305 ff. Man ist insoweit auf Gottvertrauen angewiesen, denn nur die Pathologie des Geschehens führt ja zu einer richterlichen Überprüfung und ggf. Nichtigkeitserklärung der Beratungsverträge, d. h. dies geschieht im Wesentlichen nur, wenn – etwa durch Übernahme – die ganze Anteilseignerseite des Aufsichtsrates ausgewechselt wird oder wenn sich das Aufsichtsratmitglied mit der Gesellschaft überwirft.
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gerung oder Nichtverlängerung der Bestellung, Entwicklung der Bezüge) und der Vorstand am Hebel von Sondervergünstigungen für den Aufsichtsrat oder einzelner seiner Mitglieder sitzt29; bei der Verquickung von betrieblicher und unternehmerischer Mitbestimmung geht es dabei um Vergünstigungen für die Klientel der Arbeitnehmervertreter – die häufig gleichzeitig Funktionäre der betrieblichen Mitbestimmung sind – und ggf. auch um Vergünstigungen für die Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat selbst 30. Der grobe handwerkliche Fehler des Gesetzgebers liegt eben darin, dass er nicht erkannt hat, oder vielleicht erkannt, aber versäumt hat, wirkungsvolle Schutzmaßnahmen dagegen zu treffen, dass hier Verhandlungspartner mit ganz unterschiedlicher Macht und Verhandlungsposition aufeinander treffen. Die Arbeitnehmerseite braucht ihren Einfluss auf die berufliche Zukunft des Arbeitsdirektors gar nicht zu erwähnen. Dieser sieht ohnehin die fleet in being am Horizont – und was hat der Arbeitsdirektor als für die Verhandlungen zuständiges Vorstandsmitglied in der Hand? Er ist zwar nominell in der betrieblichen Hierarchie der Vorgesetzte der ihm gegenüber sitzenden Vertreter der betrieblichen Mitbestimmung, aber diese sind – anders als er selbst – gegen jeden Druck von Oben wohl geschützt 31. 3. Übertragung von Vertragsangelegenheiten des Vorstandes vom Personalausschuss auf das Plenum Die Fehlerhaftigkeit der Übertragung von Vertragsangelegenheiten des Vorstandes auf den drei- oder vierköpfigen Personalausschuss wurde bereits oben unter III. 1. dargestellt. Allerdings darf man sich von der Übertragung auf das Plenum nicht all zuviel versprechen, denn die Vorbereitung der Entscheidung wird weiter beim Personalausschuss liegen und die Entscheidung wird in wesentlichen Punkten faktisch dort vorweggenommen werden. Immerhin wird das Plenum sich bei der Aufmerksamkeit, die die Höhe der Vorstandsbezüge in der letzten Zeit erreicht hat und der Verdeutlichung, ja der vermeintlichen Verschärfung der Haftung32 bei der Gewährung von unangemessen hohen Bezügen dieser Frage sicherlich mit großer Aufmerksamkeit widmen. So gesehen ist das Verbot der Delegation von Vertragsangelegenheiten des Vorstandes sicherlich ein positiver Schritt 33. Aber auch hier gilt es weiter – gewissermaßen 360 Grad – zu denken. Die breite Befassung im Plenum des Aufsichtsrates wird einhergehen mit einer Beurteilung der Leistung und des Charakters des Vorstandsmitgliedes, dessen Bezüge 29 Es gibt zwar das Korruptionsverbot in § 119 Abs. 1 Ziffer 3 Betriebsverfassungsgesetz. Vgl. dazu auch BGH, ZIP 2009, 2110 ff. Rz. 33. Die Dunkelziffer bei diesem Delikt dürfte aber nahe an 100 % liegen, weil die subjektive Seite, Korruptionsabsicht, nur in krassen Fällen nachweisbar sein dürfte. 30 Der Fall Volkert bei VW. Vgl. BGH, ZIP 2009, 2110 ff. 31 Vgl. § 119 Abs. 1 Ziffer 3 Betriebsverfassungsgesetz. 32 Die in Wirklichkeit nicht vorliegt, denn die Gewährung unangemessen hoher Bezüge war und ist seit je her eine Pfl ichtverletzung. 33 Vgl. Lutter, S. 3 der schriftlichen Stellungnahme zum Gesetzesentwurf des VorstAG, BT-Drucksache 16/12278.
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neu festgesetzt oder beibehalten werden sollen. Diese Beurteilung wird nicht geheim bleiben, sondern in die betrieblichen Gremien, denen die Arbeitnehmervertreter des Aufsichtsrates angehören, weiter diffundieren34 und letztlich weithin in der Belegschaft bekannt werden. Besonders problematisch sind hier Unterschiede in den Bezügen, die nicht offenbar auf Anciennität oder Stellung innerhalb des Vorstandes (Vorsitzender) beruhen. Letztlich ist auch hier wahrscheinlich ein „race to the top“ nicht zu vermeiden, mindestens insoweit, als Anpassungen nach oben im Einzelfall erfolgen müssen, weil die Unterschiede etwa darauf beruhen, dass die Bestellung zu verschiedenen Zeiten erfolgte, aber nicht unterschiedliche Leistungen widerspiegeln.
IV. Einzelne Corporate Governance Änderungen aus jüngerer Zeit und ihre Bewertung 1. Die cooling-off-Periode beim Übertritt vom Vorstand in den Aufsichtsrat Es ist bekanntlich weit verbreitete Übung, dass der erfolgreiche Vorstandsvorsitzende nach seiner Pensionierung dem Aufsichtsrat zugewählt wird und dort den Vorsitz übernimmt. Auch andere besonders hervorgetretene Vorstandsmitglieder werden nach ihrer Pensionierung gerne für die Zuwahl zum Aufsichtsrat begrüßt 35. Diese Übung hat der Gesetzgeber inzwischen drastisch eingeschränkt 36, und zwar dadurch, dass im Normalfall eine Zuwahl zum Aufsichtsrat erst möglich ist, wenn zwei Jahre seit dem Ausscheiden aus dem Vorstand verstrichen sind, es sei denn, dass bereits bei dem Vorschlag zur Zuwahl 25 % der Stimmrechte die Zuwahl des ausgeschiedenen oder ausscheidenden Vorstandsmitgliedes vorschlagen37. Ein derartiger Vorschlag muss also bereits mit der Einladung zur HV gemacht werden, was organisatorisch bei Publikumsgesellschaften kaum möglich ist. Der Grund für diese Neuerung liegt darin, dass der ehemalige Vorstandsvorsitzende und spätere Aufsichtsratvorsitzende mit Hilfe seines Einflusses auf seinen Nachfolger versuchen könnte, seine eigenen unternehmerischen Fehler zu kaschieren. Das ist zwar denkgesetzlich nicht auszuschließen, aber anderseits 34 Die Praxis zeigt immer wieder, dass das Vertraulichkeitsgebot des § 404 AktG im Verhältnis zwischen Arbeitnehmeraufsichtsräten und den betrieblichen Gremien, denen diese Aufsichtsratmitglieder angehören, nicht streng beachtet wird. Das ergibt sich eben daraus, dass die Arbeitnehmervertreter sich in erster Linie den Anliegen der Arbeitnehmer verpfl ichtet fühlen und insoweit die Vertraulichkeitsgrenze nicht sonderlich ernst genommen wird. Besonders problematisch ist dies bei Verhandlungen mit Kandidaten von außen. Vgl. auch S. 5 der Stellungnahme der DCGK-Kommission zu dem Gesetzesentwurf des VorstAG, BT-Drucksache 16/12278. 35 Der Corporate Governance Kodex hat in Ziffer 5.4.4 empfohlen, dass „der Wechsel des bisherigen Vorstandsvorsitzenden oder eines Vorstandsmitgliedes in den Aufsichtsratsvorsitz oder den Vorsitz eines Aufsichtsratsausschusses nicht die Regel sein (solle)“. Diese Empfehlung ist durch die Gesetzesänderung – § 100 Abs. 2 Ziffer 4 AktG neu – obsolet geworden. 36 Durch § 100 Abs. 4 AktG neu. 37 § 100 Abs. 4 AktG neu.
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nicht sehr wahrscheinlich38. Bei dem Vorstandsvorsitzenden, dem erhebliche unternehmerische Fehler vorgeworfen werden, reagiert die Börse mit einem Kurssprung auf sein Ausscheiden39. Eine Zuwahl zum Aufsichtsrat ist im Allgemeinen in dieser Situation undenkbar oder wird rasch korrigiert. Im Übrigen wirft diese Befürchtung ein schlechtes Licht auf die Befähigung des Aufsichtsrates, den richtigen Nachfolger zu wählen. Es fehlt zudem nicht an Beispielen, dass der energische Nachfolger im Vorstand den Vorgänger und nunmehrigen Aufsichtsratvorsitzenden in die Schranken weist40. Schließlich wird gerade bei den best geführten Großunternehmen Wert auf Führungskontinuität gelegt41. Der schwerste Fehler liegt aber in der vom Gesetzgeber nicht bedachten oder nicht genügend berücksichtigsten Unvereinbarkeit mit der faktischen Situation bei der unternehmerischen Mitbestimmung. Gerade bei Großunternehmen mit Streubesitz wird der 25 %ige Stimmenanteil, der für den Wahlvorschlag erforderlich ist, kaum zustande kommen. So besteht die Gefahr, dass ein tüchtiger Vorstandsvorsitzender, der normal mit 63 Jahren pensioniert wird, nach Verstreichen der Karenzzeit von zwei Jahren und angesichts der häufigen Altersgrenze von 70 Jahren nicht mehr gewählt wird, zumal wenn sich nicht sofort eine Vakanz im Aufsichtsrat bietet42. Damit ist zu befürchten, dass auf der Anteilseignerseite niemand mehr das Unternehmen und seine Schlüsselpersonen von Grund auf kennt und so die Wirksamkeit der Aufsicht und das Gewicht der Anteilseignerseite im Verhältnis zur Arbeitnehmerseite entsprechend vermindert wird. Auch hier liegt der gesetzgeberische Fehler in der ungenügenden Berücksichtigung der Interferenzwirkung des MitbestG 1976 auf die gesetzgeberische Neuerung.
38 A. A. Thüsing auf S. 15 in seiner Stellungnahme zum Entwurf des VorstAG, BT Drucksache 16/12278. Vgl. dazu auch S. 4 der Stellungnahme der DCGK-Kommission zum Entwurf des VorstAG, BT-Drucksache 16/12278. Der in diesem Fall immer wieder zitierte Fall Siemens beruht auf einem sehr komplexen Ursachenbündel. 39 So beim Ausscheiden von Schrempp als Vorstandsvorsitzender von Daimler Chrysler. Der Nachfolger im Vorstand korrigierte alsbald den folgenreichen unternehmerischen Fehler seines Vorgängers, nämlich den Zusammenschluss mit Chrysler. 40 Als Walter Seipp in den 70er Jahren den Vorstandsvorsitz bei der Commerzbank übernahm, verbot er seinem Vorgänger und AR-Vorsitzenden, der dies gewünscht hatte, die Teilnahme an den Vorstandssitzungen. 41 Der Wechsel im Vorstandsvorsitz bei großen Unternehmen in den letzten Jahren wie z. B. bei Thyssen-Krupp, gibt einer derartigen Befürchtung indessen keine Nahrung. Bei einem der erfolgreichsten Unternehmen der Welt, Nestlé, wird der regelmäßige Wechsel des CEO auf den Stuhl des Verwaltungsratpräsidenten als wesentliches Element der Managementkontinuität sehr positiv angesehen. (vgl. Manager Magazin 08/09, S. 56). Ähnliches gilt für die BASF, das größte Chemie-Unternehmen der Welt und eines der am besten gemanagten Unternehmen überhaupt. Das Für und Wider sorgfältig abwägend Kremer in Ringleb u. a., Deutscher Corporate Governance Kodex, 3. Aufl. 2008, Rz. 1062–1064; vgl. auch Dörner in FS Volker Röhricht, 2005, S. 809, 814 ff.; Wirth in ZGR 2005, 327, 339 ff., 347. 42 Diese Befürchtung wurde bei der Corporate Governance Konferenz in Berlin am 19.6.2009 von einem prominenten Mitglied der Corporate Governance Kommission geäußert. Vgl. auch die Stellungnahme von Thomas Kremer für den BDI zum Gesetzesentwurf, S. 10 ff.; a. A. Goette in seiner Stellungnahme zum Entwurf bei der Anhörung am 25.5.2009, S. 7; Stellungnahme des AGB zum VorstAG, S. 2. Alle Stellungnahmen zum Entwurf des VorstAG, BT-Drucksache 16/12278.
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2. Die obligatorische Selbstbeteiligung des in Anspruch genommenen Vorstandsmitglieds bei der D&O Versicherung Über die Sinnhaftigkeit der D&O Versicherung als solcher lässt sich streiten. Sie kommt aus den Vereinigten Staaten, wo jedoch die Inanspruchnahme fehlsamer Board-Mitglieder regelmäßig durch organisierte Aktionärszusammenschlüsse und nicht, wie in Deutschland, durch die Gesellschaft selbst stattfi ndet. Da der Versicherer den vertraglich vereinbarten Schutz des Organmitgliedes auf zweierlei Weise bewirken kann, nämlich entweder, indem er dem in Anspruch genommenen Organmitglied im Haftungsprozess zur Seite steht und den Prozess praktisch führt, oder indem er den Anspruch der Gesellschaft (meist nur durch enttäuschend geringen Vergleich) befriedigt43. Kann somit an der Sinnhaftigkeit der D&O Versicherung in ihrer jetzigen Form und ohne eine gründliche Reform44 Zweifel bestehen, so zwingt die jüngste Reform, die über Ziffer 3.8 Abs. 2 des DCGK noch hinausgeht, und diese Bestimmung überflüssig macht – zu einer gründlichen Rückbesinnung auf die Gründe der damaligen Einführung (etwa seit Mitte der 90er Jahre des vorherigen Jahrhunderts45) der aus den USA kommenden Neuerung. Der wesentliche Grund war, dass dem Vorstandsmitglied der unternehmerische Wagemut nicht völlig genommen werden sollte angesichts einer Situation, bei der sogar ein nur leicht fahrlässig verursachter Fehler die bürgerliche Existenz kosten konnte. Diese Situation ist inzwischen durch Einführung der Business Judgement Rule46 entschärft, aber sicherlich nicht völlig beseitigt. Die Einführung einer Selbstbeteiligung in den dort bestimmten Grenzen47, ist nicht nur ein Schlag ins Wasser, sondern zugleich ein klassischer Fall des „Wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht nass“. Es ist ein Schlag ins Wasser, da es dem Vorstandsmitglied ja unbenommen ist, seinerseits eine Versicherung abzuschließen, die den Selbstbehalt deckt48 und überdies die Schadensverursachung und die dadurch verursachte Ansehensminderung und Vermögensgefährdung – wie jeder weiß, der solche Prozesse geführt hat – existenzielle Ängste auszulösen vermag; es ist ja überdies gar nicht gesagt, dass die D&O Versicherung ausreicht; überdies ist es eine halbherzige und unüberlegte Korrektur: Entweder wird unternehmerischer Wagemut durch das Haftungsrisiko eingeschränkt oder nicht. Soll dem Unternehmensführer der Schneid um den Prozentsatz des Selbstbehaltes abgekauft werden? wer trägt
43 Vgl. Peltzer in FS Harm-Peter Westermann, 2008, S. 1257 ff. 44 Peltzer, NZG 2009, 970, 975. 45 Der Verfasser hatte die Einführung einer D&O Versicherung schon in WM 1981, 346, 352 liSp zu überlegen gegeben. 46 Vgl. § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG. 47 § 93 Abs. 2 letzter Satz AktG; vgl. Kremer, Chefjustitiar der Thyssen Krupp AG in der Stellungnahme des BDI zum Gesetzesentwurf VorstAG, BT-Drucksache 16/12278; vgl. Hirte in seiner Stellungnahme zum Gesetzesentwurf des VorstAG, BT-Drucksache 16/12278. 48 Krüger in FTD vom 20.11.2009, S. C 4; a. A. Thüsing, S. 12 ff. in seiner Stellungnahme zum VorstAG, BT-Drucksache 16/12278; vgl. auch DCGK-Kommission, Stellungnahme zum VorstAG, BT-Drucksache 16/12278.
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denn den Schaden, wenn der vom Vorstandsmitglied zu tragende Selbstbehalt nicht versichert ist und vom Schuldner nicht beigebracht werden kann? 3. Verdeutlichung der Begriffe der „Angemessenheit“ und „Nachhaltigkeit“ bei der Festsetzung der Vorstandsbezüge Im Grund hat sich insoweit wenig verändert und ist der Begriff der „Angemessenheit“ lediglich verdeutlicht worden. Die entsprechende Vorschrift (§ 87 AktG) war weitgehend aus dem Blick der Mitglieder der Personalausschüsse geraten und es war höchste Zeit, die Rechtsadressaten – bislang die drei oder vier Mitglieder der Personalausschüsse und zukünftig alle Aufsichtsratmitglieder – an das Gebot der Angemessenheit zu erinnern. Ganz besonders ins Kraut geschossen waren die seit etwa 1985 breitflächig eingeführten Aktienoptionen49, die zu pharaonenhaften Bezügen führten50. Das Problem der Aktienoptionen ist mit der durch die Gesetzesänderung zu bekämpfenden mangelhaften Nachhaltigkeit in keiner Weise erschöpft. Vielmehr ist die Kausalität steigender Kurse und damit die Vermögensmehrung der Vorstandsmitglieder durch deren Leistung noch viel problematischer und noch aleatorischer als die Anknüpfung variabler Bezüge an den Jahresgewinn: Die Börse folgt verschiedenen Einflüssen, die teilweise überhaupt nicht vom Management beeinflussbar sind. Der Börsenkurs und damit die Vermögensmehrungschance des Vorstandsmitgliedes ist in hohem Maße aleatorisch, also von der Leistung losgelöst und daran ändert sich auch nichts, ob nun der Zeitraum von der Einräumung der Option bis zur ersten Ausübungsmöglichkeit von zwei auf vier Jahre verlängert wird51. Es mag andere Gründe geben, warum Stock Options beibehalten werden sollten, etwa wegen einer anzustrebenden noch weitergehenden Parallelisierung zwischen den Interessen der Aktionäre und des Topmanagements, aber dies wäre einfacher und zuverlässiger zu erreichen, indem die Vorstandsmitglieder in einem Zeitfenster nach Erhalt der variablen Bezüge verbilligt Aktien der Gesellschaft kaufen können (die die Gesellschaft vorher erworben hat), wobei in bestimmten Grenzen der Rabatt zunehmen könnte, je länger sich das Vorstandsmitglied verpflichtet, die Aktien zu behalten. In diesem Zusammenhang ist auch daran zu erinnern, dass der Nutzen der „Nachhaltigkeit“ aus wirtschaftswissenschaftlicher Sicht ernsthaft in Frage gestellt wird52. Die einzelnen Probleme, die die Neuerung und Erweiterung der Vorschrift über die Angemessenheit der Vorstandsbezüge mit sich bringen, und die erleichterte Herabsetzung von Vorstandsbezügen sind in der neueren
49 Die teilweise kaum noch verständlich waren. 50 Vgl. Markus Käpplinger, Inhaltskontrolle von Aktienoptionsplänen, Nomos Verlag 2003 und die Rezension von Peltzer, NZG 2004, 31. Beispiel für angreifbare Optionszusagen sind die von Schrempp (Daimler Chrysler) und Wiedeking (Porsche). Bei letzterem ungeachtet jahrelang großer Erfolge. 51 Peltzer, Börsen-Zeitung vom 19.5.1999, „Anmerkungen zum Tanz um das Goldene Kalb“; Peltzer in Börsen-Zeitung vom 28.6.2002, S. 14. 52 Vgl. Roman Inderst und Sebastian Pfeil, Is Making Deferred (Bonus) Pay Mandatory a Good Idea for Banking?, Version May 2009.
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Aufsatzliteratur ausgiebig behandelt worden, so dass hierauf verwiesen werden kann53. 4. Verdeutlichung der Haftung des Aufsichtsrates bei Verstößen gegen das Angemessenheitsverbot bei der Festsetzung von Vorstandsbezügen Der Gesetzgeber hat dem § 116 AktG noch einen Satz hinzugefügt, nämlich „Sie (gemeint die Aufsichtsratmitglieder) sind namentlich zum Ersatz verpfl ichtet, wenn sie eine unangemessene Vergütung festsetzen (§ 87 Abs. 1 AktG)“. Dies ist eine etwas seltsame Ergänzung, die der Ausleuchtung bedarf. Es beginnt schon mit der (seit je her bestehenden) Verweisung von der Vorschrift über die Haftung des Aufsichtsrates (eben § 116 AktG) auf die Vorschrift über die Haftung des Vorstandes (§ 93 AktG). Ob diese Verweisung bei der Verschiedenheit der Aufgaben von Vorstand und Aufsichtsrat besonders glücklich ist, mag dahinstehen. Hier kommt es zunächst einmal darauf an, dass vor allem auf Satz 1 der Haftungsvorschrift für den Vorstand verwiesen wird, nämlich „Vorstandsmitglieder haben bei ihrer Geschäftsführung die Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters anzuwenden“ – und wenn dagegen verstoßen wird, haften sie als Gesamtschuldner, wobei noch eine Umkehr der Beweislast in Bezug auf die Pfl ichtwidrigkeit und das Verschulden eintritt. All dies gilt sinngemäß für Aufsichtsratmitglieder; diese haben bei ihrer Tätigkeit (u. a. Überwachung der Geschäftsführung des Vorstandes, Auswahl der richtigen Vorstandsmitglieder, Abberufung unfähiger oder ungetreuer Vorstandsmitglieder, Veto gegen gefährliche Abenteuer, Mitwirkung bei der Planung, usw.) Aufgaben, die – so wichtig auch die Vermeidung überzogener Managementbezüge sein mag – diese an Bedeutung weit übertreffen. Der Gesetzgeber hat auf die überzogenen Managementgehälter, die ja seit ca. 15 Jahren zu beobachten sind, und seit vielen Jahren öffentlich kritisiert wurden54, spät, ja viel zu spät, reagiert. Er hat nicht erkannt, dass die Marktwirtschaft hier partiell versagte, und es des staatlichen Ordnungsrahmens bedurfte, nicht anders etwa als bei der Kartellbildung oder der breitflächig praktizierten Bestechung zur Erlangung von Aufträgen. Die Kritik an diesem Missstand erhielt einen Schub, als die Finanzkrise ausbrach, die ja nicht zuletzt durch eine schuldhafte Anlagenpolitik der Verantwortlichen in den Landesbanken, aber auch in privaten Instituten verursacht wurde55 und einige für die Verluste verantwortliche Banker auf der Erfüllung ihrer Ansprüche beharrten, wie weiland Shylock auf seinem Pfund Fleisch56. Es entsprach dem Volkszorn, hier auf die verantwortlichen Aufsichtsratmitglieder zu weisen – zumal kurz vor einer Wahl.
53 Vgl. die umfassenden Literaturnachweise in dem „Leitfaden zur Anwendung des Gesetzes zur Angemessenheit der Vorstandsbezüge“ von Hoffmann-Becking und Krieger 2009. 54 Siehe Peltzer in FS Lutter, 2000, S. 571 ff.; Peltzer in FAZ vom 29.5.2002, S. 23. 55 Vgl. Hans Werner Sinn, Kasino Kapitalismus, 2009, S. 66 ff. 56 Vgl. Peltzer, NJW 2009, Heft 46, S. XII „Standpunkt“.
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Der Gesetzgeber sollte sich indessen hüten, sich zur Magd der Tagesstimmung und des Volkszornes zu machen. Die seltsame Hervorhebung („namentlich“) einer einzigen Pfl icht (neben der ebenfalls nicht im Vordergrund stehenden Pfl icht zur Geheimhaltung) wird für den Gesetzesadressaten, vor allem für ein noch unerfahrenes Aufsichtsratmitglied, einen höchst missverständlichen Eindruck dessen hervorrufen, was in der Arbeit des Aufsichtsrates wirklich zählt57. Ein Schreckschuss, der die Aufsichtsratmitglieder hätte aufhorchen lassen, war sicherlich erwünscht – aber im Gesetz, das ja wahrscheinlich viele Jahrzehnte insoweit unverändert bleiben wird – wenn die Erinnerung an die Finanzkrise längst verblasst ist58?
V. Sind der Gesetzgeber und die DCGK-Kommission auf dem richtigen Wege? Was ist der richtige Weg? Die Zeit, als der Shareholder Value als der richtige Weg galt, ist nicht allzu lange her. Inzwischen dürfte nahezu unbestritten sein, dass andere „stakeholder“ wie Belegschaft, Kunden, Lieferanten, Gemeinden, in denen sich die wirtschaftliche Tätigkeit der Gesellschaft abspielt, neben den Aktionären bei der Führung der Gesellschaft zu berücksichtigen sind. Der Gesetzgeber bemüht sich seit vielen Jahren um die Verbesserung der Corporate Governance durch Gesetze und auch durch die Einrichtung der Corporate Governance Kommission und die Meldepfl ichten börsennotierter Gesellschaften und hat sicherlich viel erreicht. Wer würde das in Abrede stellen wollen? Gleichwohl zeigen die wenigen Beispiele, dass noch viel zu tun bleibt: – Die Interferenzen mit anderen Gesetzen, die zu schädlichem Missbrauch einladen, sind zu beseitigen – ohne Tabuisierung (Beispiel oben III. 2.) – Missstände wie die durch die Decke schießenden Vorstandsbezüge – wesentlich mit verursacht durch die Entscheidungskompetenz der Personalausschüsse – müssen viel schneller erkannt und vom Gesetzgeber bekämpft werden – Gesetze müssen wirksam sein, um ernst genommen zu werden. die Selbstbeteiligung der Vorstandsmitglieder bei der D&O Versicherung ist nicht nur von der Zielsetzung her bedenklich, sondern auch noch ein Schuss in den Ofen. Die ausdrückliche Erwähnung der Einhaltung der Angemessenheit der Vorstandsbezüge als Pfl icht neben der Einhaltung der Verschwiegenheit gibt ein falsches Bild von der Rangordnung der Aufsichtsratpfl ichten.
57 Bei der Entwicklung von Daimler in den letzten 20 Jahren hätte der Aufsichtsrat die Akquisition von Chrysler verbieten sollen, nachdem die Gesellschaft bereits zweimal zuvor unmittelbar vor der Insolvenz stand und mit staatlicher Hilfe gerettet wurde. Die Festsetzungen der Bezüge des Vorstandsvorsitzenden (Stock Options) hängen damit zusammen, treten aber gegenüber der Zustimmung zum Zusammengehen mit Chrysler völlig an Bedeutung zurück. 58 Der Autor hat seine Meinung seit seiner Veröffentlichung in DGZ 2009, 1041 ff., 1045, noch einmal überdacht und ergänzt.
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Was ist zu tun? Die latente Mahnung des Bundesverfassungsgerichtes an den Gesetzgeber, das Mitbestimmungsgesetz auf die Bewährung der 1977 für noch als verfassungsmäßig angesehenen Bestimmungen zu beobachten, liegt über drei Jahrzehnte zurück. Geschehen ist nichts, außer einem von vornherein zum Scheitern verurteilten Versuch der zweiten Biedenkopf-Kommission. Das Bundesverfassungsgericht spricht völlig zu Recht von einer Schwächung der Befugnisse der Anteilseigner zur Kontrolle der Unternehmensleitung. Diese Schwächung ist bislang durch nichts korrigiert worden und solange hier nicht auf Abhilfe gesonnen wird, bleiben alle Verbesserungsbemühungen Stückwerk. Der Missstand der überhöhten Bezüge der Vorstandsmitglieder war seit vielen Jahren ein die Akzeptanz der Marktwirtschaft in Frage stellendes Ärgernis, ohne dass etwas geschah. Der Gesetzesbefehl, dass Vorstandsbezüge angemessen sein müssen, schien außer Kraft getreten zu sein. Warum sollte man den Auftrag der Corporate Governance Kommission – allerdings unter ausdrücklicher Befreiung von dem Verbot, sich über die Mitbestimmung Gedanken zu machen, und der ebenso ausdrücklichen Einräumung von Minderheitsvoten – nicht darauf erweitern, einen Jahresbericht an das Justizministerium zu erstellen, der auch die Akzeptanz gesetzgeberischer Neuerungen wie z. B. hier den obligatorischen Selbstbehalt oder die bisherigen Erfahrungen mit dem Klagezulassungsverfahren nach § 148 AktG umfassen würde? Im Übrigen ist eine breitflächige wissenschaftliche Nachprüfung der Wirkungen der Mitbestimmung auf die Effi zienz der Arbeit des Aufsichtsrates überfällig. Sie sollte beginnen mit einer Befragung der in den letzten Jahren ausgeschiedenen Aufsichtsratmitglieder der DAX-Gesellschaften.
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Die Berücksichtigung von Konzernzielen bei der variablen Vergütung des Vorstands einer abhängigen Gesellschaft im faktischen Konzern Inhaltsübersicht I. Problemstellung II. Ausgangspunkt § 87 Abs. 1 AktG III. Meinungsstand im Schrifttum
IV. Rechtsprechung V. Stellungnahme VI. Resümee
I. Problemstellung Nach § 87 Abs. 1 AktG kommt dem Aufsichtsrat die Aufgabe zu, bei der Festsetzung der Gesamtbezüge der einzelnen Vorstandsmitglieder dafür Sorge zu tragen, dass die Gesamtbezüge in einem angemessenen Verhältnis zu den Aufgaben des Vorstandsmitglieds und zur Lage der Gesellschaft stehen. Vergütungsregelungen, die dem Risiko ausgesetzt sind, Fehlsteuerungen zu begünstigen, sind mit § 87 AktG nicht vereinbar. Die Gefahr von Fehlsteuerungen kommt in Betracht, wenn den Vorstandsmitgliedern fi nanzielle Anreize geboten werden, die wirtschaftliche Lage der Gesellschaft zu verschlechtern oder gegen die Interessen der Gesellschaft zu handeln. In der aktienrechtlichen Literatur wird seit langem diskutiert, ob solche – aktienrechtlich bedenklichen – Fehlanreize bereits dadurch hervorgerufen werden können, dass die variable Vergütung der Mitglieder des Vorstands einer abhängigen Gesellschaft insbesondere innerhalb von (nur) faktischen Konzernverbindungen1 ganz oder teilweise daran anknüpft, ob das herrschenden Unternehmen oder den Konzern als Ganzen betreffende Erfolgsziele erreicht werden. Das Oberlandesgericht München hat in einer Entscheidung vom 7.5.2008 (Az. 7 O 5618/07 „RWE Energy“2) den Standpunkt eingenommen, dass es jedenfalls in dem von ihm zu entscheidenden Fall unzulässig gewesen sei, die Gesamtvergütung der Mitglieder des Vorstands einer abhängigen Gesellschaft teilweise von der Erreichung von Erfolgszielen abhängig zu machen, die zu mehr als 50 % an den Erfolg des herrschenden Unternehmens, in concreto an die Aktienkursentwicklung der Muttergesellschaft, anknüpfen. Der Bundesgerichtshof hat die 1 Auf eine nähere Darstellung des Meinungsbilds zum Vertragskonzern wird im Folgenden verzichtet, vgl. dazu Hohenstatt/Seibt/Wagner, ZIP 2008, 2289 f. und Waldhausen/ Schüller, AG 2009, 179, 185 m. w. N. in Fn. 49. 2 OLGReport München 2008, 486 = AG 2008, 593 = ZIP 2008, 1237 = NZG 2008, 631 = WM 2008, 1320; zu der Entscheidung etwa Habersack, NZG 2008, 634 ff.; Hohenstatt/ Seibt/Wagner, ZIP 2008, 2289 ff.; Petrovicki, FD-HGR 2008, 261428; Spindler, WuB II A, § 192, AktG, 2.08; Tröger, ZGR 2009, 447 ff. und Waldhausen/Schüller, AG 2009, 179 ff.
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Revision gegen diese Entscheidung nicht angenommen. Er hat aber immerhin in einem Nebensatz bemerkt, dass sich die Ausführungen des OLG München weit von § 87 a. F. AktG entfernt hätten3. Die Frage, inwieweit variable Vergütungen von Vorständen abhängiger Tochtergesellschaft auch an den Erfolg des Mutterunternehmens bzw. des Gesamtkonzerns anknüpfen können und nicht nur am Erfolg des Tochterunternehmens selbst bemessen werden dürfen, ist von erheblicher praktischer Bedeutung. Die Entscheidung des Oberlandesgerichts München und die etwas kryptischen Bemerkungen des Bundesgerichtshofs in seiner Entscheidung über die Zurückweisung der Nichtzulassungsbeschwerde in diesem Verfahren haben eher weitere Rechtsunsicherheit geschaffen als zu einer Klärung beigetragen. Ferner ist die Festlegung variabler Vergütungen in der Diskussion um angemessene Vorstandsvergütungen im Allgemeinen und im Besonderen bei den Aufsichtsräten, die mit dem VorstAG 4 nunmehr insgesamt für die Festsetzung zuständig und – wie der gesetzgeberische Hinweis in § 116 Satz 3 AktG nochmals verdeutlicht – verantwortlich sind, stark in den Fokus gerückt. Aus allen diesen Gründen erscheint es lohnend, die Frage, inwieweit die variable Vergütung auch Konzernziele einbeziehen kann, näher zu beleuchten.
II. Ausgangspunkt § 87 Abs. 1 AktG Nach § 87 Abs. 1 AktG obliegt es dem Aufsichtsrat, bei der Festsetzung der Vergütung des einzelnen Vorstandsmitglieds zu gewährleisten, dass die Gesamtbezüge (Gehalt, Gewinnbeteiligung, Aufwendungsentschädigungen, Versicherungsentgelte, Provisionen und Nebenleistungen) in einem angemessenen Verhältnis zu den Aufgaben des Vorstandsmitglieds und zur Lage der Gesellschaft stehen. Bei der Festsetzung der Vorstandsbezüge handelt es sich um eine unternehmerische Entscheidung. Bei derartigen unternehmerischen Entscheidungen ist dem Aufsichtsrat nach den Grundsätzen der Entscheidung in Sachen „ARAG/ Garmenbeck“ ein Ermessens- und Beurteilungsspielraum zuzubilligen. Die Ermessensausübung des Aufsichtsrats hat sich dabei stets am Unternehmensinteresse zu orientieren5. Aus der Verpfl ichtung des Aufsichtsrats auf das Unternehmensinteresse ergibt sich dessen Pfl icht, Fehlincentivierungen der Vorstandsmitglieder, die sich aus einer gewählten Vergütungsregelung ergeben könnten, zu vermeiden. Deswegen ist es dem Aufsichtsrat nicht gestattet, Vergütungsregelungen einzuführen, bei denen der Vorstand davon profitieren würde, die wirtschaftliche Lage der Gesellschaft zu verschlechtern oder durch die ein Anreiz geschaffen würde, gegen die Interessen der Gesellschaft zu handeln oder die Gesellschaftsbelange gesellschaftsfremden Interessen unterzuordnen. Insoweit fi ndet der Beurtei3 BGH, Beschluss v. 9.11.2009 – II ZR 154/08, BeckRS 2009/87043 = ZIP 2009, 2436. 4 Gesetz zur Angemessenheit der Vorstandsvergütung, BGBl. I 2009, S. 2509 ff. 5 Zum Ganzen BGHZ 135, 244 ff.; bestätigt in BGH, WM 2006, 276 ff. („Mannesmann“); aus dem Schrifttum etwa Hüffer, 9. Aufl. 2010, § 87 AktG Rz. 4; Wiesner in MünchHdb. AG, 3. Aufl. 2007, § 21 Rz. 30 ff.
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lungsspielraum des Aufsichtsrats dort seine Grenzen, wo das Angemessenheitsgebot des § 87 AktG nicht mehr gewahrt ist6.
III. Meinungsstand im Schrifttum Das Meinungsbild, inwieweit variable Vergütungen im faktischen Konzern auch an Kennzahlen der Muttergesellschaft bzw. des Konzerns anknüpfen können, ist uneinheitlich. Teilweise wird vertreten, dass die Gewährung von Optionen auf Aktien der Muttergesellschaft oder entsprechend von sonstigen erfolgsabhängigen Entlohnungen an Organmitglieder einer faktisch abhängigen Aktiengesellschaft nur dann zulässig sei, wenn die individuellen Zielvorgaben für den berechtigten Tochter-Vorstandsmitglied ausschließlich auf den Erfolg der Tochtergesellschaft abstellt7. Die Vertreter dieser Auffassung meinen, bei derartigen Gestaltungen bestehe ansonsten die Gefahr einer Fehlincentivierung. Durch eine am Konzerninteresse ausgerichtete Vergütung könnten die Mitarbeiter des Tochterunternehmens tendenziell dazu veranlasst werden, vorrangig zur Steigerung des Unternehmenswerts des Konzerns beizutragen und sich in Konfl iktfällen zwischen der Tochter und der Muttergesellschaft für das Konzerninteresse (und gegen das Unternehmensinteresse der Tochter) zu entscheiden8. Immerhin erkennen allerdings Teile dieser Ansicht an, dass dieser Gedanke jedenfalls für eine 100 %ige Tochtergesellschaft oder für mehrgliedrige Gesellschaften, bei denen eine solche Incentivierung mit Zustimmung der Minderheitsgesellschafter erfolgt, nicht trägt9. Nach anderer Ansicht soll selbst in diesen Fällen die Ausrichtung der Vorstandsvergütung auf das Konzerninteresse unzulässig sein; dies wird damit begründet, dass die Verfolgung des Eigeninter6 Vgl. OLG München, ZIP 2008, 1237, 1239; in diesem Sinne auch Habersack, NZG 2008, 634 ff.; Hohenstatt/Seibt/Wagner, ZIP 2008, 2289 ff.; Petrovicki, FD-HGR 2008, 261428 und Waldhausen/Schüller, AG 2009, 179 ff. 7 Frey in Großkomm. AktG, 4. Aufl. 2001, § 192 AktG Rz. 101, § 193 AktG Rz. 68; Fonk in Semler/Peltzer, Arbeitshandbuch für Vorstandsmitglieder, 2006, § 7 Rz. 122; Kallmeyer, AG 1999, 97, 102; Spindler in MünchKomm. AktG, 3. Aufl. 2008, § 87 AktG Rz. 51; Spindler, DStR 2004, 36, 44; Thüsing in Fleischer, Handbuch des Vorstandsrechts, 2006, § 6 Rz. 46 ff.; Veil in K. Schmidt/Lutter, 2008, § 192 AktG Rz. 23; Zitzewitz, NZG 1999, 698, 700 f.; weitergehend die ältere Literatur (vor Inkrafttreten des KonTraG) Baums, AG 1997, August-Sonderheft, S. 26, 35 f.; Baums in FS Claussen, 1997, S. 3, 12 sowie Semler in FS Budde, 1995, S. 599, 604. 8 Baums, AG-Sonderheft 1997, 26, 35 f.; Baums in FS Claussen, 1997, S. 3, 12; Frey in Großkomm. AktG, 4. Aufl. 2001, § 192 AktG Rz. 191; Kallmeyer, AG 1999, 97, 102; Spindler in MünchKomm. AktG, 3. Aufl. 2008, § 87 AktG Rz. 51; Spindler, DStR 2004, 36, 44; Veil in K. Schmidt/Lutter, 2008, § 192 AktG Rz. 23; Zitzewitz, NZG 1999, 26, 35. 9 Vgl. Baums, AG-Sonderheft 1997, 26, 35; Frey in Großkomm. AktG, 4. Aufl. 2001, § 192 AktG Rz. 101, § 193 AktG Rz. 68; Hüffer, 8. Aufl. 2008, § 192 AktG Rz. 20; Kallmeyer, AG 1999, 97, 102; Martens in FS Ulmer, 2003, S. 399, 416; Spindler in MünchKomm. AktG, 3. Aufl. 2008, § 87 AktG Rz. 51; Spindler, DStR 2004, 36, 44 sowie Zitzewitz NZG 1999, 698, 700 f.; auch nach Ansicht von Holzborn in Marsch-Barner/Schäfer, Hdb. börsennotierte AG, 2. Aufl. 2009, § 63 Rz. 90; Rieckers in Spindler/Stiltz, 2007, § 192 AktG Rz. 61 sowie Tröger, ZGR 2009, 446, 459 f. und 461 sollen die Fälle von 100 %-Töchtern „unproblematisch“ sein.
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esses der abhängigen Gesellschaft nicht nur dem Minderheitenschutz, sondern auch mittelbar dem Gläubigerschutz diene10. Nach einer vermittelnden Ansicht soll die Gewährung von Incentives, die sich am Erfolg der Muttergesellschaft oder an dem Konzernerfolg orientieren, weder generell unzulässig noch generell zulässig sein. Hiernach soll auf die Umstände des Einzelfalles abgestellt werden und ergründet werden, ob aufgrund dieser tatsächlich eine Gefahr von Fehlanreizen besteht. Dabei soll es entscheidend auf die Höhe der auf den Erfolg der Mutter ausgerichteten variablen Vergütung ankommen. Aktienrechtliche Bedenken sollen dann bestehen, wenn das Einkommen aus der erfolgsabhängigen Vergütung im Verhältnis zu dem restlichen Einkommen erheblich sei11. Daneben geht ein Teil der Literatur davon aus, dass die Gewährung von mutter- bzw. konzernbezogenen Incentives dann unbedenklich sein soll, wenn sich die Erfolgsziele kumulativ auf die Mutter- und die Tochtergesellschaft beziehen12. Dagegen geht eine dritte – nach unserer Überzeugung zutreffende – Ansicht davon aus, dass die Incentivierung von Vorständen einer Tochtergesellschaft auf das Interesse der Konzernmutter bzw. Interesse des Konzerns grundsätzlich zulässig ist13. Dass dieser Auffassung beizutreten ist, werden wir unter V. im Einzelnen begründen. Zunächst soll jedoch auf die bereits eingangs erwähnte Entscheidung des OLG München14 sowie den Beschluss des BGH15 näher eingegangen werden.
IV. Rechtsprechung Das OLG München hatte einen Fall zu entscheiden, in dem der überwiegende Teil der Gesamtvergütung der Vorstandsmitglieder einer abhängigen Aktiengesellschaft vom Kurs der Muttergesellschaft abhängig war. Dabei machte der
10 Spindler in MünchKomm. AktG, 3. Aufl. 2008, § 87 AktG Rz. 51; in diesem Sinne wohl auch Kort in Großkomm. AktG, 4. Aufl. 2006, § 87 AktG Rz. 153. 11 Seibert in Pellens (Hrsg.), Unternehmenswertorientierte Entlohnungssysteme, 1998, S. 42; Friedrichsen, Aktienoptionsprogramme für Führungskräfte, 2000, S. 209 ff.; Hoffmann-Becking, NZG 1999, 797, 803; auch Hirte in RWS-Forum 15, Gesellschaftsrecht 1999, S. 211, 215 sowie Klawitter in Achleitner/Wollmert (Hrsg.), Stock Options, 2. Aufl. 2003, S. 71 f. 12 Hirte in RWS-Forum 15, Gesellschaftsrecht 1999, S. 211, 215; Veil in K. Schmidt/ Lutter, 2008, § 192 AktG Rz. 23; ähnlich Hüffer, 8. Aufl. 2008, § 192 AktG Rz. 20; Holzborn in Marsch-Barner/Schäfer, Hdb. börsennotierte AG, 2. Aufl. 2009, § 63 Rz. 90 und Marsch-Barner in Bürgers/Körber, 2008, § 192 AktG Rz. 17, die eine ausschließlich bzw. alleinige Ausrichtung auf die Wertenwicklung der Mutter für bedenklich halten. 13 Habersack in FS Raiser, 2005, S. 111, 118 ff.; Habersack, NZG 2008, 634; Hohenstatt/ Seibt/Wagner, ZIP 2008, 2289 ff.; in diesem Sinne auch Krieger in MünchHdb. AG, 3. Aufl. 2007, § 63 Rz. 31; Klawitter in Achleitner/Wollmert (Hrsg.), Stock Options, 2. Aufl. 2003, S. 71 f.; Friedrichsen, Aktienoptionsprogramme für Führungskräfte, 2000, S. 207 f.; J. Vetter in K. Schmidt/Lutter, 2008, § 311 AktG Rz. 33; unter Berufung auf § 192 Abs. 2 Nr. 3 AktG jedenfalls für Fälle des Vertragskonzerns oder 100 %ige Tochtergesellschaften auch Holzborn in Marsch-Barner/Schäfer, Hdb. börsennotierte AG, 2. Aufl. 2009, § 63 Rz. 90; Rieckers in Spindler/Stiltz, 2007, § 192 AktG Rz. 61 sowie Waldhausen/Schüller, AG 2009, 179, 180 f. 14 Urt. v. 7.5.2008 – 7 O 5618/07, ZIP 2008, 1237. 15 Beschl. v. 9.11.2009 – II ZR 154/08, BeckRS 2009, 87043.
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Berücksichtigung von Konzernzielen bei der variablen Vorstandsvergütung
variable Teil der Vorstandsvergütung 70 % der Gesamtvergütung aus; von dem variablen Teil der Vergütung waren wiederum 80 % vom Kurs der Konzernmutter abhängig. Hierin sah das Oberlandesgericht einen Verstoß gegen § 87 Abs. 1 AktG. Die Vergütungsregelung führe zu dem Risiko, dass der Vorstand im Interesse der Muttergesellschaft, aber zu Lasten der abhängigen Gesellschaft handele, zumal im konkreten Fall zwischen Mutter und Tochter im wesentlichen Umfang Liefer- und Leistungsbeziehungen und damit erhebliche Möglichkeiten des Vorstands der Tochtergesellschaft bestanden, das Ergebnis der Mutter zu Lasten der Tochter zu beeinflussen16. Nach Ansicht des Oberlandesgerichts lag also der von § 87 Abs. 1 AktG untersagte Fall einer Fehlincentivierung vor, weil die variable Vergütung das Risiko von Fehlsteuerungen zu Lasten der Gesellschaft beinhalte. Auch der im faktischen Konzern in § 311 Abs. 2 Satz 1 AktG vorgesehene Nachteilsausgleich genüge insofern nicht, um entsprechende Vergütungsvereinbarungen zu rechtfertigen. Das OLG sah zwar durchaus, dass sowohl für die Muttergesellschaft als auch für die übrigen Konzerngesellschaften ein Interesse an einem hohen Aktienkurs der Muttergesellschaft bestehen kann, beispielsweise um feindliche Übernahmen zu verhindern und/oder zu erschweren. Es sah darin jedoch keine Rechtfertigung, jedenfalls in einem faktischen Konzern mit Minderheitsgesellschaftern einen Anreiz dazu zu schaffen, dass die Erträge der Muttergesellschaft oder anderer Konzerngesellschaften auf Kosten der abhängigen Gesellschaft erhöht werden17. Der BGH hat in seinem Beschluss vom 9.11.2009 zu diesen Fragen nicht im Einzelnen Stellung genommen. Er hat in einem Nichtannahmebeschluss lediglich zum Ausdruck gebracht, dass sich die Argumentation des OLG von den Vorgaben des § 87 AktG a. F. entfernt habe. Dahinter könnte sich eine Kritik an der weitreichenden Entscheidung des OLG München verbergen; wirklich eindeutig sind die Andeutungen des Bundesgerichtshofs insoweit indessen nicht18.
V. Stellungnahme Das Urteil des Oberlandesgerichts München überzeugt nicht. Vielmehr ist der Literaturauffassung beizutreten, wonach im faktischen Konzern die variable Vergütung grundsätzlich auch an Erfolgszielen und -parametern, die die Muttergesellschaft bzw. den Konzern als Ganzen betreffen, angeknüpft werden kann. Nach unserer Auffassung gilt dies im faktischen Konzern generell. Insbesondere aber im Falle einer 100 %-Beteiligung sind die generell gefassten Aussagen des Oberlandesgerichts München, selbst wenn man in der Tendenz einen restriktiveren Standpunkt einnehmen wollte, nicht haltbar. Im Einzelnen:
16 In dem Fall „RWE/Energy“ lag das Volumen der konzerninternen Liefer- und Leistungsgeschäfte in Höhe von EUR 300 Mio. bei einem Gesamtumsatz der Tochter von EUR 1 Mrd. und einem Jahresüberschuss der Tochter in Höhe von EUR 67 Mio., vgl. OLG München, ZIP 2008, 1237, 1240. Gegen eine Verallgemeinerungsfähigkeit des Falls RWE/Energy allein aus diesem Grund etwa auch Hohenstatt/Seibt/Wagner, ZIP 2008, 2289, 2291. 17 OLG München, ZIP 2008, 1237, 1240. 18 In diesem Sinne etwa auch die Kritik von Wackerbarth, ZIP 2009, 2437 ff.
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1. Es ist bereits generell fraglich, ob man einem Vorstand im faktischen Konzern, der dem Interesse der von ihm zu leitenden Gesellschaft verpfl ichtet ist, unterstellen kann, seine aus §§ 76, 93 AktG abgeleiteten Verpflichtungen nur deswegen zu verletzen, weil die Konzernobergesellschaft seine Vergütung auch davon abhängig macht, wie sich die wirtschaftlichen Verhältnisse im Gesamtkonzern gestalten. 2. Die vom OLG gewählte Auslegung des § 87 Abs. 1 AktG führt zu Wertungswidersprüchen gegenüber § 192 Abs. 2 Nr. 3 AktG und §§ 285, 314 HGB. Im Rahmen der Einführung des § 192 Abs. 2 Nr. 3 AktG war die Einbeziehung von Vorständen der Tochter-AG in Aktienoptionsprogramme der Muttergesellschaft ausdrücklich diskutiert worden. Der Gesetzgeber war sich, als er § 192 Abs. 2 Nr. 3 in das Aktiengesetz aufgenommen hat, also der Problematik des Interessenkonfl ikts bei auf die Muttergesellschaft bezogenen Anreizen bewusst. Er hat es trotzdem unterlassen, die Möglichkeit der Einbeziehung nur für die Fälle zu gestatten, in denen ein Vertragskonzern vorliegt oder in denen Minderheitsaktionäre fehlen. Dies spricht dafür, dass er es für zulässig hielt, den Vorständen der abhängigen Gesellschaft auch variable Vergütungsbestandteile zu gewähren, die sich am Erfolg des Mutterunternehmens orientieren19. Auch das Vorstandsvergütungsoffenlegungsgesetz20 geht – trotz der damit ggf. einhergehenden Interessenkonfl ikte – von einer grundsätzlichen Zulässigkeit von Drittvergütungen im Konzern aus. Das Gleiche gilt für den Deutschen Corporate Governance Kodex. Das Vorstandsvergütungsoffenlegungsgesetz ordnet in §§ 285, 314 HGB an, dass Leistungen, die dem einzelnen Vorstandsmitglied von einem Dritten im Hinblick auf seine Tätigkeit als Vorstandsmitglied zugesagt oder im Geschäftsjahr gewährt worden sind, offen zu legen sind. Das Gesetz geht nicht davon aus, dass etwaige Interessenkonfl ikte solche Drittvergütungen unzulässig machen würden; sie sind lediglich offen zu legen. Der Deutsche Corporate Governance Kodex empfiehlt sogar dem Aufsichtsrat in Ziff. 4.2.2, die Vergütung der Vorstandsmitglieder unter Einbeziehung von etwaigen Konzernbezügen in angemessener Höhe auf der Grundlage einer Leistungsbeurteilung festzulegen 21. Das Oberlandesgericht München hat sich mit all diesen Argumenten nicht auseinandergesetzt. Es bezieht sich stattdessen darauf, dass nach § 87 Abs. 1 AktG die Vergütung nach „der Lage der Gesellschaft“ zu bestimmen sei. Der Schluss des OLG, hieraus ergebe sich, dass Incentivierungen, die sich nach konzernweiten Parametern richten, unzulässig seien, geht indessen fehl. Derlei Annahmen fi nden auch keinen Anknüpfungspunkt im aktienrechtlichen Schrifttum. Das Kriterium der „Lage der Gesellschaft“ sollte in erster Linie der Bestimmung einer angemessenen Höhe der Vergütung dienen 22. Die Berücksichtigung von konzererfolgsabhängigen variablen Vergütungen
19 Habersack in FS Raiser, 2005, S. 111, 124; Habersack, NZG 2008, 634; in diesem Sinne auch Hohenstatt/Seibt/Wagner, ZIP 2008, 2289, 2292. 20 Gesetz vom 3.8.2005, BGBl. I 2005, S. 2267. 21 Vgl. zum Ganzen Hohenstatt/Seibt/Wagner, ZIP 2008, 2289, 2292. 22 Seibt in K. Schmidt/Lutter, 2008, § 87 AktG Rz. 5; Thüsing in Fleischer, Handbuch des Vorstandsrechts, 2006, § 6 Rz. 8.
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Berücksichtigung von Konzernzielen bei der variablen Vorstandsvergütung
soll es indes nicht ausschließen. Eine solche restriktive Auslegung würde in Widerspruch zu der gesetzlichen Anerkennung von konzernweiten Vergütungen in § 132 Abs. 2 Nr. 3 AktG sowie in §§ 285, 314 HGB stehen. Es kann dabei auch wertungsmäßig nicht darauf ankommen, ob eine unmittelbare Drittvergütung des Vorstands (etwa durch die Konzernmutter selbst) erfolgt oder die Vergütung durch die Anstellungsgesellschaft erfolgt, dabei aber konzernweite Erfolgsparameter mit berücksichtigt werden. 3. Selbst wenn man jedoch davon ausgehen wollte, dass durch die Incentivierung des Vorstands der Tochter-AG auf das Interesse der Konzernmutter eine nachteilige Einflussnahme auf die Tochtergesellschaft erfolgt, so ist eine solche Einflussnahme im faktischen Konzern unter den Voraussetzungen der §§ 311 ff. AktG zulässig. Unter dem Vorbehalt des Nachteilsausgleichs sieht das Gesetz im faktischen Konzern die Möglichkeit vor, die abhängige Gesellschaft in das Konzerninteresse einzubinden und ihre Leitungsautonomie von dem Willen der Konzernspitze überlagern zu lassen 23. Anders als das OLG München annimmt, werden die Vermögensinteressen der Minderheitsgesellschafter und Gläubiger der Tochtergesellschaft also im faktischen Konzern ausreichend durch das Schutzsystem der §§ 311 ff. AktG gesichert. Es geht entschieden zu weit, den Vorstandsmitgliedern einen Rechtsbruch nur deswegen zu unterstellen, weil ihre Vergütung – wofür sehr gute Gründe sprechen können – auch an die wirtschaftliche Gesamtverfassung und den wirtschaftlichen Gesamterfolg des Gesamtkonzerns angebunden wird. 4. Ein weiterer Gesichtspunkt macht deutlich, dass das OLG München mit seiner Auffassung fehlgeht: Es entspricht ganz überwiegender Ansicht im Schrifttum, dass Vorstandsdoppelmandate bei der Tochtergesellschaft und der Muttergesellschaft zulässig sind 24. Dabei ist es auch zulässig, ein Mitglied des Konzernvorstands, das gleichzeitig Vorstandsmitglied der Tochtergesellschaft ist, in Abhängigkeit vom Erfolg der Muttergesellschaft zu honorieren. Der in einem solchen Fall vorliegende Interessenkonfl ikt ist eher stärker als der Interessenkonflikt, dem sich der von einem Aktienoptionsprogramm der Muttergesellschaft begünstigte Vorstand der Tochtergesellschaft ausgesetzt sieht25. Wenn dem Vorstandsmitglied aber zugetraut wird, den aus einer Doppelstellung folgenden Interessenkonfl ikt interessengerecht zu lösen, dann kann es nicht grundsätzlich als unzulässig angesehen werden, Konzernbezüge unmittelbar durch Vergütungsmodelle herzustellen 26. 23 Vgl. insoweit auch LG München I, NZG 2008, 114, 115 (Vorinstanz in Sachen „RWE/ Energy“) sowie Kropff in MünchKomm. AktG, 3. Aufl. 2010, Vor § 311 AktG Rz. 4, § 311 AktG Rz. 29; Koppensteiner in KölnKomm. AktG, 3. Aufl. 2004, Vor § 311 AktG Rz. 6, 19; Hüffer, 9. Aufl. 2010, § 311 AktG Rz. 6; Habersack in Emmerich/Habersack, Aktien- und GmbH-Konzernrecht, 6. Aufl. 2010, § 311 AktG Rz. 11; Lutter, AG 1990, 179. 24 Seibt in K. Schmidt/Lutter, 2008, § 84 AktG Rz. 26; Hüffer, 8. Aufl. 2008, § 76 AktG Rz. 20 f.; Kort in Großkomm. AktG, 4. Aufl. 2006, § 84 AktG Rz. 329; Wiesner in MünchHdb. AG, 3. Aufl. 2007, § 20 Rz. 10; Lutter/Krieger, Rechte und Pfl ichten des Aufsichtsrats, 5. Aufl. 2008, Rz. 477. 25 Zutreffend Fleischer in Fleischer, Handbuch des Vorstandsrechts, 2006, § 18 Rz. 128; J. Vetter in K. Schmidt/Lutter, 2008, § 311 AktG Rz. 33. 26 Habersack in FS Raiser, 2005, S. 111, 125 ff.; Habersack, NZG 2008, 634; in diesem Sinne auch Hohenstatt/Seibt/Wagner, ZIP 2008, 2289, 2293.
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5. Aus alledem folgt, dass die variable Vergütung von Vorstandsmitgliedern auch im faktischen Konzern an Parametern der Muttergesellschaft oder des Gesamtkonzerns orientiert sein kann. Dies gilt unseres Erachtens generell, ohne eine Beschränkung auf gewisse Anteile vorzugeben. In der Praxis sind derartige Beschränkungen, wie sie das OLG vorgibt (also etwa unter 50 %) ohnehin außerordentlich schwierig, insbesondere dann, wenn etwa auf Spartenergebnisse abgestellt wird, die sowohl die Gesellschaft, mit der das Organverhältnis begründet ist, als auch andere Tochtergesellschaften betreffen. Gleiches gilt, wenn Organverhältnisse zu mehreren Gesellschaften bestehen, der Anstellungsvertrag aber nur mit einer Gesellschaft abgeschlossen ist. Besonders augenfällig wird die Fehlannahme des OLG München und Teilen der Literatur, wenn man sich den Fall einer faktischen Konzernbeziehung ohne Minderheitsgesellschafter vor Augen hält. Kann man hier wirklich noch von einer ernst zu nehmenden Gefahr der Fehlincentivierung sprechen, wenn in aller Regel das, was der Tochtergesellschafter zugute kommt, auch zugunsten der Mutter wirkt? Es wäre jedenfalls eine völlig übertriebene Reaktion, angesichts des bestehenden Gläubigerschutzes und der sonstigen Schutzinstrumentarien Vergütungssysteme im faktischen Konzern zu untersagen, die nicht nur den Erfolg eines einzelnen Konzernunternehmens, sondern den Erfolg der Konzerngruppe, wie er sich häufig im Ergebnis der Muttergesellschaft widerspiegelt, in den Blick nehmen.
VI. Resümee Wir halten die Entscheidung des OLG München, die von einer starken Einschränkung der Zulässigkeit variabler Vergütungsbestandteile im faktischen Konzern, die sich am Konzern bzw. der Muttergesellschaft orientieren, ausgeht, aus einer ganzen Reihe von Gründen für unzutreffend: Es ist bereits zweifelhaft, ob von solchen Bestimmungen tatsächlich eine nennenswerte Gefahr ausgehen kann, dass der Vorstand einer Tochtergesellschaft dazu verleitet wird, seine eigene Gesellschaft zugunsten der Muttergesellschaft zu schädigen. Die auf die Muttergesellschaft bezogenen Anreize oder grundsätzlich bei Drittvergütungen im Konzern bestehende Gefahr von Interessenkonfl ikten wurden vom Gesetzgeber gesehen. Dennoch hat der Gesetzgeber in § 192 Abs. 2 Nr. 3 AktG die Möglichkeit entsprechender Drittvergütungen anerkannt und in §§ 285, 314 HGB lediglich die Offenlegung von solchen Drittvergütungen im Konzern gefordert. Auch sind Vorstandsdoppelmandate bei der Tochtergesellschaft und der Muttergesellschaft zulässig. Selbst wenn man davon ausgehen wollte, dass die Incentivierung des Vorstands der Tochter-AG auf das Interesse der Konzernmutter eine nachhaltige Einflussnahme auf die Tochtergesellschaft sei, so ist eine solche Einflussnahme im faktischen Konzern unter den Voraussetzungen der §§ 311 ff. AktG zulässig. Damit ist ein hinreichender Schutz der Interessen der Minderheitsgesellschafter und der Gläubiger gewährleistet, so dass es eines darüber hinausgehenden Schutzes durch ein Verbot der Incentivierung mit Blick auf Gruppenziele nicht bedarf.
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Vorstandspflichten bei der Vergabe von Krediten an die Muttergesellschaft im faktischen Aktienkonzern nach „MPS“ Inhaltsübersicht I. Einleitung II. Pfl ichten und Haftung der Vorstandsmitglieder bei der Kreditvergabe 1. Ausgangspunkt: Die Darlehensvergabe als Nachteil i. S. v. § 311 AktG a) Die Anwendung des Nachteilsbegriffs bei „MPS“ b) Kritische Würdigung und Formulierung des Ausgangspunkts 2. Pfl ichten und Haftung der Vorstandsmitglieder der Muttergesellschaft a) Einführung b) Pfl ichten bei der Vergabe echter Darlehen aa) Pfl icht zur Legalitätskontrolle und Business Judgment bb) Pfl ichten aus § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG cc) Insbesondere: Keine Inkaufnahme unangemessener Risiken
(1) Risiken bei der Vergabe aufsteigender Darlehen (2) Risikobegrenzung durch Einrichtung eines Risikokontrollsystems dd) Zwischenfazit c) Besonderheiten beim CashPooling d) Haftungsfolgen für den Muttervorstand 3. Pfl ichten und Haftung der Vorstandsmitglieder der Tochtergesellschaft III. Pfl ichten und Haftung der Vorstandsmitglieder im Zeitraum nach der Kreditvergabe 1. Ausgangspunkt: Fortbestehende Kontrollpfl ichten im Zeitraum nach der Kreditvergabe 2. Haftung des Muttervorstands 3. Haftung des Tochtervorstands IV. Zusammenfassung in Thesen
I. Einleitung Bei der rechtlichen Beurteilung von Krediten der Tochtergesellschaft an das Mutterunternehmen, auch im Rahmen eines Cash-Pools, hat lange Zeit das Kapitalerhaltungsrecht im Vordergrund gestanden und hier namentlich die aus dem berühmten „November-Urteil“ des BGH1 für das Aktienrecht folgenden Konsequenzen. Ausgehend von der These, dass das GmbH-rechtliche Ausschüttungsverbot in der Krise auch Liquiditätsschutz gewähre, hatte der II. Senat im Jahre 2003 die Vergabe von Darlehen einer GmbH an ihre Gesellschafter von äußerst strengen, in der Praxis kaum einzuhaltenden Voraussetzungen abhängig gemacht, was eine Vielzahl von meist kritischen Stellungnahmen
1 BGHZ 157, 72.
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im Schrifttum auslöste2. Die Praxis sorgte sich insbesondere darum, dass das konzernweite Cash-Pooling in den Sog dieser Entscheidung geraten könnte 3. Seit dem Inkrafttreten des MoMiG im November 2008 ist die „NovemberDoktrin“ indessen Schnee von gestern; denn nach § 57 Abs. 1 Satz 3 AktG n. F. kommt es für das Ausschüttungsverbot nur mehr darauf an, dass der gegen die Mutter gerichtete Rückzahlungsanspruch im Zeitpunkt der Darlehensgewährung vollwertig ist, womit der Gesetzgeber den Rechtszustand wiederherstellen möchte, der „bis zum November 2003 problemlos anerkannt war“4. Diesen Schritt hat auch der II. Senat in seiner schon kurz nach Inkrafttreten des MoMiG ergangenen „MPS-Entscheidung“5 nachvollzogen und darüber hinaus erklärt, die strenge „November“-Rechtsprechung künftig auch auf Altfälle nicht mehr anwenden zu wollen6. Hierfür ist er schon in vielen Urteilsrezensionen zu Recht gelobt worden7, was seine Feststellung einschließt, dass die Vollwertigkeit des Rückzahlungsanspruchs nicht dessen Besicherung erfordert, sofern im Zeitpunkt der Darlehensgewährung kein Zweifel an der Bonität der Muttergesellschaft bestand. Nicht hiervon soll indessen in der folgenden Abhandlung zu Ehren des Jubilars die Rede sein, betrachtet werden sollen vielmehr ausschließlich konzernrechtliche Fragen, und zwar sowohl bei Darlehensgewährung als auch in der Phase danach. Der II. Senat hat sich hinsichtlich des ersten Anknüpfungspunkts mit dem Nachteilsbegriff beschäftigt und allein die Durchführungsphase unter dem Aspekt der Vorstandspfl ichten gewürdigt: Die Organwalter der Tochtergesellschaft seien zur Einrichtung und Durchführung von Risikokontrollvorkehrungen verpfl ichtet, um sich andeutende Bonitätsverschlechterungen bei der Muttergesellschaft so rechtzeitig zu identifi zieren, dass der Rückzahlungsanspruch – ggf. nach Ausübung eines besonderen, hierfür vorgesehenen Kündigungsrechts – noch wirksam geltend gemacht und bedient werden könne8. Diese Unterscheidung verschleiert ein wenig, dass es bei Lichte besehen in allen Phasen, also bei Darlehensgewährung ebenso wie danach, um korrespondierende Pfl ichten der Organwalter geht, und zwar sowohl aus Sicht der Mutter- wie auch der 2 Mit kritischer oder ablehnender Tendenz etwa J. Vetter, BB 2004, 1509; Cahn, Der Konzern 2004, 235; Helmreich, GmbHR 2004, 457; Schilmar, DB 2004, 1411; Wessels, ZIP 2004, 793; Bähr/Hoos, GmbHR 2004, 304; Heidenhain, LMK 2004, 68; Reiner/ Brakemeier, BB 2005, 1458. 3 Ob die Aussagen der Entscheidung auf das Cash-Pooling übertragbar waren, war freilich umstritten; vgl. aus der umfangreichen Literatur etwa Ulmer, ZHR 169 (2005), 1, 4 f.; C. Schäfer, GmbHR 2005, 133, 136 ff.; Hahn, Der Konzern 2004, 641, 643 ff. einerseits sowie Reidenbach, WM 2004, 1421, 1423 ff.; Fuhrmann, NZG 2004, 552, 553 ff.; Langner/Mentgen, GmbHR 2004, 1121, 1122 ff. andererseits. 4 So der Regierungsentwurf zum MoMiG, BT-Drucksache 16/6140, 41. 5 BGHZ 179, 71. 6 BGHZ 179, 71, 78, Rz. 12. 7 Zustimmend oder ohne Äußerung von Kritik etwa Keil, DZWIR 2009, 198, 199; Blasche, EWiR 2009, 129, 130; von Falkenhausen/Kocher, BB 2009, 121, 121 f.; Mülbert/ Leuschner, NZG 2009, 281, 287 f.; Kropff, NJW 2009, 814, 814; Schaefer/Steinmetz, WuB II A § 311 AktG 1.09; mit Einschränkungen zustimmend auch Habersack, ZGR 2009, 347, 350 ff. (Kritik an der Begründung des BGH); Bayer, LMK 2009, 275577 (Übertragbarkeit auf Altfälle zweifelhaft); Altmeppen, ZIP 2009, 49, 49 f. (mit rechtspolitischer Kritik an der gesetzlichen Regelung). 8 BGHZ 179, 71, 79, Rz. 14.
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Tochtergesellschaft. Sie sollen hier der besseren Übersichtlichkeit wegen am Beispiel des Aktienkonzerns für beide Phasen als eine Art Baukastensystem entwickelt werden. Das schließt jeweils einen Blick auf die Haftungsrisiken der an der Kreditvergabe beteiligten Vorstandsmitglieder der Mutter- und der Tochtergesellschaft ein.
II. Pfl ichten und Haftung der Vorstandsmitglieder bei der Kreditvergabe 1. Ausgangspunkt: Die Darlehensvergabe als Nachteil i. S. v. § 311 AktG Wie das „MPS-Urteil“ vor Augen geführt hat, wird das Konzernrecht künftig eine zentrale Rolle bei der Beurteilung von Tochter-Darlehen an die Mutter spielen. Im faktischen Aktienkonzern geht es also zunächst um § 311 AktG, der es dem herrschenden Unternehmen (vorbehaltlich eines Ausgleichs) untersagt, eine Tochtergesellschaft zu nachteiligen Maßnahmen zu veranlassen. Stellt die Darlehensvergabe für die Tochter einen Nachteil dar, so dürfen die Vorstandsmitglieder der Mutter das Darlehen grundsätzlich nicht verlangen; die Vorstandsmitglieder der Tochter dürfen es nicht gewähren. Umgekehrt ist die Veranlassung zur Vergabe des Darlehens unbedenklich, wenn die Tochter keinen Nachteil erleidet. Wann also ist die Vergabe eines „aufsteigenden“ Darlehens für die Tochter nachteilig? a) Die Anwendung des Nachteilsbegriffs bei „MPS“ Der II. Senat hatte diese Frage in einem Fall zu beantworten, bei dem die Tochter-AG ihrer Muttergesellschaft über mehrere Jahre hinweg insgesamt 25 unbesicherte Einzeldarlehen mit einem Gesamtvolumen in zweistelliger Millionenhöhe gewährt hatte. An der Kreditwürdigkeit der Mutter bestand bei Ausreichung der Darlehen keinerlei Zweifel. Die Tochter durfte das unbefristete Darlehen jederzeit zum Monatsende kündigen. Einige Jahre später wurde die Mutter insolvent, so dass die Tochter mit ihrer Rückzahlungsforderung ausfiel. Gestritten wurde um die Haftung der an der Darlehensvergabe beteiligten Organwalter 9. Der Senat folgte insoweit im Ansatz dem herrschenden Nachteilsbegriff, wonach die Tochtergesellschaft erstens zu einem Verhalten veranlasst werden muss, das ein ordentlicher und gewissenhafter Geschäftsleiter einer unabhängigen Gesellschaft nicht vorgenommen hätte, und zweitens hierdurch die Minderung oder eine konkrete Gefährdung der Vermögens- und Ertragslage der Gesellschaft eingetreten ist10. Er neigte dazu, die erste Voraussetzung zu bejahen. Es sei kaum anzunehmen, dass eine unabhängige Gesellschaft, die sonst nicht mit Kreditgeschäften befasst sei, ihrem Gesellschafter 9 Näher zum Sachverhalt BGHZ 179, 71, 72 ff., Rz. 1 bis 3. 10 Vgl. BGHZ 179, 71, 75 f., Rz. 8 f. Aus der Literatur vgl. nur Fleischer in Fleischer (Hrsg.), Handbuch des Vorstandsrechts, 2006, § 18 Rz. 76; Krieger in MünchHdb. GesR, Bd. 4, 3. Aufl. 2007, § 69 Rz. 78; H.-F. Müller in Spindler/Stilz, 2007, § 311 AktG Rz. 27 f.; Habersack in Emmerich/Habersack, Aktien- und GmbH-Konzernrecht, 6. Aufl. 2010, § 311 AktG Rz. 39 f.; E. Vetter, ZHR 171 (2007), 342, 353; Lutter in FS Peltzer, 2001, S. 241, 244 ff.
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Darlehen gewähre; allerdings sei zweifelhaft, ob die Vergleichsbetrachtung bei konzerninternen Kreditgeschäften überhaupt in Betracht komme11. Letztlich kam es hierauf aber nach Ansicht des Senats nicht entscheidend an, weil jedenfalls keine konkrete Gefährdung der Vermögens- und Ertragslage der Tochter eingetreten sei. Die fehlende Besicherung der Darlehen als solche bedeute schon deshalb keinen Nachteil i. S. d. § 311 AktG, weil auch der erst innerhalb eines Jahres zu erfüllende Ausgleichsanspruch nicht zwingend zu besichern sei12. Hinzu komme, dass § 311 AktG eine Privilegierung gegenüber dem Ausschüttungsverbot des § 57 AktG bewirke13. Ein Rechtsgeschäft, das keine unzulässige Ausschüttung i. S. v. § 57 AktG bewirkt, so ist der Senat wohl zu verstehen14, kann auch nicht nachteilig i. S. d. § 311 AktG sein. Anderenfalls wäre jedenfalls nicht recht verständlich, warum es im vorliegenden Kontext darauf ankommen soll, dass bei Vollwertigkeit der Rückzahlungsforderung die Darlehensgewährung wegen § 57 Abs. 1 Satz 3 AktG mit dem Gebot der Kapitalerhaltung vereinbar ist15. Diese Voraussetzung war deshalb erfüllt, weil die Bonität der Muttergesellschaft zum Zeitpunkt der Darlehensgewährung außer Zweifel stand und der Rückzahlungsanspruch der Tochter folglich zum Nennwert bilanziert werden konnte16. Im Ergebnis hat der Senat deshalb auch das Vorliegen eines Nachteils abgelehnt. b) Kritische Würdigung und Formulierung des Ausgangspunkts Obwohl vieles dafür spricht, dass der BGH den Fall im Ergebnis richtig entschieden hat, gibt die Begründung in Hinblick auf die Anwendung des Nachteilsbegriffs Anlass zu Kritik. Hinsichtlich der ersten Voraussetzung ist festzustellen, dass es für die Vergleichsbetrachtung nach richtiger Ansicht nicht darauf ankommt, ob ein ordentlicher und gewissenhafter Geschäftsleiter einer unabhängigen Gesellschaft an der Stelle der Tochtergesellschaft das in Frage stehende Geschäft getätigt hätte, sondern ob er es hätte vornehmen dürfen17. Dies lässt sich auch bei konzerninternen Darlehen und sonstigen Geschäften beurteilen, mit denen eine unabhängige Gesellschaft gewöhnlich nicht befasst wäre. Denn ob ein ordentlicher und gewissenhafter Geschäftsleiter ein bestimmtes Geschäft tätigen darf oder nicht, ist anhand von objektiven Kriterien zu entscheiden, die seit der Einführung der Business Judgment Rule des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG auch im Gesetzestext zum Ausdruck kommen.
11 BGHZ 179, 71, 75 f., Rz. 9. 12 BGHZ 179, 71, 76 f., Rz. 11 unter Bezugnahme auf Habersack in Emmerich/Habersack (Fn. 10), § 311 AktG Rz. 47 und Habersack/Schürnbrand, NZG 2004, 689, 693. 13 BGHZ 179, 71, 77 f., Rz. 12. 14 So auch Kropff, NJW 2009, 814, 816; vgl. im Übrigen die Ausführungen des Senatsvorsitzenden Goette, DStR 2009, 2602, 2604. Wörtlich heißt es bei BGHZ 179, 71, 78, Rz. 12, dass im Rahmen der §§ 311, 317 f. AktG „keine strengeren Maßstäbe gelten“ können als im Rahmen des § 57 AktG. 15 So BGHZ 179, 71, 78, Rz. 13. 16 Dies hatte der BGH jedenfalls aus revisionsrechtlichen Gründen zu unterstellen; BGHZ 179, 71, 79 f., Rz. 16. 17 Deutlich Koppensteiner in KölnKomm. AktG, 3. Aufl. 2004, § 317 AktG Rz. 14; vgl. auch Altmeppen in MünchKomm. AktG, 3. Aufl. 2010, § 311 AktG Rz. 191 f.
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Vorstandspflichten bei der Vergabe von Krediten nach „MPS“
Auch die Ausführungen zum Verhältnis zwischen § 311 AktG und § 57 AktG vermögen nicht vollends zu überzeugen. Zwar entspricht es gefestigter (und zutreffender) h. M.18, dass § 311 AktG eine Privilegierung gegenüber § 57 AktG insofern darstellt, als § 311 AktG unter bestimmten Voraussetzungen Geschäfte gestattet, die bei einer unverbundenen Gesellschaft unter das Ausschüttungsverbot des § 57 AktG fielen. Daraus lässt aber nicht der Umkehrschluss ziehen, dass ein Nachteil bei allen Geschäften ausgeschlossen ist, die keine verbotene Vermögensrückgewähr i. S. v. § 57 AktG darstellen19. Verkauft etwa die Mutter ihrer Tochter einen Vermögensgegenstand zum Marktpreis, der für die Tochter subjektiv nutzlos ist und der (wegen gesetzlicher Beschränkungen, Marktenge oder dergleichen) nicht ohne Weiteres sogleich wieder veräußert werden kann, so liegt zwar kein Verstoß gegen § 57 AktG vor. Denn die Tochtergesellschaft erhält für ihre Zahlung eine vollwertige Gegenleistung. Gleichwohl ist das Geschäft nachteilig i. S. v. § 311 AktG, weil ein ordentlicher und gewissenhafter Geschäftsleiter einer unabhängigen Gesellschaft sich auf dergleichen gewiss nicht hätte einlassen dürfen und die Vermögenslage der Tochtergesellschaft sich hierdurch zweifellos verschlechtert hat. Richtigerweise ist für die Nachteiligkeit eines „aufsteigenden“ Darlehens deshalb erstens zu prüfen, ob ein ordentlicher und gewissenhafter Geschäftsleiter einer unabhängigen Gesellschaft das betreffende Darlehen hätte gewähren dürfen, und zwar am Maßstab des § 93 Abs. 1 AktG. Falls dies zu bejahen ist, scheidet die Nachteilhaftigkeit schon aus diesem Grund aus. Umgekehrt bedeutet es ein starkes Indiz für das Vorliegen eines Nachteils, wenn der Geschäftsleiter einer unabhängigen Gesellschaft das Darlehen nicht hätte ausreichen dürfen. Zwar ist sodann zweitens noch zu festzustellen, dass die Vermögens- oder Ertragslage der abhängigen Gesellschaft gemindert oder konkret gefährdet ist; dies wird indessen regelmäßig der Fall sein. Denn sorgfaltswidriges Verhalten hat typischerweise zumindest eine Gefährdung des Gesellschaftsvermögens zur Folge20. Der Schwerpunkt der Prüfung liegt daher regelmäßig auf dem ersten Element. Hiervon ausgehend können nunmehr die Organpfl ichten der an der Darlehensvergabe beteiligten Vorstandsmitglieder im Einzelnen entwickelt werden.
18 Koppensteiner in KölnKomm. AktG (Fn. 17), § 311 AktG Rz. 161; Hüffer, 9. Aufl. 2010, § 311 AktG Rz. 49; H.-F. Müller in Spindler/Stilz (Fn. 10), § 311 AktG Rz. 63; Habersack in Emmerich/Habersack (Fn. 10), § 311 AktG Rz. 82; Habersack/Schürnbrand, NZG 2004, 689, 691 f.; Henze, BB 1996, 489, 498 f.; Michalski, AG 1980, 261, 264 f.; Wimmer-Leonhardt, Konzernhaftungsrecht, 2004, S. 130 ff.; Strohn, Die Verfassung der Aktiengesellschaft im faktischen Konzern, 1977, S. 24 ff.; einschränkend Bayer in FS Lutter, 2000, S. 1011, 1030 f.; abweichend auch Altmeppen, Die Haftung des Managers im Konzern, 1998, S. 57 ff.; Altmeppen, ZIP 1996, 693, 697 f.; Cahn, Kapitalerhaltung im Konzern, 1998, S. 64 ff. 19 Ebenso Kropff, NJW 2009, 814, 815 f.; Mülbert/Leuschner, NZG 2009, 281, 285; Schaefer/Steinmetz, WuB II A § 311 AktG 1.09. 20 Deutlich Koppensteiner in KölnKomm. AktG (Fn. 17), § 311 AktG Rz. 50.
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2. Pfl ichten und Haftung der Vorstandsmitglieder der Muttergesellschaft a) Einführung Wie vorstehend beschrieben, sind die Vorstandsmitglieder der herrschenden Gesellschaft verpfl ichtet, bei der abhängigen Gesellschaft Nachteile zu vermeiden. Falls der Kredit an ihre Mutter für die Tochter nachteilig ist, so soll es nach verbreiteter Auffassung nicht ausreichen, dass dieser Nachteil binnen Jahresfrist ausgeglichen wird; vielmehr müsse das nachteilige Darlehen jeweils sofort zurückgezahlt werden 21. Das soll hier nicht vertieft werden, sondern als Hypothese vorausgeschickt werden. Es ist also festzustellen, dass sich ein Haftungsrisiko für die Vorstandsmitglieder der Mutter nur ausschließen lässt, wenn die Nachteiligkeit des Kredits für die Tochter von vornherein vermieden wird. Die Darlehensgewährung muss also, wie eben gesehen, mit den Organpfl ichten eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters gemäß § 93 AktG vereinbar sein, wenn man statt der Tochtergesellschaft von einer unabhängigen Gesellschaft ausgeht. Diese Pfl ichten werden im Folgenden zunächst für die Veranlassung eines echten Darlehens erläutert (unter b)); anschließend soll kurz auf die Besonderheiten beim Cash-Pooling eingegangen werden (unter c)). Ein Hinweis auf die Konsequenzen etwaiger Pfl ichtverstöße (unter d)) rundet das Bild insoweit ab. b) Pfl ichten bei der Vergabe echter Darlehen aa) Pfl icht zur Legalitätskontrolle und Business Judgment § 93 Abs. 1 AktG verpfl ichtet die Vorstandsmitglieder einer unverbundenen Gesellschaft zur Legalität22; rechtswidriges Verhalten ist also – von wenigen und umstrittenen Ausnahmen abgesehen 23 – stets auch sorgfaltspfl ichtwidrig. Ein Rechtsverstoß kann sich bei Kreditvergabe an die Mutter namentlich aus § 57 AktG ergeben, sofern der Rückzahlungsanspruch nicht vollwertig ist24. Denn der Vorstand einer unverbundenen Gesellschaft dürfte ein solches Darlehen nicht ausreichen (vgl. § 93 Abs. 3 Nr. 1 AktG), so dass für die Tochtergesellschaft ein Nachteil entstünde. Im Zeitpunkt der Darlehensgewährung müssen
21 Mülbert/Leuschner, NZG 2009, 281, 286; J. Vetter in K. Schmidt/Lutter (Hrsg.), 2008, § 311 AktG Rz. 56; vgl. auch Habersack in Emmerich/Habersack (Fn. 10), § 311 AktG Rz. 62a; Habersack, ZGR 2009, 347, 357 f., der alternativ aber eine sofortige Besicherung genügen lassen will. 22 Ganz h. M., vgl. nur Hopt in Großkomm. AktG, 4. Aufl. 1999, § 93 AktG Rz. 98 f.; Mertens/Cahn in KölnKomm. AktG, 3. Aufl. 2010, § 93 AktG Rz. 66; Krieger/Sailer in K. Schmidt/Lutter (Fn. 21), § 93 AktG Rz. 6; Raiser/Veil, Recht der Kapitalgesellschaften, 5. Aufl. 2010, § 14 Rz. 78 ff.; Paefgen, Unternehmerische Entscheidungen und Rechtsbindung der Organe in der AG, 2002, S. 17 ff.; Heermann, ZIP 1998, 761, 762 f.; Schlechtriem in Kreuzer (Hrsg.), Die Haftung der Leitungsorgane von Kapitalgesellschaften, 1991, S. 9, 20 ff. 23 Dazu ausführlich Fleischer, ZIP 2005, 141, 148 ff.; vgl. ferner Lutter, ZIP 2007, 841, 843 f.; Hopt in Großkomm. AktG (Fn. 22), § 93 AktG Rz. 100 ff.; Mertens/Cahn in KölnKomm. AktG (Fn. 22), § 93 AktG Rz. 71 ff. 24 Daran, dass § 57 AktG verletzt wird, wenn der Rückgewähranspruch nicht vollwertig ist, hat das MoMiG nichts geändert, vgl. dazu die Entwurfsbegründung, BT-Drucks. 16/6140, 41.
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die Vorstandsmitglieder der Mutter folglich die Vollwertigkeit des Rückzahlungsanspruchs überprüfen. Dies ist, wie die Bewertung von Forderungen aus Drittgeschäften im Rahmen der Bilanzierung (§ 253 HGB), mit kaufmännischer Vernunft zu beurteilen 25. Selbst wenn danach an der Vollwertigkeit des Anspruchs kein vernünftiger Zweifel besteht und die Darlehensvergabe somit „legal“ ist, müssen die Vorstände aber zusätzlich die Business Judgment Rule (§ 93 Abs. 1 Satz 2 AktG) beachten, weil es sich bei der Entscheidung über eine Darlehensvergabe zweifellos um eine unternehmerische handelt26. Hieraus ergeben sich weitere Pfl ichten der Vorstandsmitglieder. bb) Pfl ichten aus § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG Das Pflichtenprogramm des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG sieht bekanntlich zunächst vor, dass sich die Vorstandsmitglieder eine angemessene Informationsgrundlage verschaffen 27. Bei der Entscheidung über die Vergabe eines aufsteigenden Darlehens müssen dafür namentlich Daten über die Situation der beteiligten Gesellschaften ermittelt werden. Erforderlich sind sowohl Planungsdaten der darlehensgebenden Tochtergesellschaft, aus denen sich ergibt, dass diese die abfließende Liquidität zeitweise entbehren kann, als auch Daten über die fi nanzielle Lage der darlehensnehmenden Muttergesellschaft, die eine sachgerechte Einschätzung des Kreditrisikos erlauben. Sodann muss die Entscheidung im Gesellschaftsinteresse liegen 28, wobei es im hier interessierenden Kontext aufgrund der hypothetischen Betrachtung freilich auf das Interesse der Tochtergesellschaft ankommt. Diese wird an der Ausreichung eines aufsteigenden Darlehens typischerweise nur dann interessiert sein, wenn sie über genügend überschüssige, nicht anderweitig benötigte Liquidität verfügt und die herrschende Gesellschaft einen angemessenen (in der Regel also zumindest marktüblichen) Darlehenszins zahlt29. Nur unter diesen Voraussetzungen kann mithin regelmäßig davon ausgegangen werden, dass das Geschäft nicht nachteilig ist. Ferner impliziert dieses Merkmal aber auch, dass die Entscheidung nicht durch gesellschaftsfremde (Dritt-)Interessen motiviert
25 Insoweit zutreffend BGHZ 179, 71, 78, Rz. 13. 26 Näher zum Begriff der unternehmerischen Entscheidung vgl. nur C. Schäfer, ZIP 2005, 1253, 1255 ff.; Fleischer in Spindler/Stilz (Fn. 10), § 93 AktG Rz. 63 ff.; Hopt/ Roth in Großkomm. AktG, 4. Aufl. 2006, § 93 Abs. 1 S. 2, 4 AktG nF Rz. 15 ff.; Lutter, ZIP 2007, 841, 843 f.; Semler in FS Ulmer, 2003, S. 627, 627 ff.; Sven H. Schneider, DB 2005, 707, 707 ff. 27 Näher C. Schäfer, ZIP 2005, 1253, 1257 f.; Fleischer (Fn. 10), § 7 Rz. 58 f.; Lutter, ZIP 2007, 841, 844 f.; Hopt/Roth in Großkomm. AktG (Fn. 26), § 93 Abs. 1 S. 2, 4 AktG nF, Rz. 44 ff. 28 Spindler in MünchKomm. AktG, 3. Aufl. 2008, § 93 AktG Rz. 54; Fleischer in Spindler/Stilz (Fn. 10), § 93 AktG Rz. 66 f.; Koch, ZGR 2006, 769, 790 f.; Brömmelmeyer, WM 2005, 2065, 2067 f. 29 Altmeppen in MünchKomm. AktG (Fn. 17), § 311 AktG Rz. 256; H.-F. Müller in Spindler/Stilz (Fn. 10), § 311 AktG Rz. 42; Habersack in Emmerich/Habersack (Fn. 10), § 311 AktG Rz. 47a; Krieger in MünchHdb. GesR (Fn. 10), § 69 Rz. 61; Altmeppen, ZIP 2009, 49, 52; Mülbert/Leuschner, NZG 2009, 281, 284.
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sein darf30. Abzustellen ist daher nicht etwa auf das Interesse der Mutter oder anderer Konzerngesellschaften, mithin ein wie immer zu defi nierendes Konzerninteresse; vielmehr ist allein auf die Perspektive der darlehensgebenden Tochtergesellschaft abzustellen. cc) Insbesondere: Keine Inkaufnahme unangemessener Risiken (1) Risiken bei der Vergabe aufsteigender Darlehen Von besonderer, auch in der „MPS-Entscheidung“ hervorgehobener Bedeutung für die Darlehensvergabe ist das aus § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG folgende Verbot, unangemessene Risiken einzugehen31. Ihm dürfte sogar regelmäßig die ausschlaggebende Bedeutung zukommen. Im Ausgangspunkt ist selbstverständlich das mit jedem Darlehen verbundene Kreditrisiko nicht als solches „unverhältnismäßig“, zumal wenn der Kredit zu banküblichen Konditionen gewährt wird. Oftmals, wenn nicht typischerweise bleiben allerdings konzerninterne Darlehen weit hinter banküblichen Konditionen zurück. Erstens werden Kredite zwischen Mutter- und Tochtergesellschaft in der Konzernpraxis üblicherweise nicht oder nicht vollständig besichert 32. Dies wäre für den Geschäftsleiter einer unabhängigen Gesellschaft möglicherweise noch hinnehmbar, sofern der Kreditnehmer hinreichend solvent ist, das Darlehen kurzfristig gekündigt werden kann und sich das Kreditvolumen in Grenzen hält. Bei längerfristigen Darlehen in erheblicher Höhe stellt indessen der Verzicht auf Sicherheiten regelmäßig ein inadäquates Risiko dar, sofern er nicht anderweitig ausgeglichen wird (dazu sogleich, (2)). Demgemäß wird die Ausreichung ungesicherter Darlehen in der Literatur gelegentlich als typisches Beispiel für ein unangemessen riskantes Geschäft i. S. d. Business Judgment Rule genannt 33. Zweitens wird oftmals ein Großteil der verfügbaren Liquidität der Tochter darlehensweise an die Mutter abgeführt 34. Hieraus resultiert für die Tochter ein „Klumpenrisiko“, weil etwaige Rückzahlungsschwierigkeiten der Muttergesellschaft schon nach kurzer Zeit unweigerlich in eine fi nanzielle Schieflage der Tochter münden. Der pfl ichtgemäß handelnde Geschäftsleiter einer unabhängigen Gesellschaft dürfte ein solches Risiko kaum eingehen35.
30 Fleischer (Fn. 10), § 7 Rz. 57; Landwehrmann in Heidel (Hrsg.), Aktienrecht und Kapitalmarktrecht, 2. Aufl. 2007, § 93 AktG Rz. 93; Koch, ZGR 2006, 769, 790; vgl. auch Krieger/Sailer in K. Schmidt/Lutter (Fn. 21), § 93 AktG Rz. 15. 31 Spindler in MünchKomm. AktG (Fn. 28), § 93 AktG Rz. 50 f.; Krieger/Sailer in K. Schmidt/Lutter (Fn. 21), § 93 AktG Rz. 13; Landwehrmann in Heidel (Fn. 30), § 93 AktG Rz. 97; Lutter, ZIP 2007, 841, 845; Brömmelmeyer, WM 2005, 2065, 2069. 32 So Krieger in MünchHdb. GesR (Fn. 10), § 69 Rz. 62; Jula/Breitbarth, AG 1997, 256, 260, deren Aussage im Übrigen durch den „MPS-Fall“ bestätigt wird. 33 Fleischer (Fn. 10), § 7 Rz. 65 f.; Lutter, ZIP 2007, 841, 845; Brömmelmeyer, WM 2005, 2065, 2069. Vgl. ferner mit Blick auf den Nachteilsbegriff des § 311 AktG Hüffer, AG 2004, 416, 419; Jula/Breitbarth, AG 1997, 256, 260; H.-F. Müller in Spindler/Stilz (Fn. 10), § 311 AktG Rz. 42. 34 Zu Recht weist Kropff, NJW 2009, 814, 815 darauf hin, dass dies im „MPS-Fall“ mit einiger Wahrscheinlichkeit der Fall war. 35 Kropff, NJW 2009, 814, 815.
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(2) Risikobegrenzung durch Einrichtung eines Risikokontrollsystems Selbst wenn die eben beschriebenen Risiken bei Hingabe des Darlehens bestehen, folgt hieraus noch nicht zwangsläufig auch dessen Nachteiligkeit. Vielmehr wird seit langem mit Recht darauf hingewiesen, dass das Risiko der darlehensgebenden Gesellschaft durch Einführung eines Risikokontrollsystems derart reduziert werden kann36, dass auch ein gewissenhafter Geschäftsleiter einer unverbundenen Gesellschaft das Darlehen ausreichen dürfte. Das Kontrollsystem muss hierfür allerdings gewisse Mindestanforderungen erfüllen, die hier nur angedeutet werden können. Sie ergeben sich aus dem Ziel, den Ausfall der Darlehensforderung der Tochter zu verhindern. Diese muss daher das Darlehen bereits zurückverlangen können, bevor die Muttergesellschaft in krisenbedingte Rückzahlungsschwierigkeiten gerät. Dies erfordert einerseits ausreichende Informationen über die Situation der Muttergesellschaft, andererseits ein frühzeitig eingreifendes Kündigungsrecht 37. Hinsichtlich der Verschaffung ausreichender Informationen ist zunächst zu berücksichtigen, dass die Tochtergesellschaft nur über begrenzte gesetzliche Möglichkeiten verfügt, um sich über die Verhältnisse der Muttergesellschaft zu informieren. Uneingeschränkten Zugriff hat sie lediglich auf Daten, die von der Muttergesellschaft im Rahmen ihrer handelsrechtlichen Publizitätspfl ichten (insbes. gemäß §§ 325 ff. HGB) veröffentlicht werden. Weitere Publizitätspfl ichten können sich im Einzelfall aus dem Börsen- und Kapitalmarktrecht ergeben (z. B. Ad-hoc Publizität gemäß § 15 WpHG, Berichte gemäß §§ 37v ff. WpHG usw.), sofern die Muttergesellschaft den organisierten Kapitalmarkt in Anspruch nimmt 38. Besondere konzernrechtliche Informationspfl ichten der Mutter bestehen nur in sehr beschränktem Maße. Das Gesetz kennt lediglich einzelne, situationsgebundene Auskunftsansprüche 39. Überwiegend abgelehnt wird hingegen ein allgemeiner Informationsanspruch der Tochter, von ihrer Mutter stets diejenigen Informationen zu verlangen, die sie zur sachgerechten Unternehmensleitung benötigt40. Er könnte seine Grundlage auch allein in der
36 Exemplarisch J. Vetter/Stadler, Haftungsrisiken beim konzernweiten Cash-Pooling, 2003, Rz. 194 ff.; J. Vetter in K. Schmidt/Lutter (Fn. 21), § 311 AktG Rz. 58; Krieger in MünchHdb. GesR (Fn. 10), § 69 Rz. 62; Hinweis auch bei Henze, WM 2005, 717, 726 (alle mit Bezug zum Cash-Pooling, auf das der vorliegende Beitrag unter II. 2. c) näher eingeht). 37 J. Vetter/Stadler (Fn. 36), Rz. 194 a. E. sowie Rz. 195 f. 38 Vgl. dazu Habersack, ZGR 2009, 347, 362. 39 Überblick bei S. Schneider, Informationspfl ichten und Informationssystemeinrichtungspfl ichten im Aktienkonzern, 2006, S. 166 ff. 40 Spindler, Unternehmensorganisationspfl ichten, 2001, S. 968 f.; S. Schneider (Fn. 39), S. 170 f.; Singhof, ZGR 2001, 146, 166 f.; knapper Hinweis auch bei Habersack, ZGR 2009, 347, 362; nur in eng begrenzten Konstellationen für eine Informationspfl icht der Muttergesellschaft auch Koppensteiner in KölnKomm. AktG (Fn. 17), § 311 AktG Rz. 153. Für relativ weit reichende Informationspfl ichten haben sich etwa Uwe H. Schneider in FS Lutter, 2000, S. 1193, 1202 ff.; Löbbe, Unternehmenskontrolle im Konzern, 2002, S. 373 ff. (insbesondere S. 376 f.) und Kropff in Geßler/Hefermehl/ Eckardt/Kropff (Begr.), AktG, 1975, § 311 AktG Rz. 52 ausgesprochen, wobei Letzterer seine Ansicht jedoch später deutlich enger formuliert hat; vgl. Kropff in MünchKomm. AktG, 2. Aufl. 2000, § 311 AktG Rz. 300.
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Treuepfl icht des Gesellschafters zu seiner Gesellschaft fi nden41, die hierfür, zumal im Aktienrecht, aber kaum geeignet erscheint. Insgesamt muss daher konstatiert werden, dass die vorhandenen gesetzlichen Mittel für eine sinnvolle Kontrolle des Kreditrisikos im Regelfall nicht ausreichen, jedenfalls, sofern die Muttergesellschaft keiner kapitalmarktrechtlichen Publizitätspfl icht unterliegt42. Deshalb muss ein funktionsfähiges Risikokontrollsystem adäquate vertragliche Auskunfts- und Berichtspflichten der Muttergesellschaft vorsehen. Die Intensität dieser Pfl ichten hängt insbesondere stark von Volumen und Kreditrisiko des von der Tochtergesellschaft ausgereichten Darlehens ab und lässt sich daher nur schwer allgemein umschreiben. In Betracht kommt insbesondere die Mutterpfl icht zur Erstattung regelmäßiger Lageberichte sowie zur Information der Tochter beim Auftreten atypischer, die Solvenz bedrohender Risikosituationen (z. B. Ausfall einer größeren Forderung, Drohen eines bedeutenden Passivprozesses, Unterschreitung von Ertrags- oder Cashflow-Kennzahlen oder Verfehlung von Planungen)43. Die zweite Komponente eines funktionstüchtigen Risikokontrollsystems sind rechtzeitig eingreifende Kündigungsrechte. Insoweit verfügt die Tochtergesellschaft zwar für den Fall der Gefährdung ihres Rückzahlungsanspruchs bereits kraft Gesetzes über das Kündigungsrecht gemäß § 490 Abs. 1 BGB. Dieses greift jedoch erst dann ein, wenn es infolge einer drohenden Verschlechterung der Vermögensverhältnisse des Darlehensnehmers zu einer akuten Ausfallgefährdung des Darlehens gekommen ist44. Erforderlich sind daher früher eingreifende vertragliche Kündigungsrechte, deren Voraussetzungen möglichst präzise zu umschreiben sind, weil der Vorstand der abhängigen Gesellschaft gegenüber der Mutter aufgrund seiner unterlegenen Position auf klare rechtliche Verhältnisse angewiesen ist, zumal der Druck auf den Tochtervorstand bei einer (drohenden) Krise der Muttergesellschaft besonders hoch sein wird45. dd) Zwischenfazit Sofern die unter aa) – cc) beschriebenen Pfl ichten beachtet werden und erforderlichenfalls ein Risikokontrollsystem eingerichtet wird, ist es ausgeschlossen, dass die Tochtergesellschaft einen Nachteil i. S. d. § 311 AktG erleidet; denn auch der pfl ichtgemäß handelnde Geschäftsleiter einer unverbundenen Gesellschaft dürfte in diesem Fall das Darlehen vergeben. Die Vorstandsmit41 Angedeutet bei Zöllner in FS Kropff, 1997, S. 331, 341; Zöllner, ZHR 162 (1998), 235, 238; ablehnend S. Schneider (Fn. 39), S. 170. 42 So auch Habersack, ZGR 2009, 347, 362, demzufolge bei börsennotierten Gesellschaften allerdings bereits die aufgrund der kapitalmarktrechtlichen Publizität verfügbaren Informationen für eine hinreichende Risikoanalyse genügen. 43 So die Empfehlung bei J. Vetter/Stadler (Fn. 36), Rz. 196 (Beispiele dort); ähnlich Hentzen, ZGR 2005, 480, 500 f. 44 K. Berger in MünchKomm. BGB, 5. Aufl. 2008, § 490 BGB Rz. 8; vgl. im Übrigen die Ausführungen bei Rohe in Bamberger/Roth (Hrsg.), 2. Aufl. 2008, § 490 BGB Rz. 7 f.; Weidenkaff in Palandt, 69. Aufl. 2010, § 490 BGB Rz. 6 f. 45 Plakativ J. Vetter/Stadler (Fn. 36), Rz. 239, wonach die Entscheidung zur Kreditkündigung „leicht einen existenzvernichtenden Eingriff in die persönliche Existenz bedeuten“ kann.
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glieder der Mutter können dann also die Tochter ohne eigenes Haftungsrisiko zur Darlehensvergabe veranlassen. Werden die genannten Pfl ichten hingegen nicht beachtet, so begründet dies regelmäßig einen Nachteil für die Tochter, so dass die Veranlassung gemäß § 311 AktG unzulässig und der Kredit sofort zurückzuzahlen ist. c) Besonderheiten beim Cash-Pooling Im Folgenden soll noch kurz auf die Frage eingegangen werden, welche Modifikationen beim Cash-Pooling hinsichtlich der unter b) beschriebenen Pfl ichten erforderlich sind. Hierbei werden die gesamten in einem Konzern verfügbaren Bankguthaben der Tochtergesellschaften tagesaktuell auf ein bei der Muttergesellschaft geführtes Zentralkonto überwiesen, von dem zugleich etwaige Fehlbeträge auf den Konten der angeschlossenen Konzerntöchter ausgeglichen werden. Im Ergebnis werden so sämtliche Konten der Tochtergesellschaften bankarbeitstäglich „auf Null gestellt“46. Die Liquidität der Tochter wird infolge des Cash-Pool-Vertrages also nicht mehr über ein eigenes Bankkonto abgewickelt, sondern über ein von der poolführenden Gesellschaft (Mutter oder Schwester) unterhaltenes Konto. Die Tochter erhält im Rahmen dieser Kontokorrentbeziehung jeweils in Höhe ihres Guthabens Rückgewähransprüche gegen die kontoführende Gesellschaft, die, weil ihre Fälligkeit systembedingt nicht von der Kündigungsfrist des § 488 Abs. 3 BGB abhängt, richtigerweise auf § 700 BGB zu stützen sind47. Zu unterscheiden ist demnach zwischen der in das Kontokorrent eingestellten Einzelforderung und dem durch die CashPool-Abrede begründeten Kontokorrentverhältnis als solchen sowie der damit verbundenen Verpflichtung der Tochter, ihre sämtliche Liquidität im Cash-Pool zur Verfügung zu stellen. Hieraus ergeben sich naturgemäß gewisse Unterschiede zum einfachen Darlehen. Namentlich ist es offensichtlich nicht erforderlich, dass die Tochter außerhalb des Cash-Pools über ausreichende Liquidität verfügt und einen für Darlehen marktüblichen Zins erhält48. Denn beim Cash-Pooling kann die Tochter jederzeit in voller Höhe über ihr Cash-Pool-Guthaben verfügen und darüber hinaus benötigte Liquidität durch einen Kontokorrentkredit beschaffen; der Cash-Pool sorgt also gerade für ausreichende Liquidität. Auch die Verzinsung braucht nicht derjenigen eines Darlehens zu entsprechen, zumal auch für ein Guthaben auf einem Bankgirokonto allenfalls ganz geringe Zinsen gezahlt werden, was wiederum mit der Liquidität des Guthabens und der Möglichkeit zusammenhängt, bei der konzerninternen „Bank“ kurzfristig Kredit in
46 Näher zur Funktionsweise (einschließlich der möglichen Varianten) J. Vetter/Stadler (Fn. 36), Rz. 5 ff.; Wehlen in Lutter/Scheffler/Uwe H. Schneider (Hrsg.), Handbuch der Konzernfi nanzierung, 1998, § 23 (insbesondere Rz. 23.28 ff.); Zeidler, Zentrales Cashmanagement in faktischen Aktienkonzernen, 1999, S. 7 ff.; knapper Überblick auch bei Reidenbach, WM 2004, 1421, 1423. 47 Str., dazu näher C. Schäfer, GmbHR 2005, 133, 137. 48 Siehe oben, II. 2. b) bb).
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Anspruch zu nehmen49. Erforderlich ist daher nur, dass sich die Vor- und Nachteile der Tochtergesellschaft bei einer Gesamtbetrachtung aller Umstände zumindest die Waage halten. Andererseits ist eine besonders effektive Risikokontrolle erforderlich. Denn mag die Tochter auch über ihr Guthaben sofort verfügen können, so bleibt hiervon doch ihre Teilnahmepfl icht am Cash-Pool unberührt. Üblicherweise überträgt die Tochter zudem ihre gesamten verfügbaren Mittel und geht deshalb ein besonders hohes „Klumpenrisiko“ ein, das überdies kaum durch vollwertige Sicherheiten ausgeglichen wird 50. Außerdem unterliegt die konzerninterne „Bank“ naturgemäß keiner Einlagensicherung. Schon in seiner „Bremer Vulkan“-Entscheidung51 hat der BGH deshalb mit Recht festgestellt, dass der Abschluss des Cash-Pool-Vertrages ein „besonderes Vertrauensverhältnis“ zwischen Mutter- und Tochtergesellschaft begründe, kraft dessen die Mutter verpflichtet sei, jederzeit die Liquidität der Tochtergesellschaft sicherzustellen. Sobald sich abzeichne, dass sie dazu nicht mehr in der Lage sei und es sich nicht bloß um einen vorübergehenden Liquiditätsmangel handele, habe die Muttergesellschaft ihre Tochter darauf aufmerksam zu machen und ihr Gelegenheit zu geben, ihre Mittel aus dem Cash-Pool abzuziehen52. Damit bestehen beim Cash-Pooling zwar auch ohne eine besondere Vereinbarung gewisse Informations- und Kontrollpfl ichten zwischen Mutter- und Tochtergesellschaft. Weil diese Pflichten in der „Bremer Vulkan“-Entscheidung jedoch nur relativ vage umrissen sind und zudem erst recht spät eingreifen, ist zur Vermeidung von Haftungsrisiken die Vereinbarung eines vertraglichen Risikokontrollsystems dringend empfehlenswert53, wenn nicht erforderlich. Auch hier bedarf es somit präziser Regelung, welche Informationen die am CashPool beteiligten Gesellschaften untereinander auszutauschen haben und unter welchen Umständen die Tochtergesellschaft berechtigt ist, ihre Teilnahme am Cash-Pool zu beenden54. Darüber hinaus ist die Dokumentation sämtlicher Zahlungsströme im Cash-Pool angezeigt55, was in der Praxis offenbar noch keineswegs durchgängig beachtet wird56.
49 So auch Altmeppen, ZIP 2009, 49, 52; Altmeppen in MünchKomm. AktG (Fn. 17), § 311 AktG Rz. 255; J. Vetter in K. Schmidt/Lutter (Fn. 21), § 311 AktG Rz. 58; a. A. Mülbert/Leuschner, NZG 2009, 281, 283. 50 J. Vetter/Stadler (Fn. 36), Rz. 7. Trotz dieses praktischen Befunds wird die Stellung von Sicherheiten in der Literatur teilweise gefordert, z. B. von Jula/Breitbarth, AG 1997, 256, 260; Hüffer, AG 2004, 416, 419 f. 51 BGHZ 149, 10. 52 BGHZ 149, 10, 18 f. 53 Ebenso J. Vetter in K. Schmidt/Lutter (Fn. 21), § 311 AktG Rz. 58 a. E. 54 Näher zur Ausgestaltung J. Vetter/Stadler (Fn. 36), Rz. 194 ff. 55 Vgl. nur Altmeppen in MünchKomm. AktG (Fn. 17), § 311 AktG Rz. 225 ff.; H.-F. Müller in Spindler/Stilz (Fn. 10), § 311 AktG Rz. 43; Habersack in Emmerich/Habersack (Fn. 10), § 311 AktG Rz. 48; J. Vetter/Stadler (Fn. 36), Rz. 190 ff. 56 Vgl. den Fall von OLG München, NZG 2006, 195 (weder klares schriftliches Vertragswerk noch Dokumentation der Zahlungsströme).
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d) Haftungsfolgen für den Muttervorstand Veranlasst der Muttervorstand die Tochter unter Verstoß gegen die beschriebenen Pfl ichten zur Ausreichung eines Darlehens (bzw. zur Teilnahme an einem Cash-Pool), so liegt darin regelmäßig eine nachteilige Veranlassung57. Sofern das Darlehen dann nicht sofort zurückgezahlt bzw. der Cash-Pool unverzüglich beendet wird, haften die an der Veranlassung beteiligten Mutter-Vorstandsmitglieder sowohl gegenüber der Muttergesellschaft, als auch gegenüber der Tochtergesellschaft auf Schadensersatz: Im Verhältnis zur Muttergesellschaft stellt der Verstoß gegen § 311 AktG eine Verletzung der Organpfl ichten gemäß § 93 Abs. 1 AktG dar58. Die Vorstandsmitglieder haften der Muttergesellschaft daher gemäß § 93 Abs. 2 AktG auf Schadensersatz. Weil der unmittelbare Schaden typischerweise nicht die Mutter-, sondern die Tochtergesellschaft treffen wird, handelt es sich um einen sog. „Reflexschaden“, der nach allgemeiner Ansicht durch Zahlung in das Vermögen der Tochtergesellschaft zu ersetzen ist59. Gegenüber der Tochter führt die Verletzung des § 311 AktG zur Haftung aus § 317 AktG; die Tochtergesellschaft hat gemäß § 317 Abs. 3 AktG einen eigenen, unmittelbar gegen die MutterVorstandsmitglieder gerichteten Schadensersatzanspruch. 3. Pfl ichten und Haftung der Vorstandsmitglieder der Tochtergesellschaft Aus den bisherigen Überlegungen lassen sich ohne größeren Aufwand die spiegelbildlichen Pflichten des Tochtervorstands ableiten. Denn Ausgangspunkt war die Erwägung, dass die Veranlassung zur Kreditvergabe nur dann pfl ichtgemäß ist, wenn der Tochter dabei kein Nachteil entsteht, wobei ein Nachteilsausgleich nur durch sofortige Rückgewähr des Darlehens bzw. Aufgabe des Cash-Pools gewährleistet werden könnte und deshalb praktisch keine Rolle spielt (siehe II. 2. a)). Der Nachteil ist (nur) auszuschließen, wenn die Darlehensausreichung mit den Organpfl ichten eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters einer unverbundenen Gesellschaft vereinbar ist (§ 93 Abs. 1 AktG), und das muss konsequentermaßen auch für den Tochtervorstand beachtlich sein. Dessen Pfl ichten sind folglich mit denen der Vorstandsmitglieder der Muttergesellschaft identisch. Sofern die Muttergesellschaft die Ausreichung eines Kredits veranlassen darf, dürfen die Tochter-Vorstandsmitglieder dem nachkommen; ist die Veranlassung dagegen unzulässig, haben sie die Kreditvergabe zu verweigern.
57 Etwas anderes würde nur dann gelten, wenn es trotz des Pfl ichtverstoßes nicht zu einer Gefährdung des Vermögens der Tochtergesellschaft käme. Dies dürfte aber – wie bereits oben unter II. 1. b) gesagt – ein Ausnahmefall sein. 58 Paefgen (Fn. 22), S. 21 ff., 24; Fleischer (Fn. 10), § 7 Rz. 4; Heermann, ZIP 1998, 761, 762 f. Näher zum hier interessierenden konzernrechtlichen Zusammenhang Fischbach, Die Haftung des Vorstands im Aktienkonzern, 2009, S. 49 ff. 59 Vgl. nur Hüffer (Fn. 18), § 93 AktG Rz. 19; Fleischer in Spindler/Stilz (Fn. 10), § 93 AktG Rz. 279; Hopt in Großkomm. AktG (Fn. 22), § 93 AktG Rz. 484 ff.; näher dazu Fischbach (Fn. 58), S. 92 ff.; im Ergebnis ebenso die gefestigte höchstrichterliche Rechtsprechung; BGH NZG 2005, 216, 216; BGH NZG 2003, 85, 85; BGHZ 129, 136, 165; BGH NJW 1988, 413, 415; BGH NJW 1987, 1077, 1079 f.; BGHZ 105, 121, 130 f.
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Verletzen die Tochter-Vorstandsmitglieder ihre Pfl ichten – etwa indem sie ein unangemessen gering verzinstes Darlehen an die Muttergesellschaft ausreichen oder darauf verzichten, die nach der konkreten Sachlage erforderlichen Vorkehrungen zur Kontrolle des Kreditrisikos zu vereinbaren – so haften sie der Tochtergesellschaft nach allgemeinen Grundsätzen gem. § 93 Abs. 2 AktG auf Ersatz des angerichteten Schadens. Aus der Konzernsituation ergeben sich insoweit keinerlei Besonderheiten.
III. Pfl ichten und Haftung der Vorstandsmitglieder im Zeitraum nach der Kreditvergabe 1. Ausgangspunkt: Fortbestehende Kontrollpfl ichten im Zeitraum nach der Kreditvergabe Im Zeitraum nach der Kreditvergabe stellt sich vor allem die Frage nach dem Bestehen fortlaufender Kontrollpfl ichten der Vorstandsmitglieder und den Konsequenzen bei deren Verletzung. Explizit hat sich der BGH in der „MPS“Entscheidung nur zu dieser Phase geäußert60, und zwar allein aus Sicht des Tochtervorstands. Er hat im Wesentlichen ausgeführt, dass die Organwalter verpfl ichtet seien, laufend etwaige Änderungen des Kreditrisikos zu prüfen und auf eine sich andeutende Bonitätsverschlechterung der Mutter entweder durch Kündigung oder Anforderung von Sicherheiten zu reagieren hätten. Die Unterlassung solcher Maßnahmen könne sowohl unter § 311 AktG fallen und Schadensersatzansprüche nach §§ 317, 318 AktG begründen als auch eine Haftung nach § 93 AktG auslösen61. Indessen besteht, wie gesehen, schon im Zeitpunkt der Darlehensvergabe die Pfl icht zur Vereinbarung eines Risikokontrollsystems, sofern dies erforderlich ist, um unangemessene Risiken für die Tochtergesellschaft zu vermeiden, insbesondere sofern „bankübliche“ Konditionen verfehlt werden (oben II. 2. b) cc)). Hiervon ausgehend ist es eine bare Selbstverständlichkeit, dass die erforderliche Kontrolle im Zeitraum nach der Darlehensvergabe auch tatsächlich durchgeführt werden muss. Für den Muttervorstand ergibt sich diese Pfl icht schon daraus, dass er für das rechtmäßige Verhalten seiner Gesellschaft verantwortlich ist62 und deshalb für die Erfüllung der vertraglichen Pfl ichten der Muttergesellschaft im Rahmen des vereinbarten Risikokontrollsystems Sorge zu tragen hat. Für den Tochtervorstand stellt die Pflicht zur fortlaufenden Kontrolle des Kreditrisikos eine Ausprägung seiner allgemeinen Pflicht zur Kontrolle des Unternehmens63 dar. Die hierfür benötigten Auskunftsansprüche gegen die Muttergesellschaft müssen sich die Tochter-Vorstandsmitglieder schon bei Ausreichung des Kredits einräumen lassen (siehe II. 2. a) cc) (2)). Wurde dies versäumt, so stellt bereits die Gewährung des Kredits eine Pfl ichtverletzung 60 BGHZ 179, 71, 79, Rz. 14. 61 BGHZ 179, 71, 79, Rz. 14. 62 Mertens/Cahn in KölnKomm. AktG (Fn. 22), § 93 AktG Rz. 66; Raiser/Veil (Fn. 22), § 14 Rz. 81; Krieger/Sailer in K. Schmidt/Lutter (Fn. 21), § 93 AktG Rz. 6; Paefgen, (Fn. 22), S. 24 f.; Schlechtriem (Fn. 22), S. 20 ff. 63 Allgemein zu den Kontrollpfl ichten des Vorstands konzernierter Gesellschaften Löbbe (Fn. 40), S. 334 ff., 346 ff.
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dar64; sind die erforderlichen Informationsansprüche dagegen vorhanden, unterbleibt jedoch der verabredete Informationsaustausch, so könnten die TochterVorstandsmitglieder ihr Informationsbedürfnis notfalls zwangsweise durchsetzen und verletzen daher ihre Pfl ichten, wenn sie die rechtlich und tatsächlich mögliche Kontrolle des Kreditrisikos unterlassen. Im Ergebnis hat der BGH die Pfl ichten der Vorstandsmitglieder im Zeitraum nach der Kreditvergabe im „MPS-Urteil“ also zutreffend beschrieben; wenngleich der dort erweckte Anschein eines nur in dieser Phase gegebenen Pfl ichtenprogramms missverstanden werden könnte. Angreifbar erscheinen zudem die (äußerst knapp gehaltenen) Ausführungen zu den Rechtsfolgen einer Pfl ichtverletzung; hierauf soll daher noch ein genauerer Blick geworfen werden, zunächst auf die Haftung des Muttervorstands (unter 2.), sodann (unter 3.) auf diejenige des Tochtervorstands. 2. Haftung des Muttervorstands Unterlassen die Vorstandsmitglieder der Mutter nach der Kreditvergabe die Einrichtung oder den Vollzug eines vereinbarten Risikokontrollsystems, so verletzen sie ihre Organpfl ichten und haften der Muttergesellschaft bei Eintritt eines Schadens zweifellos nach § 93 Abs. 2 AktG. Damit soll es aber nach Ansicht des BGH offenbar nicht sein Bewenden haben. Zusätzlich soll anscheinend § 311 AktG eingreifen und folglich eine Haftung unmittelbar gegenüber der Tochter aus § 317 AktG ausgelöst werden65. Dem kann zumindest in dieser Allgemeinheit nicht zugestimmt werden66. Denn § 311 Abs. 1 und § 317 Abs. 1, 3 AktG setzen zwingend eine Veranlassung voraus, was einer Weisung im Vertragskonzern entspricht67. Die Mutter muss deshalb gegenüber der Tochter zum Ausdruck bringen, dass sie eine bestimmte Verhaltensweise für wünschenswert hält68. Das mag entweder durch eine konkrete Aufforderung, durch allgemeine Vorgaben oder durch informelle Bitten und Ratschläge geschehen69; erforderlich ist aber stets eine aktive Einflussnahme auf die Tochter. Die Erweiterung des Haftungstatbestands auf das Unterlassen einer Einflussnahme ist bislang – zu Recht – nicht erwogen worden70. Eine Haftung aus § 317 AktG ist folglich nur dann begründbar, wenn die
64 Man wird es in gewissem Umfang freilich ausreichen lassen, wenn ein Risikokontrollsystem unverzüglich nachträglich vereinbart wird. 65 BGHZ 179, 71, 79 Rz. 14; vgl. hierzu auch Goette, DStR 2009, 2602, 2604. 66 A. A. offenbar Altmeppen, ZIP 2009, 49, 51 f. 67 So ausdrücklich Habersack in Emmerich/Habersack (Fn. 10), § 311 AktG Rz. 23; H.-F. Müller in Spindler/Stilz (Fn. 10), § 311 AktG Rz. 13; Koppensteiner in KölnKomm. AktG (Fn. 17), § 311 AktG Rz. 4. Wohl anders Altmeppen in MünchKomm. AktG (Fn. 17), § 311 AktG Rz. 75 ff., 80, § 308 AktG Rz. 9. 68 So die Formulierung bei Koppensteiner in KölnKomm. AktG (Fn. 17), § 311 AktG Rz. 3. 69 Hüffer (Fn. 18), § 311 AktG Rz. 16; Krieger in MünchHdb. GesR (Fn. 10), § 69 Rz. 74; J. Vetter in K. Schmidt/Lutter (Fn. 21), § 311 AktG Rz. 25; H.-F. Müller in Spindler/ Stilz (Fn. 10), § 311 AktG Rz. 12. 70 Näher zum bisherigen Streitstand Fischbach (Fn. 58), S. 213 f. mit Nachweisen in Fn. 863–865.
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Mutter durch aktive Veranlassung Einfluss auf das Verhalten der Tochtergesellschaft genommen hat. Bei der konzerninternen Kreditvergabe ist deshalb zu differenzieren: Bei schlichtem Unterlassen, wenn also etwa die Einrichtung eines vereinbarten Risikokontrollsystems ganz unterbleibt oder der Muttervorstand nicht über eine sich abzeichnende Bonitätsverschlechterung der Mutter informiert, fehlt es mangels Einflussnahme auf das Verhalten der Tochter an einer Veranlassung i. S. v. § 311 AktG. Die bloße nachträgliche Verschlechterung der Bonität der Muttergesellschaft als solche scheidet hierfür aus. Auch an die Veranlassung der Darlehensgewährung selbst kann insofern nicht angeknüpft werden; denn sie geschah – wenn die Voraussetzungen oben II. 2. b) erfüllt sind – pfl ichtgemäß, zumal der Maßstab des § 93 Abs. 1 AktG auf eine ex-ante-Betrachtung ausgerichtet ist. Ob eine unternehmerische Entscheidung pfl ichtgemäß ist, steht daher immer schon zum Entscheidungszeitpunkt abschließend fest, ohne dass spätere Umstände noch etwas daran ändern könnten. Für die Beurteilung der Nachteiligkeit einer Veranlassung bedeutet dies: Umstände, die sich erst nach der Veranlassung ereignen, können auf die Nachteiligkeit keinen Einfluss mehr haben. Eine Ausnahme hiervon gilt nur dann, wenn das Kontrollsystem lediglich zum Schein vereinbart wurde, also in Wahrheit niemals ausgeführt werden sollte. In solchen Fällen dürfte freilich dann auch eine deliktische Haftung aus § 826 BGB in Betracht kommen. Hiervon abgesehen, mag die Mutter im Unterlassensfall zwar ihre Pfl ichten aus der mit der Tochter getroffenen Risikokontrollabrede verletzen; dies führt jedoch – wie jede andere Verletzung vertraglicher Pfl ichten der Gesellschaft – lediglich zu einer Innenhaftung der Mitglieder des Muttervorstands gegenüber ihrer eigenen Anstellungskörperschaft aus § 93 Abs. 2 AktG; die Haftung gegenüber der Tochter aus § 317 Abs. 1, 3 AktG ist mangels Veranlassung hingegen ausgeschlossen. Anders liegt es in einer zweiten Fallgruppe, bei der die Vorstandsmitglieder der Muttergesellschaft der Vorwurf trifft, die Tochter durch aktive Einflussnahme auf deren Geschäftsführung geschädigt zu haben. Das ist etwa der Fall, wenn die Tochtergesellschaft durch „Weisungen“ oder durch aktive Irreführung über die fi nanzielle Situation der Muttergesellschaft an der rechtzeitigen Kreditkündigung gehindert wird. Hier lässt sich zweifellos von einer Veranlassung i. S. v. § 311 AktG sprechen, so dass die beteiligten Vorstandsmitglieder nicht nur ihrer Gesellschaft gemäß § 93 Abs. 2 AktG haften, sondern auch der Tochter aus § 317 Abs. 1, 3 AktG. 3. Haftung des Tochtervorstands Blickt man abschließend auf die Haftung der Mitglieder des Tochtervorstands in der Phase nach Kreditvergabe, so ist auf die These des II. Senats in der „MPSEntscheidung“ einzugehen, derzufolge sich eine Haftung außer aus § 93 Abs. 2 AktG auch aus § 318 AktG ergeben könne, sofern die Vorstandsmitglieder der Tochter ihre Pfl icht zur nachträglichen Risikokontrolle nicht ordnungsgemäß erfüllten71. 71 BGHZ 179, 71, 79, Rz. 14.
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Die Begründung der Haftung begegnet in Bezug auf § 318 Abs. 1 AktG Bedenken; denn diese Vorschrift stellt – entgegen dem ersten Eindruck – keine abschließende Haftungsnorm für Pfl ichtverletzungen der Mitglieder des Tochtervorstands bei Veranlassungen der Mutter dar72. Vielmehr sanktioniert sie nur einen schmalen Ausschnitt der vorstellbaren Pfl ichtverletzungen, nämlich solche im Zusammenhang mit der Erstellung des Abhängigkeitsberichts gemäß § 312 AktG73. Haftungsvoraussetzung ist, dass die Muttergesellschaft bei einer nachteiligen Veranlassung den Haftungstatbestand des § 317 AktG verwirklicht74 und die Vorstandsmitglieder der Tochtergesellschaft darüber im Abhängigkeitsbericht unzutreffend, unvollständig, oder überhaupt nicht berichten75. Diese Voraussetzungen sind mangels Veranlassung nicht erfüllt, wenn die Vorstandsmitglieder der Tochtergesellschaft sich bei der Kontrolle des Kreditrisikos Pfl ichtverletzungen zuschulden kommen lassen; es fehlt dann bereits an der Verwirklichung des Haftungstatbestandes des § 317 AktG. Gleichwohl haften die Mitglieder des Tochtervorstands wegen mangelhafter Kontrolle des Kreditrisikos; im Ergebnis ist dem BGH also zuzustimmen. Denn für Pfl ichtverletzungen außerhalb des Anwendungsbereichs von § 318 Abs. 1 AktG bleibt die Haftung aus § 93 Abs. 2 AktG unberührt76.
IV. Zusammenfassung in Thesen 1. Veranlasst eine Muttergesellschaft ihre Tochter im faktischen Aktienkonzern, ihr ein Darlehen zu geben, so haben die Vorstandsmitglieder beider Gesellschaften grundsätzlich dafür Sorge zu tragen, dass der Tochtergesellschaft bei der Darlehensvergabe kein Nachteil i. S. d. § 311 AktG entsteht. 2. Die Darlehensvergabe an die Mutter ist nicht nachteilig, wenn die Konditionen so bestimmt werden, dass auch ein pfl ichtgemäß handelnder Geschäftsleiter einer unabhängigen Gesellschaft an der Stelle der Tochter das Darlehen hätte ausreichen dürfen. Der Tochter darf hierfür durch die Kreditvergabe keine betriebsnotwendige Liquidität entzogen werden und sie muss einen annähernd marktüblichen Darlehenszins erhalten. 3. Eine Besicherung des Darlehens ist nicht erforderlich, sofern bei der Darlehensvergabe an der Kreditwürdigkeit der Mutter kein Zweifel besteht. Ist aber die Darlehensvergabe für die Tochter deshalb, wie häufig, mit Risiken verbunden, die ein ordentlicher und gewissenhafter Geschäftsleiter einer
72 Statt aller Habersack in Emmerich/Habersack (Fn. 10), § 318 AktG Rz. 2; a. A. soweit ersichtlich nur Luchterhandt, ZHR 133 (1969), 1, 45, der seine Auffassung allerdings später relativiert hat, vgl. Luchterhandt, Deutsches Konzernrecht bei grenzüberschreitenden Konzernverbindungen, 1971, S. 119. 73 Vgl. nur Habersack in Emmerich/Habersack (Fn. 10), § 318 AktG Rz. 1. 74 Altmeppen in MünchKomm. AktG (Fn. 17), § 318 AktG Rz. 8; Habersack in Emmerich/Habersack (Fn. 10), § 318 AktG Rz. 4; J. Vetter in K. Schmidt/Lutter (Fn. 21), § 318 AktG Rz. 4. 75 Altmeppen in MünchKomm. AktG (Fn. 17), § 318 AktG Rz. 9; Habersack in Emmerich/Habersack (Fn. 10), § 318 AktG Rz. 5; J. Vetter in K. Schmidt/Lutter (Fn. 21), § 318 AktG Rz. 5. 76 H.-F. Müller in Spindler/Stilz (Fn. 10), § 318 AktG Rz. 13; Krieger in MünchHdb. GesR (Fn. 10), § 69 Rz. 132; Hüffer (Fn. 18), § 318 AktG Rz. 9.
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unabhängigen Gesellschaft nicht eingehen dürfte, so ist ein Risikokontrollsystem zu vereinbaren, das diese Risiken auf ein Minimum reduziert, wofür Informationspfl ichten und Kündigungsrechte erforderlich sind. 4. Diese Grundsätze gelten mutatis mutandis auch dann, wenn die Tochter zur Teilnahme an einem Cash-Pool-System veranlasst wird. Das Cash-PoolGuthaben darf wegen seiner jederzeitigen Verfügbarkeit geringer verzinst werden als ein herkömmliches Darlehen, zumal auch Sichteinlagen auf einem Girokonto wegen ihrer jederzeitigen Verfügbarkeit, falls überhaupt, nur deutlich geringer verzinst werden. Es genügt, wenn die mit dem CashPooling verbundenen Vorteile der Tochtergesellschaft bei einer Gesamtbetrachtung die Nachteile überwiegen. Dafür ist aber die Vereinbarung geeigneter Vorkehrungen zur Risikokontrolle ebenso erforderlich wie bei der Vergabe gewöhnlicher Darlehen. 5. Wird die Tochtergesellschaft unter Verstoß gegen diese Pfl ichten zur Ausreichung eines Darlehens an ihre Mutter bzw. zur Teilnahme an einem Cash-Pool veranlasst, so hat dies eine Verletzung des § 311 AktG durch die (und bei der) Kreditvergabe zur Folge, sofern das Darlehen nicht unverzüglich zurückbezahlt bzw. der Cash-Pool aufgelöst wird. Dafür haften die Vorstandsmitglieder der Mutter sowohl gegenüber ihrer Gesellschaft (§ 93 Abs. 2 AktG) als auch gegenüber der Tochter (§ 317 Abs. 1, 3 AktG). Die Mitglieder des Tochtervorstands haften für Pfl ichtverletzungen nur gegenüber der Tochtergesellschaft (§ 93 Abs. 2 AktG). 6. Im Zeitraum nach der Kreditvergabe sind die Vorstandsmitglieder der Mutter- wie auch der Tochtergesellschaft gehalten, die vereinbarten Maßnahmen zur Risikokontrolle in die Tat umzusetzen und das Kreditrisiko der Tochtergesellschaft fortdauernd zu überwachen. 7. Verstoßen die Vorstandsmitglieder der Muttergesellschaft gegen diese Pflichten, so ist hinsichtlich der Rechtsfolgen zu differenzieren: Pfl ichtverletzungen durch bloßes Unterlassen lösen regelmäßig lediglich eine Innenhaftung gegenüber der Muttergesellschaft gem. § 93 Abs. 2 AktG aus. Wird die Tochtergesellschaft dagegen durch aktive Einflussnahme zu einem nachteiligen Verhalten veranlasst, so kommt neben der Haftung aus § 93 Abs. 2 AktG auch eine Haftung gegenüber der Tochtergesellschaft aus § 317 Abs. 1, 3 AktG in Betracht. 8. Verletzen die Mitglieder des Tochtervorstands ihre fortlaufenden Kontrollpfl ichten in der Zeit nach der Kreditvergabe, so machen sie sich gegenüber ihrer Gesellschaft schadensersatzpfl ichtig. Haftungsgrundlage ist in aller Regel § 93 Abs. 2 AktG; hingegen scheidet eine Haftung aus § 318 Abs. 1 AktG regelmäßig aus.
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Finanzkrise und Wirtschaftsrecht – Überlegungen über die Aufgabe von Juristen in Anbetracht des aktuellen Krisengeschehens* Inhaltsübersicht I. Einführung II. Der Tatbestand 1. Die Finanzkrise und ihre Ursachen 2. Risiken der virtuellen Finanzwelt III. Strategien 1. Blick zurück im Zorn? 2. Wirtschaftspolitik à la Keynes? 3. Die Rolle des Rechts 4. Die Staaten als Wächter 5. Für ein Zusammenrücken der Rechtsdisziplinen
IV. Das Unternehmensinsolvenzrecht als Beispiel 1. … eine unendliche Geschichte 2. Die Chapter-Eleven-Doktrin: Sanierung durch Insolvenzverfahren? 3. Konzern-Insolvenzrecht 4. Staatsinsolvenzen und Krise des Euro? V. Ein rechtskulturelles Problem
I. Einführung Im November 2009 machte eine Nachricht aus der amerikanischen Strafjustiz die Runde1: Die Manager zweier Bear-Stearns-Hedge-Fonds – Ralph Cioffi und Matthew Tannin – waren von der Anklage wegen Anlagebetrugs freigesprochen worden. In Amerika, wo man die Staatsanwaltschaft nicht, wie z. B. in Deutschland, als „objektivste Behörde der Welt“ versteht, ist so etwas eine Niederlage der Staatsanwälte und zugleich ein Triumph der Verteidigung. Für die hatte eine Rechtsanwältin mit Namen Susan Brune den Geschworenen unter Tränen ans Herz gelegt: „Schicken Sie Matt (das war einer der Angeklagten) zu seiner Familie nach Hause.“ Und so geschah es auch, nachdem die Verteidigung Beweise dafür erbracht hatte, dass sich die Angeklagten Tag und Nacht für die Rettung der Fonds eingesetzt hatten. Journalisten lieben es, wenn sie von Tränen berichten können, weniger indes, soweit es um Freisprüche von Finanzjongleuren geht. Von Ralph Cioffi, dem zweiten Freigesprochenen, hatte die deutsche Wochenzeitung DIE ZEIT2 schon im September berichtet, er habe einen üppigen Lebensstil geführt, drei Ferrari besessen und den exklusivsten Clubs angehört. Und doch sei er noch nicht einmal ein Bankenchef gewesen. Dieser – der Chef also – sei überhaupt nicht erst angeklagt worden, und genau so verhalte es
* Der Beitrag enthält Elemente aus zwei Vorträgen des Verfassers in Buenos Aires (4.6.2009) und Warschau (8.1.2010); Stand des Manuskripts: Winter 2009/2010. 1 Vgl. zum Folgenden Kirchner/Wadewitz, Financial Times Deutschland (FTD) vom 11.11.2009. 2 Heike Buchter, Unverhoffte Absahner, DIE ZEIT, Nr. 37 vom 3.9.2009.
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sich mit dem Vorstandsvorsitzenden der kollabierten Bank. Dabei müsse sich doch die Spur der Finanzkrise, nach manchen „das größte Schneeballsystem der Geschichte“, irgendwie in die Top-Etagen von Wall Street zurückverfolgen lassen. Abgesehen von dem notorischen Betrüger Madoff komme die Strafjustiz irgendwie nicht an die Akteure heran. Und auch dem Präsidenten Obama werde nachgesagt, er achte mehr auf die Erholung der Finanzkonzerne als auf deren Verunsicherung durch Strafprozesse. Dieser kleine Streifzug durch die Welt der Medien könnte eine Einladung zu weiteren Streifzügen sein, etwa zu einem kritischen Blick auf das telegene Strafgerichtswesen in den Vereinigten Staaten und zur Rolle der Anwälte in und nach der Finanzkrise, über die wir Hans-Jürgen Hellwig nachdenkenswerte Einsichten verdanken3. Die geschilderten Pressereaktionen behandeln die Aufarbeitung von Vorgängen, die sich nicht in der Finanzkrise, sondern an deren Vorabend, nämlich 2007, abgespielt haben. Sie sind aber doch charakteristisch dafür, wie stark die rechtliche Aufarbeitung von Fehlentwicklungen im Finanz- und Unternehmensbereich seit Beginn der Krise unter gesellschaftlicher Beobachtung steht, bis hin zu dem legendären Sketch der britischen Humoristen John Bird und John Fortune aus dem Jahr 20074. Einer erzählt da als Investmentbanker unverhohlen, wie er US-Subprime-Papiere so umverpackt und so umbenannt hat, dass ihre Herkunft verschleiert wird. Aus dem „Schrottpapier eines Arbeitslosen, der in einem Netzhemd vor seiner Bruchbude sitzt“ werde auf diese Weise ein „Bear Stearns High-Grade Structured Credit Enhanced Leveraged Fund“ … und damit ein Kassenschlager. Heute ist das alles Rückschau: – Unsere Straf- und Haftungsrechtler schauen zurück und bewerten rechtmäßiges oder rechtswidriges Verhalten der Akteure. – Die Öffentlichkeit schaut gleichfalls zurück, sei es mit Galgenhumor, sei es, indem sie nach einer Bestrafung oder doch nach Inanspruchnahme der wirklich oder vermeintlich Schuldigen ruft. Aber das ökonomische und politische Problem ist höchst gegenwärtig – leider noch immer höchst gegenwärtig und kann zu einer Zerreißprobe für die Gesellschaft werden. Manche fragen schon, ob brennende Luxusautos in London, Paris oder Hamburg wirklich nur Ausdruck einer kollektiven Verrohung sind oder vielleicht Anzeichen eines Aufstands der Gesellschaft gegen Profiteure des Kapitalismus. Waren die Mandarine der Finanzwelt am Ende ein Ancien Régime, das nun der Mob unter die Guillotine wünscht? Es sind ja nicht nur vermögende Anleger, die unter der Krise leiden, sondern es ist die Volkswirtschaft, es sind die systemrelevanten Finanzdienstleister und Versicherungen, die Rentensysteme, es sind – kurz gesagt – wir alle! Das innere Bedürfnis, die Schuld an diesem kollektiven Desaster bei Individuen zu suchen, ist groß. Es macht sich auch rechtlich bemerkbar, insbesondere im Strafrecht5, aber auch
3 Hellwig, Anwaltsethos – Lehren aus der Finanzkrise, AnwBl. 2009, 465 ff. 4 Vgl. namentlich Fn. 1. 5 Charakteristisch Strate, Der Preis der Freiheit – strafrechtliche Verantwortlichkeiten in der Finanzkrise (am Beispiel der HSH-Nordbank), Bucerius Law Journal (BLJ) 2009, 78 ff.
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im Zivil- und Gesellschaftsrecht6. Damit wird eine notwendige Diskussion angestoßen. Die nachfolgenden Überlegungen wollen aber versuchen, mit anderen Augen auf das Ganze zu blicken. Nicht neue Erkenntnisse über die Krise erwarten den Leser, wohl aber rechtspolitische Einschätzungen, die auch den Jubilar interessieren mögen.
II. Der Tatbestand 1. Die Finanzkrise und ihre Ursachen Was wir über die gegenwärtige Finanzkrise zu wissen glauben, ist rasch zusammengefasst. Sie beruht auf dem Versagen makro- und mikroökonomischer Mechanismen, auf die sich die globalisierte Welt verlassen hatte7. Dies waren: das reale Wachstum der globalen Wirtschaft, der hierdurch bedingte Massenwohlstand und das hierdurch wachsende Nachfragepotential, die Kreativität der Finanzmarktprodukte, die Selbststeuerung der Finanzmärkte, die Geldmengenpolitik, die rechtlichen Anreizsysteme, corporate governance und shareholder value, die bilanzrechtliche Transparenz usw., kurz: die Macht der Wirtschaftsprognosen. Diese Erwartungen haben sich als trügerisch erwiesen. Und wenn man Experten fragt, dann haben viele dies angeblich schon lange gewusst. Wenn das aber richtig wäre, dann hätten doch wohl die Verantwortungsträger das gegenwärtige Desaster verhindern können, … ja: verhindern müssen! Aber wir wissen: Sie haben es nicht getan, haben es in der Mehrheit nicht einmal versucht. Kassandrarufe waren nur selten zu hören8. Unsere klugen Experten und weisen Propheten – auch wir, die Professoren! – müssten sich demnach mindestens mitverantwortlich fühlen. Aber die meisten tun dies nicht. Schuld, sagen sie, ist die Gier. Und gierig sind immer die Anderen: gierige Manager, gierige Investmentbanker, gierige Berater und gierige Investoren. Für die Bewältigung des Desasters müssen wir hiernach, so mag es scheinen, zu allererst mit diesen Individuen abrechnen. Aber sind sie es allein, die das Desaster in diesem Umfang verursacht haben? Wohl nein. Schuld war, glaube ich, auch der Zeitgeist. Der bestand in einer intellektuellen Pandemie, angetrieben von den Mandarinen der Wirtschaft, zu Gesetzen erklärt durch Business Schools und von der Wirtschaftspresse ausgestreut in die ganze Gesellschaft. Wenn das aber zutrifft, liegt in der Gesellschaft selbst ein Großteil der allseits beklagten Missstände begründet. Und während erste Kritiker über die „syste-
6 Charakteristisch die in den Augen des Verfassers recht undifferenzierten Haftungsüberlegungen bei Lutter, Bankenkrise und Organhaftung, ZIP 2009, 197 ff. 7 Vgl. zu all dem die polemische Schrift von Munte/Essiger, Masterplan zur Sanierung der Weltwirtschaft, 2010, S. 99 ff. 8 Zu den Ausnahmen gehörte Helmut Schmidt, Beaufsichtigt die neuen Großspekulanten!, DIE ZEIT, Nr. 06 vom 1.2.2007 = The Global Financial Markets Need Regulation (The need to know: Who controls the global financial markets?), in: New Financial Instruments and Institutions on the International Financial Markets: Opportunities and Risks, Symposium der Zeit-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius in der Bucerius Law School am 16.10.2007 (http://www.zeit-stiftung.de/ufile/5_587_6.pdf).
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mischen Risiken“ der Finanzwelt nachdachten, waren sie selbst schon zum Teil des riskanten „Systems“ geworden. Wo lagen die fundamentalen Irrtümer? Sie bestanden in einer Missachtung alter und einfacher Tugenden, die man gern mit dem Ideal des „ehrbaren Kaufmanns“ in Verbindung bringt9, die aber hier als bloß praktische Vernunftsregeln verstanden werden. – Der sichernde Wert des Eigenkapitals wurde missachtet. Die Devise hieß: „Fremdkapital ist ökonomischer als Eigenkapital.“ – Instrumentelle Anreize („incentives“) für Manager wurden über Verantwortung und Kontrolle gestellt, etwa nach dem Motto: „Versprecht den Vorständen viel, und sie werden Euch Prosperität garantieren.“ – Kurzfristige Eigeninteressen des Managements wurden durch stock options belohnt, und dies wurde unter dem Label des shareholder value auch noch als Wohltat für die Aktionäre angepriesen. – Die Kapitalmarktfi nanzierung der Unternehmen wurde über den operativen Erfolg gestellt, der Börsenkurs zum absoluten Erfolgsbarometer erklärt. – Riskante Take-over-Manöver galten als Kriegsziele von Unternehmen; auf sie konzentrierte sich mehr und mehr der Wettbewerb. – Die ständige Erfi ndung neuer Finanzprodukte wurde als Mehrung des Sozialprodukts verstanden, ja: als kreativer Beitrag der Finanzwelt zur allgemeinen Wohlfahrt. Phantasie wurde mit materieller Produktivität gleichgesetzt. Die Ergebnisse sind uns bekannt. Am Ende stehen wir vor einer Entreicherung nicht nur von Unternehmen und Anlegern, sondern ganzer Altersversorgungssysteme. Wir stehen vor Liquiditätsnöten von Individuen, Unternehmen, NonProfit-Organisationen und Staaten, vor gigantischer Staatsverschuldung und langfristig drohenden Währungsproblemen. Wir stehen auch vor dem Ende des Traums von einer globalen Wohlstandsvermehrung. Allein in Deutschland war das Finanzvermögen jedes Haushalts schon nach einem halben Krisenjahr um im Schnitt 4.000 Euro gesunken10. Die Zunahme der Unternehmensinsolvenzen blieb zwar bisher hinter den Prognosen11 zurück12. Für das laufende Jahr wird nun aber unter Berücksichtigung der größeren Verzögerungseffekte bei der deutschen Wirtschaft ein Rekordanstieg erwartet13. Auch der erfreuliche
9 Der Begriff des „ehrbaren Kaufmanns“ ist Tradition und Institution z. B. in Hamburg, er wird heute meist mit Werner Sombarts Tugendkatalog (Sombart, Der Bourgois, 1920, S. 153 ff.) in Verbindung gebracht (vgl. den Überblick bei Klink, Der ehrbare Kaufmann – Das ursprüngliche Leitbild der Betriebswirtschaftslehre und individuelle Grundlage für die CSR-Forschung, ZfB 2008, 57 ff.). 10 Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) Nr. 109 vom 12.5.2009, S. 12. 11 Vgl. Stefan Weber in Süddeutsche Zeitung (SZ) vom 9.5.2009, wo von einem prognostizierten Anstieg um 18 % die Rede ist. 12 Dazu die Pressemitteilung Nr. 047 des Statistischen Bundesamtes vom 10.2.2010, in der für die ersten elf Monate 2009 ein Anstieg von 11,3 % im Vergleich zum Vorjahreszeitraum angegeben wird. 13 Spiegel Online vom 10.2.2010: „Folgen der Wirtschaftskrise – Zahl der Firmenpleiten steigt dramatisch“ unter Verweis auf den Verband der Insolvenzverwalter Deutschland (VID) sowie die Wirtschaftsauskunftei Creditreform.
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Rückgang der Verbraucherinsolvenzen scheint beendet14. Das alles ist nicht mehr neu, aber es bleibt besorgniserregend. 2. Risiken der virtuellen Finanzwelt Die Ursachen der Finanzkrise sind vielfältig. Einig ist man sich aber wohl darüber, dass sie mit der Virtualisierung und Globalisierung unserer Welt zusammenhängen. a) Das fängt mit dem Geld an. Blickt man auf dessen Geschichte, so erkennt man eine Entwicklung aus der gegenständlichen in eine virtuelle Welt. Der Ursprung des Geldes liegt in der Tauschwirtschaft15. Rinder oder Perlen als Tauschgegenstände kann man nicht fi ngieren. Sie müssen real existieren und generieren keine systemischen Risiken. Für Gold gilt dasselbe. Auch die Goldkernwährung setzte noch auf gegenständliche Werte. Gefährlicher war schon die goldgedeckte Papierwährung, denn wer garantierte schon, dass jede Banknote wirklich in Gold eingetauscht werden konnte? Immerhin setzte dieses Konzept der staatlichen Inflationspolitik noch Grenzen. Doch das liegt lange zurück. Die moderne Geldmengenpolitik gibt den Geldwert in die Hand vieler Verantwortungsträger. Die umlaufende Geldmenge wird gar nicht mehr an der Druckpresse der Zentralbank gesteuert, sondern nur noch durch komplizierte Einwirkungen auf Kredite, Zinsen und Liquidität. Plastikgeld vermehrt die Geldmenge ebenso wie die Ausreichung von Krediten und Schuldscheinen, die als übertragbare Forderungen elektronisch im Sekundentakt von hier nach da transferiert, beliehen oder beglichen werden können. Unser Wirtschaftssystem basiert auf einer Entmaterialisierung der materiellen Güter. Es entzieht sich der sinnlichen Wahrnehmung. b) Die Erkenntnis ist banal: Kredite sind unsichtbar und deshalb schwerer zu beherrschen als Münzen und Geldscheine. Oft weiß man nicht einmal, ob es sie überhaupt noch gibt. Die neue Finanzkrise hat gezeigt, wie gefährlich ein im modernen Rechtsleben so selbstverständliches Instrument wie die Forderungsabtretung ist. Wir wissen: Das römische Recht hielt Forderungen für unabtretbar, Gläubiger und Schuldner also für untrennbar miteinander verbunden16. Heute ist die Abtretbarkeit einer Forderung selbstverständliche Voraussetzung eines freien Wirtschaftsverkehrs. Der deutsche Gesetzgeber hat für Handelsgeschäfte in § 354a des Handelsgesetzbuchs sogar die Vereinbarung eines Abtretungsverbots unterbunden. Er hält die freie Abtretbarkeit nicht von ungefähr für eine notwendige Voraussetzung einer funktionierenden kapitalistischen Wirtschaft. Wir müssen aber sehen, dass die Freiheit, diese unsichtbaren Güter zu übertragen und sogar zu verbriefen, die weltwirtschaftlichen Risiken vergrößert hat. Der Welthandel fi ndet nicht mehr nur in Stückgütern statt, sondern auch in Forderungen und Wertpapieren. Aber dürfen wir da von Wertschöpfungsketten sprechen? 14 SZ vom 14.5.2009; Pressemitteilung Nr. 047 vom 10.2.2010 des Statistischen Bundesamtes. 15 Vgl. zum Folgenden Karsten Schmidt in Staudinger, Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, 13. Bearbeitung 1997, Vorbemerkung vor § 244 Rz. A 6 ff. 16 Dazu Claussen, Wege aus der Finanzkrise, DB 2009, 999, 1001.
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c) Der Effekt ist bekannt: Vermögen, das man nicht sehen, Geld, das man nicht anfassen, sondern nur noch in Computerzahlen ablesen kann, schafft eine riskante Distanz zwischen den handelnden Subjekten und der wirtschaftlichen Realität, denn all dies droht sich den menschlichen Sinnen zu entziehen. Und wenn dieses Vermögen in Wertpapieren verbrieft wird, in denen nur Wertpapiere verbrieft sind, die ihrerseits Wertpapiere verbriefen, wenn also der Anleger nur noch Derivate in den Händen hält, droht Unkontrollierbarkeit. Die Verbriefung von Hypothekenkrediten und die Schaffung von „asset backed securities“ (ABS) bzw. „mortgage backed securities“ (MBS), gesammelt in treuhänderisch verwalteten Fonds, ist nur eines der vielen Beispiele hierfür. Von „toxischen Wertpapieren“ ist hier die Rede, und die lagern wie Blei in den Portefeuilles der Anleger und der Banken17. Die Wirtschaftsaufsicht, auf die sich so viele verlassen haben, kommt ersichtlich zu spät, und so hat in den Augen mancher die Stunde der Anklagen und Prozesse geschlagen. Damit würde endlich Realität, was Rudolf von Jhering18 in seiner erfolgreichen, jedoch höchst angreifbaren Programmschrift als „Kampf ums Recht“ beschrieben hat19. Aber sind das die großen Aufräumarbeiten, die auf uns warten?
III. Strategien 1. Blick zurück im Zorn?20 Juristen neigen dazu, unsere Welt durch den Rückspiegel zu betrachten. Sie lieben es, missliebige Sachverhalte ex post zu beurteilen und über Schuld und Haftung nachzudenken. Das gilt auch in der gegenwärtigen Krise. a) Die Bankenkrise hat eine Diskussion über die Verantwortlichkeit von Vorständen, Aufsichtsratsmitgliedern und Wirtschaftsprüfern gegenüber den durch ihre Fehler ruinierten Aktiengesellschaften und gegenüber den geschädigten Anlegern und Gläubigern ausgelöst. Ein für pressewirksame Aktionen bekannter Rechtsanwalt hat in Hamburg Strafanzeige gegen Bankmanager erhoben 21. Der Vorwurf lautet auf „Untreue“, diesen kaum noch defi nierbaren Straftatbestand 22, angewendet auf Menschen, die mit undefi nierbaren Produkten Vermögensschäden bewirken 23. Auch im Privatrecht wird viel über die Vorstandshaf-
17 Vgl. etwa zu den Landesbanken FAZ Nr. 109 vom 12.5.2009, S. 12. 18 Jhering, Der Kampf ums Recht, 1872, Nachdruck 2003. 19 Zur kritischen Einschätzung dieses Buchs bereitet der Verf. die Druckfassung eines um Jahre zurückliegenden Referats vor; zur sonst ganz anderen Einschätzung Jherings vgl. die Angaben bei Karsten Schmidt, Reflexionen über das Beschlussmängelrecht, AG 2009, 248, 252 f. 20 „Look back in Anger“ war ein Erfolgsstück von John Osborne, einem der „angry young men“ vor etwa 50 Jahren. 21 DIE WELT vom 18.5.2009; Strate (Fn. 5), BLJ 2009, 78 ff. 22 Dazu etwa v. Werder, Wirtschaftskrise und persönliche Managerhaftung: Sanktionsmechanismen aus betriebswirtschaftlicher Sicht, ZIP 2009, 500, 506. 23 Vgl. zur Untreuestrafbarkeit in Zusammenhang mit der Finanzkrise Brüning/Samson, Bankenkrise und strafrechtliche Haftung wegen Untreue gemäß § 266 StGB, ZIP 2009, 1089 ff.
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tung für Engagements der Gesellschaften in gefährlichen Papieren diskutiert24. Die Konsequenz wäre, wie vor allem Marcus Lutter hervorgehoben hat, dass die Aufsichtsräte der geschädigten Kapitalgesellschaften verpfl ichtet sind, Zivilprozesse gegen die Vorstandsmitglieder auf Ersatz des Bankenschadens anzustrengen, also Klagen auf Schadensersatz zu erheben 25. Schließlich hat ja der Bundesgerichtshof schon vor etwa zehn Jahren in der berühmten Sache „ARAG/ Garmenbeck“ die Verfolgungspfl icht des Aufsichtsrats klargestellt26. Der zur Überwachung des Vorstands verpflichtete Aufsichtsrat muss nach diesem Urteil prüfen, „ob und in welchem Umfang die gerichtliche Geltendmachung zu einem Ausgleich des entstandenen Schadens führt … Stehen der Aktiengesellschaft nach dem Ergebnis dieser Prüfung durchsetzbare Schadensersatzansprüche zu, hat der Aufsichtsrat diese Ansprüche grundsätzlich zu verfolgen …“. Erst recht muss im Insolvenzfall ein Insolvenzverwalter ohne Wenn und Aber etwaigen Schadensersatzansprüchen der Gesellschaft nachgehen 27. Und da geht es nicht nur um den Handel mit riskanten Papieren. Viele Unternehmen – Familienunternehmen wie auch Unternehmen von Weltrang – haben sich von dem Transaktions-Hype der vergangenen Jahre mitreißen lassen und sind folgenschwere Wagnisse eingegangen. Die Commerzbank „übernahm“ sich bei der Übernahme der Dresdner Bank. Die Übernahme von Volkswagen durch Porsche blieb in der Krise stecken und bedrohte prompt Porsches Liquidität. Noch viel dramatischer verlief aber der Übernahmeversuch des erfolgreichen Familienunternehmens Schaeffler, das ohne ausreichendes Eigenkapital den Reifenhersteller Continental – immerhin ein Weltunternehmen – übernehmen wollte und beide Unternehmen an den Rand des Abgrunds gebracht hat. Wie immer man künftig über Fälle wie diese denken wird, sie sind doch schon heute historisch! b) Soll nun all dies in Schadensersatzprozessen oder gar vor den Strafgerichten aufgearbeitet werden? Ja und nein. Natürlich soll notorisches oder nachweisbares Unrecht nicht ohne Sanktion bleiben. Wer Schuldige sucht, wird wohl auch Schuldige fi nden. Aber dazu müssen die Sachverhalte genau analysiert werden. Und es darf nicht vergessen werden, dass manche, die heute nach Strafe und Schadensersatz rufen, es vor 2008 auch nicht besser gemacht hätten als die angeblichen Übeltäter. Wenn der Finanzvorstand einer Aktiengesellschaft damals im Benehmen mit dem Aufsichtsrat auf sichere Papiere mit geringer Rendite gesetzt hätte, wären ihm Aktionäre, Journalisten und Professoren ganz schön aufs Dach gestiegen. Insgesamt lässt mich der rückwärts gewandte Blick vieler Juristen unbefriedigt. Zwar höre ich Strafrechtler, die uns belehren, wenn das Wirtschaftsrecht ex ante versagt habe, müsse nun eben ex post das Wirtschaftsstrafrecht auf die Bühne28. Auch geben uns Überlegungen aus dem Lager der ökonomischen Analyse des Rechts die präventive Effektivität des Rechts als abstraktes Ziel vor und suchen uns klar zu machen, dass nur eine
24 Lutter, Zur Rechtmäßigkeit von internationalen Risikogeschäften durch Banken der öffentlichen Hand, BB 2009, 786 ff.; Lutter (Fn. 6), ZIP 2009, 197 ff. 25 Lutter (Fn. 6), ZIP 2009, 197, 200 f. 26 BGHZ 35, 244 („ARAG/Garmenbeck“). 27 Dies beruht auf §§ 35, 80 und § 60 InsO, nicht auf § 93 Abs. 5 Nr. 4 AktG. 28 Vgl. Fn. 23.
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unbarmherzige Verfolgung in Prozessen uns vor Wiederholungen schützt29. Aber wenn das so ist, haben dann nicht das Strafrecht und das Haftungsrecht in der Vergangenheit ebenso versagt wie die ihm zugrundeliegenden Verhaltensregeln? Sollen sie aus diesem Versagen die Rechtfertigung eines Siegeszugs durch die Halle des Rechts ableiten? c) Wohlgemerkt: Es wird und soll Haftungsprozesse geben, gewiss auch Strafprozesse. Und es wird auch Verurteilungen geben. Geschehenes Unrecht soll nicht beschönigt und auch nicht mit dem Mantel der Liebe bedeckt werden. Über die Erwartungen und Folgen aber sollten wir uns kein falsches Bild machen. Solche Prozesse werden einzelne Akteure arm und unglücklich machen, ihnen damit, so steht zu hoffen, im Einzelfall auch Gerechtigkeit widerfahren lassen. Es mag sogar sein, dass Rachefeldzüge des Rechts generalpräventiven Nutzen zum Wohl der Zukunft spenden. Aber davon nachhaltig profitieren werden nicht die geschädigten Gesellschaften und ihre Gläubiger und schon gar nicht der Staat, sondern am Ende vielleicht nur Anwälte und Insolvenzverwalter. Das mag man nun so oder so beurteilen, aber wollen wir die Aufgabe des Rechts in Anbetracht der Krisen wirklich und in erster Linie in dieser Art Reaktionen und Sanktionen sehen? Sollen wir nicht besser nach vorn blicken? 2. Wirtschaftspolitik à la Keynes? a) Die weltweite Wirtschaftspolitik wird gegenwärtig im Lichte einer Renaissance von Ideen eines großen Wirtschaftstheoretikers gesehen: John Maynard Keynes 30. Sein wichtigstes Werk erschien 1936 unter dem Eindruck der Weltwirtschaftskrise. Es trug den Titel „The general Theory of Employment, Interest, and Money“. Darin entwickelte der damals 50jährige, längst weltberühmte Wirtschaftstheoretiker ein nachfrageorientiertes Bild der Gesamtwirtschaft und demgemäß ein nachfragegestütztes, durch Staatsverschuldung zu fi nanzierendes Sanierungskonzept für die Weltwirtschaft. Vor der Wirtschaftskrise war Keynes vor allem durch das Buch „The End of laissez-faire“ von 1926 berühmt geworden. Und genau das demonstriert jetzt der Staat: das Ende des laissez-faire. Allerdings ist die Krisenursache nicht dieselbe wie damals. Unsere heutige Finanzkrise hat als Liquiditätskrise großer Banken begonnen, nicht als Nachfragekrise der Verbraucher. In den USA hatten die Verbraucher nicht zu wenig, sondern zu viel an Kredit erhalten. Dies löste die Liquiditätskrise aus, brachte Lehman Brothers zu Fall und erschütterte das Finanzsystem. Hierdurch gewarnt stützten die Staaten die systemwichtigen großen Finanzdienstleister, um zu verhindern, dass das System von oben her einstürzt, durch Bürgschaften, durch Kredite und Übernahmen. Die beantragten Sanierungshilfen umfassten bereits im April 2009 nur in der Bundesrepublik Deutschland mehr als 200 Milliarden Euro31, und auf dem G20-Gipfel in Pittsburgh war von einem Stützungsvolu-
29 Zur Steuerungswirkung von Haftung vgl. statt vieler Schäfer/Ott, Lehrbuch der ökonomischen Analyse des Zivilrechts, 4. Aufl. 2005, Teil 2 (S. 121 ff.). 30 Zuletzt Raupach in Arbeitsgemeinschaft der Fachanwälte für Steuerrecht e. V. (Hrsg.), Jahrbuch der Fachanwälte für Steuerrecht 2009/2010, 2010, S. 485, 490 f. 31 FAZ Nr. 109 vom 12.5.2009, S. 11.
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men von insgesamt 5 Billionen Dollar weltweit die Rede 32, übrigens europäischen, nicht amerikanischen Billionen, was ja bekanntlich ein Unterschied ist. Mehrere Finanzmarktstabilisierungsgesetze 33 erlauben in Deutschland die Kontrollübernahme durch den Staat, sei es im Wege der Kapitalerhöhung oder der Enteignung34. Im Mai 2009 hat die Bundesrepublik Deutschland mehr als 25 % der Commerzbank übernommen35. Sie ist seitdem größter Aktionär der Bank, ist Konzernmutter der Commerzbank und der auf sie verschmolzenen Dresdner Bank. Beide gehören zu den größten Banken des Landes und wurden als Großbanken ohne Enteignung zur Staatsbank. Stehen wir damit vor einer Renaissance der Staatsbanken und Regiebetriebe? Endet die Karriere des Kapitalismus bei „volkseigenen Betrieben“, die nur noch der Rechtsform nach Kapitalgesellschaften sind? Das wäre eine ironische Pointe der Wirtschaftsgeschichte und wohl keine gute Perspektive. Gerade in Deutschland sehen wir nämlich, dass sich die staatseigenen Landesbanken in der Krise nicht als Musterschüler in der Schule der Finanzwelt entpuppen. Sie waren im Gegenteil unter den Sündern die Schlimmsten. b) Doch ich hatte von Keynes handeln wollen. Auf der Nachfrageseite geschah ja Erstaunliches. Damit die Deutschen nutzlose Neuwagen kauften, bekamen sie für die Verschrottung älterer Autos Geld in die Hand. Das wurde als eine Umweltmaßnahme angepriesen, war aber als Industriehilfe gemeint, und zwar, seien wir ehrlich: für eine Branche, die ihre Zukunftsfähigkeit nicht gerade glaubwürdig unterstrichen hatte. Was Keynes zu dieser Strategie gesagt hätte, ist schwer zu sagen. In meinen Augen zeugt die Verschrottungsprämie von der sozialpsychologischen Intelligenz unserer Politiker ebenso wie von ihrer ökonomischen Naivität. Die Finanzkrise ist keine Konsumkrise, sondern eine systemische Krise. Deshalb waren die Bankenhilfen echte Notstandsmaßnahmen, die Verschrottungsprämien dagegen Augenwischerei. Aber meine Befürchtung ist, dass unsere Politiker sich für die Natur ihrer Wähler mehr interessieren als für die Gesetze der Wirtschaftspolitik. Schließlich stand Deutschland im Jahr 2009 vor Neuwahlen. Dubios war auch die geplante Rettung des TraditionsAutobauers Opel – einer Tochter von General Motors – mit Staatsgeldern, also mit dem Geld deutscher Steuerzahler36. Auch sie – inzwischen nicht mehr auf der Agenda – war Ausdruck nicht langfristiger Wirtschaftspolitik, sondern Bestandteil eines kurzsichtigen Wahlkampfs. 3. Die Rolle des Rechts a) Aber wo bleibt das Recht? Um seine Rolle aufzugreifen, soll uns eine Metapher helfen. Die Bibel, dieses Buch der Bücher, ist für Gläubige und Ungläubige eine Sammlung von Gleichnissen, ein lehrreicher Spiegel der realen und der 32 FAZ.NET: „Die Beschlüsse von Pittsburgh“ (Text Reuters). 33 Finanzmarktstabilisierungsgesetz vom 17.10.2008, BGBl. I S. 1982; Finanzmarktstabilisierungsergänzungsgesetz vom 7.4.2009, BGBl. I S. 725. 34 Hopt et al., Kontrollerlangung über systemrelevante Banken nach den Finanzmarktstabilisierungsgesetzen, WM 2009, 821 ff. 35 FAZ und WELT vom 18.5.2009. 36 Dazu etwa FAZ Nr. 124 vom 30.5.2009.
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spirituellen Welt. Das Erste Buch Mose bringt uns die Geschichte der Sintflut in Erinnerung, und damit auch die Geschichte der Arche Noah37. Was lehrt diese Geschichte, wenn man sie metaphorisch liest? – Das Desaster ist global! Die Sintflut ist mehr als eine lokalisierbare Krise. – Nicht alle werden das Desaster überleben! Aber damit das System überlebt, musste der Darwinismus vorübergehend außer Kraft gesetzt werden. – Es überleben nicht diejenigen, die ihre Artgenossen verschlingen, auch nicht diejenigen, die in Panik auseinanderlaufen. Überleben können nur diejenigen, die in der Krise friedlich zusammenrücken. – Wenn Noah als Sanierungspolitiker die ihm zugefallene Aufgabe versteht, dann wird er nicht nur das Überleben auf der Arche organisieren, sondern er wird Voraussetzungen für ein Weiterleben in Freiheit bedenken. – Das wiederum wird nur gelingen, wenn Noah bereit ist, den temporären Sonderzustand beizeiten zu beenden und die Naturgesetze so bald wie möglich wieder wirksam werden zu lassen. Denn die Schöpfung ist nicht für die Bevölkerung der Arche da, sondern die Arche für den Bestand der Schöpfung. b) Das temporäre Zusammenrücken der Wirtschaftssubjekte hat zu der Frage geführt, ob nicht die Stunde der Strukturkrisenkartelle geschlagen hat, ob also die Kartellaufsicht gemäßigt werden soll, um den Wettbewerb im Überlebenskampf weniger gefährlich zu machen. Davon ist abzuraten38. Selbsthilfe durch organisierte Solidarität verspricht keine beständige Krisenfestigkeit. Nur wer am Markt bestehen kann, wird nach einem Ende der Krise gerüstet sein für die niemals endenden Herausforderungen der Zukunft. Eine Absage an die marktwirtschaftliche Auslese kann dauerhafte Erholung nicht bringen. Allerdings hat die Krise auch die Grenzen einer ungezügelten Marktwirtschaft demonstriert. 4. Die Staaten als Wächter Hier kommen nun die Staaten als Wächter ins Spiel. Die auf dem G20-Gipfel im April und September 2009 formulierten Forderungen sind bekannt 39: mehr und effektivere Aufsicht! Das offenkundige Versagen privatrechtlicher Kontrolle hat in der Finanzkrise wieder den Ruf nach mehr Staatsaufsicht aufkommen lassen: nach Regulierungen, Mengenbegrenzungen und Eingriffsrechten! Das gilt in erster Linie für die Bankenaufsicht, sodann für alle Großunternehmen und die bei ihnen geltenden Vergütungsregelungen, gilt aber im Grunde auch für die Aufsicht über die Finanzmärkte insgesamt. Was das öffentliche Recht anlangt, so scheint mir die Herausforderung eine mehrfache zu sein. – Erstens besteht sie in der beihilfenrechtlichen Beurteilung der geschilderten ad-hoc-Eingriffe des Staats. Die Frage ist insofern, ob sich das in Art. 87 EG (nunmehr Art. 107 AEUV) angesiedelte Beihilfenrecht gewollten und hof37 1. Mose 6, 5–8, 22. 38 Eingehend Körber, Kartellrecht in der Krise, WuW 2009, 873 ff. 39 Angaben bei Claussen (Fn. 16), DB 2009, 999, 1000; zuletzt zu den April-Beschlüssen von London FTD vom 19.6.2009: „EU verschärft Finanzaufsicht.“; zu den SeptemberBeschlüssen von Pittsburgh FAZ.NET „G 20. Die Beschlüsse von Pittsburgh“.
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fentlich effektiven Hilfsaktionen der europäischen Staaten in den Weg stellt. Gegen diese Befürchtung sprechen die im Herbst 2009 von der Europäischen Kommission publizierten Richtlinien und Mitteilungen: die „Rettungs- und Umstrukturierungsleitlinien“, die „Banken-Mitteilung“, ergänzt durch die „Rekapitalisierungs-Mitteilung“. Michael Fehling von der Bucerius Law School hat auf einer Konferenz in Madrid dargestellt, wie sich hier die Kommission in Brüssel als Koordinator mitgliedschaftlicher Krisenbewältigungsprogramme bewährt hat40. Mit Recht wird aber auch darauf hingewiesen, dass die hierin liegende Einschränkung der Beihilfenkontrolle nicht zu einer stationären Therapie werden darf41. – Sehr viel größer sind die bevorstehenden Aufgaben der Banken- und Finanzmarktaufsicht. Hier stehen den einzelnen Staaten noch große Regelungsaufgaben ins Haus, denn der G20-Gipfel hat uns außer der Reklamation seiner weltweiten Autorität kaum mehr als Absichtserklärungen hinterlassen42. Die Nationalgesetzgeber sind gefragt. – Die Öffentlichkeit interessiert sich demgegenüber weitaus mehr für Boni und Vorstandsvergütungen. Es bleibt nicht aus, dass die Gesetzgebung sich dieser Frage zu allererst annimmt43, womit freilich ihr Beitrag zum sozialen Frieden größer scheint als ihr Beitrag zur Krisenabwendung44. Aber kann der Staat auf diesem Feld leisten, was wir von ihm erwarten? Dauerhaft sollte er erst in zweiter Linie auf hoheitliche Eingriffe setzen, in erster Linie dagegen auf Transparenz. Transparenz verspricht bessere Selbstregulierung der Märkte. Der US-Supreme-Court-Richter Brandeis wird mit der Formulierung zitiert: „Sunlight is said to be the best of disinfectants …“45. Es muss verhindert werden, dass den ganzen Finanzmarkt einschließlich der Banken eine Krise wie die amerikanische Subprime Crisis so überraschend trifft. Vor allem aber müssen wir zu einer Wirtschaftsverfassung zurückfi nden, die wieder reif ist für die Normalität. Das wird bedeuten: Was wir wirklich nicht gebrauchen können, ist ein Notstandsrecht in Permanenz. Manchmal sehne ich den Tag herbei, an dem wir auf die Jahre nach Lehman Brothers zurückblicken können wie auf eine mühsam bestandene Feuerschutzübung, was – wohlgemerkt – niemals von der Gewissheit ablenken darf, dass es dann und wann doch wieder wirklich brennen kann.
40 Fehling, Die Reaktion der europäischen Staaten auf die Krise und das europäische Beihilfenrecht, Vortrag Madrid am 12.11.2009, bei Manuskriptabschluss im Druck. 41 Vgl. Zimmer/Blaschczok, Die Banken-Beihilfekontrolle der Europäischen Kommission: Wettbewerbsschutz oder Marktdesign?, WuW 2010, 142 ff. 42 Vgl. Spiegel Online vom 25.9.2009: „G20 ruft sich zur neuen Weltordnung aus.“ 43 So geschehen mit dem Gesetz zur Angemessenheit der Vorstandsvergütung (VorstAG) vom 31.7.2009, BGBl. I S. 2509. 44 Warnung vor solcher Gesetzgebung bei Zäch, Gefährdung des wirtschaftlichen Wohlstands durch ergebnisorientierte Wirtschaftsordnung, WuW 2010, 139. 45 Louis D. Brandeis, Other People‘s Money and How the Bankers Use It, 1914, Chapter V (‚What publicity can do‘).
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5. Für ein Zusammenrücken der Rechtsdisziplinen Das Krisengeschehen lenkt die Aufmerksamkeit auch auf den Gedanken der Einheit der Rechtsordnung46. Mein Plädoyer in der Krise ist ein Plädoyer für die Einheit der Rechtsordnung. Es gilt, alle Rechtsdisziplinen als Funktionseinheit zu begreifen. Sie alle werden gebraucht, wenn die Wirtschaft krisenfester gemacht werden und das Recht für die Reaktion auf nicht vollends vermeidbare Krisenszenarien gerüstet sein soll.
IV. Das Unternehmensinsolvenzrecht als Beispiel 1. … eine unendliche Geschichte Da dieses Zusammenrücken der Rechtsdisziplinen den Gegenstand dieses Beitrags weit übersteigen würde, soll ein exemplarischer Schlussteil dem Insolvenzrecht gebühren. Das Insolvenzrecht der Unternehmen ist zu einer eigenen Forschungsdisziplin geworden47. Dies ist das Ergebnis eines mühsamen Prozesses. Man muss nämlich bedenken, wie schwer es für deutsche Juristen gewesen ist, die besonderen Regeln eines Unternehmensinsolvenzrechts zu begreifen. Die Konkursordnung von 187748 war in erster Linie auf den Konkurs einer natürlichen Person zugeschnitten. Akademisch wurde das Konkursrecht von Prozessrechtsprofessoren betrieben und als Vollstreckungsrecht interpretiert. Die Eröffnung eines Insolvenzverfahrens wurde wie eine globale Pfändung des Schuldnervermögens betrachtet. Diese für die Insolvenz eines laufenden Wirtschaftsunternehmens schlicht ungeeignete Sichtweise musste sich ändern49. Sie hat sich auch gründlich geändert. Die deutsche Insolvenzordnung von 1994 setzt sich nicht nur die Verteilung des Schuldnervermögens zum Ziel, sondern auch die Sanierung. Vor allem aber ist heute unstreitig, dass Unternehmensinsolvenzen sehr viel mit Unternehmensfi nanzierung und Unternehmensführung zu tun haben. Der Insolvenzverwalter einer Gesellschaft agiert wie ihr Leitungsorgan und nicht bloß wie ein vollstreckungsrechtlicher Treuhänder. Sogar die Business Judgment Rule, also das Handlungsermessen der Unternehmensleitung, gilt für den unternehmensfortführenden Insolvenzverwalter50. Aber das Unternehmensinsolvenzrecht steckt noch voller Rätsel. Das gilt für den Zerschlagungskonkurs, gilt aber vor allem für die Sanierung.
46 So der zur Parömie gewordene Titel der berühmten Schrift von Engisch, Die Einheit der Rechtsordnung, 1935, Nachdruck mit einem Geleitwort von Arthur Kaufmann 1987; vgl. zu dem Konzept Karsten Schmidt, Einheit der Rechtsordnung – Realität? Aufgabe? Illusion?, in Karsten Schmidt (Hrsg.), Vielfalt des Rechts – Einheit der Rechtsordnung? Hamburger Ringvorlesung, 1994, S. 9 ff. 47 Eingehend Haas in Gottwald (ed.), Insolvenzrechtshandbuch, 3. Aufl. 2006, Kapitel VII. 48 Konkursordnung vom 10.2.1877, RGBl. S. 351. 49 Vgl. Karsten Schmidt, Wege zum Insolvenzrecht der Unternehmen, 1990, S. 1 ff. 50 Uhlenbruck, Corporate Governance, Compliance, and Insolvency Judgment Rule, in FS Karsten Schmidt, 2009, S. 1603 ff.; aber umstritten; anders z. B. Jungmann, Die Business Judgment Rule im Gesellschaftsinsolvenzrecht – Wider eine Haftungsprivilegierung im Regelinsolvenzverfahren und in der Eigenverwaltung, NZI 2009, 80 ff.
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2. Die Chapter-Eleven-Doktrin: Sanierung durch Insolvenzverfahren? a) Das US-amerikanische Recht hat die Insolvenzgesetze der westlichen Welt zu einem Reorganisationskonzept inspiriert. Das exekutorische Konkursdenken der Vergangenheit wird durch ein insolvenzrechtliches Sanierungskonzept abgelöst. Ausdruck dieses Konzepts ist in Deutschland der Insolvenzplan nach §§ 217 ff. InsO. Der Grundgedanke ist einfach und eigentlich nicht neu51: An die Stelle der Versilberung der Masse und mageren Auszahlung der Insolvenzgläubiger tritt ein von der Gläubigermehrheit beschlossener und gerichtlich genehmigter Plan. Dieser soll im Idealfall die Fortführung des Unternehmens gewährleisten. Der Plan kann aber auch eine konzertierte Zerschlagung des Unternehmens zum Inhalt haben. Insgesamt stellt das deutsche Insolvenzrecht den Insolvenzbeteiligten ein gut durchdachtes Insolvenzplanverfahren zur Verfügung, an dem der Insolvenzverwalter, die Gläubiger und das Gericht gleichermaßen beteiligt sind. Dennoch: Das Insolvenzplanverfahren ist bisher kein Erfolg, weil es als perfektionistisch gilt. b) Viele Praktiker, überwiegend Insolvenzverwalter, vermissen im deutschen Recht ein der Insolvenz vorgelagertes Sanierungsverfahren52, ähnlich vielleicht dem in Frankreich eingeführten Sauvegarde-Verfahren53. Auffallend ist allerdings, dass weniger Unternehmensjuristen als Insolvenzverwalter und Insolvenzrechtsprofessoren dies befürworten. Ich stehe dem einstweilen skeptisch gegenüber. Der deutsche Gesetzgeber hat den Unternehmen Wege geebnet, sehr früh, nämlich bei „drohender Zahlungsunfähigkeit“ das Insolvenzverfahren zu beantragen54 und einen Insolvenzplan55 vorzulegen. Wenn die Unternehmen von dieser Einladung in das Insolvenzverfahren keinen Gebrauch machen, dann liegt es eben daran, dass ein staatlich organisiertes Sanierungsverfahren wohl doch keine reine Wohltat ist. Für Unternehmenspraktiker gilt eben der Satz56: „Die beste Sanierung ist früh, schnell und still.“ Sie ist eine Maßnahme der Unternehmensfi nanzierung und -organisation im Schnittfeld von Unternehmens- und Bankrecht, in die sich das Insolvenzrecht erst im Fall ihres Scheiterns einmischen sollte. Die Sanierung durch Gerichtsbeschluss wird niemals die erste Wahl sein. c) Immerhin bleibt ein entscheidender Vorteil: Während die freie Sanierung grundsätzlich nur mit Zustimmung aller, jedenfalls aller Gläubiger funktioniert57, kann der Insolvenzplan mit der Gläubigermehrheit beschlossen werden58. Aber das genügt nur, solange die Gläubiger das Spiel unter sich ausmachen, und ändert sich, wenn auch Gesellschafter mitwirken sollen. Als
51 Der Zwangsvergleich nach §§ 173 ff. KO basierte auf einem ähnlichen Konzept. 52 Vgl. nur Jaffé/Friedrich, Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit des Insolvenzstandorts Deutschland, ZIP 2008, 1849, 1854; eingehend nach Manuskriptabschluss Jacoby und Westpfahl, Vorinsolvenzliche Insolvenzverfahren, ZGR 2010, 359 ff., 385 ff. 53 Artt. 620-1 ff. Code de Commerce (Livre VI, Titre II). 54 § 18 Abs. 1 InsO: „Beantragt der Schuldner die Eröffnung des Insolvenzverfahrens, so ist auch die drohende Zahlungsunfähigkeit Eröffnungsgrund.“ 55 §§ 217 ff. InsO. 56 Vgl. Karsten Schmidt in Kölner Schrift zum Insolvenzrecht, 2. Aufl. 2000, S. 1199 ff. 57 Vgl. BGHZ 116, 319 („Akkordstörer“); zu den Gesellschaftern vgl. Fn. 63. 58 §§ 235 ff. InsO.
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Hauptnachteil des deutschen Insolvenzplanverfahrens im Vergleich mit dem US-amerikanischen Chapter-Eleven-Konzept gilt die starke Stellung der Gesellschafter. Im Chapter-Eleven-Verfahren gelten die Gesellschafter einer insolventen Gesellschaft als eine Gläubigergruppe, die beispielsweise bei einem Debtto-Equity-Swap überstimmt werden kann59. Durch einen einzigen Beschluss werden im Insolvenzverfahren Gläubigerrechte in Beteiligungen umgewandelt. Die deutsche Insolvenzordnung kennt ein solches Einheitsverfahren nicht. Am Insolvenzplanverfahren nehmen außer dem Insolvenzverwalter nur die Gläubiger teil60. Diese Beteiligten können aber eine Satzungsänderung der insolventen Gesellschaft nicht durchführen. Dafür bleiben die Gesellschafter zuständig. Auf beiden Ebenen entscheiden also verschiedene Gremien: die Gläubiger und die Gesellschafterversammlung. Diese können ihre Beschlüsse zwar durch Bedingungen aneinander binden61, aber diese theoretisch so klare Lösung macht die Sache nur noch komplizierter62. Allerdings hat der Bundesgerichtshof jüngst entschieden, dass die Gesellschafter verpfl ichtet sein können, einer Sanierung zuzustimmen und, wenn sie nicht zuzahlen wollen, aus der Gesellschaft auszuscheiden63. Und doch: Für den Debt-to-Equity-Swap wäre es hilfreich, wenn es nur einen Beschluss gäbe: den Beschluss der Gläubiger und Gesellschafter, denn beide werden gleichzeitig benötigt. Genau das wird immer nachdrücklicher gefordert64, womit Insolvenz- und Gesellschaftsrecht näher aneinander heranrücken würden. 3. Konzern-Insolvenzrecht Ein weltweites, eigentlich altes, jedoch niemals überzeugend gelöstes Problem ist das Insolvenzrecht der Unternehmensgruppe65. Die United Nations Commission on International Trade Law (UNCITRAL) in New York hat schon vor 59 Vgl. Westphal/Janjuah, Zur Modernisierung des deutschen Sanierungsrechts, ZIPBeilage 3/2008, S. 1, 14; Jaffé/Friedrich (Fn. 52), ZIP 2008, 1849, 1854. 60 Vgl. Eidenmüller/Engert, Reformperspektiven einer Umwandlung von Fremd- in Eigenkapital (Debt-Equity-Swap) im Insolvenzverfahren, ZIP 2009, 541 ff. 61 § 249 InsO regelt den „bedingten Insolvenzplan“: „Ist im Insolvenzplan vorgesehen, dass vor der Bestätigung bestimmte Leistungen erbracht oder andere Maßnahmen verwirklicht werden sollen, so darf der Plan nur bestätigt werden, wenn diese Voraussetzungen erfüllt sind. Die Bestätigung ist von Amts wegen zu versagen, wenn die Voraussetzungen auch nach Ablauf einer angemessenen, vom Insolvenzgericht gesetzten Frist nicht erfüllt sind.“ 62 Vgl. Eidenmüller/Engert (Fn. 60), ZIP 2009, 541 ff. 63 BGH, Urt. v. 19.10.2009 – II ZR 240/08, BGHZ 183, 1 = NJW 2010, 65 ff. = NZI 2009, 907 ff. = ZIP 2009, 2289 („Sanieren oder Ausscheiden“). 64 Vgl. nach Manuskriptabschluss Bitter und Undritz, Restrukturierung in der Insolvenz, sowie Hirte und Jaffé, Restrukturierung nach der InsO: Gesetzesplan, Fehlstellen und Reformansätze innerhalb einer umfassenden InsO-Novellierung, ZGR 2010, 147 ff., 201 ff., 224 ff. 248. 65 Zuletzt Hirte, Towards a Framework for the Regulation of Corporate Groups’ Insolvencies, European Company and Financial Law Review (ECFR) 2008, 213 ff.; Hirte, Vorschläge für die Kodifi kation eines Konzerninsolvenzrechts, ZIP 2008, 444 ff.; Hirte, Die Tochtergesellschaft in der Insolvenz der Muttergesellschaft als „Verpfändung“ von Konzern-Aktiva an Dritte, in FS Karsten Schmidt, 2009, S. 641 ff.; Karsten Schmidt, Konzern-Insolvenzrecht – Entwicklungsstand und Perspektiven, KTS 2010, 1 ff.; nach Manuskriptabschluss Paulus, Wege zu einem Konzerninsolvenzrecht, ZGR 2010, 270 ff.
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Jahren die Dringlichkeit einer Regelung herausgestellt. Im Uncitral Legislative Guide on Insolvency Law lesen wir wörtlich: „Although a variety of approaches are taken to these very complex issues, it is important that an insolvency regime address matters concerning corporate groups in sufficient procedural detail to provide certainty for all parties concerned in commercial transactions with corporate groups“66. Die wachsende Bedeutung des Konzerninsolvenzrechts hat im Wesentlichen drei Gründe: – Der eine Grund liegt in der zunehmenden Konzentration bei Großunternehmen, die ja nur selten durch Verschmelzungen, meistens dagegen durch Gruppenbildung vollzogen wird. Das Take-over-Szenario bringt Konzerne zur Entstehung: Herrschende und abhängige Unternehmen und am Ende große und komplizierte Unternehmensgruppen. – Hiermit geht der zweite Grund einher: die Globalisierung der Wirtschaft. Sie lässt Tochtergesellschaften durch Auslandsgründungen und Muttergesellschaften durch Take-over-Szenarien entstehen. – Der dritte Grund liegt in der Konjunktur. Als noch gutes Wetter herrschte, stellte die Konzerninsolvenz ein bloßes Haftungsproblem dar. Die Frage war: Haftet die Muttergesellschaft, wenn eine ihrer Töchter failliert? Heute bedrängen uns viel schwierigere Probleme. Immer öfter erleben wir nämlich, dass die Konzerne von oben her einstürzen wie etwa die Kirch-Gruppe, die wie ein Kartenhaus zusammenfiel. Wie also soll das Insolvenzrecht mit Phänomenen wie diesen umgehen? In insolvenzrechtlichem Gewand taucht hier die Frage auf, ob der Konzern eine Subjekteinheit ist oder ob er aus vielen Teilen besteht. Sind mit anderen Worten die Einzelgesellschaften nur profit centers einer großen Haftungseinheit, oder muss jedes Unternehmen separat gesehen werden? Das amerikanische Recht kennt die konsolidierte Insolvenz, das argentinische Recht die extensión de la quiebra, das deutsche dagegen nur die Separatinsolvenz jeder Gesellschaft67. Ich plädiere in diesem Punkt für die deutsche Lösung68. Die Unternehmen einer Unternehmensgruppe unterliegen zwar einer konsolidierten Bilanzierung und vielleicht sogar einer konsolidierten Besteuerung. Aber zunächst einmal sind sie doch Subjekte je für sich selbst. Jedes Konzernunternehmen hat ein eigenes Vermögen, ein eigenes Management und eine eigene Bilanz. Jedes Konzernunternehmen kann florieren oder scheitern und wird im Insolvenzfall separat verwaltet. Gerade wer Klumpenrisiken nicht auch noch verschärfen will, kann nicht der konsolidierten Konzerninsolvenz das Wort reden. 4. Staatsinsolvenzen und Krise des Euro? Zu den Tragödien der Weltfinanzkrise gehört, dass diese Krise auch Staaten an den Rand des Abgrundes gebracht hat. Die Gründe sind unterschiedlich: 66 United Nations Commission on International Trade Law, UNCITRAL Legislative Guide on Insolvency Law (New York 2005), Part Two, V., S. 276, 277 Rz. 85. 67 Eingehend mit rechtspolitischen Vorschlägen Hirte in FS Karsten Schmidt (Fn. 65), S. 641, 644 ff. 68 Vgl. Karsten Schmidt (Fn. 65), KTS 2010, 1 ff.
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– Die einen Staaten haben sich mit Risikopapieren verspekuliert, vor allem durch staatliche Banken. Deutschland ist hier durchaus mit dabei, zwar nicht die Bundesrepublik, wohl aber ihre Teilstaaten, die Bundesländer. Ihre staatlichen Landesbanken weisen besonders große Milliardenlöcher auf. – Fast alle Staaten aber werden durch ihre Stützungsaktionen in Schwierigkeiten kommen: durch Kredite, Bürgschaften und Übernahmen (Takeovers). Deutschland ist da keine Ausnahme. Dass dieses Problem nur ein außereuropäisches ist, mag man, wenn man auf Griechenland blickt, nicht recht glauben. Dies alles hat eine Diskussion wieder belebt: die Diskussion über Staatsinsolvenzen69. Bisher war dies in Deutschland ein Nicht-Problem. Das deutsche Insolvenzrecht lässt Insolvenzverfahren über Staatsvermögen nicht zu. § 12 der deutschen Insolvenzordnung untersagt ein Insolvenzverfahren über das Vermögen der Bundesrepublik und ebenso über das Vermögen der Bundesländer. Der Gesetzgeber kann sogar bezüglich untergeordneter juristischer Personen des öffentlichen Rechts die Durchführung eines Insolvenzverfahrens verbieten, doch muss der Staat dann im Fall der Zahlungsunfähigkeit oder Überschuldung selbst die Arbeitslöhne weiterbezahlen70. Über Staatsinsolvenzen im klassischen Sinne wurde deshalb lange nicht nachgedacht. Insbesondere das Thema „Finanznot der Bundesländer“ war in Deutschland nicht wirklich ein Insolvenzthema, sondern ein Solidaritätsthema im Bundesstaat. Sitz des Problems war der sog. „Länderfi nanzausgleich“ zwischen der Bundesrepublik und den Bundesländern, die ja allesamt Staaten sind. In Not war z. B. schon lange das Land Berlin. Es hatte die Bundesregierung – auch sie in Berlin! – beim Bundesverfassungsgericht auf Sanierungshilfen verklagt. Aber dieser Prozess ging verloren71. Die Länder müssen sich selbst helfen und werden erst dann von der Bundesrepublik unterstützt, wenn ein „bundesstaatlicher Notstand“ eingetreten ist. Dieses Urteil hat zunächst die Verfassungsrechtler auf den Plan gerufen. Sein Thema war nicht insolvenzrechtlicher Art, sondern betraf die Finanzverfassung der Bundesrepublik72, ähnlich wie die Anfang 2010 aufgeflammte Diskussion um Griechenlandhilfen73 die Finanzverfassung der EU betrifft. Neue Forderungen, eine Staatsinsolvenz nach der Insolvenzordnung zuzulassen, werden in Deutschland zurückgewiesen74. Die Staatsverschuldung ist ein Problem der Steuerpolitik, der Staatsverfassung und – wie der Fall Argentiniens gezeigt hat – des Völkerrechts.75 Das zivile Insolvenzrecht passt auf die Risikoverteilung 69 Vgl. Isensee, Damoklesschwert über der Finanzverfassung. Der Staatsbankrott, in Osterloh et al. (ed.), Staat, Wirtschaft, Finanzverfassung, FS für Selmer, 2004, S. 687 ff.; Ohler, Der Staatsbankrott, Juristenzeitung (JZ) 2005, 590 ff. 70 § 12 Abs. 2 InsO. 71 BVerfGE 116, 327 = JuS 2007, 173 m. Anm. Selmer. 72 Vgl. z. B. Selmer, Zur Reform der bundesstaatlichen Finanzverfassung, NVwZ 2007, 872 ff. 73 Vgl. etwa Reinhart/Rogoff, Die griechische Tragödie. Hohe Staatsschulden belasten das Wirtschaftswachstum, FAZ Nr. 36 vom 12.2.2010. 74 Vgl. Selmer, Der „bundesstaatliche Notstand“ eines Landes – eine ungelöste Verfassungsaufgabe, KritV 2008, 171 ff. 75 Dazu Kämmerer, Der Staatsbankrott aus völkerrechtlicher Sicht, ZaöRV 2005, 651 ff.
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Finanzkrise und Wirtschaftsrecht
unter Privatrechtssubjekten. Staaten und Staatengemeinschaften als Gewährträger der monetären Systeme sind keine geeigneten Subjekte für marktbereinigende Liquidations- und Sanierungsszenarien im Überschuldungsfall. Um so mehr kommt es allerdings darauf an, dass wir den Staaten und ihren Politikern vertrauen können. „Irren“, sagt zwar das Sprichwort, „ist menschlich“. Das gilt, wie jüngst eine Zwischenbilanz der Krise ergab, auch für die großen ökonomischen Forschungsinstitute76 und gilt natürlich auch für die Wirtschaftspolitik. Mit Irrtümern und Fehlern müssen wir leben und verantwortungsvoll umgehen. Dazu gehört auch die Erkenntnis, dass das Verabreichen bitterer Medizin77 besseren Erfolg verspricht als das Verabreichen von Schlägen78. Der neue Fall Griechenland79 lässt allerdings die Fragen aufkommen: Wie, wenn Politiker die Lage statt besser nur schlimmer machen? Und wie, wenn die Akteure der Finanzwelt am Ende nicht lernfähig sind? Diese noch unbeantworteten Fragen machen Sorgen. Wenn nämlich das Menschenbild des Kapitalismus auf seine Weise genau so falsch sein sollte, wie es auf der anderen Seite das sozialistische Menschenbild war, dann wäre das Versagen ein anthropologisches und kulturelles. Mit Wirtschaftsrecht – auch mit dem bestmöglichen – wäre dann nichts mehr auszurichten. Lassen wir es besser nicht zu solcher Erkenntnis kommen und agieren wir, wie wir sein sollten (wenn wir es schon nicht sind): weise.
V. Ein rechtskulturelles Problem Damit endet der Beitrag auf einer Fermate, die wohl schon aus Thema, Exposition und Variationen zu erahnen war: Es ist nicht Ausdruck eines zu vermeidenden Schwächeanfalls, wenn sich das Wirtschaftsrecht auf seine Grenzen besinnt. Diese Einsicht zeugt vielmehr von der Selbstverantwortung einer nicht bis ins Letzte vom Recht gesteuerten Gesellschaft und Weltwirtschaft. Eine Gesellschaft, die sich nicht mehr auf ihre frei gewählten Repräsentanten, ein Wirtschaftsleben, das sich nicht mehr auf die wirtschaftsethische Verantwortung ihrer Lenkungspersönlichkeiten verlassen zu können glaubt, hat zwar Grund, das Wirtschaftsrecht auf Verbesserungsmöglichkeiten zu befragen. Sie muss aber das Problem zuvorderst bei sich selbst erkennen, und das heißt im Gesellschaftlichen (z. B. im Versagen und in der Selbstüberschätzung ihrer führenden Köpfe). Der bloße Ruf nach neuen Gesetzen und nach schärferen Vollstreckern macht aber die Sache nicht besser. Was das vorerst80 jüngste Krisengeschehen anlangt, hat die Politik die ihr gegebenen Möglichkeiten beherzt 76 DIE WELT vom 19.12.2009. 77 Vgl. zum Fall Griechenland Clemens Wegrin, Medizin muss bitter sein, DIE WELT vom 12.2.2010, Jan Dams, EU will an Griechenland Exempel statuieren, DIE WELT vom 13.2.2010. 78 Selbst der „böse Friedrich“ in Heinrich Hoffmanns Struwwelpeter wird durch „bitt’re Arzenei“ von den Folgen seiner Missetaten geheilt; das oft als autoritär und ängstigend kritisierte Buch zeigt im Vergleich zum Stand der Zeit auch hier Modernität; man vergleiche etwa Friedrich Wilhelm Gülls „Büblein auf dem Eise“ mit folgendem Schluss: „Das Büblein hat getropfet / Der Vater hat‘s geklopfet / Zu Haus.“ 79 Vgl. statt vieler Daniel Mohr, Zeus muss ran, FAZ Nr. 37 vom 13.2.2010. 80 Der Beitrag ist auf dem Stand des Winters 2009/2010.
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und im Einklang mit der Rechtsordnung genutzt. Sie wird die Wirtschaftsaufsicht verschärfen, um Wiederholungsfälle früher zu erkennen, abzuwenden oder zu vermeiden. Versprechen, dass dies für immer gelingt, kann sie nicht. Ein permanentes Notstandsrecht wäre ein falscher Weg. Und auch im Rückblick auf Fehler der Vergangenheit sollte das Recht zu seinen Grenzen stehen. Es soll nachweisbare Verschuldensfälle sanktionieren, nicht aber seine vermeintliche Stärke dadurch zu beweisen suchen, dass es kollektive Irrtümer gegenüber einzelnen Akteuren gnadenlos abstraft.
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Aufsicht und Kontrolle von Ratingagenturen* unter Mitarbeit von Dr. jur. Claudia Nowak
Inhaltsübersicht I. Die Rolle der Ratingagenturen II. Die Vorwürfe gegen die Ratingagenturen III. Die Regulierung der Ratingagenturen 1. Das US-amerikanische Konzept 2. IOSCO-Grundsätze 3. Die europäische Lösung – Die europäische Verordnung über Ratingagenturen a) Der Anwendungsbereich der Verordnung
b) Die Inhalte der vorgeschlagenen Verordnung (1) Die Vermeidung von Interessenkonfl ikten (2) Die Verbesserung der Rating-Qualität (3) Die Erhöhung der Transparenz (4) Effi zienter Registrierungsund Aufsichtsrahmen IV. Zusammenfassung
In diesen Tagen versuchen alle, die Hintergründe und die Ursachen für die Finanz- und Wirtschaftskrise aufzudecken. Je größer der zeitliche Abstand wird, desto unterschiedlicher sind die Erklärungen. Weitgehend Übereinstimmung besteht aber, dass unterschiedliche Kulturen im Finanzmarkt, nämlich unterschiedliche Rechtskulturen und unterschiedliche Verantwortungskulturen aufeinander gestoßen sind. Unabhängig davon besteht Einigkeit darüber, dass die Ratingagenturen in einem ganz erheblichen Umfang für die Krise verantwortlich waren. So hat der Präsident der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht – BaFin – Jochen Sanio wiederholt erklärt, dass die Ratingagenturen die Hauptschuldigen für das Desaster seien, unter dem heute alle leiden. Und er fügte hinzu: „Das Vertrauen in die Ratingagenturen ist zerstört. Ihr Versagen, um nicht zu sagen, ihre Korrumpierung sind eine der Hauptursachen für die Vertrauenskrise“ 1. Das ist ein schwerer Vorwurf. Er fordert alle Beteiligten, die Verantwortung tragen, heraus, dem näher nachzugehen, nämlich der Stellung der Ratingagenturen im Markt, ihrer Bedeutung für die Entscheidungen der Marktteilnehmer, ihrem Verhalten in jüngerer Zeit und den damit verbundenen Abhängigkeiten. In diesem Zusammenhang sei an Robert Bosch erinnert, dem großen Ingenieur und Humanisten. Er soll gesagt haben: „Es ist besser Geld zu verlieren als Vertrauen.“ Er hatte Recht. Leider hat man in diesen Tagen beides verloren, nämlich Geld und Vertrauen, Vertrauen in die Kreditinstitute, Vertrauen in
* Der Beitrag wurde im April 2010 fertig gestellt. Die nachfolgende Diskussion konnte nicht mehr berücksichtigt werden. 1 Vgl. FAZ v. 30.3.2009, Nr. 75, S. 13.
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das Management, Vertrauen in die Aufsichtsbehörden und Vertrauen in die Ratingagenturen. Dies ist Anlass für die folgenden Überlegungen. Sie sind Hans-Jürgen Hellwig gewidmet, der in glücklicher Weise nicht nur das Vertrauen seiner Klienten gefunden, der nicht nur das Vertrauen der Studierenden sich erworben hat, sondern auch das Vertrauen der Bürger seiner Heimatstadt Frankfurt, das Vertrauen seiner Berufskollegen und das Vertrauen einer internationalen Gemeinschaft, die ihn kennenlernen konnte und durfte.
I. Die Rolle der Ratingagenturen Ratingagenturen spielen eine ungemein wichtige Rolle im Kapitalmarkt. Auf der einen Seite geben sie unabhängige Bewertungen über die Ausfallwahrscheinlichkeiten und über mögliche Verluste von Unternehmen, öffentlichen Körperschaften usw. ab. Auf der anderen Seite geben sie Bewertungen über eine große Zahl unterschiedlicher Finanzinstrumente ab. Diese „credit ratings“ werden von Kreditinstituten, Versicherungsunternehmen und vielen anderen Investoren unterschiedlichster Art verwertet. Dabei werden nicht nur quantitative Faktoren in die Bewertung mit einbezogen, wie etwa die fi nanzielle Leistungskraft, das Eigenkapital, der Cash Flow usw., sondern auch qualitative Informationen, wie etwa die Anlagepolitik und das Risk-Management. Die Ratings können dabei entweder von den Emittenten angefordert werden oder sie werden unaufgefordert zur Verfügung gestellt und veröffentlicht. Deshalb unterscheidet man zwischen „solicited ratings“ und „unsolicited ratings“. Was sind die Gründe, dass Ratings im Kapitalmarkt so eine große Bedeutung erlangt haben? – Erstens: Es ist heute üblich, dass Investoren ihr Kapital nur anlegen, wenn ein gutes Rating besteht. Dabei geht es keineswegs nur um Anlagen in Form von Krediten, Anleihen oder Gesellschaftsbeteiligungen, sprich Aktien. Auch die Versicherungswirtschaft hat gelernt, dass institutionelle Versicherungsnehmer Versicherungen nur mit solchen Versicherungsunternehmen abschließen, die ein gutes Rating haben. – Zweitens: In der internationalen Vertragspraxis werden Ratings als „RatingTrigger“ verwendet. Das sind besondere vertragliche Vereinbarungen, in denen der Gläubiger eines langfristigen Kredits das Recht zur Vertragsbeendigung hat, wenn der Schuldner in seinem Rating herabgestuft wird. – Und drittens: Sowohl im europäischen Recht als auch im nationalen Recht fi nden sich zahlreiche gesetzliche Regelungen, bei denen bestimmte Rechtsfolgen an das Rating angeknüpft werden. Was sind die Folgen? Ratingagenturen haben einen großen Einfluss auf die Marktstellung von Unternehmen, ja sogar Staaten. Das Rating entscheidet darüber, ob ein Vertragspartner Kredit erhält, ob ein Kredit verlängert oder beendet wird und welche Zinsen ein Schuldner zu bezahlen hat. Das zeigt, dass Ratingagenturen nicht nur im Einzelfall großen Einfluss haben, und zwar
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auf das einzelne Rechtsgeschäft, sondern auch, dass sie für die Wirtschaft als Ganzes bestimmend werden. Dadurch ist Rating ein großes internationales Geschäft geworden. Im internationalen Markt agieren im Wesentlichen drei große Ratingagenturen, nämlich Standard & Poor‘s, Moody‘s und Fitch. Standard & Poor‘s ist eine Tochtergesellschaft von McGraw-Hill Companies. Die Agentur hat langjährige Erfahrungen. Sie veröffentlicht schon mehr als 140 Jahre Bewertungen von Kreditrisiken. Das Unternehmen beschäftigt heute ca. 8.500 Angestellte. Und weltweit wurden etwa 230.000 Anleihen und mehr als 10.000 Emittenten geratet. In Europa hat Standard & Poor‘s etwa 600 Industrieunternehmen, 500 Kreditinstitute und 60 Versicherungsunternehmen geratet. Fitch ist eine 100 % Tochtergesellschaft der französichen Fimalac-Gruppe. Standard & Poor‘s, Moody‘s und Fitch sollen heute einen weltweiten Marktanteil von 95 % haben. Ihre Einkünfte werden auf mehr als 5 Mrd. US-Dollar geschätzt und dabei hat sich ein grundlegender Wandel vollzogen. In den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts wurden die Einkünfte vor allem durch Verkauf von Ratings an die Investoren erzielt. Und dann ergab sich eine große Veränderung. Die Agenturen fi nanzierten sich nämlich in der Folgezeit im Wesentlichen durch den Verkauf der Ratings an die Emittenten. Im Blick hierauf sind zwei Geschäftsmodelle zu unterscheiden, nämlich das „investors pays model“ und das „issuer pays model“. Diese wenigen qualifi zierenden Merkmale von Ratingagenturen machen deutlich, dass man für die rechtlichen Regelungen eine weltweite Lösung braucht. Eine Aufsicht allein in den USA oder in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union ist nicht ausreichend.
II. Die Vorwürfe gegen die Ratingagenturen Die gegenwärtige Krise hat die Schwächen der Geschäftsmodelle und der Methoden, die von den Ratingagenturen verwendet wurden, deutlich gemacht. Dabei wird im Folgenden nur referiert: – Erstens: Es wird gesagt, dass Ratingagenturen die besonderen Risiken strukturierter Finanzprodukte unterschätzt haben. Sie basierten auf mathematischen Modellen, die der Marktwirklichkeit nicht standhielten. Die Risiken und die Ratings wurden nämlich aus historischen Entwicklungen abgeleitet. Dagegen wurden die makroökonomischen Faktoren unterbewertet. Eine Vielzahl qualitativer Informationen wurden nicht ausreichend berücksichtigt. So hätte man die „conduits“ und die „structured investment vehicles“ sehr viel besser kontrollieren und bewerten sollen. Und schließlich seien die Risiken einer Fristentransformation ganz und gar unterbewertet worden. – Zweites: Es wird gesagt, Ratingagenturen hätten gerade in jüngster Zeit einen großen Wechsel unter ihren Mitarbeitern gesehen. Ferner seien falsche Anreize gesetzt und schwere Interessenkonfl ikte offenbar geworden. – Drittens: Ein dritter schwerer Vorwurf lautete, dass Ratingagenturen gleichzeitig die Emittenten berieten und an der Ausgestaltung von Verbriefungen aktiv mitwirkten. Dabei hätten sie, so heißt ein hässlicher Vorwurf, ihre Macht missbraucht. In einem Statement der US National Community 331
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Reinvestment Coalition konnte man sogar das Folgende lesen: „The rating agencies knowingly issued false and inflated ratings for securities backed by problematic high-cost loans that have created a financial nightmare for millions of families across the country“2. Dieser Vorwurf beinhaltet, dass Ratings veröffentlicht wurden, obwohl man sich bewusst war, dass die Ratings falsch waren. Das bedeutet schlicht und einfach: Ratingagenturen hätten den Markt betrogen. – Viertens: Schließlich wird vorgetragen, dass es unter den Ratingagenturen keinen angemessenen Wettbewerb gäbe und dass die Ratings aufgrund von Zahlungen durch die Emittenten veröffentlicht würden. Dies habe zu einer großen Zahl unrichtiger Ratings geführt. Es sei ein Zeichen dafür, dass das gegenwärtige Geschäftsmodell der Ratingagenturen zu falschen Ergebnissen führe. Das „issuer pays model“ führe zu schweren Interessenkonflikten. Das „investors pays model“ sei sehr viel besser für die Bedürfnisse des Marktes geeignet. Kürzlich wurde ein ganz neuer Vorwurf formuliert: Ratingagenturen hätten Emittenten und Finanzprodukte, insbesondere strukturierte Anleihen nach dem Beginn der Finanzkrise abgewertet. Dieses „downgrading“ hätte viele Kreditinstitute in größte Schwierigkeiten gebracht. Hinzugefügt wurde, dass diese downgradings nicht gerechtfertigt gewesen seien. Dies sei ein neuerlicher Beweis dafür, dass Ratingagenturen ihre Macht missbraucht hätten.
III. Die Regulierung der Ratingagenturen Angesichts dieser Vorwürfe verwundert es nicht, dass gelegentlich gefordert wird, man müsse die Macht der Ratingagenturen brechen. Dabei wäre es gewiss unsinnig, die Tätigkeit der Ratingagenturen zu verbieten. So darf man entsprechende Forderungen gewiss nicht verstehen. Vielmehr ist das Gegenteil der Fall. Wenn es Ratingagenturen nicht gäbe, müsste man sie erfi nden. Nachzudenken ist aber darüber, wie man Ratings langfristig verbessern und wie man zu diesem Zweck Ratingagenturen überwachen kann. 1. Das US-amerikanische Konzept Die Idee vermehrter Kontrolle von Ratingagenturen ist keineswegs neu und nur als Folge der letzten Finanzkrise zu sehen. In den USA erhielten Ratingagenturen bereits ab 1975 das Prädikat „Nationally recognized statistical rating organization (NRSRO)“ von der Securities and Exchange Commission (SEC) verliehen, wenn sie Herausgeber von glaubhaften und verlässlichen Ratings waren. Problematisch und durch den Enron-3 und WorldCom-Skandal sichtbar wurde jedoch, dass hinter der Bezeichnung als „NRSRO“ weder ein formelles Zulassungsverfahren stand noch die Qualität der abgegebenen Ratings näher
2 Zit. nach Sean J. Egan vor dem US House Committee on Oversight and Government Reform am 22.10.2008. 3 Vgl. Richter, WM 2008, 960: Vier Tage vor dem Zusammenbruch wurde Enron noch mit einem der vier höchsten Bonitätsstufen (Investment Grade) geratet.
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kontrolliert bzw. die Ratingagenturen wirksam beaufsichtigt wurden. Den sog. no-action letter, der die staatliche Unbedenklichkeit von Ratings anerkannter Agenturen bescheinigte, erteilte die SEC vielmehr im Wege eines informellen Verfahrens, ohne dass die einzuhaltenden Kriterien gesetzlich defi niert waren4. Dies änderte sich mit dem im Jahr 2006 verabschiedeten Credit Rating Agency Reform Act. In Sec. 15E des Securities Exchange Act 1934 wird nunmehr die Registrierung und Kontrolle der NRSRO gesetzlich geregelt5. Regulierungsbehörde bleibt die SEC. Diese entscheidet über Zulassung der Ratingagentur als NRSRO bzw. über die Suspendierung oder den Widerruf derselben. Die SEC bewilligt den Antrag einer Ratingagentur nur dann, wenn diese über die nötige fi nanzielle Ausstattung verfügt und die erforderlichen organisatorischen Anforderungen erfüllt, um zutreffende Ratings zu erstellen6. Insbesondere müssen die Agenturen hinreichende organisatorische Maßnahmen belegen, die die Geheimhaltung vertraulicher Informationen sicherstellen und die Interessenkonfl ikte oder andere missbräuchliche Verhaltensweisen verhindern sollen7. Hat die SEC den Registrierungsantrag einer Ratingagentur bewilligt, ist diese verpfl ichtet, Änderungen der im Zulassungsverfahren gemachten Angaben unverzüglich anzuzeigen und jährlich die Aktualität ihrer Angaben zu versichern8. Verletzt die Agentur ihre gesetzlichen Pfl ichten, droht nicht nur die Suspendierung der Registrierung für maximal zwölf Monate, sondern auch der Widerruf der Anerkennung 9. 2. IOSCO-Grundsätze Auch auf internationaler Ebene wurde schon vor der aktuellen Finanzkrise über die Regulierung von Ratingagenturen nachgedacht. Die International Organisation of Securities Commissions – im Folgenden IOSCO – veröffentlichte dazu im Jahr 2003 allgemeine Grundsätze zur Aktivität von Ratingagenturen. Im Dezember 2004 folgte dann der Code of Conduct Fundamentals mit umfangreichen Verhaltensempfehlungen für Ratingagenturen und deren Mitarbeiter, der unter den Eindrücken der Finanzmarktkrise überarbeitet wurde10. Damit sollte ein weltweit einheitlicher Standard für die Erstellung von Ratings geschaffen werden, unabhängig von der rechtlichen Ausgestaltung oder dem Sitz der Agentur. IOSCO erwartet, dass die Agenturen im Wege der Selbstverpflichtung eigene Verhaltenskodizies aufstellen und die Abweichungen zum IOSCO-Kodex kenntlich machen11. Damit soll jeder Marktteilnehmer in die Lage versetzt werden, selbst zu entscheiden, ob er Ratings dieser Agentur vertraut. Im Einzelnen handelt es sich um Empfehlungen, die die Qualität und Vollständigkeit des Ratingsprozesses (Sec. 1) und die Verantwortlichkeit der Agenturen gegen4 5 6 7 8 9 10
Blaurock, ZGR 2007, 603, 616. Wildmoser/Schiffer/Langoth, RIW 2009, 657, 659; Blaurock, ZGR 2007, 603, 617. Sec. 15E (a) (2) (C) Exchange Act; Blaurock, ZGR 2007, 603, 617. Sec. 15E (a) (1) (B) (iii – vi) Exchange Act; Blaurock, ZGR 2007, 603, 617. Sec. 15E (b) (1), (2) Exchange Act; Blaurock, ZGR 2007, 603, 617. Sec. 15E (d) Exchange Act. IOSCO Code of Conduct Fundamentals for Credit Rating Agencies, Revised May 2008, abrufbar unter: www.iosco.org. 11 Introduction IOSCO Code (o. Fußn. 10), S. 2.
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über Auftraggebern und Dritten (Sec. 3) betreffen. Darüber hinaus enthält der IOSCO-Kodex auch Regelungen, die die Unabhängigkeit der Agentur sichern und zur Vermeidung von Interessenkonflikten beitragen sollen (Sec. 2). 3. Die europäische Lösung – Die europäische Verordnung über Ratingagenturen12 Die aktuelle Banken- und Finanzkrise zeigte aber, dass eine Selbstregulierung der Ratingagenturen nicht das geeignete Mittel war, um die strukturellen Probleme des Ratingmarktes zu lösen13. Die Europäische Kommission bevorzugte daher die Schaffung eines detaillierten und verbindlichen Rechts- und Aufsichtsrahmens für Ratingagenturen. Um sog. „Forum shopping“ und eine Arbitrage zwischen den EU-Rechtsordnungen zu vermeiden und die Wettbewerbsbedingungen an amerikanische Maßstäbe anzupassen, wählte die Kommission den Weg der Verordnung14. Die im Hauptteil der Verordnung enthaltenen grundsätzlichen Regelungen werden dabei durch detaillierte Vorgaben in den zwei Anhängen ergänzt, wobei diese nach Bedarf durch die Kommission geändert werden können15. Noch vor dem endgültigen Inkrafttreten der zuvor genannten Verordnung wurde am 2.6.2010 ein Vorschlag zur Änderung der Verordnung über die Beaufsichtigung von Ratingagenturen16 vorgelegt. Darin schlägt die EU-Kommission ein stärker zentralisiertes System zur Beaufsichtigung von Ratingagenturen auf EU-Ebene vor. Ziel ist zugleich eine größere Transparenz im Hinblick auf die Auftraggeber der Ratings. a) Der Anwendungsbereich der Verordnung Die Verordnung defi niert „Rating“ in Art. 3 Abs. 1 lit. a als ein „Bonitätsurteil in Bezug auf ein Unternehmen, einen Schuldtitel oder eine fi nanzielle Verbindlichkeit, eine Schuldverschreibung, eine Vorzugsaktie oder ein anderes Finanzinstrument oder den Emittenten derartiger Schuldtitel, fi nanzieller Verbindlichkeiten, Schuldverschreibungen, Vorzugsaktien oder anderer Finanzinstrumente, das anhand eines etablierten, genau festgelegten Einstufungsverfahrens für Ratingagenturen abgegeben wird“. Jedoch sind die Verordnungsvorschriften nicht für alle „Bonitätsurteile“ bindend. Der europäische Gesetzgeber wollte keine allgemeine Pflicht schaffen, Ratings nur auf der Grundlage dieser Verordnung zu erstellen bzw. nur in entsprechend geratete Wertpapiere zu investie-
12 Verordnung (EG) Nr. 1060/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. September 2009 über Ratingagenturen, ABl. Nr. L 302 v. 17.11.2009, S. 1 (berichtigte Fassung ABl. Nr. L 350 v. 29.12.2009, S. 59). 13 So auch Deipenbrock, WM 2009, 1165, 1174; vgl. auch: Wildmoser/Schiffer/Langoth, RIW 2009, 657, 659; Möllers, JZ 2009, 861, 863. 14 Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über Ratingagenturen v. 12.11.2008, KOM(2008) 704 endg, S. 4 ff. 15 Verordnungsvorschlag (o. Fußn. 14), S. 8; Erwägung 71; Verordnung Nr. 1060/2009 (o. Fußn. 12). 16 COM(2010) 289/3 v. 2.6.2010.
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ren17. Daher sind nur Ratings, die zur Einhaltung von Rechtsvorschriften herangezogen werden können18, von der Verordnung erfasst. Der Verordnungsgeber hatte hier besonders die zur Berechnung der gesetzlichen Eigenkapitalvorschriften19 genutzten Ratings im Blick 20. Art. 4 Abs. 1 der Verordnung, der erst ab dem 7.12.2010 inkrafttritt, bestimmt daher, dass Kreditinstitute, Wertpapierfi rmen, Lebens- und Nichtlebensversicherungsunternehmen, Rückversicherungsunternehmen, OGAW und Einrichtungen der betrieblichen Altersversorgung Ratings nur dann für aufsichtsrechtliche Zwecke verwenden dürfen, wenn sie von Agenturen erstellt wurden, die ihren Sitz in der Gemeinschaft haben und nach den Bestimmungen der Verordnung registriert sind. Umgekehrt nimmt die Verordnung in Art. 2 Abs. 2 insbesondere Ratings vom Anwendungsbereich aus, die nur privaten Zwecken dienen und nicht veröffentlicht werden. Problematisch ist jedoch, dass die meisten Ratingagenturen zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht in der Gemeinschaft ansässig sind. Die Verordnung sieht aber in Art. 4 Abs. 3 Regelungen für die Übernahme von Ratings von DrittstaatenAgenturen vor (Buchstaben f, g und h treten aber erst ab dem 7.6.2011 inkraft). Insbesondere muss eine in einem Mitgliedsstaat ansässige und registrierte Ratingagentur das „Bonitätsurteil“ übernommen haben, und es muss einen „objektiven Grund“ für die Erstellung im Drittstaat vorliegen, um Umgehungen der Verordnungsvorschriften vorzubeugen. Die Agentur ist dabei vollumfänglich für das übernommene Rating verantwortlich, und zwar auch mit Blick auf die Einhaltung von ebenso strengen Anforderungen, wie sie Art. 6 bis 12 der Verordnung vorsehen 21. Darüber hinaus muss die Ratingtätigkeit ganz oder teilweise von der übernehmenden Agentur oder einer Konzerngesellschaft durchgeführt worden sein, so dass die von der Kommission bezweckte Gründung von Tochtergesellschaften im Gemeinschaftsgebiet22 gefördert wird. Eine Benachteiligung von kleineren Drittstaaten-Ratingagenturen soll damit aber nicht verbunden sein. Diese können gemäß Art. 5 Abs. 2 einen Antrag auf Zertifi zierung stellen, wenn die Kommission die Gleichwertigkeit des Regulierungsrahmens des betreffenden Drittstaats festgestellt hat und ihre Ratings keine „systembezogene Bedeutung“ haben, Art. 5 Abs. 1. b) Die Inhalte der vorgeschlagenen Verordnung Die Verbesserung der Ratingqualität erfolgt nach den Vorstellungen der Kommission zweigleisig. Die Verordnung schafft einen rechtlich verbindlichen 17 Erwägung 3, 4 Verordnung Nr. 1060/2009 (o. Fußn. 12). 18 Defi nition für „aufsichtsrechtliche Zwecke“ in Art. 3 Abs. 1 lit. g Verordnung Nr. 1060/2009 (o. Fußn. 12). 19 Durch die Verordnung sollte zwar nicht das Anerkennungsverfahren für externe Ratingagenturen (ECAI) gemäß der Basel II-Richtlinie 2006/48/EG ersetzt werden. Jedoch müssen sich anerkannte ECAIs nach der Verordnung registrieren lassen, wenn sie nicht nur die von der Verordnung ausgenommenen Ratings gemäß Art. 2 Abs. 2 abgeben wollen, Art. 2 Abs. 3, Erwägung 44, Verordnung Nr. 1060/2009 (o. Fußn. 12). Siehe auch Erwägung 23, Richtlinie 2009/11/EG v. 16.9.2009 (ABl. Nr. L 302 v. 17.11.2009, S. 97). 20 Erwägung 1 Verordnung Nr. 1060/2009 (o. Fußn. 12). 21 Art. 4 Abs. 3 lit. b, Abs. 5 Verordnung Nr. 1060/2009 (o. Fußn. 12). 22 Erwägung 55 Verordung Nr. 1060/2009 (o. Fußn. 12).
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Aufsichts- und Regulierungsrahmen, der zu einem „reibungslos funktionierenden Binnenmarkt“ beitragen und ein „hohes Maß an Verbraucher- und Anlegerschutz“ gewährleisten soll23. Daneben sollen sich die Ratingagenturen weiterhin im Rahmen der Selbstverpfl ichtung den Grundsätzen des IOSCOKodex unterwerfen, was durch den Ausschuss der europäischen Wertpapierregulierungsbehörde (CESR) überwacht wird 24. Die Verordnung greift teilweise die von IOSCO vorgegebenen Grundsätze auf und formuliert detaillierte Regelungen, die: – der Vermeidung von Interessenkonflikten im Ratingprozess dienen oder die zumindest eine angemessene Handhabung bestehender Konfl ikte ermöglichen sollen; – zur Verbesserung der Qualität der angewandten Ratingmethoden und -modelle beitragen sollen; – durch Festlegung von Offenlegungspfl ichten die Transparenz des Ratingprozesses erhöhen sollen, und – die einen effi zienten Registrierungs- und Aufsichtsrahmen für Ratingagenturen schaffen sollen 25. (1) Die Vermeidung von Interessenkonfl ikten Art. 6 Abs. 1 der Verordnung regelt die Pflicht der Ratingagenturen, ihre Ratings frei von Interessenkonfl ikten zu erstellen und sich insbesondere nicht durch bestehende Geschäftsbeziehungen beeinflussen zu lassen. Im Anhang I der Verordnung werden dazu konkrete organisatorische (Abschnitt A) und operationelle (Abschnitt B) Anforderungen für die Ratingagenturen geregelt und auch für die am Ratingverfahren beteiligten Mitarbeiter werden Verhaltenspflichten (Abschnitt C) statuiert. (a) Die Stärkung der gesellschaftsinternen Aufsichtsstruktur. Nach Art. 6 Abs. 1 hat die Ratingagentur alle erforderlichen Schritte zu unternehmen, damit insbesondere Interessenkonfl ikte, die die Ratingtätigkeit beeinträchtigen können, ordnungsgemäß ermittelt, gehandhabt und offen gelegt werden. Im Einzelnen besteht für die Agentur die Pfl icht, ein Verwaltungs- bzw. Aufsichtsorgan einzurichten 26, das mindestens zu einem Drittel mit unabhängigen Mitgliedern besetzt sein muss, wobei aber auch nicht weniger als zwei unabhängige Mitglieder vorhanden sein dürfen 27. Unabhängigkeit wird von der Verordnung im Sinne der Empfehlung 2005/162/EG der Kommission vom 15.2.2005 defi-
23 Art. 1 Verordnung Nr. 1060/2009 (o. Fußn. 12). 24 Erwägung 8 Verordnung Nr. 1060/2009 (o. Fußn. 12); siehe zur Einrichtung einer Europäischen Wertpapieraufsichtsbehörde, Möllers, NZG 2010, 285, 288. Verordnungsvorschlag KOM(2009) 503 endg, S. 2 der unter anderem die Umbildung von CESR in eine Europäische Wertpapieraufsichtsbehörde (ESMA) vorsieht. Vgl. dazu auch: Hopt, NZG 2009, 1401. 25 Verordnungsvorschlag (o. Fußn. 14), S. 4. 26 Anhang I, Abschnitt A, Nummer 1 Verordnung Nr. 1060/2009 (o. Fußn. 12). 27 Anhang I, Abschnitt A, Nummer 2, Unterabs. 3 Verordnung Nr. 1060/2009 (o. Fußn. 12).
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niert28. Nur teilweise werden die Anforderungen modifi ziert. So dürfen die unabhängigen Mitglieder nicht in die Ratingtätigkeit eingebunden sein und sie dürfen nicht – auch nicht in geringem Umfang – erfolgsabhängig vergütet werden. Darüber hinaus kann eine über fünf Jahre hinausgehende Amtszeit für die unabhängigen Mitglieder nicht vereinbart werden; auch eine Verlängerung des Mandats ist – im Unterschied zu Anhang II, 1 lit. h der Empfehlung 2005/162/EG – nicht möglich. In Deutschland sind damit nur Ratingagenturen in der Rechtsform einer Kapitalgesellschaft registrierungsfähig. Sie sind gehalten, einen Aufsichtsrat entsprechend den Anforderungen des § 100 Abs. 5 AktG zu bilden 29. Die Verordnung sieht dabei insbesondere für die unabhängigen Mitglieder eine spezielle Überwachungsaufgabe vor, wie beispielsweise die Kontrolle der Wirksamkeit des internen Qualitätskontrollsystems oder die Kontrolle der Wirksamkeit der implementierten organisatorischen Maßnahmen zur Erkennung und Beseitigung von Interessenkonfl ikten30. Im dualistischen System wird die Überwachungsaufgabe jedoch organbezogen defi niert und nicht direkt auf einzelne Organmitglieder übertragen. Daher sind die Verordnungsbestimmungen hierzulande so auszulegen, dass der Aufsichtsrat, insbesondere der Prüfungsausschuss, diese Überwachungsaufgabe zu erfüllen hat, auch wenn er nicht ausschließlich mit unabhängigen Mitgliedern besetzt ist 31. Daneben verpfl ichtet die Verordnung registrierungswillige Ratingagenturen, eine beständige und wirksame „Compliance-Funktion“ zu schaffen. Das bedeutet insbesondere, dass eine entsprechende Compliance-Organisation implementiert werden muss, die die Einhaltung der Verordnungsvorschriften gewährleistet, und dass ein Compliance-Beauftrager zu benennen ist. Ergänzend wird in Anhang I, Abschnitt C, Nummer 5 eine Pfl icht der am Rating beteiligten Mitarbeiter zum Whistleblowing geregelt 32. Diese Mitarbeiter müssen illegales Verhalten eines am Ratingverfahren beteiligten Kollegen unverzüglich dem Compliance-Beauftragten melden. Die Ratingagentur hat dabei sicherzustellen, dass dem Whistleblower keine Nachteile entstehen. Entlehnt ist diese Anforderung aus dem US-amerikanischem Recht, konkret Sec. 301 (10A) des Sarbanes-Oxley Act, der die Einrichtung einer Whistleblowing-Stelle durch den Prüfungsausschuss ausdrücklich vorschreibt. Hierzulande trifft man aber auf arbeitsrechtliche und datenschutzrechtliche Probleme, wenn man die Mitar-
28 Erwägung 29 Verordnung Nr. 1060/2009 (o. Fußn. 12). 29 Das sind sowohl kapitalmarktorientierte Aktiengesellschaften nach § 100 Abs. 5 AktG i. V. m. § 264d HGB und kapitalmarktorientierte GmbHs, die gemäß § 324, § 264d HGB i. V. m. § 100 Abs. 5 AktG oligatorisch einen Aufsichtsrat bzw. Prüfungsausschuss zu bilden haben. 30 Anhang I, Abschnitt A, Nummer 2, Unterabs. 6 Verordnung Nr. 1060/2009 (o. Fußn. 12). 31 Nach den Änderungsvorschlägen des europäischen Parlaments sollte diese Überwachungsaufgabe einer zusätzlich einzurichtenden „Überwachungsstelle“ zukommen, deren Mitglieder nicht der Geschäftsführung angehören. In Deutschland ist dies schon wegen der organisatorischen Trennung nach § 105 Abs. 1 AktG der Fall. Siehe dazu: Änderungsantrag 148, Entwurf einer Legislativen Entschließung des Europäischen Parlaments, KOM(2008)0704 – C6-0397/2008 – 2008/0217(COD). 32 Siehe zur allgemeinen Pfl icht zur Einrichtung einer Whistleblowing-Stelle: Uwe H. Schneider/Nowak in Festschrift Kreutz, 2009, S. 841, 848.
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beiter zur Einhaltung US-amerikanischer Standards verpfl ichten will33. Die in Deutschland ansässigen Ratingagenturen sollten daher die Rechtslage klären, bevor sie entsprechende Verpfl ichtungen regeln. (b) Die Regulierung des solicited rating. Die Verordnung hat vor allem die vom Emittenten beauftragten Ratings (solicited ratings) im Blick. Verboten ist die Erbringung von Beratungsleistungen für das bewertete Unternehmen oder verbundener Dritter in Bezug auf die Unternehmens- oder Rechtsstruktur, Vermögenswerte, Verbindlichkeiten oder Tätigkeiten des betreffenden Unternehmens 34. Insbesondere dürfen keine Vorschläge oder Empfehlungen für die Konzeption stukturierter Produkte abgegeben werden, zu denen ein Rating erstellt werden soll35. Andere Nebendienstleistungen, wie Marktprognosen oder Einschätzungen der wirtschaftlichen Entwicklung, können aber weiterhin auch für das bewertete Unternehmen erbracht werden, solange die Ratingagenturen das Ratinggeschäft rechtlich und betrieblich davon abtrennen36, keine Interessenkonfl ikte dadurch entstehen und die entsprechenden Dokumentationspfl ichten37 erfüllt werden. Insbesondere hat die Ratingagentur eine Liste der bewerteten Unternehmen und ihrer Konzernunternehmen zu veröffentlichen, von denen sie mehr als 5 Prozent ihrer Jahreseinnahmen erhält 38. Damit ist die Regulierung des sog. „issuer pays model“ aber noch nicht abgeschlossen. Durch die Kommission soll geprüft werden, ob die Errichtung einer öffentlichen europäischen Ratingagentur als Alternative sinnvoll erscheint 39. Organisieren könnte man diese Ratingagentur in Form einer Stiftung. Damit wäre die Unabhängigkeit gewährleistet. Das Europäische Parlament bevorzugte bereits im Gesetzgebungsprozess die Einrichtung einer öffentlichen Agentur als Non-Profit-Organisation40. Schließlich habe die Krise gezeigt, dass es neuer Akteure auf dem Ratingmarkt bedürfe. Dieser Änderungsantrag blieb jedoch erfolglos. Dies ist zu begrüßen; denn damit würde wohl eher ein „staatliches“ Ratingmonopol erreicht. Ob das der Verbesserung der Ratingqualität zuträglich ist, darf ernsthaft bezweifelt werden. (c) Die Vorschriften für Mitarbeiter. Die Verordnung sieht ähnlich wie bei Wirtschaftsprüfern nach Art. 7 Abs. 4 die Einführung eines geeigneten graduellen
33 Dazu beispielsweise: Wybitul, BB 2009, 1582; Mahnhold, NZA 2008, 737; auch: LAG Düsseldorf v. 14.11.2005 – 10 TaBV 46/05, NZA-RR 2006, 81. 34 Anhang I, Abschnitt B, Nummer 4 Verordnung Nr. 1060/2009 (o. Fußn. 12). 35 Anhang I, Abschnitt B, Nummer 5 Verordnung Nr. 1060/2009 (o. Fußn. 12). 36 Anhang I, Abschnitt B, Nummer 6 Verordnung Nr. 1060/2009 (o. Fußn. 12): Unabhängigkeit der Berichts- und Kommunikationskanäle, die die Unabhängigkeit der Analysten und der am Ratingverfahren beteiligten Personen von anderen Sparten der Agentur gewährleisten. 37 Anhang I, Abschnitt B, Nummer 4, Unterabs. 2 Verordnung Nr. 1060/2009 (o. Fußn. 12): Im Abschlussbericht eines Ratings soll offen gelegt werden, welche Nebendienstleistungen für das bewertete Unternehmen erbracht wurden. Anhang I, Abschnitt E, I. Nummer 2: Angabe eines Verzeichnisses von Nebendienstleistungen, die durch die Ratingagentur erbracht werden. 38 Anhang I, Abschnitt B, Nummer 2 Verordnung Nr. 1060/2009 (o. Fußn. 12). 39 Erwägung 73 Verordnung Nr. 1060/2009 (o. Fußn. 12). 40 Siehe Änderungsantrag 6 und 114, Entwurf einer legislativen Entschließung des Europäischen Parlaments (o. Fußn. 30).
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Rotationsverfahrens für am Ratingverfahren beteiligte Analysten und Mitarbeiter vor. Die Rotation hat danach gestaffelt zu erfolgen, so dass nur einzelne Personen ausgetauscht werden, nicht aber der gesamte Mitarbeiterstab. Dafür sieht Anhang I, Abschnitt C, Nummer 8 unterschiedliche Wechselzeiten für die am Rating beteiligten Personen vor. Führende Ratinganalysten dürfen nicht länger als vier Jahre bei der Bewertung eines Unternehmens oder einer Unternehmensgruppe beschäftigt worden sein. Das Gleiche gilt für andere Ratinganalysten nach fünf Jahren. Alle übrigen am Rating beteiligten Mitarbeiter müssen nach sieben Jahren wechseln. Zusätzlich besteht eine Wartefrist von zwei Jahren, bis diese Mitarbeiter erneut bei der Erstellung von Ratings für diese Unternehmen beteiligt werden dürfen41. Darüber hinaus sind in der Verordnung noch Antikorruptions- und Inkompatibilitätsregelungen sowie Erwerbsverbote zu fi nden. Die am Ratingverfahren beteiligten Mitarbeiter dürfen keine Vorteile von Personen oder Unternehmen annehmen, die mit der Ratingagentur in einem Geschäftsverhältnis stehen42. Sie oder Personen, die in enger Beziehung zu ihnen stehen dürfen auch keine Finanzinstrumente des bewerteten Unternehmens oder der Unternehmensgruppe besitzen43 oder diese kaufen bzw. verkaufen44. (2) Die Verbesserung der Rating-Qualität (a) Die Einrichtung einer Kontrollstelle. Die Verordnung verpfl ichtet die Agenturen, das Ratingverfahren und die zugrunde liegenden Informationen ständig zu überprüfen. Dazu gehört es nicht nur, dass die Informationsgrundlage für die Bewertung hinreichend vollständig und vor allem den Tatsachen entspricht45. Die Ratingagentur muss ihre Ratings und Methoden auch laufend, mindestens einmal jährlich, überprüfen, Art. 8 Abs. 5. Zur „regelmäßige Überprüfung der Methoden, Modelle und grundlegenden Annahmen“ und insbesondere auch zur Überprüfung der Zweckmäßigkeit dieser Verfahren bei neuen Finanzprodukten hat die Ratingagentur eine Kontrollstelle einzurichten46. Die Effi zienz der Kontrollstelle ist dabei durch den Aufsichtsrat bzw. den Prüfungsausschuss zu kontrollieren47. Diesem gegenüber besteht auch eine Berichtspfl icht48. Des Weiteren darf die Ratingagentur auch wichtige betriebliche Aufgaben, die die Ratingqualität sichern sollen, nicht auslagern, Art. 9. (b) Die fachliche Mindestanforderungen. Hinzu kommen fachliche Anforderungen an die beteiligten Personen. So müssen die Aufsichtsratsmitglieder 41 42 43 44 45
Anhang I, Abschnitt C, Nummer 7 Verordnung Nr. 1060/2009 (o. Fußn. 12). Anhang I, Abschnitt C, Nummer 4 Verordnung Nr. 1060/2009 (o. Fußn. 12). Anhang I, Abschnitt C, Nummer 2 Verordnung Nr. 1060/2009 (o. Fußn. 12). Anhang I, Abschnitt C, Nummer 1 Verordnung Nr. 1060/2009 (o. Fußn. 12). Art. 8 Abs. 2 Verordnung Nr. 1060/2009 (o. Fußn. 12): geeignete Verfahrens zur Sammlung sämtlicher relevanter Daten und Überprüfung der Genauigkeit und Glaubwürdigkeit der Daten. 46 Anhang I, Abschnitt A, Nummer 9 Verordnung Nr. 1060/2009 (o. Fußn. 12). 47 Anhang I, Abschnitt A, Nummer 2 Unterabs. 6 lit. b Verordnung Nr. 1060/2009 (o. Fußn. 12). 48 Anahng I, Abschnitt A, Nummer 9 Unterabs. 2 Verordnung Nr. 1060/2009 (o. Fußn. 12).
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mehrheitlich „ausreichende Fachkenntnisse im Bereich Finanzdienstleistung“ mitbringen. Mindestens zwei Aufsichtsratsmitglieder, wovon eines zusätzlich die Unabhängigkeitsanforderungen erfüllen muss, sollten zudem über „weitreichende Kenntnisse und Erfahrungen mit den Märkten für strukturierte Finanzinstrumente“ verfügen und diese auf „leitender Ebene“ gesammelt haben49. Bei den am Ratingverfahren unmittelbar beteiligten Mitarbeitern haben die Agenturen sicher zu stellen, dass diese die für ihre Aufgabe angemessenen Kenntnisse und Erfahrungen haben50. (c) Die Förderung des Wettbewerbs. Der mangelnde Wettbewerb auf dem Ratingmarkt wird häufig für die mäßige Qualität der Ratings verantwortlich gemacht. Die Verordnung sieht für Ratingagenturen mit weniger als 50 Mitarbeitern die Befreiung von bestimmten Anforderungen vor, Art. 6 Abs. 3. Insbesondere müssen diese Agenturen kein Rotationsverfahren für ihre Mitarbeiter einrichten und sie sind unter bestimmten Umständen von der Einrichtung einer Compliance-Organisation nach dem Vorbild des Anhangs I, Abschnitt A, Nummer 5 und 6 befreit. Darüber hinaus sind keine weiteren wettbewerbsfördernden Maßnahmen vorgesehen. Die vom Europäischen Parlament im Gesetzgebungsverfahren vorgeschlagene informative Gleichbehandlung sämtlicher Ratingagenturen wurde nämlich nicht in die Verordnung übernommen51. (3) Die Erhöhung der Transparenz Registrierte Ratingagenturen werden dazu verpfl ichtet, einmal jährlich einen Transparenzbericht mit den in Anhang I, Abschnitt E, III. geforderten Informationen offen zu legen, Art. 12. Dazu gehören insbesondere detaillierte Informationen über die Rechtsstruktur und die Besitzverhältnisse der Ratingagentur, einschließlich der Beteiligungen, die Beschreibung des internen Qualitätskontrollsystems, der Rotationspolitik und der Geschäftsführung, sowie die Ergebnisse der jährlichen internen Überprüfung der Compliance-Funktion. (a) Die strukturierten Finanzprodukte. Insbesondere die Nutzung der gleichen Ratingkategorien für traditionelle und strukturierte Finanzprodukte wurde als erheblicher Beitrag zur Finanzkrise betrachtet. Daher widmet sich die Verordnung in besonderer Weise der letzteren Produktgruppe. In Art. 10 Abs. 3 wird eine unterschiedliche Kategorisierung bei herkömmlichen und strukturierten Finanzinstrumenten vorgeschrieben, die durch konkrete Offenlegungspfl ichten in Anhang I, Abschnitt D, II. ergänzt wird. So müssen beispielsweise die Methoden, anhand derer das Rating bestimmt wurde, ausführlich beschrieben und dargelegt werden. Dabei ist auf eindeutige und leicht verständliche Formulierungen zu achten. Außerdem sind regelmäßig Informationen über sämtliche bewertete strukturierte Finanzprodukte zu veröffentlichen, unabhängig
49 Anhang I, Abschnitt A, Nummer 2 Verordnung Nr. 1060/2009 (o. Fußn. 12). 50 Art. 7 Abs. 1 Verordnung Nr. 1060/2009 (o. Fußn. 12). 51 Änderungsantrag 76 des Entwurfs einer Legislativen Entschließung des Europäischen Parlaments (o. Fußn. 30) sieht vor, dass Emittenten, die einer zugelassenen Agentur Informationen für die Erstellung eines Ratings zukommen lassen haben, diese Informationen auf Verlangen auch an andere Analysedienste weitergeben müssen.
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davon, ob die Agentur mit dem endgültigen Rating beauftragt wurde oder nur Vorabbewertungen erfolgt sind. (b) Die Qualität der verwendeten Informationen. Transparenzpflichten werden auch im Bezug zur Qualität der verwendeten Informationen begründet. Problematisch ist in dieser Hinsicht das unaufgeforderte (sog. „unsolicited rating“), da es hier häufig an einer vollständigen Informationsgrundlage fehlt52. Art. 10 Abs. 5 verpfl ichtet die Ratingagenturen ausdrücklich, den Charakter als unsolicited rating offen zu legen und anzugeben, ob das bewertete Unternehmen in den Ratingprozess eingebunden war und ob Zugang zu relevanten Unternehmensdokumenten bestand. Darüber hinaus sind bei allen veröffentlichten Ratings Anmerkungen darüber zu machen, ob die verfügbaren Informationen seitens der Agentur für zufriedenstellend erachtet wurden und in welchem Maße die zur Verfügung gestellten Informationen evaluiert wurden53. (4) Effi zienter Registrierungs- und Aufsichtsrahmen (a) Das Registrierungsverfahren. Die Verordnung sieht eine Registrierungspflicht für Agenturen vor, die marktrelevante Ratings erstellen wollen. Für die Registrierung ist formell die entsprechende nationale Behörde des Mitgliedstaats zuständig, in dem die Ratingagentur ihren satzungsmäßigen Sitz hat54; sie erlässt den Registrierungs- oder Ablehnungsbescheid. Die materielle Entscheidung wird aber nicht nur allein von dieser sog. „zuständigen Behörde des Herkunftsmitgliedstaats“ getroffen. An der Entscheidung sind auch zuständige Behörden anderer Mitgliedstaaten und der Ausschuss der europäischen Wertpapierregulierungsbehörden (CESR) beteiligt. So ist der Registrierungsantrag55 gemäß Art. 15 Abs. 1 nicht bei der zuständigen Behörde des Herkunftsmitgliedstaats, in Deutschland also bei der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin)56, einzureichen, sondern beim CESR, der dann zusammen mit einer Empfehlung über die Vollständigkeit der Unterlagen, die Weiterleitung des Antrags an die zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten veranlasst57. Wird die Registrierung für einen Ratingkonzern beantragt, genügt es, wenn eine Ratingagentur mit entsprechender Bevollmächtigung der Übrigen den Antrag einreicht58; zu beachten ist jedoch, dass die in
52 Möllers, JZ 2009, 861, 865 f. 53 Anhang I, Abschnitt D, Nummer 4 Verordnung Nr. 1060/2009 (o. Fußn. 12). 54 Art. 14 Abs. 4 i. V. m. Art. 3 Abs. 1 lit. c Verordnung Nr. 1060/2009 (o. Fußn. 12), aber Pläne zur Umgestaltung der europäischen Aufsichtsstruktur zum 1.1.2011, BTDrucks. 17/716, S. 8. 55 Inhalte des Registrierungsantrags fi nden sich im Anhang II der Verordnung Nr. 1060/2009 (o. Fußn. 12). 56 § 17 Abs. 1 WpHG-E gemäß Entwurf des Auführungsgesetzes zur Verordnung (EG) Nr. 1060/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. September 2009 über Ratingagenturen, BT-Drucks. 17/716; Möllers, NZG 2010, 285, 287. 57 Art. 15 Abs. 4 Verordnung Nr. 1060/2009 (o. Fußn. 12). 58 Der Antrag ist in der für den Herkunftsmitgliedstaat rechtsverbindlichen Sprache abzufassen, Art. 15 Abs. 3 Verordnung Nr. 1060/2009. Gemäß § 17 Abs. 3 WpHG-E des Gesetzesentwurfs (o. Fußn. 55) ist dies die deutsche Sprache. Jedoch kann die BaFin auch eine englische Übersetzung anfordern, wenn dies zur Abstimmung mit anderen
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Anhang II der Verordnung aufgelisteten Angaben für jede Konzerngesellschaft gesondert anzugeben sind, Art. 15 Abs. 2. Die zuständige Behörde des Herkunftsmitgliedstaats prüft dann unter Berücksichtigung der Empfehlung des CESR die Vollständigkeit des Registrierungsantrags59 und richtet innerhalb von zehn Tagen nach Antragseingang ein Kollegium der zuständigen Behörden ein60, die aus ihrer Mitte einen Fazilitator als Vorsitzenden wählen61. Im Falle des Antrags einer Ratingagentur besteht das Kollegium grundsätzlich aus der zuständigen Behörde des Herkunftsmitgliedstaats. Dagegen sind bei einem Antrag eines Ratingkonzerns sämtliche zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten im Kollegium vertreten, in denen die Konzerngesellschaften ihren satzungsmäßigen Sitz haben, Art. 29 Abs. 262. Stellt die zuständige Behörde des Herkunftsmitgliedstaats die Vollständigkeit des Registrierungsantrags fest, teilt sie dies der Ratingagentur, den Mitgliedern des Kollegiums und dem CESR mit, Art. 15 Abs. 5 Unterabs. 2. Innerhalb von 60 Werktagen, spätestens aber innerhalb von 90 Werktagen muss der Antrag von den im Kollegium vertretenen Behörden gemeinsam geprüft worden sein63. Gelangen diese zu einer Einigung, verfasst die zuständige Behörde des Herkunftsmitgliedstaats einen entsprechend begründeten Entscheidungsentwurf und übermittelt diesen dem Fazilitator. Sind die Mitglieder des Kollegiums uneinig, erstellt die zuständige Behörde des Herkunftsmitgliedstaats einen ablehnenden Entscheidungsentwurf und übermittelt diesen mit den Stellungnahmen der Mitglieder, die eine Registrierung befürworten, dem Fazilitator64. Dieser Entscheidungsentwurf ist dann dem CESR zuzuleiten, der dazu regelmäßig eine Entscheidungsempfehlung abgeben wird65. Die zuständige Behörde des Herkunftsmitgliedstaats verfasst dann unter Berücksichtigung dieser Empfehlung66 einen vollständig begründeten Registrierungs- oder Ablehnungsbescheid67. Ist jedoch das Kollegium auch nach Empfehlung des CESR weiterhin
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Behörden notwendig ist. Bei Konzerngesellschaften ausländischer Ratingkonzerne kann die Antragsstellung auch ausschließlich in englischer Sprache gestattet werden. Art. 15 Abs. 5 Verordnung Nr. 1060/2009 (o. Fußn. 12). Art. 29 Abs. 1 Verordnung Nr. 1060/2009 (o. Fußn. 12); am 4.6.2010 erließ CESR Leitlinien, die auch die Arbeitsweise des Kollegiums betreffen, Art. 21 Abs. 2 lit. b Verordnung Nr. 1060/2009 (o. Fußn. 12) i. V. m. CESR Guidance, abrufbar unter www. cesr-eu.org. Art. 29 Abs. 5 und 6 Verordnung Nr. 1060/2009 (o. Fußn. 12). Daneben können gemäß Art. 29 Abs. 3 Verordnung Nr. 1060/2009 (o. Fußn. 12) noch zuständige Behörden der Mitgliedstaaten Mitglieder im Kollegium werden, in deren Hoheitsgebiet die Ratingagentur Zweigniederlassungen gegründet hat oder in dessen Zuständigkeitsgebiet die Ratings dieser Agentur für aufsichtsrechtliche Zwecke verwendet werden. Art. 16 Abs. 1 lit. b; für Ratingkonzerne: Art. 17 Abs. 1 lit. b Verordnung Nr. 1060/2009 (o. Fußn. 12). Art. 16 Abs. 4 Unterabs. 2; für Ratingkonzerne: Art. 17 Abs. 4 Unterabs. 2 Verordnung Nr. 1060/2009 (o. Fußn. 12). Art. 16 Abs. 6 und 7; für Ratingkonzerne: Art. 17 Abs. 6 und 7 Verordnung Nr. 1060/2009 (o. Fußn. 12). Auch Art. 21 Abs. 2 Verordnung Nr. 1060/2009 (o. Fußn. 12), der der entscheidenden Behörde die Pfl icht zur Berücksichtigung von CESR-Empfehlungen vorgibt. Art. 16 Abs. 7; für Ratingkonzerne: Art. 17 Abs. 7 Verordnung Nr. 1060/2009 (o. Fußn. 12).
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uneinig, hat die zuständige Behörde des Herkunftsmitgliedstaats einen umfassend begründeten Ablehnungsbescheid zu erlassen68. Innerhalb von fünf Tagen ist diese Entscheidung der betreffenden Ratingagentur sowie der Kommission, CESR und den zuständigen Behörden des Kollegiums mitzuteilen. Im Amtsblatt der Europäischen Union wird dann von der Kommission ein ständig zu aktualisierendes Verzeichnis der registrierten Ratingagenturen veröffentlicht, Art. 18. (b) Die Aufsichtsbefugnisse. Auch die in der Verordnung geregelten Aufsichtsbefugnisse stehen nicht nur der formell für die Registrierung zuständigen Behörde zu, sondern auch anderen im Kollegium vertretenen Behörden. So sind die zuständigen Behörden gemäß Art. 23 Abs. 3 im Einklang mit dem nationalen Recht mit Auskunfts- und Einsichtsrechten auszustatten. In Deutschland berechtigt § 17 Abs. 4 WpHG-E die BaFin zu stichprobenartigen Prüfungen, auch ohne dass ein besonderer Anlass dazu gegeben ist. Darüber hinaus soll die Einhaltung der Verordnung durch die Ratingagenturen gemäß § 17 Abs. 5 WpHG-E einmal jährlich durch einen von der BaFin beauftragten Prüfer (Wirtschaftsprüfer oder WP-Gesellschaft) kontrolliert werden, um eine effektive Aufsicht zu gewährleisten69. Die Verletzung vieler Verordnungsvorschriften ist nach § 39 WpHG-E bußgeldbewert70. In vier besonders schweren Fällen kann auch ein Bußgeld von bis zu einer Million Euro verhängt werden71, in den übrigen Fällen ist ein Bußgeldrahmen von jeweils bis zu 200.000 Euro vorgesehen. Für die zuständige Registrierungsbehörde regelt Art. 24 der Verordnung einen umfangreichen Maßnahmenkatalog, der vom Widerruf der Registrierung über die Aussetzung der Verwendung von Ratings dieser Agentur für aufsichtsrechtliche Zwecke bis hin zur vorübergehende Suspendierung der Agentur reicht. In Deutschland ist nach § 17 Abs. 2 WpHG-E die BaFin für die Verhängung dieser Maßnahmen zuständig. Inländische Ratingagenturen können gegen die von der BaFin erlassenen Verwaltungsakte Widerspruch bzw. Anfechtungsklage erheben. Zu beachten ist aber, dass § 17 Abs. 6 WpHG-E die aufschiebende Wirkung entfallen lässt und damit eine sofortige Vollstreckung des Verwaltungsaktes möglich ist72. Für die anderen zuständigen Behörden im Kollegium sieht die Verordnung ähnliche Befugnisse vor, jedoch nur mit Wirkung in ihrem Zuständigkeitsbereich73. Vor dem Erlass einer Maßnahme muss aber das Kollegium konsultiert 68 Art. 16 Abs. 7 Unterabs. 2; für Ratingkonzerne: Art. 17 Abs. 7 Unterabs. 2 Verordnung Nr. 1060/2009 (o. Fußn. 12). 69 Siehe Gesetzesentwurf (o. Fußn. 55). 70 Siehe Gesetzesentwurf (o. Fußn. 55). 71 Das ist der Fall, wenn eine Ratingagentur ein Rating abgibt, obwohl ein Interessenkonfl ikt vorliegt (§ 39 Abs. 2b Nr. 11 WpHG-E), wenn das Verbot der Erbringung von Beratungsleistungen bei bewerteten Unternehmen missachtet wurde (§ 39 Abs. 2b Nr. 12), wenn bei Veränderungen der Ratingmethoden und -modelle kein neues Rating erstellt wurde (§ 39 Abs. 2b Nr. 35) oder wenn bei Nichtvorliegen verlässlicher Daten nicht von einem Rating abgesehen wurde oder ein bestehendes Rating nicht zurückgezogen wurde (§ 39 Abs. 2b Nr. 38), Gesetzesentwurf (o. Fußn. 55), S. 15 f. 72 Siehe Gesetzesentwurf (o. Fußn. 55). 73 Art. 25 Verordnung Nr. 1060/2009 (o. Fußn. 12).
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werden. Wenn dieses über die anzuwendenen Maßnahmen keine Einigung erzielt, ist der CESR um eine Empfehlung zu ersuchen. Gelangen die zuständigen Behörden im Kollegium dann immer noch nicht zu einer Entscheidung, darf die zuständige Behörde des betreffenden Mitgliedstaats eine „individuelle Entscheidung“74 treffen. Die aufsichtsrechtlichen Befugnisse dürfen aber nicht dazu missbraucht werden, Einfluss auf den Inhalt des Ratings oder die Ratingmethoden zu nehmen, Art. 23 Abs. 1. Insbesondere der Widerruf der Registrierung ist der zuständigen Behörde des Herkunftsmitgliedstaats nur in den in Art. 20 Abs. 175 genannten Fällen vorbehalten. Liegen nur einmalige und kleinere Verstöße gegen die Bestimmungen der Verordnung vor, rechtfertigen diese noch keinen Widerruf. Vielmehr müssen die zuständigen Behörden bei ihrer Entscheidung die Grundsätze der Verhältnismäßigkeit beachten76, um sich nicht dem Vorwurf auszusetzen, durch rechtswidrigen Druck unsachlichen Einfluss auf die Agenturen und die angefertigten Ratings auszuüben. (c) Fazit. Durch die Verordnung wurde eine ungemein komplexe Registierungsund Aufsichtsstruktur geschaffen, die teilweise mehrere nationale Behörden beschäftigt. Ob damit eine effektive Beaufsichtigung von Ratingagenturen gelingt, wird an dieser Stelle nachhaltig bezweifelt. Das Aufsichtssystem birgt vielmehr die Gefahr umfassender Koordinations- und Kommunikationsprobleme. Im Blick hierauf sind Vorschläge für ein stärker zentralisiertes System zur Beaufsichtigung von Ratingagenturen auf EU-Ebene zu begrüßen77.
IV. Zusammenfassung 1. Die Regulierung und Beaufsichtigung von Ratingagenturen ist in Anbetracht des Vertrauens, das diesen durch die Finanzmärkte entgegengebracht wird, zwingend notwendig. Die EU-Verordnung über Ratingagenturen vom 16.9.2009 ist daher ein notwendiger Schritt zur Regulierung der Finanzmärkte. 2. Zur Vermeidung von Interessenkonfl ikten, die das Ratingergebnis beeinträchtigen können, wird die gesellschaftsinterne Aufsichtsstruktur gestärkt. Die Ratingagenturen sind nach der Verordnung verpfl ichtet, ein Verwaltungs- bzw. Aufsichtsorgan einzurichten, das zu einem Drittel, jedoch mit mindestens zwei unabhängigen Mitgliedern besetzt ist. Zusätzlich wird die Einrichtung einer Compliance-Organisation vorgeschrieben. Die Ratingagen-
74 Art. 20 Abs. 2 Verordnung Nr. 1060/2009 (o. Fußn. 12). 75 Diese liegen vor wenn die Ratingagentur a) ausdrücklich auf die Registrierung verzichtet oder in den letzten sechs Monagen kein Rating abgegeben hat; b) die Registrierung aufgrund falscher Erklärungen oder auf sonstige rechtswidrige Weise erhalten wurde; c) die an die Registrierung geknüpften Voraussetzungen nicht mehr erfüllt sind, oder d) in schwerwiegender Weise oder wiederholt gegen die Bestimmungen dieser Verordnung verstoßen wurde. 76 Vgl. auch § 17 Abs. 2 WpHG-E des Gesetzesentwurfs (o Fußn. 55). 77 Verordnungsvorschlag EU COM(2010) 289/3; Pressemitteilung IP/10/656 v. 3.6.2010; auch Entwurf Ausführungsgesetz, BT-Drucks. 17/716, S. 8.
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tur hat deshalb einen Compliance-Beauftragten zu benennen, der gleichzeitig die Aufgabe einer Whistleblowing-Stelle erfüllt. 3. Die Verordnung verbietet nicht das „Modell des zahlenden Emittenten“ („issuer pays model“). Die Ratingagentur muss aber sicherstellen, dass das bewertete Unternehmen keine Beratung im Bezug auf ratingrelevante Tatsachen erhalten hat. Insbesondere dürfen keine Vorschläge für die Gestaltung strukturierter Produkte gemacht worden sein. 4. Für die am Ratingverfahren beteiligten Mitarbeiter wird ein gestaffeltes Rotationsverfahren vorgeschrieben. Zusätzlich sieht die Verordnung Antikorruptions- und Inkompatibilitätsregelungen vor. Auch Erwerbsverbote sind geregelt. 5. Zur Evaluierung der Ratingmethoden und -modelle muss eine Kontrollstelle eingerichtet werden. Die Ratingqualität soll zudem durch fachliche Mindestanforderungen für die am Rating beteiligten Personen und Organmitglieder gesichert werden. 6. Die Registrierung und die Beaufsichtigung der Ratingagenturen erfolgt in Zusammenarbeit der zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten mit dem CESR. Ob damit eine effektive Aufsicht verbunden ist, wird hier bezweifelt. Zu begrüßen sind daher Vorschläge der EU-Kommission für ein stärker zentralisiertes System zur Beaufsichtigung von Ratingagenturen auf EU-Ebene. 7. Zu kontrollieren ist nur die Einhaltung der durch die Verordnung vorgegebenen Verpfl ichtungen, insbesondere im Bezug auf die Organisations- und Transparenzpfl ichten. Keine Auswirkung darf die Aufsicht auf die angewandten Methoden und die Ratinginhalte haben. 8. Die Verordnung über Ratingagenturen vom 16.9.2009 ist aus vielen Gründen unzulänglich. Zulässig bleiben trotz schwerer Vorbehalte „unsolicited ratings“, also Ratings, die ohne Zustimmung und Mitwirkung des Emittenten angefertigt werden. Auch kann der Emittent weiterhin seine Ratingagentur aussuchen. Überlegungen, die Auswahl einer unabhängigen Stelle zu übertragen, sind diskussionswürdig. Schlussendlich beschäftigt sich die Verordnung aber nur ungenügend mit der Aufweichung der Oligopolstruktur auf dem Ratingmarkt. Wettbewerbsfördende Maßnahmen werden bislang vernachlässigt. Hier besteht nach wie vor Handlungs- und Regelungsbedarf.
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Neuverhandlung einer SE-Beteiligungsvereinbarung bei „strukturellen Änderungen“ Inhaltsübersicht I. Einführung II. Verhandlungsverfahren bei Gründung 1. SE-Gründung durch bereits existierende Rechtsträger 2. Verhandlungen mit der europäischen Gesamtbelegschaft 3. Europäisch geprägtes Verhandlungsverfahren III. Wiederaufnahme von Verhandlungen nach SE-Richtlinie 1. Wiederaufnahme von Verhandlungen gemäß SE-Beteiligungsvereinbarung 2. Wiederaufnahme der Verhandlungen bei fehlender SE-Beteiligungsvereinbarung a) Ablauf der Verhandlungsfrist b) Nichtverhandlungsbeschluss des BVG 3. Anlehnung an die Euro-Betriebsrats-Richtlinie IV. Verhandlungen bei strukturellen Änderungen (§ 18 Abs. 3 SEBG) 1. Gemeinschaftsrechtliche Kompetenzgrundlage für § 18 Abs. 3 SEBG 2. Strukturelle Änderungen und Minderung der Beteiligungsrechte a) Eignung zur Minderung der Beteiligungsrechte aa) Beteiligungsrechte der SE-Arbeitnehmer
(1) Strukturelle Änderungen unter Beibehaltung der Rechtsform SE (2) Umwandlung der SE in eine nationale Rechtsform bb) Beteiligungsrechte von Arbeitnehmern, die bislang nicht der SE angehören cc) Hypothetischer Vergleich mit der SE-Gründung b) „Strukturelle Änderung“ aa) Gesellschaftsrechtliche Strukturmaßnahmen bb) Veränderungen der Konzernstruktur, insb. Beteiligungserwerb cc) Wachstum der Belegschaft (1) Organisches Wachstum (2) Sonderfall: Die bei Gründung arbeitnehmerlose SE 3. Auffangregelung bei Scheitern der Neuverhandlungen V. Vertraglich geregelte Wiederaufnahme der Verhandlungen 1. Rechtspraktisches Bedürfnis für eine Regelung in der SE-Beteiligungsvereinbarung 2. Spannungsverhältnis zwischen Vereinbarung und gesetzlicher Regelung VI. Zusammenfassung
I. Einführung Der Jubilar hat viele Jahre lang den juristischen Nachwuchs der Heidelberger Juristenfakultät in das Europäische Unternehmensrecht eingeführt. Der Verfasser dieses Beitrags war dereinst unter den Zuhörern. Wenn nun viele ganz berechtigterweise die Fähigkeiten von Hans-Jürgen Hellwig als umsichtigem 347
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Rechtsberater und vielseitigem wissenschaftlichen Autor rühmen, sei hier ergänzt, dass man in den Heidelberger Vorlesungen auch Zeuge einer großen didaktischen Begabung wurde. Nur wenige beherrschen in gleicher Weise die Kunst, komplizierte rechtliche Verflechtungen auf gut verständliche Grundstrukturen zurückzuführen. Auch wenn der damalige Zuhörer mittlerweile zum Zauberlehrling geworden ist, der munter abweichende Auffassungen vertritt1, hofft er doch auf wohlwollendes Interesse für ein Thema, das zentral in den Rechtsbereich fällt, dem sich Hans-Jürgen Hellwig seit vielen Jahren widmet. Die Europäische Aktiengesellschaft – Societas Europaea (SE) – hat in Deutschland vor allem im Bereich der Mitbestimmung innovative Wirkung entfaltet. Eine SE kann nur gegründet werden, wenn zuvor mit den Arbeitnehmern Verhandlungen über ihre Beteiligungsrechte geführt werden. Gemäß Art. 12 Abs. 2 der europäischen SE-Verordnung (SE-VO)2 kann die SE erst nach Abschluss dieser Verhandlungen eingetragen werden3. In der neu gegründeten Gesellschaft entsteht dabei ein europäisch-autonomer Rechtsrahmen für die Unterrichtung, Anhörung und Mitbestimmung der Arbeitnehmer. Primäres Ziel der Regelung ist der Abschluss einer SE-Beteiligungsvereinbarung. Sollten die Verhandlungen zu keinem Ergebnis führen, greift eine gesetzliche Auffanglösung: Kraft Gesetzes wird ein SE-Betriebsrat eingerichtet; unternehmerische Mitbestimmung bleibt, wenn sie in einer der Gründungsgesellschaften galt, im Sinne des „Vorher-Nachher-Prinzips“ auch in der SE erhalten. All dies fi ndet sich in der SE-Richtlinie (SE-RL) geregelt4, die mit dem SE-Beteiligungsgesetz (SEBG) in deutsches Recht transformiert wurde. Das Verhandlungsverfahren wird in der Praxis häufig als schwerfällig empfunden, bietet aber gerade deutschen Unternehmen auch manche Innovation im Vergleich zum zwingenden Gesetzesrecht: Der Aufsichtsrat kann verkleinert werden; die kostspielige Wahl der Arbeitnehmervertreter entfällt, indem der SE-Betriebsrat Kandidaten benennt, die anschließend von der Hauptversammlung bestellt werden; die Besetzung des Aufsichtsrates wird internationaler, da auf Arbeitnehmerseite die Belegschaften aller beteiligten Staaten repräsentativ berücksichtigt werden. Welche Kreativität die Verhandlungspartner auch bei Abfassung der SE-Beteiligungsvereinbarung bisweilen entfalten, zeigt die Beteiligungsvereinbarung der Porsche Holding SE, die bei einer erfolgreichen Übernahme von VW dazu geführt hätte, dass die Belegschaften von Porsche und VW gleichberechtigt im Aufsichtsrat der Porsche Holding SE vertreten gewesen wären, obwohl sie zahlenmäßig deutlich differieren. Der Rechtsformwechsel in die SE kann allerdings auch zu einer Versteinerung des Systems der Beteiligungsrechte führen. Wenn eine SE-Beteiligungsvereinba1 Siehe die Kontroverse zur Europarechtswidrigkeit der deutschen Mitbestimmung (ZIP 2010, 871 ff.). 2 Verordnung (EG) Nr. 2157/2001 vom 8.10.2001, ABl. EG Nr. L 294, S. 1. Die Verordnung und andere Gesetzesmaterialien sind abgedruckt bei Neye, Die Europäische Aktiengesellschaft, München, 2005. 3 Der Sonderfall der arbeitnehmerlosen oder Vorrats-SE sei hier zunächst ausgeklammert; siehe aber unten IV. 2. b) cc) (2). 4 Richtlinie 2001/86/EG vom 8.10.2001, ABl. EG Nr. L 294, S. 22.
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rung zustande kommt, hängt es von deren Inhalt ab, inwieweit sie auf künftige Entwicklungen Rücksicht nimmt. Greift allein die gesetzliche Auffanglösung, wird kraft Gesetzes ein SE-Betriebsrat errichtet; im Bereich der Mitbestimmung verdrängen die §§ 34 ff. SEBG das deutsche Mitbestimmungsrecht. In beiden Fällen hat die SE ihr konzeptionell eigenes Modell, das sich auf europäische Rechtsnormen stützt. Dieses Modell ist geprägt von den Verhältnissen, die bei der Gründung der SE vorlagen. Spätere Entwicklungen im Unternehmen lassen das ursprünglich gewählte Modell möglicherweise als unpassend erscheinen. Einer drohenden Versteinerung beugt das Gesetz auf zweierlei Weise vor: Erstens gehört es zum gesetzlichen Inhalt der SE-Beteiligungsvereinbarung, auch die Fälle und das Verfahren einer späteren Wiederaufnahme der Verhandlungen zu regeln; insbesondere soll die Vereinbarung festlegen, dass im Fall von strukturellen Änderungen erneut verhandelt wird. Zweitens enthält die SE-Richtlinie bestimmte Anpassungsvorschriften, namentlich für Fälle, in denen keine SE-Beteiligungsvereinbarung zustande gekommen ist. Drittens schreibt das deutsche SEBG ausdrücklich Neuverhandlungen vor, wenn in der SE „strukturelle Änderungen“ geplant sind, die geeignet sind, Beteiligungsrechte der Arbeitnehmer zu mindern. Dieser Rechtsrahmen soll hier in vier Schritten vermessen werden: Zunächst ist kurz auf das Verhandlungsverfahren bei der SE-Gründung einzugehen (unter II.). Sodann werden diejenigen Tatbestände geprüft, die nach der SE-Richtlinie eine spätere Wiederaufnahme von Verhandlungen vorsehen (unter III.). Schließlich ist der vom deutschen Gesetzgeber hinzugefügte Tatbestand der Neuverhandlung bei strukturellen Änderungen zu analysieren (unter IV.) und gegenüber privatautonom in der SE-Beteiligungsvereinbarung geregelten Neuverhandlungstatbeständen abzugrenzen (unter V.).
II. Verhandlungsverfahren bei Gründung 1. SE-Gründung durch bereits existierende Rechtsträger Eine SE kann immer nur von bereits existierenden Rechtsträgern gebildet werden. Das folgt aus dem in Art. 2 SE-VO geregelten Numerus Clausus der Gründungsformen (Verschmelzungs-, Holding-, Umwandlungs- und Tochter-SE)5. Eine bereits bestehende SE kann ihrerseits Tochtergesellschaften in der Rechtsform der SE gründen (Art. 3 Abs. 2 SE-VO). Das gesetzliche Leitbild besteht somit in einer Gründung durch Rechtsträger, die bereits ein Unternehmen betreiben und Arbeitnehmer in verschiedenen EU-Mitgliedstaaten beschäftigen. In der Vorstellung des europäischen Gesetzgebers ist die SE ein europäisches Unternehmen mit einer europäischen Belegschaft. Françoise Blanquet, die seinerzeit in der Europäischen Kommission für die SE zuständig war, sah in der SE eine Rechtsform für internationale Konzerne oder mittelgroße Unter-
5 Zu diesem numerus clausus: Casper, AG 2007, 97 ff.; Oechsler in MünchKomm. AktG, 2. Aufl. 2006, Art. 2 SE-VO Rz. 1–4; Schwarz, SE-Kommentar, 2006, Art. 2 SE-VO Rz. 10 m. w. N.
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nehmen, die an transeuropäischen Projekten mitwirken, um deren Aktivitäten auf europäischer Ebene zu bündeln6. 2. Verhandlungen mit der europäischen Gesamtbelegschaft Im Lichte dessen werden in die Verhandlungen nicht etwa nur die Arbeitnehmer der künftigen SE einbezogen, sondern eine folgendermaßen defi nierte europäische Gesamtbelegschaft: Verhandlungspartner sind die Arbeitnehmer der „beteiligten Gesellschaften“ – also der Gesellschaften, die unmittelbar an der SE-Gründung beteiligt sind (§ 2 Abs. 2 SEBG) – ebenso wie die Arbeitnehmer der „betroffenen Tochtergesellschaften und Betriebe“, also derjenigen Gesellschaften und Betriebe, die später zu Tochtergesellschaften und Betrieben der SE werden sollen (§ 2 Abs. 3 SEBG). Diese Gesamtbelegschaft des zunächst rechtlich noch nicht einheitlich verfassten europäischen Unternehmens wird gemäß § 4 Abs. 2 SEBG von der geplanten SE-Gründung informiert und aufgefordert, Delegierte in das Besondere Verhandlungsgremium zu entsenden (vgl. am Beispiel der Verschmelzung Fall 1 im unten stehenden Schaubild).
Für eine gewisse Überraschung hat in der Rechtspraxis die Erkenntnis gesorgt, dass selbst bei einer arbeitnehmerlosen SE Verhandlungen zu führen sind7. Und zwar immer dann, wenn die „beteiligten Gesellschaften“ und die „betroffenen Tochtergesellschaften und Betriebe“ Arbeitnehmer beschäftigen. Die SE-Richtlinie geht in diesen Fällen davon aus, dass mit den Arbeitnehmern der Gründungsgesellschaften – also auch hier mit einer europäischen Gesamtbelegschaft – verhandelt wird (siehe am Beispiel der Tochter-SE Fall 2 im oben stehenden 6 Blanquet, ZGR 2002, 20, 34 f. 7 So jedenfalls die h. M., vgl. Forst, Die Beteiligungsvereinbarung nach § 21 SEBG, 2010, S. 110 ff. mit Nachweisen zur Diskussion.
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Schaubild)8. Auf Verhandlungen kann allein dann verzichtet werden, wenn weder die SE noch die Gründungsgesellschaften Arbeitnehmer beschäftigen9. 3. Europäisch geprägtes Verhandlungsverfahren Die Leitungsorgane der Gründungsgesellschaften eröffnen gemäß §§ 4 ff. SEBG die Verhandlungen mit den Arbeitnehmern. Die Belegschaften der beteiligten Gesellschaften sowie der betroffenen Tochtergesellschaften und Betriebe entsenden Delegierte in ein Besonderes Verhandlungsgremium (BVG), in dem Arbeitnehmer aus allen beteiligten EU-Mitgliedstaaten vertreten sind (§ 5 SEBG)10. Damit ist verfahrensrechtlich die Grundlage dafür geschaffen, dass die Verhandlungspartner, so sie es denn wollen, ein autonom europäisches Modell der Arbeitnehmerbeteiligung für die konkrete SE entwickeln können. Im praktischen Ergebnis allerdings entspricht bei den in Deutschland ansässigen SEs das System der Arbeitnehmerbeteiligung – jedenfalls im Bereich der Mitbestimmung – häufig dem deutschen Modell. Das dürfte folgende Gründe haben: Erstens überwiegen in den Verhandlungsgremien zahlenmäßig die Vertreter des deutschen Systems; zweitens werden die Verhandlungen vor dem Hintergrund einer Auffanglösung geführt, die das höchste vorhandene Niveau schützt und daher eine Absenkung gegenüber dem deutschen Mitbestimmungsniveau kaum zulässt; drittens setzt die derzeit herrschende Meinung den Parteien äußerst enge inhaltliche Grenzen, indem sie den Vereinbarungsinhalt im Mitbestimmungsbereich der Satzungsstrenge des deutschen Aktiengesetzes unterwirft11. Immerhin führt das europäische Verhandlungsverfahren, wenn der Anteil der ausländischen Belegschaft hinreichend groß ist, auch bei einer in Deutschland ansässigen SE zu einer international besetzten Arbeitnehmerbank im Aufsichtsrat. So sitzen im Aufsichtsrat der Allianz SE derzeit je ein Arbeitnehmervertreter aus Großbritannien und aus Frankreich.
8 Korrekt daher LG Hamburg, ZIP 2005, 2017: Verweigerung der Eintragung, solange kein Nachweis über die Durchführung von Verhandlungen geliefert wird. Zustimmend Oetker in Lutter/Hommelhoff (Hrsg.), SE-Kommentar, 2008, § 1 SEBG Rz. 9; Seibt, ZIP 2005, 2248; ablehnend Reinhard, RIW 2006, 68, 69. 9 OLG Düsseldorf, ZIP 2009, 918. Kiem in KölnKomm. AktG, 3. Aufl. 2010, Art. 12 SE-VO Rz. 42. Die in der Literatur geäußerte Auffassung, eine SE ohne Arbeitnehmer sei generell unzulässig (Blanke, ZIP 2006, 789 ff.), vermag nicht zu überzeugen. Wenn tatsächlich keine Arbeitnehmer betroffen sind, besteht kein Anlass, aus Gründen des Arbeitnehmerschutzes die Gründung einer SE zu verweigern. Wenn es sich um Umgehungsstrategien handelt, lässt sich darauf mit der Missbrauchsregelung (§ 43 SEBG) und der Neuverhandlung gemäß § 18 Abs. 3 SEBG antworten. Forst (o. Fn. 7) unterscheidet danach, ob die SE reine Vorrats-SE ist (dann Nachholung der Verhandlungen gemäß § 18 Abs. 3 SEBG, ebda., S. 180 f.) oder bereits als werbende SE ohne Arbeitnehmer tätig wird (dann keine Nachholung der Verhandlungen, ebda. S. 123 ff.). 10 Ausführlich zur Bildung des BVG Köklü, Die Beteiligung der Arbeitnehmer und die Corporate Governance in der Europäischen Aktiengesellschaft („Societas Europaea“) mit Sitz in Deutschland, 2006, S. 110 ff. 11 Zusammenfassend Riesenhuber, Europäisches Arbeitsrecht, 2009, S. 535. Für eine Unterwerfung der SE-Beteiligungsvereinbarung unter die nationale Satzungsstrenge zuletzt Kiem in KölnKomm. AktG, 3. Aufl. 2010, Art. 12 SE-VO Rz. 59 ff.; für einen Vorrang der europäischen Vereinbarungsautonomie Teichmann, AG 2008, 797 ff.
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III. Wiederaufnahme von Verhandlungen nach SE-Richtlinie Mit Eintragung der SE erhält diese ein europäisch determiniertes System der Arbeitnehmerbeteiligung, entweder auf der Basis einer SE-Beteiligungsvereinbarung oder aufgrund der gesetzlichen Regelungen des SE-Beteiligungsgesetzes. Die SE-Richtlinie regelt sodann zwei Konstellationen, in denen es nach Gründung der SE erneut zu Verhandlungen kommen kann. Im ersten Fall haben die Parteien selbst in der SE-Beteiligungsvereinbarung eine entsprechende Regelung getroffen (unter 1.). Im zweiten Fall werden Neuverhandlungen gerade deshalb angeordnet, weil im Zuge der SE-Gründung keine SE-Beteiligungsvereinbarung zustande gekommen ist (unter 2.). Diese Regelungen sind in enger Anlehnung an die Richtlinie über den Europäischen Betriebsrat entstanden, was erklärt, dass sie auf das Problem der unternehmerischen Mitbestimmung nur unzureichend zugeschnitten sind (unter 3.). 1. Wiederaufnahme von Verhandlungen gemäß SE-Beteiligungsvereinbarung Gemäß gesetzlicher Vorgabe (Art. 4 Abs. 2 lit. h SE-RL/§ 21 Abs. 1 Nr. 6 SEBG) werden in der schriftlichen SE-Beteiligungsvereinbarung die Fälle festgelegt, in denen die Vereinbarung neu ausgehandelt werden soll; außerdem wird das bei der Neuaushandlung anzuwendende Verfahren geregelt. Zudem soll in der Vereinbarung festgelegt werden, dass auch vor strukturellen Änderungen der SE Verhandlungen über die Beteiligung der Arbeitnehmer aufgenommen werden (§ 21 Abs. 4 SEBG). Nicht alle bislang bekannt gewordenen SE-Beteiligungsvereinbarungen äußern sich zu der Frage von Neuverhandlungen12. Mitunter steht nur die praktische Durchführung der Verhandlungen im Vordergrund. Beispielsweise wird die erneute Konstituierung eines BVG eingespart, indem man auf Seiten der Arbeitnehmer den SE-Betriebsrat zum Verhandlungspartner erklärt. In einigen Vereinbarungen fi nden sich auch recht detaillierte Kataloge derjenigen Tatbestände, die zu Neuverhandlungen Anlass geben; andere begnügen sich mit einem Verweis auf die gesetzliche Regelung des § 18 Abs. 3 SEBG (zu ihr unten IV.). Häufig anzutreffen ist die Festlegung einer Mindestlaufzeit von einigen Jahren, nach deren Ablauf eine ordentliche Kündigung der Vereinbarung möglich ist. Teilweise werden Neuverhandlungen auch ausdrücklich in Abständen von mehreren Jahren regelmäßig zugelassen, ohne dafür besondere Gründe zu verlangen. Welche Rechtsfolge es hat, wenn die SE-Beteiligungsvereinbarung zu der Frage gänzlich schweigt, ist unklar. In der Literatur wird der in § 21 Abs. 1 SEBG vorgegebene Vereinbarungsinhalt überwiegend als zwingend angesehen13. Und so spricht der Wortlaut des Gesetzes auf den ersten Blick dafür, dass jede SEBeteiligungsvereinbarung auch zur Frage der Neuverhandlung eine Aussage
12 Die Darstellung beruht auf einer Auswertung der „Fact sheets“ auf http://www. worker-participation.eu. 13 Oetker in Lutter/Hommelhoff (Hrsg.), SE-Kommentar, 2008, § 21 SEBG Rz. 20; Scheibe, Die Mitbestimmung der Arbeitnehmer in der SE unter besonderer Berücksichtigung des monistischen Systems, 2007, S. 78.
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treffen muss14. Das belegt auch der systematische Bezug zu § 21 Abs. 3 SEBG. Dieser ist ausdrücklich als Soll-Vorschrift ausgestaltet, der Gesetzgeber hat also innerhalb des § 21 SEBG bewusst danach differenziert, ob ein bestimmter Punkt in der Vereinbarung geregelt werden „muss“ oder nur geregelt werden „soll“. Die Soll-Vorschrift bezieht sich allein auf Neuverhandlungen bei strukturellen Änderungen. Diese Möglichkeit muss also nicht in die Vereinbarung aufgenommen werden. Das erübrigt sich schon deshalb, weil in Ermangelung einer Vereinbarung bei strukturellen Änderungen eine Neuverhandlung kraft Gesetzes (§ 18 Abs. 3 SEBG) ohnehin angeordnet ist. Aus § 21 Abs. 1 Nr. 6 SEBG in der Zusammenschau mit § 21 Abs. 3 SEBG ist daher zu entnehmen, dass die Vereinbarung zur Frage der Neuverhandlungen eine Regelung treffen, diese aber nicht zwingend auf Fälle der „strukturellen Änderung“ bezogen sein muss. Andererseits steht der Vereinbarungsinhalt ganz allgemein unter dem Vorbehalt der Parteiautonomie15. Sollten die Parteien keine Neuverhandlungen regeln wollen, etwa weil ihnen die gesetzliche Basisregelung des § 18 Abs. 3 SEBG ausreicht, muss das Vorrang genießen vor dem Wunsch des Gesetzgebers, in der Vereinbarung eine solche Regelung anzutreffen. Da es sich auch im Sinne der Funktionsfähigkeit der Vereinbarung keineswegs um essentialia handelt – anders als beispielsweise die Regelung über die Zusammensetzung des SEBetriebsrates – besteht auch wenig Anlass, die Parteien zu einer Regelung zu zwingen, die sie nicht abschließen wollen16. Zwar wird in der Literatur häufig der gesamte Katalog des § 21 Abs. 1 SEBG als zwingend angesehen, welche Sanktion aber eingreifen soll, wenn die Vereinbarung die Vorgabe des § 21 Abs. 1 Nr. 6 SEBG nicht berücksichtigt, bleibt offen. Da selbst bei gesetzeswidrigen Regelungen nur die Unwirksamkeit der einzelnen Bestimmung, nicht aber der gesamten Vereinbarung angenommen wird17, lässt sich für das bloße Fehlen einer Bestimmung kaum anders entscheiden. Die SE-Beteiligungsvereinbarung ist also auch dann wirksam, wenn sie keine Regelung über die Wiederaufnahme von Verhandlungen enthält. Die Lücke wird durch § 18 Abs. 3 SEBG in hinreichendem Maße geschlossen. Indessen bleibt es dem Registergericht im Eintragungsverfahren unbenommen, das Fehlen einer § 21 Abs. 1 Nr. 6 SEBG entsprechenden Vereinbarungsklausel zu rügen. Bei der Eintragung der SE ist auch das Vorliegen einer gemäß Art. 4 SE-RL abgeschlossenen SE-Beteiligungsvereinbarung zu prüfen (vgl. Art. 12 Abs. 2 SE-VO). Das Handelsregister kann daher eine Nachbesserung verlangen, 14 Begr. RegE zu § 21 SEBG, abgedruckt bei Neye, Die Europäische Aktiengesellschaft, 2005, S. 206. Das bestätigt auch der Vergleich mit der Umsetzung der Richtlinie über den Europäischen Betriebsrat. Dort hatte sich der nationale Gesetzgeber bewusst für eine Soll-Vorschrift entschieden, über deren Vereinbarkeit mit der europäischen Vorgabe allerdings gestritten wurde (vgl. mit Nachw. Blanke, Europäische BetriebsräteGesetz, 2. Aufl. 2006, § 18 EBRG Rz. 2). Wenn nun § 21 Abs. 1 SEBG auf das Wort „soll“ verzichtet, liegt darin eine bewusste Klarstellung, dass der Inhalt insoweit nicht zur Disposition der Parteien steht. 15 Art. 4 Abs. 2 SE-RL: „Unbeschadet der Autonomie der Parteien … wird in der schriftlichen Vereinbarung … Folgendes festgelegt: …“ 16 So auch Forst (o. Fn. 7), S. 197 f. 17 Forst (o. Fn. 7), S. 323 ff.; Oetker in Lutter/Hommelhoff (Hrsg.), SE-Kommentar, 2008, § 21 SEBG Rz. 45.
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wenn ihm eine Regelungslücke auffällt18. Erweist sich dabei allerdings, dass die Parteien eine Regelung zu Neuverhandlungen bewusst unterlassen haben, ist dieser Parteiwille zu respektieren. 2. Wiederaufnahme der Verhandlungen bei fehlender SE-Beteiligungsvereinbarung Zwar sind grundsätzlich bei jeder SE-Gründung Verhandlungen aufzunehmen, doch ist der Abschluss einer Vereinbarung nicht zwingende Voraussetzung für die Eintragung der SE. Die Gesellschaft kann auch dann eingetragen werden, wenn die gesetzliche Verhandlungsfrist erfolglos verstrichen ist (unter a) oder wenn das Besondere Verhandlungsgremium ausdrücklich gegen die Aufnahme von Verhandlungen bzw. für den Abbruch bereits begonnener Verhandlungen gestimmt hat (unter b). a) Ablauf der Verhandlungsfrist Für die Verhandlungen ist gesetzlich eine Dauer von sechs Monaten vorgesehen, die einvernehmlich auf bis zu ein Jahr ausgedehnt werden kann19. Kommt in diesem Zeitraum keine Vereinbarung zustande, kann die SE gemäß Art. 12 Abs. 2 SE-VO auch ohne SE-Beteiligungsvereinbarung eingetragen werden. Für die Beteiligungsrechte der Arbeitnehmer gilt dann die gesetzliche Auffanglösung (SE-Betriebsrat, ggf. Mitbestimmung kraft Gesetzes)20. Gemäß § 23 SEBG wird ein SE-Betriebsrat errichtet, der sich aus Arbeitnehmern der SE, ihrer Tochtergesellschaften und Betriebe zusammensetzt. Vier Jahre nach seiner Einsetzung fasst der SE-Betriebsrat darüber Beschluss, ob erneut Verhandlungen aufgenommen werden mit dem Ziel, eine Vereinbarung nach § 21 SEBG abzuschließen (§ 26 Abs. 1 SEBG). Beim Scheitern der Neuverhandlungen fi ndet gemäß § 26 Abs. 2 SEBG die „bisherige Regelung“ weiter Anwendung. Das mag verwundern, kann sich doch innerhalb von vier Jahren die Zusammensetzung der Arbeitnehmerschaft deutlich verändert haben. Das Ziel der Neuverhandlungen besteht allerdings nicht darin, die Beteiligungsrechte lediglich an veränderte Arbeitnehmerzahlen anzupassen. Für diesen Fall trägt bereits die gesetzliche Auffangregelung Vorsorge: Alle zwei Jahre wird überprüft, ob Änderungen der SE und ihrer Tochtergesellschaften und Betriebe, insbesondere bei den Arbeitnehmerzahlen eine andere Zusammensetzung des SE-Betriebsrats veranlassen (§ 25 SEBG). Der SE-Betriebsrat wird also bereits kraft Gesetzes regelmäßig an die veränderten Arbeitnehmerzahlen angepasst. Somit können die Verhandlungen nur das Ziel verfolgen, ein von der gesetzlichen Auffanglösung abweichendes System der Beteiligungsrechte
18 Zur Prüfung der Vereinbarung durch das Registergericht Forst (o. Fn. 7), S. 323 f. und Scheibe (o. Fn. 13), S. 80 ff. Eine materielle Pfl icht zur inhaltlichen Prüfung der Vereinbarung dürfte indessen wohl nicht bestehen (Kiem in KölnKomm. AktG, 3. Aufl. 2010, Art. 12 SE-VO Rz. 39). 19 Die Regelung der Verhandlungsdauer fi ndet sich in Art. 5 SE-RL/§ 20 SEBG. 20 Siehe Art. 7 Abs. 1 SE-RL/§ 22 Abs. 1 Nr. 2 SEBG.
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zu entwickeln. Wenn das nicht gelingt, ist es konsequent, die gesetzliche Auffanglösung weiter gelten zu lassen. b) Nichtverhandlungsbeschluss des BVG Die SE kann sogar schon vor Ablauf der Verhandlungsfrist ohne Vereinbarung eingetragen werden, wenn das BVG ausdrücklich und mit qualifi zierter Mehrheit den Beschluss gefasst hat, Verhandlungen erst gar nicht aufzunehmen oder bereits aufgenommene Verhandlungen abzubrechen 21. Auch in diesem Fall ist eine Eintragung der SE ohne Vereinbarung möglich (Art. 12 Abs. 2 SE-VO). Die Beteiligungsrechte der Arbeitnehmer richten sich dann nicht nach der gesetzlichen Auffanglösung des SEBG. Für die SE gilt nur das nationale Betriebsverfassungsrecht einschließlich der Gesetzgebung zum Europäischen Betriebsrat (vgl. § 47 Abs. 1 Nr. 2 SEBG); die nationalen Vorschriften über die unternehmerische Mitbestimmung sind nicht anwendbar22. Damit dieser Zustand gegebenenfalls revidiert werden kann, ermöglicht das SE-Recht auch hier eine Wiederaufnahme der Verhandlungen. Frühestens zwei Jahre nach der Beschlussfassung des BVG wird erneut ein BVG gebildet, wenn mindestens 10 Prozent der Arbeitnehmer einen darauf gerichteten schriftlichen Antrag stellen 23. Das SE-Recht bezieht auch hier die gesamte europäische Belegschaft mit ein: Der Antrag muss von 10 Prozent der Arbeitnehmer der SE, ihrer Tochtergesellschaften und Betriebe gestellt werden. Das neue BVG wird dann auf Grundlage des aktuellen Standes der Arbeitnehmerzahlen in den verschiedenen Mitgliedstaaten zusammengesetzt24. Für die Verhandlungen gelten dieselben Regelungen wie bei der Gründung einer SE. Es kann also auch hier zu einem fruchtlosen Ablauf der Verhandlungsfrist oder zu einem ausdrücklichen Abbruch durch das BVG kommen.
21 Der Beschluss ist geregelt in Art. 3 Abs. 6 SE-RL/§ 16 SEBG. Die Vorschrift ist der Richtlinie über den Europäischen Betriebsrat entlehnt; dazu Calle Lambach, Die Beteiligung der Arbeitnehmer in der Europäischen Gesellschaft (SE), 2004, S. 166. 22 Vgl. Art. 7 Abs. 1 SE-RL/§ 22 Abs. 1 Nr. 2 SEBG. Für die SE gilt das nationale Betriebsverfassungsrecht, nicht aber die unternehmerische Mitbestimmung (Kraft, Die Europäisierung der deutschen Mitbestimmung durch das SEBG, 2005, S. 180; Oetker in Lutter/Hommelhoff (Hrsg.), SE-Kommentar, 2008, § 16 SEBG Rz. 18 ff.; Jacobs in MünchKomm. AktG, 2. Aufl. 2006, § 16 SEBG Rz. 4; weiterhin Köklü [o. Fn. 10], S. 139 ff.). Daher kann das BVG einen gegen Verhandlungen gerichteten Beschluss nicht fassen, wenn eine SE durch Umwandlung gegründet werden soll und die Ausgangsgesellschaft mitbestimmt ist (§ 18 Abs. 3 SEBG, in Übereinstimmung mit Art. 3 Abs. 6 SE-RL). 23 Art. 3 Abs. 6 SE-RL/§ 18 Abs. 1 SEBG. Die Frist von zwei Jahren ist dispositiv. Vor oder im Zusammenhang mit dem Ausgangsbeschluss – nicht oder nicht weiter zu verhandeln – können die Parteien vereinbaren, eine spätere Wiederaufnahme der Verhandlungen auch schon früher als nach Ablauf von zwei Jahren zuzulassen (§ 18 Abs. 1 S. 2 SEBG; Forst [o. Fn. 7], S. 172 f.; Oetker in Lutter/Hommelhoff (Hrsg.), SE-Kommentar, 2008, § 18 SEBG Rz. 13). Der Unternehmensleitung bleibt es auch unbenommen, schon früher freiwillig zur Bildung eines BVG aufzufordern (Köklü [o. Fn. 10], S. 142). 24 Köklü (o. Fn. 10), S. 143.
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3. Anlehnung an die Euro-Betriebsrats-Richtlinie Bei all diesen Regelungen hat man sich auf die einige Jahre zuvor (1994) erlassene Richtlinie über den Europäischen Betriebsrat gestützt, die mittlerweile (2009) in einer Neufassung erlassen wurde25. Die Richtlinie von 1993 schuf erstmals eine Verhandlungsmöglichkeit, um innerhalb Europas divergierende nationale Sozialsysteme auf einen Nenner bringen zu können. Diese Problemlösung brachte anschließend auch den rechtspolitischen Durchbruch für die SE26. So nimmt es nicht wunder, dass die SE-Richtlinie in vielerlei Hinsicht die Richtlinie über den Europäischen Betriebsrat zum Vorbild hat: Auch dort verhandelt die Unternehmensleitung mit einem Besonderen Verhandlungsgremium der Arbeitnehmer, dessen Zusammensetzung weitgehend denselben Regeln folgt wie bei der späteren SE-Richtlinie (Art. 5 EBR-RL). Die Vereinbarung über den EBR enthält gleichfalls einen Passus über die Fälle, in denen neu zu verhandeln ist (Art. 6 Abs. 2 lit. g EBR-RL). Ein Beschluss des BVG, keine Verhandlungen aufzunehmen oder aufgenommene Verhandlungen abzubrechen, ist hier gleichfalls möglich, ebenso mit der Folge, dass zwei Jahre später neue Verhandlungen aufgenommen werden können (Art. 5 Abs. 5 EBR-RL). Auch das Modell der Auffangregelung fi ndet sich, mit der Errichtung eines Europäischen Betriebsrates kraft Gesetzes, der vier Jahre später darüber entscheidet, ob erneut Verhandlungen aufgenommen werden sollen (Anhang I Abs. 1 lit. f EBR-RL). Allerdings erfasst die EBR-Richtlinie nicht die unternehmerische Mitbestimmung 27. Das mag erklären, dass die SE-Regelung in diesem Bereich weniger ausgereift ist als bei Unterrichtung und Anhörung. Die EBR-RL ist – auch und gerade dort, wo sie auf dynamische Veränderung angelegt ist – allein auf den Fragenkreis der Unterrichtung und Anhörung zugeschnitten. Eine Veränderung der absoluten Arbeitnehmerzahlen oder auch ihrer relativen Verteilung über die Mitgliedstaaten kann zu einer anderen Zusammensetzung des BVG und des Europäischen Betriebsrates führen; dem tragen die Regelungen über Neuverhandlungen Rechnung 28. Durch die Möglichkeit einer neuen Verhandlung kann die repräsentative Zusammensetzung des EBR auch dann gewährleistet werden, wenn sich die Anzahl der in den einzelnen Mitgliedstaaten beschäftigten Arbeitnehmer deutlich verändert. Dieses Regelungsvorbild der EBR-Richtlinie, wie es in die SE-Richtlinie eingeflossen ist, konnte Mitgliedstaaten, die eine unternehmerische Mitbestimmung in den Gesellschaftsorganen kennen, nicht vollständig zufrieden stellen. Dort haben Strukturänderungen bisweilen auch Auswirkungen auf die rechtlichen Rahmenbedingungen der Mitbestimmung
25 Die EBR-Richtlinie aus dem Jahre 1994 (94/45/EG) wurde mittlerweile überarbeitet und neu gefasst mit der Richtlinie 2009/38/EG vom 6.5.2009, ABl. EU Nr. L 122/28, 16.5.2009 (vgl. zu den Neuerungen der überarbeiteten Richtlinie Thüsing/Forst, NZA 2009, 408 ff.). Nachfolgend zitierte Vorschriften beziehen sich auf die Neufassung der Richtlinie. 26 Ausführlich Mävers, Die Mitbestimmung der Arbeitnehmer in der Europäischen Aktiengesellschaft, 2002, S. 273 ff. 27 Auf die insoweit eingeschränkte Parallele zur SE-RL weist Forst (o. Fn. 7), S. 12, zu Recht hin. 28 Kuffner, Die Beteiligung der Arbeitnehmer in der Europäischen Aktiengesellschaft, 2003, S. 157.
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– insbesondere die Schwellenwerte, die Mitbestimmung auslösen oder von der Drittelbeteiligung in die volle Parität führen. Daher haben Deutschland und Österreich in ihrer nationalen SE-Begleitgesetzgebung einen zusätzlichen Tatbestand für Neuverhandlungen bei strukturellen Änderungen geschaffen, den die EBR-RL nicht kannte. Daraus hat sich nun ein bemerkenswerter Erfahrungstransfer in umgekehrter Richtung ergeben: In die Neufassung der EBR-Richtlinie von 2009 wurde ein neuer Artikel aufgenommen, der ausdrücklich Verhandlungen bei strukturellen Änderungen vorsieht29. Inwieweit diese Vorschrift Rückwirkungen auf das Verständ nis der SE-Richtlinie haben kann, wird nachfolgend (unter IV. 1.) anzusprechen sein.
IV. Verhandlungen bei strukturellen Änderungen (§ 18 Abs. 3 SEBG) Der deutsche Gesetzgeber regelt mit § 18 Abs. 3 SEBG die Aufnahme von Verhandlungen, wenn strukturelle Änderungen der SE geplant sind, die geeignet sind, Beteiligungsrechte der Arbeitnehmer zu mindern. Eine vergleichbare Regelung fi ndet sich in Österreich30. Zu klären ist zunächst die europäische Kompetenzgrundlage für diese Regelung (unter 1.), sodann die genaue Reichweite des Tatbestands der Norm (unter 2.). Schließlich ist kurz auf die bei einem Scheitern der Verhandlungen geltende Auffangregelung einzugehen (unter 3.). 1. Gemeinschaftsrechtliche Kompetenzgrundlage für § 18 Abs. 3 SEBG In der SE-RL ist ein Neuverhandlungsanspruch, wie ihn § 18 Abs. 3 SEBG regelt, nicht ausdrücklich vorgesehen. Eine Richtlinie gibt allerdings ihrer Natur nach nur die Ziele der gesetzlichen Regelung vor und belässt dem mitgliedstaatlichen Gesetzgeber bei der Umsetzung einen gewissen Gestaltungsspielraum31. In der Richtlinie gibt es zwei Anhaltspunkte dafür, dass sich der deutsche Gesetzgeber mit § 18 Abs. 3 SEBG im Rahmen der Zielvorgaben der Richtlinie bewegt: die Missbrauchsklausel des Art. 11 SE-RL 32 und Erwägungsgrund 18 SE-RL 33. 29 Art. 13 Abs. 1 EBR-RL: „Ändert sich die Struktur des gemeinschaftsweit operierenden Unternehmens oder der gemeinschaftsweit operierenden Unternehmensgruppe wesentlich und fehlen entsprechende Bestimmungen in den geltenden Vereinbarungen oder bestehen Konfl ikte zwischen den Bestimmungen von zwei oder mehr geltenden Vereinbarungen, so nimmt die zentrale Leitung von sich aus oder auf schriftlichen Antrag von mindestens 100 Arbeitnehmern oder ihrer Vertreter in mindestens zwei Unternehmen oder Betrieben in mindestens zwei Mitgliedstaaten die Verhandlungen gemäß Artikel 5 auf.“ 30 § 228 Arbeitsverfassungsgesetz; dazu Gahleitner in Kalss/Hügel, SE-Kommentar, 2004, § 228 ArbVG Rz. 1 ff. 31 Allgemein dazu Schroeder in Streinz (Hrsg.), EUV/EGV, 2003, Art. 249 EGV Rz. 66 ff. 32 „Die Mitgliedstaaten treffen im Einklang mit den gemeinschaftlichen Rechtsvorschriften geeignete Maßnahmen, um zu verhindern, dass eine SE dazu missbraucht wird, Arbeitnehmern Beteiligungsrechte zu entziehen oder vorzuenthalten.“ 33 „Die Sicherung erworbener Rechte der Arbeitnehmer über ihre Beteiligung an Unternehmensentscheidungen ist fundamentaler Grundsatz und erklärtes Ziel dieser Richtlinie. Die vor Gründung von SE bestehenden Rechte der Arbeitnehmer sollten deshalb Ausgangspunkt auch für die Gestaltung der Beteiligungsrechte in der SE (Vorher-Nachher-Prinzip) sein. Dieser Ansatz sollte folgerichtig nicht nur für Neugründungen einer SE, sondern auch für strukturelle Veränderungen einer bereits
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Gemäß Art. 11 SE-RL soll eine SE nicht dazu missbraucht werden, den Arbeitnehmern Beteiligungsrechte zu entziehen. Erwägungsgrund 18 SE-RL gibt das allgemeine Ziel der Sicherung erworbener Rechte der Arbeitnehmer vor und betont, dass dies auch für strukturelle Veränderungen einer bereits gegründeten SE gelten solle. Der Neuverhandlungsanspruch ist eine rechtstechnisch denkbare Möglichkeit, um der genannten Zielsetzung der Richtlinie gerecht zu werden. Der Regelungsansatz des § 18 Abs. 3 SEBG ist daher aus Sicht der SE-Richtlinie grundsätzlich nicht zu beanstanden. Er findet seine Bestätigung in der Anpassung der EBR-Richtlinie (siehe o. III. 3.). Allerdings hat die nur mittelbar aus der Richtlinie ableitbare Regelungskompetenz Einfluss auf die europarechtskonforme Auslegung der Vorschrift, wenn und soweit sie den Anspruch erhebt, den privatautonom festgelegten Regelungsinhalt einer SEBeteiligungsvereinbarung zu verdrängen (dazu unten V.). 2. Strukturelle Änderungen und Minderung der Beteiligungsrechte Auslöser für Neuverhandlungen sind „strukturelle Änderungen, die geeignet sind, Beteiligungsrechte der Arbeitnehmer zu mindern“. Das Tatbestandselement der „strukturellen Änderung“ verursacht wegen seiner begrifflichen Unschärfe erhebliche Auslegungsschwierigkeiten. Schärfere Konturen erhält es, wenn man es teleologisch auf das zweite Tatbestandselement bezieht, die Eignung zur Minderung der Beteiligungsrechte. Die Zusammenschau beider Tatbestandselemente führt zum eigentlichen Sinn und Zweck der Vorschrift: Der Sicherung von Beteiligungsrechten der Arbeitnehmer. Die Analyse von § 18 Abs. 3 SEBG muss daher beim zweiten Tatbestandselement – der Minderung der Beteiligungsrechte – ihren Ausgang nehmen (unter a). Erst danach lässt sich sinnvoll klären, welche Vorgänge unter den Begriff der strukturellen Änderung zu fassen sind (unter b). a) Eignung zur Minderung der Beteiligungsrechte Um eine „Minderung“ zu ermitteln, ist ein Vergleichsmaßstab nötig, nach welchem die Arbeitnehmer ein höheres Niveau der Beteiligung genießen würden34. Wortlaut und Gesetzesbegründung legen einen Vorher-Nachher-Vergleich nahe: Der Gesetzesbegründung zufolge geht es um strukturelle Änderungen, die „bestehende Beteiligungsrechte“ mindern können35. Damit sind Neuverhandlungen geboten, wenn nach der strukturellen Änderung weniger Beteiligegründeten SE und für die von den strukturellen Änderungsprozessen betroffenen Gesellschaften gelten.“ 34 Der Begriff der „Beteiligung“ erfasst hier gemäß der Legaldefi nition des § 2 Abs. 8 SEBG alle Beteiligungsformen, also Unterrichtung, Anhörung und Mitbestimmung (Güntzel, Die Richtlinie über die Arbeitnehmerbeteiligung in der Europäischen Gesellschaft (SE) und ihre Umsetzung in das deutsche Recht, 2006, S. 293; Jacobs in MünchKomm. AktG, 2. Aufl. 2006, § 18 SEBG, Rz. 15; Oetker in Lutter/Hommelhoff (Hrsg.), SE-Kommentar, 2008, § 18 SEBG Rz. 19); eine a. A. bezieht den Begriff allein auf die unternehmerische Mitbestimmung (Grobys, NZA 2005, 84, 91; Kallmeyer, ZIP 2004, 1442, 1444). 35 Begr. RegE zu § 18 SEBG, abgedruckt bei Neye, Die Europäische Aktiengesellschaft, 2005, S. 202.
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gungsrechte bestehen als vorher36. Dies kann sowohl die Arbeitnehmer der SE betreffen (unter aa) als auch die infolge der Strukturänderung neu hinzukommenden Arbeitnehmer (unter bb). Möglicherweise muss auch ein hypothetischer Vergleich mit der Situation bei Gründung der SE angestellt werden (unter cc). aa) Beteiligungsrechte der SE-Arbeitnehmer (1) Strukturelle Änderungen unter Beibehaltung der Rechtsform SE In der SE selbst wird es nur selten zu einer Minderung von Beteiligungsrechten kommen. Denn bei der Gründung wird – entweder durch SE-Beteiligungsvereinbarung oder durch gesetzliche Auffanglösung – ein festes, unveränderliches Rechtsregime installiert 37. Anschließend ist eine Minderung der Beteiligungsrechte gegen den Willen der Arbeitnehmer kaum denkbar. Ein Sonderfall wäre eine Sitzverlegung ins Ausland, bei der betriebsverfassungsrechtliche Organe entfallen könnten38. Außerdem kann es bei der Sitzverlegung zu einer Minderung von Beteiligungsrechten kommen, wenn man – der herrschenden Meinung folgend – die aktienrechtliche Satzungsautonomie über die Beteiligungsvereinbarung stellt 39. Da der Umfang der Satzungsautonomie von Mitgliedstaat zu Mitgliedstaat variiert40, müsste die Beteiligungsvereinbarung an die neue Rechtslage angepasst werden; andernfalls wären Mitbestimmungsregelungen, die nicht von der Satzungsautonomie im neuen Sitzstaat gedeckt sind, rechtlich unwirksam. Richtigerweise ist jedoch anzunehmen, dass der SE ein europäisch-autonomes Beteiligungsmodell eigen ist, das bei einer Sitzverlegung unverändert fortbesteht. Daher besteht auch kein Anlass für die Aufnahme neuer Verhandlungen41. Köklü sieht zwar Anlass für Neuverhandlungen, wenn im neuen Sitzstaat im Rahmen des dualistischen Systems der Vorstand von der 36 Jacobs in MünchKomm. AktG, 2. Aufl. 2006, § 18 SEBG Rz. 14. 37 Vgl. etwa § 35 Abs. 1 SEBG für den Umfang der Mitbestimmung. Näher Riesenhuber, Europäisches Arbeitsrecht, 2009, S. 521 (m. w. N.). 38 Oetker in Lutter/Hommelhoff (Hrsg.), SE-Kommentar, 2008, § 18 SEBG Rz. 21, nennt als Beispiel die Sitzverlegung in ein Land, in dem kein Gesamt- oder Konzernbetriebsrat gebildet wird und daher die bisher existierenden Vertretungsorgane entfallen. Der österreichische Gesetzgeber sieht die Sitzverlegung generell als Anlass für Neuverhandlungen (§ 228 Abs. 2 ArbVG); dazu Gahleitner (o. Fn. 30), Rz. 3. 39 Vgl. oben die Nachweise in Fn. 11. 40 A. A. Forst (o. Fn. 7), der auf S. 178 unterstellt, die gesellschaftsrechtlichen Richtlinien hätten zu einer Harmonisierung der Satzungsautonomie geführt. Das trifft indessen nicht zu. Da eine Harmonisierung der inneren Struktur von Aktiengesellschaften (geplante 5. Richtlinie) gescheitert ist, unterscheiden sich die Aktienrechte der Mitgliedstaaten gerade in der Gestaltungsfreiheit für den Satzungsgeber immer noch ganz erheblich. Siehe dazu nur Grundmann, Europäisches Gesellschaftsrecht, 2004, S. 167 ff. und Bayer, Gutachten E für den 67. Deutschen Juristentag Erfurt 2008, S. 66 ff. 41 Casper in Spindler/Stilz (Hrsg.), AktG-Kommentar, 2007, Art. 8 SE-VO Rz. 8; Güntzel (o. Fn. 34), S. 299 ff., 325; Kleinsorge, RdA 2002, 343, 351; Köklü (o. Fn. 10), S. 153 f.; Kraft (o. Fn. 22), S. 204; Oetker in Lutter/Hommelhoff (Hrsg.), SE-Kommentar, 2008, § 18 SEBG Rz. 21; Ringe, Die Sitzverlegung der Europäischen Aktiengesellschaft, 2006, S. 153; Ringe, NZG 2006, 931, 932; Schwarz, SE-Kommentar, 2006, Art. 8 SE-VO Rz. 10; Steinberg, Mitbestimmung in der Europäischen Aktiengesellschaft, 2006, S. 227; Zimmer/Ringe in Lutter/Hommelhoff (Hrsg.), SE-Kommentar, 2008, Art. 8 SE-VO Rz. 12.
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Hauptversammlung und nicht vom Aufsichtsrat bestellt würde42. Indessen fehlt es hier an dem zweiten Tatbestandsmerkmal des § 18 Abs. 3 SEBG, nämlich der strukturellen Änderung. Im Beispiel ändern sich nur die Kompetenzen des Aufsichtsrats, nicht aber die Struktur der SE. Auch ein Wechsel des Leitungssystems löst keine Neuverhandlungen aus43. Zwar erscheint es nicht ausgeschlossen, darin eine strukturelle Änderung zu sehen. Sie führt aber nicht zu einer Minderung der Beteiligungsrechte, da beide Leitungssysteme im Hinblick auf die Beteiligungsrechte gleich behandelt werden44. (2) Umwandlung der SE in eine nationale Rechtsform Für die Arbeitnehmer der SE kann sich eine Minderung von Beteiligungsrechten ergeben, wenn die SE nach einer grenzüberschreitenden Sitzverlegung wieder in eine nationale Rechtsform umgewandelt wird. Gemäß Art. 66 SE-VO kann sich eine SE nach Ablauf von zwei Jahren wieder in eine Aktiengesellschaft nationalen Rechts umwandeln45. Das führt dann zwar wieder zur Anwendung des nationalen Mitbestimmungsrechts. Hat die SE aber zuvor ihren Sitz in ein Land verlegt, das keine Mitbestimmung kennt, entfällt mit der „Renationalisierung“46 die zuvor in der SE geltende Mitbestimmung. Der SE-Beteiligungsvereinbarung ist die rechtliche Grundlage entzogen, denn sie stützt sich auf die Anwendung der SE-Richtlinie bzw. der dazu ergangenen Transformationsgesetze, die explizit nur für die SE und nicht für nationale Rechtsformen gelten47. Gerade deshalb ist aber die Renationalisierung kein Anwendungsfall für § 18 Abs. 3 SEBG. Den Verhandlungen würde das Ziel fehlen, da in der Rechtsform nationalen Rechts eine eventuell abgeschlossene Vereinbarung keinen Bestand hätte. Das europäische Recht schützt die Arbeitnehmer in dieser Situation auf andere Weise gegen potenziellen Rechtsverlust: Zunächst darf die Umwandlung einer nationalen Rechtsform in die SE nicht mit einer Sitzverlegung verbunden werden (Art. 37 Abs. 3 SE-VO). Eine Renationalisierung ist auch erst frühestens zwei Jahre nach Gründung der SE möglich; diese Zweijahresfrist soll missbräuchliche Umgehungen der Mitbestimmung verhindern48. Sollte die Kombination von SE-Gründung, Sitzverlegung und Renationalisierung planmäßig der Beseitigung von Beteiligungsrechten dienen, stünde sie zudem unter dem Verdikt des Missbrauchs der Rechtsform, der nach § 45 SEBG strafbewehrt ist. Erweist sich die Renationalisierung allerdings als vertretbare unternehmerische Entscheidung, die nicht unter dem Verdacht der gezielten
42 Köklü (o. Fn. 10), S. 154. 43 Feldhaus/Vanscheidt, BB 2008, 2246, 2251; Güntzel (o. Fn. 34), S. 294, 325; Köklü (o. Fn. 10), S. 153. 44 Vgl. nur die Regelung des § 35 Abs. 2 SEBG über den Umfang der Mitbestimmung. 45 Nach zutreffender Ansicht stehen der SE – nach Ablauf der Zweijahresfrist – auch die sonstigen Umwandlungsformen des nationalen Rechts zur Verfügung; das folgt aus dem Verweis des Art. 9 Abs. 1 lit. c) ii) SE-VO auf das allgemein für nationale Aktiengesellschaften geltende Recht und ist auch ein Gebot der in Art. 10 SE-VO angeordneten Gleichbehandlung (vgl. dazu Casper [o. Fn. 41], Art. 2, 3 SE-VO Rz. 32 ff.). 46 So die Formulierung bei Schwarz, SE-Kommentar, 2006, Art. 66 SE-VO Rz. 5. 47 Vgl. § 3 Abs. 1 SEBG: „Dieses Gesetz gilt für eine SE mit Sitz im Inland.“ 48 Schwarz, SE-Kommentar, 2006, Art. 66 SE-VO Rz. 20.
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Arbeitnehmerbenachteiligung steht, ist eine damit verbundene Minderung von Beteiligungsrechten hinzunehmen49. bb) Beteiligungsrechte von Arbeitnehmern, die bislang nicht der SE angehören Der Wortlaut des § 18 Abs. 3 SEBG bezieht die „Minderung der Beteiligungsrechte“ nicht allein auf die Arbeitnehmer der SE. Auch die neu hinzukommenden Arbeitnehmer können eine Minderung ihrer Beteiligungsrechte erleiden50. Nimmt eine SE Unternehmensteile oder ganze Unternehmen auf, kann sich daraus für die Arbeitnehmer der hinzukommenden Unternehmenseinheit eine Minderung der Beteiligungsrechte ergeben, wenn das Mitbestimmungsniveau in der SE geringer ist als in den hinzukommenden Einheiten. In der Literatur wird die Verschmelzung einer mitbestimmten Gesellschaft auf eine nicht mitbestimmte SE geradezu als Paradefall des § 18 Abs. 3 SEBG angesehen51. Den Arbeitnehmern der mitbestimmten Gesellschaft gehen bei der Verschmelzung auf die nicht mitbestimmte SE wesentliche Beteiligungsrechte (konkret: die Mitbestimmung im Aufsichtsrat) verloren. Dass der Schutz des Gesetzes nicht allein den Arbeitnehmern der SE gilt, bestätigt die Verfahrensregelung des § 18 Abs. 3 Satz 2 SEBG: Für die neuen Verhandlungen muss grundsätzlich ein neues BVG konstituiert werden. Dieses repräsentiert in Anlehnung an die Gründungsregeln wiederum die europäische Gesamtbelegschaft (vgl. oben II. 2.) und vertritt die Arbeitnehmer aller beteiligten Gesellschaften und Betriebe. Soll ohne Konstituierung eines neuen BVG mit dem bereits bestehenden SE-Betriebsrat verhandelt werden, sind daran jedenfalls auch Vertreter derjenigen Arbeitnehmer zu beteiligen, die bislang nicht der SE angehörten (§ 18 Abs. 3 Satz 2 SEBG). Diese Verfahrensregel zeigt, dass die Neuverhandlungen nicht nur den Interessen der bereits in der SE beschäftigten Arbeitnehmer, sondern auch derjenigen, die neu hinzukommen, dienen52. cc) Hypothetischer Vergleich mit der SE-Gründung Als Vergleichsmaßstab für die Feststellung einer „Minderung der Beteiligungsrechte“ wird bisweilen auch die Situation einer hypothetischen SE-Grün-
49 Vgl. auch die Gesetzesbegründung zu § 43 SEBG (bei Neye [o. Fn. 2], S. 240), wonach die Nutzung der vorgesehenen Handlungsmöglichkeiten einschließlich der Sitzverlegung für sich genommen den Vorwurf des Missbrauchs nicht begründen kann. 50 Feldhaus/Vanscheidt, BB 2008, 2246, 2248; Güntzel (o. Fn. 34), S. 429; Oetker in Lutter/Hommelhoff (Hrsg.), SE-Kommentar, 2008, § 18 SEBG Rz. 20; Jacobs in MünchKomm. AktG, 2. Aufl. 2006, § 18 SEBG Rz. 14; Wollburg/Banerjea, ZIP 2005, 277, 279. 51 Siehe Köklü in Van Hulle/Maul/Drinhausen (Hrsg.), Handbuch der Europäischen Gesellschaft (SE), 2007, Abschnitt 6, Rz. 90 (S. 198) Oetker in Lutter/Hommelhoff (Hrsg.), SE-Kommentar, 2008, § 18 SEBG Rz. 22, jeweils m. w. N.; sowie Ziegler/Gey, BB 2009, 1750, 1756. 52 Erwägungsgrund 18 der SE-RL erwähnt ausdrücklich auch die „von strukturellen Änderungsprozessen betroffenen Gesellschaften“
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dung herangezogen53. Begründen lässt sich das mit der Überlegung, dass in der jeweiligen Gründungssituation die Verhandlungen vor dem Hintergrund einer bestimmten Auffanglösung geführt werden. Wandelt sich beispielsweise eine AG mit 1.500 Arbeitnehmern in eine SE um, gilt bei einem Scheitern der Verhandlungen die Drittelparität. Folglich wird auch bei Zustandekommen einer SE-Beteiligungsvereinbarung kaum ein höherer Mitbestimmungsstandard festgelegt werden. Beschäftigt die AG hingegen 2.500 Arbeitnehmer, führt die Auffanglösung zur vollen Parität; entsprechend fällt in aller Regel der Inhalt der SE-Beteiligungsvereinbarung aus. Nimmt die SE, die aus einer AG mit 1.500 Arbeitnehmern entstanden ist, später eine Gesellschaft auf, die ihrerseits 1.000 Arbeitnehmer beschäftigt, überschreitet die SE insgesamt die Schwelle von 2.000 Arbeitnehmern, die im nationalen Recht in die paritätische Mitbestimmung führen würde. In der SE hingegen bleibt alles beim Alten, weil die gesetzliche Auffangregelung allein den Status quo der Gründung konserviert54. Auch für die neu hinzukommenden Arbeitnehmer ändert sich nichts55. Sie unterliegen vorher wie nachher der drittelparitätischen Mitbestimmung. Ein Verlust an Beteiligungsrechten lässt sich in dieser Fallgestaltung allenfalls aus einem hypothetischen Vergleich mit der SE-Gründung herleiten: Hätte die SE schon bei ihrer Gründung mehr als 2.000 Arbeitnehmer gehabt, wäre es vor dem Hintergrund der gesetzlichen Auffanglösung auch in der SE zu einer vollen Parität gekommen. Um die Arbeitnehmer in ihr volles Recht zu setzen, müsste also bei einer späteren strukturellen Änderung neu verhandelt werden, damit sie die Gelegenheit erhalten, im Verhandlungswege oder kraft der gesetzlichen Auffanglösung von der vollen Parität zu profitieren. Vom Wortlaut des § 18 Abs. 3 SEBG ist diese Überlegung allerdings nicht gedeckt. Denn es liegt keine Minderung der Beteiligungsrechte vor. Es handelt sich vielmehr um die entgangene Chance, ein höheres Niveau an Beteiligung zu erreichen als das bislang existierende. § 18 Abs. 3 SEBG verlangt eine strukturelle Änderung, die geeignet ist, Beteiligungsrechte zu mindern, nicht aber eine strukturelle Änderung, aus der sich die Chance ergibt, das Niveau der Beteiligungsrechte zu erhöhen. Auch mit Sinn und Zweck der Vorschrift lässt sich eine erneute Verhandlung in diesem Fall nicht rechtfertigen. § 18 Abs. 3 SEBG folgt der allgemeinen Zielsetzung des SE-Beteiligungsgesetzes,
53 Güntzel (o. Fn. 34), S. 303 ff., 325, 427, hält ein nachträgliches Überschreiten der Schwellenwerte der Art. 3 Abs. 4 und 7 Abs. 2 SE-RL für einen Auslöser von Neuverhandlungen, ebenso wenn nachträgliche Veränderungen in der Zusammensetzung der Belegschaft veränderte Mehrheitsverhältnisse im BVG mit sich gebracht hätten. 54 Vgl. § 35 Abs. 1 SEBG: Es „bleibt die Regelung zur Mitbestimmung erhalten, die in der Gesellschaft vor der Umwandlung bestanden hat.“ 55 Anders wohl Köstler in Theisen/Wenz (Hrsg.), Die Europäische Aktiengesellschaft, 2. Aufl. 2005, S. 331, 371, mit dem Hinweis, die Neuzusammensetzung des BVG diene dem Schutz der hinzukommenden Arbeitnehmer. Allerdings ist die Neuzusammensetzung Rechtsfolge, nicht Tatbestandsvoraussetzung. Zunächst muss eine Situation vorliegen, die geeignet ist, Beteiligungsrechte zu mindern. Diese fehlt bei einem organischen Wachstum der Belegschaft. Grundsätzlich müssen neu hinzukommende Arbeitnehmer immer mit der Beteiligungsvereinbarung leben, die vor ihrem Eintritt ausgehandelt wurde.
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die „erworbenen Rechte“ der Arbeitnehmer zu schützen (§ 1 Abs. 1 und Abs. 4 SEBG). Die bislang erworbenen Rechte sind hier aber nicht bedroht. Es geht um den Erwerb neuer Rechtspositionen. Dieses Bestreben ist vom Schutzzweck des SEBG nicht mehr erfasst56. Es besteht auch kein Anlass, die Lücke durch Analogie zu § 18 Abs. 3 SEBG zu schließen. Zwar wird man dem europäische Gesetzgeber möglicherweise eine Anschauungslücke unterstellen können, da er die Notwendigkeit einer dynamischen Fortschreibung der Beteiligungsrechte nur bezüglich der Unterrichtungs- und Anhörungsrechte gesehen hat, mit denen er durch die EBR-Richtlinie vertraut war: Mit Blick auf die Zusammensetzung des SE-Betriebsrates gibt es eine gesetzliche Regelung, wonach die Zusammensetzung automatisch an veränderte Arbeitnehmerzahlen anzupassen ist. Für die Mitbestimmung fehlt eine vergleichbare Vorschrift, weil man bei Abfassung der SE-Richtlinie allzu schematisch auf das Regelungsmodell des Europäischen Betriebsrates zurückgegriffen hat. Der deutsche Gesetzgeber jedoch hat das Problem gesehen und in § 18 Abs. 3 SEBG einer Regelung zugeführt. Insoweit liegt keine Anschauungslücke vor. Mehr als die in § 18 Abs. 3 SEBG liegende Bestandssicherung war nicht bezweckt. Zu bedenken ist weiterhin, dass es nach der Systematik der europäischen Verhandlungslösung in erster Linie Sache der Verhandlungspartner ist, den im Gesetz ausdrücklich genannten Vereinbarungsgegenstand (Anlässe für Neuverhandlungen) so zu regeln, dass eine „atmende“ Beteiligungsregelung möglich wird57. Sollte die Rechtsform der SE allein dazu verwandt worden sein, andernfalls anwendbare nationale Mitbestimmungsregeln zu unterlaufen, kann darin auch ein Missbrauch im Sinne des § 43 SEBG liegen. Dieser erfasst anders als § 18 Abs. 3 SEBG auch den Fall, in dem Arbeitnehmern Beteiligungsrechte durch den Gebrauch der SE „vorenthalten“ werden. b) „Strukturelle Änderung“ aa) Gesellschaftsrechtliche Strukturmaßnahmen Die Minderung der Beteiligungsrechte muss nach § 18 Abs. 3 SEBG auf eine „strukturelle Änderung“ zurückzuführen sein. In der Literatur herrscht weitgehend Einigkeit darüber, dass jedenfalls Änderungen der gesellschaftsrechtlichen Struktur unter § 18 Abs. 3 SEBG fallen. Häufig genanntes Beispiel ist die Verschmelzung der SE mit einer anderen Gesellschaft58; allgemeiner heißt es, „korporative Akte von ganz erheblichem Gewicht“ seien Anlass für neue 56 Köklü (o. Fn. 10), S. 150 f. Wenig konsequent dann aber eine Anwendung des § 18 Abs. 3 SEBG, wenn sich die Schwellenwerte des § 34 Abs. 1 SEBG nachträglich ändern (ebda., S. 151). Denn auch in diesen Fällen bleibt es bei den im Gründungsstadium festgelegten Beteiligungsrechten. Dass ein anders zusammengesetztes BVG errichtet wird, ist aber nur die Folge, nicht die Voraussetzung für Neuverhandlungen. Deren Voraussetzung sind strukturelle Änderungen, die geeignet sind, Beteiligungsrechte zu mindern. 57 Wobei einzuräumen ist, dass der Wunsch nach einer dynamischen Anpassungsregel für die Arbeitnehmer vor dem Hintergrund einer Auffanglösung, die „nur“ den status quo sichert, nicht leicht durchsetzbar sein dürfte. 58 Siehe etwa Grobys, NZA 2005, 84, 91; Jacobs in MünchKomm. AktG, 2. Aufl. 2006, § 18 SEBG, Rz. 12; Köklü in Van Hulle/Maul/Drinhausen (Hrsg.), Handbuch der Euro-
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Verhandlungen59. Streitig ist dabei, ob das Gesetz allein solche gesellschaftsrechtlichen Strukturveränderungen meint60 oder ob auch Änderungen in der tatsächlichen Unternehmensstruktur eine Neuverhandlung auslösen können61. Der Wortlaut des Gesetzes stützt eine Begrenzung auf gesellschaftsrechtliche Strukturen nicht. Unter einer „Struktur“ versteht man üblicherweise einen verfestigten inneren Aufbau oder eine Gliederung. Bezogen auf ein Unternehmen kann es sowohl um betriebsorganisatorische als auch um rechtliche Strukturen gehen. Das Gesetz versieht den Begriff der Struktur mit keinem zusätzlichen Attribut, legt sich also nicht allein auf gesellschaftsrechtliche Strukturen fest. Für eine Beschränkung der strukturellen Änderung auf korporative Akte von einigem Gewicht wird vielfach auf die Verzahnung des § 18 Abs. 3 SEBG mit der Strafnorm des § 45 Abs. 1 Nr. 2 SEBG hingewiesen62: Wer eine SE dazu missbraucht, Arbeitnehmern Beteiligungsrechte zu entziehen oder vorzuenthalten, kann mit Geldstrafe oder Freiheitsstrafe von bis zu zwei Jahren bestraft werden (§ 45 Abs. 1 Nr. 2 SEBG). Ein Missbrauch der Rechtsform wird insbesondere dann vermutet, wenn innerhalb eines Jahres nach Gründung der SE strukturelle Änderungen stattfi nden, die bewirken, dass den Arbeitnehmern Beteiligungsrechte vorenthalten oder entzogen werden (§ 43 Satz 2 SEBG). Diese Häufung unbestimmter Rechtsbegriffe in Normen, deren Verletzung strafrechtliche Folgen nach sich zieht, ist unter dem Aspekt des rechtsstaatlichen Bestimmtheitsgebotes bedenklich und lässt mit guten Gründen an der Verfassungsmäßigkeit der Strafnorm zweifeln63; zumindest aber kann die Vermutungsregel des § 43 Satz 2 SEBG nicht in die Strafnorm des § 45 Abs. 1 Nr. 2 SEBG übertragen werden, da sie der strafrechtlichen Unschuldsvermutung widerspricht64. Das zwingt aber nicht dazu, bereits § 18 Abs. 3 SEBG mit dem Ziel restriktiv auszulegen, den Bereich der Strafbarkeit einzugrenzen65. Denn eine Verletzung des Tatbestandes von § 18 Abs. 3 SEBG führt ohnehin nicht unmittelbar zur
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päischen Gesellschaft (SE), 2007, Abschnitt 6, Rz. 98 (S. 200), Wollburg/Banerjea, ZIP 2005, 277, 278; Ziegler/Gey, BB 2009, 1750, 1756. Wollburg/Banerjea, ZIP 2005, 277, 279; Braun, Sicherung unternehmerischer Mitbestimmung im Lichte des Europäischen Rechts, 2005, S. 105; Rieble, BB 2006, 2018, 2022; Seibt, AG 2005, 423, 427. In diesem Sinne mit unterschiedlichen Nuancen: Braun, Sicherung unternehmerischer Mitbestimmung im Lichte des Europäischen Rechts, 2005, S. 105; Grobys, NZA 2005, 84, 91; Jacobs in MünchKomm. AktG, 2. Aufl. 2006, § 18 SEBG Rz. 12; Rieble, BB 2006, 2018, 2022; Seibt, AG 2005, 423, 427; Wollburg/Banerjea, ZIP 2005, 277, 279; offener Feldhaus/Vanscheidt, BB 2008, 2246, 2247 f. (Vorgang müsse einer Gründung gleichkommen). So Köklü in Van Hulle/Maul/Drinhausen (Hrsg.), Handbuch der Europäischen Gesellschaft (SE), 2007, Abschnitt 6, Rz. 90 (S. 198); Köstler in Theisen/Wenz (Hrsg.), Die europäische Aktiengesellschaft, 2. Aufl. 2005, S. 331, 370 und Oetker in Lutter/ Hommelhoff (Hrsg.), SE-Kommentar, 2008, § 18 SEBG Rz. 17. Beispielsweise bei Grobys, NZA 2005, 84, 91; Jacobs in MünchKomm. AktG, 2. Aufl. 2006, § 18 SEBG Rz. 12; Wollburg/Banerjea, ZIP 2005, 277, 278. In diesem Sinne Rehberg, ZGR 2005, 859, 890; für noch verfassungsgemäß halten Jacobs in MünchKomm. AktG, 2. Aufl. 2006, § 45 SEBG Rz. 5 und Oetker in Lutter/ Hommelhoff (Hrsg.), SE-Kommentar, 2008, § 45 SEBG Rz. 9, die Vorschrift. Siehe nur Oetker in Lutter/Hommelhoff (Hrsg.), SE-Kommentar, 2008, § 45 SEBG Rz. 10 (m. w. N.). In diesem Sinne auch Güntzel (o. Fn. 34), S. 429.
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Strafbarkeit der Beteiligten. Vielmehr bedarf es dafür zusätzlicher Voraussetzungen: Es reicht nicht aus, dass strukturelle Änderungen „geeignet sind, Beteiligungsrechte der Arbeitnehmer zu mindern“ (so § 18 Abs. 3 SEBG); die SE muss regelrecht dazu „missbraucht“ worden sein, den Arbeitnehmern „Beteiligungsrechte zu entziehen oder vorzuenthalten“ (so § 43 Satz 1 SEBG). Zusätzlich ist für die Strafbarkeit der Beteiligten Vorsatz nötig66. Die rechtsstaatlich gebotene klare Begrenzung des strafbaren Bereiches kann und muss durch restriktive Interpretation dieser zusätzlichen Strafbarkeitsvoraussetzungen geleistet werden, die § 43 Satz 1 SEBG aufstellt. Der Begriff der „strukturellen Änderung“ als solcher, wie er sich in § 18 Abs. 3 SEBG fi ndet, ist teleologisch allein im Lichte der potenziellen Notwendigkeit von Neuverhandlungen zu interpretieren67. Dabei bleibt auch zu bedenken, dass selbst bei einem Vorliegen struktureller Änderungen nicht automatisch Neuverhandlungen ausgelöst werden; neu verhandelt wird nur, wenn strukturelle Änderungen „geeignet sind, Beteiligungsrechte der Arbeitnehmer zu mindern“68. Auch aus diesem Grunde besteht kein Anlass, bereits den Begriff der „strukturellen Änderungen“ übermäßig restriktiv zu interpretieren. bb) Veränderungen der Konzernstruktur, insb. Beteiligungserwerb Bei teleologischer Betrachtung ist entscheidend, dass § 18 Abs. 3 SEBG der Sicherung von Beteiligungsrechten dient (§ 1 Abs. 4 SEBG)69. Strukturen, die für Inhalt und Ausmaß der Beteiligungsrechte maßgeblich sind, müssen auch unter den Begriff der „Struktur“ im Sinne des § 18 Abs. 3 SEBG gefasst werden. Das können sowohl betriebliche als auch gesellschaftsrechtliche Strukturen sein. Dem entsprechend fi ndet sich auch in der Gesetzesbegründung ein Beispiel, das rechtliche und tatsächliche Fallgestaltungen gleichermaßen erfasst: Es könne bei einer strukturellen Änderung um Fälle gehen, in denen „eine SE ein mitbestimmtes Unternehmen mit einer größeren Zahl von Arbeitnehmern aufnimmt, in der SE aber bisher keine Mitbestimmung gilt“70. Das „Aufnehmen“ wird in der Literatur häufig im Sinne einer gesellschaftsrechtlichen Verschmelzung verstanden71. Dieser Fall ist von der Formulierung sicherlich erfasst. Es gibt aber auch andere Möglichkeiten, ein Unternehmen „aufzunehmen“72. Dazu 66 Oetker in Lutter/Hommelhoff (Hrsg.), SE-Kommentar, 2008, § 45 SEBG Rz. 11. 67 Kienast in Jannott/Frodermann, Handbuch SE, 2005, S. 411 (Rz. 191), plädiert für eine restriktive Interpretation, weil ein Nachverhandlungsanspruch in der SE-RL nicht vorgesehen sei. Dies kann alleine nicht ausschlaggebend sein, da die Richtlinie bei der Umsetzung einen gewissen Spielraum lässt und jedenfalls den Schutz vor Beteiligungsminderung bei strukturellen Änderungen ausdrücklich als eines ihrer Ziele nennt (dazu bereits oben im Text nach Fn. 31). 68 In diesem Sinne auch Oetker in Lutter/Hommelhoff (Hrsg.), SE-Kommentar, 2008, § 18 SEBG Rz. 17, mit dem Hinweis, das Korrektiv des Tatbestandes liege im zweiten Merkmal, nämlich der Eignung zur Minderung der Beteiligungsrechte. 69 Siehe auch Köklü (o. Fn. 10), S. 147: § 1 Abs. 4 SEBG als Richtschnur der Auslegung von § 18 Abs. 3 SEBG. 70 Begr. RegE zu § 18 SEBG, abgedruckt bei Neye, Die Europäische Aktiengesellschaft, 2005, S. 202. 71 Vgl. die Nachw. in Fn. 58. 72 In diesem Sinne auch Köklü (o. Fn. 10), S. 147 f., der zutreffend die „weiche Wortwahl“ der Gesetzesbegründung hervorhebt. Allgemein zu den wirtschaftlich häufig als
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gehört der Erwerb eines Unternehmens im Wege des sog. Asset Deal (Einzelrechtsübertragung) mit der Folge, dass die Arbeitsverhältnisse nach § 613a BGB übergehen. Wirtschaftlich erreicht man damit dasselbe Ziel wie bei einer Verschmelzung: Die Vermögenswerte und das Personal von zwei verschiedenen Rechtsträgern werden bei einem Rechtsträger zusammengefasst. Von der Aufnahme eines Unternehmens lässt sich auch beim Erwerb einer Mehrheitsbeteiligung sprechen, die beispielsweise in der englischen Rechtsordnung die dort völlig unübliche Verschmelzung funktional gleichwertig ersetzt73. Mit dem Erwerb der Beteiligung entsteht eine Konzernstruktur. Da die deutsche Mitbestimmung konzerndimensional angelegt ist (vgl. § 5 MitbestG), muss eine Veränderung der Konzernstruktur tatbestandlich unter die Norm des § 18 Abs. 3 SEBG gefasst werden. Als Strukturänderung kommt vor diesem Hintergrund auch eine Umstrukturierung des Konzerns in Betracht, die nicht gesellschaftsrechtlicher Natur ist – insbesondere der Erwerb einer bedeutenden Tochtergesellschaft, welche die wirtschaftliche Struktur des Konzerns erheblich verändert. Gegen diese Sichtweise wird zwar eingewandt, der Erwerb einer bereits mitbestimmten Tochtergesellschaft sei keine strukturelle Änderung, wenn in der Tochtergesellschaft weiterhin Mitbestimmung gelte74. Dies vermischt aber das Merkmal der strukturellen Änderung mit demjenigen der Minderung der Beteiligungsrechte. Grundsätzlich hat gerade die Mitbestimmung deutscher Prägung insoweit konzerndimensionalen Charakter als zur Ermittlung der mitbestimmungsrelevanten Schwellen die Arbeitnehmer der Konzerngesellschaften dem herrschenden Unternehmen zugerechnet werden75; Umstrukturierungen innerhalb des Konzerns dürfen daher nicht von vornherein vom Tatbestand ausgenommen werden. „Strukturelle Änderung“ i. S. d. § 18 Abs. 3 SEBG kann somit auch der Erwerb einer maßgeblichen Beteiligung an einem Unternehmen sein, das bisher nicht zum Konzern gehörte76. Damit ist noch nicht über die Einleitung von Verhandlungen entschieden, denn zusätzlich muss die strukturelle Änderung geeignet sein, Beteiligungsrechte zu mindern. Das ist nicht der Fall, wenn beide Gesellschaften bereits mitbestimmt sind und sich an der Form der Mitbestimmung auch nichts ändert77.
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gleichwertig anzusehenden Gestaltungen der Unternehmensübertragung Vossler in Oetker, HGB-Kommentar, 2009, Anh §§ 25–28 HGB Rz. 4 ff. Zur funktionalen Austauschbarkeit von „Takeover“ und „Merger“ siehe nur Gower and Davies, Principles of Modern Company Law, 8. Aufl. 2008, S. 1059 ff. Grobys, NZA 2005, 84, 91; Ulmer/Habersack/Henssler, Mitbestimmungsrecht, 2. Aufl. 2006, Einl. SEBG Rz. 213; Jacobs in MünchKomm. AktG, 2. Aufl. 2006, § 18 SEBG, Rz. 17; Köklü in Van Hulle/Maul/Drinhausen (Hrsg.), Handbuch der Europäischen Gesellschaft (SE), 2007, Abschnitt 6, Rz. 98 (S. 200); Müller-Bonanni/ Melot de Beauregard, GmbHR 2005, 195, 200; Rieble, BB 2006, 2018, 2022. Siehe § 5 Mitbestimmungsgesetz und § 2 Drittelbeteiligungsgesetz. Ebenso Güntzel (o. Fn. 34), S. 432; Kraft (o. Fn. 22), S. 204, Nagel, AuR 2004, 281, 286 und Oetker in Lutter/Hommelhoff (Hrsg.), SE-Kommentar, 2008, § 18 SEBG Rz. 16; auch Feldhaus/Vanscheidt, BB 2008, 2246, 2249 ff. differenzieren zutreffend zwischen der Frage der strukturellen Änderung und der Minderung der Beteiligungsrechte. Vgl. oben Text bei Fn. 55.
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cc) Wachstum der Belegschaft (1) Organisches Wachstum Die bloße Zahl der Arbeitnehmer ist kein Strukturmerkmal78. Ein Unternehmen verändert weder seine betriebswirtschaftliche noch seine gesellschaftsrechtliche Struktur allein dadurch, dass etwa beim Stande von 500 Arbeitnehmern ein neuer Mitarbeiter eingestellt wird. Zwar hat das potenziell Auswirkungen auf die Beteiligungsrechte, weil der Anwendungsbereich des Drittelbeteiligungsgesetzes erreicht wird. Allerdings fi ndet dieses gemäß § 47 Abs. 1 Nr. 1 SEBG auf die SE keine Anwendung79. Zudem ist die bloße Beeinträchtigung oder Gefährdung von Beteiligungsrechten für sich genommen kein Auslöser für neue Verhandlungen80. Autoren, die diese Auffassung vertreten81, verkennen, dass § 18 Abs. 3 SEBG kumulativ das Vorliegen einer strukturellen Änderung und die Gefährdung von Beteiligungsrechten verlangt. Liegt nur eine Gefährdung der Beteiligungsrechte vor, bleibt allenfalls der Rückgriff auf die Missbrauchsregelung des § 43 SEBG. (2) Sonderfall: Die bei Gründung arbeitnehmerlose SE Ein Sonderfall ist die Aktivierung einer zunächst nur als Vorrats-SE gegründeten Gesellschaft. Wird diese nach ihrer Eintragung mit einem Unternehmen ausgestattet, kann man – wie im nationalen Gesellschaftsrecht auch – von einer „wirtschaftlichen Neugründung“ sprechen, bei der eine sinngemäße Anwendung der Gründungsvorschriften geboten ist82. Für die SE ist dieser Vorgang als strukturelle Änderung anzusehen, weil die Gesellschaft erstmals überhaupt mit einer unternehmerischen Struktur ausgestattet wird. Bei der Aktivierung einer Vorrats-SE sind daher nach § 18 Abs. 3 SEBG Verhandlungen aufzunehmen83. Von der Vorratsgründung lässt sich wiederum die Gründung einer SE unterscheiden, die von Beginn an unternehmerisch tätig ist, ohne jedoch Arbeitnehmer zu beschäftigen. Die arbeitnehmerlose werbende SE ist nach Auffassung von Forst anders zu behandeln als die Vorrats-SE84. Denn eine arbeitnehmerlose werbende SE sei in Form der Holding-SE bereits als denkbare Einsatzform in der SE-VO angelegt, daher sei die spätere Einstellung von Arbeitnehmern kein
78 Gegen Neuverhandlungen bei einem bloßen Ansteigen der Arbeitnehmerzahlen Güntzel (o. Fn. 34), S. 432. Überzeugend insoweit auch der systematische Hinweis von Kraft (o. Fn. 22), S. 204, Fn. 697, auf § 5 Abs. 4 Satz 1 SEBG, der ausdrücklich zwischen „Veränderungen in der Struktur oder Arbeitnehmerzahl“ unterscheidet. 79 Darauf weist auch Köklü (o. Fn. 10), S. 150 hin. 80 Wie hier Köklü (o. Fn. 10), S. 149 f.: Erhöhung der Arbeitnehmerzahl außerhalb von strukturellen Änderungen fällt nicht unter § 18 Abs. 3 SEBG. 81 Siehe etwa Köstler in Theisen/Wenz (Hrsg.), Die Europäische Aktiengesellschaft, 2. Aufl. 2005, S. 331, 371. 82 Vgl. BGHZ 153, 158, 161 für das nationale Gesellschaftsrecht. 83 Dazu m. w. N. Forst (o. Fn. 7), S. 181, Götze/Winzer/Arnold, ZIP 2009, 245, 252, und Güntzel (o. Fn. 34), S. 433 ff. 84 Forst (o. Fn. 7), S. 123 ff.; zur Unterscheidung von werbender arbeitnehmerloser SE und Vorrats-SE auch Forst, NZG 2009, 687 ff.
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Anlass für Verhandlungen85. Demgegenüber verstoße die Vorrats-SE gegen das Leitbild der SE-VO und müsse daher analog wie eine Neugründung behandelt werden. Diese Unterscheidung vermag allerdings nicht zu überzeugen. Denn mit der Tochter-SE ist auch die anfangs nicht werbende Gesellschaft vom Regelungsprogramm der SE-VO gedeckt. Wenn etwa zwei Unternehmen ein Gemeinschaftsunternehmen in Form der Tochter-SE errichten wollen, liegt es durchaus nahe, die SE zunächst als leere Hülle zu errichten und erst nach ihrer Eintragung sukzessive mit Leben zu erfüllen. Insoweit ist auch die zunächst nicht werbend tätige SE eine Gestaltung, die von den Gründungsformen der SE-VO gedeckt ist. Es ist daher – zumal mit Blick auf die Arbeitnehmerbeteiligung – kein Grund erkennbar, verschiedene Formen der arbeitnehmerlosen SE zu unterscheiden. Aus der Perspektive des § 18 Abs. 3 SEBG wird in beiden Fällen mit der Einstellung von Arbeitnehmern erstmals eine betriebliche Struktur geschaffen, die notwendige Voraussetzung dafür ist, über Beteiligungsrechte überhaupt verhandeln zu können. In beiden Fällen ist daher in analoger Anwendung des § 18 Abs. 3 SEBG das bei der Gründung nicht durchgeführte Verhandlungsverfahren nachzuholen. 3. Auffangregelung bei Scheitern der Neuverhandlungen Werden auf der Basis von § 18 Abs. 3 SEBG neue Verhandlungen aufgenommen, so folgen diese dem Verfahren, das auch bei Gründung der SE Anwendung fi ndet (§ 18 Abs. 4 SEBG). Wird in den Verhandlungen keine Einigung erzielt, sind die gesetzlichen Vorschriften über den SE-Betriebsrat und die Mitbestimmung anzuwenden (§ 18 Abs. 3 Satz 3 SEBG). Der Umfang der Mitbestimmung richtet sich in diesem Fall nach dem höchsten Anteil an Arbeitnehmervertretern, der in den Organen der beteiligten Gesellschaften bestanden hat (vgl. § 35 Abs. 2 Satz 2 SEBG). Wenn die SE also ein Unternehmen mit einem höheren Mitbestimmungsniveau aufnimmt (vgl. oben IV. 2. a) bb)), richtet sich die Mitbestimmung in der SE künftig nach dem Niveau, das in dem aufgenommenen Unternehmen geherrscht hat.
V. Vertraglich geregelte Wiederaufnahme der Verhandlungen 1. Rechtspraktisches Bedürfnis für eine Regelung in der SE-Beteiligungsvereinbarung Über die Wiederaufnahme der Verhandlungen kann auch in der SE-Beteiligungsvereinbarung eine Regelung getroffen werden. Das SEBG bietet dafür zwei Ansatzpunkte: Zum einen gehört zum Inhalt der Vereinbarung generell eine Regelung über „die Fälle, in denen die Vereinbarung neu ausgehandelt werden soll und das dabei anzuwendende Verfahren“ (§ 21 Abs. 1 Nr. 6 SEBG). Die Parteien können also selbst Fälle bestimmen, in denen sie die Vereinbarung neu aushandeln wollen. Zusätzlich fordert § 21 Abs. 4 SEBG die Beteiligten in einer Soll-Vorschrift dazu auf, in der Vereinbarung festzulegen, dass auch vor strukturellen Änderungen der SE Verhandlungen über die Beteiligung der 85 Forst (o. Fn. 7), S. 214 f.
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Arbeitnehmer in der SE aufgenommen werden; die Parteien können das dabei anzuwendende Verfahren regeln. Dass es sinnvoll sein kann, abseits der starren Regelung des § 18 Abs. 3 SEBG autonome und maßgeschneiderte Bestimmungen zu treffen, sei an einem Beispiel erläutert. Eine Gesellschaft bewegt sich in einem dynamischen Marktumfeld und plant, im Laufe der kommenden Jahre mehrere große Unternehmensbeteiligungen zu erwerben. Sollte die Expansion im Wege von Verschmelzungen vollzogen werden, wäre § 18 Abs. 3 SEBG nach allen hierzu vertretenen Auffassungen anwendbar; nach hier vertretener Auffassung greift er auch bei einem bloßen Beteiligungserwerb (dazu oben IV. 2. b) bb)). In jedem Fall steht zu befürchten, dass in kurzen Abständen mehrfach neue Verhandlungen geführt werden müssen in einer Phase, die das Unternehmen ohnehin zu ständigen Umwälzungen zwingen wird. Diese Schwierigkeit lässt sich durch eine vorausschauende Vertragsplanung vermeiden. Entweder nimmt man bereits in der ursprünglichen Vereinbarung eine dynamische Anpassung an künftige Entwicklungen vorweg – beispielsweise die Erhöhung von Drittel- auf volle Parität, wenn der Konzern die Schwelle von 2.000 Arbeitnehmern überschreitet. Oder man sorgt dadurch für eine gewisse Stabilität der Verhältnisse, dass Neuverhandlungen für eine zeitlich festgelegte Startphase zunächst ausgeschlossen werden. Das verschafft in der dynamischen Zeit des Konzernwachstums die nötige Planungssicherheit. Nach Ablauf einer festgelegten Frist – von beispielsweise drei Jahren – kann dem SE-Betriebsrat das Recht zugesprochen werden, neue Verhandlungen zu beantragen. Da der SE-Betriebsrat kraft Gesetzes an die Veränderungen in der Belegschaft angepasst wird (§ 25 SEBG), ist sichergestellt, dass auch die neu hinzugekommenen Arbeitnehmer schon bei der Entscheidung, ob neu verhandelt wird, ein Mitspracherecht haben. Gegebenenfalls kann sogar einer Minderheit von Arbeitnehmern das Antragsrecht zugestanden werden, um zu vermeiden, dass die „Gründergeneration“ die nachkommenden Mitarbeiter dominiert. Die Vereinbarung kann vorsehen, dass ein solches Antragsrecht jeweils in einem Abstand von weiteren drei Jahren erneut besteht. Diese oder vergleichbare Regelungen bieten einen sinnvollen Ausgleich zwischen der Notwendigkeit, das Beteiligungsregime regelmäßig an strukturelle Änderungen anzupassen, und dem naheliegenden Wunsch, in den Entscheidungsprozessen des Unternehmens – an denen die Arbeitnehmer kraft ihrer Beteiligungsrechte teilhaben – eine gewisse Stabilität zu wahren. 2. Spannungsverhältnis zwischen Vereinbarung und gesetzlicher Regelung Klärungsbedürftig ist das Verhältnis einer solchen auf Basis des § 21 SEBG autonom vereinbarten Neuverhandlungsregelung zur gesetzlichen Vorschrift des § 18 Abs. 3 SEBG. Damit ist die rechtspraktisch hoch bedeutsame Frage verbunden, ob die Parteien der SE-Beteiligungsvereinbarung abschießend festlegen können, in welchen Fällen sie neu verhandeln wollen, oder ob zusätzlich bei jeder von § 18 Abs. 3 SEBG erfassten Situation stets Neuverhandlungen eröffnet werden müssen. Der deutsche Gesetzgeber ging davon aus, dass in der SEVereinbarung zwar das Verfahren der Neuverhandlung geregelt werden könne, der gesetzliche Anspruch auf Neuverhandlung jedoch nicht zur Disposition
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stehe86. Die Mehrheit der Literatur folgt dieser Auffassung87. Einige Autoren meinen immerhin, die Vereinbarung könne den Tatbestand der strukturellen Änderung konkretisieren88. Dennoch genießt dieser Auffassung nach die gesetzliche Regelung des § 18 Abs. 3 SEBG absoluten Vorrang vor der Autonomie der Parteien. Auf den Inhalt der Vereinbarung kommt es letztlich nicht an, weil sich immer die gesetzliche Regelung durchsetzt. Das Bestreben des deutschen Gesetzgebers, den Spielraum der Verhandlungspartner zu begrenzen, ist europarechtlich bedenklich. Denn in der SE-Richtlinie ist nicht etwa die Neuverhandlungspflicht für strukturelle Änderungen vorgegeben, sondern die Befugnis der Parteien, die Anlässe für neue Verhandlungen in der SE-Beteiligungsvereinbarung zu regeln. In Art. 4 Abs. 2 SE-RL heißt es dazu: „Unbeschadet der Autonomie der Parteien … wird in der schriftlichen Vereinbarung … Folgendes festgelegt: … h) der Zeitpunkt des Inkrafttretens der Vereinbarung und ihre Laufzeit, die Fälle, in denen die Vereinbarung neu ausgehandelt werden sollte, und das bei ihrer Neuaushandlung anzuwendende Verfahren.“
Der europäische Gesetzgeber unterstellt also, dass die Fälle, in denen neu verhandelt werden soll, in der Vereinbarung festgelegt werden; einen darüber hinausgehenden Nachverhandlungsanspruch kennt die SE-Richtlinie nicht. Der deutsche Gesetzgeber hat die europäische Vereinbarungslösung durch einen gesetzlichen Nachverhandlungsanspruch ergänzt (§ 18 Abs. 3 SEBG). Dieser lässt sich auf die Missbrauchsklausel der SE-Richtlinie stützen, wenn man sie im Lichte des achtzehnten Erwägungsgrundes interpretiert (siehe oben IV. 1.). Die Vorschrift ist somit bei richtlinienkonformer Auslegung auf Missbrauchsfälle zu begrenzen und darf nicht gegen die europarechtlich gewährte Vereinbarungsautonomie ausgespielt werden. Das Spannungsverhältnis zwischen der europäisch klar vorgegebenen Parteiautonomie und dem Nachverhandlungsanspruch des SEBG ist im Zweifel zu Gunsten der SE-Beteiligungsvereinbarung aufzulösen. Wie der europäische Gesetzgeber das Verhältnis von Nachverhandlungen und Vereinbarungsautonomie sieht, zeigt im Übrigen die neu gefasste Richtlinie über den Europäischen Betriebsrat. Dort ist in der Richtlinie selbst ein eigenständiger Nachverhandlungsanspruch geregelt, aber nur für den Fall, dass die Vereinbarung dazu keine eigene Regelung trifft89. Allerdings kann den Parteien auch im Bereich der europäischen Vereinbarungsautonomie keine unbegrenzte Regelungsbefugnis zugestanden werden.
86 Begr. RegE zu § 21 Abs. 4 SEBG (abgedruckt bei Neye, Die Europäische Aktiengesellschaft, 2005, S. 207): „Die gesetzliche Regelung des § 18 Abs. 3 SEBG kann nicht abbedungen werden.“ 87 Köklü (o. Fn. 10), S. 182; Köklü in Van Hulle/Maul/Drinhausen (Hrsg.), Handbuch der Europäischen Gesellschaft (SE), 2007, Abschnitt 6, Rz. 84 (S. 197), 145 (S. 217); Jacobs in MünchKomm. AktG, 2. Aufl. 2006, § 21 SEBG, Rz. 25; Oetker in Lutter/ Hommelhoff (Hrsg.), SE-Kommentar, 2008, § 18 SEBG Rz. 28. 88 So ausdrücklich Oetker in Lutter/Hommelhoff (Hrsg.), SE-Kommentar, 2008, § 21 SEBG Rz. 27; auch Köklü in Van Hulle/Maul/Drinhausen (Hrsg.), Handbuch der Europäischen Gesellschaft (SE), 2007, Abschnitt 6, Rz. 84 (S. 197) deutet dies an mit dem Hinweis, die Vereinbarung könne „neben zu spezifi zierenden Fallgestaltungen“ auch das Verfahren der Neuverhandlung regeln. 89 Vgl. oben im Text bei Fn. 29.
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Die SE-Beteiligungsvereinbarung ist im Lichte der Missbrauchsregelung einer materiellen Inhaltskontrolle dahingehend zu unterwerfen, dass sie nicht zur Verkürzung von Beteiligungsrechten missbraucht werden darf. Sollte also die Möglichkeit für Neuverhandlungen in der Vereinbarung in missbräuchlicher Weise zum Nachteil der aktuell oder künftig in der SE tätigen Arbeitnehmer reduziert worden sein, wäre eine solche Regelung unwirksam. An ihrer Stelle käme § 18 Abs. 3 SEBG zur Anwendung. Solange die Parteien aber eine eigenständige Regelung für Neuverhandlungen fi nden, die sich sachlich rechtfertigen lässt, liegt kein Missbrauch vor. Es bleibt dann bei der von Art. 4 SE-Richtlinie und § 21 Abs. 1 SEBG vorgegebenen Vereinbarungsfreiheit der Parteien.
VI. Zusammenfassung Bei Gründung einer SE sind Verhandlungen über die Beteiligung der Arbeitnehmer aufzunehmen. Diese führen nicht immer zu einer SE-Beteiligungsvereinbarung. Die SE kann nach Ablauf der gesetzlichen Verhandlungsfrist von sechs Monaten (verlängerbar auf ein Jahr) auch ohne SE-Beteiligungsvereinbarung eingetragen werden. Überdies kann das Besondere Verhandlungsgremium der Arbeitnehmer beschließen, die Verhandlungen nicht aufzunehmen oder abzubrechen. Auch in diesem Fall entsteht eine SE ohne Beteiligungsvereinbarung. Für die Zeit nach der Gründung regelt die SE-Richtlinie verschiedene Fälle, in denen es zu einer Wiederaufnahme der Verhandlungen kommen kann. Wurde im Zuge der SE-Gründung wegen fruchtlosen Ablaufs der Verhandlungsfrist keine Vereinbarung abgeschlossen, kann der kraft Gesetzes errichtete SEBetriebsrat nach vier Jahren einen Beschluss darüber fassen, erneut Verhandlungen aufzunehmen (§ 26 SEBG). Über die Anpassung der Zusammensetzung des SE-Betriebsrates an veränderte Arbeitnehmerzahlen muss nicht neu verhandelt werden; denn diese Anpassung ergibt sich bereits aus dem Gesetz (§ 25 SEBG). Wurden die Verhandlungen wegen eines dahingehenden Beschlusses des BVG nicht aufgenommen oder abgebrochen, wird kein SE-Betriebsrat errichtet. In diesem Fall können 10 Prozent der SE-Arbeitnehmer nach Ablauf von zwei Jahren schriftlich den Antrag stellen, erneut Verhandlungen aufzunehmen. Kam bei der SE-Gründung eine Beteiligungsvereinbarung zustande, kann diese selbst Tatbestände und Verfahren eventueller Neuverhandlungen regeln. Dieser Punkt gehört zum gesetzlich geregelten Mindestinhalt einer SE-Beteiligungsvereinbarung (§ 21 Abs. 1 Nr. 6 SEBG). Gemäß § 18 Abs. 3 SEBG fi nden in der bestehenden SE Verhandlungen über die Beteiligungsrechte der Arbeitnehmer statt, wenn strukturelle Änderungen der SE geplant sind, die geeignet sind, Beteiligungsrechte der Arbeitnehmer zu mindern. Der Tatbestand dieser Norm hat zwei Voraussetzungen, die kumulativ vorliegen müssen: Eine strukturelle Änderung muss geeignet sein, Beteiligungsrechte der Arbeitnehmer der SE zu mindern. Daraus folgt im Umkehrschluss, dass keine gesetzliche Verhandlungspflicht besteht, wenn nur eines der beiden Elemente gegeben ist: Nicht jede strukturelle Änderung führt zu neuen Verhandlungen; ebensowenig führt jede Maßnahme, die geeignet ist, Beteiligungsrechte der Arbeitnehmer der SE zu mindern, zu neuen Verhandlungen. Nur wenn beide Voraussetzungen kumulativ gegeben sind, greift § 18 Abs. 3 371
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SEBG. Soweit Maßnahmen nicht als „strukturelle Änderung“ zu qualifi zieren sind und dennoch geeignet erscheinen, Beteiligungsrechte der Arbeitnehmer zu mindern, können sich die Arbeitnehmer allenfalls auf die allgemeine Missbrauchsklausel (§ 43 SEBG) berufen. Auslöser für neue Verhandlungen sind nicht allein „korporative Akte von erheblichem Gewicht“. Für eine solche Beschränkung auf gesellschaftsrechtliche Strukturmaßnahmen bietet der Wortlaut keine Anhaltspunkte. Unter den Begriff der „Struktur“ können auch betriebliche oder sonstige unternehmerische Strukturen fallen. Insbesondere kann der Erwerb einer Beteiligung neue Verhandlungen auslösen. Dies allerdings nur, wenn er geeignet ist, zu einer Minderung der Beteiligungsrechte zu führen. Daran fehlt es, wenn in der SE und in dem hinzuerworbenen Unternehmen das gleiche Beteiligungsniveau herrscht. Das organische Wachstum der Belegschaft ist keine strukturelle Änderung. Allein bei der arbeitnehmerlos gegründeten SE ist in analoger Anwendung des § 18 Abs. 3 SEBG bei der erstmaligen Entstehung betrieblicher Strukturen ein Anspruch auf Verhandlungen zu bejahen. In der SE-Beteiligungsvereinbarung können Anlass und Verfahren von Neuverhandlungen autonom festgelegt werden. Die herrschende Auffassung, wonach § 18 Abs. 3 SEBG nicht vereinbarungsdispositiv sei, ist abzulehnen. Bei richtlinienkonformer Auslegung muss die Vereinbarungsautonomie grundsätzlich Vorrang haben. Denn die SE-Richtlinie gestattet den Parteien ausdrücklich, die Fälle der Neuverhandlung in der SE-Beteiligungsvereinbarung festzulegen. Demgegenüber kann sich § 18 Abs. 3 SEBG nicht auf eine ausdrückliche Regelungsermächtigung in der Richtlinie stützen, sondern stellt lediglich eine Konkretisierung des darin enthaltenen Missbrauchstatbestandes dar. Demgemäß ist die SE-Beteiligungsvereinbarung nur einer Missbrauchskontrolle dahingehend zu unterwerfen, dass sie nicht zur willkürlichen Verkürzung von Beteiligungsrechten führen darf.
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Schutz gegen Umgehung der Kapitalaufbringungsregeln bei der AG – Überlegungen de lege ferenda Inhaltsübersicht I. Einleitung II. Überlegungen 1. Ausgangslage de lege lata a) Überblick b) Verdeckte Sacheinlage („VSE“) c) Hin- und Herzahlen d) Erweiterungen gegenüber § 52 AktG 2. Praktische Probleme 3. Zusammenhang Kapitalaufbringung – Kapitalerhaltung 4. Europarechtliche Vorgaben a) Inhalt der Kapitalrichtlinie b) Europarechtliches Gebot, Grundsätze der VSE anzuerkennen? c) Verstoß der Grundätze zur VSE gegen Europarecht? 5. Europäisches Ausland
6. Gründe, nicht bei der „kleinen“ Reform des Rechts der VSE und des Hin- und Herzahlens stehen zu bleiben 7. Alternative: „Große Lösung“ im Sinne einer eng an der Kapitalrichtlinie orientierten Regelung a) Beschreibung des Modells b) Unterschiede im Bereich der Gründung c) Unterschiede im Bereich der Kapitalerhöhung d) Berechtigung einer Ungleichbehandlung von Gründung und Kapitalerhöhung 8. Reform der Kapitalaufbringung bei der GmbH III. Thesen
I. Einleitung Dem Jubilar sollen die folgenden Überlegungen insbesondere aus den folgenden drei Gründen gewidmet werden: (1) Es gibt wohl keinen anderen Juristen in Deutschland, für den das Ungetüm des Umgehungsschutzes der Sachkapitalaufbringungsvorschrift bei der AG eine solch große professionelle und persönliche Bedeutung erlangt hat. (2) Die Thematik wird von kapitalgesellschaftsrechtlichen und europarechtlichen Regeln und Wertungen bestimmt; es gibt wenige Juristen, die beide Bereiche derart profund beherrschen wie der Jubilar. (3) Der Jubilar hat wie kaum ein anderer praktizierender Rechtsanwalt die Rechtspolitik und die Weiterentwicklung gerade auch des Gesellschaftsrechts im Blick. Der Umgehungsschutz bei der Kapitalaufbringung ist sowohl dogmatisch als auch von seiner praktischen Bedeutung her eines der spannendsten und schwierigsten Themen des Gesellschaftsrechts. Eine Vielzahl von Entscheidungen rankt sich um die Themen verdeckte Sacheinlage und Hin- und Herzahlen. 373
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Entgegen vereinzelten Stimmen1 ist die Rechtslage komplex, und zwar nicht nur für Rechtsanwender, die die Grenzen des rechtlich Zulässigen ausloten oder strapazieren wollen. Nicht zuletzt die recht häufig auftretenden divergierenden Entscheidungen zwischen den Oberlandesgerichten und dem 2. Zivilsenat des BGH bestätigen diese These2. Während das Kapitalaufbringungsrecht lange Zeit als Bastion gegen jede reformpolitische Veränderung galt, hat die Gesellschaftsrechtsreform in perpetuum mittlerweile auch diesen Bereich ergriffen: Zunächst hat der Gesetzgeber durch das MoMiG die Rechtsfolgen der verdeckten Sacheinlage („VSE“) und des Hin- und Herzahlens in § 19 Abs. 4 und 5 GmbHG für die GmbH modifi ziert und abgemildert. Insbesondere sind die der VSE zugrunde liegenden schuldrechtlichen und dinglichen Verträge nicht mehr unwirksam (§ 19 Abs. 4 Satz 2 GmbHG). Die an sich nicht ordnungsgemäß erbrachte Bareinlage wird im Wege der Anrechnung des Werts des Vermögensgegenstandes im Zeitpunkt der Anmeldung oder Überlassung getilgt (§ 19 Abs. 4 Satz 3 GmbHG). Bei vorabgesprochener darlehensweiser Rückzahlung der Bareinlage an den Inferenten gilt die Bareinlage als erfüllt, wenn insbesondere der Darlehensrückgewähranspruch vollwertig ist und jederzeit fällig gestellt werden kann (§ 19 Abs. 5 Satz 1 GmbHG). Im Hinblick auf die AG zögerte der Gesetzgeber zunächst, diese Regelungen Bitten der Praxis entsprechend 3 auch auf die AG zu erstrecken4. Letztlich sind dann aber doch die GmbH-rechtlichen Modifikationen der Rechtsfolgen verdeckter Sacheinlagen und des Hin- und Herzahlens in letzter Minute noch im Rahmen des ARUG in das AktG aufgenommen worden (s. §§ 27 Abs. 3 und 4, 183 Abs. 2, 194 Abs. 2, 205 Abs. 3, 206 AktG). Als gesetzlicher status quo lässt sich damit festhalten, dass es die Institute der VSE und des Hin- und Herzahlens zur Vermeidung einer Umgehung der gegenüber Bareinlagen strikteren Regeln über Sacheinlagen nach wie vor gibt, dass aber die bisherigen, häufig als desaströs gekennzeichneten Rechtsfolgen deutlich abgemildert worden sind.
1 S. etwa Goette, ZGR 2006, 261, 275. 2 Hierzu ausführlicher nachf. unter II. 2. 3 Insb. der Handelsrechtsausschuss des DAV forderte immer wieder auch für die AG eine Eindämmung der überzogenen Rechtsfolgen der verdeckten Sacheinlage, so in seinen Stellungnahmen zum MoMiG, NZG 2007, 211, 212 und NZG 2007, 735, 740, und ebenso zum RefE des ARUG, NZG 2008, 534. 4 Ursprünglich hatte der Gesetzgeber die Absicht, für die AG gleiche oder ähnliche Modifikationen vorzusehen. So wurde in der Begründung des Regierungsentwurfs des MoMiG darauf hingewiesen, dass die Deregulierung der Sacheinlage im Aktienrecht im Rahmen der Umsetzung der durch die Richtlinie 2006/68/EG (ABl. EU Nr. L 264, S. 32 ff.) geänderten 2. Gesellschaftsrechtlichen Richtlinie in Angriff genommen werden solle und (nur) deshalb aus dem MoMiG ausgeklammert worden sei; s. Begr. des RegE MoMiG, BT-Drucks. 16/6140, S. 52. Der RegE des ARUG vom 5.11.2008 sah zwar gewisse, durch die Ergänzungsrichtlinie 2006/68/EG v. 6.9.2006 (ABl. EG 2006 Nr. L 264, 32) ermöglichte Deregulierungen im Bereich der Sacheinlage vor (s. insb. §§ 33a, 34 Abs. 2, 37a, 38 Abs. 3, 52 Abs. 4, 6, 7 und die Streichung des Abs. 1, 183 Abs. 3, 183a, 184, 194 Abs. 5, 195 Abs. 2 und 3, 205 Abs. 5–7, 206 AktG). Eine Deregulierung der verdeckten Sacheinlage war zunächst jedoch ausdrücklich ausgeklammert worden. Begründet wurde dies damit, dass zunächst die Akzeptanz der Neuregelung bei der GmbH abgewartet werden solle, s. Begr. zum RegE ARUG vom 5.11.2008, BT-Drucks. 16/11642, S. 20; s. auch schon Seibert, ZIP 2008, 906, 907.
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Die nachfolgenden Überlegungen sind primär rechtspolitischer Art. Sie befassen sich nicht mit Detailfragen der Neuregelung, beispielsweise der dogmatischen Begründung der Anrechnung5 oder der Frage, inwieweit die Regelung in § 27 Abs. 4 AktG dem Verbot des § 71a AktG und den entsprechenden Vorgaben der Kapitalrichtlinie6 widerspricht7. Sie wollen vielmehr trotz des aus Sicht der Praxis deutlich verbesserten Zwischenstands der grundlegenden konzeptionellen Frage nachgehen, ob der dogmatische Ausgangspunkt des deutschen Aktienrechts überzeugt und ob die Modifikation der Rechtsfolgen der VSE und des Hin- und Herzahlens nicht lediglich eine Behandlung der Symptome darstellt, ohne das Problem wirklich an der Wurzel zu packen. Dabei soll der ARUG-Gesetzgeber nicht kritisiert werden; vor dem Hintergrund des Zeitdrucks und des Meinungsstands im Schrifttum wäre eine große Lösung, die sich nicht auf die Behandlung der für die Praxis besonders misslichen Rechtsfolgen beschränkt, nicht möglich gewesen. Sowohl für die AG als auch die GmbH sollte der erreichte Stand allerdings nicht dazu führen, eine weitergehende Verbesserung des Rechts der Kapitalaufbringung dauerhaft ad acta zu legen. Kern der nachfolgenden Überlegungen ist ein Vorschlag zu einer weitergehenden Deregulierung der VSE und des Hin- und Herzahlens bei der AG, der sich gerade nicht auf eine bloße Abmilderung ihrer Rechtsfolgen beschränkt. Er zielt stattdessen darauf, den Umgehungsschutz für die Regelungen über Sacheinlagen eng am Gesetz und ohne die Gefahr eines Konfl ikts mit den Vorgaben der Kapitalrichtlinie zu verwirklichen. Der Umgehungsschutz wird über § 52 AktG verwirklicht; die überzeugenden Gründe, warum für Sachkapitalerhöhungen kein vergleichbarer Umgehungsschutz vorgesehen ist, werden respektiert. Da sich der Vorschlag eng am bisherigen Gesetzeswortlaut orientiert, hätte er jedenfalls zu einem früheren Zeitpunkt als ein Vorschlag zur Interpretation des Gesetzes de lege lata verstanden werden müssen. Angesichts des Stands der Rechtsprechung und der Wissenschaft zur Anerkennung der Grundsätze zur VSE und ihrer Vereinbarkeit mit der Kapitalrichtlinie, spätestens aber seit ihrer ausdrücklichen Normierung durch den Gesetzgeber, begreift er sich (widerwillig) primär als einen Vorschlag de lege ferenda.
5 Hierzu etwa Dauner-Lieb, AG 2009, 217 ff.; Kersting, VGR (Hrsg.), Gesellschaftsrecht in der Diskussion 2008, 2009, S. 101, 107 ff.; Kersting, AG 2008, 883 ff.; Maier-Reimer/ Wenzel, ZIP 2008, 1449, 1451 f.; Maier-Reimer/Wenzel, ZIP 2009, 1185 ff.; Pentz in FS Karsten Schmidt, 2009, S. 1265, 1275 ff.; Ulmer, ZIP 2009, 293 ff.; Veil/Werner, GmbHR 2009, 729, 730. 6 Zweite Richtlinie 77/91/EWG des Rates v. 13.12.1976 zur Koordinierung der Schutzbestimmungen, die in den Mitgliedstaaten den Gesellschaften im Sinne des Art. 58 Abs. 2 des Vertrages im Interesse der Gesellschafter sowie Dritter für die Gründung der Aktiengesellschaft sowie für die Erhaltung und Änderung ihres Kapitals vorgeschrieben sind, um diese Bestimmungen gleichwertig zu gestalten, ABl. EG 1976 Nr. L 26; abgedruckt auch bei Habersack, Europäisches Gesellschaftsrecht, 3. Aufl. 2006, Rz. 80. 7 Hierzu Habersack, AG 2009, 557, 560 ff.; Bayer/Schmidt, ZGR 2009, 805, 839 f.; Hüffer, 9. Aufl. 2010, § 27 AktG Rz. 45; zurückhaltender A. Arnold in KölnKomm. AktG, 3. Aufl. 2010, § 27 AktG Rz. 133 ff.
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II. Überlegungen 1. Ausgangslage de lege lata a) Überblick Das Gesetz unterscheidet (nach Art. 3 lit. h, 10 Abs. 1, 27 Abs. 1 der Kapitalrichtlinie zwingend) zwischen Bar- und Sacheinlagen. Aufgrund ihrer unterstellten größeren Gefährlichkeit unterliegen Sacheinlagen besonderen Anforderungen (insb. Publizität und Wertprüfung). Die Einhaltung dieser besonderen Vorschriften war durch die Anordnung der Nichtigkeit der zugrunde liegenden Verträge, Haftungsfolgen (Differenzhaftung, §§ 46 ff. AktG) und die Anordnung der Strafbarkeit (§ 399 Abs. 1 AktG) sanktioniert. Die Unterscheidung zwischen Bar- und Sacheinlagen legt einen Umgehungsschutz nahe. Das Gesetz sieht durch die Regeln über Sachübernahmen (§ 27 Abs. 1 und 2 AktG) und die Nachgründungsvorschrift des § 52 AktG einen Umgehungsschutz für die Gründung, nicht dagegen für Kapitalerhöhungen vor. Die Rechtsprechung hat diesen Umgehungsschutz durch die Grundsätze zur verdeckten Sacheinlage und zum Hin- und Herzahlen für die Gründung deutlich erweitert und für die Kapitalerhöhung eingeführt. Durch § 27 Abs. 3 und 4 AktG i. d. F. des ARUG ist der Umgehungsschutz durch die Grundsätze zur VSE und zum Hin- und Herzahlen vom Gesetzgeber ausdrücklich anerkannt worden; zugleich wurden die von der Rechtsprechung entwickelten Rechtsfolgen eingeschränkt. b) Verdeckte Sacheinlage („VSE“) Eine VSE liegt nach der Legaldefi nition der §§ 27 Abs. 3 Satz 1 AktG, 19 Abs. 4 Satz 1 GmbHG dann vor, wenn die Bareinlage bei wirtschaftlicher Betrachtungsweise und aufgrund einer im Zusammenhang mit der Übernahme der Bareinlage getroffenen Abrede vollständig oder teilweise als Sacheinlage zu werten ist. Das Vorliegen einer Abrede wird bei engem zeitlichem und sachlichem Zusammenhang vermutet. Als Richtschnur für den zeitlichen Zusammenhang werden zwar häufig sechs Monate genannt8, teilweise wird allerdings auch auf einen längeren Zeitraum von beispielsweise sechs bis zwölf Monaten verwiesen9. Der BGH hat sich insoweit nicht festgelegt, für einen Zeitraum von mehr als acht Monaten bzw. mehr als drei Jahren aber einen engen zeitlichen Zusammenhang verneint10. Indizien für das Vorliegen des sachlichen Zusammenhangs lassen sich insbesondere daraus gewinnen, dass es sich bei dem betreffenden Gegenstand um keine vertretbare Sache handelt, er bereits zum Zeitpunkt der Begründung der Bareinlageverpfl ichtung Bestandteil des Vermögens des Einlageschuldners war oder zwischen der Einlageschuld und dem
8 OLG Köln, ZIP 1999, 399, 400; Bayer, GmbHR 2005, 445, 448; Bayer in K. Schmidt/ Lutter, 2008, § 27 AktG Rz. 52; Pentz, ZIP 2003, 2095 m. w. N. auch zu abweichenden Auffassungen; Hueck/Fastrich in Baumbach/Hueck, 19. Aufl. 2010, § 19 GmbHG Rz. 49 m. w. N.; Ulmer in Großkomm. GmbHG, 2005, § 5 GmbHG Rz. 171. 9 So etwa Ebbing in Michalski, 2002, § 19 GmbHG Rz. 144. 10 BGHZ 152, 37, 45; BGHZ 132, 141, 146; BGHZ 132, 133, 138 f.
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Wert des in Rede stehenden Gegenstands (annähernd) Wertgleichheit besteht11. Beispiel: Die Gesellschaft benötigt eine Maschine. Der Gesellschafter leistet eine Bareinlage. Mit dieser Bareinlage erwirbt die Gesellschaft vom Gesellschafter die Maschine. Abwandlung: Die Gesellschaft erwirbt die Maschine vor der Kapitalerhöhung. Die Kaufpreisforderung wird mit der Einlageforderung gegen den Gesellschafter aufgerechnet12. Die traditionellen Rechtsfolgen der VSE lassen sich wie folgt skizzieren: – Die Bareinlage wird als Sacheinlage behandelt; die Voraussetzungen der §§ 27 Abs. 1, 183 Abs. 1 AktG für Sacheinlagen sind nicht erfüllt. – Auf die Sacheinlage bezogene schuldrechtliche und dingliche Geschäfte sind nichtig (§§ 27 Abs. 3, 183 Abs. 2 AktG a. F. analog). – Die übernommene Bareinlageverpfl ichtung ist nicht erfüllt und daher nach wie vor offen. – Die Bareinlage ist ohne Rechtsgrund geleistet worden und kann lediglich nach § 812 Abs. 1 Satz 2 Alt. 2 BGB zurückverlangt werden. – Bei verdeckten Sacheinlagen nahm der BGH generell an, dass es auch an der freien Verfügbarkeit der Einlage (§ 36 Abs. 2 AktG) fehlt, da die Bareinlage an den Gesellschafter zurückgeflossen ist (hierzu ausf. nachf. c))13. – Der Inhalt der Anmeldung nach § 37 Abs. 1 AktG ist falsch. – Bei Vorsatz ist Strafbarkeit nach § 399 Abs. 1 Nr. 1 AktG gegeben. – Die Gründer bzw. Inferenten unterliegen einer Schadensersatzhaftung nach §§ 46 ff. AktG und einer verschuldensunabhängige Differenzhaftung. – Die Heilung ist rechtsdogmatisch umstritten und rechtspraktisch schwierig14. Durch die Neuregelung des ARUG in § 27 Abs. 3 AktG hat der Gesetzgeber diese sehr weitgehenden Rechtsfolgen in zweierlei Hinsicht modifi ziert: Zum einen sind die Verträge über die VSE und die Rechtshandlungen zu ihrer Ausführung nicht mehr unwirksam. Zum anderen wird das Risiko, in der Insolvenz der Gesellschaft die Bareinlage ein zweites Mal leisten zu müssen, während der eigene Kondiktionsanspruch wirtschaftlich wertlos ist, dadurch deutlich gemindert, dass der Wert des Vermögensgegenstands im Zeitpunkt der Anmeldung der Barkapitalerhöhung oder seiner späteren Überlassung an die Gesellschaft auf die Bareinlageverpfl ichtung angerechnet wird.
11 Pentz in MünchKomm. AktG, 3. Aufl. 2008, § 27 AktG Rz. 96; Röhricht in Großkomm. AktG, 4. Aufl. 2004, § 27 AktG Rz. 203; Ulmer in Ulmer/Winter/Habersack, 2005, § 5 GmbHG Rz. 171. 12 Die Aufrechnung des Aktionärs ist durch § 66 Abs. 1 Satz 2 AktG begrenzt. Zur Zulässigkeit einer Aufrechnung durch die AG vgl. etwa Grunewald, Gesellschaftsrecht, 7. Aufl. 2008, 2. C. Rz. 31 m. w. N. 13 BGHZ 113, 335, 348 f.; BGH, NJW 2002, 1716, 1718; Pentz in MünchKomm. AktG, 3. Aufl. 2008, § 27 AktG Rz. 85. 14 Ausführlicher hierzu OLG Koblenz, ZIP 2007, 33; Krieger in MünchHdb. AG, 3. Aufl. 2007, § 56 Rz. 52; Hoffmann, NZG 2001, 433, 440; Schäfer in FS Hüffer, 2010, S. 863 ff.; Ulmer, ZHR 154 (1990), 128, 143; zur neuen Rechtslage Hüffer, 9. Aufl. 2010, § 27 AktG Rz. 37 f.
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c) Hin- und Herzahlen Ein Hin- und Herzahlen im hier gebrauchten Sinn liegt nach der Legaldefi nition der §§ 27 Abs. 4 AktG, 19 Abs. 5 GmbHG vor, wenn vor der Bareinlage eine Leistung vereinbart worden ist, die wirtschaftlich der Rückzahlung der Bareinlage entspricht, die aber nicht als VSE zu beurteilen ist. Eine VSE wird nur insoweit angenommen, als die Gesellschaft einen im Grundsatz sacheinlagefähigen Gegenstand vom Gesellschafter erwirbt. Soweit kein sacheinlagefähiger Gegenstand vorliegt, scheitert die Bareinlage an der Verletzung des Grundsatzes der freien Verfügbarkeit der Einlage, der nach der Rechtsprechung eine Rückgewähr der Bareinlage an den Gesellschafter verbietet. Beispiel: Die Bareinlage wird an den Gesellschafter darlehensweise zurückgewährt. Die bisherigen Rechtsfolgen entsprachen weitgehend denen der VSE. Durch die ARUG-Neuregelung in § 27 Abs. 4 AktG hat der Gesetzgeber unter engen Voraussetzungen (vollwertiger Rückgewähranspruch; jederzeitige Möglichkeit der Fälligstellung; Offenlegung in der Anmeldung nach § 37 AktG15) eine Erfüllungswirkung der Leistung der Bareinlage trotz Rückflusses der Mittel an den Inferenten anerkannt. d) Erweiterungen gegenüber § 52 AktG Das Aktiengesetz sieht in § 52 AktG ausdrücklich einen Schutz gegen Umgehung der Sacheinlagevorschriften vor. Der Zweck der Vorschrift liegt insbesondere in der Sicherung der realen Kapitalaufbringung (Umgehungsgedanke)16. Der Gesetzgeber wollte verhindern, dass die Gründer die strengen Sacheinlagevorschriften dadurch umgehen, dass sie die Übernahme von Gegenständen durch die Gesellschaft absprechen, gleichwohl eine Bargründung durchführen und über die von ihnen beherrschten Vorstandsmitglieder sodann den Erwerb durchführen lassen17. Der Anwendungsbereich des § 52 AktG und der verdeckten Sacheinlage überschneiden sich also18. Nach h. M. ergänzen sich die beiden Institute als abstrakter und konkreter Umgehungsschutz19. Durch die Grundsätze zur VSE wird der Umgehungsschutz des § 52 AktG insbesondere in folgender Hinsicht erweitert:
15 Ob die Angabepfl icht des § 27 Abs. 4 Satz 2 AktG und des § 19 Abs. 5 Satz 2 GmbHG Voraussetzung für die Erfüllungswirkung ist, ist umstritten; dafür BGHZ 180, 38, 46 Rz. 16 („Qivive“); BGH, NJW 2009, 3091, 3093 Rz. 25; Bayer/Schmidt, ZGR 2009, 805, 836 f.; Hüffer, 9. Aufl. 2010, § 27 AktG Rz. 42; a. A. M. Winter in Goette/Habersack, Das MoMiG in Wissenschaft und Praxis, 2009, Rz. 2.53; Lieder, GmbHR 2009, 1177, 1179 f.; G. H. Roth, NJW 2009, 3397 ff.; Schockenhoff/Wexler-Uhlich, NZG 2009, 1327, 1328 ff. 16 S. nur BGH, AG 2007, 741, 744 („Lurgi“); BGHZ 175, 265, 270 Rz. 11; M. Arnold in KölnKomm. AktG, 3. Aufl. 2010, § 52 AktG Rz. 2; Bayer in K. Schmidt/Lutter, 2008, § 52 AktG Rz. 2; Hüffer, 9. Aufl. 2010, § 52 AktG Rz. 1; teilweise wird der Schutzzweck darüber hinaus auch oder sogar primär in der Kapitalerhaltung gesehen, s. etwa Schwab, Die Nachgründung im Aktienrecht, 2003, S. 73 ff.; Bröcker, ZIP 1999, 1029, 1035; Zimmer, DB 2000, 1265, 1268. 17 Pentz in MünchKomm. AktG, 3. Aufl. 2008, § 52 AktG Rz. 5. 18 BGHZ 110, 47, 52 ff.; BGH, AG 2007, 741, 743. 19 S. nur Habersack, ZGR 2008, 48, 59 m. w. N.; Priester in Großkomm. AktG, 4. Aufl. 2004, § 52 AktG Rz. 16 f.; a. A. Krolop, NZG 2007, 577, 579.
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– Die Grundsätze zur VSE erfassen auch Geschäfte nach Ablauf der Zweijahresfrist. – Die Grundsätze zur VSE erfassen auch Geschäfte mit Aktionären, die mit weniger als 10 % des Grundkapitals an der Gesellschaft beteiligt sind. – Die Grundsätze zur VSE erfassen auch Verträge, nach denen die Gesellschaft Vermögensgegenstände für eine Vergütung erwerben soll, die den zehnten Teil des Grundkapitals nicht übersteigt. – Die Grundsätze zur VSE erfassen nach dem BGH entgegen § 52 Abs. 9 AktG auch Erwerbe im Rahmen der laufenden Geschäfte (sowie der Zwangsvollstreckung oder über die Börse). Die von Teilen der Literatur20 und der OLGRechtsprechung 21 in Anlehnung an § 52 Abs. 9 AktG entwickelten Ausnahmetatbestände wurden vom BGH für die VSE nicht anerkannt22. – Die Rechtsfolgen des § 52 AktG beschränken sich auf das Umgehungsgeschäft; die Rechtsfolgen der VSE und des Hin- und Herzahlens erstrecken sich darüber hinaus auch auf die Bareinlage. 2. Praktische Probleme Die Rechtsprechungsregeln zur VSE und dem Hin- und Herzahlen haben für die Praxis ganz erhebliche Probleme und Unsicherheiten zur Folge. Diese betreffen nicht nur die traditionellen Rechtsfolgen, die zwischenzeitlich durch das ARUG deutlich gemildert worden sind, sondern auch den Tatbestand. Nach wie vor besteht gerade in Konzernverhältnissen eine erhebliche Rechtsunsicherheit23. Praxisgerechte Gestaltungen können im Einzelfall schwierig und aufwendig sein 24. Beispiele: – Konzernbeziehungen: Mutter M leistet eine Bareinlage an Tochter T 1 AG. T 1 AG kauft damit eine Maschine von ihrer Schwester, Tochter T 2. In diesem Fall dürfte nach ganz überwiegender Meinung eine VSE vorliegen; da ausreichend sein soll, dass die abfl ießenden Geldmittel dem Inferenten als Vergütung seiner Leistung mittelbar zufl ießen, z. B. durch Leistung an ein vom Inferenten beherrschtes Unternehmen 25. – M hat die Töchter T 1 und T 2. T 1 hält 100 % an Enkelgesellschaft E GmbH. T 1 führt bei der E GmbH eine Barkapitalerhöhung durch. Die E GmbH kauft
20 Krieger in MünchHdb. AG, 3. Aufl. 2007, § 56 Rz. 52; Henze, ZHR 154 (1990), 105, 113; Ulmer, ZHR 154 (1990), 128, 142; Traugott/Groß, BB 2003, 481, 483. 21 OLG Hamm, ZIP 2005, 1138, 1140. 22 BGHZ 170, 47 (als Revisionsinstanz zu OLG Hamm, ZIP 2005, 1138). 23 Bezeichnend ist, dass trotz der im Grundsatz bereits seit langem anerkannten Grundsätze auch heute noch der BGH das Vorliegen einer VSE recht häufig anders beurteilt als der typischerweise mit erfahrenen Gesellschaftsrechtlern besetzte OLG-Senat der Berufungsinstanz, s. aus der jüngsten Vergangenheit etwa die Lurgi-Urteile des BGH BGHZ 173, 145 und ZIP 2009, 1155 (hier wurde in einem einzigen Klageverfahren das OLG-Urteil gleich zweimal aufgehoben); BGHZ 175, 265 („Rheinmöve“); BGH, ZIP 2010, 423 („Eurobike“). 24 Hierzu auch Hentzen/Schwandtner, ZGR 2009, 1007, 1019 ff.; J. Vetter, Referat zum 66. DJT, 2006, Band II/1, S. P 75, 87 f. 25 BGHZ 153, 107, 111; BGHZ 171, 113, 116 Tz. 8, 118 Tz. 12 f.; BGH, AG 2007, 355 Tz. 8.
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mit der Bareinlage ein Unternehmen von T 2. Das OLG München nahm eine VSE an, da der Unternehmenskauf der E GmbH wirtschaftlich unter einem Konzerndach abgewickelt und offenkundig vorher zwischen den beteiligten Gesellschaften unter Einschluss der Konzernmutter abgesprochen worden sei26. Nach Ansicht des BGH 27 setzt der Tatbestand einer verdeckten Sacheinlage bei einer Barkapitalerhöhung hingegen einen Einlagenrückfluss an den Inferenten als Vergütung für eine von ihm erbrachte oder absprachegemäß zu erbringende Leistung voraus. Da vorliegend die von der Konzerngesellschaft (T 1) auf das erhöhte Kapital ihrer Tochter-GmbH (E) geleistete Bareinlage absprachegemäß zum Erwerb des Unternehmens einer Schwester-Gesellschaft (T 2) verwendet worden, die Inferentin an dieser aber weder unmittelbar noch mittelbar beteiligt gewesen sei, habe das Berufungsgericht das Vorliegen einer verdeckten Sacheinlage zu Unrecht bejaht. Alternativerwägungen, z. B. die Kaufpreiszahlung durch den Inferenten und die Sacheinlage des Erstattungsanspruchs würden auf einen Zwang zur Sachkapitalerhöhung hinauslaufen, welcher im Gesetz nicht vorgesehen sei. Im Übrigen seien die Rechtsfolgen bei Annahme einer verdeckten Sacheinlage unangemessen. So müsste die Inferentin die Einlage nochmals leisten, während der Anspruch auf Rückzahlung des Kaufpreises der Schwestergesellschaft zustünde. – M leistet eine Bareinlage an die Tochter T GmbH. T gründet mit anderen die Enkel KG. Die Enkel KG erwirbt anschließend teilweise mit Mitteln der Bareinlage der T GmbH ein Grundstück von M. Nach dem OLG Koblenz liegt keine VSE bei der T GmbH vor, nach dem BGH schon 28. – A und B gründen im Wege der Bargründung das Joint Venture T AG zum Betrieb eines Bauunternehmens. B verpfl ichtet sich, dem Joint Venture nach drei Jahren einen Bagger (zu einem Kaufpreis von 10 % unter dem Marktwert) zu verkaufen. Eine Vorabsprache ist gegeben und sogar schriftlich im Joint-Venture-Vertrag dokumentiert. Liegt eine Vorabsprache vor, kommt es nicht darauf an, dass die Bareinlage innerhalb eines bestimmten Zeitraums (potentiell) zum Erwerb des Gegenstands verwendet wird. Die Praxis behilft sich in diesen Fällen mit der folgenden (jedenfalls ausländischen Partnern kaum vermittelbaren) Hilfskonstruktion: Die Gesellschaft wird mit dem Mindestkapital gegründet. Die Gesellschafter leisten ausschließlich Sacheinlagen (gerade in der Gründungsphase sind dies möglicherweise Gegenstände, die die Gesellschaft nicht wirklich benötigt oder sinnvollerweise selbst am Markt erwerben würde). Die eigentlich von der Gesellschaft benötigten 26 OLG München, ZIP 2005, 1923. 27 BGHZ 171, 113, 116 Tz. 6 ff. 28 Das OLG Koblenz v. 19.7.2001 – 6 U 2137/98 lehnte eine VSE ab; der BGH, BGHZ 155, 329, bejahte eine VSE. In der Sache ging es um Folgendes: B verpfl ichtete sich ggü. der A-GmbH zu einer Bareinlage i. H. v. 2,5 Mio. Euro. Nahezu gleichzeitig gründete u. a. die A-GmbH die D-KG und übernahm einen Kommanditanteil i. H. v. 3 Mio. Euro. B verkaufte dann ein Grundstück zum Preis von 13,4 Mio. Euro an die D-KG. Um den Kaufpreis bezahlen zu können, war die D-KG auch auf die Kommanditeinlage der A-GmbH angewiesen. Die D-KG sei eine Art „Tochtergesellschaft“ und es liege eine mittelbare VSE im Konzern vor. B habe letztlich die Bareinlage bei der A-GmbH mit Mitteln gemacht, die aus dem „Geldkreislauf“ des Grundstücksgeschäfts mit der „Tochter D“ stammten. Wirtschaftlich habe die A-GmbH die Kaufpreisforderung des B gegen die D-KG erhalten.
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Barmittel werden der Gesellschaft als freiwillige Einzahlung in die Kapitalrücklage nach § 272 Abs. 2 Nr. 4 HGB überlassen 29. – Abwandlung: A verpflichtet sich, Dienstleistungen an T AG zu Selbstkosten zu erbringen und IT-Lizenzen an T AG zu Einkaufspreisen weiterzureichen, da A diese aufgrund von Skaleneffekten günstiger erbringen bzw. beziehen kann als die T AG. B verpfl ichtet sich, der T AG Büroräume in ihrem Gebäude zu vermieten30. Im Hinblick auf Dienstleistungen hat der BGH zwar in seiner Qivive-Entscheidung – für die Praxis erstaunlich – für eine gewisse Klarheit gesorgt; andererseits ist zu beachten, dass er dabei jedenfalls auch darauf abstellte, dass die Dienstleistungserbringung durch den Inferenten nicht fest vereinbart, sondern der Gesellschaft ein Abrufungsrecht eingeräumt worden war31. In der Eurobike-Entscheidung32 hat er diesen neuen Ansatz weiter ausgebaut, so dass insoweit für die Praxis ein vergleichsweise hohes Maß an Rechtssicherheit erreicht ist. 3. Zusammenhang Kapitalaufbringung – Kapitalerhaltung Der Schutz des Gesellschaftsvermögens wird durch Kapitalaufbringung und Kapitalerhaltung sichergestellt. Beide folgen unterschiedlichen Konzepten (Kapitalaufbringung: gegenständlicher Schutz; Kapitalerhaltung: wertmäßiger Schutz). Die Kapitalerhaltung setzt im Anschluss an die Phase der Kapitalaufbringung an. In die Kapitalaufbringung schaltet sich der Staat ein (registergerichtliche Prüfung); die Sicherstellung der Kapitalerhaltung wird primär den Gesellschaftsorganen überlassen. Ein Zurückdrängen des Anwendungsbereichs der Kapitalaufbringungsregeln führt nicht dazu, dass das Gesellschaftsvermögen und die Gläubiger nicht mehr geschützt werden. Es erweitert vielmehr den Anwendungsbereich der Kapitalerhaltungsregeln. Je größer das Vertrauen in die Funktionsfähigkeit der Kapitalerhaltungsregeln ist, umso leichter sollte eine rechtsklare Begrenzung der Kapitalaufbringungsregeln fallen. Rechtstatsächliche Unzulänglichkeiten der aktienrechtlichen Kapitalerhaltungsregeln sind bisher nicht zu Tage getreten. Die Unabhängigkeit und Eigenverantwortlichkeit des Vorstands, der – anders als GmbH-Geschäftsführer – keinen Weisungen der Gesellschafter (oder des Aufsichtsrats) unterliegt, führt zu einer tendenziell noch höheren Verlässlichkeit der Kapitalerhaltung im Aktienrecht im Vergleich zum GmbH-Recht. Die Grenze zwischen Kapitalaufbringung und Kapitalerhaltung wird durch die Leistung der Einlage zur freien Verfügung des Vorstands (§§ 35 Abs. 2 Satz 1, 37 Abs. 1 Satz 2 AktG) markiert 33. Die Einlage muss einmal in das Vermögen der Gesellschaft geleistet worden sein. Die freie Verfügbarkeit zielt über die Erfüllungswirkung hinaus nicht auch darauf, dass die Einlage auch noch bei
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Ähnliches Beispiel bei Hentzen/Schwandtner, ZGR 2009, 1007, 1024. Nach Royla, Status: Recht 2008, 344. BGHZ 180, 38, 48 Rz. 20; hierzu auch Hentzen/Schwandtner, ZGR 2009, 1007, 1012 ff. BGH, ZIP 2010, 423. Karsten Schmidt, AG 1986, 106, 109; zustimmend Hommelhoff/Kleindiek, ZIP 1987, 477, 488 ff.; Hellwig in FS Peltzer, 2001, S. 163, 177; J. Vetter/Schwandtner, Der Konzern 2006, 407, 410.
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der Anmeldung oder gar der Eintragung unverändert in ihrer ursprünglichen Gestalt im Gesellschaftsvermögen vorhanden sein muss34. Bei der Kapitalerhöhung – anders als bei der Gründung – muss die wirksam geleistete Einlage im Zeitpunkt der Anmeldung nicht einmal mehr wertgleich im Gesellschaftsvermögen vorhanden sein35. Absprachen zwischen dem Inferenten und der Gesellschaft über die Verwendung der Bareinlage für Geschäfte mit Dritten stehen der freien Verfügbarkeit nicht entgegen, wenn sie der Umsetzung von Investitionsentscheidungen der Gesellschafter oder sonstiger ihrer Weisung unterliegender geschäftspolitischer Zwecke dienen36. Die vorstehenden Grundsätze sollen jedoch nach traditioneller, ganz einhelliger Meinung nicht gelten, wenn die Bareinlage absprachegemäß an den Gesellschafter zurückfl ießt 37. Die Versicherung des Geschäftsführers hat nach dem BGH dahin zu lauten, dass der Betrag der Einzahlung zur freien Verfügung der Geschäftsführung für die Zwecke der Gesellschaft eingezahlt und auch in der Folge nicht an den Einleger zurückgezahlt worden ist 38. Entsprechend fehlt es bei der VSE oder der darlehensweisen Überlassung der Bareinlage an den Gesellschafter an der freien Verfügbarkeit, wobei im Hinblick auf das Hin- und Herzahlen bei Vorliegen der Vorrausetzungen des § 27 Abs. 4 AktG i. d. F. des ARUG für eine Erfüllung der Bareinlagepfl icht in Zukunft eine Ausnahme zu machen ist. Alternativ denkbar wäre, die Defi nition der freien Verfügbarkeit enger und damit die Abgrenzung von Kapitalaufbringung und Kapitalerhaltung trennschärfer zu fassen: Die Gesellschafter werden beim Wort genommen. Das, was zugesagt worden ist, muss dinglich eingebracht werden. Jede weitere Verwendung einschließlich der Verwendung für Geschäfte mit Gesellschaftern unterläge danach der Kapitalerhaltung39. 4. Europarechtliche Vorgaben a) Inhalt der Kapitalrichtlinie Die für den vorliegenden Zusammenhang wesentlichen Vorgaben der Kapitalrichtlinie lassen sich wie folgt skizzieren: – Die Richtlinie unterscheidet zwischen Bar- und Sacheinlagen und sieht für Sacheinlagen sowohl bei der Gründung als auch bei der Kapitalerhöhung eine Wertprüfung durch einen unabhängigen Sachverständigen und die Offenle34 BGHZ 113, 335, 348. 35 BGH, NZG 2005, 180, 181; BGH, NJW 2002, 1716, 1717 f. in offener Abkehr von BGHZ 119, 177, 187 f. 36 BGH, ZIP 1990, 1400 f.; BGH, ZIP 1992, 1303, 1305; BGHZ 153, 107, 110; Hueck/ Fastrich in Baumbach/Hueck, 19. Aufl. 2010, § 7 GmbHG Rz. 11 m. w. N.; Karsten Schmidt, AG 1986, 106, 111; Hommelhoff/Kleindiek, ZIP 1987, 477, 485 ff.; Zöllner in Baumbach/Hueck, 19. Aufl. 2010, § 57 GmbHG Rz. 12; Priester in Scholz, 10. Aufl. 2010, § 56a GmbHG Rz. 12; Zimmermann in Rowedder/Schmidt-Leithoff, 4. Aufl. 2002, § 57 GmbHG Rz. 9. 37 BGH, NJW 2002, 1716, 1718; BGHZ 153, 107, 109 f.; BGH, Der Konzern 2006, 70, 70 f.; Zöllner in Baumbach/Hueck, 19. Aufl. 2010, § 57 GmbHG Rz. 12 unter Verweis auf das Cash Pooling. 38 BGH, NJW 2002, 1716, 1718. 39 S. auch Hentzen/Schwandtner, ZGR 2009, 1007, 1026.
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gung des Sachverständigenberichts vor (Art. 10, 27)40. Bei der Gründung sind Details der Sacheinlage in der Satzung anzugeben (Art. 3 lit. h). – Art. 11 normiert einen Umgehungsschutz im Zusammenhang mit der Gründung durch Nachgründungsvorschriften. Danach muss für den Erwerb jedes Vermögensgegenstandes von einem Gründer für einen Gegenwert von mindestens 1/10 des gezeichneten Kapitals eine Prüfung und Offenlegung entsprechend derjenigen in Art. 10 vorgesehen sein, wenn der Erwerb innerhalb von zwei Jahren nach Gründung oder der Genehmigung zur Aufnahme der Geschäftstätigkeit erfolgt. Zudem bedarf es der Zustimmung der Hauptversammlung. Im Hinblick auf den erfassten Personenkreis und die Zweijahresfrist erlaubt Art. 11 ausdrücklich eine einzelstaatliche Erweiterung des Anwendungsbereichs41. Art. 11 Abs. 2 sieht Ausnahmen insbesondere für Erwerbe im Rahmen der laufenden Geschäfte, für Erwerbe aufgrund gerichtlicher oder behördlicher Anordnung sowie für Erwerbe an der Börse vor. – Für Fälle der Kapitalerhöhung ist kein Umgehungsschutz vorgesehen. – Daneben gilt auch für die Kapitalrichtlinie das allgemeine Gebot, Vorgaben der Richtlinie tatsächlich und effektiv zur Geltung zu bringen (Grundsatz des effet utile42, früher Art. 10 EG, jetzt Art. 4 Abs. 3 Satz 2 EU)43. b) Europarechtliches Gebot, Grundsätze der VSE anzuerkennen? Nach teilweise vertretener Ansicht führt das allgemeine Umgehungsverbot, das schon aus Gründen des effet utile (Art. 4 Abs. 3 Satz 2 EU) jeder Richtlinie immanent ist, im vorliegenden Fall zu einem Gebot, Grundsätze zur VSE
40 Als Folge der Änderungsrichtlinie 2006/68/EG sind nunmehr die Art. 10a und 10b eingefügt worden, durch die diese Wertprüfung unter bestimmten Voraussetzungen relativiert wird. Dies ist etwa der Fall, wenn eine objektive Bewertung bereits anhand des Börsenkurses ersichtlich ist, eine vorangegangene Sachverständigenbewertung vorliegt oder die betreffende Sacheinlage bereits in einen geprüften Jahresabschluss einbezogen war. In jedem Fall muss an die Stelle der Sachverständigenprüfung eine Erklärung treten, die neben einer Beschreibung der Sacheinlage insbesondere den Schätzwert und die Quelle der Schätzung enthält. Von diesen Möglichkeiten ist durch das ARUG Gebrauch gemacht worden, s. §§ 33a, 34 Abs. 2 Satz 3, 37a, 38 Abs. 3 AktG und die entsprechenden Bestimmungen zur Kapitalerhöhung. 41 § 52 AktG, dem Art. 11 nachgebildet ist, macht von der Ermächtigung des Art. 11 Abs. 1 Gebrauch und dehnt den Anwendungsbereich auf Aktionäre aus, die mehr als 10 % des Grundkapitals halten. § 52 AktG geht also insoweit über die Kapitalrichtlinie hinaus, die nur Geschäfte mit Gründern erfasst. 42 Hierzu Habersack, Europäisches Gesellschaftsrecht, 3. Aufl. 2006, § 3 Rz. 50, § 6 Rz. 32. 43 Art. 10 EG lautete: „Die Mitgliedstaaten treffen alle geeigneten Maßnahmen allgemeiner oder besonderer Art zur Erfüllung der Verpfl ichtungen, die sich aus diesem Vertrag oder aus Handlungen der Organe der Gemeinschaft ergeben. Sie erleichtern dieser die Erfüllung ihrer Aufgabe. Sie unterlassen alle Maßnahmen, welche die Verwirklichung der Ziele dieses Vertrags gefährden könnten.“ Art. 4 Abs. 3 Satz 2 und 3 EU lauten: „Die Mitgliedstaaten ergreifen alle geeigneten Maßnahmen allgemeiner oder besonderer Art zur Erfüllung der Verpfl ichtungen, die sich aus den Verträgen oder den Handlungen der Organe der Union ergeben. Die Mitgliedstaaten unterstützen die Union bei der Erfüllung ihrer Aufgabe und unterlassen alle Maßnahmen, die die Verwirklichung der Ziele der Union gefährden könnten.“
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bzw. zum Hin- und Herzahlen vorzusehen44. Dies überzeugt aus den folgenden Gründen nicht: – Der Umstand, dass die Kapitalrichtlinie einen Umgehungsschutz anordnet, zeigt, dass der Richtliniengeber das Problem gesehen hat. In Art. 11 erlaubt er den Mitgliedstaaten ausdrücklich, in verschiedener Hinsicht (Verlängerung des Zweijahreszeitraums; Erweiterung des erfassten Personenkreises) über den in Art. 11 normierten Umgehungsschutz hinauszugehen. Im Hinblick auf den erfassten Personenkreis hat der deutsche Gesetzgeber diese Möglichkeit genutzt, indem nicht nur Verträge mit Gründern, sondern auch mit zu mehr als 10 % am Kapital beteiligten Aktionären erfasst werden45. Methodisch lässt sich kaum begründen, dass die Kapitalrichtlinie trotzdem immanent einen darüber hinausgehenden Umgehungsschutz fordert, der noch dazu die Tatbestandsbeschränkungen des angeordneten Umgehungsschutzes in Art. 11 der Richtlinie völlig verwischt (s. vorstehend II.1.d)). – Die Ausdehnung des Anwendungsbereichs der Kapitalaufbringungsregeln durch die Grundsätze zur VSE und damit zwangsläufig die Zurückdrängung der Kapitalerhaltungsregeln ließe sich nur begründen, wenn der Kapitalrichtlinie eine entsprechende Abgrenzung zwischen Kapitalaufbringung und -erhaltung oder ein Primat der Kapitalaufbringung entnommen werden könnte. Dies ist jedoch nicht der Fall. Die Erwägungsgründe für die Kapitalrichtlinie nennen vielmehr Kapitalaufbringung bei der Gründung, Kapitalerhaltung und Regeln zu Kapitalerhöhungen in einem Atemzug46. Die Richtlinie regelt die Abgrenzung zwischen Kontrolle der Kapitalaufbringung und Kontrolle der Kapitalerhaltung, also zwischen Mittelaufbringung und -mittelverwendung, nicht ausdrücklich. Ein Primat der Regeln zur Kapitalaufbringung ist nicht erkennbar. – Problematisch wären einzelstaatliche Regelungen, wenn bestimmte Geschäfte mit dem Gründer oder Gesellschafter dem Kapitalschutz völlig entzogen wären. Daher müssen Geschäfte, die von den Kapitalerhaltungsregeln (noch) nicht erfasst werden können, einer eigenständigen Kontrolle unterstellt werden. Die Kapitalerhaltung greift nicht oder jedenfalls nur vermindert bei offenen Sacheinlagen im Rahmen der Gründung oder der Kapitalerhöhung. Dies gilt für verdeckte Sacheinlagen dagegen nicht. Die 44 Lutter in FS Everling, Bd. I, 1995, S. 765, 777 ff.; Kindler in FS Boujong, 1996, S. 299, 308 ff., 315; Grundmann, Europäisches Gesellschaftsrecht, 2004, Rz. 341; Habersack, Europäisches Gesellschaftsrecht, 3. Aufl. 2006, § 6 Rz. 32; Habersack, AG 2009, 557, 559; s. auch Hüffer, 9. Aufl. 2010, § 27 AktG Rz. 24. 45 Nach verbreiteter Ansicht wird die Vorschrift über ihren Wortlaut hinaus auch auf mit dem Aktionär verbundene oder ihm nahe stehende Personen erstreckt, s. Hüffer, 9. Aufl. 2010, § 52 AktG Rz. 3; Pentz, NZG 2001, 346, 351; Dormann/Fromholzer, AG 2001, 242, 243; Priester in Großkomm. AktG, 4. Aufl. 2004, § 52 AktG Rz. 37 f.; a. A. Hoffmann-Becking in MünchHdb. AG, 3. Aufl. 2007, § 4 Rz. 43; Werner, ZIP 2001, 242, 244. 46 „Die Koordinierung der einzelstaatlichen Vorschriften über die Gründung der Aktiengesellschaft sowie die Aufrechterhaltung, die Erhöhung und die Herabsetzung ihres Kapitals ist vor allem bedeutsam, um beim Schutz der Aktionäre einerseits und der Gläubiger der Gesellschaft andererseits ein Mindestmaß an Gleichwertigkeit sicherzustellen“, 2. Absatz der Erwägungsgründe zur Zweiten Richtlinie 77/91/ EWG.
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Verwendung der im Wege der Bareinlage geleisteten Mittel unterliegt derselben Kapitalerhaltungskontrolle wie alle anderen Geschäfte mit dem Gesellschafter auch. Mit der Kapitalrichtlinie vereinbar ist daher insbesondere auch ein Verständnis, wonach die Abgrenzung des Anwendungsbereichs der Kapitalaufbringungsregeln und der Kapitalerhaltungsregeln formal anhand der Entscheidung der Gründer/Gesellschafter und der tatsächlichen Leistung der zugesagten Einlage erfolgt. – Würde man ernsthaft behaupten, neben eine den Art. 11 umsetzende Nachgründungsvorschrift müssten Regeln zum Schutz gegen verdeckte Sacheinlagen treten, hieße das zugleich, dem größten Teil unserer europäischen Nachbarn einen eklatanten Verstoß gegen europäisches Recht vorzuwerfen. Auch wenn uns dieses Argument in Deutschland völlig unberührt lassen sollte, ist doch schlechterdings unvorstellbar, dass sich der EuGH dieser Sichtweise anschließen würde. c) Verstoß der Grundätze zur VSE gegen Europarecht? Diskutiert werden kann, ob die Kapitalrichtlinie ein „gold plating“, also eine Erweiterung des in der Richtlinie normierten Umgehungsschutzes, durch die Grundsätze zur VSE und dem Hin- und Herzahlen erlaubt. Bedenken rühren insbesondere daher, dass die Kapitalrichtlinie den Umgehungsschutz selbst regelt und die auf eine in der Praxis kaum widerlegbare Vermutung gestützten Grundsätze zur VSE von den Tatbestandsbegrenzungen des § 52 AktG praktisch nichts übrig lassen. Entsprechend ist teilweise vertreten worden, die Kapitalrichtlinie regele den Umgehungsschutz abschließend47. Der BGH und die h. L. sehen dies anders: Nach ihrer Meinung enthält die Richtlinie gar keine Aussage über zulässige Schutzstandards oder jedenfalls nur einen Mindeststandard, sodass eine Erweiterung durch die Mitgliedstaaten jedenfalls zulässig ist48. Hierfür lassen sich Hinweise in der Entstehungsgeschichte anführen49, die allerdings keine Berücksichtigung in den Erwägungsgründen gefunden haben. In der IBH-Entscheidung50 hat der BGH von einer Vorlage an den EuGH abgesehen. Offi ziell begründet wurde dies damit, dass ein Abweichen von der Kapitalrichtlinie aus Gründen des Gläubigerschutzes offensichtlich mit die-
47 Meilicke, DB 1989, 1067 ff.; Meilicke, DB 1990, 1173 ff.; Einsele, NJW 1996, 2681, 2683 f.; Knobbe-Keuk, DB 1990, 2573, 2582 ff.; Steindorff, EuZW 1990, 251 ff.; differenzierend Krolop, NZG 2007, 577, 579. 48 In der Lit. s. etwa A. Arnold in KölnKomm. AktG, 3. Aufl. 2010, § 27 AktG Rz. 87; Bayer/Schmidt, ZGR 2009, 805, 831 f.; Habersack, Europäisches Gesellschaftsrecht, 3. Aufl. 2006, § 6 Rz. 32; Habersack, AG 2009, 557, 559; Lutter/Gehling, WM 1989, 1445, 1456 ff.; Kindler in FS Boujong, 1996, S. 299, 309 ff.; Wiedemann, ZIP 1991, 1257, 1268; Frey, ZIP 1990, 288, 294; Röhricht in Großkomm. AktG, 4. Aufl. 1996, § 27 AktG Rz. 192; Drinkuth, Die Kapitalrichtlinie – Mindest- oder Höchstnorm?, 1998, S. 169 ff. 49 In der Begründung des 1970 vorgelegten Entwurfs der Kommission heißt es: „Sicherlich kann man Wege fi nden, auch das in Art. 8 [entspricht Art. 10 der Richtlinie] vorgesehene Verfahren zu umgehen; es kann aber den nationalen Gesetzgebern, nachdem sie das Verfahren in ihr Recht übernommen haben, überlassen bleiben, es gegebenenfalls weiter auszubauen.“, ABl. Nr. C 48/70 v. 24.4.1970, S. 11. 50 BGHZ 110, 47, 68 ff.
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ser vereinbar sei („acte claire“-Doctrin51)52. In dieser Entscheidung und ihrer Begründung scheint jedenfalls aus heutiger Sicht eine gewisse europakritische rechtspolitische Überzeugung durchzuscheinen. Ob die Frage wirklich so eindeutig ist, lässt sich spätestens nach einem Blick auf die Rechtspraxis anderer EU-Länder mit guten Gründen bezweifeln53. Der EuGH hat bis heute über diese Sachfrage nicht entschieden. In der Vorlage des LG Hannover54 konnte er nicht in der Sache entscheiden, da die vorgelegte Frage nicht entscheidungserheblich war und es sich um eine „reine Theoriefrage“ handelte55. Immerhin plädierte Generalstaatsanwalt Tesauro in diesem Verfahren für eine Europarechtswidrigkeit der Grundsätze zur verdeckten Sacheinlage56. Dafür sprechen in der Tat die besseren Gründe: – Das Verständnis des BGH, nach dem die Kapitalrichtlinie lediglich einen Mindeststandard festschreibt, der von den Mitgliedstaaten beliebig ausgebaut werden darf57, überzeugt nicht58. Die Kapitalrichtlinie regelt den Umgehungsschutz der Sacheinlage in Art. 11 selbst. Innerhalb des Art. 11 wird den Mitgliedstaaten an verschiedenen Stellen ausdrücklich die Möglichkeit der Erweiterung gegeben. Auch wird automatisch die vom europäischen Gesetzgeber vorgenommene Abwägung zwischen Gläubiger- und Gesellschafterinteressen verschoben. – Auch wird man die Grundsätze zur VSE und zum Hin- und Herzahlen jedenfalls in ihrer derzeitigen Ausgestaltung nicht mit dem an sich anerkannten Bedürfnis nach Umgehungsschutz rechtfertigen können. Fraglich ist, ob die Voraussetzungen der Gesetzesumgehung europarechtlich vorgegeben sind oder ob auf die allgemeinen Institute des nationalen Zivilrechts zurückgegriffen werden kann. Bei einer europarechtlichen Vorgabe wäre insbesondere zu Fragen, ob eine Umgehung eine Umgehungsabsicht voraussetzt59. Allerdings spricht einiges dafür, dass auch allgemeine nationale Umgehungsgrundsätze anwendbar sind60. Insoweit ist aber zu beachten, dass die Grundsätze zur VSE mit ihrer typisierenden wirtschaftlichen Betrachtung und der Vermutung einer Vorabsprache zu Lasten des Inferenten bei wirtschaftlichem und sachlichem Zusammenhang über allgemeine Umgehungs- und Missbrauchstatbestände hinausgehen. Zu beachten ist auch, dass die Richtlinie in Art. 11 und das AktG in § 52 selbst einen abstrakten Umgehungsschutz vorsehen. Nach allgemeinen Grundsätzen zur Gesetzesumgehung wäre es nicht vertretbar, Fälle, die von den gesetzlichen Umgehungstatbeständen ausgeklammert werden (z. B. Erwerb vom Gesellschafter, der zu weniger als 10 % am Kapital beteiligt ist; Kaufpreis kleiner als 10 % des Grundkapitals) 51 52 53 54 55 56 57 58
Hierzu Habersack, Europäisches Gesellschaftsrecht, 3. Aufl. 2006, § 3 Rz. 52. S. außerdem BGHZ 118, 83, 103 f. So auch G. H. Roth in FS Hüffer, 2010, S. 853. LG Hannover, ZIP 1991, 369. EuGH, Slg. 1992, I-4919, 4933, Tz. 25 ff. – W. Meilicke. GA Tesauro, in EuGH, ZIP 1992, 1033, 1034 f., 1040, 1042 f. BGHZ 110, 47, 70 f.; wohl auch Lutter in FS Everling, Bd. I, 1995, S. 765, 775 f. So auch Kindler, ZHR 158 (1994), 339, 351 ff. m. w. N.; Kindler in FS Boujong, 1996, S. 299, 301 f. 59 Dies scheint GA Tesauro vorauszusetzen, ZIP 1992, 1036, 1043, Rz. 20 und 21. 60 Kindler in FS Boujong, 1996, S. 299, 309.
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als Umgehung zu qualifi zieren. Für sonstige Fälle müsste unter Berufung auf den Sinn und Zweck der besonderen Regeln über die Sacheinlage konkret nachgewiesen werden, inwieweit ein Schutzdefi zit besteht und warum dieses nicht hingenommen werden kann. Unverhältnismäßig wäre auch, bei der Annahme einer Umgehung unberücksichtigt zu lassen, ob nicht wirtschaftlich sinnvolle und nicht gegen die Rechtsordnung gerichtete Erwägungen Grund für die gewählte Gestaltung waren. So kann es sein, dass die Bareinlage mit anschließendem Erwerb eines Gegenstands vom Inferenten oder einem mit ihm verbundenen Unternehmen deshalb vorgenommen wurde, weil die Gesellschaft den Gegenstand noch gar nicht braucht oder sich der Gesellschafter den Gegenstand erst aufwendig und unter Eingehung von Transaktionskosten (z. B. Grunderwerbsteuer) von einem verbundenen Unternehmen hätte beschaffen müssen. – Der Kapitalrichtlinie lässt sich auch nicht entnehmen, dass Umgehungsgeschäfte die Wirksamkeit der Bareinlage berühren sollen. Die Nachgründungsvorschrift des Art. 11 beschränkt sich gerade auf Anforderungen und Wirksamkeitserfordernisse für das anschließende Verkehrsgeschäft. Auch dies spricht für die Vorstellung des Richtliniengebers, dass die zuvor erfolgte Bargründung als solche anerkannt wird. – Als Ergebnis bleibt jedenfalls für die Gründung entweder gar kein oder jedenfalls ein sehr kleiner Bedarf an einem erweiterten Umgehungsschutz. Dieses Schutzdefi zit müsste konkret nachgewiesen werden. Der Tatbestand müsste die konkreten Umstände des Einzelfalls berücksichtigen. Eine typisierende und auf Vermutungen beruhende generalisierende Betrachtung wäre unzulässig. Denkbare, von der Rechtsordnung nicht anzuerkennende Umgehungsgestaltungen wie die Aufspaltung eines Erwerbs in mehrere, wertmäßig jeweils unter 10 % des Grundkapitals fallende Teile oder die Einschaltung eines Strohmanns zur Vermeidung der Aktionärseigenschaft ließen sich über eine teleologische Auslegung des § 52 AktG erfassen – ein Ergebnis, das für Gesetzesumgehungen nicht ungewöhnlich ist61. 5. Europäisches Ausland Zumindest einige Rechtsordnungen in Europa62 verzichten auf Grundlage der Kapitalrichtlinie auf besondere Grundsätze zur verdeckten Sacheinlage (oder zum Hin- und Herzahlen). Die Verwendung der Bareinlagemittel wird nicht mehr der Kapitalaufbringung, sondern der Kapitalerhaltung zugeordnet. Die Verantwortung dafür, dass Gesellschaftsvermögen nicht verschwendet wird, liegt nicht bei den Gesellschaftern, sondern beim Management. Im Übrigen wird jedenfalls in einzelnen Jurisdiktionen die Einbringung einer Geldfor-
61 Nach heute h. M. bedarf es keiner besonderen Regeln über Umgehungsgeschäfte; die Lösung wird vielmehr über eine (teleologische) Auslegung der Verbotsnorm und ggfs. eine Analogie gefunden, s. etwa Armbrüster in MünchKomm. BGB, 5. Aufl. 2006, § 134 BGB Rz. 11 ff.; Hefermehl in Soergel, 13. Aufl. 1999, § 137 BGB Rz. 37, jeweils m. w. N. 62 Der Verfasser weist darauf hin, dass den nachf. Ausführungen keine umfassende rechtsvergleichende Untersuchung zugrunde liegt.
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derung gegen die Gesellschaft überhaupt nicht als Sacheinlage, sondern als Bareinlage angesehen. Zur Illustration nachfolgend einige Hinweise auf zwei Rechtsordnungen, die willkürlich ausgewählt worden sind: Niederlande 63: Besondere Vorschriften für Sacheinlagen sehen die Art. 94 bis 94b des 2. Buches des niederländischen Bürgerlichen Gesetzbuches vor; die von Art. 11 der Kapitalrichtlinie geforderte Nachgründungsvorschrift ist im nachfolgenden Art. 94c enthalten. Die Rechtsprechung legt die Sachgründungsvorschriften dabei eng und streng am Wortlaut orientiert aus. Sacheinlagen bedürfen zwar der Zustimmung der Hauptversammlung; im Gegensatz zu der nach deutschem Recht erforderlichen ¾-Mehrheit reicht in den Niederlanden jedoch eine einfache Mehrheit. Forderungen gegen die Gesellschaft werden nicht als Sacheinlage angesehen. Die von Art. 11 der Richtlinie geforderte, im nachfolgenden Art. 94c enthaltene Nachgründungsvorschrift war im niederländischen Schrifttum und der Rechtsprechung von Anfang an unbeliebt, was sich auch daran zeigt, dass nach wie vor der deutsche Begriff „Nachgründung“ üblich ist. Erfasst sind von den Nachgründungsregeln nur Rechtsgeschäfte mit Gründern, nicht mit Aktionären. Nicht erfasst sind Fälle des mittelbaren Erwerbs (Konzernzusammenhang). Das holländische Recht geht nur in einem Punkt über die Richtlinie hinaus, indem Nachgründungsverträge unabhängig vom Überschreiten der 10 %-Wertgrenze erfasst werden. Rechtsfolge eines Verstoßes gegen die Nachgründungsvorschrift ist im Unterschied zum deutschen Recht nicht die Unwirksamkeit des Erwerbsgeschäfts, sondern lediglich dessen Anfechtbarkeit durch den Vorstand. Das niederländische Recht kennt einen allgemeinen Missbrauchsschutz. Ein institutionalisierter Umgehungsschutz entsprechend den Grundsätzen zur verdeckten Sacheinlage oder zum Hinund-Herzahlen existiert jedoch nicht. Eine Umgehung oder ein Missbrauch der Sacheinlagevorschriften hat in den Niederlanden bisher auch keine praktische Bedeutung erlangt. Insbesondere gibt es kaum Rechtsprechung hierzu. Italien64: Sacheinlagen im Rahmen der Gründung sind in Art. 2342 Abs. 3, 2343 Codice Civile, die Nachgründungsvorschrift in Art. 2343-bis Codice Civile und die Sacheinlagen im Rahmen von Kapitalerhöhungen in Art. 2440 Codice Civile geregelt. Missbrauch/Umgehung werden in Italien kaum diskutiert. Die Kommentarliteratur weist nur eine einzige Landgerichtsentscheidung auf, die die Frage der fehlenden Vollwertigkeit und eine Umgehung der Sacheinlagevorschriften thematisiert. Während dies früher noch diskutiert wurde, ist seit 15 Jahren die Erfüllung einer Bareinlageverpfl ichtung durch Aufrechnung problemlos möglich. Sacheinlagen werden in Italien nur dann vereinbart, wenn die aufwendige Bewertung ohnehin durchgeführt werden muss, etwa bei Unternehmenskäufen. Ansonsten wird eher eine Barkapitalerhöhung durchgeführt und der Barbetrag zum Erwerb des benötigten Gegenstands verwendet. Die Problematik verdeckter Sacheinlagen wird nicht näher diskutiert. Für die ord-
63 Für Hinweise zum niederländischen Recht dankt der Verfasser Herrn Kollegen Dr. Martin Grablowitz der Sozietät NautaDutilh N. V. in Rotterdam. 64 Für Hinweise zum italienischen Recht dankt der Verfasser Herrn Kollegen Dr. Martin Hartl, Rom.
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nungsgemäße Verwendung des Gesellschaftsvermögens ist das Management verantwortlich. 6. Gründe, nicht bei der „kleinen“ Reform des Rechts der VSE und des Hinund Herzahlens stehen zu bleiben Die Neuregelung der §§ 27 Abs. 3 und 4 AktG sowie der entsprechenden Vorbilder in § 19 Abs. 4 und 5 AktG wird allgemein als Fortschritt begrüßt65. Aus den folgenden Gründen sollte die Qualitätssteigerung des Gesellschaftsrechts bei dieser „kleinen“ Reform jedoch nicht stehen bleiben: – Die Neuregelungen des ARUG bzw. des MoMiG beschränken sich auf eine Begrenzung der Rechtsfolgen der verdeckten Sacheinlage und des Hinund Herzahlens. Die für die Praxis ebenso problematischen Tatbestände der verdeckten Sacheinlage und des Hin- und Herzahlens bleiben dagegen unberührt. – Die Neuregelungen sind dogmatisch kompliziert. Verwiesen sei nur auf den schnell entfachten Streit um das zutreffende dogmatische Verständnis der Anrechnung des Werts des Vermögensgegenstands gem. § 19 Abs. 4 Satz 3 GmbHG, § 27 Abs. 3 Satz 3 AktG66. – Das zusätzliche Erfordernis der jederzeitigen Kündbarkeit in § 27 Abs. 4 Satz 1 AktG, § 19 Abs. 5 GmbHG in Abweichung von § 57 Abs. 1 Satz 3 AktG, § 30 Abs. 1 Satz 2 GmbHG kann in der Praxis selbst bei Cash-Pooling-Verträgen schwierig nachzuweisen sein67 und vertieft die Unterschiede zwischen Kapitalaufbringung und Kapitalerhaltung. – Der praktische Nutzen der §§ 19 Abs. 5 GmbHG, 27 Abs. 4 AktG ist nach der Interpretation des BGH ohnehin gering, da der BGH die Offenlegung in der Anmeldung gemäß des zweiten Satzes dieser Vorschriften als Voraussetzung für die Erfüllungswirkung versteht68. Im Übrigen ist zu § 27 Abs. 4 AktG umstritten, ob nicht die gesamte Vorschrift wegen Verstoßes gegen Art. 9 Abs. 1 (Mindesteinlage) und 23 (Financial Assistance) der Kapitalrichtlinie unwirksam ist69. – Forderungen, die in ein Cash Pooling System eingestellt werden, können sowohl unter § 19 Abs. 5 GmbHG (Alles-oder-nichts-Prinzip) als auch unter § 19 Abs. 4 GmbHG (Anrechnungsprinzip) fallen, je nachdem ob bei der
65 S. etwa Bormann/Urlichs, GmbHR-Sonderheft Oktober 2008, S. 37, 51; Goette, Einführung in das neue GmbH-Recht, 2008, Einf. Rz. 33; Maier-Reimer/Wenzel, ZIP 2008, 1449; G. H. Roth in FS Hüffer, 2010, S. 853, 854; s. auch Bericht des Rechtsausschusses v. 20.5.2009 zum ARUG, BT-Drucks. 16/13098, S. 36. 66 Zu Nachweisen s. oben Fn. 5. 67 Hierzu Royla, Status: Recht 2008, 344, 345, s. auch BGH, NJW 2009, 3091, 3093 f. Rz. 26 ff. 68 Zu Nachweisen s. Fn. 15. 69 Hierzu Habersack, AG 2009, 557, 560 ff.; Bayer/Schmidt, ZGR 2009, 805, 839 f.; zurückhaltender A. Arnold in KölnKomm. AktG, 3. Aufl. 2010, § 27 AktG Rz. 133 ff.
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Gesellschaft im Verhältnis zum Cash-Pool-Führer ein positiver oder ein negativer Saldo besteht70. – Die Vereinbarkeit auch der Grundsätze zur VSE mit der Kapitalrichtlinie ist nach wie vor zumindest zweifelhaft (hierzu vorstehend II.4.c.). – Rechtspolitisch sollten Abweichungen von Richtlinien („gold plating“) im Interesse europäischer Rechtsangleichung auf Fälle beschränkt werden, in denen Abweichungen und insbesondere Verschärfungen zwingend erforderlich sind. – Anzuerkennen ist, dass Recht nicht immer „einfach“ sein kann. Kompliziertes Gesellschaftsrecht ist erforderlich, wenn ansonsten berechtigte Interessen insbesondere der Gläubiger dies erfordern – aber eben auch nur dann. Dies ist vorliegend nicht der Fall, da jede Beschränkung des Kapitalaufbringungsrechts zu einer entsprechenden Erweiterung des Anwendungsbereichs des Kapitalerhaltungsrechts führt. Sollten insoweit Schutzlücken befürchtet werden, müsste konsequent an den Kapitalerhaltungsvorschriften, nicht einem ohnehin nur in Ausnahmefällen eingreifenden Umgehungsschutz für die Kapitalaufbringungsregeln angesetzt werden. 7. Alternative: „Große Lösung“ im Sinne einer eng an der Kapitalrichtlinie orientierten Regelung a) Beschreibung des Modells Im folgenden soll ein Vorschlag für eine weitergehende, eng an der Kapitalrichtlinie orientierte Modifikation und Deregulierung des Schutzes gegen Umgehungen der Sacheinlagevorschriften vorgestellt werden. Dessen Kernelemente lassen sich wie folgt skizzieren: – Es bleibt bei der Unterscheidung von Bar- und Sacheinlagen und der Offenlegung und Wertprüfung von Sacheinlagen. Der Umgehungsschutz wird allerdings allein über die Nachgründungsvorschrift des § 52 AktG sichergestellt. – Die Nachgründungsvorschriften bleiben auf Gründungsfälle beschränkt. Außerhalb der Nachgründungsvorschriften können die Gesellschafter Bareinlagen leisten, die auch zum Erwerb von Sachgegenständen vom Inferenten oder für sonstige Zwecke wie Darlehensgewährung oder Bezahlung von Dienstleistungen des Inferenten verwendet werden können. – Außerhalb der klar umrissenen Nachgründungsregeln erfolgt der Kapitalschutz allein nach den Regeln der Kapitalerhaltung. – Kapitalaufbringung und Kapitalerhaltung werden rechtsklar durch die Leistung zur freien Verfügung getrennt. Die freie Verfügung wird durch Erhalt der Verfügungsbefugnis durch die Gesellschaft markiert. Schuldrechtliche Absprachen im Hinblick auf eine Rückgewähr an den Gesellschafter stehen
70 Zum inkonsistenten Rechtsfolgengefüge ausführlicher Hentzen/Schwandtner, ZGR 2009, 1007, 1020 ff.
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der freien Verfügung nicht entgegen, sondern sind anhand der Kapitalerhaltungsregeln zu überprüfen71. b) Unterschiede im Bereich der Gründung Der Vorschlag führt im Bereich der Gründung zu einer Deregulierung des Umgehungsschutzes. Rechtspolitisch nicht hinnehmbare Schutzlücken sind damit jedoch nicht verbunden: – Die dargestellten Erweiterungen des Umgehungsschutzes des § 52 AktG durch die Grundsätze zur VSE und zum Hin- und Herzahlen (s. oben II.1.d) sind weder geboten noch gerechtfertigt. – Die durch die Kapitalrichtlinie vorgegebene Unterscheidung von Bar- und Sacheinlagen wird respektiert. Sachgegenstände kann die Gesellschaft von den Gründern nur unter Beachtung der besonderen gesetzlichen Offenlegungs- und Wertprüfungsmechanismen als Sacheinlagen, Sachübernahmen oder im Wege der Nachgründung erwerben. Ausnahmen sind allesamt gesetzlich zugelassen (§ 33a AktG, geringwertige Erwerbe zu einer Vergütung von weniger als 10 % des Grundkapitals gemäß § 52 Abs. 1 AktG und Erwerbe im Rahmen der laufenden Geschäfte, in der Zwangsvollstreckung oder über die Börse gemäß § 52 Abs. 9 AktG). – Austauschverträge über nicht einlagefähige Leistungen (z. B. Darlehen, Dienstleistungen) erfordern keine an den Regeln der VSE orientierte Ausdehnung des Grundsatzes der Leistung zur freien Verfügung oder besonderer Grundsätze zum Hin- und Herzahlen. Zum einen wird § 52 Abs. 1 AktG teilweise recht weit über bloße Kaufverträge hinaus verstanden72. Entsprechendes müsste konsequent auch für das Verständnis von § 27 Abs. 1 AktG gelten73. Zum anderen genügen die Kapitalerhaltungsregeln zur Vermeidung verdeckter Vermögensverlagerungen. Sollten Defi zite bei den Kapitalerhaltungsvorschriften erkennbar werden (die bisher allerdings noch nicht offenkundig geworden sind), wäre hier anzusetzen. Zu denken wäre dann beispielsweise an eine Offenlegung von Leistungsbeziehungen mit dem Gesellschafter74 oder explizite Regeln zur Beweislastverteilung, vergleichbar derjenigen in § 27 Abs. 3 Satz 5 AktG, § 19 Abs. 4 Satz 5 GmbHG.
71 Einen ähnlichen Vorschlag unterbreiten Hentzen/Schwandtner, ZGR 2009, 1007, 1025 ff. für GmbH und AG. 72 Zur Anwendung des § 52 AktG auf Darlehens- und Dienstleitungsverträge s. etwa Pentz in MünchKomm. AktG, 3. Aufl. 2008, § 52 AktG Rz. 16 f.; Schwab, Die Nachgründung im Aktienrecht, 2003, S. 104 ff.; zu Dienstleistungsverträgen auch M. Arnold in KölnKomm. AktG, 3. Aufl. 2010, § 52 AktG Rz. 18. 73 Sinnvoll und von der Kapitalrichtlinie wohl vorgegeben wäre, die Regeln der Sachübernahme in § 27 AktG an den auf Art. 11 der Richtlinie beruhenden § 52 AktG anzupassen und auf Geschäfte mit einem Erwerbspreis von mindestens 10 % des Grundkapitals zu beschränken, so Habersack, Europäisches Gesellschaftsrecht, 3. Aufl. 2006, § 6 Rz. 32. 74 Hentzen/Schwandtner, ZGR 2009, 1007, 1027 erwägen insoweit einen Bericht analog dem Abhängigkeitsbericht nach § 312 AktG.
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c) Unterschiede im Bereich der Kapitalerhöhung Nach dem Vorschlag wird bei der Kapitalerhöhung auf einen institutionalisierten Schutz vor einer Umgehung der Sachkapitalerhöhungsvorschriften verzichtet. Die Entscheidung der Gesellschafter, eine Bar- oder eine Sachkapitalerhöhung durchzuführen, wird respektiert. Verwendet der Vorstand die Bareinlage zum Erwerb von Vermögensgegenständen oder für sonstige Verträge mit dem Inferenten, greifen die Kapitalerhaltungsgrundsätze. Bei einer wirksam begründeten werbenden AG gibt es keinen Grund, die im Wege einer Bareinlage neu zugeführten Mittel im unmittelbaren Anschluss daran durch Publizität und externe Wertkontrolle stärker gegen Wert vernichtende Geschäfte mit dem Gesellschafter zu schützen als sonstige Mittel, die entweder noch von der mehr als zwei Jahre zurückliegenden Gründung oder einer späteren Eigenkapitalzufuhr übrig geblieben (Kapitalrücklagen) oder auf andere Weise erwirtschaftet worden sind (Gewinnrücklagen). § 57 AktG schützt nicht nur den Erhalt des Grundkapitals, sondern nach herrschender Auffassung das gesamte Gesellschaftsvermögen einschließlich Kapitalrücklagen, gesetzlicher Rücklage und Gewinnrücklagen mit Ausnahme des Bilanzgewinns75. Sollte die Kapitalerhaltung für unzureichend angesehen werden, müsste diese verschärft werden, statt etwaige Unzulänglichkeiten durch eine konzeptionell abweichende, auf die Aufbringung des Grundkapitals beschränkte Kapitalaufbringung auszugleichen. Die Unterscheidung Barkapitalerhöhung – Sachkapitalerhöhung hat primär Bedeutung für die Frage, wer darüber entscheidet, ob ein Vermögensgegenstand von der Gesellschaft erworben wird. Bei Sachkapitalerhöhungen können die Gesellschafter (ausnahmsweise) darüber entscheiden, was die Gesellschaft erwirbt. Bei der Barkapitalerhöhung liegt die Entscheidung, ob ein Gegenstand erworben wird, allein beim Vorstand, der für seine Entscheidung verantwortlich ist. Die mit der Durchführung einer Sachkapitalerhöhung verbundene teilweise Entmachtung des Vorstands bei der Frage, ob und zu welchen Konditionen die Gesellschaft einen Gegenstand übernimmt, rechtfertigt die besonderen Schutzmechanismen der Sacheinlage, insbesondere eine externe Wertkontrolle. Ohne eine solche Entmachtung sind besondere Schutzmechanismen in Ergänzung der allgemeinen Regeln nicht erforderlich. Die Erleichterung der Barkapitalerhöhung mit anschließender Möglichkeit, einen Sachgegenstand von einem Gesellschafter zu kaufen, stärkt das Bezugsrecht der Minderheitsgesellschafter. An der Sachkapitalerhöhung können sie nicht beteiligt werden, während bei einer vorgeschalteten Barkapitalerhöhung zur Beschaffung der erforderlichen Mittel das Bezugsrecht uneingeschränkt gewährt werden kann. Bei einer Sachkapitalerhöhung kann eine Verbesserung der Beteiligungsquoten der übrigen Gesellschafter nur durch eine korrespondierende Kapitalerhöhung ausgeglichen werden. Diese hat aber häufig den Nachteil, dass die dabei beschafften Barmittel von der Gesellschaft nicht benötigt werden und zu einer betriebswirtschaftlich nicht sinnvollen Eigenkapitalquote führen. 75 S. nur Hüffer, 9. Aufl. 2010, § 57 AktG Rz. 2; Bayer in MünchKomm. AktG, 3. Aufl. 2008, § 57 AktG Rz. 7.
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Schutz gegen Umgehung der Kapitalaufbringungsregeln bei der AG
Das hier vorgeschlagene Konzept verwischt auch nicht die Unterscheidung zwischen Bar- und Sacheinlage: Bei der Bareinlage hat der Inferent keinen Einfluss darauf, ob und zu welchem Preis die Gesellschaft die Sache von ihm erwirbt. Gegebenenfalls könnte zur Absicherung vorgesehen werden, dass vor der Leistung der Bareinlage zur freien Verfügung getroffene Absprachen mit der Gesellschaft über die Verwendung der Bareinlage für Geschäfte mit dem Inferenten unwirksam sind. d) Berechtigung einer Ungleichbehandlung von Gründung und Kapitalerhöhung Auf den ersten Blick mag ein unterschiedlicher Schutz gegen Umgehungen der Sacheinlagevorschriften bei Gründung und Kapitalerhöhung erstaunen. Aus den folgenden Gründen ist diese bereits in der Kapitalrichtlinie und dem AktG vorgegebene Unterscheidung – Art. 11 der Richtlinie und § 52 AktG sehen einen Umgehungsschutz nur für eine Frist von zwei Jahren nach der Gründung vor – sachgerecht: – Die Gründungsphase ist für die Gläubiger besonders riskant. – In der Gründungsphase ist der Vorstand typischerweise schwächer, sofern er überhaupt an dem Geschäft beteiligt ist76. Bei Kapitalerhöhungen ist dagegen ein eigenverantwortlicher, weisungsunabhängiger Vorstand im Amt, der auf den Schutz der Gesellschaft und die Einhaltung der Kapitalerhaltungsvorschriften zu achten hat und bei Verstößen persönlich haftet. – Kapitalerhöhungen führen konzeptionell zu einer Steigerung des Gläubigerschutzes gegenüber dem status quo ante. Dabei geht es nicht mehr um ein Erkaufen der beschränkten Haftung oder eine Seriositätskontrolle. – Das Bezugsrecht der Minderheitsaktionäre hat in der Gründungsphase keine Bedeutung. 8. Reform der Kapitalaufbringung bei der GmbH Eine Modifikation des Rechts der Kapitalaufbringung ist bei der GmbH nicht weniger dringlich als bei der AG. Auch bei der GmbH sollte der Gesetzgeber nicht dauerhaft bei dem erreichten Stand, der Abmilderung der Rechtsfolgen in § 19 Abs. 4 und 5 GmbHG stehen bleiben. Bei Gesellschaften mbH handelt es sich häufiger um kleinere Unternehmen ohne eigene Rechtsabteilung mit weniger erfahrenen Gesellschaftern und Geschäftsführern und einem begrenzten Etat für externe Rechtsberatung, denen die Ableitung konkreter Handlungspfl ichten und -verbote in diesem nach wie vor gesetzlich nur rudimentär geregelten und von erheblicher Rechtsunsicherheit in Rechtsprechung und Literatur geprägten Bereich noch schwerer fällt. Bei der GmbH ist der Gesetz-
76 Entsprechend wird ein Zweck des § 52 AktG auch darin gesehen, dass die junge AG und ihr Vorstand vor einer übermäßigen Einflussnahme durch die Gründer geschützt werden sollen, s. etwa BGHZ 110, 47, 55; M. Arnold in KölnKomm. AktG, 3. Aufl. 2010, § 52 AktG Rz. 2; Bayer/Lieder, GWR 2010, 3, 5; Hüffer, 9. Aufl. 2010, § 52 AktG Rz. 1; Pentz in MünchKomm. AktG, 3. Aufl. 2008, § 52 AktG Rz. 5.
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geber nicht an die Vorgaben der Kapitalrichtlinie gebunden; die vorliegenden Überlegungen haben sich daher bewusst auf die AG beschränkt, bei der der Gesetzgeber den geringeren Handlungsspielraum hat. Für die GmbH ist eine noch weitergehendere Liberalisierung möglich und sinnvoll. Der Vorschlag geht dahin, die Unterscheidung zwischen Bar- und Sacheinlage ähnlich dem KG-Recht aufzugeben und Kapitalaufbringung und -erhaltung damit konzeptionell deutlich einheitlicher auszugestalten; er ist an anderer Stelle näher ausgeführt worden77 und hat in ähnlicher Weise auch von prominenten Stimmen aus Wissenschaft und Praxis Unterstützung gefunden78. Möglich wäre für den Gesetzgeber allerdings auch, die weitgehende Parallelität der Regelung der Kapitalaufbringung im GmbH- und Aktienrecht beizubehalten und das GmbH-Recht in Anlehnung an das Aktienrecht und damit unter Beachtung der Beschränkungen der Kapitalrichtlinie weiter zu entwickeln.
III. Thesen 1. Die richterrechtlich begründeten Grundsätze zur verdeckten Sacheinlage und zum Hin- und Herzahlen bereiten der Praxis nicht nur im Hinblick auf die mittlerweile durch das ARUG entschärften überzogenen Rechtsfolgen, sondern auch im Hinblick auf den unklaren Tatbestand und die kaum widerlegbare Vermutung einer Vorabsprache erhebliche praktische Probleme. 2. Die Kapitalrichtlinie regelt im Hinblick auf die besonderen Anforderungen an Sacheinlagen ausdrücklich einen Umgehungsschutz für die Fälle der Gründung (Nachgründung nach Art. 11). Zweifelhaft ist allein, ob der daneben tretende Umgehungsschutz durch die Grundsätze zur verdeckten Sacheinlage und zum Hin- und Herzahlen europarechtlich zulässig ist. Unzweifelhaft sollte dagegen sein, dass sich eine Notwendigkeit der strengen deutschen Regeln des Umgehungsschutzes europarechtlich nicht begründen lässt. 3. Eine Begrenzung der Kapitalaufbringungsregeln führt nicht zu einem kapitalschutzrechtlichen Vakuum, da der Bereich der Kapitalerhaltung entsprechend erweitert wird. 4. Viele Rechtsordnungen in Europa verzichten auf Grundlage der Kapitalrichtlinie auf einen besonderen Umgehungsschutz durch Grundsätze zur verdeckten Sacheinlage (und zum Hin- und Herzahlen). Die Verwendung der 77 J. Vetter, Referat zum 66. DJT, 2006, Band II/1, S. P 75, 89 ff.; zuvor bereits für die Aufgabe der strengen Unterscheidung zwischen Bar- und Sacheinlagen der Vorschlag von Vossius/Wachter für ein GmbH-Reformgesetz, abzurufen unter http://www. gmbhr.de/heft/21_05/GmbHRG_Text_Vossius_pp.pdf bzw. die Begründung unter http://www.gmbhr.de/heft/21_05/GmbHRG_Begr_Vossius_pp.pdf. 78 Bayer, ZGR 2006, 220, 234 ff. mit zahlreichen zumindest in der Tendenz zustimmenden Äußerungen in der nachfolgenden Diskussion, s. den Bericht darüber S. 241 ff.; Dauner-Lieb, AG 2009, 217, 221; Grunewald, WM 2006, 2333, 2335 f.; s. auch Drygala, ZIP 2006, 1797 ff.; außerdem Lutter in Sachverständigenanhörung MoMiG am 23.1.2008, schriftliche Stellungnahme, S. 7 f. sowie Wortprotokoll, S. 77; dem zustimmend Goette in Sachverständigenanhörung MoMiG am 23.1.2008, Wortprotokoll S. 64 f. (Dokumente abzurufen unter http://www.bundestag.de/bundestag/ ausschuesse/a06/anhoerungen/Archiv/28_MoMiG/index.html).
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Schutz gegen Umgehung der Kapitalaufbringungsregeln bei der AG
Bareinlagemittel wird nicht der Kapitalaufbringung, sondern der Kapitalerhaltung zugeordnet. Die Verantwortung dafür, dass Gesellschaftsvermögen nicht verschwendet wird, liegt bei den Geschäftsleitern. 5. Der Gesetzgeber sollte nicht bei dem durch das ARUG erreichten Stand der Rechtsentwicklung stehen bleiben, sondern das Konzept des Umgehungsschutzes für Kapitalaufbringungsregeln in seiner in Deutschland entwickelten Form überdenken. Vorzugswürdig ist für die AG eine Lösung, die sich eng an der Kapitalrichtlinie orientiert und sich nicht auf die Modifikation der Rechtsfolgen verdeckter Sacheinlagen und des Hin- und Herzahlens beschränkt, sondern auch im Hinblick auf den Tatbestand für Klarheit sorgt: a) Besondere Grundsätze zur verdeckten Sacheinlage und zum Hin- und Herzahlen werden nicht anerkannt. Ein Umgehungsschutz erfolgt allein durch § 52 AktG und damit nur im Hinblick auf das Gründungsstadium. Die nicht von § 52 AktG erfasste Verwendung von Bareinlagen für Geschäfte mit dem Inferenten unterliegt allein den Grundsätzen der Kapitalerhaltung. b) Für den Bereich der Gründung ergeben sich keine relevanten Schutzlücken. Stattdessen wird die Aushebelung der klaren Tatbestandsgrenzen des § 52 AktG durch die Grundsätze zur verdeckten Sacheinlage vermieden. c) Ein Schutz vor Umgehung der Sacheinlagevorschriften im Rahmen der Kapitalerhöhung ist nicht erforderlich. Die das gesamte Gesellschaftsvermögen erfassenden Kapitalerhaltungsvorschriften und die Eigenverantwortlichkeit des Vorstands reichen zum Schutz der Gesellschaft, der Minderheitsaktionäre und der Gesellschaftsgläubiger aus. Bei Bareinlagen müssen es die Gesellschafter hinnehmen, dass der Vorstand eigenverantwortlich über die Verwendung der Bareinlage und den Abschluss eines Geschäfts mit dem Gesellschafter entscheidet; wollen die Gesellschafter auf die Einbringung einer Sache Einfluss nehmen, bleibt ihnen nur die Sachkapitalerhöhung. d) Die in der Kapitalrichtlinie angelegte Ungleichbehandlung von Gründung und Kapitalerhöhung ist nicht willkürlich, da die Gesellschaft in der Gründungsphase besonders gefährdet ist, der Vorstand eine weniger starke Stellung hat, die zusätzlichen Einlagen bei der Kapitalerhöhung nichts mit dem Erkaufen der beschränkten Haftung oder einer Seriositätskontrolle zu tun haben und das Bezugsrecht der Minderheitsaktionäre, das durch die Erleichterung von Barkapitalerhöhungen gestärkt wird, in der Gründungsphase keine Bedeutung hat.
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Verbandskompetenz und Individualautonomie im Recht der Personengesellschaften Inhaltsübersicht I. Einführung: Das verbandsbedingte Koordinationsproblem II. Individualautonomie und Verbandsentscheidungsfähigkeit III. Mehrheitsprinzip und vertragliche Kompetenzzuordnung 1. Das Kompetenzzuordnungsproblem 2. Die formellen Voraussetzungen für eine Bindung an Mehrheitsentscheidungen 3. Die Grenzen der Mehrheitsmacht
a) Entscheidungen über Geschäftsführungsmaßnahmen und Organisationsakte b) Änderungen des Gesellschaftsvertrages aa) Einführung bb) Der Bestimmtheitsgrundsatz und die Kernbereichslehre cc) Neue Wege der Rechtsprechung – Publikumsgesellschaft und körperschaftlich strukturierte „große Kommanditgesellschaft“ dd) Die Kritik der modernen Lehre
I. Einführung: Das verbandsbedingte Koordinationsproblem Allen Verbänden – gleich welcher Rechtsform – ist aufgegeben, die Interessen ihrer Mitglieder zu bündeln und zu schützen. Wohin und mit welchem Einsatz soll der Verband geführt werden. Die Suche nach Antworten auf diese Frage ist zuallererst Aufgabe des Rechts. Völlig zutreffend hat Karsten Schmidt den Gesellschaftsvertrag nicht bloß als Typus des besonderen Schuldrechts verstanden, sondern als personen- und organisationsrechtliches Verhältnis. Die Verfasser des Bürgerlichen Gesetzbuches sahen das schlichter: Ihnen schwebte das Bild einer allumfassenden Harmonie bei allen Gesellschafterentscheidungen vor. Einerlei, ob es sich um Angelegenheiten des Tagesgeschäfts handelte, um Fragen der Finanzierung, zuvörderst der Beitragsaufbringung, um Rechnungslegung und Ergebniszuordnung oder gar um solche des Gesellschaftsvertrags, seiner Auslegung, Anwendung oder Änderung. Immer sollte jeder Gesellschafter beteiligt werden. Jeder sollte mitreden und -entscheiden dürfen; ohne jeden sollte keiner etwas bewirken können. Der Partner-Desk in den alten Handelshäusern, an dem sich die Firmeninhaber während ihrer Geschäftstätigkeit im Kontor gegenüber saßen – und gelegentlich heute noch sitzen – ist das Ur-Symbol des gesellschaftlichen Zusammenwirkens. Jeder erlebte mit, was der andere tat. Alles, was von Belang war, wurde sofort gemeinsam entschieden. Diese heile Welt stand immer im Verdacht der Illusion. So sehr dies – wie bei vielen Illusionen – wünschenswert wäre, aber diese Welt ist auch nicht diejenige unseres Jubilars. Er gehört einer nun nach allen 397
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Begriffen großen Anwaltssozietät in der Rechtsform einer Personengesellschaft an, für deren Entscheidungsfähigkeit und deren Entscheidungstechniken mit Billigung der Rechtsprechung längst dasjenige maßgeblich sein darf, was für das Binnenrecht der modernen, kapitalgesellschaftsrechtlich organisierten Verbandsformen unvermeidlich ist: Das Mehrheitsprinzip.
II. Individualautonomie und Verbandentscheidungsfähigkeit Die philosophische Seite des Problems beschrieb Schiller im Demetrius-Fragment: „Was ist die Mehrheit! Mehrheit ist der Unsinn; Verstand ist stets bei wen’gen nur gewesen … Man soll die Stimmen wägen, und nicht zählen; der Staat muss untergehen, früh oder spät, wo Mehrheit siegt und Unverstand entscheidet.“
Das liest sich wie das Credo der monarchistischen Staatsverfassung, erweist sich jedoch im historischen Kontext des Dramas als Bekenntnis zum parlamentarischen Einstimmigkeitsprinzip. Die mit diesem Bekenntnis zum Ausdruck gebrachte Ablehnung, ja Verachtung des Mehrheitsprinzips, ist mit einem häufig anzutreffenden Missverständnis verbunden. Niemand sollte das Mehrheitsprinzip mit der Begründung rechtfertigen, es verschaffe der so – also mit Mehrheit – herbeigeführten Gruppenentscheidung Richtigkeitsgewähr. Das Risiko falscher Entscheidungen belastet die Gruppe ebenso sehr wie den Einzelnen. Es geht also nicht um die Vermeidung falscher Entscheidungen, sondern darum, überhaupt Entscheidungen zu ermöglichen: Die Entscheidungsfähigkeit der Gruppe rechtfertigt das Mehrheitsprinzip. Das ist der Kern aller Probleme mit den Beschlusstechniken aller zivilrechtlich organisierten Verbände, unter denen hier nur die Personengesellschaften interessieren. Nach der gesetzlichen Grundvorstellung gilt für sie das Einstimmigkeitsprinzip, d. h. alle Entscheidungen, die das Gesellschaftsverhältnis (Verhältnis der Gesellschafter untereinander), das Verhältnis der Gesellschaft zu ihren Mitgliedern und – ggfs. – ihren Fremdorganen (z. B. Aufsichts- oder Beiräten) oder die das Verhältnis der Gesellschaft zu Dritten betreffen, kommen nur mit Zustimmung durch alle diejenigen Gesellschafter zustande, die hierzu von Gesetzes wegen berufen sind. Die Organisationsstruktur der Personengesellschaft erfordert eine Unterscheidung zwischen Willensbildungsakten, die unmittelbares rechtsgeschäftliches Handeln für die Gesellschaft nach außen zum Inhalt haben (Geschäftsführungsakte), einerseits, und solchen Willensbildungsakten, andererseits, die entweder die rechtliche Beziehung zwischen der Gesellschaft und ihren einzelnen Mitgliedern oder die Organisation der Gesellschaft betreffen oder gar die Grundlage des Gesellschaftsverhältnisses selbst berühren. Gesellschafterbeschlüsse im eigentlichen Sinne dienen allein der Herbeiführung von Entscheidungen aus den zuletzt genannten Kategorien. Die Zuständigkeit für Geschäftsführungsakte regelt das Gesetz unterschiedlich, je nachdem, ob es sich um eine Gesell398
Verbandskompetenz und Individualautonomie im Personengesellschaftsrecht
schaft bürgerlichen Rechts handelt oder um eine Personenhandelsgesellschaft. Beim erstgenannten Typus (BGB-Gesellschaft als „Außengesellschaft“) sind in Ermangelung abweichender gesellschaftsvertraglicher Bestimmung alle Gesellschafter nur zusammen geschäftsführungs- und vertretungsbefugt (Gesamtgeschäftsführung und -vertretung). Bei den Personenhandelsgesellschaften sind nur die persönlich haftenden Gesellschafter geschäftsführungs- und vertretungsbefugt, und zwar mangels abweichender gesellschaftsvertraglicher Bestimmung jeweils einzeln. Dasselbe gilt für die Partnerschaftsgesellschaft, also jene Rechtsform, die weitgehend der offenen Handelsgesellschaft nachgebildet ist und derer sich zunehmend schon mittlere, erst recht aber große Anwaltsgemeinschaften bedienen. Obwohl die persönlich haftenden Gesellschafter entweder einzeln oder in Gesamtzuständigkeit als Gesellschafter in Selbstorganschaft handeln, stehen sie strukturell zueinander und zu den von der Geschäftsführung ausgeschlossenen Gesellschaftern (bei den Kommanditgesellschaften schon von Gesetzes wegen allen Kommanditisten) im Verhältnis eines rechenschaftspfl ichtigen Organs zum Organträger. Geschäftsführungsakte sind also schon von Gesetzes wegen nicht von der Mitwirkung durch Gesellschafter abhängig, die keine Geschäftsführungsbefugnis haben. Anders bei Gesellschafterbeschlüssen; sie erfordern die Mitwirkung aller Gesellschafter. Eine besondere Form schreibt das Gesetz für die Beschlussfassung der Gesellschafter allerdings nicht vor. Weil kein Beschluss zustande kommt, wenn er nicht vom Willen aller Gesellschafter getragen ist, genügt jede Form von Willensäußerung. Auch ist es nicht notwendig, dass die Beschlüsse zeitgleich, etwa auf Gesellschafterversammlungen, gefasst werden.
III. Mehrheitsprinzip und vertragliche Kompetenzzuordnung 1. Das Kompetenzzuordnungsproblem Die allgemeinen Regeln geben den Gesellschaftern die Freiheit, bei der Gestaltung ihres Verhältnisses untereinander vom gesetzlichen Einstimmigkeitsprinzip abzuweichen und das Mehrheitsprinzip einzuführen. Mehrheitsentscheidung heißt Verbindlichkeit eines Gesellschafterbeschlusses für eine Minderheit ohne deren Zustimmung oder gar gegen deren Willen. Das kann haftungsauslösende oder sonst rechtsbeeinträchtigende Konsequenzen für die Minderheit einschließen, und je nach deren Gewicht stellt sich die Frage nach der Wirksamkeit von Mehrheitsentscheidungen unterschiedlich. Das Gesetz (§ 709 Abs. 2 BGB und – wortgleich – § 119 Abs. 2 HGB) rechtfertigt nämlich nicht jede Mehrheitsentscheidung, sondern bestimmt nur, wie die Mehrheit im Zweifel zu berechnen ist, wenn der Gesellschaftsvertrag Mehrheitsentscheidungen anordnet oder zulässt. Dass Mehrheitsbeschlüsse zulässig sind, steht also nicht in Frage. Das Gesetz gibt jedoch keine Hinweise auf die Grenzen, welche der Mehrheitsmacht im Recht der Personengesellschaften gesetzt sind1. Die gesellschaftsvertragliche Anordnung des Mehrheitsprinzips schafft den Vorrang des Gruppeninteresses vor dem Individualinteresse: Die Entscheidun1 Priester, DStR 2008, 1386 ff.
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gen der Gesellschaft sind nicht mehr notwendig identisch mit denjenigen ihrer sämtlichen Mitglieder; die konstitutionelle Unterwerfung der Minderheit unter den Mehrheitswillen verabsolutiert die Selbstbestimmung der Gesellschaft; durch sie entsteht jene „überindividuelle Personengemeinschaft“2, mit der sich die Personengesellschaft zu Lasten der Privatautonomie ihrer Mitglieder prinzipielle Strukturmerkmale der Körperschaften zu eigen macht. Mit der gesellschaftsvertraglichen Festlegung auf das Mehrheitsprinzip wird also eine Verlagerung der Entscheidungskompetenz von jedem einzelnen Mitglied auf die Gesellschaft als Verband bewirkt. Was für den körperschaftlich verfassten Verband typisch ist, bildet im Recht der Personengesellschaften eine Regelabweichung: Die konstitutionelle Unterwerfung des Individualwillens unter die Verbandsentscheidung. Wo Verbandsentscheidungen gewollt werden, ist das Mehrheitsprinzip unverzichtbar, denn eine Gruppenentscheidung auf der Grundlage des Einstimmigkeitsprinzips bleibt immer nur die Summe der inhaltsgleichen Entscheidungen aller Gruppenmitglieder. Bindung an die Kollektiventscheidung ist immer auch Aufgabe der Privatautonomie, und die Suche nach den Grenzen für die Disponibilität der Privatautonomie ist eine Gratwanderung zwischen dem Anspruch des Verbands auf Entscheidungsfähigkeit und dem Anspruch jedes ihm angehörenden Individuums auf Selbstbestimmung, eine Gradwanderung zugleich zwischen den Versuchungen, die sowohl in den Missbrauchsmöglichkeiten der Mehrheit als auch in der diktatorischen Kraft der „letzten“ unter der Herrschaft des Einstimmigkeitsprinzips benötigten Stimme verborgen sind. 2. Die formellen Voraussetzungen für eine Bindung an Mehrheitsentscheidungen Weder das Verfahren für die Herbeiführung von Mehrheitsbeschlüssen noch deren Form sind im Gesetz geregelt. Sieht der Gesellschaftsvertrag von einer Festlegung des Beschlussverfahrens ab, dann gilt die allgemeine Regel: Der Mehrheitsbeschluss kommt zustande, wenn dem jeweiligen Beschlussantrag mit der jeweils maßgeblichen Mehrheit der Stimmen zugestimmt wurde. Wollte man diese Konsequenz zu einem das Personengesellschaftsrecht beherrschenden Grundsatz erheben, so würde man der „Mehrheit“ erlauben, Gesellschafterbeschlüsse ohne Beteiligung der „Minderheit“ herbeizuführen, d. h., ohne der Minderheit auch nur die Möglichkeit zu geben, gehört zu werden. Im Recht der Kapitalgesellschaften wären solche Beschlüsse zweifellos nichtig3. Man wird diesen Grundsatz in das Recht der Personengesellschaften übernehmen müssen, wenn dort vom Einstimmigkeitsprinzip abgewichen und statt dessen die Kompetenz für Gesellschaftsbeschlüsse einer abstrakten, d. h. von ihrer jeweiligen Zusammensetzung prinzipiell unabhängigen Mehrheit zugewiesen wird. Das unverzichtbare Recht auf Beteiligung am Beschlussverfahren, das Recht darauf, wenn schon nicht entscheiden zu dürfen, dann doch wenigstens gehört zu werden, ist die Konsequenz der Preisgabe des mit dem 2 Flume, Personengesellschaft, § 14 I (S. 208). 3 Zöllner in Baumbach/Hueck, § 51 GmbHG Rz. 28; Hüffer in Geßler/Hefermehl, § 241 AktG Rz. 26; Hüffer, § 241 AktG Rz. 9.
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Einstimmigkeitsprinzip verbundenen individuellen Selbstbestimmungsrechts. Mit Recht hat Karsten Schmidt 4 nur solche unter Missachtung des Beteiligungsgebots zustande gekommenen Beschlüsse für unbedenklich gehalten, die die laufende Verwaltung, also die Geschäftsführung, betreffen. Das ist aber keine Ausnahme von der Regel, sondern folgt aus dem Umstand, dass es sich bei solchen Geschäftsführungsakten gar nicht um Gesellschafterbeschlüsse im eigentlichen Sinne handelt. Im übrigen kann es heute als herrschende Meinung angesehen werden, dass auch im Recht der Personengesellschaften ein unverzichtbares Recht jedes stimmberechtigten Gesellschafters auf Beteiligung an der Beschlussfassung der Gesellschafter besteht5. Die Brisanz des Spannungsverhältnisses zwischen dem individuellen Selbstbestimmungsrecht der Gesellschafter, einerseits, und der gesamthänderischen Verbundenheit in Hinsicht auf Vermögen und Haftung, andererseits, bleibt nur dann beherrschbar, wenn die Voraussetzungen der Mehrheitskompetenz eindeutig bestimmt und durch rechtsgeschäftliches Wollen eines jeden Gesellschafters legitimiert sind. Voraussetzung dafür ist die Eindeutigkeit der Stimmrechtsregelung, d. h. der abstrakten Bestimmung dessen, was Mehrheit ist. Als einzige gesetzliche Regelung, die sich überhaupt dem Problem des Mehrheitsprinzips in der Personengesellschaft widmet, bestimmt deshalb § 119 Abs. 2 HGB, dass „die Mehrheit im Zweifel nach der Zahl der Gesellschafter zu berechnen“ ist (so – wortgleich – auch § 709 Abs. 2 BGB). Es ist zulässig, durch den Gesellschaftsvertrag eine andere Art der Stimmrechtsberechnung festzulegen. So ist es möglich, bestimmten Gesellschaftern einfaches und anderen Gesellschaftern mehrfaches Stimmrecht zu gewähren6. Auch in Hinsicht auf die Festlegung derjenigen Stimmen, die bei der Berechnung von Mehrheit in Betracht zu ziehen sind, besteht vollkommene Vertragsfreiheit. Es ist möglich und entspricht der gesetzlichen Regelung in § 709 Abs. 2 BGB und § 119 Abs. 2 HGB, die Mehrheit der insgesamt stimmberechtigten Mitglieder oder der insgesamt vorhandenen Stimmen entscheiden zu lassen mit der Folge, dass jede Enthaltung und jede nicht abgegebene Stimme genauso wirken würde, wie eine Gegenstimme7. Nichts spricht dagegen, statt der Mehrheit der insgesamt vorhandenen Stimmen diejenige der abgegebenen Stimmen als maßgeblich für das Zustandekommen des Beschlusses zu vereinbaren. Dies setzt allerdings eine klare gesellschaftsvertragliche Festlegung des Beschlussverfahrens voraus, weil andernfalls offen bleibt, bis zu welchem Zeitpunkt eine Stimmabgabe noch möglich ist8. Unwirksam wäre in diesem Zusammenhang die Festlegung des Abstimmungsverfahrens durch etwa den4 K. Schmidt, Gesellschaftsrecht, § 16 II 3 c) (S. 358). 5 K. Schmidt, Gesellschaftsrecht, § 16 III 3 a) (S. 471); Wiedemann, Gesellschaftsrecht, Bd. I, § 7 II 1; Teichmann, Gestaltungsfreiheit in Gesellschaftsverträgen, 1970, S. 209; Nitschke, Die körperschaftlich strukturierte Personengesellschaft, 1970, S. 282; Immenga, ZGR 1974, 385; Uwe H. Schneider, ZGR 1972, 357; Comes, DB 1974, 2189/2195. 6 BGHZ 20, 363, 370. 7 Ulmer in Großkomm. HGB, § 119 HGB Rz. 50; Hopt in Baumbach/Hopt, § 119 HGB Rz. 41; a. A. für den Verein BGHZ 83, 36. 8 Hopt in Baumbach/Hopt, § 119 HGB Rz. 26 ff.
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jenigen Gesellschafter, der den Beschlussantrag stellt, es sei denn, dergleichen wäre durch den Gesellschaftsvertrag festgelegt worden. Auch ist es möglich, alle Beschlüsse oder Beschlüsse über bestimmte Gegenstände von qualifi zierten Mehrheiten abhängig zu machen oder vorzusehen, dass bestimmten Gesellschaftern in Form eines vertraglich bedungenen Sonderrechts in Hinsicht auf alle Beschlüsse oder bestimmte Beschlussgegenstände ein Zustimmungsvorbehalt gebührt. 3. Die Grenzen der Mehrheitsmacht a) Entscheidungen über Geschäftsführungsmaßnahmen und Organisationsakte Wo der Gesellschaftsvertrag Entscheidungen über Geschäftsführungsmaßnahmen von der Zustimmung durch die Gesellschafterversammlung abhängig macht oder dann, wenn das Geschäftsführungsorgan der Personengesellschaft (also die geschäftsführungsbefugten persönlich haftenden Gesellschafter, aber auch gewillkürte Geschäftsführer wie Kommanditisten) die Entscheidung über bestimmte Geschäftsführungsangelegenheiten der Gesellschafterversammlung zuweist, sind nach einhelliger Meinung Mehrheitsentscheidungen zulässig 9. Schon nicht mehr so selbstverständlich kann die Zulässigkeit von Mehrheitsentscheidungen bejaht werden, wenn es um die Zustimmung zu ungewöhnlichen Geschäften geht, hinsichtlich derer dem Kommanditisten nicht nur ein Widerspruchsrecht zusteht, sondern von Gesetzes wegen dessen Zustimmung vonnöten ist (§ 164 HGB)10. Man wird die Beantwortung der Frage von der Entscheidung darüber abhängig machen müssen, ob das Zustimmungserfordernis nach § 164 Satz 1 HGB zu den unentziehbaren Gesellschafterrechten analog § 53 Abs. 3 GmbHG gehört11. Das ist nicht der Fall; auch das ungewöhnliche Geschäft bleibt ein Außengeschäft, das vom Unternehmen der Kommanditgesellschaft ausgeführt werden soll. Auf die konstitutionellen Rechte und Pfl ichten des Kommanditisten hat es keinen Einfluss. Demzufolge ist dem Zustimmungserfordernis nach § 164 Satz 1 HGB genügt, wenn die Gesellschafterversammlung entsprechend den Regeln des Gesellschaftsvertrages das in Aussicht genommene Geschäft mit Mehrheit billigt12. Nicht zu den Geschäftsführungsangelegenheiten gehören alle Entscheidungen der Gesellschafter, die sie in Erfüllung ihrer durch die Verbandsverfassung (Gesellschaftsvertrag) festgelegten Funktionen mit Auswirkung auf die konkrete Organisation der Gesellschaft oder deren Rechtsbeziehung zu einzelnen Gesellschaftern treffen. Darunter fallen alle durch Gesellschafterbeschluss zu treffenden Entscheidungen über die Zusammensetzung der Gesellschaftsorgane 9 RGZ 114, 393/395; BGH, DB 1961, 402; Hopt in Baumbach/Hopt, § 119 HGB Rz. 34; K. Schmidt, Gesellschaftsrecht, § 16 II 2 b) (S. 454); Wiedemann, Gesellschaftsrecht, Bd. I, § 8 I 2 a) (S. 411). 10 RGZ 158, 305; Hopt in Baumbach/Hopt, § 164 HGB Rz. 2. 11 Vgl. hierzu BGHZ 20, 363/369. 12 Schilling in Großkomm. HGB, § 164 HGB Rz. 7; Hopt in Baumbach/Hopt, § 164 HGB Rz. 6.
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und deren Befugnisse; das sind bei der Kommanditgesellschaft vor allem Entscheidungen über die Entziehung oder die Einräumung von Geschäftsführungsbefugnissen, die Bestellung von Beirats- oder Aufsichtsratsmitgliedern und deren Abberufung, die Entlastung von Mitgliedern der Gesellschaftsorgane oder über die klagweise Geltendmachung von Organverschulden und schließlich Entscheidungen, die die Vertretungsbefugnis von Organmitgliedern betreffen, also die Einräumung einer als Gesellschafter-Sonderrecht ausgestalteten Vertretungsbefugnis (Prokura) an Kommanditisten, die Entziehung der Vertretungsbefugnis von persönlich haftenden Gesellschaftern, die Befreiung geschäftsführungsbefugter Gesellschafter von den Beschränkungen des § 181 BGB oder die Genehmigung von unter Missachtung dieser Beschränkungen abgeschlossenen Rechtsgeschäften. Keine dieser Maßnahmen betrifft die Geschäftsführung im Unternehmen der Gesellschaft. Keine dieser Maßnahmen berührt auch die Verfassung der Gesellschaft als solche. Alle Entscheidungen in diesem Bereich stellen die Konkretisierung von Organisationsstrukturen dar, die durch die Verfassung der Gesellschaft vorgegeben sind. In der Literatur wurden sie als „nicht ungewöhnliche Grundlagengeschäfte“13, vom Bundesgerichtshof14 als „laufende Angelegenheiten“ bezeichnet, die im gesellschaftlichen Leben regelmäßig wiederkehren (Organisationsakte). Zu den Organisationsakten gehören auch Entscheidungen über die Verbindlichkeit des von den geschäftsführenden Gesellschaftern aufzustellenden Jahresabschlusses (Feststellung des Jahresabschlusses), die Gewinnverwendung oder die Wahl von Abschlussprüfern. Entgegen der Auffassung von Karsten Schmidt15 sind dies keine Geschäftsführungsentscheidungen, denn sie betreffen unmittelbar die Defi nition der vermögensbezogenen Rechte und Pflichten aus der Mitgliedschaft. Es gibt auch keinen Zweifel daran, dass die nicht zur Geschäftsführung berufenen Gesellschafter mangels abweichender Regelung des Gesellschaftsvertrages zur MitEntscheidung darüber befugt sind und dass sie befugt sind, solche nach dem Bilanzrecht zulässigen Bilanzierungsentscheidungen zu korrigieren, wenn sie bereits Gewinnverwendungscharakter haben16. Wenn der Gesellschaftsvertrag nicht in zulässiger Weise eine hiervon abweichende Bestimmung trifft, liegt die ausschließliche Zuständigkeit für Organisationsakte bei der Gesellschafterversammlung. Sieht der Gesellschaftsvertrag vor, dass die Beschlüsse der Gesellschafterversammlung grundsätzlich mit der Mehrheit der im Gesellschaftsvertrag festgelegten Stimmen zustande kommen, so werden Organisationsakte wirksam, wenn sie mit Mehrheit beschlossen werden17.
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Schilling in Großkomm. HGB, § 164 HGB Rz. 6. WM 1985, 1227. Gesellschaftsrecht, § 16 II 2 b) (S. 454). BGH, WM 1985, 1227; BGHZ 76, 338, 342; BGHZ 132, 263; Schilling in Großkomm. HGB, § 164 HGB Rz. 6; Hopt in Baumbach/Hopt, § 164 HGB Rz. 4; Schulze-Osterloh, BB 1980, 1402; Ulmer in FS Hefermehl, 1976, S. 207; Weipert in Ebenroth/Boujong/ Joost/Strohn, § 164 HGB Rz. 13. 17 BGHZ 170, 283 („OTTO“); K. Schmidt, ZGR 2008, 1; Hopt in Baumbach/Hopt, § 164 HGB Rz. 4.
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b) Änderungen des Gesellschaftsvertrages aa) Einführung Die Unterwerfung der Minderheit unter die Verbandsentscheidung ist nicht zu beanstanden, wenn Gegenstand der Verbandsentscheidung rechtliche Beziehungen zwischen dem Verband und Außenstehenden sind (Geschäftsführungsmaßnahmen) oder wenn es um die Ausführung von Organisationshandlungen geht, die die Verbandsverfassung selbst gebietet (Organisationsakte). Für solcherart Entscheidungen ergibt sich die Legitimation der Verbandskompetenz aus den §§ 709 Abs. 2 BGB, 119 Abs. 2 HGB. Auf ein vollkommen anderes rechtliches Spannungsfeld geraten wir jedoch, wenn die Änderung der Verbandsverfassung selbst einer Verbands- also Mehrheitsentscheidung unterworfen werden soll. Wiederum mag der vergleichende Blick auf das Recht der Körperschaften von Nutzen sein: die Körperschaft, wurde sie erst einmal durch staatlichen Verleihungsakt (öffentlichrechtliche Genehmigung, Registereintragung) existent, „verfasst“ sich selbst. Ihre die Verfassung berührenden Entscheidungen sind immer Verbandsentscheidungen und deshalb prinzipiell Mehrheitsentscheidungen, d. h., sie kommen immer (schon) mit der jeweils erforderlichen Mehrheit zustande. Die Verfassung der Personengesellschaft, ihr Gesellschaftsvertrag also, bleibt immer rechtsgeschäftliche Beziehung der Gesellschafter zueinander. Die Verfassungsänderungskompetenz des Verbands wäre bei der Personengesellschaft ein unzulässiger Eingriff in die Privatautonomie jedes Gesellschafters, wenn sie nicht durch rechtsgeschäftliche Willensäußerung jedes Mitglieds legitimiert ist. bb) Der Bestimmtheitsgrundsatz und die Kernbereichslehre Diese Feststellung war Ausgangspunkt der Lehre vom Bestimmtheitsgrundsatz, wie er mit überwiegender Billigung des Schrifttums durch die Rechtsprechung entwickelt wurde18: Selbst dann, wenn der Gesellschaftsvertrag Vertragsänderungen durch Mehrheitsbeschluss zulässt, ist die Wirksamkeit eines solchen Beschlusses davon abhängig, dass sich der Beschlussgegenstand unzweideutig – sei es auch nur im Wege der Auslegung – aus dem Gesellschaftsvertrag ergibt. Die Rechtsprechung setzte der Anwendbarkeit des Bestimmtheitsgrundsatzes Unter- und Obergrenzen. Das Bestimmtheitserfordernis als Wirksamkeitsvoraussetzung für vertragsändernde Mehrheitsbeschlüsse greift erst ein, wenn ein Beschluss über Vertragsänderungen beantragt wird, „deren Vornahme durch Mehrheitsbeschluss ganz ungewöhnlich ist“19, und die Beachtung des Bestimmtheitsgrundsatzes verliert ihre Legitimationswirkung für Mehrheitsentscheidungen, sobald mit der Anerkennung des Mehrheitsbeschlusses der „unangreif18 RGZ 91, 166 ff.; 151, 231 ff.; 163, 385 ff.; 8, 35 ff.; BGHZ 20, 363 ff.; BGH, WM 1975, 662 f.; BB 1976, 948; ZIP 1987, 1178; zuletzt BGHZ 170, 283 („OTTO“); K. Schmidt, Gesellschaftsrecht, § 16 II 2 b) (S. 454); K. Schmidt, ZGR 2008, 1; Schilling in Großkomm. HGB, § 163 HGB Rz. 4; Hopt in Baumbach/Hopt, § 119 HGB Rz. 37; Marburger, NJW 1984, 2252; Martens, DB 1973, 413/414; str.; vgl. zu den abweichenden Meinungen unten III. 3. b) dd). 19 BGHZ 8, 35, 41.
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bare Kernbereich“ von Mitgliedschaftsrechten berührt werden würde20. Um die Bestimmung dieses Grenzbereichs zwischen „gewöhnlichen“ Vertragsänderungen, die ohne vorherige Bestimmung des Beschlussgegenstandes im Gesellschaftsvertrag mehrheitlich beschlossen werden dürfen, und solchen Vertragsänderungen, die nie, auch dann nicht, wenn der Gesellschaftsvertrag das ausdrücklich vorsehen sollte, mit Mehrheit beschlossen werden könnten, mühte sich eine schier unerschöpfliche und vor allem kaum noch übersehbare Rechtsprechung 21. Trotz dieses unablässigen Bemühens der Rechtsprechung bleibt ein hohes Maß an Unvorhersehbarkeit in Bezug auf die richterliche Würdigung von Mehrheitsentscheidungen und damit ein ebenso hohes Maß an Rechtsunsicherheit für die gesellschaftsrechtliche Praxis. Diese half sich mit immer phantastischeren Auflistungen denkbarer, dem Mehrheitsentscheid unterworfener zukünftiger Vertragsänderungen im Gesellschaftsvertrag 22 und hebelte damit am Ende durch Überlastung des intellektuellen Fassungsvermögens der Parteien des Gesellschaftsvertrages die rechtspolitische Warnwirkung des Bestimmtheitserfordernisses selbst aus. Nach neuester Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs23 ist es auch zulässig, durch entsprechende Regelung im Gesellschaftsvertrag selbst den Bestimmtheitsgrundsatz generell rechtswirksam abzubedingen. Das würde nun in der Tat alles, was bisher zur Rechtfertigung dieses Grundsatzes ins Feld geführt wurde, ad absurdum führen, denn der Bestimmtheitsgrundsatz selbst macht nur Sinn, wenn er für die Gesellschafter nicht disponibel ist. cc) Neue Wege der Rechtsprechung – Publikumsgesellschaft und körperschaftlich strukturierte „große Kommanditgesellschaft“ Der Funktionszusammenhang zwischen Mehrheitsentscheidungen und konstitutioneller Anpassungsfähigkeit von körperschaftlich strukturierten Kommanditgesellschaften, namentlich großer Publikumsgesellschaften, zwang zu grundsätzlicher Infragestellung des Bestimmtheitsgrundsatzes: Die Versuche des Bundesgerichtshofs, der selbstgelegten Fessel des Bestimmtheitsgrundsatzes zu entkommen, haben einen phänomenologischen Ausgangspunkt, nämlich die Feststellung, dass Kommanditgesellschaften, die nach Anzahl und Interesse ihrer Gesellschafter eigentlich besser körperschaftlich verfasst wären, anders zu behandeln seien als Kommanditgesellschaften, deren Mitglieder durch ein persönliches Interesse mit der Tätigkeit der Gesellschaft und ihrem Schicksal verbunden sind. Anderenfalls würde es schon ihre Größe – gemessen an der Mitgliederzahl – praktisch unmöglich machen, das latent 20 Kellermann, Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Personengesellschaftsrecht, 2. Aufl. 1985, S. 5; Schilling in Großkomm. HGB, § 163 HGB Rz. 6; BGH, ZIP 1985, 407; WM 1985, 256; EWiR § 119 HGB 2/85, 183 (Kellermann). 21 Hopt in Baumbach/Hopt, § 119 HGB Rz. 38; Brändel in FS Stimpel, 1985, S. 95 ff.; BGH, ZIP 1994, 1942; und zuletzt (den Bestimmtheitsgrundsatz erneut bestätigend) BGHZ 170, 283 („OTTO“). 22 Von Günther, EWiR § 119 HGB 2/87, 999, zu Recht als „Kniffelproblem für die gesellschaftsrechtliche Kautelarpraxis“ bezeichnet. 23 BGHZ 85, 350/359; BGH, ZIP 1987, 1178 gegen BGHZ 8, 35. Kritisch hierzu Marburger, ZGR 1989, 146/153.
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vorhandene Problem der Anpassung ihrer Verfassung (Gesellschaftsvertrages) an veränderte Rahmenbedingungen zu lösen. Die Abgrenzung zwischen der „körperschaftlich“ strukturierten und der „personalistisch“ strukturierten Kommanditgesellschaft soll Unterschiede in der Intensität der Anwendung des Bestimmtheitsgrundsatzes rechtfertigen. In mittlerweile ständiger Rechtsprechung vertritt der Bundesgerichtshof die Auffassung, dass jedenfalls bei Publikumsgesellschaften eine vollständige Kompetenzverlagerung für Änderungen des Gesellschaftsvertrages vom Gesellschafter auf den Verband ohne Beachtung des Bestimmtheitsgrundsatzes zulässig ist, weil das gesetzliche Leitbild der einstimmigen Gesellschafterentscheidung bei dieser Art Gesellschaften nicht überzeuge und weil deshalb auch keine Notwendigkeit bestehe, an der Beachtung des Bestimmtheitsgrundsatzes als „antizipierter Zustimmung“ zu späteren Änderungen des Gesellschaftsvertrages durch Mehrheitsbeschluss festzuhalten 24. Mit diesem Schritt korrespondiert der auf § 242 BGB gestützte Kontrollvorbehalt der Gerichte in Bezug auf den Inhalt von Publikumsgesellschaftsverträgen und ihren mehrheitlich beschlossenen Änderungen 25: Den Gerichten wird erlaubt, auf der Ebene des Gesellschaftsvertrages zurechtzurücken, was sich im konkreten Fall als Mehrheitsmissbrauch erweist. Was zunächst für klassische Publikumsgesellschaften 26 entwickelt wurde, übertrug der Bundesgerichtshof später auch auf andere Kommanditgesellschaften (größere Familiengesellschaften), die durch ihre nach Mitgliederzahl bemessene „Größe“ und ihre körperschaftliche Verfassung vom gesetzlichen Leitbild abweichen 27. Bei anderen Kommanditgesellschaften, solchen also, die weder wegen der Anzahl ihrer Kommanditisten noch mit Rücksicht auf ihre den körperschaftlichen Strukturen angepasste Verfassung eine ausschließliche Verbandskompetenz für verfassungsändernde Beschlüsse erforderten, den sog. „personalistischen Personengesellschaften“28, soll die Fortgeltung des Bestimmtheitsgrundsatzes weiterhin ihren Sinn haben. Damit fügte der Bundesgerichtshof den alten Begründungsproblemen ein neues hinzu, nämlich die Schwierigkeit der Abgrenzung zwischen denjenigen Gesellschaften, die von der Beachtung des Bestimmtheitsgrundsatzes entbunden, jedoch zugleich dem Satzungskontrollvorbehalt der Gerichte unterworfen sind, und jenen anderen Gesellschaften, bei denen der Bestimmtheitsgrundsatz als nicht-normatives zusätzliches Tatbestandsmerkmal für die Rechtswirksamkeit von vertragsändernden Mehrheitsentscheidungen weiterhin maßgeblich sein soll. Vollends veränderte sich die Szene durch Anwaltsgesellschaften desjenigen Typs, der die Partnerschaftsgesellschaft unseres Jubilars angehört. Sie sind weder Publikumsgesellschaften noch andere „große“ Kommanditgesellschaften, sondern klassische Personengesellschaften mit ausschließlich geschäftsführungsbefug-
24 BGHZ 66, 82, 85 f.; 69, 160, 165 f.; 71, 53, 58 f.; 85, 356 f.; Kraft in FS Fischer, 1979, S. 326 f.; Hüffer, JuS 1969, 461 und die Übersicht bei K. Schmidt, Gesellschaftsrecht, § 16 II 2 d) (S. 456 ff.). 25 BGHZ 64, 238 ff.; 84, 11; BGH, ZIP 1982, 692; ZIP 1984, 59; WM 1988, 23/25; ZIP 1988, 906. 26 Zum Begriff: Stimpel in FS Fischer, 1979, S. 771; Kellermann in FS Stimpel, 1985, S. 295 f.; Hopt in Baumbach/Hopt, Anh. § 177a HGB Rz. 52. 27 BGHZ 85, 350 ff. 28 K. Schmidt, Gesellschaftsrecht § 16 II 2 d) aa) (S. 456).
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ten persönlich haftenden Gesellschaftern in einer Zahl, die das gesellschaftsrechtliche Problem der Entscheidungsfähigkeit ins Unermessliche steigert. Dass das weitere Tatbestandsmerkmal, nämlich die „Größe“ der Gesellschaft, gemessen an der Anzahl ihrer Mitglieder, sich für die Kautelarpraxis jeder Vorhersehbarkeit entzieht, bedarf keiner Begründung. Was „Größe“ ist, entscheidet im Zweifel die letzte Instanz, weil die Feststellung von „Größe“ kein Problem der Tatsachenermittlung, sondern offenbar der rechtlichen Wertung ist29. Die Frage, ob Änderungen der Verbandsverfassung dem Verband als solchem und damit der Mehrheitskompetenz zugewiesen werden dürfen, ist, darüber besteht Einigkeit, immer noch nicht zufriedenstellend beantwortet worden. dd) Die Kritik der modernen Lehre Die dogmatische Begründung der Rechtsprechung zum Bestimmtheitsgrundsatz ist unklar und deshalb höchst umstritten. Diese Rechtsprechung ist von dem Versuch geprägt, die Möglichkeit der Verbandskompetenz bei der Entscheidung über Fragen der Verbandsverfassung zu rechtfertigen und dennoch die individuelle Rechtsbeziehung zwischen Gesellschafter und Gesellschaft dem Selbstbestimmungsrecht des Gesellschafters zu erhalten. Wenn man anerkennt, dass die Unterwerfung der Gesellschafter unter das Mehrheitsprinzip für Entscheidungen über Änderungen des Gesellschaftsvertrages Kompetenzverlagerung von der Individualzuständigkeit zur Verbandszuständigkeit ist 30, und wenn man billigt, dass jedem Gesellschafter die endgültige Aufgabe seines Selbstbestimmungsrechtes in bezug auf sein Rechtsverhältnis zur Gesellschaft und den Mitgesellschaftern sowie in bezug auf die Gesellschaftsverfassung selbst erlaubt ist 31, dann gibt es für den Bestimmtheitsgrundsatz, wie er zuletzt der Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom 15.6.198732 zugrunde gelegt wurde, keine dogmatische Begründungsmöglichkeit. Als Grundlage des Bestimmtheitserfordernisses kommt nur noch eine rechtspolitische Erwägung in Betracht, vergleichbar mit zwingenden Formerfordernissen, wie den Bestimmungen in § 311b n. F. BGB oder § 15 GmbHG (Warnfunktion). Die Beachtung des Bestimmtheitsgrundsatzes in dieser Ordnungsfunktion hält der Bundesgerichtshof nur bei sog. personalistischen Kommanditgesellschaften für geboten. Sog. „große“ kapitalistische Kommanditgesellschaften mit körperschaftlicher Organisationsstruktur erfahren diesen Schutz nicht, weil erkannt wurde, dass
29 Im Urteil des Bundesgerichtshof vom 15.6.1987 (ZIP 1987, 1178 ff.) feierte der Bestimmtheitsgrundsatz fröhliche Urständ, obwohl es sich um den verfassungsändernden Mehrheitsbeschluss der Gesellschafterversammlung einer Kommanditgesellschaft handelte, die vor 50 Jahren durch Umwandlung aus einer KG a. A. entstanden war und 65 Gesellschafter hatte, darunter wiederum einige Personen- und Kapitalgesellschaften, in denen die Interessen weiterer (mittelbarer) Gesellschafter zusammengefasst waren. 30 Diesen Zusammenhang hat vor allem K. Schmidt, Gesellschaftsrecht § 16 II 2 d) (S. 456) im Anschluss an Bötticher, Gestaltungsrecht und Unterwerfung im Privatrecht, 1964, S. 28 ff., treffend herausgearbeitet. 31 So BGHZ 8, 35 ff. und BGHZ 20, 363, 369 und – für die Disponibilität des Bestimmtheitsgrundsatzes selbst – BGHZ 85, 350/359; BGH, ZIP 1987, 1178. 32 ZIP 1987, 1178 ff.; EWiR § 119 HGB 2/87, 999 (Günther).
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damit die Möglichkeit blockiert werden würde, die Verfassung der Gesellschaft, ihren Gesellschaftsvertrag also, veränderten Umständen anzupassen33. Tatsächlich entzog der Bundesgerichtshof mit der unterschiedlichen Behandlung sog. personalistischer Kommanditgesellschaften, einerseits, und sog. kapitalistischer und körperschaftlich strukturierter Personengesellschaften, andererseits, seiner Lehre vom Bestimmtheitsgrundsatz die logische Basis: der Bestimmtheitsgrundsatz wurde – seine vielfach wechselnden dogmatischen Begründungen belegen dies – stets „durch seinen Zweck geheiligt“; er diente als Sperrwerk gegen die Überrumpelung von Minderheiten durch Mehrheitsentscheidungen. Wenn man ihn – zutreffend – gerade bei „körperschaftlich strukturierten“ Personengesellschaften als unverwendbar außer acht lässt, erweist er sich in Wahrheit als untaugliches Mittel zur Kontrolle von Mehrheitsmacht. Die „körperschaftliche Verfassung“ ist nämlich bei genauer Betrachtung nichts Ungewöhnliches, sondern die natürliche Konsequenz aus dem Bekenntnis zur Verbandskompetenz – also zum Mehrheitsprinzip. Wer die Notwendigkeit der zustimmenden Willensentscheidung jedes Gesellschafters beseitigt, muss sich zwingend einer Verfahrensordnung zur Herbeiführung von Verbandsentscheidungen unterwerfen; nur die danach mit den Techniken der körperschaftlichen Verfassung herbeigeführte Mehrheitsentscheidung ist eine wirksame Entscheidung. Zu Recht haben in diesem Zusammenhang Wiedemann 34 und Schilling35 herausgearbeitet, dass die Beteiligung aller Gesellschafter an verfassungsändernden Mehrheitsentscheidungen deren zwingende Wirksamkeitsvoraussetzung ist und nicht durch Stimmrechtsausschlüsse entbehrlich gemacht werden darf, und zwar grundsätzlich und nicht nur dann, wenn die den Gesellschaftsvertrag ändernde Entscheidung einen Eingriff in die Gesellschafterstellung zum Gegenstand hat 36. Es ist eben entscheidend die Ersetzung des Selbstbestimmungsrechts der Gesellschafter durch die Verbandskompetenz, was die sog. körperschaftliche Verfassung der Personengesellschaft ausmacht. Deshalb durfte nie gefragt werden, ob die körperschaftliche Verfassung einer Personengesellschaft die Freistellung vom Bestimmtheitsgrundsatz rechtfertigt. Es sind überhaupt nur die körperschaftliche Verfassung und die darin verankerte Verbands-Mehrheitskompetenz, die Anlass für die Entwicklung des Bestimmtheitsgrundsatzes waren; deshalb kann eben diese Verfassung nun nicht Grund für dessen Abschaffung sein. Entscheidend ist nach allem – wie eh und je – die Frage, ob das Recht der Personengesellschaften überhaupt eine Zuweisung der Verfassungsänderungskompetenz an den Verband selbst und damit begriffsnotwendig an die Mehrheit zulässt. Die Praxis näherte sich der Beantwortung dieser Frage stets unter pragmatischen Gesichtspunkten. Die Mehrheitskompetenz sollte legitim sein, wenn das Einstimmigkeitsprinzip notwendige Anpassungen der Verbandsverfassung an veränderte Umstände praktisch verhindern würde. Dies ist die eigentliche Grundlage der im Ergebnis begrüßenswerten Rechtsprechung über die Mög-
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BGHZ 85, 350 ff. Gesellschaftsrecht, Bd. 1, § 7 II 1 a) (S. 369) sowie in FS H. Westermann, 1974, S. 595. Schilling in Großkomm. HGB, § 163 HGB Rz. 10. Anders noch BGHZ 8, 35 f.; 20, 363 f.
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lichkeit der mehrheitlichen Änderung von Gesellschaftsverträgen bei Personengesellschaften, in denen die Streuung des Anteilsbesitzes eine Vermutung dafür rechtfertigt, dass Änderungen der Verbandsverfassung in der Regel das Beteiligungsinteresse der Mitglieder gar nicht berühren. Eine dogmatisch nachvollziehbare Begründung ist das nicht. Flume versuchte sie, indem er in der Personengesellschaft zwischen „korporativen Elementen“, einerseits, und persönlichen Beziehungen zwischen Gesellschafter und Gesellschaft, andererseits, glaubte unterscheiden zu dürfen37. Er erklärte die korporativen Elemente des Gesellschaftsvertrages voraussetzungslos für durch Mehrheitsbeschluss änderungsfähig, während all diejenigen Änderungen, die in die persönliche Rechtsbeziehung zwischen Gesellschafter und Gesellschaft eingreifen, nie ohne Zustimmung des betroffenen Gesellschafters möglich sein sollen. Nach Flume sollen Entscheidungen über Änderungen, die den „Status der Gesellschaft betreffen, so die Auflösung, die Aufnahme oder Entlassung von Gesellschaftern, die Umwandlung einer oHG in eine KG, die Umwandlung einer Personengesellschaft in eine Kapitalgesellschaft“ und auch die Änderung des Zwecks der Gesellschaft dem Bereich der korporativen Elemente zuzurechnen und deshalb dem Mehrheitsprinzip unterwerfbar sein38. Das ist nicht verständlich. Natürlich gibt es Entscheidungen, die der Ausführung von konstitutionellen Handlungsanordnungen dienen. Das sind die Organisationsakte (vgl. oben unter III. 3. a)). Solche Entscheidungen müssen in jedem Verband getroffen werden, einerlei, ob personengesellschaftlich oder körperschaftlich organisiert. Das Gebot, bestimmte, das Verbandsleben überhaupt erst ermöglichende Entscheidungen mit Mehrheit, also gegen einzelne, zu treffen, unterscheidet den Verband vom Individuum. Wo dies Gebot gilt, ist die Verbandsentscheidung im Gegensatz zur übereinstimmenden Individualentscheidung problemlos und voraussetzungslos anzuerkennen, und die Gegenstände von solcherart Verbandsentscheidungen könnte man durchaus als „korporative Elemente“ bezeichnen. Im Zusammenhang mit den Personengesellschaften jedoch von „korporativen Elementen“ zu sprechen, wenn Fragen, wie die Existenz der Gesellschaft (Entscheidung über die Auflösung) oder Entlassung und Aufnahme von Mitgliedern, einschließlich persönlich haftender Gesellschafter, oder Rechtsformänderungen oder Änderungen des Unternehmensgegenstandes berührt sind, widerspricht dem Umstand, dass die Verfassung der Personengesellschaft als solche, ihre mitgliedschaftliche Zusammensetzung und ihre Zwecksetzung Resultat unmittelbaren rechtsgeschäftlichen Wollens ihrer Mitglieder sind und bleiben. Dieser Überlegung trägt die von Ulmer/Schäfer 39 vertretene Meinung Rechnung, nach der im Gesellschaftsvertrag vorgesehene Mehrheitsentscheidungen über Änderungen des Gesellschaftsvertrages zulässig sein sollen, solange mit der Vertragsänderung nicht in den sog. Kernbereich der Mitgliedschaft von 37 Personengesellschaft, § 14 III (S. 216 ff.). 38 Personengesellschaft, § 14 III (S. 216 f.) m. H. auf H. Westermann in FS Hengeler, 1972, S. 240 ff. 39 Ulmer/Schäfer in MünchKomm. BGB, § 709 BGB Rz. 91; auch Hadding, ZGR 1979, 363/369.
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Gesellschaftern eingegriffen wird. Das ist die Preisgabe des Bestimmtheitsgrundsatzes unter Beibehaltung der Kernbereichslehre. Es bleibt die offene Frage nach dem Inhalt des Kernbereichs der Gesellschafterrechte. Die Gegenposition bezogen Wiedemann40 und Schilling41, die jedem Gesellschafter für jederart Änderung des Gesellschaftsvertrages einen unentziehbaren Zustimmungsvorbehalt gewähren und damit die Möglichkeit einer Kompetenzverlagerung auf den Verband (d. h. von Mehrheitsentscheidungen) bei Änderungen der Verbandsverfassung, ausschließen. Sie verschieben das Problem damit auf die Auseinandersetzung mit der Pfl ichtwidrigkeit einer Zustimmungsverweigerung im Hinblick auf das gesellschaftsrechtliche Treuegebot42. Die Umkehrung dieser Vorstellung lässt es ohne Einschränkung zu, dass sich jeder Gesellschafter im Gesellschaftsvertrag dem „demokratischen Mehrheitsprinzip“43 auch für Änderungen des Gesellschaftsvertrages unterwirft. Nach dieser Auffassung kann der Rückblick auf den Bestimmtheitsgrundsatz allenfalls Auslegungshilfe bei der Ermittlung des Unterwerfungswillens sein44. Brändel stellt die richtige Frage: es kann nicht darum gehen, ob die auch für den Fall von Vertragsänderungen im Gesellschaftsvertrag vorgesehene Verbands- also Mehrheitskompetenz als Verzicht auf den Bestimmtheitsgrundsatz ausgelegt werden darf45. Zu entscheiden ist nur, ob man den Bestimmtheitsgrundsatz als unverzichtbaren Bestandteil des Minderheitenschutzes aufrechterhalten will46 oder ob man an die Beachtung des Bestimmtheitsgrundsatzes im Gesellschaftsvertrag die Folgerung knüpft (argumentum e contrario), dass die Mehrheitskompetenz nur für die im einzelnen aufgeführten Beschlussgegenstände gewollt sei, sonst aber nicht gelte. Will man letzteres, dann kann es keine Schwierigkeiten geben, eine gesellschaftsvertragliche Bestimmung anzuerkennen, die für alle Änderungen des Gesellschaftsvertrages eine Mehrheitsentscheidung des Kollektivs erfordert, aber auch genügen lässt. Mit der „OTTO“-Entscheidung ist die aktuelle Rechtsprechung des BGH diesen Weg nicht gegangen. Der Bestimmtheitsgrundsatz wird vielmehr weiterhin als probates Mittel zur Bestimmung derjenigen Entscheidungsbereiche angesehen, innerhalb derer Mehrheitsentscheidungen zulässig sein sollen47. Neu ist daran nur der Verzicht auf die Forderung nach Defi nition aller Tatbestandsdetails, die im Gesellschaftsvertrag beschrieben sein müssen, damit der Bestimmtheitsgrundsatz wirkt. Dem Bestimmtheitsgrundsatz soll vielmehr genügt sein, wenn sich wenigstens im Wege der Auslegung ermitteln lässt, wann und wo Mehrheitsentscheidungen gewollt sind. Wenn solche Feststellung möglich ist, wenn also angenommen werden darf, dass der überstimmte Gesellschafter auf die Beachtung des ihn schützenden Einstimmigkeitsprinzips verzichtete, 40 41 42 43 44
Gesellschaftsrecht, Bd. I, § 7 II 1 (S. 369). Schilling in Großkomm. HGB, § 163 HGB Rz. 10. So auch Wiedemann, Gesellschaftsrecht, Bd. I, § 8 I 2 a) (S. 412). Brändel in FS Stimpel, 1985, S. 103. Der BGH hat diese Konsequenz nach erster Andeutung in BGHZ 85, 350 jetzt mit aller Deutlichkeit gezogen: BGHZ 170, 283 („OTTO“). 45 So gegen BGHZ 8, 35 nunmehr BGHZ 85, 350, 359 und BGH, ZIP 1987, 1178 ff. 46 So BGHZ 8, 35 und die darauf folgende Rechtsprechung des BGH. 47 BGHZ 170, 283.
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soll auf einer zweiten Stufe geprüft werden, ob der Beschluss formal wirksam ist und keine unverzichtbaren Gesellschafterrechte verletzt48. Ob der BGH mit dieser neuesten Rechtsprechung dem Hauptanliegen der Kautelarpraxis, Prognosesicherheit für die Gestaltung von Gesellschaftsverträgen zu schaffen, gedient hat, darf füglich bezweifelt werden. In seiner früheren Rechtsprechung zur Mehrheitskompetenz bei Personengesellschaften griff der Bundesgerichtshof im Wege der Analogie auf die Regelungen über den Minderheitenschutz im Recht der Kapitalgesellschaften, also derjenigen Verbände zurück, in denen die Verbandskompetenz für Änderungen der Verbandsverfassung unvermeidlich ist. Darin dürfte auch heute noch der richtige und zweckmäßige Ansatz liegen. Diese Grundsätze des Minderheitenschutzes im Recht der Kapitalgesellschaften lassen sich unter folgenden Stichworten zusammenfassen: – Keinem Gesellschafter darf ohne seine Zustimmung ein Sonderrecht entzogen werden. – Die Vermehrung von Pflichten und/oder Erweiterung von Haftungen eines Gesellschafters ist nicht ohne dessen Zustimmung möglich (§ 53 Abs. 3 GmbHG). – Eine Beeinträchtigung der vermögenswerten Rechte aus der Mitgliedschaft ist ohne Zustimmung des betroffenen Gesellschafters nur bei angemessenem Wertausgleich möglich (Anknüpfung an die Rechtsgedanken in den §§ 243 Abs. 2 Satz 2, 258 ff., 304 ff. und 317 AktG)49. – Ohne Zustimmung aller betroffenen Gesellschafter ist keine Veränderung der Stimmrechtsqualität möglich (Anknüpfung an den Rechtsgedanken in § 53 Abs. 2 Satz 2 GmbHG und § 179 Abs. 2 Satz 2 AktG). Der Zustimmungsvorbehalt des betroffenen Gesellschafters bei Mehrheitsentscheidungen über die Entziehung von Sonderrechten oder die Erweiterung von Pfl ichten und Haftungen entspricht seit der Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom 14.5.195650 der ständigen Rechtsprechung und der herrschenden Lehre. Der Grundsatz, eine Veränderung (Beeinträchtigung) der vermögensbezogenen Rechte eines Gesellschafters aus der Mitgliedschaft durch Mehrheitsbeschluss ohne Zustimmungsvorbehalt des betroffenen Gesellschafters zuzulassen, wenn ein angemessener Ausgleich erfolgt, hat sich im Aktienrecht bewährt. Im Recht der Personengesellschaften ermöglicht er notwendige Mehrheitsentscheidungen über vor allem die Anpassung der Gesellschafterzusammensetzung und der Kapitalausstattung an veränderte Erfordernisse. Ihm würde z. B. Rechung getragen werden, wenn die mit der Aufnahme eines weiteren Gesellschafters verbundene relative Verringerung der vermögensbezogenen Rechte aller alten Gesellschafter durch eine angemessene Einlageleistung des eintretenden Gesellschafters ausgeglichen wird.
48 Goette in Ebenroth/Boujong/Joost/Strohn, § 119 HGB Rz. 59. 49 Ulmer in Großkomm. HGB, § 105 HGB Rz. 242; BGH, NJW 1980, 231/232. 50 BGHZ 20, 363, 369/370.
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Das Verbot, die gesellschaftsvertraglich festgelegte Stimmrechtsqualität ohne Zustimmung aller davon betroffenen Gesellschafter zu verändern, erscheint notwendig, weil die Stimmrechtsmacht selbst wichtigstes Steuerungsmittel für die Herbeiführung von Mehrheiten ist. Mit dieser Begründung wäre z. B. die Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom 15.6.198751 verständlich gewesen, weil es dort um die Mehrheitsentscheidung über eine Herabsetzung des für Änderungen des Gesellschaftsvertrages mindestens erforderlichen Stimmenanteils von 75 % auf 60 % ging: in Zukunft sollten 60 % der Gesellschafterstimmen dasselbe bewirken können, wie bisher 75 %. Damit wurde die Mitentscheidungsbefugnis einer abstrakten Minderheit zum Vorteil der Stimmrechtsmacht einer ebenso abstrakten Mehrheit verringert. Die darin liegende Beeinträchtigung der Stimmrechtsqualität auf Seiten der (abstrakten) Minderheit ist nur mit Zustimmung jedes Gesellschafters zuzulassen. Die hiermit empfohlene Übernahme des Minderheitenschutzes aus dem Recht der Kapitalgesellschaften ist die Konsequenz aus der Angleichung der Kompetenzzuordnung für verfassungsändernde Entscheidungen an das Recht der Kapitalgesellschaften. Sie ist keine Alternative zur Beschränkung der Mehrheitsmacht unter dem Gesichtspunkt der gesellschaftsrechtlichen Treuepflicht, sondern eine Konkretisierung der letzteren im Bereich dessen, was zumindest gewährleistet werden muss. In diesem Bereich könnte sie zur dringend notwendigen Rückgewinnung der durch die bisherige Rechtsprechung weitgehend verlorengegangenen Prognosesicherheit der Kautelarpraxis beitragen.
51 ZIP 1987, 1178 ff.
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Haftung ausgeschiedener OHG-Gesellschafter für öffentlichrechtliche Gesellschaftsverbindlichkeiten* Inhaltsübersicht I. Haftung des OHG-Gesellschafters gemäß § 128 Satz 1 HGB 1. Haftung für zivilrechtliche Gesellschaftsverbindlichkeiten 2. Haftung für öffentlichrechtliche Gesellschaftsverbindlichkeiten a) Haftung für Steuerverbindlichkeiten der Gesellschaft b) Haftung für Rückforderung von Subventionen c) Heranziehung zu Sanierungsmaßnahmen nach BundesBodenschutzgesetz d) Haftung für Geldbußen
e) Klageweise Geltendmachung der Gesellschafterhaftung durch die Verwaltungsbehörde II. Haftung des ausgeschiedenen Gesellschafters 1. Grundsatz 2. Haftung für zivilrechtliche Gesellschaftsverbindlichkeiten 3. Haftung für öffentlichrechtliche Gesellschaftsverbindlichkeiten a) Abgrenzung zwischen Alt- und Neuverbindlichkeiten b) Enthaftung nach § 160 Abs. 1 HGB III. Zusammenfassung
I. Haftung des OHG-Gesellschafters gemäß § 128 Satz 1 HGB 1. Haftung für zivilrechtliche Gesellschaftsverbindlichkeiten Nach § 128 Satz 1 HGB haften OHG-Gesellschafter für die Verbindlichkeiten der Gesellschaft den Gläubigern als Gesamtschuldner persönlich. Diese persönliche Haftung der Gesellschafter dient dem Gläubigerschutz und macht – jedenfalls nach der Systematik des geltenden Gesellschaftsrechts – ein Mindestgesellschaftskapital sowie ergänzende Bestimmungen zur Kapitalaufbringung und -erhaltung entbehrlich. Die Vorschrift des § 128 Satz 1 HGB weist den Gesellschaftern eine bürgenähnliche Rechtsstellung zu. Sie können wie der Bürge aus der von der Hauptschuld zu trennenden Bürgschaftsverpfl ichtung in Anspruch genommen werden. Anspruchsgrundlage für ihre Inanspruchnahme ist § 128 Satz 1 HGB. Scheidet ein Gesellschafter aus der Gesellschaft aus, so beseitigt dies nicht seine bereits eingetretene Haftung. Er haftet jedoch nach § 160 Abs. 1 Satz 1 HGB nur noch für die „bis dahin begründeten Verbindlichkeiten“, also für die bis zu seinem Ausscheiden begründeten Verbindlichkeiten (sog. Altverbindlichkeiten). Für diese haftet er zeitlich begrenzt, bis ihm die fünfjährige Nachhaftungsbegrenzung des § 160 HGB zugute kommt. Für so genannte Neu* Für weiterführende Diskussion danke ich meinem Partner Dr. Thomas SchmidtKötters sowie Herrn Rechtsanwalt Dr. Helge Rieckhoff.
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verbindlichkeiten der Gesellschaft, also für Gesellschaftsverbindlichkeiten, die nach seinem Ausscheiden begründet worden sind, haftet der ausgeschiedene Gesellschafter nicht mehr. Der Hauptanwendungsbereich der persönlichen Haftung des OHG-Gesellschafters und seiner Nachhaftung liegt sicherlich auf dem Gebiet der zivilrechtlichen Gesellschaftsverbindlichkeiten. Er haftet insoweit sowohl für rechtsgeschäftliche Verbindlichkeiten als auch für Ansprüche von Gesellschaftsgläubigern aus gesetzlichen Schuldverhältnissen wie Geschäftsführung ohne Auftrag, ungerechtfertigte Bereicherung und Delikt. Für die Abgrenzung von Altverbindlichkeiten und Neuverbindlichkeiten, für die der ausgeschiedene Gesellschafter nicht mehr haftet, sind allgemein anerkannte Kriterien entwickelt worden, auf die hier verwiesen werden kann1. 2. Haftung für öffentlichrechtliche Gesellschaftsverbindlichkeiten Für die Haftung des OHG-Gesellschafters für öffentlichrechtliche Gesellschaftsverbindlichkeiten gelten nach ganz herrschender Meinung gegenüber der Haftung für zivilrechtliche Gesellschaftsverbindlichkeiten keine Besonderheiten. Zu § 128 Satz 1 HGB wird in der gesellschaftsrechtlichen Literatur allgemein pauschal angeführt, dass die OHG-Gesellschafter „auch für öffentlich rechtliche Verbindlichkeiten der Gesellschaft, für Steuerschulden somit ebenso wie für Rückgewähr von Subventionen und gegen die Gesellschaft verhängte Geldbußen“ 2 sowie für Beitragsforderungen eines Sozialversicherungsträgers3 haften. Diese pauschale Gleichstellung von zivilrechtlichen und öffentlichrechtlichen Gesellschaftsverbindlichkeiten fi ndet eine Rechtfertigung in § 160 Abs. 1 Satz 1, 2. Halbsatz HGB. Dort wird die fünfjährige Enthaftung für „öffentlichrechtliche Verbindlichkeiten“ durch „Erlass einer Verwaltungsakts“ vor Ablauf der Fünfjahresfrist ausgeschlossen. Weitere Ausführungen zur Thematik der Gesellschafterhaftung für öffentlichrechtliche Gesellschaftsschulden sucht man in der Literatur vergebens. Dies hat wohl seinen Grund in dem Normzweck von § 128 Satz 1 HGB und seinem eindeutigen Wortlaut sowie in der ausdrücklichen Erwähnung öffentlichrechtlicher Verbindlichkeiten in § 160 Abs. 1 Satz 1 HGB. Zur Nachhaftung eines ausgeschiedenen Gesellschafters für öffentlichrechtliche Gesellschaftsverbindlichkeiten fi nden sich – soweit ersichtlich – in der Literatur überhaupt keine Ausführungen, also auch nicht zur Frage der Abgrenzung von Alt- und Neuverbindlichkeiten sowie zur Begrenzung der Nachhaftung nach § 160 HGB.
1 Vgl. nur Habersack in Staub, 5. Aufl. 2009, § 128 HGB Rz. 60 ff.; K. Schmidt in MünchKomm. HGB, 3. Aufl. 2009, § 128 HGB Rz. 47 ff. 2 Habersack in Staub (Fn. 1) § 128 HGB Rz. 10 a. E.; ähnlich K. Schmidt in MünchKomm. HGB(Fn. 1), § 128 HGB Rz. 10; ebenso für Steuerschulden der Gesellschaft Baumbach/ Hopt, 34. Aufl. 2010, § 128 HGB Rz. 2; hierzu aus der Rechtsprechung BGHZ 165, 85, 90 f.; BFH, NJW-RR 2006, 1696 Rz. 17; BFH, NZI 2002, 173, 174; BFH, BStBl. II 1987, 363. 3 BSG, MDR 1976, 962 (für die § 128 Satz 1 HGB entsprechende Vorschrift des § 176 HGB). Ebenso für Erschließungskosten, vgl. OVG Münster, NVwZ-RR 2003, 149 und VG Schleswig, NZG 2004, 184.
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Dieser Befund erstaunt, da sowohl zur Grundfrage der Haftung des Gesellschafters nach § 128 Satz 1 HGB für öffentlichrechtliche Gesellschaftsschulden als auch zur Frage der Nachhaftung ausgeschiedener OHG-Gesellschafter eine umfangreiche Judikatur besteht. Allerdings handelt es sich vorwiegend um fi nanzgerichtliche und verwaltungsgerichtliche Entscheidungen, vor deren Analyse der Gesellschaftsrechtler aus nachvollziehbaren Gründen zurückschreckt. Ein Blick über den Tellerrand des Gesellschaftsrechts fördert, dies sei vorweg gesagt, für den Gesellschaftsrechtler Erstaunliches zutage. Der Verfasser hofft, mit einer Untersuchung im Grenzgebiet von Gesellschaftsrecht und öffentlichem Recht das besondere Interesse des Jubilars zu wecken. Hans-Jürgen Hellwig haben Mandate mit öffentlich rechtlichem und zugleich gesellschaftsrechtlichem Bezug stets besonders fasziniert. Ich denke an verschiedene Privatisierungsmandate, die vom Jubilar nur mit voller Präsenz sowohl im öffentlichen Recht als auch im Gesellschaftsrecht interessengerechten Lösungen zugeführt werden konnten. Den Zugang zum Untersuchungsgegenstand erleichtert sich der Gesellschaftsrechtler durch ein induktives Herangehen an das Thema. Hierzu bietet die umfangreiche einschlägige Rechtsprechung zur Haftung persönlich haftender Gesellschafter im Steuerrecht, aber auch im Subventionsrecht und im Umweltrecht den geeigneten Einstieg. a) Haftung für Steuerverbindlichkeiten der Gesellschaft Soweit die OHG selbst – wie z. B. im Umsatzsteuerrecht und im Gewerbesteuerrecht – Steuerschuldnerin ist, setzt das Finanzamt bzw. der sonst zuständige Steuergläubiger die Steuer gegenüber der OHG als Selbstschuldnerin durch Bescheid fest. Die Gesellschafter haften dem Steuergläubiger neben der Gesellschaft persönlich nach § 128 Satz 1 HGB für die von ihr geschuldeten Steuern4 und steuerlichen Nebenleistungen5. Der Steuergläubiger kann diesen Haftungsanspruch nicht einfach unter Berufung auf § 128 Satz 1 HGB gegenüber den Gesellschaftern durch Steuerbescheid geltend machen. Für den Erlass eines Bescheids (Verwaltungsakt) bedarf der Steuergläubiger einer gesetzlichen Grundlage. Diese Rechtsgrundlage ist nicht die zivilrechtliche Norm des § 128 Satz 1 HGB, sondern § 191 Abs. 1 AO. Nach § 191 Abs. 1 Satz 1 AO kann durch Haftungsbescheid in Anspruch genommen werden, wer kraft Gesetzes für eine Steuer haftet. Steuerschuldnerin ist die OHG. Nur ihr gegenüber kann der Steuerbescheid ergehen. Die Gesellschafter haften nach § 128 Satz 1 HGB, also kraft Gesetzes, für die Steuern der OHG. Sie sind somit steuerrechtlich gemäß § 191 Abs. 1 AO Haftungsschuldner. Auf der Grundlage des § 191 Abs. 1 AO kann der Steuergläubiger daher wegen eines Steuerschuld der OHG einen Haftungsbescheid gegen die Gesellschafter erlassen. Voraussetzung ist, dass eine Steuerschuld der OHG besteht und der Steuergläubiger zuvor einen Steuerbescheid gegen die OHG erlassen hat (§ 191 Abs. 5 Nr. 1 AO).
4 BGHZ 165, 85, 90 f.; BFH, BStBl. II 1987, 363; FG Hamburg, EFG 2000, 1045, 1046 sowie EFG 2000, 1047. 5 BFH, BStBl. II 1987, 363; FG Hamburg, EFG 2000, 1047.
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§ 191 Abs. 1 AO ist die gesetzliche Grundlage für den Erlass eines Haftungsbescheids gegen einen OHG-Gesellschafter. Tatbestandsvoraussetzung dieser Norm ist, dass eine Person „kraft Gesetzes für eine Steuer haftet (Haftungsschuldner)“. Die Haftung kraft Gesetzes für eine Steuer ergibt sich für den OHG-Gesellschafter aus § 128 Satz 1 HGB. Trotz dieser materiellrechtlichen Haftungsnorm könnte der Steuergläubiger ohne die Verfahrensvorschrift des § 191 Abs. 1 AO die Haftungsschuld des Gesellschafters nicht durch Bescheid (Verwaltungsakt) geltend machen. § 191 Abs. 1 AO ist insoweit die Transformationsvorschrift, mit der die gesellschaftsrechtliche Haftung des OHGGesellschafters in das Steuerrecht transformiert wird. Sie ist damit Ermächtigungsgrundlage für die Durchsetzung der Haftungsschuld des Gesellschafters nach § 128 Satz 1 HGB durch Bescheid. Ohne die verfahrensrechtliche Vorschrift des § 191 Abs. 1 AO wäre der Steuergläubiger an der Geltendmachung der Steuerschuld gegenüber dem Haftungsschuldner, also dem nach § 128 Satz 1 HGB haftenden OHG-Gesellschafter, durch Bescheid gehindert. Er wäre gezwungen, den Anspruch aus § 128 Satz 1 HGB im Klagewege gegen den OHG-Gesellschafter geltend zu machen6. b) Haftung für Rückforderung von Subventionen Die klassische Entscheidung der Fallgruppe Haftung für Rückforderung von Subventionen ist das Urteil des OVG Koblenz vom 11.3.19867. Vereinfacht dargestellt verlangte die Bewilligungsbehörde von einem (ausgeschiedenen) persönlich haftenden Gesellschafter gemäß § 128 HGB die Rückzahlung einer Subvention, die der OHG aufgrund eines ihr gegenüber ergangenen Subventionsbescheids gewährt und von ihr nach Ausscheiden des Gesellschafters zweckwidrig verwendet worden war. Der Gesellschafter klagte gegen den Bescheid, mit dem die Bewilligungsbehörde unter Berufung auf § 128 HGB von ihm die Rückzahlung der Subvention verlangt hatte. Das OVG Koblenz wies die Anfechtungsklage des Gesellschafters mit der Begründung ab, der Rückzahlungsbescheid sei zu Recht ergangen, da er nach § 128 HGB für die Rückzahlungsverbindlichkeit der OHG haftet. In der gesellschaftsrechtlichen Literatur wird der Entscheidung allgemein zugestimmt8. Sie ist auch – soweit es um die gesellschaftsrechtliche Haftung des ausgeschiedenen Gesellschafters einer OHG nach §§ 128 Satz 1, 160 Abs. 1 HGB geht – im Ergebnis zutreffend. Denn der Gesellschafter haftet nun einmal nach § 128 HGB für die Verbindlichkeit der Gesellschaft. Die Entscheidung hätte jedoch aus öffentlichrechtlichen Gründen nicht ergehen dürfen, da § 128 Satz 1 HGB keine Rechtsgrundlage für den Erlass eines Haftungsbescheids ist.
6 Vgl. BFHE 145, 13, 17; OVG Frankfurt/Oder, NJW 1998, 3513, 3514; Beermann in FS Franz Klein, 1994, S. 953, 972; Wochner, BB 1980, 1757, 1759 f.; Wertenbruch in Westermann, Handbuch der Personengesellschaften, Rz. I 735. 7 NJW 1986, 2129 = JuS 1987, 68 m. Anm. Karsten Schmidt. 8 Habersack in Staub (Fn. 1), § 128 HGB Rz. 69 Fn. 224; Karsten Schmidt, JuS 1987, 68.
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Subventionsempfängerin war die OHG. Zwischen ihr und der Bewilligungsbehörde bestand somit das Subventionsverhältnis9. Sofern tatsächlich ein Anspruch auf Rückerstattung der Subventionssumme besteht, handelt es sich um eine Verbindlichkeit der OHG, für die der Gesellschafter nach § 128 HGB haftet. Sofern Rechtsgrundlage für den Rückerstattungsanspruch der Behörde gegen die OHG die in der Entscheidung angegebene Vorschrift von § 6 Abs. 2 Satz 1 und Abs. 4 RhPfHaushG 1982/1983 war, so war weder diese Vorschrift noch § 128 Satz 1 HGB eine geeignete Ermächtigungsgrundlage, um die dem Gesellschafter obliegende Verpflichtung nach § 128 HGB durch Verwaltungsakt geltend zu machen. Tauglicher Adressat eines Leistungsbescheids auf Rückgewähr der Subvention kann nur der seinerzeit durch die zurückzugewährende Leistung Begünstigte – also die OHG – sein10. Nur die OHG war somit Schuldnerin des Rückerstattungsanspruchs. Hieran ändert aus öffentlichrechtlicher Sicht die Haftungsnorm des § 128 HGB nichts. § 128 HGB regelt das Einstehenmüssen für eine fremde Schuld. Der gegenüber der OHG gemäß § 124 Abs. 1 HGB bestehende Anspruch auf Rückerstattung bleibt neben der Haftung des Gesellschafters nach § 128 HGB bestehen. Die bestehende Rechtsgrundlage für den Anspruch auf Rückerstattung der Subvention ist lediglich ausreichend für einen Leistungsbescheid gegen die OHG als Selbstschuldnerin der Rückerstattung. Der Erlass eines (Haftungs-) Bescheids gegen einen Dritten – hier den Gesellschafter – bedarf einer eigenständigen öffentlichrechtlichen Rechtsgrundlage wie z. B. § 191 Abs. 1 AO im Steuerrecht. Die zivilrechtliche Haftungserstreckung einer Gesellschaftsschuld auf den Gesellschafter bedarf somit einer Transformation in das öffentliche Recht. Die gesellschaftsrechtliche Haftungsregelung des § 128 BGB reicht als Rechtsgrundlage für einen Haftungsbescheid nicht aus. Eine Haftung muss vielmehr – was das OVG Koblenz übersehen hat – auf einer gesetzlichen Grundlage geltend gemacht werden11. Neben der materiellrechtlichen Haftungsvorschrift – im konkreten Fall § 128 Satz 1 HGB – muss eine gesetzlichen Grundlage für den Erlass eines Haftungsbescheids bestehen, damit die Behörde den Rückerstattungsanspruch gegen die Gesellschaft durch Bescheid gegenüber dem Gesellschafter als Haftungsschuldner geltend machen kann. Eine Inanspruchnahme des Gesellschafters setzt zudem voraus, dass zuvor ein Leistungsbescheid gegen den Selbstschuldner ergangen ist. § 191 Abs. 5 Nr. 1 AO regelt dies für das Steuerrecht ausdrücklich. Dieser Grundsatz ist aber verallgemeinerungsfähig und fi ndet auch sonst im öffentlichen Recht Anwendung12. Erst auf der Grundlage einer öffentlichrechtlichen Ermächtigungsnorm zum Erlass eines Haftungsbescheids kann gegen den Haftungsschuldner ein Haf-
9 BVerwG, NJW 1993, 1610, 1611; OVG Frankfurt/Oder, NJW 1998, 3513. 10 OVG Frankfurt/Oder, NJW 1998, 3513; Stelken/Bonk/Sachs, 7. Aufl. 2008, § 49a VwVfG Rz. 29. 11 BVerwG, NJW 1990, 590; OVG Frankfurt/Oder, NJW 1998, 3513, 3514; VG Schleswig, NZG 2004, 184, 185; ebenso für das Steuerrecht BFH, BStBl. II 1985, 541, 542. Unklar insoweit Stelkens/Bonk/Sachs (Fn. 10), § 49a VwVfG Rz. 32. 12 OVG Münster, NVwZ-RR 2003, 149, 150; VG Schleswig, NZG 2004, 184, 185.
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tungsbescheid ergehen. Die Rechtmäßigkeit des Haftungsbescheids muss der Schuldner gemäß Art. 19 Abs. 4 GG überprüfen können. Beispielsweise muss die Behörde im Hinblick auf mehrere persönlich haftende Gesellschafter und deren möglicherweise unterschiedliche Verantwortlichkeit ihr Ermessen, wen sie in Anspruch nimmt, sachgerecht ausüben13. Insoweit unterscheidet sich die Haftung des Gesellschafters für Verbindlichkeiten der Gesellschaft von den Fällen der Haftung des (Gesamt-)Rechtsnachfolgers z. B. nach § 1922 BGB oder nach § 20 Abs. 1 Nr. 1 UmwG. Bei der Gesamtrechtsnachfolge ist umstritten, ob bei hoheitlicher Geltendmachung durch Verwaltungsakt neben der zivilrechtlichen Nachfolgebestimmung zusätzlich eine gesetzliche Rechtsgrundlage bestehen muss14. Der Fall der Gesamtrechtsnachfolge unterscheidet sich aber dadurch grundlegend von der Einstandspfl icht für eine fremde Verpfl ichtung, dass die Haftung des OHG-Gesellschafters nach § 128 Satz 1 HGB auf einer zivilrechtlichen Anspruchsgrundlage für eine Schuld der Gesellschaft beruht. Der Gesellschafter ist ein von der OHG als Selbstschuldner zu unterscheidendes Rechtssubjekt. Seine Inanspruchnahme durch eine Verwaltungsbehörde im Wege des Verwaltungsakts bedarf daher einer gesetzlichen Grundlage. Dies mag bei einer Gesamtrechtsnachfolge anders sein, da hier nur noch ein einheitliches Rechtssubjekt existiert. c) Heranziehung zu Sanierungsmaßnahmen nach Bundes-Bodenschutzgesetz Die vorstehenden Überlegungen zum Steuerrecht und zum Subventionsrecht fi nden sich bestätigt durch eine Entscheidung des VGH München vom 29.11.2004 zur Heranziehung eines OHG-Gesellschafters zu Sanierungsmaßnahmen nach dem Bundes-Bodenschutzgesetz15. Nach dem zugrunde liegenden Sachverhalt hatte die Bodenschutzbehörde die OHG als Eigentümerin eines sog. Ölteichs und den (früheren) persönlich haftenden Gesellschafter der OHG mit Bescheid zu bestimmten Detailuntersuchungen im Bereich des Ölteichs verpfl ichtet. Zur Begründung wurde ausgeführt, auch der (frühere) persönlich haftende Gesellschafter sei zu verpfl ichten gewesen, da er gem. §§ 128, 159 f. HGB für die Dauer von fünf Jahren nach seinem Ausscheiden für die Verbindlichkeiten der OHG einstehen müsse. Der VGH München geht zu Recht davon aus, dass für den Bescheid gegen den (früheren) OHG-Gesellschafter keine Rechtsgrundlage besteht. Zwar hafte der persönlich haftende Gesellschafter nicht nur für zivilrechtliche Ansprüche der Gläubiger gegen die OHG, sondern auch für öffentlichrechtliche Ansprüche. Dass eine positive Handlung geschuldet wurde, stehe einer Haftung ebenfalls
13 Vgl. dazu Beermann in FS Franz Klein 1994, S. 953, 972. Zu den identischen Überlegungen im öffentlichen Recht zur Haftung Dritter (konkret: des Gesamtrechtsnachfolgers) BVerwGE 125, 325, 334 f. (Rz. 26 f.) mit der zutreffenden Feststellung, dass höchstpersönliche Rechte und Pfl ichten in aller Regel nur bei natürlichen Personen in Betracht kommen. 14 Ausdrücklich offen gelassen von BVerwGE 125, 325, 333 (Rz. 24); ausführlich Dietlein, Nachfolge im öffentlichen Recht, 1999, S. 152 ff. 15 VGH München, NJW-RR 2005, 829.
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nicht entgegen, solange es nicht um eine höchstpersönliche Leistung der OHG geht, die nur von der OHG erbracht werden könne16. Diese gesellschaftsrechtlichen Überlegungen sind nach zutreffender Auffassung des VGH München aber irrelevant, da persönlich haftende Gesellschafter einer OHG nicht zum Kreis der § 4 Abs. 3 und 6 BBodSchG als sanierungspfl ichtig bezeichneten Personen gehören und dieser Personenkreis nicht durch Rückgriff auf die zivilrechtliche Vorschrift des § 128 HGB erweitert werden kann. Ursprünglich war im Gesetzgebungsverfahren vorgesehen, als einstandspflichtig anzusehen, „… wer aus handelsrechtlichem, gesellschaftsrechtlichem oder sonstigem Rechtsgrund … einzustehen hat“17. Wäre dieser Wortlaut Gesetz geworden, wären wegen § 128 Satz 1 HGB auch persönlich haftende Gesellschafter einstandspfl ichtig gewesen. Der Wortlaut ist aber im späteren Gesetzgebungsverfahren eingeschränkt worden auf Gesellschafter von juristischen Personen im Falle der Durchgriffshaftung. Eine analoge Anwendung des § 4 Abs. 3 und 6 BBodSchG auf persönlich haftende Gesellschafter scheidet aus. Schon aus Gründen allgemeiner rechtsstaatlicher Erfordernisse muss die Möglichkeit der Inanspruchnahme des Bürgers durch die Verwaltung in einer Norm hinreichend deutlich zum Ausdruck kommen. Ordnet eine sicherheitsrechtliche Befugnisnorm den Durchgriff auf eine hinter dem Störer stehende Person nicht ausdrücklich an, so vermag die bloße Existenz einer zivilrechtlichen Haftungsnorm den Eingriff nicht zu legitimieren18. Da auch – anders als z. B. im Steuerrecht mit der Vorschrift des § 191 Abs. 1 AO – im Verwaltungsrecht keine allgemeine Rechtsgrundlage besteht, öffentlichrechtliche Ansprüche auf der Grundlage einer öffentlichrechtlichen Haftungsnorm i. V. m. § 128 HGB durch Haftungsbescheid gegenüber einem OHG-Gesellschafter geltend zu machen, kann die Bodenschutzbehörde neben der Gesellschaft nicht ihre Gesellschafter nach § 128 HGB durch Haftungsbescheid in Anspruch nehmen. Eine Transformation der zivilrechtlichen Gesellschafterhaftung in eine öffentlichrechtliche Gesellschafterhaftung ist auf der Primärebene des Bodenschutzrechts nicht gegeben19. Zu Recht weist der VGH München auf die abweichende gesetzliche Regelung bei der Kostentragungspfl icht hin. Nach Art. 2 Abs. 2 BayKG ist Kostenschuldner auch derjenige, der für die Kostenschuld einer anderen Person kraft Gesetzes haftet. Hierzu zählen auch die nach § 128 HGB haftenden Gesellschafter einer OHG. Ihre Inanspruchnahme durch einen Haftungsbescheid auf der Grundlage von § 2 Abs. 2 BayKG setzt allerdings voraus, dass zuvor gegenüber der OHG eine konkrete Kostenforderung – z. B. nach Ersatzvornahme durch die Behörde – entstanden und durch Bekanntgabe eines entsprechenden Kostenbescheids fällig geworden ist.
16 Vgl. zum Inhalt der Gesellschafterhaftung Habersack in Staub (Fn. 1), § 128 HGB Rz. 27 ff. 17 BT-Drucks. 13/6701, S. 51. 18 OVG München, NJW-RR 2005, 829, 831; Giesberts in Fluck, Kreislaufwirtschafts-, Abfall- und Bodenschutzrecht, § 4 BBodSchG Rz. 268. 19 OVG München, NJW-RR 2005, 829, 831 unter Berufung auf die vergleichbaren Fälle BVerwG, NJW 1990, 590 und OVG Frankfurt/Oder, NJW 1998, 3513 (Subventionsfall).
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d) Haftung für Geldbußen Nach § 30 Abs. 1 OWiG können Geldbußen nicht nur gegenüber natürlichen Personen, sondern auch gegenüber juristischen Personen und Personenvereinigungen verhängt werden. Zu den Personenvereinigungen gehören auch die rechtfähigen Personengesellschaften im Sinne von § 14 Abs. 2 BGB, also auch eine OHG. Praktisch relevant ist die Verhängung von Geldbußen beispielsweise nach § 81 Abs. 2 Nr. 1 GWB i. V. m. § 81 Abs. 4 Satz 2 GWB. Danach kann gegen eine OHG eine Geldbuße wegen Verstoßes gegen das Kartellverbot verhängt werden. Für eine solche Geldbuße haftet gemäß § 128 Satz 1 HGB grundsätzlich jeder persönlich haftende Gesellschafter20. Bei öffentlichrechtlicher Betrachtungsweise ist die OHG Selbstschuldnerin der Geldbuße. Gegen die persönlich haftenden Gesellschafter kann die Geldbuße vom Bundeskartellamt nur dann durch Haftungsbescheid geltend gemacht werden, wenn die zivilrechtliche Haftungsnorm des § 128 Satz 1 HGB durch eine öffentlichrechtliche Transformationsnorm – wie z. B. § 191 Abs. 1 AO – in eine öffentlichrechtliche Haftungsnorm transformiert worden ist. Eine solche öffentlichrechtliche Transformationsnorm besteht für Geldbußen nach § 81 Abs. 4 Satz 2 GWB weder spezialgesetzlich im GWB noch allgemein im OWiG. Das Bundeskartellamt kann somit nicht die gegen eine OHG verhängte Geldbuße im Wege des Haftungsbescheids gegen die OHG-Gesellschafter als Haftungsschuldner geltend machen. Denkbar wäre, dass das Bundeskartellamt im Rahmen der Vollstreckung des Bußgeldbescheids auf die OHG-Gesellschafter als Haftungsschuldner zugreift. Einschlägige Normen für die Vollstreckung der Geldbuße sind durch die Verweisung in § 90 Abs. 1 OWiG die Vorschriften des Verwaltungs-Vollstreckungsgesetzes des Bundes, wenn das Bundeskartellamt als Bundesbehörde den Bußgeldbescheid erlassen hat. Die Verweisung bezieht sich im Einzelnen auf die §§ 1 bis 5 VwVG. Diese Vorschriften regeln die Vollstreckung wegen öffentlichrechtlicher Geldforderungen und verweisen in § 5 Abs. 1 VwVG auf eine große Anzahl von Vollstreckungsvorschriften der §§ 249 ff. AO. Als öffentlichrechtliche Rechtsgrundlage zum Erlass eines Haftungsbescheids gegen einen OHG-Gesellschafter käme in diesem Zusammenhang die vollstreckungsrechtliche Regelung des § 2 Abs. 1 lit. b) VwVG in Betracht. Nach § 2 Abs. 1 VwVG kann als Vollstreckungsschuldner in Anspruch genommen werden, wer eine Leistung als Selbstschuldner schuldet (§ 2 Abs. 1 lit. a) VwVG) und wer für eine Leistung, die ein anderer schuldet, persönlich haftet (§ 2 Abs. 1 lit. b) VwVG). Das VwVG unterscheidet somit in § 2 Abs. 1 zwei Gruppen von Vollstreckungsschuldnern, die Selbstschuldner und die Haftungsschuldner. Haftungsschuldner sind danach die Personen, die aufgrund gesetzlicher Vorschrift für die Leistung eines anderen einzustehen haben, also z. B. wegen § 128 Satz 1 HGB die Gesellschafter einer OHG21. 20 Habersack in Staub (Fn. 1), § 128 HGB Rz. 10. 21 App/Wettlaufer, Verwaltungs-Vollstreckungsrecht, 4. Aufl. 2005, § 3 Rz. 17; Engelhardt/App/Schlatmann, 8. Aufl. 2008, § 2 VwVG Rz. 3; Wochner, BB 1980, 1757, 1759.
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§ 2 Abs. 1 lit. b) VwVG macht einen Leistungsbescheid in Form eines Haftungsbescheids gegen die Haftenden jedoch nicht entbehrlich 22. Anderenfalls wäre der von Art. 19 Abs. 4 GG garantierte Rechtsschutz beschnitten. § 5 Abs. 1 VwVG i. V. m. § 256 AO ordnet nämlich an, dass Einwendungen gegen den zu vollstreckenden Verwaltungsakt, also den Haftungsbescheid, außerhalb des Vollstreckungsverfahrens mit den hierfür zugelassenen Rechtsbehelfen zu verfolgen sind. Im Vollstreckungsverfahren sind dem Haftenden diese Einwendungen nicht gestattet. Der Haftende muss also vor Einleitung des Vollstreckungsverfahrens geltend machen können, dass die von der Vollstreckungsbehörde behauptete Haftungsschuld nicht besteht oder die von Verwaltungsbehörde angestellten Ermessenserwägungen, gerade den Haftungsschuldner in Anspruch zu nehmen 23, fehlerhaft waren. Die vollstreckungsrechtliche Regelung des § 2 Abs. 1 lit. b) VwVG enthält somit keine Ermächtigung zum Erlass von Haftungsbescheiden, sondern setzt einen Haftungsbescheid und damit eine materiellrechtliche Rechtsgrundlage zu seinem Erlass erst voraus24. Denn schon rein logisch kann eine Norm des Vollstreckungsrechts nicht Ermächtigungsgrundlage für einen Haftungsbescheid sein, da die Vollstreckung eine Schuld – hier: eine öffentlichrechtliche Haftungsschuld auf der Grundlage eines Haftungsbescheids – überhaupt erst voraussetzt. Zusammenfassend bleibt somit für die Haftung von OHG-Gesellschaftern gem. § 128 Satz 1 HGB für eine gegen die OHG vom Bundeskartellamt verhängte Geldbuße gemäß § 81 Abs. 2 Nr. 1 GWB i. V. m. § 81 Abs. 4 Satz 2 GWB festzuhalten, dass das Bundeskartellamt eine Geldbuße mangels Rechtsgrundlage nicht gegen einen OHG-Gesellschafter als Haftungsschuldner durch Haftungsbescheid festsetzen kann. Auch für eine Vollstreckung der Geldbuße gegen den Gesellschafter besteht keine Rechtsgrundlage; insbesondere stellt § 2 Abs. 1 lit. b) VwVG eine solche Rechtsgrundlage nicht dar. e) Klageweise Geltendmachung der Gesellschafterhaftung durch die Verwaltungsbehörde Besteht für eine Verwaltungsbehörde keine gesetzliche Grundlage für den Erlass eines Verwaltungsakts zur Geltendmachung einer Gesellschafterhaftung nach § 128 Satz 1 HGB (Haftungsbescheid), so ist sie auf eine gerichtliche Geltendmachung angewiesen. Fraglich ist, ob es sich bei einer solchen Rechtsstreitigkeit um eine bürgerlichrechtliche handelt, die nach § 13 GVG vor die ordentlichen Gerichte gehört.
22 App/Wettlaufer (Fn. 21), § 3 Rz. 17; Engelhardt/App/Schlatmann (Fn. 21), § 2 VwVG Rz. 3; vgl. auch OVG Frankfurt/Oder, NJW 1998, 3513, 3514. 23 Zu den vor Erlass eines Haftungsbescheids anzustellenden Ermessenserwägungen vgl. Beermann in FS Franz Klein, 1994, S. 953, 972. 24 App/Wettlaufer (Fn. 21), § 3 Rz. 17; Engelhardt/App/Schlatmann (Fn. 21), § 2 VwVG Rz. 3; tendenziell ebenso OVG Frankfurt/Oder, NJW 1998, 3513, 3514.
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In der – soweit ersichtlich – bisher einzigen veröffentlichen höchstrichterlichen Entscheidung vom 26.5.197625 hat das Bundessozialgericht für die Haftung eines Kommanditisten nach § 128 Satz 1 HGB für Beitragsforderungen des Sozialversicherungsträgers entschieden, dass hierüber nach § 51 Abs. 1 SGG die Sozialgerichte und nicht die ordentlichen Gerichte zu entscheiden haben. Die Entscheidung ist in der Sache zutreffend, weil der in Anspruch genommene Kommanditist sich im konkreten Fall mit der Klage gegen einen Verwaltungsakt des Sozialversicherungsträgers wendet. Durch den Erlass des Verwaltungsakts hat sich der Sozialversicherungsträger auf die Ebene der Über-/Unterordnung begeben. Hiergegen kann sich der in Anspruch genommene Bürger nur vor den allgemeinen oder speziellen Verwaltungsgerichten zur Wehr setzen. Fehlerhaft war aber der Verwaltungsakt, da er eine gesetzliche Grundlage nicht erkennen lässt. § 176 Abs. 1 Satz 1 HGB und die hilfsweise ergänzend herangezogenen Vorschriften der §§ 161 Abs. 2, 128 HGB stellen jedenfalls keine Rechtsgrundlage für einen Haftungsbescheid dar. Für die hier untersuchte Fragestellung gibt die Entscheidung im Ergebnis nichts her, da der Sozialversicherungsträger die Haftung des Kommanditisten nach § 176 HGB für sozialrechtliche Beitragsforderungen nicht gerichtlich geltend macht, sondern durch Verwaltungsakt, gegen den sich der Kommanditist wendet. Weiterführend ist demgegenüber eine Entscheidung des BGH vom 16.2.198426. Der klagende Sozialversicherungsträger macht gegen den Geschäftsführer einer GmbH von der GmbH geschuldete Sozialversicherungsbeiträge im Klagewege vor den ordentlichen Gerichten geltend, für die der Geschäftsführer eine selbstschuldnerische Bürgschaft übernommen hatte. Maßgebend für den Rechtsweg ist nach ständiger Rechtsprechung des BGH die Rechtsnatur des erhobenen Anspruchs, wie sie sich aus dem tatsächlichen Vorbringen des Klägers ergibt27. Ist der Klagenanspruch Folge eines Sachverhalts, der nach bürgerlichem Recht zu beurteilen ist, so ist nach § 13 GVG der Rechtsweg zu den ordentlichen Gerichten eröffnet. Im konkreten Fall stützt der Sozialversicherungsträger seine Klagebegründung auf die Bürgschaftserklärung des Geschäftsführers. Die Bürgschaftserklärung begründet eine eigene Verbindlichkeit des Bürgen, für die Erfüllung durch den Hauptschuldner einzustehen. Dies gilt auch dann, wenn es sich um eine öffentlichrechtliche Hauptschuld (im konkreten Fall: Sozialversicherungsbeiträge) handelt. Der Rechtscharakter der Bürgschaftsverbindlichkeit bestimmt sich nicht nach der Art der Hauptschuld. Die Akzessorietät der Bürgschaftsschuld stellt nur sicher, dass der Gläubiger vom Bürgen das erhält, was der Hauptschuldner ihm schuldet. Sie bestimmt aber nicht die (bürgerlichrechtliche) Rechtsnatur der Bürgschaft im Sinne einer Abhängigkeit der Rechtsnatur von der Hauptschuld 28. Diese Überlegungen gelten für die gerichtliche Inanspruchnahme eines OHGGesellschafters nach § 128 Satz 1 HGB in gleicher Weise. Durch § 128 Satz 1 25 26 27 28
BSG, MDR 1976, 962. BGHZ 90, 187, 189 f. = NJW 1984, 1622, 1623. BGHZ 174, 39, 46 (Rz. 25); BGHZ 90, 187, 190; VGH München, NJW 1990, 1006, 1007. BGHZ 90, 187, 190; BGHZ 174, 39, 46 (Rz. 25); BGH, MDR 2008, 1413, 1414.
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HGB wird den Gesellschaftern eine bürgenähnliche Stellung zugewiesen 29. Die Gesellschafter haben wie Bürgen für die ihnen wegen § 124 Abs. 1 HGB fremden Verbindlichkeiten der OHG einzustehen. Die Leistung des Gesellschafters an den Gesellschaftsgläubiger bringt – wie die des Bürgen – lediglich die eigene Verbindlichkeit zum Erlöschen, während die Forderung des Gläubigers im Wege der cessio legis auf den leistenden Gesellschafter übergeht. Der Gläubiger einer öffentlichrechtlichen Gesellschaftsforderung, der einen Gesellschafter nach § 128 Satz 1 HGB durch Klage in Anspruch nehmen will oder mangels gesetzlicher Grundlage für einen Haftungsbescheid nehmen muss, ist nach alledem gemäß § 13 GVG auf eine Klage vor den ordentlichen Gerichten angewiesen30.
II. Haftung des ausgeschiedenen Gesellschafters 1. Grundsatz Scheidet ein Gesellschafter aus der OHG aus, haftet er nicht mehr nach § 128 Satz 1 HGB für die nach seinem Ausscheiden begründeten Verbindlichkeiten der Gesellschaft (Neuschulden). Für diese Neuschulden erfüllt er nicht mehr das Tatbestandsmerkmal „Gesellschafter“ nach § 128 Satz 1 HGB. Die Haftung für die während seiner Mitgliedschaft in der OHG begründeten Gesellschaftsschulden (Altschulden) bleibt hingegen von seinem Ausscheiden unberührt. Der ausgeschiedene Gesellschafter kommt jedoch nach § 160 Abs. 1 HGB nach Ablauf von fünf Jahren in den Genuss einer Enthaftung für Altschulden. Das Gesetz formuliert in § 160 Abs. 1 Satz 1 HGB nicht im Sinne einer Enthaftung, sondern regelt, wie lange der ausgeschiedene Gesellschafter für Altschulden haftet. Er haftet danach nur für Altschulden, wenn sie vor Ablauf von fünf Jahren nach dem Ausscheiden fällig werden und aus der Altschuld Ansprüche gegen ihn in einer in § 197 Abs. 1 Nr. 3 bis 5 BGB bezeichneten Art festgestellt sind oder eine gerichtliche oder behördlich Vollstreckungshandlung vorgenommen oder beantragt wird. Bei öffentlichrechtlichen Gesellschaftsschulden genügt der Erlass eines Verwaltungsakts vor Ablauf von fünf Jahren nach dem Ausscheiden des Gesellschafters, und zwar nach den Ausführungen unter I. in Form eines Haftungsbescheids gegen den ausgeschiedenen Gesellschafter31. Fehlt eine gesetzliche Grundlage für einen Haftungsbescheid, muss der öffentlichrechtliche Gesellschaftsgläubiger den Haftungsanspruch nach § 128 Satz 1 HGB rechtzeitig durch Klage vor den ordentlichen Gerichten geltend machen (vgl. oben I. 2. e).
29 Ausführlich Habersack in Staub (Fn. 1), § 128 HGB Rz. 2; vgl. zuletzt BGH, WM 2010, 308, 311 (Rz. 41). 30 Ebenso ohne nähere Begründung Beermann in FS Franz Klein, 1994, S. 953, 972 für Steuerforderungen gegen die Gesellschaft; vgl. auch BFH, BStBl. II 1989, 952, 953; OVG Frankfurt/Oder, NJW 1998, 3513, 3514; Wertenbruch (Fn. 6), Rz. I 735. 31 So zum Steuerrecht BFH, BStBl. II 1995, 395; Boeker in Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO vor §§ 69–77 Rz. 37.
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2. Haftung für zivilrechtliche Gesellschaftsverbindlichkeiten Der ausgeschiedene Gesellschafter haftet nach § 160 Abs. 1 Satz 1 HGB für die „bis zum Ausscheiden begründeten Verbindlichkeiten der Gesellschaft“, also für die so genannten Altverbindlichkeiten. Maßgeblich für die Einordnung ist, ob der Rechtsgrund für die Gesellschaftsverbindlichkeit vor seinem Ausscheiden begründet worden ist 32. Die Fälligkeit der Verbindlichkeit ist demgegenüber unerheblich. Für rechtsgeschäftliche Verbindlichkeiten haftet der ausgeschiedene Gesellschafter gemäß §§ 128 Satz 1, 160 Abs. 1 HGB, wenn der Vertrag vor dem Ausscheiden abgeschlossen wurde und sich aus dem Vertrag ohne hinzutreten weiterer Abreden zwischen Gesellschaft und Gläubiger die Gesellschaftsschuld ergeben hat 33. Für weitere Einzelheiten sei auf die einschlägige Rechtsprechung und Literatur verwiesen. Für die hier interessierenden öffentlichrechtlichen Gesellschaftsverbindlichkeiten ist die Abgrenzung zwischen Alt- und Neuverbindlichkeiten bei zivilrechtlichen gesetzlichen Schuldverhältnissen von größerem Interesse. Öffentlichrechtliche Gesellschaftsverbindlichkeiten beruhen in aller Regel auf gesetzlichen Schuldverhältnissen, deren Besonderheit lediglich darin besteht, dass sie nicht zivilrechtlicher, sondern öffentlichrechtlicher Art sind 34. Bei gesetzlichen Schuldverhältnissen wird für die Abgrenzung zwischen Altund Neuverbindlichkeiten ebenso wie bei rechtsgeschäftlichen Verbindlichkeiten darauf abgestellt, wann der Rechtsgrund der Gesellschaftsverbindlichkeit gelegt worden ist. Bei der Geschäftsführung ohne Auftrag kommt es beispielsweise auf den Zeitpunkt der Übernahme der Geschäftsführung an. Bei Bestellung einer Grundschuld zur Absicherung einer Gesellschaftsverbindlichkeit und anschließender Ablösung durch Zahlung an den Gesellschaftsgläubiger handelt es sich bei dem Aufwendungsersatzanspruch des Grundstückseigentümers gemäß §§ 683, 677, 670 BGB bereits dann um eine Altverbindlichkeit, wenn die Grundschuld vor dem Ausscheiden des Gesellschafters bestellt worden ist; der Zeitpunkt der Ablösung ist für die Abgrenzung irrelevant 35. Bei Gesellschaftsverbindlichkeiten aus ungerechtfertigter Bereicherung wird differenziert: In den Fällen der Leistungskondiktion wird nicht auf die Leistungshandlung des Gläubigers abgestellt, sondern auf den vermeintlichen Rechtsgrund, auf den der Gläubiger leistet. Eine nach dem Ausscheiden des Gesellschafters erfolgte Leistung des Gläubigers kann mithin eine Altverbindlichkeit begründen, wenn nur der vermeintliche Rechtsgrund, auf den die Leistung erfolgte,
32 BGHZ 150, 373, 375 f.; BGHZ 142, 324, 328 ff.; K. Schmidt in MünchKomm. HGB (Fn. 1), § 128 HGB Rz. 49; Habersack in Staub (Fn. 1), § 128 HGB Rz. 62; Baumbach/ Hopt (Fn. 2), § 128 HGB Rz. 29; Hüffer, BB 1978, 454, 457 ff. 33 BGHZ 150, 373, 375 f.; BGHZ 142, 324, 328 ff.; BGHZ 55, 267, 269 f.; ebenso die Literatur: K. Schmidt in MünchKomm. HGB (Fn. 1), § 128 HGB Rz. 49; Baumbach/Hopt (Fn. 2), § 128 HGB Rz. 29; Habersack in Staub (Fn. 1), § 128 HGB Rz. 63. 34 BFHE 145, 13, 16 nähert sich der Problematik der Abgrenzung von Alt- und Neuverbindlichkeiten für eine Steuerverbindlichkeit der Gesellschaft in gleicher Weise an; vgl. auch BFH, BStBl. II 1989, 952, 954. 35 BGH, WM 1986, 288.
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vor dem Ausscheiden bestanden hat 36. Für die Eingriffskondiktion wird auf die Vornahme der Eingriffshandlung abgestellt und für die Verwendungs- und Rückgriffskondiktion auf die Vornahme der Verwendung und die Zahlung der Gesellschaftsschuld bzw. Stellung der Sicherheit 37. Für deliktische Verbindlichkeiten kommt es bei der Abgrenzung zwischen Alt- und Neuverbindlichkeiten ausschließlich auf die Verwirklichung des haftungsbegründenden Tatbestands, im Fall des § 823 Abs. 1 BGB, also auf die Vornahme der Verletzungshandlung und die Verletzung des absoluten Rechts an. Geschah dies vor Ausscheiden des Gesellschafters, so liegt eine Altverbindlichkeit auch dann vor, wenn der Schaden erst nach dem Ausscheiden des Gesellschafters eintritt 38. 3. Haftung für öffentlichrechtliche Gesellschaftsverbindlichkeiten a) Abgrenzung zwischen Alt- und Neuverbindlichkeiten § 160 Abs. 1 Satz 1 HGB differenziert für die Frage, ob eine Altverbindlichkeit vorliegt, nicht zwischen zivilrechtlichen und öffentlichrechtlichen Verbindlichkeiten. Auch für öffentlichrechtlichte Verbindlichkeiten haftet der ausgeschiedene Gesellschafter weiter, soweit sie „bis zum Ausscheiden begründet“ sind 39. Das BVerwG hatte sich in einem Fall der Abgrenzung von Alt- und Neuverbindlichkeiten nicht mit der Haftung eines ausgeschiedenen Gesellschafters nach § 128 Satz 1 HGB, sondern mit der Haftung des Vermögensübernehmers nach der seit 1998 aufgehobenen Vorschrift des § 419 BGB zu befassen. Nach dieser Vorschrift haftete der Vermögensübernehmer für alle zum übernommenen Vermögen gehörenden Verbindlichkeiten; sie mussten allerdings bis zur Vollendung des dinglichen Rechtserwerbs im Rahmen der Übernahme entstanden sein. Die Fragestellung ist also der aus § 160 Abs. 1 Satz 1 HGB vergleichbar. Im Anschluss an die frühere Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs40 zur Frage, wann die Verbindlichkeit entstanden ist, hat das BVerwG für einen Gewerbesteueranspruch darauf zurückgegriffen, ob der Anspruch zum Zeitpunkt der Vermögensübernahme „immerhin bedingt entstanden oder doch sonst ‚im Keim‘ begründet war“41. 36 Dies ist der Ansatz, der aus öffentlichrechtlicher Sicht verfehlten Entscheidung OVG Koblenz, NJW 1986, 2129; ebenso für die Leistungskondiktion K. Schmidt in MünchKomm. HGB (Fn. 1), § 128 HGB Rz. 57; Habersack in Staub (Fn. 1), § 128 HGB Rz. 69. 37 K. Schmidt in MünchKomm. HGB (Fn. 1), § 128 HGB Rz. 57; Habersack in Staub (Fn. 1), § 128 HGB Rz. 69. 38 Habersack in Staub (Fn. 1), § 128 HGB Rz. 69; weiter K. Schmidt in MünchKomm. HGB (Fn. 1), § 128 HGB Rz. 57, der für eine Altverbindlichkeit ausschließlich auf den Zeitpunkt der Vornahme der Verletzungshandlung abstellt, die Rechtsgutverletzung könne auch nach dem Ausscheiden eintreten. 39 Vgl. die Fälle BFHE 145, 13, 17; OVG Frankfurt/Oder, NJW 1998, 3513, 3514; FG Hamburg, EFG 2000, 1045, 1046; OVG Koblenz, NJW 1986, 2129; VGH München, NJW-RR 2005, 829 ff. 40 BGH, WM 1968, 1404, 1406; BGH, NJW 1981, 2306, 2307; BGHZ 39, 275, 277; BGH, NJW 1962, 2351, 2352, vgl. auch Möschel in MünchKomm. BGB, 3. Aufl. 1994, § 419 BGB Rz. 43. 41 BVerwG, NJW 1990, 590, 591.
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Für einen mit Ablauf des Erhebungszeitraums (Kalenderjahr) entstehenden Gewerbesteueranspruch geht das BVerwG davon aus, dass er „im Keim begründet wird durch die Verwirklichung der einzelnen steuerbegründenden Tatbestände, die im Laufe des Erhebungszeitraums nach und nach verwirklicht werden“42 . Konkret für den in Rede stehenden Gewerbesteueranspruch bedeutet dies, dass er erst mit Ablauf des Erhebungszeitraums (Ablauf des 31.12. des betroffenen Kalenderjahres) entsteht und „im Keim durch die Verwirklichung der einzelnen steuerbegründenden Tatbestände, die im Laufe des Erhebungszeitraums nach und nach verwirklicht werden, begründet wird“43. Da Besteuerungsgrundlage für die Gewerbesteuer das Gewerbekapital und der Gewerbeertrag sind und im vorliegenden Sachverhalt für das konkrete Kalenderjahr der Messbetrag nach dem Gewerbekapital auf Null festgesetzt worden war, kam es in dem zu entscheidenden Fall darauf an, ob im Veranlagungszeitraum ein Gewerbeertrag entstanden ist. Im konkreten Fall war durch Überführung eines Wirtschaftsguts aus dem Betriebsvermögen in das Privatvermögen im Erhebungszeitraum ein Entnahmegewinn realisiert worden. Hierdurch sei der Gewerbesteueranspruch unabhängig von der Festsetzung und der Fälligkeit der Steuer im Keim begründet worden44. Das BVerwG stellt somit der Sache nach für die Feststellung einer Altverbindlichkeit im Rahmen des § 419 BGB entscheidend darauf ab, ob der Rechtsgrund der Gesellschaftsverbindlichkeit vor der Vermögensübernahme gelegt worden ist. Im Anschluss an die inzwischen durch Streichung von § 419 BGB überholte Rechtsprechung des BGH verlangt das BVerwG für das Entstehen einer Altverbindlichkeit, dass sie vor der Vermögensübernahme „im Keim“ begründet gewesen sein muss45. Die zur Vermögensübernahme nach dem früheren § 419 BGB entwickelten Grundsätze des BVerwG führen auch im Rahmen der Abgrenzung von steuerund abgaberechtlichen Alt- und Neuverbindlichkeiten bei Ausscheiden eines OHG-Gesellschafters zu vernünftigen Ergebnissen. Eine steuer- oder abgabenrechtliche Altverbindlichkeit liegt danach vor, soweit die abgaben- oder steuerbegründenden Tatbestände vor dem Ausscheiden verwirklicht worden sind. Wann der Steuerbescheid gegenüber der OHG ergeht und wann die Steuer fällig wird, ist demgegenüber irrelevant. Damit entsprechen die Abgrenzungskriterien denen von zivilrechtlichen deliktischen Gesellschaftsverbindlichkeiten46. Dort wird zur Abgrenzung von Neu- und Altverbindlichkeit ebenfalls darauf abgestellt, ob der haftungsbegründende Tatbestand, im Fall des § 823 Abs. 1 BGB, also die Vornahme der Verletzungshandlung und die Verletzung des absoluten Rechts, vor oder nach dem Ausscheiden des Gesellschafters verwirklicht worden ist.
42 BVerwG, NJW 1990, 590, 592. 43 BVerwG, NJW 1990, 590, 592 unter Berufung auf die zum früheren § 419 BGB ergangene Entscheidung BFH, BStBl. II 1984, 286, 287. 44 Vgl. ausführlich BVerwG, NJW 1990, 590, 591 f. 45 BVerwG, NJW 1990, 590, 591 f. 46 Auf diese Parallele weisen auch BFHE 145, 13, 16, und BFH, BStBl. II 1989, 952, 954 hin.
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Die „Keim“-Rechtsprechung des BVerwG stellt indes dem Rechtsanwender außerhalb von abgaben- und steuerrechtlichen Sachverhalten kein trennscharfes Kriterium zur Abgrenzung von Neu- und Altverbindlichkeiten zur Verfügung. Die Beschreibung „im Keim begründet“ erinnert terminologisch an die Wurzeltheorie im Bewertungsrecht47. In beiden Fällen handelt es sich um unscharfe Umschreibungen, die stets noch der wertenden Umsetzung auf den konkreten Sachverhalt bedürfen. Hilfreich ist insoweit eine neuere Entscheidung des BVerwG vom 16.3.200648 zur Rechtsnachfolge in die materielle Polizeipfl icht des Handlungsstörers, konkret die Inanspruchnahme des Gesamtrechtsnachfolgers eines Handlungsstörers nach einer Verschmelzung (§ 20 Abs. 1 Nr. 1 UmwG). Das BVerwG differenziert für das Sicherheitsrecht drei Stufen der ordnungsrechtlichen Beziehungen zwischen dem (potentiellen) Störer und dem Polizeiträger49: Die erste Stufe bildet die latente Polizeipfl icht des potentiellen Störers als Folge seiner Verursachungshandlung vor Eintritt einer konkreten Gefahr, also seine Unterworfenheit unter den abstrakt-generellen Gefahrenabwehrtatbestand. Auf der zweiten Stufe folgt die mit dem Gefahreneintritt, also der Verwirklichung des sicherheitsrechtlichen Tatbestands sich ergebende abstrakte Polizeipfl icht des Störers. Auf der dritten Stufe schließlich tritt die konkrete Polizeipflicht durch Erlass eines Verwaltungsakts gegenüber dem Störer ein. Bei bloß latenter Polizeipfl icht verneint das BVerwG die Rechtsnachfolgefähigkeit und bejaht sie erst ab dem Zeitpunkt der abstrakten Polizeipfl icht. Es müssen also die Voraussetzungen für eine hoheitliche Inanspruchnahme abstrakt vorliegen. Dass die abstakte Polizeipfl icht bereits durch eine Polizeiverfügung (Verwaltungsakt) konkretisiert worden ist (konkrete Polizeipfl icht) ist demgegenüber für die Übergangsfähigkeit nicht erforderlich. Die vom BVerwG zur Abgrenzung der Übergangsfähigkeit der Polizeipflicht auf einen Gesamtrechtsnachfolger entwickelten Kriterien können entsprechend auf die Beantwortung der Frage, ob einen öffentlichrechtliche Verbindlichkeit i. S. des § 160 Abs. 1 Satz 1 HGB „bis zum Ausscheiden begründet“ ist, herangezogen werden. Begründet sind öffentlichrechtliche Verbindlichkeiten immer dann, wenn die Voraussetzungen für eine hoheitliche Inanspruchnahme der OHG vorliegen, also die Tatbestandsmerkmale einer gesetzlichen Eingriffsgrundlage gegenüber der OHG erfüllt sind. Dass im Zeitpunkt des Ausscheidens des Gesellschafters bereits ein Verwaltungsakt gegen die OHG ergangen ist, ist nicht erforderlich. Das BVerwG erläutert sein zur Polizeipflicht entwickeltes Ergebnis am Beispiel des Abgabenrechts50 und bestätigt insoweit seine frühere „Keim“-Rechtsprechung51, ohne hierauf jedoch ausdrücklich Bezug zu nehmen. Im Abgabenrecht 47 BGH, NJW 1973, 509, 511; umfassende Nachweise bei Hüffer, 9. Aufl. 2010, § 305 AktG Rz. 23. 48 BVerwGE 125, 325; hierzu die im Wesentlichen kritischen Anmerkungen von Ossenbühl, JZ 2006, 1128 f.; Knauff, DVBl. 2006, 1321 ff. und Rixen, JZ 2007, 171 ff. 49 BVerwGE 125, 325, 332 f. (Rz. 22); im Ergebnis ebenso Ossenbühl, JZ 2006, 1128, 1129. 50 BVerwGE 125, 325, 333 (Rz. 23). 51 Vgl. BVerwG, NJW 1990, 590 ff.
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bestimme der abstrakt-generelle Gebührentatbestand die latente Pfl ichtigkeit des eine Leistung in Anspruch nehmenden Bürgers. Beansprucht der Bürger die Leistung, entsteht mit deren Erbringung der abstrakte Gebührentatbestand, der dann durch Erlass des Gebührenbescheids konkretisiert wird. Sowohl für eine abstrakte als auch für eine konkretisierende Gebührenpfl icht der OHG hat der ausgeschiedene Gesellschafter nach § 128 Satz 1 HGB zu haften, wenn eine von ihnen vor seinem Ausscheiden verwirklicht ist. Damit kommt die neuere Rechtsprechung des BVerwG bei der Abgrenzung von Neu- und Altverbindlichkeiten im Zusammenhang mit Steuerschulden, aber auch bei Sozialabgaben zu den gleichen Ergebnissen wie die frühere zu § 419 BGB a. F. entwickelte „Keim“-Rechtsprechung. Sie bedarf allerdings keiner wertenden Betrachtung mehr bei der Beantwortung der Frage, ob ein Anspruch zum Zeitpunkt des Ausscheidens bereits „im Keim“ bestanden hat. Vielmehr kann sauber danach subsumiert werden, ob vor dem Ausscheiden bereits eine abstrakte öffentlichrechtliche Verpfl ichtung der Gesellschaft bestanden hat. Sind die Voraussetzungen für eine hoheitliche Inanspruchnahme der OHG erfüllt, also die Tatbestandsmerkmale einer gesetzlichen Eingriffsgrundlage gegenüber der OHG erfüllt (abstrakte Pflichtigkeit), ist die entsprechende öffentlichrechtliche Verbindlichkeit der Gesellschaft „begründet“ im Sinne von § 160 Abs. 1 Satz 1 HGB. Nach den vorstehenden Kriterien kann beispielsweise auch die Abgrenzung von Neu- und Altverbindlichkeiten bei gegen die OHG verhängten Geldbußen vorgenommen werden. Soweit im Fall der Geldbuße nach §§ 81 Abs. 2 Nr. 1, 81 Abs. 4 Satz 2 GWB die Tatbestandsmerkmale eines Verstoßes gegen das Kartellverbot vor dem Ausscheiden des OHG-Gesellschafters erfüllt waren, liegt eine Altverbindlichkeit vor, für die er nach §§ 128 Satz 1, 160 Abs. 1 Satz 1 HGB haftet. Wann der Bußgeldbescheid gegen die OHG ergangen ist, ist demgegenüber irrelevant. Damit entsprechen die Abgrenzungskriterien im Ergebnis denen von zivilrechtlichen gesetzlichen (deliktischen) Gesellschaftsverbindlichkeiten. Mit den zivilrechtlichen Kriterien zur Abgrenzung von Alt- und Neuverbindlichkeiten geht auch die Rechtsprechung zu den Rückforderungen zweckfremd verwendeter Subventionen konform. Es handelt sich um einen Sachverhalt, der im Zivilrecht nach bereicherungsrechtlichen Grundsätzen zu lösen wäre52. Auf diesen Abgrenzungskriterien beruht auch das oben dargelegte Urteil des OVG Koblenz, das eine Haftung des nach Begründung des Subventionsverhältnisses mit der OHG ausgeschiedenen Gesellschafters nach § 128 Satz 1 HGB bejaht, auch wenn die zweckwidrige Verwendung der Subvention erst nach seinem Ausscheiden erfolgt ist. Maßgeblich ist der Zeitpunkt der Begründung des Subventionsverhältnisses mit der Gesellschaft. b) Enthaftung nach § 160 Abs. 1 HGB Ein ausgeschiedener Gesellschafter haftet für bis zu seinem Ausscheiden begründete (Alt-) Verbindlichkeiten, wenn sie vor Ablauf von fünf Jahren nach
52 Zutreffend OVG Frankfurt/Oder, NJW 1998, 3513, 3514.
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seinem Ausscheiden fällig und daraus Ansprüche gegen ihn in einer in § 197 Abs. 1 Nr. 3 bis 5 BGB bezeichneten Art (insbesondere rechtskräftig festgestellte Ansprüche) festgestellt sind. Bei öffentlichrechtlichen Verbindlichkeiten genügt nach § 160 Abs. 1 Satz 1, 2. Halbsatz HGB der Erlass eines Verwaltungsakts. Erforderlich ist insoweit der Erlass eines Haftungsbescheids gegen den ausgeschiedenen Gesellschafter53. Der Erlass eines Leistungsbescheids gegen die OHG als Eigenschuldnerin ist insoweit zur Verhinderung der Enthaftung nicht ausreichend, aber – wie § 191 Abs. 5 Nr. 1 AO zeigt – Voraussetzung, dass ein Haftungsbescheid gegen den ausgeschiedenen Gesellschafter ergehen kann54.
III. Zusammenfassung Die vorstehenden Überlegungen lassen sich für das Thema der Untersuchung wie folgt zusammenfassen: 1. OHG-Gesellschafter haften auch für öffentlichrechtliche Verbindlichkeiten der Gesellschaft nach § 128 Satz 1 HGB. Beispiele aus der Rechtsprechung sind Steuerschulden, Sozialversicherungsbeiträge, Erschließungskosten, gegen die Gesellschaft verhängte Geldbußen und Ansprüche auf Rückgewähr von Subventionen. 2. Die Verwaltungsbehörde als Gläubiger einer öffentlichrechtlichen Forderung gegen die Gesellschaft bedarf zur Geltendmachung der Gesellschafterhaftung nach § 128 Satz 1 HGB durch Verwaltungsakt (Haftungsbescheid) einer gesetzlichen Grundlage. § 128 Satz 1 HGB ist keine Grundlage für einen Haftungsbescheid. Besteht keine gesetzliche Grundlage zum Erlass eines Haftungsbescheids ist der Anspruch nach § 128 Satz 1 HGB durch Klage vor den ordentlichen Gerichten geltend zu machen. Der Erlass eines Haftungsbescheids setzt zudem zwingend den Erlass eines Leistungsbescheids gegen die Gesellschaft voraus. 3. Öffentlichrechtliche Gesellschaftsverbindlichkeiten sind i. S. des § 160 Abs. 1 Satz 1 HGB „bis zum Ausscheiden begründet“, wenn die abstrakte Pfl ichtigkeit der OHG entstanden ist, also die Tatbestandsmerkmale einer gesetzlichen Eingriffsgrundlage gegenüber der OHG erfüllt sind. Die Umsetzung in einen konkreten Verwaltungsakt gegenüber der Gesellschaft ist hierzu nicht erforderlich. 4. Die Enthaftung kann gemäß § 160 Abs. 1 Satz 1, 2. Halbsatz HGB durch Erlass eines Verwaltungsakts nur dann abgewendet werden, wenn die Verwaltungsbehörde rechtzeitig, also innerhalb der Fünfjahresfrist, einen Haftungsbescheid gegen den ausgeschiedenen Gesellschafter erlässt. Der Erlass eines Leistungsbescheids gegen die OHG als Eigenschuldnerin ist zur Verhinderung der Enthaftung nicht ausreichend.
53 BFH, BStBl. II 1995, 395; Boeker in Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO vor §§ 69–77 Rz. 37. 54 OVG Münster, NVwZ-RR 2003, 149; VG Schleswig, NZG 2004, 184, 185; Wertenbruch, NZG 2006, 408, 416.
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Der Rangrücktritt zur Vermeidung der Insolvenz I nhaltsübersicht1 I. Untersuchungsgegenstand II. Überschuldung als Insolvenzgrund
IV. Rangrücktritte von Drittgläubigern V. Ergebnis
III. Rangrücktritte von Gesellschaftern
I. Untersuchungsgegenstand Der Insolvenzgrund der Überschuldung ist eine nationale Besonderheit des deutschen Rechts. In den meisten anderen Mitgliedsstaaten der Europäischen Union ist dieser Insolvenzgrund unbekannt. Der Umstand, dass das vorhandene Aktivvermögen die Schulden nicht mehr deckt, führt dort noch nicht zur Insolvenz. Hierfür bedarf es vielmehr der Zahlungsunfähigkeit im Sinne des Unvermögens, fällig werdende Verbindlichkeiten zu bedienen. Natürlich mangelt es bei unseren europäischen Nachbarn nicht an mit der Überschuldung funktional verwandten Rechtsinstituten, wie etwa die Einschränkung der Teilnahme am Rechtsverkehr nach den Grundsätzen des wrongful trading in England, oder die Regelungen in Italien und Schweden, welche die Gesellschafter nach dem Verlust der Hälfte des Stammkapitals vor die Wahl stellen, die Gesellschaft zu rekapitalisieren oder die Liquidation einzuleiten. Aber in der Radikalität, dass spätestens drei Wochen nach Eintritt der Überschuldung das Insolvenzverfahren einzuleiten ist, stellt sich der deutsche Ansatz vom Ausland betrachtet als Sonderweg dar. Das ist misslich insbesondere für die seit Ausbruch der Finanzmarktkrise ungewöhnlich große Zahl sanierungsbedürftiger deutscher Unternehmen mit gesamteuropäischer Gläubigergemeinschaft, wenn deren Zahlungsfähigkeit noch nicht akut in Frage gestellt, deren Nettovermögen aber bereits aufgezehrt ist. In den Verhandlungen mit ihren ausländischen Gläubigern befi nden sich deren Geschäftsführer in einer Zwickmühle: einerseits legt ihnen das deutsche Recht die strafbewehrte Verpfl ichtung auf, die Überschuldung entweder kurzfristig zu beseitigen oder Insolvenzantrag zu stellen; andererseits wird es ihnen nicht immer gelingen, ihre gesamteuropäische Gläubigergemeinde vom Ernst der Lage zu überzeugen. Mit Rücksicht auf den Umstand, dass Insolvenzanmeldungen wegen Überschuldung auch in Deutschland empirisch sehr selten sind, wird ihnen der Hinweis auf den Verlust des Nettovermögens häufig als Ausdruck übertriebener Vorsichtigkeit oder sogar als taktisches Signal zur Erhöhung der Kompromissbereitschaft der Gläubiger ausgelegt. 1 Antrittsvorlesung an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt vom Juli 2009, der Vortragsstil wurde, um einige zentrale Fundstellennachweise ergänzt, beibehalten.
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Umso wichtiger sind diejenigen Instrumente, welche den bedrängten Unternehmen zur Verfügung stehen, um eine Überschuldung zu verhindern bzw. die einmal eingetretene Überschuldung wieder verlässlich und nachhaltig abzuwenden. Unter diesen Instrumenten spielt der Rangrücktritt – im Sinne der Erklärung eines Gläubigers, seine Forderungen denjenigen der anderen Gläubiger so weit nachzuordnen, dass es gerechtfertigt ist, sie für die Zwecke der Überschuldungsprüfung als Verbindlichkeit der Gesellschaft zu ignorieren – eine wichtige Rolle. Besonders häufig ist dabei der Rangrücktritt von Gesellschaftern. Im Zug der großen GmbH-Reform nach dem im Herbst 2008 in Kraft getretenen Gesetz zur Modernisierung des GmbH-Rechts und zur Bekämpfung von Missbräuchen (MoMiG)2 wurden die Regelungen für die von ihnen betroffenen Gesellschafterdarlehen grundlegend verändert. Gleichzeitig wurde in Reaktion auf die Wirtschaftskrise der Überschuldungstatbestand in § 19 Abs. 2 InsO neu gefasst. Damit ist einige Bewegung in das Recht des Rangrücktritts gebracht worden, und zwar gerade zu einer Zeit, in welcher er in praxi dramatisch an Bedeutung gewinnt. Im Folgenden wird versucht, die wichtigsten Konsequenzen der Neuregelungen für den Rangrücktritt auszuleuchten. Dabei möchte ich mich zunächst auf das wichtigste Anwendungsfeld konzentrieren, nämlich das Gesellschafterdarlehen bei der GmbH (Abschnitte II. und III.), um sodann die Frage zu stellen, in wie weit die hierbei gewonnen Ergebnisse auch für den Rangrücktritt eines Drittgläubigers herangezogen werden können (Abschnitt IV.).
II. Überschuldung als Insolvenzgrund Zunächst etwas eingehender zur Überschuldung als Insolvenzgrund. Dieser geht auf das 19. Jahrhundert zurück3. Er gilt bis heute nur für juristische Personen, § 19 Abs. 2 InsO. Wer als Einzelkaufmann überschuldet ist, braucht keinen Insolvenzantrag zu stellen, sondern kann bis zur Zahlungsunfähigkeit zuwarten. Selbiges gilt für Personenhandelsgesellschaften, bei denen direkt oder mittelbar eine natürliche Person unbeschränkt persönlich haftet, § 19 Abs. 3 InsO. Die Zahlungsunfähigkeit ist somit auch in Deutschland der gedankliche Ausgangspunkt für das System der Insolvenzgründe. Auf die Überschuldung kommt es zusätzlich allein deswegen an, weil sie der deutsche Gesetzgeber bei der juristischen Person als unwiderlegliches Indiz für die künftige Zahlungsfähigkeit begreift. Dass Überschuldung als Insolvenzgrund herangezogen wird, ist m. a. W. die nationale Spielart des deutschen Gesetzgebers im Umgang mit dem Problem der Prognose künftiger Zahlungsunfähigkeit: sobald eine Vermögensbetrachtung zeigt, dass der Schuldner in einer gedachten (transaktionskosten2 Materialien bei Goette, Einführung in das neue GmbH-Recht, 2008. 3 Die Überschuldung war unter Geltung der Konkursordnung in den für die jeweiligen Körperschaften geltenden Gesetzen geregelt (§ 207 AktG, § 63 GmbH) und geht auf die Konkursordnung aus dem Jahr 1877 zurück, vgl. Drukarczyk in MünchKomm. InsO, 2. Aufl. 2007, § 19 InsO Rz. 3 ff. Seit 1892, dem Jahr Erlasses seines Erlasses, kennt das GmbHG die gleichen Konkursgründe, vgl. Ulmer in Hachenburg, 7. Aufl. 1984, § 63 GmbHG Rz. 2, 9.
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freien) Insolvenz nicht mehr alle seine Gläubiger befriedigen könnte, soll das Risiko der Unrichtigkeit dieser Prognose auch nicht mehr dem Rechtsverkehr aufgebürdet werden. Der Grund für diese Differenzierung zwischen dem Einzelkaufmann und der juristischen Person als Unternehmensträger liegt in einem vom historischen Gesetzgeber wahrgenommenen Vertrauenswürdigkeitsgefälle. Bei einer juristischen Person, deren Eigentümer durch die Begrenzung ihrer Haftung stärker abgeschirmt sind als der Einzelkaufmann (oder die Personengesellschaft mit einer natürlichen Person als Vollhaftendem), soll die Prognose vorsichtiger vorgenommen, der Zeitpunkt, in der ein Wirtschaftssubjekt dem privatautonomen Rechtsverkehr entzogen wird, vorverlegt werden. In den Materialien zur Konkursordnung heißt es hierzu: „Während ein Schuldner sonst mit seinem zukünftigen Vermögen den Gläubigern verhaftet bleibt, während Ehre und Kreditbedürftigkeit ihm verbieten, die Gläubiger in größere Verluste zu ziehen, sind die Gläubiger einer Aktiengesellschaft ausschließlich auf das Vermögen des Kapitalvereins angewiesen“4.
Der Überschuldungsprüfung liegt somit die Grundidee eines weitgehend objektivierbaren, praktisch handhabbaren Tests zugrunde: Die Unwägbarkeiten einer Prognose der künftigen Liquiditätsentwicklung sollen vermieden werden, indem der Blick nicht auf diesen, sondern auf eine bilanzielle Momentaufnahme des Schuldnervermögens gerichtet wird. Diese Grundidee hat sich als sehr problematisch herausgestellt. Die Prognoseschwierigkeiten konnten auf diese Weise nicht umgangen, sondern lediglich verlagert werden. Der Grund hierfür ist einfach: auf der Aktivseite der existenzbedrohten Kapitalgesellschaft fi ndet sich in aller Regel als Hauptvermögensbestandteil das betriebsnotwendige Vermögen eines werbenden Unternehmens. Um sagen zu können, ob dessen Wert die Schulden deckt, muss es seinerseits bewertet werden. Dies ist ohne Prognose künftiger Erträge nicht möglich, selbst dann nicht, wenn man das oben beschriebene Szenario der Liquidation in der Insolvenz zugrunde legt. Denn auch ein Insolvenzverwalter würde ja, so irgend möglich, das Gesamtunternehmen als Einheit veräußern und nicht seine in Summe regelmäßig weniger wertvollen Einzelbestandteile. Die praktische Bedeutung der Überschuldung als Insolvenzgrund ergibt sich vor diesem Hintergrund erst aus der Detailarbeit an der Präzisierung des Überschuldungsbegriffs und dabei aus dem Umgang mit dem soeben beschriebenen Prognoseproblem. Diese Präzisierungsarbeit hat eine wechselvolle Geschichte hinter sich. Bis zur Insolvenzrechtsreform des Jahres 1999 übte der Gesetzgeber in dieser Frage äußerste Zurückhaltung. Der Gesetzestext sagte lediglich, Überschuldung liege vor, wenn „das Aktivvermögen der Gesellschaft die Schulden nicht mehr deckt“. Nach einer von Karsten Schmidt Ende der 70er-Jahre begründeten
4 C. Hahn (Hrsg.), Die gesamten Materialien zu den Reichsjustizgesetzen, Band IV: Materialien zur Konkursordnung (1881), S. 390.
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Lehre5 greift diese rein bilanztechnische Betrachtung zu kurz. Es müsse als zusätzliches Tatbestandsmerkmal hinzukommen, dass es an einer positiven Fortführungsprognose fehlt, das Überleben der Gesellschaft also nicht mehr überwiegend wahrscheinlich ist. Diesen zweistufigen Überschuldungsbegriff hat sich der BGH in einer Leitentscheidung aus dem Jahre 19926 zu Eigen gemacht. In methodenehrlicher Anerkennung der Prognoseabhängigkeit der Überschuldungsprüfung ist demnach in zwei Schritten vorzugehen: In einem ersten Schritt muss nach Liquidationswerten festgestellt werden, ob das Aktivvermögen die Schulden noch deckt. Es ist also durch Aufstellung einer Liquidationsbilanz festzustellen, ob die Gesellschaft noch über ein positives Nettovermögen verfügt. Dabei ist für die Bewertung entscheidend, welche Erlöse ein klug und umsichtig agierender Verwalter bei der bestmöglichen Form der Liquidation erzielen könnte. Decken diese gedachten Erlöse die Schulden nicht mehr, so besteht „rechnerische“ oder „technische“ Überschuldung7. Diese führt, für sich genommen, aber noch nicht zur Antragspfl icht. In einem zweiten Schritt hinzukommen muss vielmehr die Feststellung, dass die Überlebenschance der Gesellschaft unter die 50 %-Marke sinkt – und sie damit keine „positive Fortführungsprognose“ mehr hat. Rechnerische Überschuldung führt somit zur „rechtlichen“ Überschuldung nur bei fehlender Fortführungsprognose8. Nur diese rechtliche Überschuldung löst die Antragspfl icht aus. Zur Jahrtausendwende wurde dieser, von der Rechtsprechung anerkannte, zweistufige Überschuldungsbegriff vom Reformgesetzgeber der InsO allerdings wieder aufgegeben. Bestimmend hierfür war die Furcht, dass die intendierte (und vom Gesetzgeber 1999 wieder stark betonte) vorverlagernde Wirkung konterkariert würde. Das System der InsO bis Herbst 2008 war daher, dass es in jedem Fall auf eine bilanzielle Betrachtung ankam – bei positiver Fortführungsprognose nach Fortführungswerten, bei negativer nach Liquidationswerten. Im Zuge der Finanzmarktkrise ist der Gesetzgeber – zunächst befristet bis Ende 20109, nunmehr bis 201310 – zu Karsten Schmidts zweistufigem Überschuldungsbegriff zurückgekehrt. Damit scheint der erste Teil der Prüfung – die technische Überschuldung – für’s erste in den Hintergrund zu treten: wenn und solange man nur die positive Fortführungsprognose bejahen kann, braucht man sich auf eine bilanzielle Betrachtung ja gar nicht einzulassen. Dieser Eindruck trügt jedoch: Für die positive
5 AG 1978, 334 ff., „große Retrospektive“ der Entwicklung über die folgenden dreißig Jahre sodann DB 2008, 2467. 6 BGHZ 119, 201, 214. 7 Dazu etwa BGHZ 125, 141, 146; BGH, ZIP 2001, 235, 236; Schmerbach in Wimmer, FK-InsO, 5. Aufl. 2009, § 19 InsO Rz. 8; Drukarczyk (Fn. 3), § 19 AktG Rz. 87; Möhlmann-Mahlau/Schmitt, NZI 2009, 19, 22. 8 BGHZ 119, 201, 214, sowie die Nachweise in Fn. 10. 9 Art. 5, 7 Abs. 2 des Finanzmarktstabilisierungsgesetzes (FMStG), BGBl. I 2008, 1982. Vgl. dazu BT-Drucks. 16/10651, S. 10 sowie Hirte/Knof/Mock, ZInsO 2008, 1217, 1225; kritisch zur „Verfallsfrist“ Thonfeld, NZI 2009, 15, 18. 10 Art. 1 des Gesetzes zur Erleichterung der Sanierung von Unternehmen, BGBl. I 2009, 3151.
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Fortführungsprognose trägt die Geschäftsführung die Beweislast11. Wann genau die Fortführung als überwiegend wahrscheinlich gelten darf, ist heftig umstritten. Erforderlich ist jedenfalls eine mittelfristige Liquiditätsbetrachtung12. 12 bis 24 Monate sind gängige Vorschläge in der Literatur13. Hinzukommen muss nach einer ernst zu nehmenden Auffassung zudem die nachhaltige Überlebensfähigkeit am Ende dieses Zeitraums14. Dies ist schon ex ante für sich genommen ein anspruchsvoller Test. Wenn ex post die Zahlungsunfähigkeit doch eintritt, besteht die Gefahr, dass der Beweis misslingt. Diese Gefahr wird verstärkt durch eine konzeptionelle Schwäche der Neuregelung, die darin besteht, dass der Geschäftsführung die Beweislast für ein Wahrscheinlichkeitsurteil aufgebürdet wird. Dabei ist es fast unmöglich, die beiden kumulativ zur Anwendung kommenden Wahrscheinlichkeitsmaßstäbe gedanklich sauber auseinander zu halten: Beweislast heißt hoher Grad an Wahrscheinlichkeit, dass die Beweismittel die Richtigkeit der vorgetragenen Tatsachen belegen. Diese Tatsache selbst ist hier aber ihrerseits die Wahrscheinlichkeit einer künftigen Entwicklung und dies aus einer im Zeitpunkt des Haftungsprozesses bereits artifi ziellen ex antePerspektive, sowie mit der vergleichsweise niedrigen Schwelle von 50 %. Das Risiko, dass in der forensischen Praxis beide Maßstäbe miteinander vermengt werden, liegt auf der Hand. Es ist im praktischen Ergebnis von den Geschäftsführern der sanierungsbedürftigen Gesellschaften zu tragen.
III. Rangrücktritte von Gesellschaftern Für die Geschäftsführungen ist die Vermeidung der technischen Überschuldung daher, falls möglich, noch immer der Königsweg. Zumindest für Gesellschafterdarlehen ist hierfür der Rangrücktritt regelmäßig das Mittel der Wahl. Die entscheidende, ebenfalls seit Jahrzehnten heftig umstrittene Frage ist dann 11 BGHZ 143, 184, 185 f.; Lutter/Kleindiek in Lutter/Hommelhoff, 17. Aufl. 2009, Anh. § 64 GmbHG Rz. 28; Hüffer, AktG, 9. Aufl. 2010, § 92 AktG Rz. 14a; Krieger/ Sailer in K. Schmidt/Lutter, 2008, § 92 AktG Rz. 20; Fleischer in Spindler/Stilz, 2007, § 92 AktG Rz. 60. 12 Vgl. nur BGHZ 119, 201, 214; BGH, NJW 1998, 233, 234 (zur Unterbilanzhaftung); OLG Düsseldorf, NJW-RR 1996, 1443, 1444; BGH, DStR 2006, 2186; KG, GmbHR 2006, 374, 376; OLG Naumburg, GmbHR 2004, 361, 362; OLG Düsseldorf, BB 1996, 1428, 1429; OLG, München GmbHR 1998, 281, 282; LG Göttingen, NZI 2008, 751, 752; Hirte/Knof/Mock, ZInsO 2008, 1217, 1222; Bork, ZIP 2000, 1709, 1710; Haas in Baumbach/Hueck, 19. Aufl. 2010, § 64 GmbHG Rz. 44 m. w. N.; Drews, Insolvenzgrund der Überschuldung, 2003, S. 183 f.; Uhlenbruck in InsO-Hdb., 3. Aufl. 2006, § 6 Rz. 25; Drukarczyk (Fn. 3), § 19 InsO Rz. 53 m. w. N.; Groß/Amen, DB 2005, 1861, 1862; Wackerbarth, NZI 2009, 145; Drukarczyk/Schüler, DStR 1999, 646, 647. 13 In den Feinheiten ergibt sich ein durchaus facettenreiches Bild, vgl. nur Bittmann, wistra 1999, 10, 12; Harz/Baumgartner/Conrad, ZInsO 2005, 1304, 1309; IDW FAR1/1996, in WPg 1997, 22, 24 (mit Hinweis auf Mindestzeitraum von zwölf Monaten und ggf. zu berücksichtigende branchenspezifische Besonderheiten); Dahl, NZI 2008, 719, 720; Uhlenbruck in InsO-Hdb. (Fn. 12), § 6 Rz. 25; Hirte/Knof/Mock, ZInsO 2008, 1217, 1222; Haas (Fn. 12), § 64 GmbHG Rz. 47 m. w. N.; Wackerbarth, NZI 2009, 145. 14 Vgl. etwa K. Schmidt, DB 2008, 2467, 2470: positive „Überlebensprognose“ zum Ablauf des Prognosezeitraums; Hirte/Knof/Mock, ZInsO 2008, 1217, 1223: Prognosezeitraum darf nicht derart festgelegt werden, dass bereits bekannte existenzgefährdende Risiken zum Ende des Prognosezeitraums ausgeblendet werden.
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freilich, wie der Rangrücktritt ausgestaltet werden muss, damit die Passivisierungspfl icht einer Verbindlichkeit gegenüber dem Gesellschafter entfällt. Im Mittelpunkt dieses Streits um die an den Rangrücktritt zu stellenden Anforderungen steht der hier zunächst untersuchte Fall, dass der Rangrücktritt von einem Gesellschafter erklärt wird, der zuvor seiner Gesellschaft in der Krise – d. h. zu einem Zeitpunkt, in dem kein kaufmännisch vernünftig handelnder Dritter der Gesellschaft mehr Fremdkapital zur Verfügung gestellt hätte – Darlehen gewährt oder belassen hat. Schon in den frühen Sechzigerjahren hat der Bundesgerichtshof bekanntlich damit begonnen, derartige Darlehen als „eigenkapitalersetzend“ zu qualifi zieren und demnach wie haftendes Eigenkapital zu behandeln15. Wer als Gesellschafter der drohenden Insolvenz ins Auge blickt, hat nach diesen Rechtsprechungsregeln nur zwei legitime Handlungsmöglichkeiten: Er muss die Gesellschaft entweder liquidieren oder mit frischem haftenden Eigenkapital ausstatten. Der dritte Weg, den, wie Goette es ausdrückt, „Todeskampf durch Gewährung oder Belassung von Gesellschafterdarlehen zu verlängern und sich auf die Position eines außenstehenden Gläubigers zurück zu ziehen“, ist ihm verwehrt16. Versucht der Gesellschafter gleichwohl diesen dritten Weg zu beschreiten, muss er nach diesen Regeln behandelt werden, als hätte er haftendes Eigenkapital zur Verfügung gestellt17. Kern der vom BGH in richterlicher Rechtsfortbildung entwickelten Rechtsprechungsregeln ist somit das Verbot der Darlehens-Rückzahlung in der Krise: hätte der Gesellschafter in der Krise „richtig“ gehandelt und Eigenkapital nachgeschossen, so würde auf die Rückzahlung seiner Einlage § 30 GmbHG Anwendung fi nden. Diese wäre somit insofern verboten, als sie dazu führen würde, dass das Nettovermögen der Gesellschaft unter deren Stammkapitalziffer absinkt. Gleichwohl ausgezahlte Beträge könnten von der Gesellschaft nach § 31 GmbHG zurück gefordert werden. Dreh- und Angelpunkt der Rechtsprechungsregeln war somit die Vermögenserhaltung durch Verhaltenssteuerung in der Krise: Während diese andauert, soll der Haftungsfonds der GmbH im Interesse der Gläubiger davor geschützt werden, dass Geld an die Gesellschafter fl ießt – und sei es im Wege der Rückzahlung eines Gesellschafterdarlehens. Indem diese – ebenso wie die Rückzahlung einer Einlage nach § 30 GmbHG – verboten wird, sorgt die Rechtsprechung für die Erhaltung eines Vermögenssockels der GmbH, welcher dann in der späteren Insolvenz in die Masse fällt und so den Gläubigern zur Verfügung steht. Diesem verhaltenssteuernden und vermögenserhaltenden Ansatz der Rechtsprechung hat der Reformgesetzgeber schon in der GmbH-Novelle von 1980 eine insolvenz- und anfechtungsrechtliche Lösung entgegengestellt. Diese Novellenregelungen entfalten ihre Hauptwirkung nicht schon in der Krise, sondern erst danach, wenn es tatsächlich zur Insolvenz kommt. In der Insolvenz sind Gesellschafter, die in der vorangegangenen Krise Darlehen gewährt oder belas15 BGHZ 31, 258, 272 f.; 60, 258, 273; 67, 171, 174 f.; 75, 334, 336; 90, 370, 378 ff.; eingehend zur Entwicklung Löwisch, Eigenkapitalersatzrecht, 2007, S. 20 ff. 16 Goette (Fn. 2), Einf. Rz. 55. 17 Goette (Fn. 2), Einf. Rz. 55; grundlegend BGHZ 31, 258, 272 f.; vgl. auch Nachweise bei Fn. 15.
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sen haben, nach diesem Ansatz gegenüber allen anderen Gläubigern nachrangig – was im Regelfall zum Totalausfall führt. Rückzahlungen, die sie auf ein solches Gesellschafterdarlehen erhalten haben, unterliegen der Anfechtung, sodass sie sie nicht behalten dürfen, sondern der Masse zurückerstatten müssen – jedenfalls dann, wenn die Rückzahlung in dem Jahr vor dem Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens erfolgte. Der Reformgesetzgeber von 1980 hat die Frage nach dem Verhältnis der Novellenregelungen zu den Rechtsprechungsregeln nicht ausdrücklich geklärt. Vor dem Hintergrund dieser Zweideutigkeit hat sich der BGH alsbald dafür entschieden, die Rechtsprechungsregeln zusätzlich zu Novellenregelungen zur Anwendung bringen18. Dies hatte zur Folge, dass die Rückzahlung von Gesellschafterdarlehen in der Krise weiterhin verboten blieb, unabhängig davon, ob sie nach den Novellenregelungen zugleich eine anfechtbare Rechtshandlung darstellte oder nicht. In die Phase der Rechtsentwicklung, während derer Rechtsprechungsregel und Novellenregelungen kumulativ zur Anwendung kamen, fällt auch die wichtigste Leitentscheidung des BGH zu den an einen Rangrücktritt zu stellenden Anforderungen19. Im Jahre 2001 judizierte das Gericht, ein Rangrücktritt führe nur dann zur Aufhebung der Passivierungspfl icht, wenn nicht nur für den Fall der Insolvenz das Zurücktreten hinter die übrigen Gläubiger vereinbart wird, sondern auch eine präventive Durchsetzungssperre20 für die Zeit davor. Der Rangrücktritt musste somit die Verpfl ichtung des Gesellschafts-Gläubigers enthalten, für die Darlehensverbindlichkeit auch außerhalb des Insolvenzverfahrens nur aus dem freien Nettoaktivvermögen des Schuldners Befriedigung zu suchen. Dabei ist der innere Bezug zu den Rechtsprechungsregeln über den Eigenkapitalersatz unverkennbar: Damit die Passvisierungspfl icht entfallen kann, müsse der Gesellschafter-Gläubiger – so das Gericht – erklären, er wolle „wegen der genannten Forderungen erst nach der Befriedigung sämtlicher Gesellschaftsgläubiger und – bis zur Abwendung der Krise – auch nicht vor, sondern nur zugleich mit den Einlagerückgewähransprüchen seiner Mitgesellschafter berücksichtigt, also so behandelt werden, als handele es sich bei seiner Gesellschafterleistung um statutarisches Kapital.“
Für eine derart weitreichende Selbstbeschränkung des Gesellschafts-Gläubigers hat sich in der Folge der Begriff des „qualifi zierten Rangrücktritts“ eingebürgert21. Mit der MoMiG-Reform hat das Nebeneinander von Rechtsprechungsregeln für die Zeit der Krise und insolvenzrechtlichem Ansatz des Gesetzgebers für die Zeit danach ein Ende gefunden. Der Gesetzgeber hat – nicht ganz unbeeinflusst von der Erfahrung mit der höchstrichterlichen Relativierung der 18 BGHZ 90, 370, 378, 380; 95, 188, 192; BGH, NJW 1985, 2719, 2720; WM 1987, 284, 286. 19 BGHZ 146, 264, 272. 20 Plastisch Haas, ZInsO 2007, 617, 618; Kleindiek, ZGR 2006, 335, 354 ff. 21 In der Literatur umstritten war die Frage, welche „Rangtiefe“ der BGH im Insolvenzverfahren gefordert hat, vgl. dazu Goette, ZInsO, 2001, 529, 535; Spliedt in Runkel, Anwalts-Hdb. Insolvenzrecht, 2. Aufl. 2008, § 1 Rz. 217 f., jeweils mit weiteren Nachweisen. Diese Frage ist jedoch durch Einführung des § 19 Abs. 2 Satz 2 InsO, der eindeutig auf den Rang nach dem Rang des § 39 Abs. 1 Nr. 5 InsO verweist, geklärt.
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Novellenregeln von 1980 – zu dem ungewöhnlichen Mittel einer „Nichtanwendungsnorm“ gegriffen, um an dieser Stelle der richterlichen Rechtsfortbildung unzweideutig einen Riegel vorzuschieben: In § 30 Abs. 1 Satz 3 GmbHG wird nunmehr ausdrücklich gesagt, dass die Rückzahlung eines Gesellschafterdarlehens keine Einlagenrückgewähr darstellt. Das Verbot, in der Krise Gesellschafterdarlehen zurück zu zahlen, das im Zentrum der Rechtsprechungsregeln stand, ist damit aufgehoben. Der Gesetzgeber hat sich vollständig auf den Boden einer rein insolvenz- und anfechtungsrechtlichen Herangehensweise begeben. Auf das Merkmal der Krise im Zeitpunkt der Gewährung oder des Belassens des Darlehens kommt es in Zukunft nicht mehr an. Vielmehr sind sämtliche Gesellschafterdarlehen in der Insolvenz ex lege subordiniert und sämtliche Rückzahlungen dem Risiko der Anfechtung nach § 135 InsO ausgesetzt, wenn es innerhalb eines Jahres zur Insolvenz kommt. Fast zeitgleich mit dieser Reform durch das MoMiG wurde auch der Rangrücktritt zur Abwendung der Überschuldung erstmals zum Gegenstand einer ausdrücklichen gesetzlichen Regelung gemacht. In § 19 Abs. 2 Satz 2 InsO heißt es jetzt (wenn man die Technikalien der Vorschrift beiseite lässt): „Forderungen auf Rückgewähr von Gesellschafterdarlehen …, für die … der Nachrang im Insolvenzverfahren … vereinbart worden ist, sind nicht bei den Verbindlichkeiten zu berücksichtigen.“
Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob trotz dieses Federstrichs des Gesetzgebers künftig immer noch ein qualifi zierter Rangrücktritt mit präventiver Durchsetzungssperre notwendig ist. In ersten Literaturstellungnahmen ist diese Frage bejaht worden 22. Sie ist jedoch, wie ich meine, zu verneinen 23: die Forderung nach einer präventiven Durchsetzungssperre ist konzeptionell ein Bestandteil der überkommenen Rechtsprechungsregeln. Diese hat der MoMiGGesetzgeber aber gerade durch die Nichtanwendungsnorm des § 30 Abs. 1 Satz 3 GmbHG außer Kraft gesetzt: Die Rückzahlung von Gesellschafterdarlehen ist nunmehr gerade nicht mehr verboten – sondern unterliegt statt dessen besonderen Sanktionen im Fall der Insolvenz. Mit dieser „neuen Weltordnung“ wäre es unvereinbar, hinsichtlich der an einen Rangrücktritt zu stellenden Anforderungen den Versuch einer Teil-Erhaltung der Rechtsprechungsregeln unternehmen 24.
22 Haas, DStR 2009, 326, 327: Dass § 19 Abs. 2 Satz 2 InsO nur von einem Rangrücktritt im Insolvenzverfahren spricht, bezeichnet Haas als „Redaktionsversehen“. Im Ergebnis ebenso Goetsch in BerlinerKomm. InsR, Loseblatt 2009, § 19 InsO Rz. 47. Vgl. dazu auch Hölzle, GmbHR 2007, 729, 735, der sich aus diesen Gründen vor InKraft-Treten des MoMiG gegen § 19 Abs. 2 Satz 2 Reg-InsO wendet. 23 Ablehnend auch Weitnauer, BKR 2009, 18, 23. In die gleiche Richtung Thonfeld, NZI 2009, 15, 18. 24 Der vorangehende Referentenentwurf sowie der Regierungsentwurf zu § 19 Abs. 2 Satz 2 InsO verzichten sogar auf die ausdrückliche Vereinbarung eines Rangrücktritts. Zur Begründung wurde darauf verwiesen, dass eine Entscheidung darüber, ob ein Gesellschafterdarlehen dem gesetzlich angeordneten Rangrücktritt nach § 39 Abs. 1 Nr. 5 InsO unterfällt, künftig „wesentlich einfacher und rechtssicherer“ zu treffen sein werde, weil davon jedes Gesellschafterdarlehen erfasst sei. Aus diesem Grund sei die Forderung auf Rückzahlung eines Gesellschafterdarlehens sogar ohne Rangrücktrittserklärung des Gesellschafters „generell nicht als Passiva in der
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Diese Kernthese ist wie folgt näher zu begründen: Der geänderte § 19 InsO schreibt fest, dass ein Rangrücktritt künftig nur den Nachrang „im Insolvenzverfahren“ begründen muss. Diese Formulierung kann ihrem klaren Wortlaut nach nur bedeuten, dass es sich um einen Nachrang nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens handelt. Goette spricht insofern anschaulich von einer gesetzlichen Vorformulierung des künftig erforderlichen, aber auch ausreichenden Inhalts eines Rangrücktritts zur Abwendung der Überschuldung 25. Der Gebrauch dieser Formulierung hat freilich zur Folge, dass die Verbindlichkeit vor Eröffnung eines Insolvenzverfahrens (trotz des für sie erklärten Rangrücktritts) zurückgezahlt werden kann. Dies führt, wie nicht verkannt werden darf, dazu, dass in der Überschuldungsbilanz eine Verbindlichkeit gedanklich ausgeblendet wird, obwohl die Gesellschaft diese bei Fälligkeit bedienen muss. Dementsprechend geschwächt ist der auf Verhaltenssteuerung und Erhalt des Haftungsfonds gestützte Schutz der Gläubiger in der Art des § 30 GmbH. Dies ist aber nicht, wie zuweilen vorgebracht wird, einem Redaktionsversehen bei der Formulierung des § 19 InsO geschuldet, sondern liegt in der Konsequenz des vollständigen Übergangs von den Rechtsprechungsregeln zu einem rein insolvenz- und anfechtungsrechtlichen Ansatz, welcher mit der Novelle von 1980 begonnen hat und durch das MoMiG abgeschlossen worden ist. Nach der neuen Rechtslage darf zwar trotz Rangrücktritts in der Krise vor der Eröffnung des Insolvenzverfahrens zurückgezahlt werden. Soweit die Voraussetzungen für eine Anfechtung nach § 135 InsO vorliegen, kann der Insolvenzverwalter die ausgezahlten Mittel aber wieder zur Insolvenzmasse ziehen. Funktional löst somit das ex post wirkende Regime des § 135 InsO die präventive Durchsetzungssperre als Instrument des Gläubigerschutzes ab. Dieser Befund wird bestätigt, wenn man den Zusammenhang zwischen den an den Rangrücktritt zu stellenden Anforderungen und dem Zweck der Überschuldung als Insolvenzgrund in den Blick nimmt: Dem Gesetzgeber ging es bei der Einführung der Überschuldung als Insolvenzgrund eben nicht um eine Rückzahlungssperre zur Erhaltung eines bestimmten Vermögenssockels in der Gesellschaft, sondern um die Schaffung eines einfach handhabbaren Instruments zur Bestimmung eines Zeitpunkts. Dies ist der vorverlegte Zeitpunkt, ab dem die Prognoseunsicherheit hinsichtlich der künftigen Liquiditätsentwicklung nicht mehr zu Lasten des Rechtsverkehrs gehen soll, sodass die juristische Person, anders als der Einzelkaufmann, anmelden muss, obwohl sie noch zahlungsfähig ist. Die relevante Testfrage hierfür lautet: „Wenn heute
Überschuldungsbilanz zu erfassen“ – vgl. Referentenentwurf vom 29.5.2006, S. 82 f.; Regierungsentwurf vom 25.7.2007 (BT-Drucks. 16/6140), S. 56. Nach der Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses (BT-Drucks. 16/9737, S. 105) erfüllt die Notwendigkeit einer ausdrücklichen Rangrücktrittsvereinbarungen gemäß § 39 Abs. 2 InsO hingegen eine „Warnfunktion“. 25 Goette (Fn. 2), Einf. Rz. 81. Im Bericht des Rechtsausschusses ist – fast gleichlautend – die Rede davon, dass der Inhalt einer Rangrücktrittsvereinbarung „künftig vom Gesetz vorgegeben“ sei (Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses, BT-Drucks. 16/9737, S. 105). Vor dem Hintergrund dieser Materialien greift m. E. nach auch die Auffassung von Goetsch zu kurz, der in der geänderten Fassung des § 19 Abs. 2 Satz 2 InsO lediglich eine „Klarstellung“ der Rechtsprechung des BGH zum qualifi zierten Rangrücktritt erblickt, vgl. Goetsch (Fn. 22), § 19 InsO Rz. 47.
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die Insolvenz eintreten würde – und diese transaktionskostenfrei abgewickelt werden könnte – würde dann die Versilberung des gesamten Aktivvermögen ausreichen, um alle ‚echten‘ Außenverhältnisgläubiger zu befriedigen, die in der Insolvenz etwas zu bekommen haben?“. Wer seinen Nachrang „im Insolvenzverfahren“ erklärt hat, gehört nach der Logik dieser Testfrage nicht zum Kreis solcher „echten“ Außenverhältnisgläubiger – und zwar selbst dann, wenn er sich nicht zugleich einer präventiven Durchsetzungssperre unterwirft. Hierin – in der für die Bestimmung eines Zeitpunkts erforderlichen Konkretisierung dieses hypothetischen Szenarios „wenn heute die Insolvenz eintreten würde“ – erschöpft sich seit der MoMiG-Reform die Funktion der Überschuldungsbilanz. Sie hat keine darüber hinausgehende „vermögensbewahrende“ Funktion zur Verhinderung einer Einlagenrückgewähr. Gleichermaßen beschränkt ist die Funktion des Rangrücktritts: Auch dieser braucht nicht die „Nebenfunktion“ zu haben, eine Auszahlungssperre zu bewirken und damit den Vermögenssockel der GmbH in der Krise zu erhalten. Diese Nebenfunktion wurde ihm vom BGH unter der Herrschaft der Rechtsprechungsregeln zugewiesen. Aufgrund dieser BGH-Rechtsprechung spielte der Rangrücktritt eine Zeit lang eine Doppelrolle in zweierlei Funktionszusammenhängen: zum einen demjenigen der Überschuldungsprüfung als solcher, zum anderen demjenigen der Vermögenserhaltung durch die Rechtsprechungsregeln. Diese zweite Rolle ist weggefallen. Folglich bedarf es aber auch keines „qualifi zierten“ Rangrücktritts und keiner präventiven Durchsetzungssperre mehr.
IV. Rangrücktritte von Drittgläubigern Nach dem Gesagten muss man zur Beantwortung der Frage nach den Anforderungen, die an den Rangrücktritt eines Nicht-Gesellschafters zu stellen sind, bei der funktionalen Ersetzung der präventiven Durchsetzungssperre durch das anfechtungsrechtliche Regime des § 135 InsO ansetzen. Danach ist zu unterscheiden: Auf gesellschaftergleiche Dritte – d. h. Personen, die im Rahmen der Subsumption unter die Tatbestandsmerkmale des § 135 InsO ohnehin wie ein Gesellschafter behandelt werden 26 – lassen sich die hier herausgearbeiteten Ergebnisse ohne weiteres übertragen. Der Rangrücktritt eines solchen gesellschaftergleichen Dritte hebt die Passivierungspfl icht für die ihm gegenüber bestehende Verbindlichkeit der Gesellschaft auf (und beseitigt somit die technische Überschuldung), ohne dass die Rangrücktrittserklärung eine präventive Durchsetzungssperre zu enthalten braucht. Wer für die Zwecke der Anwendung des § 135 InsO wie ein Gesellschafter behandelt wird, muss in seinem Rangrücktritt nicht mehr zu erklären, als ein Gesellschafter erklären müsste. Damit verbleibt die Gruppe der „echten“ Drittgläubiger, die dem Risiko der Anfechtung nach § 135 InsO nicht ausgesetzt sind. Für sie kommt es zur funk-
26 Zur Abgrenzung dieser Gruppe vgl. nur Dauerheim in Wimmer, FK-InsO, 5. Aufl. 2009, § 135 InsO Rz. 4.
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tionalen Ersetzung der präventiven Durchsetzungssperre durch das Anfechtungsregime des § 135 InsO gerade nicht, jedenfalls nicht ex lege. Freilich bleibt es ihnen unbenommen, sich freiwillig (in einem Rangrücktrittsvertrag oder durch gesonderte Vereinbarung mit der Gesellschaft als der Schuldnerin) diesem Regime zu unterwerfen, und damit die funktionale Ersetzung herbeizuführen. Geschieht dies, so genügt m. E. auch für derartige – durch diese freiwillige Unterwerfung unter das Anfechtungsregime des § 135 InsO insofern Gesellschaftern gleichgestellte – Drittgläubiger der Rangrücktritt „für den Fall der Insolvenz“, d. h. ohne präventive Durchsetzungssperre. Fehlt es an einer solchen freiwilligen Unterwerfung, ist dagegen die präventive Durchsetzungssperre bei den „echten“ Drittgläubigern weiterhin erforderlich. „Echte“ Drittgläubiger haben daher im Ergebnis die Wahl, in ihre Rangrücktrittserklärung eine präventive Durchsetzungssperre in der Art des bisherigen „qualifi zierten“ Rangrücktritts aufzunehmen oder sich in der geschilderten Weise freiwillig dem Regime des § 135 InsO zu unterwerfen.
V. Ergebnis Die in Jahrzehnten wechselvoller Rechtsentwicklung angebahnte, im Herbst 2008 gefallene Entscheidung des Gesetzgebers für einen Paradigmenwechsel im gesamten Recht der ehemals „eigenkapitalersetzenden“ Gesellschafterdarlehen ist unzweideutig. Mit diesem Paradigmenwechsel muss diesmal – anders als nach den Novellenregelungen der Achtzigerjahre – Ernst gemacht werden. Dies gilt auch für den von einem Gesellschafter in Bezug auf sein Gesellschafterdarlehen erklärten Rangrücktritt zur Abwendung der Überschuldung. Für diesen reicht es künftig aus, wenn er sich dem Gesetzeswortlaut entsprechend auf die Anordnung des Nachrangs in der Insolvenz – d. h. nach der Eröffnung des Insolvenzverfahrens – beschränkt. Für Drittgläubiger gilt dasselbe, soweit sie sich freiwillig dem Regime des § 135 InsO unterwerfen.
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International arbitration and advocacy: a civilist’s point of view
„Advocacy“ describes what constitutes the cornerstone of any lawyer’s purpose: the art of defending through persuasion and of assistance through proper counseling and knowledge of the law. Article 758 of the Belgian judicial code recognizes what ought to be any lawyer’s talent as well as privilege: where parties may be prevented from arguing their own case in front of the judge because they may be carried away by their own „passion“ or „lack of experience“, a lawyer is expected to act with dignity and independence. Contrary to other representatives, legal or else, counselors or proxy holders, a lawyer must always act within the limits and constraints of the rules of ethics issued by the bar of which he is a member. Advocacy, at least as used in this contribution, is the walkway followed by the lawyer for the defense of his client’s interests, at the end of which and having complied with all ethical rules, the client’s interests and position will have been presented, heard and taken into account in the best possible manner. In a world of rapid evolution as we know it, where international disputes arise daily, advocacy encounters new and various limits. How can one reconcile proper defense of a client and scrupulous compliance with rules of ethics when the opposite side is represented by a counsel who is not subject to the same rules? Can a lawyer involved in an international dispute disregard „his“ rules of ethics, for the benefit of his client and in order to restore a balance? This is the context of this modest paper, which we would like to see as the starting point of a debate that our Anglo-Saxon friends have already started and that civil law practitioners should pursue. Quite evidently, arbitration is a form of dispute resolution in which international elements are – or at least can be – a focal point. It is often one of the preferred means used by international organizations and independent states or governments as well as by many multinational companies. Arbitration clauses frequently contain rules on the location of the seat of arbitration, the applicable regulations and the number of arbitrators. Contracts usually do not provide for the way in which the litigants will (have to) be counseled: the freedom of choice of the parties’ representatives is a quasi universal right (see infra) so evident that the parties do not deem it necessary or proper to determine its application beforehand. It is a fact, however, that there are cultural differences in the approach to advocacy in different parts of the world. One usually admits that these differences derive from the legal system that applies and therefore from the usual confl ict resolution system in place (by way of example: common law in Anglo-Saxon countries is frequently in confl ict with principles and litigation traditions of civil law countries). In arbitration, even if there is no written rule that imposes any sort of uniformity, practice reflects a tendency towards 445
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universal approaches that could spark off a setting for „international standards“ of advocacy. We will also see that certain arbitral tribunals have taken it upon themselves to intervene in the matter of the parties’ representation, which was unheard of not so long ago. The circumstances in which a confl ict may arise in the defense of a client’s interests and the answer provided by rules of ethics may vary. One thinks, foremost because it often occurs in international arbitration, about confrontations among lawyers that are members of different bars, trained in different legal systems and acting under different rules of ethics. How can one, for instance, reconcile the rules of professional secrets of an English counsel, a Japanese bengoshi or a Parisian avocat? Which rules of confidentiality, and thereby of production of documents, apply when respective counsels do not apply the same criteria? If the question is relevant in the course of arbitration proceedings (and it may lead to yet another one: how can an arbitration panel rule on such confl ict, if one admits it has jurisdiction to do so?), it may also be raised prior to any such proceedings: should a client’s choice of counsel in international arbitration be determined by the rules of ethics under which such counsel should operate? Going further: does the absence of universal criteria not create de facto an unfair advantage for the client who chooses a lawyer whose standards of ethics are the lowest? What rules apply to a lawyer who is a member of different bars? It is indeed not infrequent to meet colleagues that are members of both the Brussels or Paris bar and the New York bar. How do they reconcile their ethical duties and, foremost, what rules apply when they choose to defend a party in international arbitration? Can one imagine rules to apply „à la carte“, depending on the needs of the client? Should the most restrictive standards always be upheld (which may be to do the detriment of the client)? Should rules apply depending on the location of the arbitration? Or the address of the office from which a lawyer operates in the specific proceedings at stake? Or should it be the rules of the bar of which the opposite counsel is a member when the fi rst lawyer also happens to be a member of that bar? Finally, even though lawyers enjoy monopoly of representation in certain jurisdictions, in Belgium as in other countries, the parties do remain free to appear in person or, in certain cases, may choose to be represented by a person who is not a lawyer. How can one then reconcile the rules of ethics to which the lawyer of one party is subject if the opposite side is represented by a person who is not bound by such rules? We do not intend to provide an answer to all these questions but as indicated in the introduction, we wish to launch a discussion that has already been initiated by our Anglo-Saxon colleagues1. We will examine certain rules and general principles that constitute the essence of advocacy and that one can trace in 1 We refer to articles by different Anglo-Saxon authors such as R. Doak Bishop, The Art of Advocacy in International Arbitration, 2004; Gary B. Born, International Commercial Arbitration, volume 2, Wolters Kluwer 2009; Gary. B. Born, International Commercial Arbitration – Commentary and Materials, Kluwer law international, 2001 (2nd edition); Jan Paulsson, Standards of conduct for counsel in international arbitration, Essays in honor of Hans Smit, The American review of international arbitration, 1992/volume 3, nr. 1 to 4, p. 214 and following; David Sint John Sutton, Judith Gil, Matthew Gearing, Russel on Arbitration, Thomson 2007, p. 258 and following; C. Mark Baker „Advocacy
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most of the countries in which international arbitration is frequently practiced, irrespective of the nature of the legal system. We will also evoke some rules that are known and common in most of the countries, but that are applied differently or the contours of which are dissimilar. We will see whether the creation of uniform rules in international arbitration must be recommended and, if so, we will wonder how to achieve that. Amongst the general principles that are of the essence of advocacy, the right to be represented by a person of one’s choice is probably the most universally admitted rule in democratic nations. It is one of the aspects of the right of defense, as embodied among others in article 6(3)(c) of the European Convention on the safeguard of Human Rights. The fact of being assisted by a person of one’s own choosing constitutes one of the guarantees to a fair trial. For proceedings in front of state tribunals, this right is expressed, for instance, in article 728 of the Belgian judicial code and in article 1308 of the Netherlands Code of civil procedure. These rules, whether they apply for proceedings in front of state courts or in international arbitration, are nothing but the expression of a quasi unanimously admitted principle in countries that apply the rule of law: whatever the nature of the proceedings, whichever court will rule, this right is implicitly recognized. It is admitted in such a manner that, if one of the parties was deprived of her right to be represented by counsel of her own choosing, the neutrality of the court and thereby the fairness of the entire proceedings could be impaired and the process could be annulled (a decision to the contrary has, however, been rendered by an arbitral tribunal that was subject to the rules of the ICSID – International Centre for Settlement of Investment Dispute – on May 6, 2008, which ruled on the participation in the proceedings of counsel for the defendant – see infra)2. In international arbitration, and more specifically in commercial matters, this right is of fundamental importance. This principle is embodied in the various conventions and arbitration regulations such as the English „Arbitration Act“ of 1996 (section 36), in article 2(4) of the Arbitration Rules of the ICC, in article 18 of the rules of the „London Court of International Arbitration“, in article 4 of the UNICTRAL rules, etc. Certain states have adopted a more protectionist approach, by reserving access to courtrooms to local lawyers and extending that rule to international arbitration. These protectionist rules however tend to disappear. Such is the case in Malaysia since a decision of the Supreme Court of January 20, 1990; in Singapore since the amendments brought at the end of 2004 on the law on the legal profession; in Japan since the law number 66 of 1986; and in the State of California since the Birbrower, Montabano, Condon et Franck v. Superior Court of Santa Clara County decision, in 19983. The right of representation implies that each party may appoint a defendant of its own choosing, wether a lawyer or any other person. This right may offer substantial advantages for instance in a dispute that has highly technical aspects and international arbitration“, in The Leading Arbitrators’ guide to international arbitration, second edition, 2008, p. 381 and following. 2 David Sint John Sutton, Judith Gill, Matthew Gearing, op. cit., p. 259, nr. 5–189. 3 See in that respect Arbitration World, Jurisdictional Comparisons, second edition, European Lawyer References Series.
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by adding to a legal team engineers or commercially skilled persons. Such skills may enhance the presentation of a party’s position or may be more efficient in the examination of witnesses4. This occurs in international arbitration and evidences, precisely, one of the basic goals of arbitration: to offer a process of neutral confl ict resolution, with practices conforming to the expectations and needs of parties coming from different legal and judicial systems5. This is why most of the regulations of international arbitration explicitly contain the rights of the parties in connection with their defense. Another principle that appears to be universal relates to the notion that when lawyers are involved in a dispute, general standards are set regarding the quality of the representation; these standards include independence, confidentiality, dignity, integrity, honesty, competence, loyalty, zeal, rigor and seriousness. No need to further dwell on these qualities: naming them suffices. Another generally recognized principle is that when lawyers act for their clients, their actions must be tailored to favoring their client’s interests, but also preserving the integrity of the judicial system, the rules of ethics, and even sometimes the rights of third parties. Certain rules of conduct clearly spell out the lawyers’ duties; such is the case of the rules of ethics issued by the „American Bar Association“ (ABA), which in their preamble indicate that the profession has the duty to ensure that its regulations are issued for the protection of the public’s interest and not the only for the interests of the members of the bar and that the principles embodied in the standards include the duty for the lawyers to zealously protect and pursue their client’s legitimate interests, within the bounds of the law, while maintaining a professional, courteous and civil attitude toward all persons involved in the legal system6. The Charter of core principles of the European legal profession and Code of Conduct for European lawyers issued by the Council for European Bars (CCBE) contains a similar rule; in its preamble, under article 1.1, the lawyer’s mission is defi ned as follows: „In a society founded on respect for the rule of law the lawyer fulfi ls a special role. The lawyer’s duties do not begin and end with the faithful performance of what he or she is instructed to do so far as the law permits. A lawyer must serve the interests of justice as well as those whose rights and liberties he or she is trusted to assert and defend and it is the lawyer’s duty not only to plead the client’s cause but to be the client’s adviser. Respect for the lawyer’s professional function is an essential condition for the rule of law and democracy in society. A lawyer’s function therefore lays on him or her variety of legal and moral obligations (sometimes appearing to be in confl ict with each other) towards: – the client; – the courts and other authorities before whom the lawyer pleads the client’s cause or acts on the client’s behalf; – the legal profession in general and each fellow member of it in particular; – the public for whom the existence of a free and independent profession, bound together by respect for rules made by the profession itself, is an essential means of safeguarding human rights in face of the power of the state and other interests in society.“ 4 Allan Redsern, Marking Hunter, Droit et pratique de l’arbitrage commercial international, LGDJ, second edition 1994, p. 279–280. 5 Gary B. Born, International Commercial Arbitration, p. 2.301. 6 ABA Model Rules Of Professional Conduct, preamble §9, 11.
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Most bars’ regulations, whether expressly or implicitly, provide that lawyers representing clients in international arbitration do remain subject to the rules of ethics of their bar of origin: when arguing a case in front of state court of a country other than that of his own bar, or in front of arbitration panels, a lawyer remains subject to his own code of ethics. It is usually admitted that sanctions for the infringement of his rules of ethics may be imposed only by the authorities of the bar of which he is a member7. Even though lawyers across the world are subject to rules that carry a similar name, their content, contours, interpretation or enforcement may vary widely. This may have consequences on the conduct of arbitration proceedings. Once again, there are numerous examples: how can one reconcile „secret professionnel“ as applied to French or Belgian lawyers with the notion of „privilege“ better known to English lawyers? How should one treat confl icts of interests if such concept is not the same in different bars? How should the privileged relationship between a lawyer and his client on the one hand and the relationship among lawyers on the other hand be treated? How to reconcile the rules in connection with the calculation of legal fees which, in international arbitration, may have to be paid by the losing party, where the clients, having chosen lawyers from different bars, are not subject to the same rules, in particular in connection with the issue of contingency fees or the pactum de quota litis 8? 7 Gary B. Born, op. cit., p. 2307. This is the prevailing opinion. There are, however, discussions on the issue of the rules that apply to lawyers in an international arbitration: if the law that applies to the proceedings is the law of the country of the seat of the arbitration, why not use only the professional rules that apply in that location? 8 An interesting case was handled before the Paris Court of Appeals: an international arbitration took place in Paris. It was subject to the arbitration rules of the ICC. An Italian client was assisted by a lawyer who was a member of the bars of Paris and Beirut. A fee agreement was entered into among the Italian client and his lawyer, under which the lawyer would be paid an amount equal to 5 % of the sum awarded by the arbitrators to the client. The case was won by the Italian client. The defendant was sentenced to pay an amount of 123 million French francs. The payment of the fees took place but the client thereafter requested the restitution of that amount on the grounds that the fee arrangement was a pactum de quota litis, which was contrary to French public order. The client argued that his lawyer’s conduct was to be reviewed under principles of French law because this is how the lawyer presented himself, working from his Paris office in the scope of this arbitration, which was seated and handled exclusively in Paris. In a judgment of September 19, 1991 (Dalloz, 1992, 43), the Court of fi rst instance of Paris rejected the client’s claim, ruling that the fee arrangement constituted an international contract and that the autonomy of international arbitration prevented that it be subject to specific national rules unless the parties or the arbitral panel decided otherwise. The court found that this way of paying a lawyer was accepted in numerous countries that are subject to different legal systems and that, in this case, the rule did not result in despoiling the client. The court concluded that the fee agreement was not contrary to French international public order. On appeal, the Italian client argued again that French law was to be applied because his lawyer had his offices in Paris and the services had been rendered in France. The Paris Court of Appeal, in a decision rendered on July 10, 1992 (Dalloz, 1992, 459) again rejected the client’s claim. The court ruled that the fee agreement was born in the specific context of a dispute that was to be handled in front of an international arbitration tribunal chosen by the parties, and not in front of state courts. It further stated that, in international commercial matters, this way of remunerating a lawyer for his services was to be considered as an internationally accepted usage since it represents a com-
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Is there no unfair advantage among lawyers? Add to that possible violation of professional secrets when lawyers are allowed to refer to their recent victories in their advertisement whereas others may not even reveal the name of their clients… How must one handle the discrepancies that exist in the rules on witness examination or in testimony by the lawyer himself? Among these examples, let us focus on certain of these rules: – Professional secrecy: We know that in Belgium, among other countries, professional secrecy is one of the pillars of the legal profession. Under article 458 of the Belgian criminal code its violation is a criminal offense. The rule is one of total prohibition for a lawyer to reveal facts or circumstances that he became aware of in the scope of the exercise of his profession. This prohibition may not even be waived or lifted by the client. This rule does not apply to lawyers coming from other bars, among which English lawyers, who may reveal – and even testify about – such information. – Rules on confidentiality, on the lawyer-client relationship and on the obligation to report to a client, may also be different from one country to another. A Belgian lawyer writing to one of his colleagues does so under a strict rule of confidentiality, save for certain exceptions; in certain cases he may be prevented from revealing to his own client the entire information received from a colleague. To the contrary, an English lawyer must report to his client all the information exchanged with a colleague. In certain countries, correspondence exchanged by an in-house lawyer with his employer is by nature confidential and may not be produced in court; in others, this is not the case. Obviously, in procedural matters, such exchanges may present a strategic importance: when it comes to adducing evidence of their allegations, parties represented by lawyers that are subject to different rules of ethics may fi nd themselves on a different footing; e. g.: the fi le compiled by an English lawyer could contain evidence which a Belgian or French lawyer would be prevented from disclosing. – Examination of witnesses and more specifically preparation of witness hearings by lawyers is another issue on which viewpoints may be totally opposite. As written by Jan Paulsson, „in some jurisdictions, it is a professional duty, while in other it is a sin“9. In common law countries, lawyers have a professional duty to depose potential witnesses prior to a hearing and, if they think it may be in the interests of their clients to have the person testify, they must prepare their testimony with them. In certain states of the United States of America, not preparing a witness prior to a hearing would be professional negligence, the only limit being that lawyer may not prepare or assist in the preparation of a witness of whom he knows or should know that he/she can-
mon practice in numerous countries that have a different legal system. Even though article 10(3) of the statute of December 31, 1971 on the calculation of legal fees does not contain any exception or derogation, the fee agreement was not contrary to French international public order since it did not lead to a grossly exaggerated fee. The arrangement was therefore considered a valid one. This example is cited by Jan Paulsson, op. cit., p. 216–218. 9 Ibid, p. 215.
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not be trusted10. That being said, even in common law countries, the rule is applied differently. In England, lawyers are not authorized to „coach“ a witness or to suggest a testimony in one sense rather than another: a lawyer may familiarize himself with the witness but he may not in any way „train“ him11. The situation is obviously very different in civil law countries: for a lawyer to have a contact with a witness prior to a witness hearing or trying to interfere with his testimony is contrary to rules of ethics and may, in certain cases, be sanctioned. The professional rules of the Brussels bar (2009 edition) indicate : „l’avocat doit, par souci de la recherche de la vérité et par respect de ceux qui sont appelés à coopérer à l’exercice de la justice, s’abstenir de toute relation avec les témoins appelés à déposer dans une cause dont il est chargé“ (For truth’s sake and in order to respect those who are meant to cooperate to the administration of justice, the lawyer must refrain from all relation with witnesses testifying in a matter he is handling) and he „doit s’abstenir aussi de correspondre ou de conférer avec les témoins qui doivent être entendus dans les affaires qui lui sont confiées. Il ne doit pas être soupçonné d’avoir cherché à influencer leur déposition“12 (the lawyer must refrain from writting to or adressing witnesses that will be heard in cases he is handling. The lawyer cannot be suspected of having tried to influence the testimony). However, since a recommendation of 19 February 2009, the French-speaking Brussels bar considers that the rule does not apply to lawyers acting in judicial or arbitral proceedings of international dimension and on 12 October 2010 a new regulation confirmed this recommendation for lawyers acting in contractually-based resolution proceedings. The Paris bar, which otherwise knows rules that are very similar to the Brussels ones, has adopted a recommendation on February 26, 2008 authorizing lawyers, when handling international arbitration cases, to prepare witnesses for that very purpose; a Paris lawyer would therefore not infringe his rules of ethics if he familiarizes himself with a witness in view of a witness hearing that is to take place in front of an international arbitration panel13. With respect to witness hearings, one should also mention that certain rules of arbitration, such as the IBA rules of evidence, allow a lawyer to contact a witness prior to the hearing in order to discuss the facts of the case with him. Could a lawyer, whose rules of ethics prevent him from having such contact, rely on such rules of procedure in the scope of a specific arbitration to which these IBA rules apply? We believe the answer is a negative one: no procedural
10 District of Columbia Bar, Code of Professional Responsibility and Opinions of the D. C. Bar Legal Ethics Comm.138–139 (1991). 11 Rules of the Bar of England and Wales § 705 a (8th edition 2004). 12 Rules of the Brussels bar, 2009, No. 462, p. 482. 13 The resolution reads as follows : „Dans le cadre des procédures arbitrales internationales, situées en France ou à l’étranger, il entre dans la mission de l’avocat de mesurer la pertinence et le sérieux des témoignages produits au soutien des prétentions de son client, en s’adaptant aux règles de procédure applicables. Dans cet esprit, la préparation du témoin par l’avocat avant son audition ne porte pas atteinte aux principes essentiels de la profession d’avocat et s’inscrit dans une pratique communément admise où l’avocat doit pouvoir exercer pleinement son rôle de défenseur“. This implies that the rule does not apply in national (or domestic) arbitration.
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rules or exceptions may relieve a lawyer from abiding by the rules of ethics to which he is subject. Similarly, in Belgium, France and in Italy, a lawyer may not testify in a matter he has handled. The situation is different in Austria, Germany and the Netherlands as well as in England and in the majority of the states of the United States. An arbitrator has reported that he was faced with a difficult situation: six French lawyers had been involved in complex negotiation the failure of which led to the international arbitration proceedings; in the course of the arbitration, the French avocats had been invited, with the consent of their client, to testify about the content of these negotiations14. The six Paris lawyers were prevented by the ethics commission of the Paris bar from testifying. The English solicitor of the other party, on the other hand, testified as he was by no means restricted to do so. The arbitrator was therefore offered only one version of the facts where he would have wanted to hear seven … These few examples show the difficulties that may arise when trying to combine rules of ethics that apply to lawyers from different bars. These difficulties are not pure theory; solutions are, however, not always obvious. We will therefore try to explain certain points and, as would an impressionist painter, add patches of answers. First of all, as indicated above, it is generally admitted that lawyers must always comply to their own rules of ethics, wherever the court in front of which they appear is located. Their bar authorities have sole authority to rule over matters of ethics. Most of the time, arbitration panels that have been faced with an issue of ethics have ruled that it is not up to them to resolve these; they request the parties to do so with their own bar authorities or with the competent jurisdictions under which they fall. Quoting M. Rogers, „international arbitration dwells in an ethical no-man’s land“15. However, since a number of years, without it having risen to the level of a real trend yet, a few international arbitration panels have taken it upon themselves to discuss the ethical incidents arising before them. Granting the power to the arbitration panel to resolve such incidents might perhaps be accepted, for instance because it would have been provided for in the arbitration clause, in an arbitration agreement or in the subsequence terms of reference16. However, this does not appear to have been the case in the matters that have been published. Hence, there is a novelty. For instance in the matter Hrvatska ElektroPriveda, d. d. vs. the Republic of Slovenia17, the arbitration panel issued an award on May 6, 2008 relating to the participation to this arbitration of M. David Mildon, Queen’s Counsel in the Essex Court Chambers who, in that case, it was one of the counsels to the defendant. The ruling came upon the request of plaintiff, who believed that 14 Example quoted by Jan Paulsson, op. cit., p. 214. 15 M. Rogers, Fit and Function in Legal Ethics: developing a code of conduct for international arbitration, 23 Mich.J.Int’l L.341, 342 (2002). 16 This could perhaps be the case if the parties agree on the rules of ethics that will apply to their respective lawyers and where they have granted the power to the arbitrators to rule on procedural and ethical incidents that might arise in the course of the arbitration. 17 ICSID case No. ARB/05/24.
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there might be a confl ict of interest between M. Mildon and the chairman of the panel, M. Williams, also Queen’s Counsel in the Essex Court Chambers, whose office happened to be next to that of M. Mildon. The plaintiff was referring to the IBA rules on confl icts of interest in international arbitration, and more specifically to General Standard 2,b. In his petition, plaintiff requested the defendant to provide an answer as soon as possible to two questions: one about the exact and detailed role that defendant wanted M. Mildon to take in the hearing; second, since how long defendant had considered inviting M. Mildon to represent it at the hearing (scheduled to occur one week later), including the exact date on which the Republic of Slovenia had appointed M. Mildon as part of a team of lawyers constituted for the arbitration, as well as the date on which M. Mildon had accepted such appointment. It is to be noted that, following this petition, the chairman of the tribunal had, spontaneously, indicated to counsels for the plaintiff that the appointment of M. Mildon had been unbeknownst to him until the day of the fi ling of the petition and that, in any event, he had had no personal contact whatsoever with M. Mildon; the only link that could be made with him was the fact that they were members of the same chamber. The chairman of the arbitration panel declared having never had any difficulty in acting with objectivity and impartiality when confronted earlier as arbitrator with a lawyer who was a member of the same chamber as himself. Without entering into the details of this matter, the defendant fi nally indicated the date on which it had approached M. Mildon and added that it had not seen a possible confl ict, which explains why no declaration of that nature was made when M. Mildon had been appointed. The plaintiff maintained its petition, which the arbitral panel granted in its May 6, 2008 decision, in which the tribunal ordered M. Mildon not to participate as counsel in that case. In its well motivated award, the court ruled that it had to answer two questions: did it have jurisdiction to examine the petition of the plaintiff and, if so, how should it rule in view of the circumstances of the case? Finding itself the guardian of the integrity of the arbitration proceedings, the panel considered that it had to ensure that all decisions that it would take would be well-founded and that could not be criticized because of a procedural imperfection. As indicated in their decision, the arbitrators expressed to have found themselves in a difficult position: they could either declare the petition admissible, but then their award could be disputed by the defendant on the basis that its right to be represented (acknowledged by rule 19 of the ICSID arbitration rules, itself recognized as a fundamental procedural right), as well as its right to be authorized to present its fi le completely, had been violated; or, if the petition was rejected, the plaintiff could raise the impartiality of the chairman of the panel, whereas rule 6 of the ICSID arbitration rules provides that the parties must be offered a fait trial; or plaintiff could allege that, at the very least, there was an appearance of partiality. The decision further indicates that the chairman of the tribunal had proposed, should M. Mildon not voluntarily withdraw, to solicit his replacement as chairman of the panel. Both parties had indicated on various occasions that they did not wish the chairman to step down, fearing added costs and delays. With respect to the solution that was ultimately chosen, the arbitral tribunal fi rst reminded the parties of the specificities of Inns of Court’s, which may in 453
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no way be compared to law fi rms as such. The panel pointed out, however, that in the eyes of persons not familiar with Court’s chambers, confusion with a law fi rm does, however, exist. The tribunal reminded that the plaintiff had maintained its objection to the participation of M. Mildon after the defendant’s refusal to answer certain of the plaintiff’s questions about the intervention of counsel, and after both parties had confi rmed their confidence in the chairman and had asked him not to step down. It then focused on article 14 of the ICSID treaty, which requires arbitrators to „be relied upon to exercise independent judgment“. The panel further reminded that that rule 6 of the ICSID arbitration rules requires them to „judge fairly“; it considered that the objections raised by the plaintiff did not arise out of fear for lack of independence or impartiality, but out of an apprehension of „appearance of impropriety“. The arbitrators did then fi nd that, in the interest of the legitimacy of the proceedings, the plaintiff was entitled to raise such objection. It admitted the objection. The arbitrators indicated, however, that the consequences of such conclusions were not self-evident: in an international context such as that created by the ICSID, it is not acceptable to remand the parties to local courts or authorities. That being said, the ICSID rules of arbitration do not provide any right for arbitrators to exclude counsel from pending proceedings. To the contrary, the arbitrators reminded that it is a general principle that each party may choose its own representative and organize its representation as it deems appropriate. The tribunal came, nonetheless, to the conclusion that even such fundamental principles must sometimes yield to certain exceptions and that, in the case at hand, the exception that trumps the rule is that of the immutability of a validly appointed arbitration panel, as provided for in article 56 (1) of the ICSID treaty. Replying specifically and in detail in the light of the circumstances of the case, the Tribunal indicated that the defendant was entitled to appoint its team of counsel as it found appropriate prior to the constitution of the panel, but that it could not change the composition of its team in such way that the impartiality of the appointed tribunal could be questioned (§ 26 of the May 6, 2008 decision). The tribunal further indicated that the „principle of immutability of properly constituted tribunals“ is not only embodied in the ICSID treaty but also in various other rules, which it cites. The tribunal fi nally reminded, in paragraph 30 of its award, that it wished to – and that it was its duty to – ensure respect for the integrity of the proceedings and of the award that was to be rendered. It further reminded that it is a fundamental rule of procedure, provided for in article 52 (1)(d) of the ICSID treaty, that proceedings may in no way be questioned on grounds of lack of impartiality or independence of the members of the tribunal. The tribunal found that three judgment errors on the side of defendant had generated apprehension and mistrust among the parties, which it was important to dispel. Eliminating the substantial risk of apprehension of partiality on the side of the parties could be achieved only through two solutions, according to the tribunal: either the chairman had to step down, or M. Mildon had to withdraw. The tribunal indicated that since none of the parties had wished the chairman to step down, and because the cardinal rule of immutability of the tribunal would be impaired if the chairman was to do so, the latter was not an option in the given circumstances (paragraph 32). Going even further, the tribunal replied to the defendant who argued that the 454
International arbitration and advocacy
tribunal had no inherent jurisdiction to rule on such issue. The tribunal found that, „as a judicial formation governed by public international law“ it did have an intrinsic power to take all measures necessary to preserve the integrity of the proceedings. Under article 44 of the ICSID treaty, it was entitled to take all decision relating to „any question of procedure“ not expressly regulated by the ICSID treaty, by the ICSID arbitration rules or by the parties. The tribunal further referred to decisions by international courts such as the international Tribunal for the former Yugoslavia. And, fi nally, the tribunal ordered M. David Mildon to withdraw as counsel for the defendant in these proceedings. Can one conceive a similar outcome in an international arbitration where only arbitrators and lawyers coming from the civil law tradition would interact? Perhaps not. One may, however, note that in a decision rendered on January 14, 2010, again in an arbitration subject to the ICSID rules18, the tribunal that was faced with a similar problem found that there was no reason to grant a petition fi led by the defendant to order the plaintiff to eliminate one of its lawyers from its team and to prevent him from participating in the case in any manner whatsoever. The defendant’s argument was that counsel at stake, M. Barton Legum, had previously been employed by the law fi rm of which one of the members of the tribunal was a partner. The defendant relied on the case Hrvatska ElectroPriveda d. d. vs the Republic of Slovenia, mentioned hereabove. The tribunal found, however, that such case was not one by which it was bound and that, on the basis of the facts before it, the ICSID treaty and its rules of arbitration did not contain any provision authorizing it to rule on the party’s choice of counsel or representative. Hence, a second attempt to provide an answer may be the following: any lawyer who is to handle a case brought either in front of an arbitration panel or before other jurisdictions, should gather information on the applicable rules and practices at stake. This duty derives from the respect owed to the courts before which he/she will appear. This would enable him/her to understand certain potential problems and to discuss these beforehand with the authorities of his/ her own bar, from which he/she will seek directions and advice. Such behavior is already commanded by the general principles of the CCBE charter. Article 2.4 provides: „when practicing cross border, a lawyer from another Member State may be bound to comply with the professional rules of the Host Member State. Lawyers have a duty to inform themselves as to the rules which will affect them in the performance of any particular activities“19. Should such practice be generalized, aside from bringing about a better knowledge of foreign systems, it could entail a better entwining of the rules, and possibly lead to a certain standardization. Third and last impression in the form of an interrogation: is uniformity of the rules of international arbitration desirable? One would answer in the affi rmative because all those who intervene in international arbitration have a common interest in seeing that the representatives of the parties act in accordance with
18 The Rompetrol Group n. v. vs Romania, ICSID case No. ARB/06/3. 19 Mention should be made of the fact that article 4.5 of the same rules extends all rules govering a lawyer’s relations with a court to arbitrators.
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a similar code of conduct, based on international standards. This would be to the benefit of a good justice system (albeit a private one). Some nuances, however. On the one hand, some rules already exist. One may think about the codes of conducts of the ASA, IBA, or of the CCBE. On the other hand, as was also indicated before, it is not possible to release a lawyer from his duty to comply with his rules of ethics for instance through international standards. Finally, is there not a risk of overregulation, as described by Pierre Lalive: „n’est-il pas temps de garder ou de retrouver le sens des proportions et des priorités, et de réagir aussi bien contre la manie publique que contre la manie privée de vouloir tout réglementer jusque dans les détails ?“20. At this stage, the need to develop certain uniform rules and standards arises only about rules that are similar in their name or defi nition but that are applied differently. The aim must be to create uniformity in the way they are applied through the adoption of the clear and neutral codes of conduct, which arbitration panels could rely on in order to (re)inforce the legitimacy of the proceedings they are in charge of and, hence, to ensure fair trial processes. One may think about a further distinction, relying on the work of an author already cited in this contribution, M. Gary. B. Born 21: on the one hand, there could be local mandatory rules applying to counsel for the parties on the basis of their membership of a specific bar and, on the other hand, there could be procedural standards the purpose of which would only be to ensure fair trials and the legitimacy of arbitral proceedings. The former would relate to the relationship between the lawyer and his client, the lawyer and the courts, rules on legal fees, or even rules on confl icts of interest, they would continue to fall under the exclusive jurisdiction of the bar of which the lawyer is a member. The latter would exist to ensure the integrity and fairness of arbitral proceedings and would fi nd their source in the power granted to the arbitral tribunal to conduct proceedings in all fairness and to rule on any issue relating to the arbitral proceedings. Among other things, this could be the case for the rules on evidence, for those on the provision or information and documents, on confidentiality, on the choice of counsel in front of the arbitral tribunal, on prior contacts and preparation of witnesses in view of up hearing and on lawyers’ conduct at a hearing. Whether falling under generally recognized and accepted international standards or whether they would have been adopted by the parties themselves, the tribunal would be allowed to enforce them. It goes without saying that the tribunal would not have the authority to impose an ethical sanction on a lawyer who would have infringed them. Any sanction would be directed against the parties – and not their counsel – for instance through the distribution of the arbitration costs or through the awarding of damages. These issues are quite complex. They cannot be dealt with in the scope of a single article. Confronting ethical rules, customs and usages of lawyers around the world and the impact they have in international disputes, should make it possible to have a clear view and to come up with solutions that are precise, coherent, balanced and fair, all in the interest of the one person that is the focal point of advocacy: the client. 20 Pierre Lalive, De la fureur réglementaire, Bull. ASA/2, p. 213 and following. 21 op. cit., p. 2319–2320.
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Die Haftung des Wirtschaftsprüfers Inhaltsübersicht I. Heranführung II. Das eigenständige Haftungsregime aus § 323 HGB 1. Die Komponenten des Haftungsregimes 2. Entwicklungsperspektiven auf der Unions-Ebene III. Leistungserweiterungen im gesetzlichen Haftungsregime 1. Abschlussprüfung und Emissionsprospekt 2. Erweiterungen der Abschlussprüfung
IV. Die Dritthaftung des gesetzlichen Abschlussprüfers 1. Zur Vereinbarung eines Vertrags mit Schutzwirkung für Dritte 2. Entwicklungen in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs V. Sonstige Fälle der Wirtschaftsprüferhaftung 1. Freiwillige Abschlussprüfungen 2. Sonstige Tätigkeiten des Wirtschaftsprüfers VI. Ausblick
I. Heranführung Wer zur „Haftung des Wirtschaftsprüfers“ unvoreingenommen die Rechtsprechung, insbesondere die reiche des Bundesgerichtshofs durchmustert, der stößt alsbald auf einen bemerkenswerten Befund: Über die Handlungspfl ichten des Wirtschaftsprüfers und ihre mögliche Verletzung wird nur selten vor den Schranken der Gerichte gestritten. Das gilt für seine Handlungspfl ichten in der Funktion des obligatorischen „Abschlussprüfers“1 ebenso wie für seine Pfl ichten bei der freiwilligen Abschlussprüfung, bei Sonderprüfungen oder im Zusammenhang mit der Emission von Kapitalmarkttiteln; nur seine funktionale Einbindung in Kapitalanlagesysteme wurde für konkrete Einzelfälle näher entfaltet2. Namentlich die „gewissenhafte und unparteiische Abschlussprüfung“3 wird offenbar ohne wesentliche Umstände in der Praxis erledigt. Das mag seinen Grund in der hohen Professionalität des Berufsstandes haben, in den mittlerweile zudem gesetzlich geregelten Systemen der Qualitätssicherung und wohl auch in der Diskretion, mit der die Versicherer Scha-
1 Hierzu (nach Manuskriptabschluss) jedoch BGH, NZG 2010, 146, 150 f. – S-Hotel (VII. ZS); zu den Rollen des Abschlussprüfers eingehend Mattheus in Hommelhoff/ Hopt/v. Werder, Handbuch Corporate Governance, 2. Aufl. 2009, S. 563 ff. 2 BGHZ 145, 187 (X. ZS); BGH, DB 2009, 2778; 2010, 219 (III. ZS). 3 Art. 21 ff. der Richtlinie 2006/43/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 17. Mai 2006 über Abschlussprüfungen von Jahresabschlüssen und konsolidierten Abschlüssen, zur Änderung der Richtlinien 78/660/EWG und 83/349/EWG des Rates und zur Aufhebung der Richtlinie 84/253/EWG des Rates, ABl. EU 2006 L 157/87, mitsamt den Erwägungsgründen 9 ff. geben die Berufsgrundsätze für Abschlußprüfer und Prüfungsgesellschaften EU-weit verbindlich vor.
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densfälle notfalls im Prozessvergleich abwickeln4. Alles in allem offenbar das Bild einer Idylle – ein ganz trügerisches Bild, wie aus EU-Perspektive später darzulegen sein wird. Aber zunächst zur deutschen Sicht: Wenn nicht Handlungspfl ichten, was aber dann? In ihrem Schwerpunkt konzentrieren sich namentlich die höchstrichterlichen Judikate zur Haftung des Wirtschaftsprüfers auf dessen Haftung gegenüber Dritten, also gegenüber Gesellschaftsgläubigern und Anteilseignern, aber auch gegenüber Anlegern oder Anteilserwerbern, mit denen der Wirtschaftsprüfer keinen Auftrag abgeschlossen hat. Sein Vertragspartner zur Prüfung, Begutachtung oder Betreuung ist das Unternehmen, ist die Gesellschaft als Auftraggeber5. Deshalb geht es in den Fällen der Wirtschaftsprüfer-Dritthaftung stets um die Frage, ob und unter welchen Voraussetzungen solche Dritten in den Schutzbereich des Auftragsverhältnisses miteinbezogen, oder gar Mitgläubiger des Hauptanspruchs gegen den Auftrag-nehmenden Wirtschaftsprüfer sind. Ein solcher Einbezug Dritter kann nicht bloß das Haftungsrisiko des Wirtschaftsprüfers enorm steigern; darüber hinaus reibt sich der Einbezug auch mit einer Grundregel innerhalb der gesetzlichen Abschlussprüfung: Nach § 323 Abs. 1 HGB haftet der Prüfer für Pfl ichtwidrigkeiten allein der geprüften Kapitalgesellschaft (und ggf. den mit ihr verbundenen Unternehmen), aber eben nicht sonstigen Dritten6. Diese Interpretation des Absatzes 1 Satz 3 hat der Bundesrat im Gesetzgebungsverfahren zum KonTraG 1998 durch eine Gesetzesergänzung ausdrücklich absichern wollen, um den Abschlussprüfer vor unkalkulierbar hohen Risiken zu bewahren: Anderen als den in Satz 3 Genannten hafte der Prüfer für eine fahrlässige Verletzung seiner Pfl ichten nicht7. Diesem Vorschlag hat sich der BundestagsRechtsausschuss8 nur deshalb nicht angeschlossen, weil er diese Regelung als bereits in Satz 3 enthalten ansah und sich dafür (alle Achtung) auf ein Urteil des Landgerichts Frankfurt9 abstützte10. Mithin scheinen auch rechtsdogmatische Grundwertungen einer Wirtschaftsprüfer-Dritthaftung zu widerstreben. Konsequent werden sich die nachfolgenden Darlegungen auf diese Dritthaftung konzentrieren; dies allerdings nicht allein und auch nicht als erstes. Denn der Gesetzgeber könnte schon mit dem KonTraG von 199811 und danach noch
4 Sommerschuh, Berufshaftung und Berufsaufsicht: Wirtschaftsprüfer, Rechtsanwälte und Notare im Vergleich, 2003, S. 241, in Auswertung der von der Versicherungsstelle Wiesbaden kompilierten Haftungsurteile. 5 Zu den Rechtsgrundlagen für die Abschlussprüfung näher Adler/Düring/Schmaltz (ADS), Rechnungslegung und Prüfung der Unternehmen, Teilband 7, 6. Aufl. 2000, § 317 HGB Rz. 20 ff.; Hopt/Merkt, Bilanzrecht, 2010, Überbl v § 316 HGB Rz. 1 ff.; zu den Prüfungsstandards und -hinweisen des IDW im Besonderen Ebke in MünchKomm. HGB, Band 4, 2. Aufl. 2008, § 317 HGB Rz. 21 ff. 6 ADS (Fn. 5), § 323 HGB Rz. 75; Winkeljohann/Feldmüller in Beck’scher BilanzKommentar, 7. Aufl. 2010, § 323 HGB Rz. 116 f.; Zimmer in Ulmer, HGB-Bilanzrecht, 2. Teilband, 2002, § 323 HGB Rz. 38 f. 7 BR-Drucks. 872/97, 1, 9. 8 BT-Drucks. 13/10038, 22, 25. 9 WPK-Mitt. 1997, 236. 10 ADS (Fn. 5), § 323 HGB Rz. 177; Ebke (Fn. 5), § 323 HGB Rz. 155. 11 Gesetz zur Kontrolle und Transparenz im Unternehmensbereich (KonTraG) vom 27.4.1998, BGBl. I 1998, 786 ff.
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einmal mit dem Bilanzrechtsmodernisierungsgesetz von 200912 nicht nur die Handlungspfl ichten des Abschlussprüfers quantitativ erweitert (z. B. mit der Beurteilung des Risikoerkennungssystems börsennotierter Aktiengesellschaften nach § 317 Abs. 4 HGB)13, sondern auch qualitativ das Haftungsrisiko des Prüfers gesteigert haben – etwa du rch die kupierten Prüfungsaufträge hinsichtlich des Risikomanagements nach dem BilMoG14. Daraus ergibt sich die Abfolge der kommenden Überlegungen: Zunächst soll die besondere Haftungsregelung für den gesetzlichen Abschlussprüfer in § 323 HGB mit Blick auf ihre einzelnen Komponenten untersucht werden, vor allem aber auf die rechtspolitische Begründung dieses speziellen Haftungsregimes. Nach einem Blick auf die europäische Perspektive sind Ausweitungen der Prüfertätigkeit und der Verwendung ihrer Ergebnisse in Bezug auf dies Spezialregime zu würdigen. Im letzten Abschnitt geht es schließlich um die Dritthaftung – um die Dritthaftung des Abschlussprüfers und dann um die des Wirtschaftsprüfers für sonstige Tätigkeiten (etwa im Rahmen einer Sonderprüfung im Auftrag des Aufsichtsrats).
II. Das eigenständige Haftungsregime aus § 323 HGB Für die gesetzliche Abschlussprüfung ist der Abschlussprüfer nach der Regelung in § 323 HGB, wie gesagt, einem eigenständigen Haftungsregime unterworfen. Der Gesetzgeber hat sich also nicht damit begnügt, auf die bürgerlichrechtlichen Behelfe wegen Schlechterfüllung des Prüfungsauftrags zu verweisen. 1. Die Komponenten des Haftungsregimes Das war schon deshalb ausgeschlossen, weil die gesetzlichen Pflichten aus § 323 Abs. 1 HGB nicht allein dem Abschlussprüfer auferlegt sind, sondern abweichend vom allgemeinen Zivilrecht ebenfalls den Prüfungsgehilfen sowie, falls eine Prüfungsgesellschaft prüft, deren an der Prüfung mitwirkenden gesetzlichen Vertretern15; konsequent haften auch sie für ihre Pfl ichtverletzungen dem Auftraggeber unmittelbar (arg. e § 323 Abs. 1 Satz 3 HGB) – und das auch noch gesamtschuldnerisch ggf. neben dem Abschlussprüfer (§ 323 Abs. 1 Satz 4 HGB)16. Dies Risiko unmittelbarer Inanspruchnahme belastet die Gehilfen und gesetzlichen Vertreter erheblich und könnte bereits allein für sich genommen
12 Gesetz zur Modernisierung des Bilanzrechts (Bilanzrechtsmodernisierungsgesetz – BilMoG) vom 25.5.2009, BGBl. I 2009, 1102 ff. 13 Hommelhoff/Mattheus, AG 1998, 249, 256 ff.; Hommelhoff/Mattheus in Dörner/ Horváth/Kagermann, Praxis des Risikomanagements, 2000, S. 5, 8 f. 14 Dreher in FS Hüffer, 2010, S. 161, 162 ff. 15 ADS (Fn. 5), § 323 HGB Rz. 14 ff.; Wiedmann in Ebenroth/Boujong/Joost/Strohn, HGB, Band 1, 2. Aufl. 2008, § 323 HGB Rz. 1; Zimmer (Fn. 6), § 323 HGB Rz. 3. 16 Ebke (Fn. 5), § 323 HGB Rz. 20; Winkeljohann/Feldmüller (Fn. 6), § 323 HGB Rz. 112 ff.; Zimmer (Fn. 6), § 323 HGB Rz. 35 ff. – Probleme bereitet die Direkthaftung der Prüfungsgehilfen, wenn diese nicht versichert sind; die Versicherungspfl icht nach §§ 54 Abs. 1 Satz 1, 130 WPO besteht jedenfalls nur für selbständige Wirtschaftsprüfer, vgl. ADS (Fn. 5), § 323 HGB Rz. 165.
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die schon erwähnte Haftungskanalisierung auf die zu prüfende Kapitalgesellschaft und den Ausschluss der Haftung gegenüber Dritten legitimieren. Neben dieser Mehrzahl Haftender zeichnen also Eingrenzungen das eigenständige Haftungsregime des § 323 HGB aus, die miteinander verknüpft in einem ausgewogenen Gesamtzusammenhang stehen. So wird auf der einen Seite der Schadenersatz pro Prüfung bei fahrlässiger Pfl ichtverletzung auf eine Million Euro bzw. bei Aktiengesellschaften am geregelten Kapitalmarkt auf 4 Millionen Euro begrenzt (§ 323 Abs. 2 HGB), um den „Prüfer zum Nutzen seiner Arbeit von der drückenden Besorgnis zu befreien, unbeschränkt zum Ersatz verpfl ichtet zu sein“17. Auf der anderen Seite dagegen kann die so begrenzte Ersatzpflicht vertraglich weder ausgeschlossen, noch eingeschränkt werden (§ 323 Abs. 4 HGB) – auch nicht zugunsten der Gehilfen oder gesetzlichen Vertreter für deren persönliche Haftung; ihr können sie nicht entkommen18. Versicherung wird empfohlen19. Aus diesen Eingrenzungen der Vertragsfreiheit folgt im Umkehrschluss: Auch das eigenständige Haftungsregime des § 323 HGB unterliegt im Grundsatz der Privatautonomie. Sie erlaubt es den am Abschluss des Prüfungsauftrags Beteiligten u. a., die Pfl ichten des Abschlussprüfers einvernehmlich zu erweitern – was sich allerdings mit dem Berufsrecht reibt20 und zum Verlust des Versicherungsschutzes führen kann 21. Die Verpfl ichtung zur gewissenhaften und unparteiischen Prüfung aus § 323 Abs. 1 umgreift beide Funktionen des gesetzlichen Abschlussprüfers: Die interne eines Gehilfen des Aufsichtsrats ebenso wie die externe des Garanten der öffentlichen Rechnungslegung 22. In dieser externen Funktion härtet der Prüfer mit Prüfung und Testat (§ 322 HGB) all‘ die Informationen, welche die Geschäftsführung der nach § 325 HGB publizitätspfl ichtigen Kapitalgesellschaft den Publizitätsadressaten in Jahresabschluss und Lagebericht zur Verfügung stellen muss, also den Gesellschaftern bzw. Aktionären, Arbeitnehmern, Gläubigern und der Allgemeinheit, damit diese sämtlich auf der Grundlage dieser Informationen ihre Entscheidungen treffen können 23: ob sie ihren Anteilsbesitz halten oder aufgeben, das Kreditengagement beenden oder fortsetzen wollen und Weiteres. 17 Schmölder, JW 1930, 3687; vgl. auch ADS (Fn. 5), § 323 HGB Rz. 117; Ebke (Fn. 5), § 323 HGB Rz. 4. 18 Hierzu ADS (Fn. 5), § 323 HGB Rz. 112; Ebke (Fn. 5), § 323 HGB Rz. 73; Wiedmann (Fn. 15), § 323 HGB Rz. 18; Winkeljohann/Feldmüller (Fn. 6), § 323 HGB Rz. 135. 19 Zur Berufshaftpfl ichtversicherung der Wirtschaftsprüfer näher Ebke (Fn. 5), § 323 HGB Rz. 10 ff. 20 Nach dem Gesetz ist eine Erweiterung der Haftung nicht verboten, sie verstößt aber nach h. M. gegen § 16 BS WP/vBP, s. Ebke (Fn. 5), § 323 HGB Rz. 73; Winkeljohann/ Feldmüller (Fn. 6), § 323 HGB Rz. 136; Wiedmann (Fn. 15), § 323 HGB Rz. 15; Zimmer (Fn. 6), § 323 HGB Rz. 47. 21 § 4 Ziff. 2 der Allgemeinen Versicherungsbedingungen der Berufshaftpfl ichtversicherer. 22 Eingehend Mattheus (Fn. 1), 563, 570 ff.; s. auch Hommelhoff, ZIP 1990, 218; Hommelhoff/Mattheus, AG 1998, 249, 251; Lutter/Krieger, Rechte und Pfl ichten des Aufsichtsrats, 5. Aufl. 2008, Rz. 172. 23 Zum decision usefulness-Konzept der öffentlichen Rechnungslegung: Heuser/Theile, IAS/IFRS Handbuch, 2. Aufl. 2005, Rz. 3 ff.; KPMG, International Financial Reporting Standards, 3. Aufl. 2004, 11 f.
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Nach dem Gesetzesplan trägt mithin der Abschlussprüfer mit seiner Prüfung und der öffentlichen Verlautbarung ihres Ergebnisses ein gutes Stück mit dazu bei, den Publizitätsadressaten Entscheidungsunterlagen an die Hand zu geben, auf die sie sich sollen verlassen, sollen vertrauen können 24. Der Abschlussprüfer wirkt also auch im Interesse dieser Adressaten und nicht bloß im Interesse der zu prüfenden Kapitalgesellschaft. Umso frappierender das Haftungsstatut des § 323 HGB: Den Publizitätsadressaten soll der Abschlussprüfer bei Pfl ichtverletzungen trotzdem nicht einstehen müssen; denn im Verhältnis zur beauftragenden Kapitalgesellschaft sind sie Dritte. Ihre Integritätsinteressen hat der Gesetzgeber, der des KonTraG noch einmal ausdrücklich, dem Interesse des Abschlussprüfers, seiner Gehilfen und mitwirkenden gesetzlichen Vertreter daran, ihr Haftungsrisiko zu begrenzen, klar und eindeutig nachgestellt. Was legitimiert diese Abwägung und Wertung? Wohl kaum das Interesse der haftungsbedrohten Personen, ihr Risiko versichern zu können; das bliebe ihnen auch bei Einbezug der Publizitätsadressaten unbenommen, weil die Haftungssumme unverändert auf eine bzw. vier Millionen Euro pro Prüfung beschränkt bliebe25. Dann also das Interesse der Auftrag-gebenden Gesellschaft, sich den ohnedies beschränkten Schadenersatz nicht auch noch mit geschädigten Publizitätsadressaten teilen zu müssen? Dies wohl letztlich auch nicht, weil dem Schadenersatzanspruch gegen den Abschlussprüfer etc. angesichts der real zu befürchtenden Schadenssummen weniger Kompensations- denn Präventivfunktion beizumessen sein wird 26. Nach alledem wird man zum Ausschluss der Dritthaftung im Haftungsregime des § 323 HGB auf jenen Gedanken zurückgreifen müssen, der schon für die Haftungsbeschränkung in § 323 Abs. 2 HGB herangezogen worden war: das öffentliche Interesse an einer unbeeinträchtigten, weil von übermäßigen Prüfersorgen vor Haftungsgefahren freien Durchführung der gesetzlichen Abschlussprüfung. Ihre Funktionäre, die potentiellen Anspruchsgegner aus § 323 Abs. 1 HGB sollen nicht „besorgen“, nicht befürchten müssen, von einer unübersehbaren Vielzahl von Anspruchstellern mit Schadenersatzklagen überzogen zu werden 27. Darin hat auch das Recht der Europäischen Union, wie es im BilMoG umgesetzt worden ist, nichts geändert28. 2. Entwicklungsperspektiven auf der Unions-Ebene Denn die Abschlussprüfungsrichtlinie von 2006 enthält lediglich die Aufforderung an die Kommission, zur Haftung für Abschlussprüfungen einen Bericht vorzulegen, wie sich die nationalen Regeln auf die europäischen Kapitalmärkte und auf die Versicherungsbedingungen für Abschlussprüfer auswirken (Art. 31).
24 Zusammenfassend BGHZ 167, 155, 161 f. – Pre IPO; dazu Barka, NZG 2006, 855. 25 Mit der Deckelung der Haftsumme soll insbesondere die Versicherbarkeit gewährleistet werden, vgl. ADS (Fn. 5), § 323 HGB Rz. 119; Zimmer (Fn. 6), § 323 HGB Rz. 44. 26 Zur Präventionswirkung der Abschlussprüferhaftung s. Ebke, Wirtschaftsprüfer und Dritthaftung, 1983, S. 279 ff. Auf die Gefahr „ungewöhnlich großer Schäden“ weist ADS (Fn. 5), § 323 HGB Rz. 117 hin. 27 Schmölder (Fn. 17); vgl. auch ADS (Fn. 5); Ebke (Fn. 5). 28 Die Abschlussprüfungs-Richtlinie (s. Fn. 3) trifft in Art. 31 keine materielle Eigenregelung zur Haftung.
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Hierzu trifft schon der Vorbericht des Generaldirektorats Binnenmarkt29 (vergröbert dargestellt) diese Feststellungen: Für die internationale Prüfung börsennotierter Unternehmen gibt es keinen Schadenersatz-adäquaten Versicherungsschutz gegen Haftungsrisiken. Sollte eines der vier großen Prüfernetzwerke, also einer oder gar zwei der big four30 haftungsbedingt verschwinden, so hätte dies gravierende Auswirkungen auf den Markt für Abschlussprüfungsleistungen, auf die zu prüfenden Kapitalgesellschaften, auf die Kapitalmärkte und auf das Vertrauen der Investoren in sie sowie auf den Berufsstand der Wirtschaftsprüfer im allgemeinen. Vornehmlich wegen des enormen, nur inadäquat versicherbaren Haftungsrisikos entstehen neben den big four keine weiteren wettbewerbsfähigen Prüfungsnetzwerke neu 31. Die EU-Kommission hält es daher für angezeigt, dass die Mitgliedstaaten die Abschlussprüferhaftung im öffentlichen Interesse beschränken32. Es soll für die Kapitalmärkte das Risiko zum einen verringert werden, dass für die Prüfung börsennotierter Unternehmen keine Abschlussprüfer mehr zur Verfügung stehen; zu ihrer Prüfung sollen zum anderen weitere Abschlussprüfer angeregt werden. Auf welche Weise die Abschlussprüferhaftung beschränkt wird, ob durch eine Haftungsobergrenze, durch Vorgabe der Proportionalhaftung anstelle der gesamtschuldnerischen oder durch andere Beschränkungsmechanismen, das will die Kommission den Mitgliedstaaten zur eigenverantwortlichen Entscheidung und Ausgestaltung überlassen. In der Hoffnung auf eine allmähliche Konvergenz der mitgliedstaatlichen Regelungen verzichtet sie vorerst darauf, eine Richtlinie zu initiieren, und hat sich 2008 mit der bloßen Empfehlung zur Beschränkung der zivilrechtlichen Haftung von Abschlussprüfern begnügt 33. Diese Empfehlung zielt auf die internationale Prüfung börsennotierter Gesellschaften ab, nicht dagegen auf die börsenunabhängiger lokaler Unternehmen. Vor dem Hintergrund dieser Entwicklungsperspektive in der Union scheint das deutsche Haftungsrecht mit seinem Haftungsregime aus § 323 HGB nicht betroffen. Im Gegenteil – die Sorge um effektive und unbeeinträchtigte
29 Directorate General for Internal Market and Services, Consultation on Auditors’ Liability, Summary Report; dieser Vorbericht beruht auf der Studie der London Economics, Study on Economic Impact of Auditors’ Liability Regimes (MARKT/2005/24/F) vom September 2006 (abrufbar unter http://ec.europa.eu/internal_market/auditing/ liability/index_en.htm); zu dieser Studie Ebke in FS H. P. Westermann, 2008, S. 884 ff. 30 Deloitte Touche Tohmatsu, Ernst & Young, KPMG, PricewaterhouseCoopers. 31 S. Generaldirektion Binnenmarkt und Dienstleistungen, Arbeitsunterlage der Dienststellen der Kommission: Konsultationen zu den Haftungsregelungen für Abschlussprüfer und ihre Auswirkungen auf die europäischen Kapitalmärkte, Januar 2007, 13; s. auch ADS (Fn. 5), § 323 HGB Rz. 120; Ebke (Fn. 26), S. 286 ff. 32 Erwägungsgrund 4 der Empfehlung der Kommission 2008/473/EG zur Beschränkung der zivilrechtlichen Haftung von Abschlussprüfern und Prüfungsgesellschaften vom 5.6.2008, ABl. EU 2008 L 162/39; dazu EU-Kommission, Arbeitsdokument der Kommissionsdienststellen, Begleitdokument zur Empfehlung der Kommission zur Beschränkung der zivilrechtlichen Haftung von Abschlussprüfern und Prüfungsgesellschaften, Zusammenfassung der Folgenabschätzung vom 5.6.2008, K(2008) 2274 endg., Ziff. 4 bis 6. 33 S. oben bei Fn. 32.
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Abschlussprüfungen prägte die Prüferhaftung in Deutschland von Anbeginn34. Unterschiedlich sind nur die Ausgangspositionen: Während das deutsche Haftungsregime sich auf die einzelne Abschlussprüfung konzentriert, hat die EUKommission den gesamten Markt für Abschlussprüfungsleistungen im Blick. Und dennoch berührt auch die europäische Entwicklung das deutsche Haftungsregime: Denn nach den Kommissions-Erwägungen soll die Haftungsbeschränkung das Recht eines Geschädigten auf gerechte Entschädigung unberührt lassen35. Für Mitgliedstaaten, welche die Prüferhaftung auf die Gesellschaft kanalisieren, schwebt der Kommission offenbar eine qualifi zierte Voraussetzung vor: Nur wenn bei der geprüften Gesellschaft geeignete Schutzmaßnahmen zugunsten der Anleger vorgesehen sind, sollen die Mitgliedstaaten der Gesellschaft, ihren Aktionären und dem Abschlussprüfer erlauben dürfen, die Haftungsbeschränkung privatautonom zu regeln. Das wird das Haftungsregime in § 323 HGB und sein Grundkonzept an den Wurzeln treffen.
III. Leistungserweiterungen im gesetzlichen Haftungsregime Vor diesem Hintergrund stellt sich auf dem Boden des noch geltenden Rechts die Frage, wie mit Blick auf das Haftungsregime aus § 323 HGB Erweiterungen des Pflichtenprogramms zu behandeln sind, denen der Abschlussprüfer und sein Prüfungspersonal im Zusammenhang mit der gesetzlichen Abschlussprüfung ausgesetzt sind. 1. Abschlussprüfung und Emissionsprospekt So verlangt das Kapitalmarktrecht für die Emission von bestimmten Kapitalmarkttiteln an verschiedenen Stellen, dass der Emittent zusammen mit anderen Informationen auch seine Rechnungslegung samt Testat des Abschlussprüfers veröffentliche (§ 7 WpPG), ohne dass dieser damit zum Prospektverantwortlichen wird 36. Diese Verwendung seiner Prüfungsleistungen muss der Abschlussprüfer hinnehmen. Der bestätigte Jahresabschluss samt Lagebericht fungiert mithin für die potentiellen Kapitalanleger als Teil ihrer Entscheidungsgrundlagen; auch in diesem System soll der sachkundige, unabhängige, gewissenhafte und unparteiische Abschlussprüfer mit dazu beitragen, bei den potentiellen 34 S. oben bei Fn. 17. 35 Empfehlung der Kommission (s. Fn. 32), Erwägungsgrund 4; dazu Begleitdokument (s. Fn. 32), Ziff. 6, Sonstige mögliche Vor- und Nachteile für Interessengruppen außerhalb der Prüfungsgesellschaften, letzter Absatz a. E. 36 Prospektverantwortliche sind nach der Rspr. des BGH die Gründer und Gestalter der Gesellschaft, soweit sie das Management bilden, sowie Personen, die hinter der Gesellschaft stehen und einen der Geschäftsleitung vergleichbaren Einfluss bei der Initiierung des Prospekts ausüben, ohne dass sie nach außen in Erscheinung treten müssen – was der BGH bei Wirtschaftsprüfern in den entschiedenen Fällen als nicht gegeben ansah, BGHZ 79, 337, 341 f.; 145, 186, 196; DB 2010, 219, 220. Eine Haftung des Wirtschaftsprüfers komme auch als Garant des Prospekts in Betracht, wenn dieser durch nach außen in Erscheinung tretendes Mitwirken einen besonderen Vertrauenstatbestand schafft: BGHZ 77, 172, 176; 145, 187, 196; BGH, DB 2010, 219, 220. Im Schrifttum wird eine Prospektverantwortung des Wirtschaftsprüfers überwiegend abgelehnt, vgl. Assmann, AG 2004, 435, 436 m. w. N.; a. A. Groß, AG 1999, 199, 200 f.
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Anlegern Vertrauen in die Entscheidungsunterlagen zu schaffen. Trotzdem muss ihnen der Prüfer für seine pfl ichtgemäße Abschlussprüfung nicht unmittelbar einstehen; denn auch die potentiellen Kapitalanleger sind Adressaten der handelsrechtlichen Publizität. Deshalb gilt der Dritthaftungsausschluss aus § 323 HGB in gleicher Weise zu ihren Lasten. So sieht es auch der Gesetzgeber des Kapitalmarktrechts richtig. Wenn nämlich der Grundgedanke dieses Haftungsausschlusses der ist, den gesetzlichen Abschlussprüfer von der Sorge freizustellen, mit einer Vielzahl von Haftungsklagen überzogen zu werden37, dann muss das erst recht bei der unüberschaubaren Vielzahl von Anlegern auf dem Kapitalmarkt gelten. Genau dieselben Erwägungen gelten für die laufende Finanzberichterstattung nach dem Wertpapierhandelsgesetz (§ 37v WpHG), die ebenfalls die testierte Rechnungslegung einbezieht 38. 2. Erweiterungen der Abschlussprüfung a) Neben diese äußere Erweiterung des Prüfer-Pflichtenprogramms treten innere Erweiterungen, wie sie der Gesetzgeber vor allem im KonTraG und jüngst im BilMoG geschaffen hat. Im Ansatz werfen diese Erweiterungen keine haftungsrechtlichen Probleme auf – so, wenn etwa dem Abschlussprüfer auferlegt wird, im Rahmen der Lageberichtsprüfung auch zu prüfen, ob die Chancen und Risiken der künftigen Entwicklung zutreffend dargestellt sind (§ 317 Abs. 2 Satz 2 HGB)39, um sodann im Prüfungsbericht an den Aufsichtsrat vorweg selbst die Lagebeurteilung der Geschäftsleitung zu kommentieren (§ 321 Abs. 1 Satz 2 HGB)40. Auch solche Konkretisierungen und Erweiterungen der Prüfungspflichten unterliegen dem Haftungsregime des § 323 HGB in beiden Wirkrichtungen: Persönlich verpfl ichtet sind neben dem Abschlussprüfer ebenfalls mitwirkende Gehilfen und gesetzliche Vertreter auf der einen Seite; begrenzt auf die Kapitalgesellschaft und auf die Summen des § 323 Abs. 2 HGB ist deren Haftung auf der anderen. Trotz gesteigerten und erweiterten Pfl ichtenprogramms, trotz gesteigerten Verletzungsrisikos bleibt insbesondere die Haftungssumme unverändert41. b) Komplizierter liegen die Dinge bei den begrenzten Prüfungsaufträgen um das Risikomanagement42; um dies am Beispiel des Früherkennungssystems nach § 91 Abs. 2 AktG zu demonstrieren: Zwar wird dem Vorstand eine bestimmte Maßnahme der Unternehmensorganisation vorgeschrieben, aber diese Maß37 S. oben bei Fn. 17. 38 Mock in KölnKomm. WpHG, 2007, § 37v WpHG Rz. 26. Zum Halbjahresfi nanzbericht (§ 37w Abs. 5 Satz 7 WpHG) und der Zwischenmitteilung der Geschäftsführung (§ 37x Abs. 3 Satz 3 WpHG) s. Hönsch in Assmann/Uwe H. Schneider, 5. Aufl. 2009, § 37w WpHG Rz. 47 bzw. § 37x WpHG Rz. 27. 39 Zum entsprechenden Pfl ichtenprogramm des Wirtschaftsprüfers, ADS (Fn. 5), § 317 HGB Rz. 173 ff.; Ebke (Fn. 5), § 317 HGB Rz. 75 ff. 40 Zum Vorwegbericht Ebke (Fn. 5), § 321 HGB Rz. 27 ff.; Hommelhoff, BB 1998, 2567, 2570 ff. 41 Die Haftsumme steht gemäß § 323 Abs. 2 Satz 3 HGB unabhängig von der Anzahl prüfender Personen und Pfl ichtverletzungen für eine Abschlussprüfung nur einmal zur Verfügung, Ebke (Fn. 5), § 323 HGB Rz. 72; Winkeljohann/Feldmüller (Fn. 6), § 323 HGB Rz. 133; Zimmer (Fn. 6), § 323 HGB Rz. 45. 42 Zur Einführung Dörner/Doleczik in Dörner/Horváth/Kagermann (Fn. 13), S. 193 ff.
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nahme ist doppelt eingeschränkt: Zum einen bezieht sie sich ausschließlich auf Bestands-gefährdende Risiken (also nicht auf Risiken, die lediglich die Lage der Gesellschaft gefährden) und zum anderen bezieht sich die organisatorische Vorgabe bloß auf die systematische Erfassung und Erkennung der Bestands-gefährdenden Risiken, aber nicht auf deren Beurteilung und Bewältigung innerhalb eines geschlossenen Risikomanagementsystems43. Mit diesen Eingrenzungen trägt der Gesetzgeber der Leitungsautonomie des Vorstandes (§ 76 Abs. 1 AktG) und seinem unternehmerischen Ermessen (§ 93 Abs. 1 Satz 2 AktG) Rechnung44; dies bezieht sich auch auf die Organisation des unternehmerischen Geschehens. Auf diese Eingrenzungen ist konsequent das Pflichtenprogramm des Abschlussprüfers abgestimmt: Im Rahmen der Prüfung hat er zu beurteilen, ob der Vorstand ein Früherkennungssystem in geeigneter Form eingerichtet hat und ob dies seine Aufgaben erfüllen kann – dies freilich nur in börsennotierten Aktiengesellschaften (§ 317 Abs. 4 HGB). Das Ergebnis dieser Beurteilung ist im Prüfungsbericht mitsamt ggf. notwendigen Verbesserungsmaßnahmen darzustellen (§ 321 Abs. 4 HGB)45. Haftungsrechtlich können diese Eingrenzungen auch für die Abschlussprüfung zu Schwierigkeiten führen: Was ist, wenn der Vorstand über die Vorgabe aus § 91 Abs. 2 AktG hinaus ein umfassendes Risikomanagementsystem installiert hat, um Risiken möglichst frühzeitig und angemessen zu behandeln, welche schon die (Vermögens-, Finanz- oder Ertrags-)Lage der Gesellschaft beeinträchtigen oder gar gefährden können. Dem Prüfer wird es schwerlich gelingen, innerhalb eines solch umfassenden Systems jene Komponenten herauszulösen, die auf das bloße Erkennen Bestands-gefährdender Risiken beschränkt sind. Er muss das Risikomanagementsystem so hinnehmen, wie er es vorfi ndet; und folglich hat er dies Gesamtsystem auf Eignung und Effi zienz hin zu beurteilen46. Das harmoniert mit den Aufgaben des Aufsichtsrats und ihrer Erledigung: Dieser hat den Vorstand auch in seinen organisatorischen Leitungsmaßnahmen zu überwachen (§ 111 Abs. 1 AktG)47 und damit zugleich hinsichtlich des eingerichteten Risikomanagementsystems. Hierfür benötigt er die Unterstützung des Abschlussprüfers: Dieser sollte ihm im Prüfungsbericht sein Urteil zum gesamten Risikomanagementsystem einschließlich ggf. erforderlicher Systemverbesserungen unterbreiten. Mit solchen Zusatzleistungen überschreitet der Abschlussprüfer sein im Gesetzestext ausformuliertes Pfl ichtenprogramm. Wie steht es dann um die Prüferhaftung? Hat dieser auch für diese Zusatzleistungen nach dem Haftungsregime des § 323 HGB einzustehen oder nach den allgemeinen Regeln des vertraglichen Haftungsrechts – und zwar unabhängig
43 Zur Eingrenzung dieses Organisationsauftrags Dreher in FS Hüffer, 2010, S. 161, 162 ff.; Fleischer in Spindler/Stilz, Band 1, 2007, § 91 AktG Rz. 32, 34; Krieger/Sailer in K. Schmidt/Lutter, Band 1, 2008, § 91 AktG Rz. 14; Spindler in MünchKomm. AktG, Band 2, 3. Aufl. 2008, § 91 AktG Rz. 27. 44 Hommelhoff/Mattheus in Dörner/Horváth/Kagermann (Fn. 13), S. 5, 14 f.; Spindler (Fn. 43), § 91 AktG Rz. 27. 45 Zur Prüfung des Risikomanagementsystems ADS (Fn. 5), § 317 HGB Rz. 222 ff.; Ebke (Fn. 5), § 317 HGB Rz. 79 ff.; Zimmer (Fn. 6), § 317 HGB Rz. 29 ff.; s. auch schon Hommelhoff, BB 1998, 2625 ff. 46 Wohlmannstetter, ZGR 2010, 472, 473 f.; s. aber auch Kort, ZGR 2010, 440, 460 ff. 47 Hopt/Roth in Großkomm. AktG, 4. Aufl. 2005, § 111 AktG Rz. 210.
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davon, ob diese Zusatzleistungen im Prüfungsauftrag vereinbart wurden oder in einer gegenüber ihm gesonderten Übereinkunft. Für die Behandlung der Zusatzleistungen48 nach allgemeinen Regeln streitet die Erwägung, Ergänzungen des Prüfungsauftrags, die über den Rahmen des gesetzlichen Prüfungsauftrags hinausgehen, stellten einen selbständigen, vom Prüfungsvertrag unabhängigen Schuldvertrag dar49. Hierauf ist zu erwidern: Ein Wechsel des Haftungsregimes kann allein für solche Zusatzleistungen des Abschlussprüfers in Betracht kommen, die sich klar und eindeutig gegen seine gesetzlich auferlegten Pfl ichtleistungen abgrenzen lassen, namentlich dann, wenn die Zusatzleistungen auch ohne die Pfl ichtleistungen erbracht werden könnten. Dagegen ist die Behandlung nach allgemeinen Regeln in jenen Fällen ausgeschlossen, in denen die Zusatzleistung funktional so eng mit einer Pfl ichtleistung verbunden ist, dass beide Leistungen nur als unselbständige Teile einer Gesamtleistung erbringbar sind. Eine solche Gesamtleistung ist für die Prüfung und Beurteilung des Risikomanagementsystems anzunehmen. Die enge funktionale Verknüpfung zwischen Zusatz- und Pfl ichtleistung des Abschlussprüfers folgt hier bereits aus der Tatsache, dass sich aus einem geschlossenen Lage-bezogenen Risikomanagementsystem, wie schon ausgeführt, schwerlich jene Systemelemente herauslösen lassen, die der Erkennung allein der Bestands-gefährdenden Risiken dienen; das würde in aller Regel zusätzliche Systemkomponenten erfordern. Und auch der Aufsichtsrat darf sich in Erledigung seines Überwachungsauftrags nicht auf die Bestands-gefährdenden Risiken beschränken, wenn der Vorstand ein auf die Lage der Gesellschaft bezogenes umfassendes Risikomanagementsystem tatsächlich eingerichtet hat50. Auch hierfür bedarf das Überwachungsorgan nach den gesetzlichen Funktionszusammenhängen der Unterstützung des Abschlussprüfers. Umgekehrt muss dieser bei Wahrnehmung seiner so erweiterten Prüfungsaufgabe sicher sein können, für Pfl ichtverletzungen nicht mit einer Vielzahl von Schadenersatzklagen überzogen zu werden und letztlich nur mit einer begrenzten Ersatzsumme einstehen zu müssen51. Im Ergebnis unterliegt somit die Prüfung des gesamten Risikomanagementsystems dem Haftungsregime aus § 323 HGB. Dazu bedarf es einer Vereinbarung unter den Parteien des Prüfungsauftrags in Ausnutzung ihrer Privatautonomie. Geht sie aber nicht zulasten Dritter, zulasten der Gehilfen und gesetzlichen Vertreter? Das ist nicht anzunehmen; denn ihre Verstrickung beruht auf der gesetzlichen Regelung in § 323 Abs. 1. Vor einer unzumutbaren Vergrößerung ihres Haftungsrisikos sind sie überdies durch die qualifi zierte Einschränkung geschützt, dass allein jene Zusatzleistungen des gesetzlichen Abschlussprüfers dem Haftungsregime aus § 323 unterfallen, die funktional eng mit seiner Pfl ichtleistung zu einer Gesamtleistung verbunden sind. 48 Selbstverständlich sind auch sie angemessen zu vergüten. 49 Dazu Ebke (Fn. 5), § 323 HGB Rz. 18. 50 Und unabhängig von der Einrichtung eines solchen Systems hat der Aufsichtsrat jedenfalls zu prüfen, ob der Vorstand die für die Gesellschaft und ihre Lage relevanten Risiken tatsächlich angemessen steuert. 51 S. oben bei Fn. 17.
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IV. Die Dritthaftung des gesetzlichen Abschlussprüfers Das zur Erweiterung des Abschlussprüfer-Pfl ichtprogramms im Haftungsregime aus § 323; nun aber (endlich) zur Frage, die den Bundesgerichtshof in mehreren Verfahren beschäftigt hat: Haftet der gesetzliche Abschlussprüfer trotz der Haftungskanalisierung nach § 323 Abs. 1 Satz 3 HGB dennoch unter bestimmten Voraussetzungen auch Dritten? Es geht mithin um die Abschlussprüfer-Dritthaftung52. 1. Zur Vereinbarung eines Vertrags mit Schutzwirkung für Dritte Wie schon eingangs herausgestellt, unterliegt auch das Haftungsregime nach § 323 HGB privatautonomer Gestaltung durch die Beteiligten und verwehrt ihnen diese nur in wenige Richtungen53. Deshalb steht es den Parteien des Prüfungsauftrags u. a. frei, den durch das Haftungsregime beschriebenen Schutzraum über das Gesetz hinaus zu erweitern und neben der Auftrags-gebundenen Kapitalgesellschaft zusätzliche Schutzadressaten, seien diese bestimmt oder unbestimmt, im Prüfungsauftrag zu benennen. Ihn können die Vertragsparteien zum Vertrag mit Schutzwirkung zugunsten Dritter ausbauen. Dem steht das Haftungsregime aus § 323 HGB ebenso wenig entgegen54 wie unmittelbaren Leistungs- oder Schutzvereinbarungen zwischen dem Prüfer und Dritten – etwa einem unmittelbaren Auskunftsvertrag55 zwischen ihnen. Zu einem solchen Vertrag mit Schutzwirkung zugunsten Dritter kann der Prüfungsauftrag nicht bloß ausdrücklich ausgebaut werden56, sondern, das bedarf keiner weiteren Begründung, auch konkludent unter Berücksichtigung der Zwecke des Prüfungsauftrags, der Umstände seines Zustandekommens und der Interessen der Beteiligten. Das alles entspricht der langjährigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs57 und versteht sich im wesentlichen von selbst. Neu, weiterführend und zutreffend ist jedoch der Hinweis seines III. Zivilsenats in dessen „Pre IPO“-Urteil vom April 2006 auf das Haftungsregime des § 323 HGB in seiner Verbindung zur Publizitätspflicht nach § 325 HGB58: Ungeachtet der auf Publizität und Vertrauensbildung hin angelegten Funktion des Bestätigungsvermerks habe der Gesetzgeber die Verantwortlichkeit für eine Pfl ichtprüfung auf Ansprüche der Kapitalgesellschaft beschränkt. Der III. Zivilsenat stellt sich demnach auf den Boden der vorhin schon erwähnten Abwägung, die der Gesetzgeber zwischen den Interessen der Publizitätsadressaten und denen des gesetzlichen Abschlussprüfers getroffen hat59, und leitet aus ihr für die Auslegung des Parteiverhaltens den Schluss ab, an die Annahme, ein Dritter
52 Überblick bei Ebke in Krieger/Uwe H. Schneider, Handbuch Managerhaftung, 2. Aufl. 2010 (nach Manuskriptabschluss), § 11 Rz. 19 ff.; Nonnenmacher in Marsch-Barner/ Schäfer, Handbuch börsennotierte AG, 2. Aufl. 2009, § 58 Rz. 275 ff. 53 S. oben bei Fn. 18. 54 Zutreffend BGHZ 167, 155, 163 – Pre IPO. 55 Zu ihm Ebke (Fn. 5), § 323 HGB Rz. 124 ff. 56 In diese Richtung wohl Ebke/Scheel, WM 1991, 389, 391 ff. 57 S. schon BGHZ 138, 257, 261 – STN. 58 BGHZ 167, 155, 162 – Pre IPO. 59 S. oben bei Fn. 17.
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sei in den Schutzbereich des Prüfungsauftrags einbezogen worden, müssten strenge Anforderungen gestellt werden. Dem ist ohne Vorbehalt zuzustimmen; denn eine Einbeziehung Dritter „mit leichter Hand“ würde die in § 323 HGB verankerte Privilegierung des Abschlussprüfers aushöhlen, würde die Durchführung einer unbeeinflussten Abschlussprüfung stark gefährden und damit dem öffentlichen Interesse widerstreiten. 2. Entwicklungen in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs Nach dem Argumentationsgang des III. Zivilsenats geht es mithin um die Feststellung, ob der Abschlussprüfer im Prüfungsauftrag eine besondere Leistung im Drittinteresse60 übernommen hat, die über die Erbringung der gesetzlich vorgeschriebenen Pfl ichtprüfung hinaus geht. Diese besondere Zusatzleistung ist, das sei ergänzt, die Zusage des Abschlussprüfers, auch im Interesse des oder der Dritten gewissenhaft und unparteiisch zu prüfen und dafür dem oder den Dritten (und nicht bloß der Kapitalgesellschaft) einstehen zu wollen. Eine solche besondere Zusatzleistung hatte der III. Zivilsenat im „STN“-Urteil vom April 1998 arg schnell angenommen und ist davon nun im „Pre IPO“-Urteil zutreffend abgerückt, ohne jedoch den Bruch in seiner Rechtsprechung sonderlich herauszustreichen. Dazu ein wenig näher: a) Zwar hatte das Gericht bereits im „STN“-Urteil die Absicht des Gesetzgebers erwähnt, das Haftungsrisiko des Abschlussprüfers in § 323 HGB angemessen zu begrenzen. Dem würde es, so das Gericht, widersprechen, eine unbekannte Vielzahl von Gläubigern, Gesellschaftern oder Anteilserwerbern in den Schutzbereich des Prüfungsauftrags mit einzubeziehen61. Anders dagegen bei nur einem bestimmten Dritten und wenn die Parteien des Prüfungsauftrags übereinstimmend davon ausgehen, dass die Prüfung auch in seinem Interesse durchgeführt werde und das Prüfungsergebnis ihm als Entscheidungsgrundlage dienen solle. Jedenfalls in solchen Fällen liege in der Übernahme des Auftrags die schlüssige Erklärung des Prüfers, auch im Interesse des Dritten gewissenhaft und unparteiisch prüfen zu wollen. Dieser Deduktion ist mit Nachdruck zu widersprechen. Sie legt nicht das Parteiverhalten aus dem Blickwinkel eines objektiven Dritten aus, sondern ersetzt dies durch eine Vertragsgestaltung des Gerichts. Das kommt deutlich im letzten Element seiner Argumentation zum Ausdruck: Es gebe keinen Grund, bei einer derartigen Fallgestaltung dem Dritten Ansprüche gegen den seine Prüfungspfl ichten verletzenden Prüfer zu versagen62. Umgekehrt wird ein Schuh daraus: Was rechtfertigt es, diesen einen Dritten besser zu stellen als die Fülle jener Publizitätsadressaten, denen der Gesetzgeber vertrauenswürdige Entscheidungsunterlagen zur Verfügung stellen will und ihnen dennoch Schadenersatzansprüche gegen den pfl ichtvergessenen Prüfer versagt63. Die Rechtfertigung kann nicht ernstlich in der Tatsache liegen, dass es während der Prüfungstä60 Diese Argumentationsfigur hat bereits BGHZ 138, 257, 262 – STN eingeführt. 61 BGHZ 138, 257, 262 – STN. 62 BGH a. a. O. unter Berufung auf Kropff in Geßler/Hefermehl/Eckardt/Kropff, Band 3, 1973, § 168 AktG Rz. 32. 63 S. oben bei Fn. 24.
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tigkeit zu einer Kontaktaufnahme des Dritten mit dem Prüfer gekommen war, aber ebenso gewiss nicht in dem Umstand, dass es nur ein Dritter war. Wie wäre dann bei einer bekannten Mehrzahl oder bestimmbaren Vielzahl von Dritten zu entscheiden gewesen? Das zeigt: Das „STN“-Urteil war darauf angelegt, die gesetzliche Grundentscheidung in § 323 HGB durch eine quasivertragliche Expertenhaftung auf richterrechtlichem Boden zu überspielen, und deshalb galt und gilt im trotz Pfl ichtvergessenheit gesetzlich geschützten Interesse des Abschlussprüfers: Wehret den Anfängen. b) Dem wird das „Pre IPO“-Urteil64 vollauf gerecht. Mit ihm wendet sich der III. Zivilsenat von seiner bisherigen Tendenz ab, die Dritthaftung des Abschlussprüfers richterrechtlich zu fundamentieren, und kehrt in beeindruckender Deutlichkeit zurück zum Prüfungsauftrag und seiner Auslegung im konkretindividuellen Einzelfall, um dessen mögliche Schutzwirkung zugunsten Dritter zu bestimmen. Diesen Trendumschwung hat der Senat in zwei Folgeentscheiden in bestechender Klarheit bestätigt: im „Management Account“-Beschluss vom Oktober 200865 und in dem (allerdings eine Sonderprüfung betreffenden) Urteil „Entschädigungseinrichtung“ vom Mai 200966. Namentlich in diesem Urteil hat der Bundesgerichtshof bemerkenswerte Mühe darauf verwendet, den konkreten Prüfungsauftrag mit Blick auf seinen Schutzbereich und dessen Umfang unter sorgfältiger Analyse und Abwägung der involvierten Interessen auszulegen. c) Damit ist die höchstrichterliche Entscheidungslinie zur Dritthaftung des Abschlussprüfers konsolidiert: Das besondere Haftungsregime des § 323 HGB schließt eine Schutzpfl icht des Prüfers gegenüber Dritten auf vertraglicher Grundlage nicht aus. Allerdings sind an die Annahme, Dritte seien in den Prüfungsauftrag und dessen Schutzbereich vertraglich mit einbezogen worden, strenge Anforderungen zu stellen. Deshalb ist für die im Wege der Auslegung zu begründende Einbeziehung Dritter u. a. Voraussetzung, dass dem Abschlussprüfer deutlich wird, von ihm werde im Drittinteresse eine besondere Leistung erwartet, die über die Erbringung der gesetzlichen Pfl ichtprüfung hinaus geht. Diese Zusatzleistung des Abschlussprüfers ist, wie schon ausgeführt, seine Zusage, auch im Interesse Dritter zu prüfen und diesen dafür einstehen zu wollen. Eine solche Zusatzleistung darf dem Prüfer nicht als stillschweigend übernommen unterstellt werden67. Denn für den erweiterten Leistungsumfang und das gesteigerte Risiko, auch von Dritten in Anspruch genommen werden zu können, lässt sich der Prüfer in aller Regel bezahlen68. Deshalb genügt für die Annahme vertraglich begründeten Drittschutzes weder die bloße Kontaktaufnahme des Dritten mit dem Prüfer während dessen Prüfungstätigkeit69,
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BGHZ 167, 155, 163, 165 – Pre IPO. BGH, ZIP 2008, 2270. BGH, ZIP 2009, 1166. Zutreffend BGHZ 167, 155, 166 – Pre IPO. Hierauf weist der „Management Account“-Beschluss (ZIP 2008, 2270, 2271 Rz. 10) richtig hin. 69 BGHZ 138, 257, 262 f. – STN, insoweit verfehlt in BGHZ 167, 155, 166 – Pre IPO bestätigt.
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noch seine Bestätigung gegenüber Dritten allein, er habe die Abschlussprüfung durchgeführt und diese habe keine Beanstandungen ergeben.
V. Sonstige Fälle der Wirtschaftsprüferhaftung Soweit zur Haftung des Wirtschaftsprüfers gegenüber Dritten im Rahmen der gesetzlichen Abschlussprüfung; sie ist durch das besondere Haftungsregime des § 323 HGB geprägt. Im Anschluss hieran zu Tätigkeiten des Wirtschaftsprüfers außerhalb der gesetzlichen Abschlussprüfung und zur Dritthaftung hier, also bei der freiwilligen Abschlussprüfung, bei Sonderprüfungen und bei sonstigen Tätigkeiten, für die der Wirtschaftsprüfer vor allem wegen seiner Professionalität, Integrität und wegen des besonderen Vertrauens herangezogen wird, das sein Berufsstand weit verbreitet genießt. 1. Freiwillige Abschlussprüfungen Auf freiwillige Abschlussprüfungen hat der Bundesgerichtshof die in § 323 HGB zum Ausdruck kommende Intention des Gesetzgebers, das Haftungsrisiko des Wirtschaftsprüfers angemessen zu begrenzen, in seinem „SMP“-Urteil vom Dezember 2005 mit der Begründung übertragen, der Abschlussprüfer habe im vorliegenden Fall die Prüfung nach den für die Pfl ichtprüfung maßgeblichen Bestimmungen der §§ 316, 317 HGB vorgenommen, wie der Wortlaut seines Bestätigungsvermerks ausweise70. Nach dieser Argumentation hat es der Abschlussprüfer in der eigenen Hand, durch Ausgestaltung der Prüfung und deren Verlautbarung sich die Privilegierung aus § 323 Abs. 1 und 2 HGB zu erschließen. Das geht nicht an. Legitimiert wird das besondere Haftungsregime für die gesetzliche Abschlussprüfung, wie schon eingangs ausgeführt, durch die Publizitätspfl icht, also die gesetzlich begründete Verpfl ichtung, die Rechungslegung samt Bestätigungsvermerk zu veröffentlichen, einerseits sowie durch das öffentliche Interesse an einer gewissenhaften und Besorgnis-freien Abschlussprüfung andererseits71. Auf solchen Erwägungen beruhen freiwillige Abschlussprüfungen nicht. Ohne gesetzliche Anordnung werden sie im ausschließlich privaten Interesse durchgeführt und auch die Veröffentlichung der Rechnungslegung samt Bestätigungsvermerk beruht allein und Gesetzes-frei auf privater Initiative. Deshalb kommt eine analoge Anwendung des § 323 HGB auf freiwillige Abschlussprüfungen nicht in Betracht72. Für die Dritthaftung eines solchen Abschlussprüfers ist daher sein Prüfungsauftrag konsequent ohne die qualifi zierende Eingrenzung aus § 323 HGB dahin auszulegen, ob und gegebenenfalls welche Dritten in seinen Schutzbereich mit einbezogen werden sollten. Daraus folgt im Ergebnis: Die Schwelle für den
70 BGH, WM 2006, 423, 425. 71 S. oben bei Fn. 17. 72 Wie hier schon Ebke (Fn. 5), § 323 HGB Rz. 15; Winkeljohann/Feldmüller (Fn. 6), § 323 HGB Rz. 5; Zimmer (Fn. 6), § 323 HGB Rz. 2.
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Einsatz einer Expertenhaftung des Abschlussprüfers gegenüber Dritten73 nach allgemeinem Schuldrecht wird im Vergleich zur gesetzlichen Abschlussprüfung erheblich abgesenkt, wenn auch hier nicht verkannt werden darf, dass die Annahme einer Dritthaftung nur das Ergebnis einer sorgfältigen Auslegung des Prüfungsauftrags im konkreten Einzelfall sein kann74. Will der Abschlussprüfer seiner (vielleicht sogar Existenz-bedrohenden) Inanspruchnahme entgehen, so sollte er die Dritthaftung schon im Prüfungsauftrag ausdrücklich ausschließen und auch seinen Bestätigungsvermerk entsprechend kennzeichnen. „Weitergabe“-Klauseln75 im Auftrag, als solche durchaus zulässig76, können wegen der Gefahr widersprüchlichen Verhaltens keine rechtssicher enthaftende Wirkung entfalten. 2. Sonstige Tätigkeiten des Wirtschaftsprüfers Die hier für die freiwillige Abschlussprüfung entwickelten Regeln gelten in gleicher Weise für Sonderprüfungen des Wirtschaftsprüfers77, für die freiwillige Prüfung von Emissionsprospekten78, für Begutachtungen wie etwa eine Fairness Opinion als Stellungnahme zur fi nanziellen Angemessenheit einer unternehmerischen Initiative79 oder für die Tätigkeit des Wirtschaftsprüfers innerhalb eines Kapitalanlagesystems80. Mit Blick auf seine mögliche Haftung gegenüber Dritten bedarf es zwar auch bei diesen Tätigkeiten der sorgfältigen Auslegung seines Auftrags mit dem Auftraggeber, ob die Dritten in den Schutzbereich des Vertrags mit einbezogen werden und damit in den Genuss der Expertenhaftung kommen sollten; aber diese Auslegung fi ndet ohne Rücksicht auf die eingrenzenden Wirkungen des § 323 HGB statt – es sei denn, das Gesetz privilegiert auch bei diesen Tätigkeiten den Prüfer (rechtspolitisch fragwürdig) mit dem Verweis auf § 323 HGB, wie etwa für den Gründungsprüfer (§ 49 AktG)81 oder den aktienrechtlichen Sonderprüfer (§ 144 AktG)82 geschehen.
73 Insoweit sind die Ausführungen im „STN“-Urteil (BGHZ 138, 257, 260 ff.) noch heute fundamental; allgemein zur Expertenhaftung van Eickels, Die Drittschutzwirkung von Verträgen, 2005, S. 153 ff.; Karampatzos, Vom Vertrag mit Schutzwirkung für Dritte zur deliktischen berufsbezogenen Vertrauenshaftung, 2005, S. 257 ff. 74 Vorbildlich etwa BGH, ZIP 2009, 1166, 1167 Rz. 16 ff. – Entschädigungseinrichtung. 75 Vgl. Ziffer 7 (1) der Allgemeinen Auftragsbedingungen für Wirtschaftsprüfer und Wirtschaftsprüfungsgesellschaften vom 1.1.2002, abrufbar unter www.kpmg.de/ bescheinigung/AccuratInformatikGmbH/aab.pdf. 76 Vgl. OLG Bremen, Urt. v. 30.8.2006 – 1 U 33/04. 77 BGH, ZIP 2009, 1166 – Entschädigungseinrichtung. 78 BGH (X. ZS), NJW 2004, 3420 – Abwasserentsorgung. 79 S. dazu Ziff. 16 f. des Entwurfs IDW-Standard: Grundsätze für die Einbettung von Fairness Opinions (IDW ES 8) vom 19.8.2009, abgedruckt in IDW Fachnachrichten Nr. 1–2/2010, 20 ff. 80 S. oben bei Fn. 2. 81 Zur Legitimation Pentz in MünchKoomm. AktG, Band 1, 3. Aufl. 2008, § 49 AktG Rz. 5 f. 82 Zur rechtspolitischen Begründung Mock in Spindler/Stilz (Fn. 43), § 144 AktG Rz. 1, 4; Spindler in K. Schmidt/Lutter (Fn. 43), § 144 AktG Rz. 2.
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VI. Ausblick So oder so: für die Haftung des Wirtschaftsprüfers fungiert das Haftungsregime aus § 323 HGB als Dreh- und Angelpunkt. Bedeutsam ist in ihm (neben der unmittelbaren Gehilfen- und Vertreterhaftung) nicht allein die Begrenzung der Haftungssummen, sondern nach rechtspraktischem Gewicht und rechtsdogmatischer Bedeutung die Haftungskanalisierung auf die Auftrag-gebende Gesellschaft im öffentlichen Interesse an einer Besorgnis-freien Abschlussprüfung. Diese Haftungskanalisierung wird im Grenzbereich zwischen Prüfertätigkeit und Leitungsautonomie der Geschäftsleitung auch im Organisatorischen zunehmend auf neuen, aber gesetzlich eingehegten Feldern herausgefordert; aber ebenfalls für diese deutlich Zukunfts-gerichteten Aspekte des unternehmerischen Geschehens muss der auch hier im öffentlichen Interesse agierende Abschlussprüfer vor Haftungs- und Klagängsten bewahrt werden, die seine gesetzlich fundierte Prüftätigkeit beeinträchtigen könnten. Zu dieser Erkenntnis sollte das Schrifttum mit eben dem Mut vorstoßen, den der Bundesgerichtshof bei der Korrektur seiner Rechtsprechung zur Abschlussprüfer-Dritthaftung offenbart hat. Hier wird es jetzt vornehmlich darum gehen, die Tatsachengerichte in der Auslegung der Prüfungsaufträge im konkreten Einzelfall zu kontrollieren. Dies geschlossene und mittlerweile fundierte Haftungsregime wird das kommende Recht der Europäischen Union fundamental herausfordern: Dies wird die Haftungsbeschränkungen im Gesetz durch die Möglichkeit ersetzen, die Prüferhaftung im Prüfungsauftrag privatautonom in der Summe und/oder proportional zu beschränken. Allerdings soll dies den Beteiligten allein dann freistehen, wenn zugleich Maßnahmen zugunsten der Kapitalanleger getroffen werden. Das Haftungsregime für Abschlussprüfungen samt Anwendungsbereich und Dritthaftung wird demnächst also neu zu konzipieren sein: Die Haftung des Wirtschaftsprüfers bleibt auf der Agenda.
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Kommunale Unternehmen in Konkurrenz zur Privatwirtschaft – rechtliche Rahmenbedingungen und bestehende Rechtsschutzmöglichkeiten Inhaltsübersicht I. Die verfassungsrechtliche Ebene II. Die kommunalwirtschaftsrechtliche Ebene 1. Die rechtliche Ausgangsituation 2. Ansprüche privater Mitbewerber bei Verstößen gegen die Vorgaben des Kommunalwirtschaftsrechts?
a) Zur Frage öffentlich-rechtlicher Abwehransprüche b) Zur Frage wettbewerbsrechtlicher Abwehransprüche III. Wettbewerbsrechtliche Abwehransprüche gegenüber dem „Wie“ der kommunalwirtschaftlichen Tätigkeit IV. Abschlussbemerkung
Neben dem Gesellschaftsrecht haben häufig auch Fragen des Wettbewerbs und der diesen gewährleistenden und regulierenden Rechtsvorschriften das besondere Interesse des Jubilars gefunden1. Dies gibt Anlass, einen Blick auf den Rechtsrahmen zu werfen, in dem sich der Wettbewerb zwischen öffentlichen, insbesondere kommunalen, Betrieben und privaten Unternehmen vollzieht. Dabei soll – um den Rahmen des Beitrags nicht zu sprengen – sowohl von einer Erörterung der sich aus dem Beihilferecht ergebenden zusätzlichen Beschränkungen 2 abgesehen, als auch die Frage ausgeblendet werden, ob sich aus dem Gemeindewirtschaftsrecht Marktzutrittsverbote ergeben, die im Vergaberecht zu beachten sind 3. Stattdessen soll die Darstellung auf Fragen des Kommunalwirtschafts- und innerstaatlichen Wettbewerbsrechtes und die zwischen diesen Rechtsgebieten bestehenden Beziehungen konzentriert werden.
I. Die verfassungsrechtliche Ebene Während die Wirtschaftstätigkeit privater Unternehmen unmittelbar insbesondere durch Art. 12 Abs. 1 GG geschützt wird4, ist ein vergleichbarer grundrechtlicher Schutz für kommunale Unternehmen nicht gegeben5. Ähnliches wie 1 Vgl. etwa Hellwig, Die Anwaltschaft zwischen Rechtspflege und kommerziellem Wettbewerb, BRAK-Mitt. 2008, S. 92 ff. und Hellwig, Europäisches Wettbewerbsrecht und freie Berufe, BRAK-Mitt. 2004, S. 19 ff. 2 Hierzu etwa Quardt, Zur Abschaffung von Anstaltslast und Gewährträgerhaftung, EuZW 2002, 424 ff. 3 Vgl. OLG Düsseldorf, ZIP 2002, 1651 (1653), sowie Schneider, Öffentlich-rechtliche Marktzutrittsverbote im Vergaberecht, NZBau 2009, 352 ff. 4 BVerfGE 50, 290 (363). 5 BVerfGE 75, 192 (197 ff.); Hösch, Öffentlicher Zweck und wirtschaftliche Betätigung von Kommunen, DÖV 2000, 393 ff.
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für den Schutz des Erwerbsvorgangs gilt dabei für den Schutz des Erworbenen; auch hier ist anerkannt, dass Kommunen ein grundrechtlicher Schutz ihres Eigentums durch Art. 14 GG nicht zusteht6. Ausgehend hiervon fragt sich weiter, ob der private Marktteilnehmer möglicherweise einen aus den Grundrechten ableitbaren Abwehranspruch gegenüber Konkurrenz durch die öffentliche Hand hat. Diese Frage ist zu verneinen, da die Grundrechte grundsätzlich kein Recht zur Abwehr wirtschaftlicher Betätigung der öffentlichen Hand und damit keinen Konkurrenzschutz gegenüber dieser gewähren7. Ein rechtfertigungsbedürftiger Grundrechtseingriff liegt vielmehr erst dort vor, wo private Konkurrenz unmöglich oder unzumutbar gemacht wird oder eine Monopolstellung der öffentlichen Hand vorliegt8. Demgemäß lässt sich aus Art. 12 GG auch kein Anspruch eines privaten Konkurrenten eines privatrechtlich organisierten Unternehmens, an dem eine Gemeinde beteiligt ist, darauf ableiten, dass diese darauf hinwirkt, dass das Unternehmen seine wirtschaftliche Betätigung in bestimmter Weise einschränkt, sofern diese nicht den Ausschluss jeder Konkurrenz zur Folge hat und damit dem privaten Mitbewerber die Existenzgrundlage entzieht9.
II. Die kommunalwirtschaftsrechtliche Ebene In kommunalwirtschaftsrechtlicher Hinsicht unterliegen die wirtschaftlichen Betätigungsmöglichkeiten kommunaler Unternehmen vornehmlich auf zwei Ebenen Restriktionen. 1. Die rechtliche Ausgangsituation Zum einen darf die Gemeinde – wie sich exemplarisch an § 101 Abs. 1 der schleswig-holsteinischen Gemeindeordnung (GO)10 verdeutlichen lässt – wirtschaftliche Unternehmen nur dann errichten, übernehmen oder wesentlich erweitern, wenn die klassische kommunalwirtschaftsrechtliche Trias erfüllt ist und damit – ein öffentlicher Zweck, dessen Erfüllung im Vordergrund der Unternehmung stehen muss, das Unternehmen rechtfertigt,
6 BVerfGE 61, 82 (105 ff.). 7 Breuer in Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Band VI (Freiheitsrechte), § 148 Rz. 57 ff.; Manssen in von Mangoldt/Klein/ Starck, Bd. 1, 4. Aufl., Art. 12 GG Rz. 79 ff. 8 Vgl. BVerwG, NJW 1995, 2938 (2939) und NJW 1978, 1539 f.; OVG Münster, NVwZ 2003, 1520 (1096); VGH Mannheim, VBlBW 1995, 99 f.; Pieroth/Hartmann, Grundrechtsschutz gegen wirtschaftliche Betätigung der öffentlichen Hand, DVBl. 2002, 421 ff.; kritisch zum Ansatz der Rspr. Ehlers, Die wirtschaftliche Betätigung der öffentlichen Hand in der Bundesrepublik Deutschland, JZ 1990, 1089 (1096). 9 VGH Kassel, DÖV 1996, 476 f. 10 Gemeindeordnung für Schleswig-Holstein (Gemeindeordnung – GO) i. d. F. d. B. vom 28.2.2003, zuletzt geändert durch Art. 13 des Gesetzes vom 26.3.2009, GVOBl. S. 93.
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– das Unternehmen nach Art und Umfang in einem angemessenen Verhältnis zu der Leistungsfähigkeit der Gemeinde und zum voraussichtlichen Bedarf steht und – der Zweck nicht besser und wirtschaftlicher auf andere Weise erfüllt werden kann. Dabei ist anerkannt, dass eine Subsidiaritätsklausel, nach der eine Gemeinde wirtschaftliche Unternehmen nur mehr errichtet, übernehmen oder wesentlich erweitern darf, wenn der öffentliche Zweck nicht ebenso gut und wirtschaftlich durch einen privaten Dritten erfüllt wird oder erfüllt werden kann, zwar in den Schutzbereich der kommunalen Selbstverwaltungsgarantie eingreift, jedoch deren Kernbereich nicht verletzt11. Zum anderen darf die Gemeinde, sofern die vorgenannten Voraussetzungen vorliegen, nur dann Gesellschaften gründen, sich an der Gründung von Gesellschaften oder an bestehenden Gesellschaften beteiligen, wenn zudem die in § 102 Abs. 1 GO genannten Voraussetzungen erfüllt sind, insbesondere – wenn ein wichtiges Interesse der Gemeinde an der Gründung oder der Beteiligung vorliegt und die kommunale Aufgabe dauerhaft nicht mindestens ebenso gut in Organisationsformen des öffentlichen Rechts erfüllt werden kann, – die Haftung und die Einzahlungsverpflichtung der Gemeinde auf einen ihrer Leistungsfähigkeit angemessenen Betrag begrenzt wird, – die Gemeinde einen angemessenen Einfluss, insbesondere im Aufsichtsrat oder in einem entsprechenden Überwachungsorgan, erhält, und – gewährleistet ist, dass der Jahresabschluss und der Lagebericht, soweit nicht weitergehende gesetzliche Vorschriften gelten oder andere gesetzliche Vorschriften entgegenstehen, in entsprechender Anwendung der Vorschriften des Dritten Buchs des Handelsgesetzbuchs für große Kapitalgesellschaften aufgestellt und geprüft werden. Strukturell ähnliche Vorschriften weisen die Gemeindeordnungen fast aller anderen Flächenstaaten auf. 2. Ansprüche privater Mitbewerber bei Verstößen gegen die Vorgaben des Kommunalwirtschaftsrechts? Dies wirft die Frage auf, ob und welche Ansprüche einem privaten Mitbewerber zustehen, wenn sich eine Gemeinde unter Verstoß gegen derartige Regelungen wirtschaftlich betätigt. Hierbei ist zu unterscheiden zwischen möglichen öffentlich-rechtlichen Abwehransprüchen und solchen wettbewerbsrechtlicher Art.
11 Verfassungsgerichtshof Rheinland-Pfalz, NVwZ 2000, 801 (802 ff.).
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a) Zur Frage öffentlich-rechtlicher Abwehransprüche In ersterer Hinsicht wäre zu denken an einen öffentlich-rechtlichen Unterlassungs- und ggf. auch Folgenbeseitigungsanspruch, der auf Unterlassung der Fortsetzung der kommunalwirtschaftsrechtswidrigen unternehmerischen Tätigkeit und Rückgängigmachung der hierzu geschaffenen Vorkehrungen (Marktauftritt usw.) gerichtet wäre12. Grundlage der weiteren Prüfung ist die sogenannte Schutznormtheorie. Nach diesem vom Bundesverwaltungsgericht in ständiger Rechtsprechung vertretenen Ansatz vermitteln Drittschutz nur solche Vorschriften, die nach dem in ihnen enthaltenen und durch Auslegung zu ermittelnden Entscheidungsprogramm auch der Rücksichtnahme auf die Interessen des betreffenden Dritten zu dienen bestimmt sind13. Praktisch bedeutet dies, dass die Frage, ob privaten Mitbewerbern bei einem Verstoß gegen die zuvor am Beispiel des schleswig-holsteinischen Landesrechts dargestellte kommunalwirtschaftsrechtliche Trias14 ein Abwehranspruch gegenüber dem betreffenden kommunalen Unternehmen oder der dieses tragenden Kommune darstellt, maßgeblich davon abhängt, ob die entsprechenden Vorschriften – nur der Allgemeinheit zu dienen bestimmt sind und damit etwa bezwecken, die kommunalen Finanzen in erster Linie zur Erfüllung klassischer Verwaltungsaufgaben einzusetzen und die Gemeinden davor zu schützen, durch Marktteilnahme wirtschaftliche Risiken einzugehen, oder – ob sie darüber hinaus auch der Rücksichtnahme auf die Interessen der privaten Mitbewerber dienen sollen. Diese Frage ist rechtlich höchst umstritten. Während sie vor fast 40 Jahren vom Bundesverwaltungsgericht für das baden-württembergische Kommunalwirtschaftsrecht verneint wurde15, ist der Verfassungsgerichtshof RheinlandPfalz im Jahre 2000 davon ausgegangen, dass jedenfalls das Erfordernis für kommunalwirtschaftliche Betätigung, dass der öffentliche Zweck nicht ebenso gut und wirtschaftlich durch einen privaten Dritten erfüllt wird oder erfüllt werden kann, nicht ausschließlich der Allgemeinheit zu dienen bestimmt ist. Hierzu hat er festgestellt: „Der neu gefasste § 85 Abs. 1 Nr. 3 GemO ist – anders als dies für kommunalwirtschaftliche Bestimmungen anderer Länder gelten mag (…) – nach Wortlaut und Gesetzeszweck eine drittschützende Norm im Sinne des § 42 Abs. 2 VwGO. Denn er ist zumindest auch dem Schutz von Individualinteressen derart zu dienen bestimmt, dass deren Inhaber die Einhaltung des 12 OVG Münster, DVBl. 2004, 133, sowie Schlacke, Konkurrentenklagen gegen die Wirtschaftstätigkeit von Gemeinden, JA 2002, 48 (51 f.). 13 BVerwG, Buchholz 451.74 § 18 KHG Nr. 6; BVerwGE 81, 329 (334) und NJW 1995, 1628. 14 Faber, Aktuelle Entwicklungen des Drittschutzes gegen die kommunale wirtschaftliche Betätigung, DVBl. 2003, 761 (763 f.). 15 BVerwGE 39, 329 (336); in diesem Sinne auch Gern, Deutsches Kommunalrecht, 3. Aufl., Rz. 724.
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Rechtssatzes soll verlangen können: Nicht nur hebt der Gesetzeswortlaut die Zweckerfüllung durch einen privaten Dritten als Betätigungssperre für die Gemeinde hervor, sondern der Gesetzgeber bezweckte mit der Subsidiaritätsklausel u. a. ausdrücklich, die Privatwirtschaft vor einer Beeinträchtigung ihrer Interessen zu schützen (LT-Drucks. 13/2306, S. 29). Das Bedenken, der gemeindliche Beurteilungsspielraum lasse eine drittschützende Wirkung und damit das Klagerecht eines privaten Konkurrenten nicht zu (so LT- Drucks. 13/2306, S. 36), trägt demgegenüber nicht. Zwar hat das Verwaltungsgericht diesen Beurteilungsspielraum zu achten und ist deshalb gehindert, seine eigene Beurteilung an die Stelle derjenigen der Gemeinde zu setzen. Legt die Gemeinde aufgrund eines vollständig ermittelten Sachverhalts und ausgehend von einem richtigen Verständnis der anzuwendenden Norm vertretbar dar, dass und warum ihre eigene Leistungserbringung wirtschaftlicher oder besser ist, haben das Verwaltungsgericht und der private Dritte dies hinzunehmen. Ob sich die Beurteilung der Gemeinde in dem durch das Gesetz vorgegebenen Rahmen hält, ist aber eine gerichtlich voll nachprüfbare Rechtsfrage“16. Welche Beharrlichkeit die Fachgerichte bei der Verteidigung ihrer in jahrzehntelanger Spruchpraxis entwickelten Gegenposition an den Tag legen, wird an einem Beschluss des Verwaltungsgerichts Trier aus dem Jahre 2004 deutlich, in welchem angenommen wird, dass der vorgenannte Grundsatz nicht nach § 19 Abs. 2 des Landesgesetzes über den Verfassungsgerichtshof für alle Verfassungsorgane, Gerichte und Behörden des Landes verbindlich sei, da er sich nicht als tragender Grund der Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs darstelle. Im Folgenden bringt das Verwaltungsgericht dann unmissverständlich zum Ausdruck, dass es einen drittschützenden Charakter der betreffenden Vorschrift für zweifelhaft halte17. Auf der gleichen Linie geht das Oberverwaltungsgericht Magdeburg davon aus, dass die in Sachsen-Anhalt geltende Subidiaritätsklausel ihrem Wortlaut und ihrem erkennbaren Schutzzweck nach neben dem öffentlichen, allgemeinen Interesse – insbesondere dem Interesse an einer wirtschaftlichen Haushaltsführung der Kommunen ohne überhöhte Risiken durch unternehmerische Experimente – nicht auch dem Schutz von Individualinteressen privater Wettbewerber diene und diesen daher keinen Drittschutz vermittle. Demgegenüber hat – über die Position des Verfassungsgerichtshofs RheinlandPfalz hinausgehend – das Oberverwaltungsgericht Münster sogar der ersten Säule der kommunalwirtschaftsrechtlichen Trias Drittschutz zuerkannt und festgestellt, dass die Betätigungsschranke des § 107 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 GO NRW, wonach ein öffentlicher Zweck die wirtschaftliche Betätigung erfordern muss, subjektive Rechte der privatem Mitbewerber begründe. Dies hat das Gericht über die Gesetzgebungsmaterialien hinaus u. a. daraus abgeleitet, 16 Verfassungsgerichtshof Rheinland-Pfalz, NVwZ 2000, 801 (804). 17 VG Trier, Beschluss v. 20.10.2004 – 1 L 1216/04.TR, zitiert nach juris; demgegenüber hat das OVG Koblenz, UPR 2006, 282 unter ausdrücklichem Hinweis auf die Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs anerkannt, dass § 85 Abs. 1 Nr. 3 GemO Dritten einen subjektivrechtlichen Schutz vor der wirtschaftlichen Betätigungen von Gemeinden gewährt.
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– dass das Gesetz die Zulässigkeit gemeindlicher wirtschaftlicher Betätigung in Form der Gründung von bzw. Beteiligung an Unternehmen gemäß § 107 Abs. 5 GO NRW an eine Marktanalyse u. a. über die Auswirkungen auf das Handwerk und die mittelständische Wirtschaft knüpfe, – dass dabei den örtlichen Selbstverwaltungsorganisationen von Handwerk, Industrie und Handel und der für die Beschäftigten der jeweiligen Branche handelnden Gewerkschaften Gelegenheit zur Stellungnahme zur Marktanalyse zu geben sei, und – dass dies – wenngleich nur pars pro toto für den wichtigen Teil der gemeindlichen wirtschaftlichen Betätigung durch Unternehmensgründung oder -beteiligung – erhelle, dass die wirtschaftliche Betätigung der Gemeinde auch als mögliche Beeinträchtigung der örtlichen Wirtschaft gesehen wird18. Gerade die letztere Entscheidung macht deutlich: Da es für die Frage der Drittgerichtetheit einer Rechtsvorschrift darauf ankommt, welchen Regelungszweck der Normgeber verfolgte, dürfte die Frage der künftigen Beurteilung des Bestehens öffentlich-rechtlicher Abwehransprüche durch die Gerichte maßgeblich davon abhängen, dass die Landesgesetzgeber im Falle einer Novellierung ihres jeweiligen Kommunalwirtschaftsrechts hinreichend deutlich zum Ausdruck bringen, – ob die entsprechenden Regelungen ausschließlich den Schutz öffentlicher Interessen bezwecken, oder – ob und ggf. welche dieser Vorschriften darüber hinaus auch dem Schutz der im Wettbewerb stehenden privaten Gewerbetreibenden dienen sollen. b) Zur Frage wettbewerbsrechtlicher Abwehransprüche Von der Thematik des Bestehens öffentlich-rechtlicher Abwehransprüche zu unterscheiden ist die Frage, ob ein Verstoß gegen die genannten kommunalwirtschaftsrechtlichen Vorschriften, die sich in im Kern gleicher Weise in den Gemeindeordnungen aller Flächenstaaten wiederfi nden, wettbewerbsrechtliche Ansprüche begründet. Dies ist in einer die Erbringung erwerbswirtschaftlicher Gartenbauarbeiten durch eine Kommune betreffenden Entscheidung aus dem Jahre 1997 vom OLG Hamm bejaht worden19. Diese Sichtweise wurde in der Folgezeit durch den Bundesgerichtshof nicht geteilt. Ausgangspunkt hierbei ist die Feststellung, dass ein auf die analoge Anwendung von § 1004 BGB zu stützender quasinegatorischer Unterlassungsanspruch voraussetzen würde, dass die entsprechenden kommunalwirtschaftlichen Vorschriften als Schutzgesetze im Sinne der letzteren Vorschrift qualifi ziert werden könnten. Eine solche Einordnung hat der Bundesgerichtshof im Jahre 2002 hinsichtlich der Vorschrift des § 107 der nordrhein-westfälischen Gemeindeordnung verneint. 18 OVG Münster, DVBl 2004, 133 (134). 19 OLG Hamm, NJW 1998, 3504 f.; hierzu David, Wettbewerbsrechtliche Ansprüche gegen Betätigung von Kommunen und deren Gesellschaften, NVwZ 2000, 738 (740 f.).
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Zur Begründung hat er ausgeführt: Eine Vorschrift sei nicht schon dann ein Schutzgesetz im Sinne des § 823 Abs. 2 BGB, wenn sie nach ihrem Inhalt und Zweck die Belange eines anderen fördere. Erforderlich sei vielmehr, dass sie in der Weise einem gezielten Individualschutz gegen eine näher bestimmte Art der Schädigung dienen solle, dass an die Verletzung des geschützten Interesses die deliktische Einstandspflicht des Verletzers geknüpft werde. Bei § 107 GO NRW sei dies nicht anzunehmen. Die Vorschrift beschränke zwar die erwerbswirtschaftliche Tätigkeit der Gemeinden auch deshalb, weil sich diese zu Lasten der Privatwirtschaft auswirken könne. Sie habe aber nicht den Zweck, die einzelnen Unternehmen dadurch vor einem Wettbewerb durch gemeindliche Unternehmen zu schützen, dass ein Verstoß Individualansprüche auf Schadensersatz und Unterlassung begründen könne20. In ähnlichem Sinne hatte der Bundesgerichtshof bereits zuvor festgestellt, dass ein Verstoß gegen die Vorschrift des Art. 87 der bayerischen Gemeindeordnung, die der erwerbswirtschaftlichen Tätigkeit der Gemeinde Grenzen setze, nicht zugleich sittenwidrig im Sinne von § 1 UWG sei21. Eine im Ergebnis ähnliche Auffassung war bereits im Jahr zuvor vom Oberlandesgericht Karlsruhe zum baden-württembergischen Kommunalwirtschaftsrecht vertreten worden 22. Diese Spruchpraxis der Gerichte der ordentlichen Gerichtsbarkeit hat eine jahrzehntelange Tradition. So hat bereits das Reichsgericht in einer Entscheidung aus dem Jahre 1932 die Frage, ob es gegen die Grundsätze des lauteren Wettbewerbs verstößt, wenn eine Gemeinde ein bestimmungsgemäß der Jugendpflege dienendes, aus öffentlichen Abgaben der Gemeindeangehörigen errichtetes und unterhaltenes Gebäude zu erwerbswirtschaftlichen Zwecken verwendet, im Grundsatz verneint23. Der Bundesgerichtshof hatte zwar zunächst in der sogenannten Blockeis II-Entscheidung aus dem Jahre 1965 festgestellt, dass eine Gemeinde unlauteren Wettbewerb begehe, wenn sie die ihrer privatwirtschaftlichen Betätigung durch die Gemeindeordnung zum Schutz der privaten Mitbewerber gezogenen Grenzen vorsätzlich und planmäßig überschreite, obwohl sie dem privaten Mitbewerber Unterlassung des Wettbewerbs zugesichert und die Aufsichtsbehörde ihr Verhalten beanstandet habe24. Wenig später unternahm er jedoch in dieser Frage eine Kehrtwende. So vertrat der BGH bereits im Jahre 1974 die Auffassung, – dass es eine allgemein politische und wirtschaftspolitische Frage sei, ob sich die öffentliche Hand überhaupt erwerbswirtschaftlich betätigen dürfe und welche Grenzen ihr insoweit gesetzt oder zu setzen seien, – dass die Lösung dieser Frage Aufgabe der Gesetzgebung und Verwaltung sowie der parlamentarischen Kontrolle und für die Gemeinden und Kreise gegebenenfalls der Kommunalaufsicht, nicht aber der ordentlichen Gerichte sei, und 20 21 22 23 24
BGH, NJW 2003, 586 (587). BGH, NJW 2002, 2645 (2646). OLG Karlsruhe, DVBl 2001, 832 (833 f.). RGZ 138, 174, 176. BGH, BB 1965, 392 f.
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– dass diese Frage insbesondere nicht im Rahmen der den ordentlichen Gerichten obliegenden Prüfung von Wettbewerbshandlungen nach dem Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb geklärt werden könne, da die kommunalwirtschaftsrechtlichen Vorschriften nur bestimmten, ob und unter welchen Voraussetzungen Landkreise und Gemeinden wirtschaftliche Unternehmen überhaupt betreiben dürfen, während sich die wettbewerbsrechtliche Beurteilung nur auf die Art und Weise der Beteiligung am Wettbewerb erstrecke, so dass selbst ein Verstoß gegen die entsprechenden kommunalwirtschaftsrechtlichen Vorschriften nicht zur Wettbewerbswidrigkeit führe25. Zudem ist durch die im Rahmen der UWG-Novelle 2004 erfolgte Streichung des Begriffs der Sittenwidrigkeit auch jeder weitere Ansatz entfallen, um Rechtsschutz gegen eine kommunalwirtschaftsrechtlich unzulässige erwerbswirtschaftliche Betätigung kommunaler Unternehmen auf das geltende deutsche Wettbewerbsrecht stützen zu können 26.
III. Wettbewerbsrechtliche Abwehransprüche gegenüber dem „Wie“ der kommunalwirtschaftlichen Tätigkeit Aus der letzteren Feststellung folgt zugleich, dass das Wettbewerbsrecht den besonderen Gefährdungen, die sich durch die erwerbswirtschaftliche Betätigung kommunaler Unternehmen für den Wettbewerb ergeben können, wenn auch nicht hinsichtlich des „Ob“, so doch hinsichtlich des „Wie“ durchaus Rechnung tragen kann. So ist es seit langem anerkannt, – dass es der öffentlichen Hand bei der Teilnahme am privatwirtschaftlichen Wettbewerb grundsätzlich verwehrt ist, amtliche Beziehungen zur Werbung oder zum Abschluss von Verträgen auszunutzen, um sich auf diese Weise einen Vorsprung vor privaten Mitbewerbern zu verschaffen und – dass hierin ein Missbrauch der amtlichen Stellung und des Verwaltungsapparates liegen kann, der als sittenwidrig im Sinne von § 1 UWG erscheint27. Eine andere Beurteilung soll aber dann in Betracht kommen, wenn ein enger Zusammenhang zwischen der hoheitlichen Tätigkeit und der Teilnahme am Wirtschaftsleben besteht und die wirtschaftliche Betätigung der Erfüllung amtlicher Aufgaben in der Weise dient, dass sie nur als eine Art Hilfstätigkeit der öffentlichen Verwaltung erscheine, wie es beispielsweise für die Abgabe von Postkarten oder Schmucktelegrammen durch die Post oder auch von Formularen für Kraftfahrzeugscheine durch die Zulassungsstellen zuträfe. Unter solchen Umständen könne die gebotene Interessenabwägung dazu führen, dass wettbewerbsrechtliche Bedenken gegen die Verbindung einer wirtschaftlichen 25 BGH, NJW 1974, 1333. 26 Weißenberger, Die Zweistufentheorie im Wirtschaftsverwaltungsrecht, Teil 2, GewArch 2009, 465 (467 ff.); Ennuschat, Rechtsschutz privater Wettbewerber gegen kommunale Konkurrenz, WRP 2008, 883 (886 f.). 27 BGH, MDR 1959, 274; GRUR 1964, 210 (212); GRUR 1971, 168 (169).
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Betätigung mit der Erfüllung öffentlicher Aufgaben zurückzutreten hätten 28. Allerdings werde die öffentliche Hand in solchen Fällen das jeweils schonendste Mittel zu wählen haben, das einerseits den zu wahrenden öffentlichen Interessen genüge, andererseits aber auch die Belange des privaten Gewerbes so wenig wie möglich beeinträchtige29. Im Ergebnis hat der Bundesgerichtshof bei der Anwendung dieser Grundsätze eher milde Maßstäbe zugunsten der Kommunen angelegt. Beispiel sind die berühmten Entscheidungen Kommunaler Bestattungswirtschaftsbetrieb I bis III aus den Jahren 1986 bis 1989. In der ersten Entscheidung hat das Gericht festgestellt, dass die Wahrnehmung privatwirtschaftlicher Aufgaben im Bereich des Bestattungswesens durch eine politische Gemeinde in demselben Gebäude (z. B. Rathaus), in dem in besonderen Räumen auch die Bestattungshoheitsverwaltung und das Sterbefallstandesamt untergebracht sind, ohne Hinzutreten weiterer, die Sittenwidrigkeit begründender Umstände für sich allein wettbewerbsrechtlich nicht zu beanstanden sei30. In der zweiten heißt es, dass ohne Hinzutreten besonderer Umstände keine nach UWG § 1 zu missbilligende Ausnutzung der hoheitlichen Aufgaben einer politischen Gemeinde zugunsten ihrer privatwirtschaftlichen Betätigung im Bereich des Bestattungswesens vorläge, wenn ihre hoheitlich tätigen Bediensteten Auskünfte dahin erteilen, dass für die nicht hoheitlichen Bestattungstätigkeiten die Bestattungsordner der Gemeinde zur Verfügung stehen31. Und in der dritten Entscheidung hat es der Bundesgerichtshof schließlich unbeanstandet gelassen, wenn eine Gemeinde im Erdgeschoss ihres Leichenhauses bestattungshoheitliche Tätigkeiten ausübt, im Obergeschoss hingegen bestattungswirtschaftliche Leistungen anbietet und erbringt 32. Ausgehend hiervon ist auch von der instanzgerichtlichen Rechtsprechung allgemein anerkannt, dass „Lagevorteile“, die sich für kommunale Unternehmen daraus ergeben, dass sie im Gebäude der Kfz-Zulassungsstelle Kfz-Kennzeichen verkaufen33, oder hoheitliche und nichthoheitliche Bestattungsleistungen unter der gleichen Firmierung anbietet 34, wettbewerbsrechtlich unbedenklich sind. Strengere Maßstäbe hat die Rechtsprechung lediglich dann angelegt, wenn es nicht um die Teilnahme öffentlich-rechtlicher Unternehmen am Wirtschaftsverkehr selbst ging, sondern um die Förderung des Wettbewerbs privater Dritter durch öffentlich-rechtliche Körperschaften. So hat der Bundesgerichtshof etwa festgestellt, dass das Vorhaben einer Kassenzahnärztlichen Vereinigung, Abrechnungs-Software für Zahnärzte eines bestimmten Herstellers an ihre Mitglieder ohne gesonderte Berechnung abzugeben und zu warten, in erheblichem Maße den Wettbewerb privater Anbieter beeinträchtige und außer Verhältnis zu den Maßnahmen stehe, welche zur Erfüllung der Aufgaben einer Kassen-
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So schon RGZ 128, 134, 144 ff. BGH, NJW 1974, 1333. BGH, MDR 1987, 114. BGH, NJW 1987 62 f. MDR, 1989, 969 f. OLG Hamm, NJW-RR 1992, 1071 f. OLG Dresden, WRP 1997, 849 (852 f.).
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zahnärztlichen Vereinigung als öffentlich-rechtlicher Körperschaft erforderlich seien35. In ähnlicher Weise hat das OLG Köln festgestellt, dass eine Kfz-Zulassungsstelle, die es (zur Vereinfachung der Kfz-Zulassung) übernehme, KfzSchilder im Namen für die Rechnung bestimmter Kfz-Kennzeichenhersteller anzubieten und zu verkaufen, diesen Unternehmen unzulässige und erhebliche Wettbewerbsvorteile vor deren Mitbewerbern verschaffe 36.
IV. Abschlussbemerkung Je knapper die hoheitlichen Finanzierungsmittel der Kommunen werden, umso größer wird die Versuchung, den Versuch zu unternehmen, die Lücken durch Erzielung von Einkünften aus erwerbswirtschaftlicher Tätigkeit zu schließen. Dieses Bemühen treibt mitunter ungewöhnliche Blüten. So bietet etwa ein im Norden Schleswig-Holsteins ansässiger kommunaler Bestattungsbetrieb weit über die Grenzen der Gebietskörperschaft hinaus und bis nach Dänemark „Expresskrimierungen“ zu Sonderpreisen an. Derartige Entwicklungen sind zum einen mit Gefahren für die kommunalen Unternehmensträger selbst verbunden. Das Beispiel der Landesbanken hat deutlich gemacht, wie rasch es hier zu desaströsen Entwicklungen kommen kann, wenn man sich auf Geschäftsfelder wagt, die mit den originären Aufgaben öffentlich-rechtlicher Unternehmen nur noch wenig gemein haben. Zum anderen können sie angesichts der Wettbewerbsvorteile, die kommunale Unternehmen – durch Mitnutzung von zur Erfüllung hoheitlicher Aufgaben geschaffenen und häufig durch die Erhebung von Abgaben fi nanzierten Fazilitäten, – durch erleichterte Refi nanzierungsmöglichkeiten, sowie – durch den vielerorts bestehenden „amtlichen Vertrauensbonus“, erlangen, nicht selten zu schwerwiegenden Gefährdungen für die Zukunft kleiner mittelständischer Unternehmen führen. Da diese auf wettbewerbsrechtlichem Wege allenfalls hinsichtlich des „Wie“ der erwerbswirtschaftlich ausgerichteten Tätigkeit kommunaler Unternehmen, nicht aber bezüglich des „Ob“ im Falle einer Überschreitung der kommunalwirtschaftsrechtlich bestehenden Grenzen Rechtsschutz erlangen können, wäre es sachgerecht, wenn die Landesgesetzgeber in ihren Gemeindeordnungen unmissverständlich zum Ausdruck bringen würden, dass zumindest die kommunalwirtschaftlichen Beschränkungen, wonach – ein öffentlicher Zweck, dessen Erfüllung im Vordergrund der Unternehmung stehen muss, das Unternehmen rechtfertigen muss, und – weiter vorauszusetzen ist, dass dieser Zweck nicht besser und wirtschaftlicher auf andere Weise erfüllt werden kann, 35 BGH, LM UWG § 1 Nr. 634 (12/1993). 36 OLG Köln, WRP 1991, 259 (262).
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nicht nur – der Bewahrung der Kommunen vor wirtschaftlich riskanten Unternehmungen, und – den Interessen der mittelständischen Wirtschaft als solcher, sondern – auch dem Schutz der einzelnen privaten Gewerbetreibenden zu dienen bestimmt sind 37. Zudem käme auch in Betracht, durch eine Ergänzung im UWG zu regeln, dass eine kommunalwirtschaftsrechtlich unzulässige erwerbswirtschaftliche Betätigung kommunaler Unternehmen sich zugleich als wettbewerbswidrig darstellt 38. Durch derartige Vorschriften würde gewährleistet werden, dass die Einhaltung der einschlägigen kommunalwirtschaftlichen Vorgaben durch die privaten Marktteilnehmer einer gerichtlichen Überprüfung zugeführt werden kann. Wie die Erfahrungen aus anderen Rechtsgebieten zeigen, dürfte allein schon die Einführung derartiger Rechtsschutzmöglichkeiten spürbar dazu beitragen, dass die entsprechenden Regelungen der Gemeindeordnungen sowohl durch die kommunalen Unternehmensträger als auch seitens der Kommunalaufsichtsbehörden eine deutlich stärkere Beachtung erfahren, als dies mancherorts bislang der Fall war. Zudem könnte durch die Einräumung entsprechender Klagemöglichkeiten verbindliche Klarheit über den genauen Regelungsgehalt und die Reichweite der jeweiligen kommunalwirtschaftlichen Vorschriften geschaffen werden. Dies dürfte aber in gleicher Weise den Kommunen wie den auf dem Markt tätigen Privatunternehmen von Nutzen sein.
37 So auch Scharpf, Drittschutz für die Privatwirtschaft – Die Folgen der „Elektroarbeiten“Entscheidung des BGH und der UWG-Novelle 2004, GewArch 2004, 317 (321). 38 So der Gesetzentwurf der FDP-Bundestagsfraktion in der vergangenen Legislaturperiode, BT-Drucks. 16/5963.
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Die Finanzierung von Staaten durch externe Anleihen in der künftigen Architektur der Europäischen Währungsunion* Inhaltsübersicht I. Einleitung: Die künftige Architektur der EWU II. Die Idee der „Euro-Anleihen“ neuer Machart III. Der Vorschlag der Blue Bonds IV. Kritik
V. Die Schwächung der Haushaltsdisziplin als Krisenursache VI. Bereits eröffnete Möglichkeiten von Euro-Bonds neuer Machart VII. Externe Staatsanleihen stärken die Marktelemente der EWU
I. Einleitung: Die künftige Architektur der EWU Im letzten Quartal 2010 intensivierten sich die Bemühungen zur Neugestaltung der künftigen Architektur der Europäischen Währungsunion (EWU), die durch die Behandlung der Griechenland-Krise vom Frühjahr 2010 und vor allem durch die Bekämpfung der anschließenden Euro-Krise unter Schaffu ng des „EuroRettungsschirm“ Anfang Mai 2010 erheblich verändert, vielleicht gerettet, aber zugleich nach allgemeinem Urteil beschädigt worden ist1. Dabei geht es einmal um die Reparatur oder Fortentwicklung des institutionellen Rahmens der EWU, zum anderen um die Stärkung der Marktelemente des Systems. Zu beiden Bereichen gehören die Fragen der künftigen Handhabung der Rechtsgrundlagen der EWU im Lissabon-Vertrag, insbesondere der Art. 122 (fi nanzielle Hilfen bei Krisen), 123 (Verbot der Kredite der EZB und EWU an Staaten) und 125 AEUV (fi nanzielle Selbstverantwortung der Staaten; no-bailing-out-rule). Zum ersteren Bereich der Fortentwicklung des institutionellen Rahmens der EWU gehört die Frage der Zukunft des im Mai 2010 hastig aufgespannten, bislang (aus deutscher Sicht) temporären „Euro-Rettungsschirms“2, möglicherweise die (noch heftig umstrittene) Schaffung eines Euro-Währungsfonds
* Bearbeitungsstand ist der 15.10.2010. 1 Überblick über die Entwicklung und ihre Bewertung bei Horn, Die Verteidigung des Euro. Ein historischer Rückblick auf die Euro-Krise im Mai 2010, in FS Maier-Reimer, 2010, S. 245–261. Der Europäische Finanzstabilisierungsmechanismus (European Financial Stability Facility; EFSF) wurde begründet aufgrund VO EU Nr. 407/2010 des Rates v. 11.5.2010, ABl. EU Nr. L 118 v. 12.5.2010, S. 1. Dazu Rahmenvertrag der Regierungen mit dem EFSF (EFSF Framework Agreement) v. 7.6.2010. 2 Die ablehnende Haltung der Bundesregierung zur Perpetuierung dieses Schirms wurde in der Erklärung der Bundeskanzlerin in Brüssel am 28.9.2010 bekräftigt; Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) v. 29.9.2010, S. 11. Im gleichen Sinn Bundesbankpräsident A. Weber; FAZ v. 15.10.2010, S. 11.
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(EWF)3, und das Projekt einer Regelung der Insolvenz von Staaten, an dem die deutsche Bundesregierung Interesse zeigt, sowie vor allem die Wiederbelebung und größere Effektivität des Stabilitätspaktes4. Daneben und sich damit überschneidend besteht der Problemkreis der Wiederbelebung der Marktmechanismen als politisch neutraler, wirksamer Indikator und Test der internationalen Kreditwürdigkeit und Zahlungsfähigkeit der Mitgliedstaaten der EU. Dies entspricht dem Grundsatz der fi nanziellen Selbstverantwortung der Mitgliedstaaten, das in Art. 123 und 125 Lissabonvertrag festgeschrieben ist. Im Folgenden soll die Rolle der externen Staatsanleihen5 von Mitgliedstaaten der Währungsunion und parallel dazu die Aufnahme von externen Bankkrediten dieser Staaten bei Geschäftsbanken erörtert werden. Dies geschieht in gebotener Kürze und muss doch zugleich den politischen, wirtschaftlichen und rechtlichen Gesamtzusammenhang der Währungsunion und ihre Zukunftschancen im Auge behalten. Die Ausführungen sind HansJürgen Hellwig gewidmet, der in seiner erfolgreichen Anwaltstätigkeit stets die europäischen und internationalen Aspekte unseres Rechts im Auge hatte; ich füge meine herzlichen Glückwünsche hinzu.
II. Die Idee der „Euro-Anleihen“ neuer Machart Staatsanleihen und die daraus erwachsene erhebliche Verschuldung der emittierenden Staaten haben bekanntlich eine erhebliche Rolle bei der Entstehung und Bekämpfung der Griechenland-Krise (März/April 2010) und der unmittelbar nachfolgenden allgemeinen Euro-Krise (Mai 2010) gespielt6. Es gibt aktuelle Vorschläge für neue Formen der Kapitalaufnahme von Mitgliedstaaten durch externe Anleihen, die Eingang in die künftige Architektur der EWU fi nden sollen. Gemeinsam ist diesen Vorschlägen, dass die Haftung für Staatsanleihen nicht mehr allein bei dem Kapital aufnehmenden Staat verbleibt, sondern ganz oder teilweise auf die Währungsunion verlagert wird, indem entweder die EZB als Emittent fungiert oder auf andere Weise die Haftung ganz oder teilweise kollektiviert wird. Man verwendet für die neuen Schuldinstrumente den Ausdruck „Eurobond“, um damit nicht nur den Euro als Nominalwährung der neuen Anleihen zu bezeichnen, sondern auch die EWU oder EU oder deren Organe als Emittenten, und um das kollektive Moment der Haftung für diese Schulden hervorzuheben7.
3 Zu diesem Projekt etwa Gros/Mayer, How to deal with sovereign default in Europe: create the European Monetary Fund now, CEPS Policy Brief No. 202, Feb. 2010, Updated 17 May 2010. 4 Die Vorschläge der Kommission (van Rompuy-Arbeitsgruppe) zur Erneuerung des Stabilitätspaktes am 28.9.2010 lösten kontroverse Stellungnahmen der Mitgliedstaaten aus; FAZ v. 29.9.2010, S. 11. 5 Mit n„nexternn“n werden hier solche Anleihen und Kredite bezeichnet, bei denen Geldgeber (Gläubiger) ihren Sitz in einem anderen Land als dem Kredit aufnehmenden Land haben, auch wenn beide Länder der EWU angehören (Auslandsanleihen, Auslandskredite). 6 Einzelheiten bei Horn (Fn. 1), S. 244–252. 7 Bonnevay, Pour un Eurobond – Une stratégie coordonnée pour sortir de la crise, Institut Montaigne, 2010; De Grauwe/Moesen, Gains for All: A proposal for a common
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In den sechziger bis achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts wurden die Begriffe „Eurobonds“ und „Euroanleihen“ in ganz anderer Bedeutung verwendet. Man bezeichnete damit Anleihen, die im Unterschied zu traditionellen Auslandsanleihen gleichzeitig in vielen Ländern Europas und anderswo platziert werden und deren Nennwährung eine der international akzeptierten Währungen ist, also US-Dollar, englisches Pfund, früher die D-Mark, jetzt der Euro, ferner Schweizerfranken, Yen und andere mehr. Emittenten dieser Anleihen waren und sind Staaten, internationale Organisationen (z. B. Weltbank, Europäische Investitionsbank) und Unternehmen mit internationaler Kreditwürdigkeit8. In dieser herkömmlichen Bedeutung ist der Begriff bis heute in der Bankpraxis geläufig. Die Eurobonds neuer Machart dagegen verweisen auf die Kollektivierung der Haftung. Diese Vorschläge beziehen sich teils auf die EWU, also den engeren Kreis der „Euro-Zone“, die aber letztlich allen EU-Mitgliedern offen steht, teils von vorn herein auf den weiteren Kreis der gesamten EU. Im letzteren Sinn hat sich Anfang September 2010 der Präsident der Europäischen Kommission Barroso geäußert, indem er vorschlug, eigene EU-Anleihen und eigene direkte Einnahmen der Gemeinschaft einzuführen. Er erklärte dazu am 7.9.2010 vor dem Europäischen Parlament in Straßburg, gemeinsam mit der Europäischen Investitionsbank (EIB) aufgelegte Anleihen böten sich an, um Infrastrukturprogramme zu fi nanzieren9. Dieser Vorschlag stößt wie ähnliche frühere Vorschläge, die sich nur auf die Eurozone bezogen, in Deutschland und anderswo auf politische Bedenken der Bundesregierung, aber auch auf die Kritik von Finanzfachleuten10.
III. Der Vorschlag der Blue Bonds Um das Für und Wider solcher Vorschläge zu beurteilen, sei hier ein besonders weitreichender neuer Vorschlag betrachtet, der einige der Bedenken gegen die Kollektivierung solcher Kreditaufnahmen aufgreift und zu zerstreuen sucht. Er ist unter dem Markenzeichen „Blue Bond“ von einem französischen und einem in Brüssel tätigen deutschen Finanzfachmann veröffentlicht worden11. Man will damit zwei in der Tat wichtige Ziele zugleich erreichen: (1) die organisierte Rückkehr zur fiskalischen Stabilität trotz bestehender hoher Staatsverschuldungen und drohender Staatsverschuldungskrisen. Man will (2) zugleich eine effektive Finanzierung der bestehenden Schulden erhalten, um Verschuldungskrisen in wirtschaftlich schwächeren Ländern zu vermeiden, die wegen steigender Risikoprämien in eine Verschuldungsfalle zu laufen drohen. Die EU-Staaten sollen zu diesem Zweck ihre Schulden bis zu 60 % des BIP in einer Gesamtschuld als vorrangige Staatsschulden zusammenfassen und auf diese
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Eurobond, Intereconomics, May/June 2009; Leterme, Pour une Agence européenne de la Dette, Le Monde, 25.2.2010. Horn, Das Recht der internationalen Anleihen, 1972. Frankfurter Allgemeine Zeitzung (FAZ) v. 8.9.2010, S. 8. Issing, Why a common euro-zone bond isn’t such a good idea, Europe’s World, summer 2009, S. 77–79. Delpla/v. Weizsäcker, The Blue Bond Proposal, bruegelpolicybrief 2010/03.
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Weise die Kosten der Refi nanzierung für diesen Teil der Schulden, die durch sog. Blue Bonds erfolgt, senken. Ein unabhängiger Stabilitätsrat (Independent Stability Council; ISC) soll für jedes Land sein Kontingent an Blue Bonds entsprechend seinem BIP feststellen und vorschlagen, wobei die Parlamente der Mitgliedstaaten letztlich darüber beschließen. Soweit ein Staat einen Finanzierungs- bzw. Refi nanzierungsbedarf jenseits des ihm gemäß seinem BIP zugeteilten Kontingents von Blue Bonds hat, muss er diesen durch Ausgabe von sog. Red Bonds decken, für die die einzelnen Staaten allein haften. Diese Red Bonds werden von den Staaten im Verhältnis zu den Verbindlichkeiten aus Blue Bonds nachrangig bedient. Die verfügbaren Mittel sollen also immer vorrangig den Blue-Bond-Gläubigern zugute kommen. Mit der Kreditaufnahme mittels Red Bonds soll die Möglichkeit einer Staateninsolvenz verbunden sein. Die Bedingungen der Red Bonds sollen zugleich sicherstellen, dass die Gläubiger in einer Schuldenkrise des emittierenden Staates gemeinsam vertreten werden und auf diese Weise Umschuldungen mit entsprechenden Verzichten der Gläubiger durchgesetzt werden können (collective action clauses)12. Die Finanzierung über Red Bonds wird demnach sehr viel teurer, weil der Markt einen Ausgleich dafür will, dass die Red Bonds eine geringere Marktliquidität aufweisen und ein sehr viel höheres Ausfallrisiko. Im Ergebnis kann sich also ein Land durch Blue Bonds sehr günstig und durch Red Bonds nur sehr teuer fi nanzieren bzw. refi nanzieren. Dies soll nach Meinung der Autoren des Vorschlags auf das Schuldnerland eine disziplinierende Wirkung ausüben, indem dieses veranlasst wird, zusätzliche Finanzierungswünsche wegen der höheren Kosten der Red Bonds möglichst zurückzustellen. Dadurch, so meint man, unterscheide sich ihr Vorschlag wesentlich von früheren Vorschlägen einer Zusammenfassung der Schulden der EU-Länder13. Man glaubt auch, dass auf diese Weise die Rolle des Euro als weltweit begehrte Reservewährung begründet oder jedenfalls gefördert werden könnte mit dem Ziel, mit dem US-Dollar gleichzuziehen, der dank seines Status als primäre internationale Reservewährung im letzten halben Jahrhundert den USA zu stark verbilligten eigenen Kreditaufnahmen verholfen hat14.
IV. Kritik Der neue Vorschlag wirft zunächst eine Reihe technischer Fragen auf. Diese ergeben sich schon bei der Frage der Gestaltung der Rangfolge der „blauen“ und „roten“ Schulden. Die vertragliche Schaffung verschiedener Klassen von Schulden (senior debt, junior debt, equity tranche) ist in der angelsächsichen Vertragspraxis seit langem üblich und dann auch in den internationalen Finanz12 Delpla/v. Weizsäcker (Fn. 11), S. 4. Zur Entwicklung und Funktion der collective action clauses Horn, Die Stellung der Anleihegläubiger nach neuem Schuldverschreibungsgesetz u. allgemeinem Privatrecht, ZHR 173 (2009), 12 ff., 28, m. Nachw. 13 Delpla/v. Weizsäcker (Fn. 11), S. 4. Zu den anderen Vorschlägen vgl. Bonnevay, De Grauwe/Moesen und Leterme (oben Fn. 7). 14 Gourinchas/Rey, From World Banker to World Venture Capitalist: The US External Adjustment and the Exorbitant Privilege, in Clarida (ed.), Current Account Imbalances: Sustainability and Adjustment, University of Chicago Press, 2007.
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märkten allgemein heimisch geworden. Die Rangfolge bezieht sich häufig auf unterschiedliche Risikoklassen innerhalb ein und derselben Emission, so bei sog. „strukturierten Anleihen“ der Derivatemärkte15. Die Rangregelung kann sich aber auch auf andere Verbindlichkeiten beziehen. Dies gilt etwa für die in Deutschland verwendeten sog. Nachranganleihen der Banken (als Unterfall der Hybridanleihen), die zugleich bankraufsichtsrechtlich bisher als Ersatz für Eigenkapital dienten16. Dies alles scheint dafür zu sprechen, dass die Unterteilung in Blue Bonds und Red Bonds nach dem Vorschlag an bewährte Vertragstechniken anknüpfen kann. Dies ist aber zu bezweifeln, weil es um die Klassifi zierung von zwei riesigen, schwer überschaubaren Schuldenmassen gehen soll, die sich gemäß der Mithaftung für die Blue Bonds über eine Vielzahl von Ländern erstrecken, wobei die eine Masse der Blue Bonds Gegenstand einer kollektiven Haftung ist, während die Haftung für die Red Bonds bei den einzelnen Staaten verbleiben soll. Hier treten schon technische Probleme der Schuldenerfassung und Schuldenstandsmessung auf, wobei auch Besonderheiten der internen Kredite, die also der Schuldnerstaat an seinem heimischen Kapitalmarkt aufgenommen hat, zu berücksichtigen wären. Es wird ferner schwierig sein, die Risikoklassifi zierung durchzusetzen und die Bevorzugung eines früher fälligen roten Anspruchs vor einem wenig später fälligen blauen Anspruch zu verhindern, wenn die Mittel des Schuldners nicht für beide ausreichen. Auch ein Insolvenzrecht für Staaten, das in der Tat im Konzept der Red-Bonds vorausgesetzt wird17, könnte dazu höchstens eine Teillösung liefern. Die größeren Probleme liegen aber anderswo. Alle Vorschläge eines „Eurobond“ nehmen sich die US Treasury Bonds zum Vorbild; ihre Autoren lassen sich von deren unbestreitbaren Vorteilen für die USA beeindrucken. Dabei wird übersehen, dass die EWU kein Bundesstaat ist und dass der Kern des Problems gerade die hybride Struktur der EWU ist, die ein einheitliches Währungsgebiet für divergierende unabhängige souveräne Staaten mit eigenen Volkswirtschaften und Budgetrechten geschaffen hat. Dieses Problem kann man nicht dadurch lösen, dass man es ignoriert. Die wichtigsten Aspekte dieses Kernproblems sind Hindernisse im Verfassungsrecht der einzelnen Staaten, die Divergenz ihrer wirtschaftlichen Interessen im Hinblick auf die Transfers, die mit einer solchen Kollektivierung der externen Verschuldung und Haftung erzeugt würden, und die weitere Lähmung der noch innerhalb der EWU verbliebenen Marktmechanismen. Das erste und in die Augen springende Problem bildet dabei das Erfordernis der Zustimmung der nationalen Parlamente und deren verfassungsrechtlich vorgegebene Haushaltsverantwortung. Die Vorstellung, der deutsche Bundestag könnte die Emission von Blue Bonds des Bundes auf Vorschlag eines unabhängigen „Stabilitätsrates“ beschließen, um sich damit eine kollektive Mithaftung für alle Staatsschulden aller EU-Mitgliedstaaten (oder jedenfalls
15 Horn, ZHR 173 (2009), 12 ff., 23. 16 Zu Hybridanleihen Horn, ZHR 173 (2009), 12 ff., 19 f. Sie entsprechen künftig nicht mehr den Eigenkapitalanforderungen des Bankaufsichtsrechts. 17 Delpla/v. Weizsäcker (Fn. 11), S. 2 und passim.
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der EWU-Mitgliedstaaten) in den Grenzen ihres BIP aufzuhalsen, ist absolut realitätsfern. Jede Kollektivierung der Schulden der einzelnen Mitgliedstaaten führt zur weiteren Schwächung des Prinzips der Selbstverantwortung der Staaten für ihre Budgets und ihre Schulden, das in Art. 123 und 125 AEUV angelegt ist. Die Blue Bonds würden geradezu eine unwiderstehliche Anziehungskraft entfalten, auch alle rein internen Altschulden in Blue Bonds umzuschichten und damit unter den Schirm der kollektiven Haftung zu kriechen. Die Transferunion wäre perfekt. Zwar wollen die Autoren des Blue Bond-Projekts ein Marktelement in Gestalt der Red Bonds einbauen. Für die Red Bonds soll das gelten, was bisher für alle Staatsanleihen der EU-Mitglieder vor dem Mai 2010 gegolten hat und heute im Prinzip noch weiter gilt: der emittierende Staat hat für seine Schulden einzustehen. Dies sollte ihn veranlassen, mit seiner Verschuldungspolitik und damit seiner Kreditaufnahme, sei es durch Anleihen, sei es durch direkte Kredite der Geschäftsbanken, vorsichtig umzugehen. Die Red-Bond-Lösung würde diesen Mechanismus auf einen Restsaldo von Schulden beschränken. Diese Lösung wurde ein Glaubwürdigkeitsproblem erzeugen. Wäre erst einmal der Hauptteil aller Staatsschulden vergemeinschaftet, würde niemand mehr glauben, man könnte nicht im Notfall auf politischem Weg auch die Kollektivierung der Restschulden erreichen. Die disziplinierende Wirkung der Red Bonds wäre marginal. Das Hauptproblem der EWU würde weiter verschärft.
V. Die Schwächung der Haushaltsdisziplin als Krisenursache Zu den längerfristigen Ursachen der Euro-Krise gehört die traditionell schwächer ausgeprägte Haushaltsdisziplin bestimmter Staaten. Unter diesen Umständen wog der Umstand schwer, dass der Stabilitätspakt ab 2002 nur halbherzig angewendet und 2005 unter Mithilfe der Bundesregierung Schröder in seinen Sanktionsmechanismen geschwächt und damit seiner ohnehin eher bescheidenen Effektivität beraubt worden ist. Wie wir derzeit sehen, ist das Problem erkannt, die notwendige Reparatur aber nicht einfach. Dass in den letzten Jahren eine Reihe von Staaten sich geradezu in einen Verschuldungsrausch gestürzt hat, wobei die PIIGS-Staaten Portugal, Italien, Irland, Griechenland und Spanien das Hauptproblem bilden, hat weitere Ursachen. Die Kreditaufnahme wurde durch die EWU für die schwachen Länder leichter, weil die einheitliche starke Währung den Inflationsaufschlag, den die schwachen Länder für ihre Kreditaufnahmen und Anleihen zuvor zahlen mussten, beseitigte und nur schwächere Bonitätsaufschläge übrigließ. Den Geschäftsbanken waren Staaten als Schuldner hochwillkommen, weil sie diese Kreditaufnahmen nach europäisch vereinheitlichtem Bankaufsichtsrecht nicht mit Eigenkapital unterlegen müssen18. Die Geschäftsbanken trieben ihre Kreditvergabe so weit, dass man bei einer Umschuldung in der Griechenlandkrise eine zweite Bankenkrise in Deutschland und anderswo befürchtete, während noch die Finanzmarktkrise von 2007/08 in vollem Gange war. Dies führte 18 Anleihen von Staaten des Europäischen Wirtschaftsraums und Kreditforderungen an solche Staaten haben die Risikogewichtung 0 %; § 26 Nr. 2 lit. b SolvV.
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leider zum gänzlichen Verzicht auf Umschuldungsbemühungen im Fall Griechenland. Das war und ist ein schwerer Fehler. Man hätte unbedingt den Versuch unternehmen sollen, in politischer Abwägung der Sanierungsbedürfnisse des Schuldnerlandes Griechenland und der Abwehr einer neuen Bankenkrise einen massvollen, den Banken jedenfalls zumutbaren Schuldenerlass (haircut) vorzusehen, schon um die Banken zu mehr Vorsicht zu erziehen. Die Europäische Währungsunion droht ohne solche Massnahmen an ihren Verschuldungen sozusagen zu ersticken. Der in einer Blitzaktion 2010 geschaffene „EuroRettungsschirm“ ist dann in die Fußstapfen der Lösungen getreten, die die Griechenland-Krise hervorgerufen hat, und Versicherungen, künftig werde es die griechische Lösung nicht mehr geben, haben ein Glaubwürdigkeitsproblem.
VI. Bereits eröffnete Möglichkeiten von Euro-Bonds neuer Machart Der im Mai und Juni 2010 geschaffene „Euro-Rettungsschirm“ eröffnet schon jetzt in großem Unfang die Schaffung von „Eurobonds“ im neuen Sinn, weil anders die gigantischen bereitzustellenden Summen nicht zu beschaffen wären. Diese Möglichkeit ist nicht ganz neu. Bereits 2002 hatte der Rat der EU eine Fazilität des mittelfristigen fi nanziellen Beistands zur Stützung der Zahlungsbilanzen der Mitgliedstaaten eingeführt19. Diese nicht auf Mitglieder der EWU (Eurozone) beschränkte Möglichkeit sieht zur Refi nanzierung solcher Finanzhilfen die Emission von Anleihen auf den Kapitalmärkten im Namen der Europäischen Union vor (Art. 1 (2) VO (EG) Nr. 332/2002). Diese Möglichkeit wurde auch bei der Schaffung des Euro-Rettungsschirms als Teil der Rettungsinstrumente ausdrücklich in Bezug genommen. Der mit Verordnung des Rates v. 11.5.2010 geschaffene Fonds „Europäischer Finanzstabilisierungsmechanismus“ (EFSF)20 sieht für das riesige Volumen von 440 Mrd. Euro an Unterstützungsmitteln im Rahmenabkommen der Regierungen mit dem Fonds v. 7.6.2010 ebenfalls derartige Refi nanzierungsmöglichkeiten vor21. Die Frage liegt nahe, ob man nicht nach diesem Vorbild weiter voranschreiten sollte, wie der Vorschlag der Blue-Bonds es vorsieht? Die Kollektivierung der Verantwortlichkeit und Haftung für externe Staatsschulden weist aber, wie dargelegt, in die falsche Richtung. Es ist umgekehrt geradezu ein Anliegen, diesen Rettungsschirm hinsichtlich der Vergabebedingungen so unattraktiv auszugestalten, dass auch stark verschuldete Staaten ihn möglichst nicht in Anspruch nehmen, und dass auf diese Weise die Gefahr der Verschuldungs- und Transferunion eingedämmt wird.
VII. Externe Staatsanleihen stärken die Marktelemente der EWU Externe Staatsanleihen und sonstige Kreditaufnahmen der einzelnen Staaten in traditioneller Selbstverantwortung der Schuldnerstaaten müssen auch in Zukunft ein wichtiges Instrument zur Stärkung der unentbehrlichen Markt-
19 VO (EG) Nr. 332/2002 des Rates v. 18.2.2002, ABl. EG Nr. L 53 v. 23.2.2002, S. 1. 20 Vgl. oben Fn. 1. 21 EFSF-Rahmenvertrag v. 7.6.2010, Nr. 2 über „funding instruments“.
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elemente der EWU sein oder es wieder werden. Dies ist sogar das Kernproblem der EWU in ihrem derzeitigen Zustand. Die Mitglieder der EWU haben mit dem Beitritt zur Währungsunion zwei wichtige marktbezogene Mechanismen aufgegeben, mit denen sie eine Anpassung ihrer unterschiedlichen und wechselnden wirtschaftlichen Entwicklung und Budgetpolitiken an die Weltmärkte vornehmen konnten 22: die Möglichkeit der Abwertung ihrer (nationalen) Währung und (teilweise) die Flexibilität des Zinses. Zugleich gingen damit die disziplinierenden Wirkungen dieser Mechanismen auf die nationale Budget- und Verschuldungspolitik verloren. Das ist in der Diskussion zur Eurokrise 2010 und schon 1999 bei Einführung des Euro oft gesagt worden. Verblieben sind in der Europäischen Währungsunion aber andere, wichtige und auf das Marktgeschehen bezogene Disziplinierungsmechanismen: (1) Der Grundsatz der fi nanziellen Selbstverantwortung eines jeden Euro-Mitgliedstaats aufgrund der Nichtbeistands- und Nichthaftungsklausel des Art. 125 AEUV (no-bail-out-rule). (2) Eine Umgehung des Marktmechanismus durch direkte Kreditaufnahme bei der EZB oder ihren Mitgliedzentralbanken ist strikt untersagt (Art. 123 (1) AEUV). (3) Nicht im Vertrag geregelt, aber generell möglich bleibt bei nicht anders behebbarer Verschuldungskrise die Umschuldung. (1) Nach dem erstgenannten, mehrfach erwähnten Grundsatz muss jeder Mitgliedsstaat selbst für seine Kreditwürdigkeit sorgen 23. Grundsätzlich konnte es bei unterschiedlichen Bonitätsniveaus der Länder bleiben, wenngleich man auf eine wirtschaftliche Konvergenz hoffte. Hatte die Bonität eines Staates gelitten, mussten (und müssen) höhere Zinsen gezahlt werden. Dieser „spread“ im Vergleich zu den am besten bewerteten Anleihen, z. B. den „Bunds“, war lange ein Indikator für die Einschätzung der Bonität eines Schuldnerstaates durch den Markt. Insofern blieb eine Variabilität des Zinses bestehen, wenngleich die Risikoaufschläge für schwache Schuldnerländer viel geringer wurden, weil das Wechselkursrisiko eliminiert war und auch das Bonitätsrisiko in milderem Licht gesehen wurde. Im Vorfeld der Griechenland-Krise vergrößerten sich die Spreads. Fallende Kurse (und damit steigende Renditen) von Schuldtiteln zeigten die verschlechterte Einschätzung durch den Markt an. Im Extremfall verschließen sich die Kapitalmärkte weiteren Kreditaufnahmen des betreffenden Schuldnerstaates. Es kommt zur Krise. Das ist die einzige wirklich wirksame Waffe zur Eindämmung der Verschuldungslust uneinsichtiger souveräner Parlamente. – Die beiden weiteren vorgenannten Grundsätze (2) Verbot der direkten Finanzierung von Schuldnerstaaten durch die EZB und die EWU und (3) der ungeschriebene Grundsatz, dass es in einer Krise des Schuldnerstaates zu einer Umschuldung kommt, stützen den vorgenannten Grundsatz der fi nanziellen Selbstverantwortung ab.
22 Zum Folgenden auch schon Horn in FS Maier-Reimer, 2010, S. 258 f. Vgl. auch Horn, The Institutional and Legal Framework of the European Monetary Union, in Horn (Hrsg.) German Banking Law and Practice in International Perspective, 1999. 23 Allerdings waren schon 1999 die politischen Schwierigkeiten mit der Durchsetzbarkeit der no-bail-out-Regel vorhersehbar; Horn, Institutional and Legal Framework (Fn. 22), S. 15 ff., 25, 35: „We cannot rule out that some countries will fall back to their usual habits of deficit-spending and accumulating public debt with the hope that ‚the no-bail-out-rule‘ of EMU will not be applied against them.“
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Alle diese drei am Markt orientierten Kontrollmechanismen wurden bei der Bewältigung der Griechenland-Krise und der anschließenden Konstruktion des Euro-Rettungsschirms entscheidend geschwächt. Zwar wurden die zentralen Normen Art. 125 AEUV (no bail out) und Art. 123 AEUV (Verbot von Kreditfazilitäten der EZB für Staaten) durch die Maßnahmen nicht formal verletzt, aber doch ihrer unmittelbaren praktischen Auswirkungen beraubt. Griechenland wurde trotz des bail-out-Verbotes von den anderen EWU-Staaten kollektiv gerettet, wenngleich in Form einer Bündelung bilateraler Hilfen. Das Verbot direkter Kreditfazilitäten der EZB für Schuldnerstaaten wurde durch die indirekte Technik, deren Schuldverschreibungen im Markt aufzukaufen, praktisch ausgehebelt. Künftig können Schuldnerstaaten trotz Gefahr der Krise im Grundsatz ohne allzu große Hindernisse weiter Kredit aufnehmen und Anleihen emittieren. Banken und Investoren können ihnen relativ risikolos diese Kredite gewähren und ihre Bonds kaufen. Der Kreditaufnahme von Staaten bei Geschäftsbanken sind, wie erwähnt, weiterhin kaum Grenzen gesetzt, und der letzte Rest eines Risikos wurde durch die Politik des Ankaufs problematischer Staatspapiere von EWU-Mitgliedern durch die EZB weggenommen. Umschuldungen werden seit dem falschen Beispiel Griechenland derzeit vermieden. Man denkt zu sehr an die Gefährdung der Gläubigerbanken, wohl aber auch im Fall der Krise größerer Schuldnerländer an systemische Risken für den Euro. Man hofft aber, durch die Schaffung einer Regelung der Staateninsolvenz, die Deutschland fordert, weiter zu kommen. Ohne die eingangs erwähnte Erneuerung des Stabilitätspaktes zu vernachlässigen, muss es eine Rettungsstrategie für die EWU sich vor allem die Herstellung der genannten Marktmechanismen zum Ziel setzen. Dazu braucht es keine Vertragsänderungen, die ohnehin kaum zu erreichen sind. Stärkstes Argument für die Rückkehr zu marktorientierten Disziplinierungen ist es, dass Art. 123 und 125 AEUV weiterhin als geltendes Recht strikte Beachtung erfordern. Das Bundesverfassungsgericht hat im Maastricht-Urteil festgestellt, dass diese Stabilitätsgarantien die Voraussetzung für Deutschlands Beitritt zur EWU waren und dass die deutsche Regierung eine fortdauernde Verpflichtung hat, die Geldwertstabilität auf dieser Grundlage zu verteidigen 24. Unabhängig von Diskussionen über Vertragsänderungen ist praktisches politisches Handeln auf dieser bestehenden Rechtsgrundlage dringlich. Der Euro-Rettungsschirm darf nicht als Selbstbedienungs-Automatismus ausgestaltet werden. Ob er nach Ablauf der von Deutschland gesetzten Dreijahresfrist abgeschafft werden kann, ist ungewiss. Wichtig ist, dass die Konditionen der Hilfe strikt und für Schuldnerstaaten abschreckend bleiben. Die Ankäufe von Staatspapieren durch die EZB sind in Zukunft auszuschließen. Der Gedanke gemeinsamer Euro-Anleihen der EWU oder EU, welche die Kreditverantwortung der einzelnen Staaten weiter verkleistern würden, ist ein Irrweg, der verhindert werden muss. Umschuldungen sollten bei nächster Gelegenheit begrenzt gewagt werden, in Abwägung der Situation der Schuldnerstaaten und ihrer Gläubigerbanken. Noch gibt es in der gegenwärtigen Situation Restbestände von wirksamen Marktmechanismen mit ihren notwendigen Differenzierungen an Bonität und 24 BVerfGE 89, 155, 159 ff. = NJW 1993, 3047 = EuZW 1993, 667.
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Risikopreisen. Die Renditen für Anleihen der PIIGS-Staaten sind gestiegen, ihre Kurse gefallen. Das Rating für Spanien wurde Ende Mai 2010 zurückgestuft25. Die Rückkehr zu den im Maastrichtvertrag vorgezeichneten, marktorientierten Kontrollen und ihre Verbesserung ist für den Fortbestand der EWU unabdingbar. Ob es zu dem von Deutschland geforderten Insolvenzrecht für Staaten kommt, das seit langem vom IWF propagiert wird, ist ungewiss. Aber Umschuldungen sind seit jeher auch möglich, wenn eine solche Insolvenzordnung in der EU/ EWU nicht erreicht werden kann. Dass es zu Umschuldungen von Anleihen und Krediten von Schuldnerstaaten in der Krise kommt, ist unabdingbar.
25 Herabstufung am 30.5.2010 durch die Rating-Agentur Fitch; Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) v. 31.5.2010, S. 11, 20.
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Einige (rudimentäre) Anmerkungen zur naturrechtlichen Perspektive von Papst Benedikt XVI. Inhaltsübersicht I. Ausgangspunkt 1. Naturrecht – Menschenrechte 2. Schöpfergott 3. Menschenrechte und demokratische Mehrheit II. Versuch einer ersten Ausfaltung dieser Gedanken 1. Grundgedanken des II. Vaticanum a) Gaudium et Spes b) Dignitatis Humanae 2. Zwischensumme III. UN-Rede 1. Menschenrechte 2. Schöpfergott 3. Dialog
IV. Zwischensumme V. Regensburger Rede 1. Vorbemerkung 2. Gott – Logos – Analogie zum Geschöpf 3. Erneut: Dialog der Kulturen V. Sozialenzyklika „Caritas in Veritate“ 1. Grundgedanke der Liebe 2. Nochmals: Dialog a) Beitrag des christlichen Glaubens b) Forderung nach einer Ethik VI. Summe
Da der mit diesem Beitrag zu ehrende Jubilar nicht nur ein herausragender Jurist, sondern vor allem fast ein halbes Jahrhundert lang ein überaus treuer Freund und Wegbegleiter – mitunter auch ein Wegbereiter – ist, dann ist es wohl verzeihlich, wenn im Folgenden der Versuch unternommen wird, auf einem nur scheinbar unjuristischen Feld etwas niederzuschreiben. Denn die Freundschaft mit dem Jubilar umfasst eine beträchtlich große Schnittmenge gemeinsamer Interessen. Dazu gehört nicht zuletzt auch der weite Bereich der Philosophie und der der Theologie – freilich verbunden mit der Apostrophe, dass die unterschiedlichen Konfessionen es gestatten und auch gebieten, den je eigenen Standpunkt besonders herauszuarbeiten, um darauf den künftigen Dialog aufzubauen. Dass der Jubilar genauso denkt, hat er mit seiner trefflichen Arbeit über die Ethik anwaltlichen Handelns unter Beweis gestellt1.
I. Ausgangspunkt 1. Naturrecht – Menschenrechte Es ist von hoher Bedeutung, dass der Papst, als er noch den Rang eines Kardinals hatte, der bislang in der katholischen Kirche weithin anerkannten „natürlichen“ Grundlegung des Naturrechts – es diente und dient ja als Basis des Gesprächs der Kirche mit der säkularen Gesellschaft – deswegen eine Absage 1 Hellwig, AnwBl. 2009, 465 ff.
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erteilte, weil der Begriff „Natur“ mit dem Sieg der Evolutionstheorie zu Bruche gegangen“ sei2. Denn – so der Papst weiter – diese „Idee des Naturrechts“ setze nämlich „einen Begriff von Natur voraus 3, in dem Natur und Vernunft ineinander greifen, die Natur selbst vernünftig ist“4. Doch dieses „Instrument ist leider stumpf geworden“5. Und die konkretere Begründung: Die Natur sei eben „nicht vernünftig, auch wenn es in ihr vernünftiges Verhalten gibt“6. Aus den vielfältigen Begründungen des Naturrechts ist deshalb nur, so resümiert der Papst, derjenige übrig geblieben, den Ulpian im früheren 3. Jahrhundert nach Christus in dem Satz zusammenfasst: „Ius naturale est, quod natura omnia animale docet“7. Dass dieser gleichsam naturalistische Ansatz nicht ausreicht8, einen auch nur halbwegs plausiblen Begriff von Gehalt und Geltungsanspruch des Naturrechts als eines überpositiven Rechts9 zu erzielen, braucht nicht weiter vertieft zu werden. Denn ein Recht, welches naturgemäß für jedes Lebewesen Gültigkeit beanspruchen will, kann schwerlich mit dem gleichen Folgeanspruch auch für den Menschen gelten, weil dieser ja, wie immer man hier die Begründungstiefe ausloten will, allemal einen Geist und eine Seele, nicht nur einen Körper hat, ausgestattet nicht zuletzt auch mit einem freien Willen, der den geltenden rechtlichen und moralischen Gesetzen in einem Gewissensakt den geschuldeten Gehorsam entgegenbringen oder auch verweigern kann. Nunmehr aber sieht der Papst in seinem historisch zu nennenden Dialog mit dem Philosophen Jürgen Habermas10 sozusagen als letztes „Element des Naturrechts“ – und davon wird im Folgenden zu handeln sein – den Befund, dass als sein Ausweis „die Menschenrechte stehen geblieben“ sind11. Damit geht der Papst – jedenfalls auf der Ebene eines rechtlichen und politischen Diskurses – erkennbar von einer Gleichsetzung des Naturrechts mit den Men2 Ratzinger, Werte in Zeiten des Umbruchs, Vorpolitische moralische Grundlagen eines freiheitlichen Staates, Freiburg 2005, S. 28, 35 (nachfolgend zitiert: „Grundlagen“). 3 Hierzu auch Höffe, Gerechtigkeit, 3. Aufl., München 2007, S. 43 mit dem Versuch, das Phänomen oder auch nur den Begriff Naturrecht zu umschreiben: „Im deskriptiven Sinn meint die Natur die Gesamtheit jener letzten, nicht mehr hinterfragbaren Voraussetzungen menschlichen Handelns, die weder durch früheres Tun und Lassen noch durch den gegenwärtigen institutionellen und kulturellen Rahmen bestimmt sind. ‚Natur‘ bedeutet hier den Inbegriff der Aspekte am Menschsein (‚anthropologisches Naturrecht‘) und der Welt (‚kosmologisches Naturrecht‘), die – der persönlichen und gesellschaftlichen Verfügung entzogen – den Spielraum festlegen, in dem der Mensch, sei es als einzelner, sei es als Gruppe oder als Gattung, tätig werden kann.“ (nachfolgend zitiert: „Gerechtigkeit“). 4 Ratzinger (Fn. 2), ebenda. 5 Ratzinger (Fn. 2), ebenda. 6 Ratzinger (Fn. 2), ebenda. 7 Ratzinger (Fn. 2), Grundlagen, S. 28, 35 f. 8 Vgl. auch Höffe (Fn. 3), Gerechtigkeit, S. 42 ff. zu den Einwänden gegen die Konzeption des Naturrechts. 9 Als Klassiker in dieser Sicht Radbruch, Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht, in Radbruch, Der Mensch im Recht, Göttingen 1957, S. 111 ff.; Radbruch, Die Erneuerung des Rechts, in Maihofer, Naturrecht und Rechtspositivismus, Darmstadt 1962, S. 3 ff. 10 Habermas/Ratzinger, Dialektik der Säkularisierung, 7. Aufl., Freiburg 2005. 11 Ratzinger (Fn. 2), Grundlagen, S. 28, 36.
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Anmerkungen zur naturrechtlichen Perspektive von Papst Benedikt XVI.
schenrechten aus, was dann auch wohl recht zwingend die Umschreibung der Gerechtigkeit als Tugend einschließen dürfte12. Das ist freilich im Kontext der allgemeinen Debatte über das Naturrecht, wie wir sie in letzter Zeit kennen13, keineswegs neu14. Denn der das Naturrecht weithin leugnende Rechtspositivismus ist ja dadurch charakterisiert, dass er die Rechtswissenschaft als eine von Philosophie und Theologie weithin emanzipierte, unabhängige und damit autonome Wissenschaft behandelt15, welche oft auch als „ethisches Minimum“ umschrieben wird. Doch auch wenn man an dem Grundsatz der Unwandelbarkeit des Naturrechts festhält16, so ist allemal der auf die Menschenrechte zielende Begründungsansatz des Papstes es wert, in verschiedene Richtungen vertieft zu werden17. 2. Schöpfergott Als erstes ist der Ausgangspunkt von Papst Benedikt aufzugreifen, dass nach christlicher Sicht die Anerkennung der Menschenrechte auf den Schöpfergott verweist18. Denn „nur er kann Recht setzen, die im Wesen des Menschen gründen und für niemanden zur Disposition stehen“19. Darin liegt, so schlussfolgert der Papst, „die eigentliche Gewähr unserer Freiheit und menschlichen Größe“20. Kontrapunktisch hierzu: Wenn man diesen Glaubenssatz nicht teilt, dass nämlich jeder Mensch sich dem Schöpfergott verdankt, dann wird man kaum eine andere rationale Erklärung innerhalb des christlich-abendländischen Kulturraums bereit halten können, als dass die Welt und der Mensch nur dem blanken Zufall zuzuschreiben sind 21. Diesen Zusammenhang hat der Papst in 12 Hierzu auch Höffe (Fn. 3), Gerechtigkeit, S. 30 ff.: „Wer sich nur dort empört, wo er selbst einer Ungerechtigkeit zum Opfer fällt, verharrt auf der selbstbezogenen ‚egoistischen‘ Vorstufe. Erst wer sich über Ungerechtigkeiten gegen andere empört, verfügt über die eigentliche, fremdbezogene, ‚altruistische‘ Gerechtigkeit“, S. 32. 13 Einen guten Überblick bietet Horn, Einführung in die Rechtswissenschaft und Rechtsphilosophie, 2. Aufl. Heidelberg 2001, Rz. 401 ff.; weiter zurückreichend, aber noch keineswegs veraltet Welzel, Naturrecht und materiale Gerechtigkeit, 2. Aufl., Göttingen 1955, S. 160 ff. 14 Hierzu etwa Lohmann, Zwischen Naturrecht und Partikularismus, Berlin 2002, S. 408 ff. vorwiegend aus evangelisch-protestantischer Perspektive; vgl. auch Uertz, Vom Gottesrecht zum Menschenrecht, Paderborn 2005, S. 463 ff. weithin aus katholischer Sicht. 15 Höffe (Fn. 3), Gerechtigkeit, S. 35. 16 Höffner, Christliche Gesellschaftslehre, Kevelaer 1962, S. 62. 17 Neuestens di Fabio, in Benedikt XVI., Eine menschlichere Welt für alle, Die Rede vor der UN, Freiburg 2008, S. 59 ff. 18 Überdeutlich in der Rede vor der UN: „Es ist aber offensichtlich, dass die in der Erklärung (der Menschenrechte) anerkannten und dargelegten Rechte auf jeden Menschen auf Grund des gemeinsamen Ursprungs der Menschen angewandt werden, der für die Welt und Geschichte der zentrale Punkt des Schöpfungsplanes Gottes bleibt“, (nachfolgend „UN-Rede“, vgl. Fn. 17, S. 8, 21). 19 Ratzinger (Fn. 2), Europas Identität, seine geistigen Grundlagen gestern, heute, morgen, S. 68, 85 (nachfolgend zitiert: „Europas Identität“). 20 Ratzinger (Fn. 2), ebenda. 21 Der Antwort auf diese Frage weicht z. B. auch Höffe (Fn. 3), Gerechtigkeit, S. 70 aus, indem er „das Prinzip der gleichen Freiheit“ als für „jeden Rechtsgenossen“ verbindlich postuliert und an „jedes Gemeinwesen“ die Forderung richtet, „die Anerkennung (dieses Prinzips) zu sichern. Die Rechtsgenossen haben die Bedingungen zu
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einem Kolloquium an der Pariser Sorbonne im Jahr 1999 mit folgenden Worten auf den Punkt zu bringen versucht: „Es geht um die Frage, ob die Vernunft bzw. das Vernünftige am Anfang aller Dinge und auf ihrem Grund steht. Es geht um die Frage, ob die Wirklichkeit auf Grund von Zufall und Notwendigkeit …, also aus dem Vernunftlosen entstanden ist, ob also die Vernunft ein zufälliges Nebenprodukt des Unvernünftigen und im Ozean des Unvernünftigen letztlich auch bedeutungslos ist, oder ob wahr bleibt, was die Grundüberzeugung des christlichen Glaubens und seiner Philosophie bildet: In principio erat Verbum – am Anfang aller Dinge steht die schöpferische Kraft der Vernunft. Der christliche Glaube ist heute wie damals die Option für die Priorität der Vernunft und des Vernünftigen“22. 3. Menschenrechte und demokratische Mehrheit Doch die Evidenz, dass es Menschenrechte gibt, die allgemein anerkannt sind, ist keineswegs so eindeutig, dass nicht zwei Gesichtspunkte vertieft werden müssen. Der erste: Immer geht es ja darum, dass das Recht die bindende Verpfl ichtung hat, politische Macht einzugrenzen, weil der Staat „das Recht als die Bedingung der Freiheit und des gemeinsamen Wohlstandes garantiert“23. Doch auch demokratische Mehrheiten können sich irren, wie die Geschichte des 20. Jahrhunderts, aber auch unser Zeitalter immer wieder beweisen 24. Ihre numerische Existenz legitimiert ja keineswegs, sozusagen aus sich selbst heraus, was Menschenrechte sind und „worin Menschenwürde besteht“, weil die darin enthaltenen Wertungen „keineswegs immer für die Mehrheit offen zutage“ liegen 25. Um den sich daraus ergebenden Gefahren und Gefährdungen nicht zu erliegen, braucht der Staat daher „ein Mindestmaß an Wahrheit, an Erkenntnis des Guten, die nicht manipulierbar sind“26. Denn, so Papst Benedikt, „die Menschenrechte unterliegen nicht ihrerseits dem Pluralismus- und Toleranzgebot, sie sind der Inhalt der Toleranz und der Freiheit“27.
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gewähren, der Staat hat sie zu gewährleisten“. Daraus leitet Höffe die Existenz der „Menschenrechte“ ab. Nach ihm handelt es sich hierbei um „Rechte, die der Mensch, bloß weil er Mensch ist, unverlierbar verdient und die in diesem rechtsmoralischen, nicht biologischen Sinn angeborene, natürliche, unveräußerliche und unverlezliche Rechte heißen“. Von der Vertragstheorie her kommend vgl. Rawls, Gerechtigkeit als Fairneß, Frankfurt 2006, S. 38 ff., der auf den „Urzustand“ abhebt (S. 41), „um die Frage zu beantworten, wie die Idee der fairen Vereinbarung auf eine Vereinbarung über Prinzipien der politischen Gerechtigkeit für die Grundstruktur übertragen werden kann. Dieser Zustand wird als eine Situation entworfen, in der die Parteien als frei und gleich sowie als ausreichend informiert und rational behandelt werden. Somit ist jede von den Parteien als Bürgervertreter getroffene Vereinbarung fair“. Benedikt XVI., Gott und die Vernunft. Aufruf zum Dialog der Kulturen, Augsburg 2007, S. 40. Ratzinger (Fn. 2), Die Bedeutung religiöser und sittlicher Werte in der pluralistischen Gesellschaft, S. 49, 50 (nachfolgend zitiert: „Pluralistische Gesellschaft“). Ratzinger (Fn. 2), Grundlagen, S. 28, 30. Ratzinger (Fn. 2), Pluralistische Gesellschaft, S. 49, 57. Ratzinger (Fn. 2), Pluralistische Gesellschaft, S. 49, 68. Ratzinger (Fn. 2), Pluralistische Gesellschaft, S. 49, 51 – Hervorhebung im Original.
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Darin liegt eine klare und deutliche Absage an den Relativismus28, der für Papst Benedikt allerdings gleichzeitig die „Voraussetzung der Demokratie“ ist29. An anderer Stelle umschreibt der Papst diesen Befund mit anderen Worten: „Der moderne Begriff von Demokratie scheint mit dem Relativismus unlöslich verbunden zu sein; der Relativismus aber erscheint als die eigentliche Garantie der Freiheit, gerade auch ihrer wesentlichen Mitte – der Religions- und Gewissensfreiheit“30. Gegenläufig fordert der Papst aber auch und gerade in diesem Kontext, dass es auch in einer wertneutralen Demokratie einen „nicht relativistischen Kern“31 geben müsse. Diesen sieht Papst Benedikt in einem „Grundbestand an Wahrheit, nämlich an sittlicher Wahrheit“, der „gerade für die Demokratie unverzichtbar zu sein scheint“32. Denn es geht für den Papst entscheidend darum, neben der Wahrheitsfrage auch die zentrale Frage nach dem Guten zu stellen und aus dem Glauben heraus zu beantworten, wissend, dass die entscheidende Aufgabe darin besteht, „diejenigen moralischen Werte in Geltung“ zu halten, „die von keiner Mehrheitsüberzeugung getragen werden“33. Davon wird noch zu sprechen sein. Demgegenüber – und das ist der zweite wesentliche Aspekt –: Die sich aus einem wertneutralen Relativismus ergebenden Gefährdungen des Menschen sind für den Papst – abgesehen von der evidenten Gefahr der Atombombe – vor allem im Bereich der Reproduktionsmedizin und der Gentechnologie zu sehen34: „Der Mensch ist nun imstande,“ so sagt er, „Menschen zu machen, sie sozusagen im Reagenzglas zu produzieren. Der Mensch wird zum Produkt und damit verändert sich das Verhältnis des Menschen zu sich selbst von Grund auf“35. Denn „er ist nicht mehr ein Geschenk der Natur oder des Schöpfergottes; er ist sein eigenes Produkt“36. Und an anderer Stelle: „Nicht hinter der Forschung zurückzubleiben, wird zu einem unentrinnbaren Zwang, der seine Richtung selbst bestimmt“37. Aber Papst Benedikt weist noch tiefer. Er analysiert unter ausdrücklicher Bezugnahme auf die Reine Rechtslehre Hans Kelsens 38, dass der allenthalben anzutreffende Relativismus im Kern auch die Wahrheitsfrage 39 – und für Kelsen
28 Kritisch zu diesem Ansatz Becker/Diewald, Relativismus, Postmoderne und Wahrheitsanspruch, in Stimmen der Zeit Nr. 10/2009, S. 673 ff. 29 Ratzinger (Fn. 2), Pluralistische Gesellschaft, S. 49. 30 Ratzinger (Fn. 2), Pluralistische Gesellschaft, S. 49, 51. 31 Ratzinger (Fn. 2), ebenda. 32 Ratzinger (Fn. 2), ebenda. 33 Ratzinger (Fn. 2), Moralische Prinzipien in demokratischen Gesellschaften, S. 41, 45. 34 Zum weit verzweigten Problem der Stammzellenforschung höchst kompetent und instruktiv Hilpert (Hrsg.), Forschung contra Lebensschutz?, Freiburg 2009, Band 233 der „Quaestiones Disputatae“. 35 Ratzinger (Fn. 2), Grundlagen, S. 28, 33. 36 Ratzinger (Fn. 2), ebenda. 37 Ratzinger (Fn. 2), Gemeinsame Identität und gemeinsames Wollen, Chancen und Gefahren für Europa, S. 89, 95 (nachfolgend zitiert: „Gemeinsame Identität“). 38 Kelsen, Reine Rechtslehre, hrsg. von Jestaedt, Tübingen 2008. Diesen Gedanken des Papstes in der UN-Rede aufgreifend (nachfolgend „UN-Rede“) und auf die letztlich entscheidende Gerechtigkeitsfrage weiter führend di Fabio (Fn. 17), S. 59, 63. 39 Ratzinger (Fn. 2), Pluralistische Gesellschaft, S. 28 – „Was ist Wahrheit?“
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auch die Gerechtigkeitsfrage40 – durch den demokratischen Mehrheitsentscheid und die auf ihm aufruhende Staats- und Gesellschaftsordnung verdrängt hat41. Übertragen auf das weite Feld der Naturwissenschaften bedeutet dies: „Wo bloß noch das experimentell Verifi zierbare anerkannt wird, bleibt für die Wahrheiten, die über das rein Materielle hinausgehen, lediglich das Funktionieren, das heißt das Spiel von Mehrheit und Minderheit, als Maßstab übrig, das aber … in seiner Isolierung notwendig zum Zynismus und zur Auflösung des Menschen wird“42. Denn: „In einer evolutionär gedachten Welt ist auch von selbst einsichtig, dass es absolute Werte, das immer Schlechte und das immer Gute nicht geben kann, sondern die Güterabwägung den einzigen Weg moralischer Normfi ndung darstellt“43. Anders gesagt: „Das Falsifi zierbare gilt als vernünftig; die Vernunft reduziert sich auf das im Experiment Überprüfbare“44. Doch Papst Benedikt geht schließlich noch einen entscheidenden Schritt weiter: „Dieser Relativismus, der heute als Grundgefühl des aufgeklärten Menschen bis weit in die Theologie hineinreicht, ist das tiefste Problem unserer Zeit“45. Und pointiert an anderer Stelle: „Der Begriff Wahrheit ist praktisch aufgegeben und durch den des Fortschritts ersetzt worden“46. Denn – so die Bilanz – diese Geisteshaltung ist allenthalben in Gesellschaft und Staat, wo immer man hinsieht, virulent: „Der ganze Bereich des Moralischen und Religiösen gehört dann dem Raum des ‚Subjektiven‘ zu – er fällt aus der gemeinsamen Vernunft heraus. Religion und Moral gehören dann nicht mehr der Vernunft an; es gibt keine ‚objektiven‘, gemeinsamen Maßstäbe des Moralischen mehr“47. Der hier beleuchtete zweite Aspekt bezieht sich indessen auch auf die einzufordernde Antwort, wie denn unter den Bedingungen eines solchen Relativismus der Grundbestand an freiheitssichernden Menschenrechten überhaupt noch zu
40 Kelsen (Fn. 38), Reine Rechtslehre, S. 26: „In ihrem eigentlichen, von dem des Rechts verschiedenen Sinne bedeutet ‚Gerechtigkeit‘ aber einen absoluten Wert. Sein Inhalt kann durch die Reine Rechtslehre nicht bestimmt werden. Ja, er ist – das beweist die Geschichte des menschlichen Geistes, der sich seit Jahrtausenden vergeblich um die Lösung dieses Problems bemüht – überhaupt nicht durch rationale Erkenntnis erreichbar. Denn die Gerechtigkeit, die als eine vom positiven Recht verschiedene, ihm gegenüber höhere Ordnung vorgestellt werden muss, liegt in ihrer absoluten Geltung ebenso jenseits aller Erfahrung wie die platonische Idee jenseits der Wirklichkeit.“ Und an anderer Stelle beleuchtet Kelsen die „anti-ideologische Tendenz der Reinen Rechtslehre“: „Sie (die Reine Rechtslehre) will das Recht darstellen, so wie es ist, ohne es als gerecht zu legitimieren oder als ungerecht zu disqualifi zieren; sie fragt nach dem wirklichen und möglichen, nicht nach dem richtigen Recht“, S. 29. Und wiederum noch krasser: „Gerechtigkeit ist ein irrationales Ideal“ (S. 28). Freilich ist hinzuzusetzen, dass Kelsen sich auch mit der Frage der Gerechtigkeit in einer weiteren Schrift auseinandergesetzt hat, Gerechtigkeit, Stuttgart, 2004. Darauf soll aber hier nur hingewiesen werden. 41 Ratzinger, Glaube, Wahrheit, Toleranz, Freiburg 2005, S. 60. 42 Ratzinger (Fn. 2), Pluralistische Gesellschaft, S. 49, 61. 43 Ratzinger (Fn. 2), Gemeinsame Identität, S. 89, 95. 44 Ratzinger (Fn. 2), Auf der Suche nach dem Frieden – Spannungen und Gefahren (nachfolgend zitiert: „Suche“), S. 123, 132. 45 Ratzinger (Fn. 41), Glaube, Wahrheit, Toleranz, S. 60. 46 Ratzinger (Fn. 2), Wenn du den Frieden willst – Gewissen und Wahrheit (nachfolgend zitiert: „Frieden“), S. 100, 112. 47 Ratzinger (Fn. 2), Suche, S. 123, 132.
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begründen ist. Ausgangspunkt ist hier die an das zuvor Gesagte anknüpfende, unvermeidbare Feststellung, dass die „Universalisierung der europäischen Kultur“48 sich angesichts der beleuchteten moralisch-religiösen Defi zite in einer schweren Krise befi ndet – ein Gedanke, der hier nicht weiter vertieft werden soll49. Daher geht der Papst – wie selbstverständlich – von der „faktischen Nichtuniversalität der beiden großen Kulturen des Westens, der Kultur des christlichen Glaubens wie derjenigen der säkularen Rationalität“50 aus. Das darin manifeste Defi zit für eine nachvollziehbare, weltweit anzuerkennende Begründung der Menschenrechte kann deshalb nur durch eine „Hörbereitschaft gegenüber den großen religiösen Überlieferungen der Menschheit“ überwunden werden51. Auf der einen Seite gilt es nämlich, den „Pathologien“ der Vernunft – Stichworte: „Atombombe, der Mensch als Produkt“ – Einhalt zu gebieten52. Auf der anderen Seite kommt es entscheidend – unter Einschluss aller an diesem Dialog zu beteiligenden Kulturen als „polyphone Korrelation“53 – auf eine „notwendige Korrelationalität von Vernunft, und Glaube, Vernunft und Religion“ an. Denn in den Augen von Papst Benedikt sind diese vier Werte „zur gegenseitigen Reinigung und Heilung berufen“. Denn es sind Werte, „die sich gegenseitig brauchen und das gegenseitig anerkennen müssen“54. Im Mittelpunkt steht für den Papst hier die Antwort auf die noch ungelöste Frage, „wie die sich begegnenden Kulturen“ im Blick auf die „rechtliche und sittliche Kontrolle der Macht“ – und damit für die Sicherung der Menschenrechte „ethische Grundlagen fi nden können“55. Während in der Aufklärung, so sagt Papst Benedikt an einer anderen Stelle, „nach Moralbegründungen gesucht wurde, die auch dann noch gelten, etsi Deus non daretur, so müssen wir heute unsere agnostischen Freunde einladen, sich einer Moral zu öffnen, si Deus daretur“56. Denn eine „Vernunft, die sich völlig von Gott löst und ihn bloß noch im Bereich des Subjektiven ansiedeln will, wird orientierungslos und öffnet so ihrerseits den Kräften der Zerstörung die Tür“57. Es geht daher darum, dass die Christen der „Verengung auf die Vernunft des Machens“ entgegentreten. Gleichzeitig sind sie aufgefordert, um „die Wahrnehmungsfähigkeit für das Gute und für den Guten, für das Heilige und den Heiligen zu kämpfen“58. Bezogen auf die Verantwortung der Staaten kann man hier das „Prinzip der Schutzverantwortung“ einfordern, das „als das Fundament jeder Handlung“ zu 48 Ratzinger (Fn. 2), Europas Identität (Fn. 19), S. 68, 77. 49 „Mit dem Sieg der posteuropäischen technisch-säkularen Welt, mit der Universalisierung ihres Lebensmusters verbindet sich weltweit, besonders aber in den streng nicht-europäischen Welten Asiens und Afrikas der Eindruck, dass die Wertewelt Europa, seine Kultur und sein Glaube, worauf seine Identität beruhten, am Ende und eigentlich schon abgetreten sei“, Ratzinger (Fn. 2), Europas Identität (Fn. 19), S. 68, 78. 50 Ratzinger (Fn. 2), Grundlagen, S. 28, 37. 51 Ratzinger (Fn. 2), Grundlagen, S. 28, 39. 52 Ratzinger (Fn. 2), ebenda. 53 Ratzinger (Fn. 2), Grundlagen, S. 28, 40. 54 Ratzinger (Fn. 2), Grundlagen, S. 28, 39. 55 Ratzinger (Fn. 2), Grundlagen, S. 28. 56 Ratzinger (Fn. 2), Suche, S. 119, 133. 57 Ratzinger (Fn. 2), ebenda. 58 Ratzinger (Fn. 2), ebenda.
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verankern ist, „die von den Regierenden gegenüber den Regierten vorgenommen wird“, wie Papst Benedikt XVI. vor der UN erklärte59.
II. Versuch einer ersten Ausfaltung dieser Gedanken 1. Grundgedanken des II. Vaticanum Versucht man diese komplexen Gedankengänge ein wenig auseinanderzufalten, so stellt sich die erste Frage, ob und inwieweit denn dieser auf die Menschenrechte als zentrale Ausprägung des Naturrechts zielende, vorpolitisch-moralische Ansatz von Papst Benedikt auf den Lehren des II. Vatikanischen Konzils beruht. Anknüpfungspunkt für diesen Gedankengang sind die beiden klassischen Konstitutionen, die sich mit dem Verhältnis von katholischer Kirche und „Welt“ befassen, nämlich zum einen das Dekret über „Kirche und Welt“ (Gaudium et Spes)60 sowie zum anderen die nicht minder wichtige Konstitution über die „Religionsfreiheit“ (Dignitatis Humanae)61. a) Gaudium et Spes Es sind unter Berücksichtigung des zuvor Gesagten vor allem zwei Gesichtspunkte, die in der Konstitution „Gaudium et Spes“ ins Auge stechen und daher im Blick auf eine (mögliche) Neuausrichtung des Naturrechtsverständnisses der katholischen Kirche maßgebend sein dürften: Der erste ist die unbedingte Betonung der Gewissensfreiheit der einzelnen Person, die ins Zentrum einer personalistischen Ethik gerückt wird62. In Nr. 16 dieses Konzilsdokuments ist zu lesen: „Das Gewissen ist die verborgenste Mitte und das Heiligtum im Menschen, wo er allein ist mit Gott, dessen Stimme in diesem seinem Innerste zu hören ist“63. Sicherlich, dieser Grundsatz ist nicht neu; schon bei Thomas von Aquin ist dies nachzulesen64. Aber dieser dem Naturrecht zuzuweisende Subjektgedanke erfährt auf einer weiteren Ebene seine Durchschlagskraft. Denn der gesamte Text von „Gaudium und Spes“ befasst sich mit dem vielschichtigen Verhältnis des Christen zu einer säkularisierten Welt65. Diese aber ist eine 59 Benedikt XVI. (Fn. 17), UN-Rede, Freiburg 2008, S. 8, 17. 60 Rahner/Vorgrimmler, Kleines Konzilskompendium, 2. Aufl., Freiburg 1966, S. 449 ff., die nachfolgenden Zitate stützen sich auf diese Ausgabe der Konzilsdokumente. 61 Rahner/Vorgrimmler (Fn. 60), S. 655 ff. 62 Uertz, Vom Gottesrecht zum Menschenrecht, Paderborn 2005, S. 471. Die damit einhergehenden Gefahren umschreibt Papst Benedikt XVI. wie folgt: „Das Gewissen wird zum Entschuldigungsmechanismus degradiert, während es doch die Transparenz des Subjekts für das Göttliche und so die eigentliche Würde und Größe des Menschen darstellt. Die Reduktion des Gewissens auf subjektive Gewissheit bedeutet zugleich den Entzug der Wahrheit“, Ratzinger (Fn. 2), Frieden, S. 100, 108. 63 Rahner/Vorgrimmler (Fn. 60), S. 462. Das Zitat geht weiter: „Im Gewissen erkennt man in wunderbarer Weise jenes Gesetz, das in der Liebe zu Gott und dem Nächsten seine Erfüllung hat.“ 64 Vgl. Kasper (Hrsg.), Lexikon für Theologie und Kirche, 3. Aufl. Freiburg 2009, Bd. 4 – Gewissen (Hilpert) – S. 622, 623. 65 So heißt es etwa in Nr. 36: „Wenn wir unter Autonomie der irdischen Wirklichkeiten verstehen, dass die geschaffenen Dinge und auch die Gesellschaften ihre eigenen Gesetze und Werte haben, die der Mensch schrittweise erkennen, gebrauchen und
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durch und durch pluralistische Gesellschaft, die in dieser modernen Welt dem Staat das Gepräge gibt und ihn zu einer strikten Neutralität in allen Fragen von Glaube, Religion und Weltanschauung verpfl ichtet. Die dadurch entstehende relative Autonomie der einzelnen Bereiche von Kultur, Wirtschaft und Politik wird nachhaltig von den Konzilsvätern in den Blick genommen. Dabei erlangt ihre Feststellung zentrale Bedeutung, dass eben auch die Christen in all diesen (weltlichen) Fragen legitimierweise – außerhalb des Wahrheitsanspruchs der Kirche und auch außerhalb ihres Lehramtes – unterschiedliche Auffassungen vertreten können66. Folgerichtig werden die „politischen Gemeinschaften“ und „die Kirche“ als „auf je ihrem Gebiet voneinander unabhängig und autonom“ eingestuft67. Der Christ ist danach sowohl verantwortungsvoll handelnder – und auch zu einem solchen Handeln verpfl ichteter Staatsbürger als auch treuer und gläubiger Sohn seiner Kirche. Fast noch ein wenig vorsichtiger formuliert freilich dann die Konstitution „Gaudium et Spes“ den engen Bezug zwischen menschlicher Würde und den Menschenrechten. Sie erklärt nämlich in Nr. 73: „Aus dem lebendigeren Bewusstsein der menschlichen Würde wächst ja in den verschiedenen Teilen der Welt das Bestreben, eine neue politisch-rechtliche Ordnung zu schaffen, in der die Rechte der menschlichen Person im öffentlichen Leben besser geschützt sind, etwa das Recht auf Versammlungs-, Vereinigungs- und Meinungsfreiheit und das Recht auf privates und öffentliches Bekenntnis der Religion“68. Das ist sicherlich wesentlich weniger konkret als das, was Papst Benedikt zu diesem Komplex gesagt hat. Doch der Grundakkord ist auch hier zu fi nden: Das Naturrecht als Grundlage der Menschenrechte und damit – davon wird noch die Rede sein müssen – der Beitrag der Religion als notwendige und unersetzbare Substanz dieser Fundamentalrechte des Menschen. b) Dignitatis Humanae Genau an dieser Stelle, an der die Freiheit des Bürgers in den Blick genommen wird, liegt aber auch die „Eingrenzung des Themas“, die Rahner/Vorgrimmler bei der Auslegung der Konstitution über die „Religionsfreiheit“ feststellen69. Es ist der kirchenamtliche Abschied von der These, dass der „Irrtum keinerlei Recht“ hat, sondern dass eben dieses Recht als Recht auf Äußerung und Verbreitung nur der „Wahrheit“ zusteht. Dieses unveräußerliche, jedermann zustehende Recht ist auf der Ebene von Politik und Staat – im Interesse der Würde der menschlichen Person – neu als Ausfluss dieses Würdeanspruchs entdeckt
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gestalten muss, dann ist er berechtigt, durchaus diese Autonomie zu fordern“, um im folgenden Text dann auch zu „bedauern“, dass wegen des „unzulänglichen Verständnisses für die legitime Autonomie der Wissenschaft“ „gewisse Geisteshaltungen“ entstanden sind, die von einem „Widerspruch zwischen Glauben und Wissenschaft“ getragen sind, Rahner/Vorgrimmler (Fn. 60), 482. Vgl. auch Nr. 53 ff. betreffend die Kultur, Nr. 63 ff. betreffend das Wirtschaftsleben, Nr. 73 ff. das „Leben der politischen Gemeinschaften“. Rahner/Vorgrimmler (Fn. 60), ebenda. Rahner/Vorgrimmler (Fn. 60), Nr. 76 – S. 534. Rahner/Vorgrimmler (Fn. 60), Nr. 73 – S. 529. Rahner/Vorgrimmler (Fn. 60), S. 656.
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und mit Nachdruck von den Vätern auf dem Konzil beschworen worden70: Das Recht des Irrtums steht auf dieser Ebene, wie ungefragt hinzuzusetzen ist, gleichberechtigt neben dem Recht der Wahrheit. Zugrunde liegt die in dieser Konstitution erstmals angesprochene, aber radikal zu Ende gedachte Lehre von der Religions- und Gewissensfreiheit, die ein fundamentales Grundrecht eines jeden Menschen ist. Sie ist das Ergebnis der ihm innewohnenden, von Gott gegebenen Würde, die die Willensfreiheit einschließt71. Damit ist gleichzeitig der Grundsatz angesprochen, dass keiner eine andere Person hindern darf, nach ihrer sittlichen Überzeugung zu handeln; genauso wenig darf jemand einen anderen dazu zwingen, gegen seine Überzeugung zu handeln, weil er ja nach eben dieser Überzeugung sein je persönliches Heil anstrebt. In dieser Aussage hebt das II. Vaticanum das Recht auf Religionsfreiheit in den Rang eines „bürgerlichen Rechts“72. Auf dieser Ebene ist jedenfalls die Wahrheitsfrage nicht mehr angesiedelt73. Denn das Konzil sagt eindeutig, dass die von Christus offenbarte Wahrheit zwar den „Menschen im Gewissen verpfl ichtet“, aber „Gott nimmt Rücksicht auf die Würde der von ihm geschaffenen menschlichen Person, die nach eigener Entscheidung in Freiheit leben soll. Diese aber ist vollendet in Christus Jesus erschienen, in dem Gott sich selbst und seine Wege vollkommen kundgetan hat“74. Das alles ist wesentlich mehr als eine Konzession an bürgerlich-aufgeklärtes Freiheitsdenken. 2. Zwischensumme Damit ist eine erste Summe ziehend festzuhalten, dass die zuvor im Einzelnen dargestellten Gedanken des Papstes – dies ist unschwer zu erkennen – nicht nur auf den Aussagen des II. Vaticanum beruhen75, sondern sie wesentlich weiter fortentwickeln. Denn wenn es darum geht, dass der „Staat das für ihn unerlässliche Maß an Erkenntnis und Wahrheit über das Gute von außerhalb seiner selbst nehmen muss“76, dann folgt daraus für die Christen – neben dem Dialog mit den Andersdenken – auch im Blick auf die Menschenrechte anzu70 „Diese (religiöse) Freiheit besteht darin, dass alle Menschen frei sein müssen von jedem Zwang sowohl von Seiten Einzelner wie gesellschaftlicher Gruppen, wie jeglicher menschlicher Gewalt, so dass in religiösen Dingen niemand gezwungen wird, gegen sein Gewissen zu handeln, noch daran gehindert wird, privat und öffentlich, als einzelner oder in Verbindung mit anderen – innerhalb der gebührenden Grenzen – nach seinem Gewissen zu handeln“, vgl. Rahner/Vorgrimmler (Fn. 60), Nr. 2 – S. 662. 71 Dieses Zitat geht dann weiter: „Ferner erklärt das Konzil, das Recht auf religiöse Freiheit sei in Wahrheit auf der Würde der menschlichen Person selbst gegründet, so wie sie durch das geoffenbarte Wort Gottes und damit die Vernunft selbst erkannt wird“, vgl. Rahner/Vorgrimmler (Fn. 60), Nr. 2 – S. 662. 72 Rahner/Vorgrimmler (Fn. 60), S. 663. 73 Hierzu Ratzinger, Glaube, Wahrheit, Toleranz, 3. Aufl. Freiburg 2004, S. 131 ff.; Ratzinger (Fn. 2), Was ist Wahrheit, S. 49 ff. 74 Rahner/Vorgrimmler (Fn. 60), Nr. 11 – S. 670. 75 Dies stellt u. a. Müller, Stimmen der Zeit Nr. 5/2009 – „Die Vernunft, die Moderne und der Papst“ nachhaltig in Frage, S. 291, 292 ff. auch mit deutlicher Kritik am Inhalt der noch zu behandelnden Regensburger Rede des Papstes, S. 293 ff. 76 Ratzinger (Fn. 2), Pluralistische Gesellschaft, S. 49, 63.
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erkennen und dafür zu werben: „Der Glaube an den Gott-Logos ist zugleich Glaube an die schöpferische Kraft der Vernunft; er ist Glaube an den Schöpfergott und daran, dass der Mensch nach Gottes Ebenbild geschaffen ist und daher an der unantastbaren Würde Gottes selbst teilhat“77. Das führt dann zu der zwingenden Schlussfolgerung: „Die Idee der Menschenrechte hat darin ihren tiefsten Grund“78. Ausgehend von diesem Ansatz sollen im Folgenden die UN-Rede des Papstes79, die Regensburger Vorlesung80 und seine Sozialenzyklika81 unter dem Gesichtswinkel analysiert werden, wie denn Papst Benedikt XVI. die unerbittlich in den Vordergrund gestellte Verteidigung der Menschenrechte im Kontext des zuvor Gesagten noch weiter und auch tiefer gehend begründet.
III. UN-Rede 1. Menschenrechte Im Kontext der damit angeschnittenen Fragen sind in erster Linie zwei Aspekte von Bedeutung. Hervorzuheben ist als erstes, dass Papst Benedikt den Gedanken der „Schutzverantwortung“82 der Vereinten Nationen und damit aller Mitgliedsstaaten betont. Danach hat „jeder Staat die vorrangige Pfl icht, seine Bevölkerung vor schweren und wiederholten Verletzungen der Menschenrechte zu schützen, wie auch vor den Folgen humanitärer Krisen, die sowohl von der Natur wie vom Menschen verursacht werden“. Diesen Ansatz hat der damalige Staatsekretär im Auswärtigen Amt Gernot Erler in seiner Kommentierung der UN-Rede des Papstes weiter ausgefaltet83 und an zahlreichen Beispielsfällen der neueren Geschichte die hochrangige Bedeutung dieser „Schutzverantwortung“ der Staaten demonstriert. Seine wesentliche Schlussfolgerung: Der Papst hat sich mit der Herausarbeitung dieses Konzepts auf die Seite derer geschlagen, „die im Nichteingreifen und in der „Gleichgültigkeit“ gegenüber schwersten Menschenrechtsverletzungen das größere Übel sehen als in einer Begrenzung der Souveränitätsrechte“84. Erkennbar sind der Krieg in Darfur und der Völkermord in Ruanda beredte Beispiele für das Gemeinte. Doch die von Papst Benedikt in die Pfl icht genommene „Schutzverantwortung“ basiert auf den Menschenrechten, die „ihre Grundlage im Naturrecht“ haben, „das in das Herz der Menschen eingeschrieben und in den verschiedenen Kulturen und Zivilisationen gegenwärtig ist“85.
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Ratzinger (Fn. 2). Suche, S. 123, 134. Ratzinger (Fn. 2), ebenda. Benedikt XVI., UN-Rede, Freiburg 2008. Benedikt XVI., Glaube und Vernunft, Freiburg 2006; hierzu auch Wenzel (Hrsg.), Die Religion und die Vernunft, Freiburg 2007. Benedikt XVI., Die Liebe in Wahrheit, Freiburg 2009. Benedikt XVI. (Fn. 17), UN-Rede, S. 15, 17. Erler in Benedikt XVI. (Fn. 17), UN-Rede, S. 43 ff. Erler in Benedikt XVI. (Fn. 17), UN-Rede, S. 48. Benedikt XVI. (Fn. 17), UN-Rede, S. 21.
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2. Schöpfergott Zwangsläufig folgen aus diesem Ansatz des Papstes zwei Gedanken, die jetzt erneut aufzugreifen sind, zum einen das klare Bekenntnis zum Schöpfergott, zum anderen die Notwendigkeit des Dialogs. Papst Benedikt lässt keinen Zweifel daran, wo das Fundament der für die Achtung der Menschenrechte eingeforderte „Schutzverantwortung“ liegt: „Ein solches Prinzip muss die Idee der Person als Abbild des Schöpfers sowie die Sehnsucht nach dem Absoluten und das Wesen der Freiheit in Erscheinung treten lassen“86. Denn, so erklärt er an einer anderen Stelle: „Wenn sie (die Rechte) bloß in Begriffen der Gesetzlichkeit dargestellt werden, laufen Rechte Gefahr, zu schwachen Aussagen zu werden, die von der ethischen und rationalen Dimension losgelöst sind, die ihr Fundament und Ziel ist“87. Wie di Fabio dargelegt hat, lässt diese Sentenz des Papstes (aber natürlich auch noch andere Aussagen) erkennen, dass der „Papst erklärtermaßen einen Beitrag dazu leisten will, die Menschenrechte zu stärken, indem er ihre außerrechtlichen Fundamente und ihre daraus folgende Idee sichtbar macht“88. Di Fabio knüpft daran die nicht zu leugnende Forderung: „Menschenrechte und internationale Rechtsbeziehungen, die sich stetig im politischen Prozess entwickeln, brauchen eine die Richtung weisende Idee, bedürfen sittlicher Werte und außerpolitischer Korrektive“89. Diese sind für Papst Benedikt XVI. in der Religion verankert, die ihrerseits – davon wird noch die Rede sein – mit der christlichen Religion korreliert. 3. Dialog Es geht dem Papst im weiteren Verlauf seiner UN-Rede auch darum, dass die zu achtenden Menschenrechte nicht nur die Grundsätze der Religionsfreiheit anerkennen müssen, sondern dass die „religiöse Dimension und die Suche nach dem Absoluten“90 in der Gesellschaft gefördert wird91. Von daher sollte der „Dialog als das Mittel erkannt werden, durch das die verschiedenen Teile der Gesellschaft ihre Sichtweise artikulieren können und durch die sie in einen Konsens um die einzelnen Werte und Ziele betreffende Wahrheiten aufbauen können“92. Denn „es gehört zur Natur der frei praktizierten Religionen, dass sie selbständig einen Dialog der Gedanken und des Lebens führen“93. Es ist also
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Benedikt XVI. (Fn. 17), UN-Rede, S. 19. Benedikt XVI. (Fn. 17), UN-Rede, S. 25. Di Fabio in Benedikt XVI. (Fn. 17), UN-Rede, S. 59, 64. Di Fabio in Benedikt XVI. (Fn. 17), UN-Rede, S. 59, 66 f. Benedikt XVI. (Fn. 17), UN-Rede, S. 33. Zu diesem Ansatz Gellner in Stimmen der Zeit Nr. 9/2008, S. 603 ff. „Christsein inmitten der Weltreligionen“, der das „Lernziel Pluralitätsfähigkeit“ einfordert (S. 603 f.) und den Gedanken der „Ebenbürtigkeit“ in den Mittelpunkt stellt (S. 605). Denn „Gott ist entweder der Gott aller Menschen, oder er ist nicht Gott. Christen werden sich grundsätzlich dafür offen halten müssen, dass ihnen etwas von Gottes Wort und Geist auch im Zeugnis und in der Begegnung mit Menschen anderer Religionen entgegenkommen kann“ (ebenda). 92 Benedikt XVI. (Fn. 17), UN-Rede, S. 29. 93 Benedikt XVI. (Fn. 17), ebenda.
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dem Dialog der Religionen aufgegeben, das sittlich-ethische Fundament für die weltweite Anerkennung der Menschenrechte zu schaffen. Doch macht der Religionswissenschaftler Khoury mit guten Gründen darauf aufmerksam, dass der interreligiöse Dialog nicht als eine „Art Hilfsaggregat der Politik“ missverstanden werden darf94. Vielmehr ist es geboten zu erkennen, dass ein solcher Dialog nur dann „friedensförderlich“ ist, wenn die jeweilige Begegnung „die Mitte der Religionen und die der Religion insgesamt eigenen Grundfragen berührt“95. Das ist gewiss ein sehr hohes, ein ganz und gar wichtiges Ziel. Es liegt um einiges höher als das von Jürgen Habermas in diesem Kontext ins Bild gesetzte „Bewusstsein, von dem was fehlt“, weil es hier um eine „in Überzeugungen verwurzelte Legitimation“ zugunsten des demokratischen Rechtsstaats ankommt96. Denn um dies zu erreichen, muss sich der Staat auf „Gründe stützen, die in einer pluralistischen Gesellschaft von gläubigen, andersgläubigen und nichtgläubigen Bürgern gleichermaßen akzeptiert werden können“97. Dabei geht es auch und nicht zuletzt um die Begegnung der nachmetaphysischen Vernunft mit der Religion. Doch ist gerade in diesem Kontext zu bedenken, dass „Bewährung und Bewahrheitung“ des Glaubens „nur im Vollzug des eigenen Lebens“ zu fi nden sind98. Gerade deshalb wird man freilich gut daran tun, insoweit einer zu eng verstandenen Dialogbereitschaft entgegenzuwirken, als Religion für den demokratischen Staat nur als „Sinnstiftungsressource“99 oder auch – fast noch fataler – als Instrument der Kontingenzbewältigung für den Bürger verstanden wird. Denn Religion ebnet dem Einzelnen seinen jeweils als wahr angesehenen Heilsweg. Daher verkürzt die eine wie die andere Sicht den der Religion stets zugrunde liegenden Wahrheitsanspruch, der in einer pluralistisch geordneten Gesellschaft freilich kein „Allgemeinheitsanspruch“ mehr ist100. Gerade hier aber kommen die Vorzüge einer „kommunikativen Vernunft“101 im Dialog mit dem Glaubenden zum Vorschein.
IV. Zwischensumme Die Universalität der Menschenrechte erweist sich in der Sicht des Papstes nicht nur als eine fundamentale Rechtsordnung, sondern als eine für den Menschen bestimmte Ordnung, die naturgemäß in verschiedene Kulturräume gegliedert ist und von daher nur als kulturell vielfältige, auf einen Dialog angewiesene Welt begriffen werden kann. Doch die Validität der Menschenrechte – verstanden als Rechte, die dem Menschen kraft seiner Zugehörigkeit zur Spezies Mensch zuzuerkennen sind – ist nicht nur der Gesetzlichkeit verpfl ichtet – 94 Khoury in Benedikt XVI. (Fn. 17), S. 77, 104. 95 Khoury in Benedikt XVI., ebenda. 96 Habermas, Ein Bewusstsein von dem, was fehlt, in Reder/Schmidt, Ein Bewusstsein von dem, was fehlt, Frankfurt 2008, S. 26, 32. 97 Habermas (Fn. 96), S. 33. 98 Hierzu Schmidt, Ein Dialog, in dem es nur Gewinner geben kann, in Reder/Schmidt (Fn. 96), S. 79, 93. 99 Reder/Schmidt (Fn. 96), S. 22. 100 Habermas, Replik in Reder/Schmidt (Fn. 96), S. 94, 102. 101 Schmidt (Fn. 98), S. 79, 93.
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sozusagen der Erklärung der Menschenrechte durch die Vereinten Nationen als reiner Rechtsakt –, sondern sie bedarf, um diesen Gedanken erneut zu untermauern, der Verankerung in religiösen und damit transzendenten Werten der Kulturen. Über ihre die „einzelnen Werte und Ziele betreffende Wahrheit“102 ist also ein Dialog zwischen den Kulturen zu führen, so dass im Sinn der Grundthese von Hans Küng gesprochen ein „Weltethos“ hergestellt werden muss103. Denn die Frage ist ja aufgeworfen, „wie denn die sich begegnenden Kulturen ethische Grundlagen fi nden können, die ihr Miteinander auf den rechten Weg führen und eine gemeinsame rechtlich verantwortete Gestalt der Bändigung und Ordnung der Macht aufbauen können“104. Wie di Fabio hierzu mit überzeugender Argumentation bemerkt hat, geht es im Rahmen des anzustellenden Dialogs in der Gesellschaft und zwischen den Völkern darum, „die außerrechtliche Substanz allen Rechts, gespeichert in den verschiedenen Kulturen und Religionen“ nicht zu vergessen, sondern in den Blick zu nehmen, um den – gemeinsamen – Versuch zu unternehmen, dem sonst drohenden Relativismus des Rechts zu wehren105. Es geht folglich um „ethische Diskurse“ und vor allem auch darum, die „Normativität eines lebensweltlichen Gerechtigkeitssinnes“ zu beleben106, der jeweils in die öffentliche Meinung einfl ießen muss, die Menschenrechte tragend und prägend, die ihrerseits aber auch dem Völkerrecht vorausgehen, das seinerseits wiederum auf eine „politisch unverfügbare Dimension“107 angewiesen ist. Denn nur so ist und bleibt es auch ein der Vernunft verpfl ichtetes Recht.
V. Regensburger Rede 1. Vorbemerkung Man kann die Regensburger Rede des Papstes schwerlich verstehen und ihre Aussage vor mannigfachen Missverständnissen nicht bewahren, wenn man nicht die Trias in der Argumentation von Papst Benedikt XVI. zuvor näher beleuchtet, die mit den Begriffen Gott – Vernunft – Liebe umschrieben ist. Deutlich sieht und artikuliert der Papst nämlich die mannigfachen Gefahren und Gefährdungen, die sich aus einer falsch verstandenen Religion ergeben und sich in dem Phänomen des internationalen Terrorismus dokumentieren. Dieser wird ja – daran kann kein Zweifel bestehen – „durch religiösen Fanatismus gespeist“108. Und daran schließt der Papst die keineswegs nur rhetorisch zu verstehende Frage: „Ist dann Religion eine heilende und rettende, oder nicht eher eine archaische und gefährliche Macht, die falsche Universalismen aufbaut und dadurch zu Intoleranz und Terror verleitet“109?
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Benedikt XVI. (Fn. 17), S. 29. Ratzinger (Fn. 2), Grundlagen, S. 28. Ratzinger (Fn. 2), ebenda. Di Fabio in Benedikt XVI. (Fn. 17), UN-Rede, S. 59, 77. Di Fabio in Benedikt XVI. (Fn. 17), UN-Rede, S. 59, 76. Di Fabio in Benedikt XVI. (Fn. 17), UN-Rede, S. 59, 79. Ratzinger (Fn. 2), Grundlagen S. 29, 32. Ratzinger (Fn. 2), ebenda.
Anmerkungen zur naturrechtlichen Perspektive von Papst Benedikt XVI.
Leicht ist diese Frage kaum zu beantworten. Doch gegenläufig und fast im gleichen Atemzug stellt Papst Benedikt die gleiche radikale Frage an die Vernunft, indem er zum einen auf die Gefahren der Atombombe, zum anderen auf die Gefährdungen hinweist, die sich aus den nicht absehbaren Möglichkeiten der Gentechnologie ableiten lassen: „Der Mensch ist in die Brunnenstube der Macht hinuntergestiegen, an die Quellorte seiner eigenen Existenz. Die Versuchung, nun erst den rechten Menschen zu konstruieren, die Versuchung mit Menschen zu experimentieren, die Versuchung, Menschen als Müll anzusehen und zu beseitigen, ist kein Hirngespinst fortschrittsfeindlicher Moralisten“110. Denn all diese Neuerungen sind ja den Kräften der Vernunft zuzuschreiben. So haben also sowohl Religion als auch Vernunft ihre je eigenen Defi zite; sie bedürfen folglich „einer notwendigen Korrelationalität von Vernunft und Glaube, Vernunft und Religion“, „die zur gegenseitiger Reinigung und Heilung berufen sind und die sich gegenseitig brauchen und dies auch anerkennen müssen“111. 2. Gott – Logos – Analogie zum Geschöpf Eine der entscheidenden Aussagen in der Regensburger Rede zielt darauf ab, dass es bei der Bekehrung der Andersgläubigen – entgegen einem gegenwärtig weit verbreiteten fundamentalistischen Ansatz des Islam – nicht auf Gewalt ankommen darf112. Auf diesem Denkansatz beruht auch das vom Papst herangezogene, viel gescholtene113 Zitat des Kaisers Manuel II Palaeologos, der im Blick auf den Heiligen Krieg in einer Kontroverse mit einem persischen Gesprächspartner sagt: „Gott hat keinen Gefallen am Blut, und nicht vernunftgemäß – nicht syn logo – zu handeln, ist dem Wesen Gottes zuwider“114. Denn „Gewalt ist widersinnig“; „sie steht im Widerspruch zum Wesen Gottes“115. Und: „Nicht vernunftgemäß zu handeln ist dem Wesen Gottes zuwider“116. An dieser Stelle liegt der „Scheideweg“ im „Verständnis Gottes“ und in der „konkreten Verwirklichung von Religion“117. Anknüpfend an die von Papst Benedikt XVI. uneingeschränkt bejahte Inkulturation des hellenistischen Welt- und Menschenbildes in den christlichen Glauben118 kommt dann die analogia entis zu ihrem Recht, nämlich der Grundgedanke, dass „es zwischen Gott und uns, 110 Ratzinger (Fn. 2), Grundlagen, S. 29, 33. 111 Ratzinger (Fn. 2), Grundlagen, S. 29, 39. 112 Zu den Aspekten der Gewalt, wie sie auch das Christentum charakterisiert hat vgl. Maier, in Stimmen der Zeit Nr. 10/2008, S. 679 ff. mit sehr deutlicher Kritik an der „Mission“, die getragen war vom Gedanken des „compelle intrare“. 113 Kritisch hierzu Wenzel, Glaube und Vernunft. Stolz und List, in Wenzel (Hrsg.), Die Religion und die Vernunft, Freiburg 2007, S. 11, 13 ff.; vgl. auch Flach in Wenzel, a. a. O., Von Kirchenvätern und anderen Fundamentalisten, S. 41 ff.; demgegenüber aber auch Striet in Wenzel, a. a. O.; Benedikt XVI., Die Moderne und der Glaube, S. 85 ff.; vor allem aber auch Khoury in Benedikt XVI., Glaube und Vernunft (Fn. 114), S. 77 ff. Ist Gott ein absoluter, ungebundener Wille? Bemerkungen zum islamischen Voluntarismus. 114 Benedikt XVI., Glaube und Vernunft, Freiburg 2006, S. 12, 16. 115 Benedikt XVI. (Fn. 114), ebenda. 116 Benedikt XVI. (Fn. 114), S. 12, 17. 117 Benedikt XVI. (Fn. 114), ebenda. 118 Kritisch zu diesem Ansatz Habermas, Ein Bewusstsein von dem, was fehlt, in Reder/ Schmidt (Fn. 96), S. 26, 35.
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zwischen seinem ewigen Schöpfergeist und unserer geschaffenen Vernunft eine wirkliche Analogie gibt“119. „Vernunft und Glaube“ müssen wieder zueinander fi nden120, um der „Pathologien der Religion“121 Herr zu werden. Indessen legt Papst Benedikt XVI. dar, dass der Kanon der rein positivistisch, vor allem auch naturwissenschaftlich angelegten Wissenschaften zwar auf dem Gebrauch der Vernunft aufbauen, aber es gilt im gleichen Atemzug zu erkennen, dass diese „Methode als solche“, die des Messens, Wägens, Experimentierens und Falsifi zierens „die Gottesfrage ausschließt“122. Darin offenbart sich – so der Papst – eine höchst bedenkliche „Verkürzung des Radius von Wissenschaft und Vernunft“123, weil die für den Menschen entscheidenden Fragen „nach dem Woher und Wohin“ nicht mehr gestellt werden124. Die „Fragen der Religion und des Ethos“ fi nden daher auch zwangsläufig in einer so „verstandenen Wissenschaft“ – und dem mit ihr abschließend korrelierenden Begriff der positivistisch verfassten Vernunft – keinen Platz „und müssen ins Subjektive verlegt werden“125. „So aber verlieren Ethos und Religion ihre gemeinschaftsbildende Kraft und verfallen der Beliebigkeit“126. Darin offenbaren sich die „Pathologien … der Vernunft“127. 3. Erneut: Dialog der Kulturen Dann aber greift der Papst gleichsam in einer Schlussapotheose der Regensburger Rede den Grundgedanken des Dialogs wieder auf. „Eine Vernunft, die dem Göttlichen gegenüber taub ist und Religion in den Bereich des Subkulturellen abdrängt, ist unfähig zum Dialog der Kulturen“128. In den Kreis der den Dialog führenden Kulturen gehört die Theologie „nicht nur als historische und humanwissenschaftliche Disziplin, sondern als eigentliche Theologie, als Frage nach der Vernunft des Glaubens an die Universität und in ihren weiten Dialog mit der Wissenschaft hinein“129. Denn der christliche Glaube ist „eine Erkenntnisquelle, der sich zu verweigern eine unzulässige Verengung unseres Hörens und Antwortens“ ist130. In der Sache geht es also entscheidend um eine „Ausweitung des Vernunftbegriffs und -gebrauchs“ bei gleichzeitiger Beachtung des „Gehorsams gegenüber der Wahrheit“131 als eine der Grundbedingungen „In diese Weise der Vernunft“ – lädt der Papst zum „Dialog der Kulturen“ ein132.
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Benedikt XVI. (Fn. 114), S. 12, 21. Benedikt XVI. (Fn. 114), S. 12, 29. Benedikt XVI. (Fn. 114), S. 12, 27 f. Benedikt XVI. (Fn. 114), S. 12, 27. Benedikt XVI. (Fn. 114), ebenda. Benedikt XVI. (Fn. 114), ebenda. Benedikt XVI. (Fn. 114), ebenda. Benedikt XVI. (Fn. 114), ebenda. Benedikt XVI. (Fn. 114), S. 12, 27 f. Benedikt XVI. (Fn. 114), S. 12, 30. Benedikt XVI. (Fn. 114), ebenda. Benedikt XVI. (Fn. 114), S. 12, 31. Benedikt XVI. (Fn. 114), S. 12, 29. Benedikt XVI. (Fn. 114), S. 12, 32.
Anmerkungen zur naturrechtlichen Perspektive von Papst Benedikt XVI.
V. Sozialenzyklika „Caritas in Veritate“ 1. Grundgedanke der Liebe Während im Vorstehenden der Versuch unternommen wurde, die Korrelation zwischen Glaube und Vernunft in einigen Strichen nachzuzeichnen, soll jetzt der Schwerpunkt der hier zu referierenden Gedanken des Papstes auf die Liebe gelegt werden. Diesen Gedanken, den Papst Benedikt XVI. in vollen Zügen in seiner ersten Enzyklika „Deus caritas est“ entfaltet hatte, greift er gleich am Beginn seiner Sozialenzyklika auf133. Denn „Liebe ist der Hauptweg der Soziallehre der Kirche“134; „sie verleiht der persönlichen Beziehung zu Gott und zum Nächsten einen wahren Gehalt“135. Doch nicht minder deutlich betont der Papst erneut den Grundgedanken des Dialogs: „Da die Liebe voll Wahrheit ist, kann sie vom Menschen in ihrem Reichtum an Werten begriffen, zustimmend angenommen und vermittelt werden“136. Die Begründung ist ebenso einleuchtend wie einprägsam: „Denn die Wahrheit ist logos, der ‚dia-logos’ schafft und damit Austausch und Gemeinschaft bewirkt“137. Die Verbindung zu den vielfältigen Aspekten der Vernunft, die zuvor schon dargestellt worden sind, etabliert der Papst dann über den Gedanken: „Die Wahrheit öffnet den Verstand der Menschen und vereint ihre Intelligenz im Logos der Liebe“138. Doch es gilt ein doppelter Grundsatz: „Caritas ist geschenkte und empfangene Liebe“139. Als solche aber ist sie immer auch die Gebote der Gerechtigkeit achtend dem Gemeinwohl verpfl ichtet: „Jemanden lieben heißt sein Wohl im Auge behalten und sich wirkungsvoll dafür einsetzen. Neben dem individuellen Wohl gibt es eines, das an das Leben der Menschen in der Gesellschaft gebunden ist: das Gemeinwohl“140. Daraus resultiert die verpfl ichtende Forderung, sich für das Gemeinwohl zu verwenden; dies „ist ein Erfordernis von Gerechtigkeit und Liebe“141. 2. Nochmals: Dialog Aus der Fülle der sich aus diesem Grundansatz ergebenden Forderungen und Folgerungen kann und soll hier nicht weiter die Rede sein. Doch es sollen zwei Gesichtspunkte herausgegriffen werden, die von zentralem Belang sind und über den Tag hinaus bedeutsam sein dürften. Es ist zum einen der Beitrag, den der christliche Glaube zu einer gerechteren Gestaltung von Staat und Gesellschaft beitragen kann, zum anderen sind es Fragen der Ethik, die den Jubilar ja immer, wie bereits eingangs erwähnt, beschäftigt haben.
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Benedikt XVI., Deus caritas est, Freiburg 2007. Benedikt XVI., Die Liebe in der Wahrheit, Freiburg 2009, S. 11. Benedikt XVI. (Fn. 134), S. 11. Benedikt XVI. (Fn. 134), S. 14. Benedikt XVI., ebenda. Benedikt XVI., ebenda. Benedikt XVI. (Fn. 134), S. 15. Benedikt XVI. (Fn. 134), S. 18 f. Benedikt XVI. (Fn. 134), S. 19.
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a) Beitrag des christlichen Glaubens „Die christliche Religion und die anderen Religionen“, so erklärt Papst Benedikt XVI., „können ihren Beitrag zur Entwicklung nur leisten, wenn Gott auch im öffentlichen Bereich mit spezifischem Bezug auf die kulturellen, sozialen und wirtschaftlichen und insbesondere politischen Aspekte Platz fi ndet“142. Es geht in der Sache darum, dass das „öffentliche Leben über die Wahrheiten des Glaubens unterrichtet wird“143. Denn nur so kann es zu einer „Begegnung zwischen den Menschen“ kommen, so dass „ihre Zusammenarbeit für den Fortschritt der Menschheit“144 gefördert wird. Dazu zählt dann auch, dass die Menschenrechte nicht ihres „transzendenten Fundaments beraubt“ werden, weil ja dann die Politik „ein unerträgliches und aggressives Gesicht“ annimmt „und die persönliche Freiheit nicht anerkannt wird“145. Mehr noch: „Der fruchtbare Dialog zwischen Glaube und Vernunft kann nur das Werk der sozialen Nächstenliebe wirksamer machen und bildet den sachgemäßen Rahmen, um die brüderliche Zusammenarbeit zwischen Gläubigen und Nichtgläubigen in der gemeinsamen Sicht, für die Gerechtigkeit und den Frieden der Menschen zu arbeiten, zu fördern“146. Hinzu tritt der Gedanke: „In allen Kulturen gibt es besondere und vielfältige ethische Übereinstimmungen, die Ausdruck derselben menschlichen, vom Schöpfer gewollten Natur sind und die von der ethischen Weisheit der Menschheit Naturrecht genannt wird“147. Das dieser Terminus ein anderer Begriff für Menschenrechte ist, bedarf keiner weiteren Begründung. Doch bleibt hervorzuheben, dass der Papst darin „die feste Grundlage eines jeden kulturellen, religiösen und politischen Dialogs“148 sieht. Dabei stehen – darauf ist, diesen Gedankenstrang abschließend hinzuweisen – die „Ansprüche der Liebe zu denen der Vernunft nicht in Widerspruch“149. b) Forderung nach einer Ethik Ganz im Sinn der vom Jubilar erhobenen Postulate nach einer das Anwaltsbild prägenden Ethik150 formuliert dann Papst Benedikt XVI. mit unbeirrbarer Klarheit: „Die Wirtschaft braucht für ihr korrektes Funktionieren die Ethik“151. Dass der Papst diese Forderung auf das Fundament des christlichen Menschenbildes stellt, darf nicht verwundern. Denn wenn allenthalben Forderungen nach einer Ethik in allen Bereichen des Wirtschaftslebens erhoben werden, dann muss sich hinter diesem Begriff – und den entsprechenden Verhaltensweisen – etwas verbergen, das den Menschen als Ebenbild Gottes erkennen lässt, weil aus diesem Ansatz sich auch „der transzendente Wert der natürlichen moralischen Nor-
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Benedikt XVI. (Fn. 134), S. 132. Benedikt XVI. (Fn. 134), S. 133. Benedikt XVI. (Fn. 134), S. 133. Benedikt XVI., ebenda. Benedikt XVI. (Fn. 134), S. 134. Benedikt XVI. (Fn. 134), S. 139. Benedikt XVI., ebenda. Benedikt XVI. (Fn. 134), S. 68. Hellwig, AnwBl. 2009, 465 ff. Benedikt XVI. (Fn. 134), S. 106 f.
Anmerkungen zur naturrechtlichen Perspektive von Papst Benedikt XVI.
men“ ableitet152. Es geht nämlich entscheidend darum, dass die – wie immer im Einzelnen ausformulierten – Forderungen nach einer besonderen Ethik anwaltlichen Handelns nicht „eine Funktion für die bestehenden Wirtschafts- und Finanzsysteme“ werden, sondern zum „Korrektiv ihrer Missstände“153. Ohne eine „metaphysische Interpretation des humanum“154 wird diese Aufgabe wohl kaum zu lösen sein.
VI. Summe Mag sein, dass alle diese Sentenzen ein wenig zu sehr davon geprägt sind, die Gedanken des Papstes und damit auch die Überlegungen des Verfassers aus dem Gesichtswinkel des Katholischen niederzulegen. Aber dann sollten sie auch als kleiner Beitrag zu einem ökumenischen Dialog verstanden werden. Dann hätten sie ihr Ziel erreicht. Doch auf dem Weg dorthin sollte noch ein abschließender Gedanke aufgegriffen werden: Die Zeit der Aufklärung war von dem Grundanliegen geprägt, alles neu unter dem Motto zu denken „etsi Deus non daretur“. Sie zielte in der Sache auf die Verneinung jeglicher Metaphysik und damit auch des Transzendentalen. Doch im Hintergrund bleibt immer die drängende Frage des Philosophen Gottfried Wilhelm Leibniz unbeantwortet, warum denn überhaupt etwas sei und warum nicht nichts ist. Vielleicht ist es an der Zeit, auch im Rahmen der anstehenden Debatten um die Anwaltsethik radikal diesen Grundgedanken der Aufklärung umzudrehen und die anstehenden Fragen mutig und entschlossen neu zu durchdenken, vom Bild des Menschen als Geschöpf ausgehend, weil ja eben keineswegs nicht nichts ist, sondern weil es die geschaffene Welt und den Menschen als ihren Mittelpunkt gibt, dem sowohl das Recht als auch jede Ethik dienen soll. Das alles wäre also dann unter der Perspektive des „etsi Deus daretur“ zu debattieren155 – jedenfalls aber im Offenhalten dieser Option. Im Sinn der bekannten Wette von Blaise Pascal ist mit einem solchen Ansatz nichts, aber auch rein gar nichts verloren. Denn wenn – so lautete die von ihm „erfundene“ Wette – ich alles darauf setze, dass es einen Gott, nicht den der Philosophen, sondern den Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs tatsächlich gibt, dann hätte ich alles gewonnen, doch nichts verloren, wenn diese Wette nicht für mich günstig am Ende meines Lebens aufgeht. Umgekehrt aber führt diese Wette Pascals für den, der gegen Gott gewettet hätte, möglicherweise zu einem nicht unbeträchtlichen Verlust. Und als Blaise Pascal erkannt hatte, dass dieser Gott, auf den seine Wette lautet, ein personaler, liebender Gott der Lebenden ist, nähte er sich diese auf einen Zettel geschriebene Erkenntnis in das Futter seines Rocks ein, um diese Wahrheit nie zu vergessen.
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Benedikt XVI. (Fn. 134), S. 108. Benedikt XVI., ebenda. Benedikt XVI. (Fn. 134), S. 129. Ratzinger (Fn. 2), Auf der Suche nach dem Frieden, S. 123, 133.
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Schriftenverzeichnis Professor Dr. Hans-Jürgen Hellwig Seite
I. Zivilprozessrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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II. Handels-, Gesellschafts-, Steuer- und sonstiges Recht . . . . . . . . . . .
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III. Berufsrecht und Berufspolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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IV. Sonstiges . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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I. Zivilprozessrecht 1. Schadensersatzpfl ichten aus prozessualem Verhalten, NJW 1968, 1072 ff. 2. Zur Systematik des zivilprozessrechtlichen Vertrages (Diss.), Bonner Rechtswissenschaftliche Abhandlungen Band 78, 1968, mit Bspr. von Baumgärtel, AcP 169 (1969), 186 ff. 3. Anm. zu LG Bonn vom 29.10.1971 betreffend die Problematik von Vollstreckungsvereinbarungen, JR 1972, 158. 4. Nationale und internationale Schiedsgerichtsbarkeit, RIW 1984, 421 ff. 5. L’imputation des honoraires des conseils: Approche de droit comparé/Le droit allemand, Les Cahiers de l’Institut d’études sur la Justice, Brüssel 2005, 23 ff.
II. Handels-, Gesellschafts-, Steuer- und sonstiges Recht 1. Anm. zu FG Baden-Württemberg vom 6.12.1974 betreffend Betriebseinbringung nach dem Umwandlungssteuerrecht, GmbHR 1975, 264. 2. Rechtswidrigkeit der weiteren Anwendung der Bardepotvorschriften für Altverbindlichkeiten, Betrieb 1976, 709 ff. 3. Lizenzverträge und andere Verträge über Technologietransfer von Deutschland nach Brasilien, RIW 1976, 407 ff. 4. Schwierigkeiten und Risiken im Geschäft mit Lizenzen, Handelsblatt vom 10./11.12.1976. 5. Bspr. von Bremer, Die Börsen-Sachverständigenkommission 1968–1975, ZHR 141 (1979), 268 ff. 6. Das Bankwesen in Deutschland/The German Banking System (mit Schneider und Kingsman), 4. Aufl. 1986. 7. Mergers and Acquisitions in Germany – Some legal aspects, The Merger and Acquisition Handbook: West Germany, hrsg. von PRS Consultancy Group, London 1987. 517
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8. Die Verbindlichkeit sogenannter Hedge-Geschäfte. Ein Beitrag zum systematischen Verhältnis von Differenz- und Termineinwand (zusammen mit de Lousanoff), FS Stiefel, 1987, S. 309 ff. 9. Internationale Joint Venture-Verträge, in Macharazina/Welge (Hrsg.), Enzyklopädie der Betriebswirtschaftslehre XII, Handbuch Export und Internationale Unternehmung, 1989. 10. Ein zweiter Anlauf zu einer Europäischen Aktiengesellschaft, Blick durch die Wirtschaft 1989, Nr. 210, S. 9 ff. 11. Der Auskunftsanspruch des Aktionärs nach unrichtiger Auskunftserteilung, FS Budde, 1994, S. 265 ff. 12. Der werdende Geschäftsanteil aus einer Kapitalerhöhung, FS Rowedder, 1994, S. 141 ff. 13. Auslandsbeurkundungen im Gesellschaftsrecht, in Hommelhoff/Röhricht (Hrsg.), Gesellschaftsrecht 1997, RWS-Forum 10, S. 285 ff. 14. Bspr. von Slabschi, Die sogenannte rechtsmissbräuchliche Anfechtungsklage, 1997, ZHR 1998, 528 ff. 15. Möglichkeiten einer Börsenreform zur Stärkung des deutschen Kapitalmarktes, ZGR 1999, 781 ff. 16. Beratungsverträge des Abschlussprüfers – Genehmigungspfl icht analog § 114 AktG und Publizitätspfl icht analog § 125 Abs. 1 S. 3 AktG, ZIP 1999, 2117 ff. 17. Gesellschaftsrecht in der Gestaltung, in Hommelhoff/Müller-Graff/Ulmer (Hrsg.), Die Praxis der rechtsberatenden Berufe, 1999, S. 59 ff. 18. Termination of Joint Venture, in Micheler/Prentice (Hrsg.), Joint Ventures in English and German Law, Oxford/Portland Oregon, 2000, S. 151 ff. 19. Angleichung des Gesellschaftsrechts in Europa – Notwendigkeit, Schwerpunkte und Wege aus der Sicht des Kapitalmarkts, EWS 2001, 580 ff. 20. Praktische Erfahrungen mit der Betriebsübergangsrichtlinie/§ 613a BGB, in Juristische Fakultät der Universität Heidelberg (Hrsg.), 2001, Europäisches Sozial- und Arbeitsrecht unter besonderer Berücksichtigung der Organisation der Unternehmen/L’Europe sociale et le droit du travail, S. 27 ff. 21. Die öffentliche Aufgabe des Wirtschaftsprüfers, in Lutter (Hrsg.), Der Wirtschaftsprüfer als Element der Corporate Governance, 2001, S. 67 ff. 22. Kapitalerhöhungen im Cash-Pool, FS Peltzer, 2001, S. 163 ff. 23. Zum Einsatz einer EPG als Joint Venture, in Hommelhoff/Helms (Hrsg.), Neue Wege in die Europäische Privatgesellschaft, 2001, S. 89 ff. 24. Empfiehlt es sich, im Interesse des Anlegerschutzes und zur Förderung des Finanzplatzes Deutschland das Kapitalmarkt- und Börsenrecht neu zu regeln?, Referat in Verhandlungen des 64. DJT 2002, P59 ff.
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Schriftenverzeichnis Professor Dr. Hans-Jürgen Hellwig
41. Die Finanzkrise – Fragen und Anmerkungen, FS Maier-Reimer, 2010, S. 201 ff.
III. Berufsrecht und Berufspolitik 1. Anwaltliche Honorargestaltungen/Die Rechnungen und Vereinbarungen der „Großen“, AnwBl 1989, 623 ff. 2. Einleitende Bemerkungen zur Diskussion, in Deutsches und Europäisches Bank- und Börsenrecht/Bankrechtstag 1993, Schriftenreihe der Bankrechtlichen Vereinigung, Band 5, 1994, S. 179 ff. 3. GATS und die Rechtsanwälte, Liber Amicorum Hans-Jürgen Rabe, 1995, S. 37 ff. 4. Formen der Gestaltung der Zusammenarbeit mit dem ausländischen Anwalt, AnwBl 1996, 124 ff. 5. Die Rechtsanwalts-GmbH, ZHR 1997, 337 ff. 6. EU-Geldwäscherichtlinie: Kommt die Verdachtsmeldepfl icht für Rechtsanwälte? Oder: Der Anwalt als Spitzel der Obrigkeit?, AnwBl 2000, 614 ff. 7. EU-Harmonisierung – Globalisierung – Kommerzialisierung/Anwaltschaft quo vadis?, AnwBl 2000, 705 ff. 8. Independence, Conflicts and Secrecy, European Lawyer, April 2001, 28 ff. Veröffentlicht auch in Defensor Legis, Helsinki, 2000, 521 ff. und Advokaten Medlemsblad for Advokatsamfundet, Kopenhagen, 2001, 61 ff. 9. A European „whistleblowers“ directive?, European Lawyer, Februar 2002, 30 ff. 10. The Harmonisation Headache, European Lawyer, Juni 2002, 46 ff. 11. The Difficulty of Diversity, European Lawyer, Juli/August 2002, 38 ff. 12. Unterschiede der nationalen Berufsrechte/Notwendigkeit von Kollisionsnormen und Harmonisierung, BRAK-Mitt. 2002, 52 ff. und Österreichisches Anwaltsblatt, 2002, 190 ff. In Übersetzung ferner veröffentlicht in Rassegna Forense, Rivista trimestrale del Consiglio Nazionale Forense, 2003, 65 ff.; in L’Observateur de Bruxelles, Mitteilungsblatt der Délégation des Barreaux de France, Brüssel, 2003, 9 ff. und in Asianajaja Liion Julkaisuja, Helsinki, 2004, 233 ff. 13. The Legal Profession in Europe/Achievements Challenges and Chances, MittBl. DAV Internationaler Rechtsverkehr 2002, 60 ff. 14. Die neue Geldwäscherichtlinie/Blick zurück und nach vorn, AnwBl 2002, 144 ff. 15. Geleitwort zu: Klein/Ott/Zerdick, Tätigkeit Europäischer Rechtsanwälte in Deutschland, 2002.
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16. Recht des Spezialisierungsausweises international (vor allem in Europa), Beilage zu AnwBl 4/2002, 23 ff. 17. Contradictory Professional Duties – a Catch-22 Situation for the International Lawyer, International Bar News 2002, 22 ff. 18. Die Bedeutung zentraler Berufsregeln aus Europäischer Sicht, in Ehrenzeller (Hrsg.), Das Anwaltsrecht nach dem BGFA, 2003, S. 85 ff. 19. The changing legal profession in Europe, The Indian Advocate, Journal of the Bar Association of India, 2003, 13 ff. 20. Die amerikanische SEC will ausländische Anwälte regulieren, NJW-Editorial 2003, Heft 4. 21. Überlegungen zu anwaltlichen Spezialistenbezeichnungen, AnwBl 2003, 613 ff. 22. External attacks and internal erosion: The future of the legal profession in Europe, European Lawyer, Juli/August 2004, 24 ff. und September 2004, 42 ff. Ferner in The Indian Advocate Journal of the Bar Association of India, 2004, 53 ff. Kurzfassung in MittBl. DAV Internationaler Rechtsverkehr 2004, H. 2, 32 ff. 23. CCBE and the Polish Bar in relation to the European Union Issues, MittBl. DAV Internationaler Rechtsverkehr 2004, 32 ff.; ferner in Übersetzung in Palestra, Pismo Adwokatury Polskiej, 2004, 32 ff. 24. Is it really possible to render fair justice faster?, MittBl. DAV Internationaler Rechtsverkehr 2004, 21 ff. 25. Der Rechtsanwalt – Organ der Rechtspflege oder Kaufmann? Nationale und internationale Entwicklungen in der Anwaltschaft, AnwBl 2004, 213 ff. 26. Challenges to the legal profession in Europe, Penn State International Law Review, 2004, 655 ff. 27. Spezialisierungsbezeichnungen und insbesondere Fachanwaltsbezeichnungen aus der Sicht des Europäischen Gemeinschaftsrechts, BRAK-Mitt. 2004, 48 ff. 28. Der CCBE – Die weithin unbekannte Anwaltsorganisation, RIW 2004, S. I. 29. Europäisches Wettbewerbsrecht und freie Berufe/Monti bläst zum Angriff, BRAK-Mitt. 2004, 19 ff. 30. Anwälte müssen Mahner sein: Nur wer einig ist, der ist stark, AnwBl 2005, 102 ff. 31. Der Clementi-Bericht zur Reform der englischen Anwaltschaft, AnwBl 2005, 362 ff. 32. Perspektiven der deutschen Anwaltschaft ex Europa, NJW 2005, 1217 ff. 33. Zur Geschichte des CCBE, FS Busse, 2005, S. 107 ff.
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34. The impact of globalisation on laws and professional and corporate behaviour, Defensor Legis, Helsinki 2005, 584 ff.; ferner MittBl. DAV Internationaler Rechtsverkehr 2005, 37 ff. 35. Rechtsstaatsmüdigkeit, Liber Amicorum Alexander Riesenkampff, 2006, S. 51 ff. 36. Max Alsberg/Franz Saldit, Laudatio aus Anlass der Verleihung des MaxAlsberg-Preises an Rechtsanwalt Justizrat Prof. Dr. Franz Saldit, in Schriftenreihe Deutsche Strafverteidiger e.V., Band 31, 2006, S. 13 ff. 37. Liberalisierung und Verlust an Selbstverwaltung, AnwBl 2006, 505 ff. 38. Die Selbstverwaltung durch Berufskammern in der Europäischen Diskussion, in Freiberufliche Selbstverwaltung durch Kammern in der Europäischen Union, DWS-Schriftenreihe Nr. 13, 2006, S. 12 ff.; ferner AnwBl 2007, 257 ff. 39. Europa – Schicksal oder Chance für die Anwaltschaft?, Festvortrag auf dem Deutschen Anwaltstag 2007, AnwBl 2007, 576 ff. 40. Probleme im Berufsrecht, insbesondere Interessenkonfl ikt und Verschwiegenheitspfl icht, MittBl. DAV Internationaler Rechtsverkehr 2007, 23 ff. 41. Regulation of foreign lawyers in EU (Referat in Peking auf einem europäisch-chinesischen Seminar über Anwaltsregulierung), MittBl. DAV Internationaler Rechtsverkehr 2007, 54 ff. 42. At the Intersection of Legal Ethics and Globalization: International Conflicts of Law in Lawyer Regulation, Penn State International Law Review, 2008, 395 ff. 43. Das Konzept des anwaltlichen Berufsbildes, AnwBl 2008, 644 ff. 44. Die Anwaltschaft zwischen Rechtspflege und kommerziellem Wettbewerb, in Bitburger Gespräche 2008/I, München 2009, S. 163 ff.; ferner BRAKMitt. 2008, 92 ff. 45. Berufsrechtliche Fragen bei grenzüberschreitender Tätigkeit und Kooperation in Europa, BRAK-Mitt. 2009, 50 ff. 46. Anwaltsethos – Lehren aus der Finanzkrise, AnwBl 2009, 465 ff. 47. The Eagle, the Ostrich and the CCBE, in CCBE (Hrsg.), CCBE 50 Years, 2010, S. 112 ff. 48. Gemeinschaftsrechtliche Fragen des Code of Conduct des CCBE, FS Hopt, 2010, S. 2791 ff. 49. Zum Normenscreening des anwaltlichen Berufsrechts, FS Graf von Westphalen, 2010, S. 289 ff. 50. Internationalisierung und Europäisierung der deutschen Anwaltschaft nach 1945, in DAV (Hrsg.), Die Anwälte und ihre Geschichte, erscheint demnächst.
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IV. Sonstiges 1. Soll ein Christ sich parteipolitisch engagieren?, Evangelische Verantwortung, 1976, Heft 3–4, S. 4. 2. Von der Freiheit eines Stadtverordneten, Amtsblatt für Frankfurt am Main, 1981, 281 f. 3. Zum 20. Juli 1944, Amtsblatt für Frankfurt am Main, 1982, 377 ff. 4. Die NS-Machtübernahme vor 50 Jahren, Amtsblatt für Frankfurt am Main, 1983, 181 ff. 5. Der ehrenamtliche Stadtverordnete – Ein Relikt aus der Stein-Zeit?, Amtsblatt für Frankfurt am Main, 1983, 577 ff. 6. Zum 20. Juli 1944, Amtsblatt für Frankfurt am Main, 1984, 373 ff. 7. Die Stadtverordnetenversammlung als Aufsichtsrat?, Informationen Hessischer Städtetag, Januar 1999, 7 ff. 8. Kultur heute, in Kuratorium Kulturelles Frankfurt e.V. (Polytechnische Gesellschaft) (Hrsg.), 1997, 1 ff., 40 Jahre Kuratorium Kulturelles Frankfurt 1957/1997. 9. Privatisierung, Vergesellschaftung und neue Steuerungsmodelle – Wo bleibt die politische Steuerung im Zuge der Reform der Kommunalverwaltung?, Informationen Hessischer Städtetag 1999, 7 ff. 10. Honore Daumier – Ein Kämpfer für die Republik, FS Ulmer, 2003, S. 1313 ff. 11. Stadtpolitik und Bürgerschaft, FS Petra Roth, 2004, S. 232 ff. 12. Honore Daumier – Un combattant pour la République, in Lenoir (Hrsg.), La vie politique de Daumier à nos jours, Paris, 2005, S. 81 ff. 13. Honore Daumier – Auf der Höhe seiner Zeit, in Markus Müller/Graphikmuseum Pablo Picasso Münster (Hrsg.), Katalog zur Ausstellung Honore Daumier/Paris: Der Schein vom Sein, 2009, S. 8 ff.
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