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German Pages 1005 Year 2004
Staat, Wirtschaft, Finanzverfassung
Festschrift für Peter Selmer zum 70. Geburtstag
asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin
Staat, Wirtschaft, Finanzverfassung Festschrift für Peter Selmer zum 70. Geburtstag
Schriften zum Öffentlichen Recht Band 960
Staat, Wirtschaft, Finanzverfassung Festschrift für Peter Selmer zum 70. Geburtstag
Herausgegeben von Lerke Osterloh, Karsten Schmidt Hermann Weber
asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin
Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten # 2004 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0200 ISBN 3-428-11508-2 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier ∞ entsprechend ISO 9706 *
Internet: http://www.duncker-humblot.de
Vorwort Am 22. Juli 2004 feiert Peter Selmer seinen 70. Geburtstag. Das ist Anlass für diese Festschrift. Mit ihr ehren Freunde, Schüler und Wegbegleiter einen Kollegen, der in den nunmehr vier Jahrzehnten seiner wissenschaftlichen Laufbahn den Themenbereich „Staat, Wirtschaft, Finanzverfassung“ in vielfältiger Form befruchtet und als Hochschullehrer, Forscher, aber auch in vielfältiger praktischer Tätigkeit als Gutachter oder Prozessvertreter Maßgebliches zu seiner Erforschung und Weiterentwicklung beigetragen hat. Die Weite der Interessen Peter Selmers, aber auch das Ansehen und der Respekt, den er unter Kollegen weit über seinen Hamburger Wirkungsbereich hinaus genießt, spiegelt sich in dem großen Kreis der Autoren und in der Themenfülle der Festschrift. Peter Selmer wurde am 22. Juli 1934 als Sohn eines selbständigen Mineralölkaufmanns in Neumünster in eine bürgerliche Familie geboren. Kindheit und Jugend in Holstein haben ihm seine bis heute auch in der Sprache unverkennbare norddeutsche Prägung gegeben. Nach Besuch von Oberschulen in Oldenburg / Holstein und Neumünster bestand Selmer am 25. Februar 1955 an der Holstenschule (Oberschule für Jungen) in Neumünster die Reifeprüfung. Seine spätere juristische Karriere fand in seinen schulischen Interessen noch keinen erkennbaren Niederschlag. Selmers Lieblingsgebiet war damals alles, was mit Sport zusammenhing: Geräteturnen (eine Kunst, in der er es bis zum Kreismeister gebracht hat), Boxen, Handball und Rudern. Vom Sommersemester 1955 an studierte Selmer zunächst bis zum Sommersemester 1956 an der Christian-Albrechts-Universität in Kiel, danach an der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt am Main Rechtswissenschaften. Maßgebliche Einflüsse hat Selmer in diesen Jahren nicht nur von Hochschullehrern und Kommilitonen in den Hörsälen und Seminaren der Universität, sondern auch von der Aktivenzeit in den Kösener Corps Palaiomarchia-Masovia in Kiel und Austria in Frankfurt am Main erfahren, denen er bis heute die Treue gehalten hat und denen er lebenslange Freundschaften und Kontakte auch in ganz andere berufliche Kreise verdankt. Es folgten das erste juristische Staatsexamen am 4. Mai 1961 in Frankfurt am Main, die Referendarzeit in Hessen von 1962 bis 1966 und die zweite juristische Staatsprüfung in Wiesbaden am 25. März 1966. In dieselbe Zeit fallen zwei Weichenstellungen, die Leben und Laufbahn entscheidend bestimmen sollten – Familiengründung und Wendung zur Wissenschaft: Am 11. September 1964 heiratete Peter Selmer Utta geb. Beushausen aus Bad Nauheim. Seine Frau, mit der er seither in glücklicher Ehe lebt, hat ihn in all den
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Jahren seiner wissenschaftlichen Tätigkeit in vielfältiger Form, durch Schaffung einer sorgenfreien familiären Atmosphäre nicht weniger als durch die Anfertigung der Typoskripte vieler seiner Arbeiten und Gutachten, unterstützt und damit wesentlichen Anteil an seinen beruflichen Erfolgen. Aus der Ehe ist eine Tochter, Sabine, hervorgegangen, die als brandenburgische Verwaltungsrichterin in die Fußstapfen des Vaters getreten ist. Unmittelbar nach dem ersten Staatsexamen wurde Selmer mit der Verwaltung der Stelle eines Wissenschaftlichen Assistenten bei Professor Dr. Günter Jaenicke an der Universität Frankfurt am Main betraut. Auch nach Antritt des Referendardienstes blieb er der Universität als wissenschaftliche Hilfskraft auf dem Gebiete des Öffentlichen Rechts, teilweise auch des Handelsrechts, verbunden. Nebenbei schloss er seine Dissertation zum Thema „Der Aufopferungsanspruch auf vermögensrechtlichem Gebiet“ bei Günter Jaenicke ab und wurde nach dem mündlichen Doktorexamen am 27. Januar 1965 zum Dr. iuris promoviert. Nach dem Assessorexamen übernahm er 1966 in Nachfolge von Volkmar Götz die Stelle des Wissenschaftlichen Assistenten bei Jaenicke und habilitierte sich bei diesem am 2. Juli 1971 im Öffentlichen Recht und im Recht der Europäischen Gemeinschaften; der Titel der (als Buch 1972 im Athenäum-Verlag erschienenen) Habilitationsschrift „Steuerinterventionismus und Verfassungsrecht“ schlägt bereits den Grundton seiner späteren wissenschaftlichen Interessen an. Am 28. September 1972 folgte die öffentliche Antrittsvorlesung an der Universität Frankfurt am Main zum Thema „Generelle Norm und individueller Grundrechtsschutz. Gedanken zum Thema Recht und Individualität“ (abgedruckt in DÖV 1972, 551 ff.). Neben der Habilitation entstanden schon in den Jahren seit 1966 erste wissenschaftliche Publikationen, so Artikel über Jean Bodin, die Franckenstein’sche Klausel, Gebühren sowie Gewaltenteilung im ersten Band des von Adalbert Erler und Ekkehard Kaufmann herausgegebenen Handwörterbuchs zur deutschen Rechtsgeschichte (1964 – 1971) und Aufsätze etwa zu den Themen „Die öffentliche Sicherheit und Ordnung als Schranke der Arbeitnehmer-Freizügigkeit gemäß Art. 48 Abs. 3 EWG-Vertrag“ (DÖV 1967, 328 ff.), „Der Verwaltungsrechtsschutz in den besonderen Gewaltverhältnissen“ (DÖV 1968, 342 ff.) und „Der Vorbehalt des Gesetzes“ (JuS 1969, 498 ff.). In dieselbe Zeit fällt der Beginn einer Tätigkeit, die Selmer besonders ans Herz gewachsen ist und die er bis heute nicht aufgegeben hat: die Tätigkeit als Mitarbeiter der Rechtsprechungsübersicht der „Juristischen Schulung“ (JuS), an der neben ihm im Laufe der Jahre viele namhafte Kollegen mitgewirkt haben; genannt seien hier als langjährige Mitarbeiter außer den Herausgebern der Festschrift nur Peter Bähr, Carsten Brodersen, Dieter Dörr, Volker Emmerich, Winfried Hassemer, Gerhard Hohloch, Friedhelm Hufen, Dietrich Murswiek, Dieter Reuter, Franz Ruland und Michael Sachs. Seit dem ersten von ihm für die „JuS-Rechtsprechungsübersicht“ verfassten Beitrag, einer Besprechung der berühmten Entscheidung des BVerfG zum Hamburger Deichordnungsgesetz (JuS 1969, 289), hat Peter Selmer den Lesern der JuS, also in erster Linie den jungen Juristen in Studium und Refe-
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rendarausbildung, in mehreren hundert Anmerkungen über jeweils aktuelle ausbildungswichtige Urteile vor allem aus dem Wirtschaftsverfassungsrecht, dem Finanz- und Steuerrecht sowie dem öffentlichen Baurecht berichtet; dabei ist er stets mit Überzeugung dem von der Redaktion aus pädagogischen Gründen vorgegebenen Stil möglichst unparteiischer Analyse unter Verzicht auf eigene wissenschaftliche Profilierung durch Kritik und Urteilsschelte gefolgt. Nicht zuletzt der Name, den sich Selmer in der Wissenschaft schon durch seine in der Assistentenzeit veröffentlichten Arbeiten erworben hatte, dürfte den Grund für den schnellen Aufstieg in der akademischen Laufbahn gelegt haben: Schon im Wintersemester 1971 / 72 wurde er mit der Vertretung des Lehrstuhls von Peter Schneider beauftragt, der damals das Rektorat der Universität Mainz übernommen hatte. Ein Semester später folgte die Vertretung des Lehrstuhls des unvergessenen, kurz zuvor emeritierten Gerhard Wacke an der Universität Hamburg – eine Lehrstuhlvertretung, die am 28. September in die Berufung auf diesen Lehrstuhl (den Lehrstuhl für Öffentliches Recht unter Berücksichtigung des Finanz- und Steuerrechts) mündete. Damit hatte Selmer schon in jungen Jahren eine Position in der Wissenschaft erlangt, die andere – wenn überhaupt – erst am Ende ihrer Karriere erreichen. So ist es auch kein Wunder, dass er seinem Lehrstuhl und der Universität Hamburg trotz auswärtiger Versuchungen bis zur Emeritierung im Jahre 2001 treu geblieben ist. Hervorzuheben ist das vielfältige Engagement Selmers nicht nur im akademischen Unterricht und bei der Betreuung seiner Schüler und Mitarbeiter, sondern auch in der akademischen Selbstverwaltung. Über mehrere Jahre war er Geschäftsführender Direktor des Seminars für Öffentliches Recht und Staatslehre der Universität Hamburg, durchgehend bis zu seiner Emeritierung Geschäftsführender Direktor des Seminars für Finanz- und Steuerrecht, 1976 bis 1977 Sprecher des Fachbereichs Rechtswissenschaft I und von 1989 bis 2001 Vorsitzender des Haushaltsausschusses des Fachbereichs. Besondere Verdienste hat er sich bei der Überwindung der Friktionen erworben, die sich in den 90er Jahren bei Zusammenlegung der beiden rechtswissenschaftlichen Fachbereiche in Hamburg ergeben haben. Selmer hat aber auch über Hamburg hinaus gewirkt: In der Zeit der Wiedervereinigung war er Mitglied des Rats für die Wiedereröffnung der juristischen Lehre und Forschung an der Universität Rostock, 1991 bis 1992 Mitglied der Gründungskommission der Juristischen Fakultät der Universität Rostock. Das wissenschaftliche Œuvre Selmers umfasst weit mehr als hundert selbständige Publikationen und Aufsätze in Zeit- und Festschriften zu nahezu allen Bereichen des Öffentlichen Rechts. Deutliche Schwerpunkte liegen auf Veröffentlichungen zum Finanz-, Steuer- und Wirtschaftsrecht sowie – meist unter Berücksichtigung finanzrechtlicher Gesichtspunkte – zum Umweltrecht und zum Rundfunkrecht. Nur einige wenige Titel können hier exemplarisch genannt werden: Finanzverfassungsrechtliche Fragen behandeln etwa die Monographie „Finanzverfassungsrechtliche Grundfragen des horizontalen Finanzausgleichs“ (mit Carsten Brodersen, Hamburg 1984) und – verbunden mit Verfassungsfragen des Steuer-
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rechts – der ausführliche Bericht über die Rechtsprechung des BVerfG in Finanzund Steuersachen („Finanzordnung und Grundgesetz“, AöR 101 [1976], 238 ff., 399 ff.), Fragen des Steuer- und Wirtschaftsrechts die Bände „Steuerrecht und Bankgeheimnis“ (Hamburg 1981), „Wirtschaftslenkung durch Besteuerung“ (Stuttgart 1972) sowie „Unternehmensentflechtung und Grundgesetz“ (Köln 1981). Zum Umwelt- und Rundfunkrecht schließlich sind neben anderen das Referat „Umweltschutz durch Abgaben und Steuern. Verfassungsrechtliche und finanzrechtliche Rahmenbedingungen“, das kleine Buch zu „Vorbescheid und Teilgenehmigung im Immissionsschutzrecht“ (Baden-Baden 1979) und der Band „Bestandsund Entwicklungsgarantien für den öffentlichrechtlichen Rundfunk in einer dualen Rundfunkordnung“ (Berlin 1988) zu nennen. Der sichere Blick Selmers für zukunftsträchtige Entwicklungen wird nicht zuletzt in der besonderen Aufmerksamkeit erkennbar, die er von seinen frühen Zeitschriftenbeiträgen an immer wieder den Einflüssen des Europarechts auf alle Bereiche der deutschen Rechtsordnung gewidmet hat, auch wenn die Sicht auf das Europarecht nicht – wie in vielen seiner Arbeiten – schon im Buch- oder Aufsatztitel erkennbar wird. Ein besonderes Interesse Selmers hat nach der Wiedervereinigung naturgemäß auch der mit ihr verbundenen Neugestaltung der Finanzverfassung des vereinten Deutschlands gegolten, die er in vielen Arbeiten, nicht zuletzt in seinem großen Referat über „Grundsätze der Finanzverfassung des vereinten Deutschlands“ auf der 1992er – Bayreuther – Staatsrechtslehrertagung (VVDStRL 52 [1993], S. 10 ff.) behandelt hat. In der ganzen Zeit seiner beruflichen Tätigkeit galt die Neigung Selmers aber nicht nur der Wissenschaft, sondern stets auch der Hochschullehre und der Ausbildung der jungen Juristen. Das wird nicht zuletzt an zahlreichen didaktisch ausgerichteten Beiträgen in der „Juristischen Schulung“ erkennbar, die sich meist mit allgemeineren Themen des öffentlichen Rechts beschäftigen. Genannt seien hier neben den Urteilsanmerkungen in der JuS-Rechtsprechungsübersicht und neben dem schon erwähnten frühen Aufsatz zum Vorbehalt des Gesetzes (JuS 1968, 489 ff.) Abhandlungen zu „Der Vorbescheid im verwaltungsrechtlichen Genehmigungsverfahren“ (mit Schulze-Osterloh, JuS 1981, 393 ff.), „Wiederaufgreifen des Verwaltungsverfahrens – von Amts wegen und auf Antrag“ (JuS 1987, 363 ff.) und „Das BVerfG an der Schwelle des finanzwirtschaftlichen Einigungsprozesses“ (JuS 1995, 978 ff.). Aber auch an anderer Stelle hat Selmer immer wieder allgemeinere Fragen des öffentlichen Rechts erörtert. Die Aufzählung muss damit abgebrochen werden; alle weiteren Details ergeben sich aus der im Anhang dieses Bandes enthaltenen vollständigen Bibliographie der Publikationen Peter Selmers. Kurz einzugehen ist freilich noch auf die bereits erwähnte praktische Tätigkeit als Gutachter und Prozessvertreter: Viele der genannten (und der nicht genannten) Beiträge und selbständigen Publikationen beruhen, auch wo das nicht schon in ih-
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rem Titel zum Ausdruck kommt, nicht lediglich auf abstrakt-dogmatischen Überlegungen in der Klause des Wissenschaftlers, sondern auf konkreten (stets ausdrücklich erwähnten) Gutachtenaufträgen der Bundesregierung, des Bundestages sowie verschiedener Landesregierungen, Wirtschaftsverbände und Industrieunternehmen. Darüber hinaus ist Selmer aber auch als Mitglied des Arbeitskreises Staats- und Verfassungsrecht im Rahmen des Forschungsprojekts „Deutsche Wiedervereinigung – Die Rechtseinheit“ der Fritz-Thyssen-Stiftung und als Bevollmächtigter u. a. der Bundesregierung, des Bundeskanzlers, der Bayerischen Staatsregierung sowie von Industrieunternehmen in einer Reihe von Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht hervorgetreten. Peter Selmer hat sich durch seine Persönlichkeit, sein umfangreiches wissenschaftliches Werk, seine Tätigkeit als Hochschullehrer und seine vielfältigen praktischen Aktivitäten, nicht zuletzt aber auch durch sein bei aller Sachkompetenz immer bescheidenes Auftreten und die stets verbindliche Form der Auseinandersetzung auch im Umgang mit Andersdenkenden hohes Ansehen und viel Freundschaft erworben. Herausgeber und Autoren wünschen ihm zum 70. Geburtstag alles Gute, vor allem Gesundheit und Wohlergehen, und geben gleichzeitig ihrer Hoffnung Ausdruck, dass er in Zukunft Zeit finden möge, sich neben der wissenschaftlichen Arbeit noch stärker als bisher auch seinen privaten Neigungen zu widmen. Geschlossen sei mit einem Dank an Professor Dr. Norbert Simon, den Inhaber des Verlags Duncker & Humblot, der durch sein freundliches Entgegenkommen das Erscheinen der Festschrift erst möglich gemacht hat. Die Herausgeber
Inhaltsverzeichnis I. Staat Peter Badura Die Entscheidung über die Staatsaufgaben und ihre Finanzierung in der parlamentarischen Demokratie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Hans Peter Bull Polizeiliche und nachrichtendienstliche Befugnisse zur Verdachtsgewinnung . . . . . . . .
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Horst Dreier Erosionsprozesse des Verfassungsstaates . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Meinhard Hilf und Kai-Dieter Classen Der Vorbehalt des Gesetzes im Recht der Europäischen Union . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Wolfgang Hoffmann-Riem Zum Gewährleistungsgehalt der Petitionsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Friedhelm Hufen Verfassungsfragen der Berufsbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 Julia Iliopoulos-Strangas Nationales Verfassungsrecht mit Blick auf eine Europäische Verfassung. Rechtsvergleichende Überlegungen unter besonderer Berücksichtigung des griechischen Verfassungsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 Günther Jaenicke Die internationale Weltraumstation. Die Rechtsgrundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 Ulrich Karpen Kommunale Kulturvielfalt ist schön! Und wer bezahlt sie? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 Hans-Christoph Leo Die uneinheitliche Stimmabgabe eines Landes im Bundesrat. Zum Urteil des BVerfG vom 18. Dezember 2002 – 2 BvF 1 / 02 (Zuwanderungsgesetz) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185
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Peter Lerche Fragen des Bund-Länder-Streits . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 Michael Sachs Informationsinterventionismus und Verfassungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209 Gunnar Folke Schuppert Erscheinungsformen und Grenzen kooperativer Rechtsetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227 Jürgen Schwabe Phantomjagd. Die Grundrechts-Drittwirkung in der neueren Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247 Hermann Weber Staatsleistungen an jüdische Religionsgemeinschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259
II. Wirtschaft Dirk Ehlers Zulässigkeit und Grenzen der Ausfuhrförderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287 Volker Emmerich und Jochen Hoffmann Das deutsche Börsenrecht vor dem Forum des Gemeinschaftsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . 305 Bernd Fahrholz Kapitalmarktrechtliche Transparenzpflicht und Marktmissbrauchsverbot nach dem Vierten Finanzmarktförderungsgesetz im Spannungsfeld von Markt- und Anlegerschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 323 Hubertus Gersdorf Zulässigkeit einer Universaldienstleistungsabgabe im Regulierungsrecht. Untersucht am Beispiel des Telekommunikations- und Postrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 351 Heinrich Götz Zur Binnenstruktur der Unternehmensgruppe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 375 Constantin Iliopoulos Die Harmonisierungsgesetzgebung der Republik Zypern in den Bereichen Gesellschaftsrecht und „Intellectual Poperty“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 387
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Dietrich Murswiek Schadensvermeidung – Risikobewältigung – Ressourcenbewirtschaftung. Zum Verhältnis des Schutz-, des Vorsorge- und des Nachhaltigkeitsprinzips als Prinzipien des Umweltrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 417 Andreas Neun Verfassungsrechtliche Fragen der Auferlegung von „Beiträgen“ zu Kosten von hoheitlichen Verhütungs- oder Ausgleichsmaßnahmen nach § 4 Abs. 2 Nr. 3 WHG . . . . 443 Hans-Jürgen Papier Wirtschaftsverfassung in der Wirtschaftsordnung der Gegenwart . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 459 Michael Rodi Die Beihilfeaufsicht zwischen nationaler Autonomie und europäischer Metakompetenz. „Definitionshoheit“ und Vermutungsregeln bei der Identifikation von Beihilfen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 479 Karsten Schmidt Wirtschaftsverwaltungsrecht vor den Kartellsenaten. Die Praxis zu §§ 63 ff. GWB als Beitrag zum Verwaltungsrechtsschutz im Wirtschaftsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 499 Klaus Stern Das reformierte Bankenaufsichtssystem der Bundesrepublik Deutschland . . . . . . . . . . . 519 Rolf Stober Sonntagszeit und Arbeitszeit. Ein Beitrag zur Zulässigkeit von Mitarbeiterschulungen an Sonntagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 539 Werner Thieme Die Universität als Kaufmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 553 Hans-Heinrich Trute Der europäische Regulierungsverbund in der Telekommunikation – ein neues Modell europäisierter Verwaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 565
III. Finanzverfassung Dieter Birk Sparen auf Pump? – Darf der Staat Kredite zur Verwendung in späteren Haushaltsjahren aufnehmen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 589 Carsten Brodersen Weisungen des Bundes in der Steuerauftragsverwaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 601
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Dagmar Felix Familienleistungsausgleich – eine Aufgabe des Steuerrechts? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 621 Volkmar Götz Beitragsgerechtigkeit im EU-Finanzierungssystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 641 Werner Heun Die Sozialversicherung und das System der Finanzverfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 657 Wolfram Höfling Die Betätigungsprüfung der Rechnungshöfe nach §§ 44 Abs. 1, 53, 54 Abs. 1 HGrG. Überlegungen zu Gegenstand, Voraussetzungen und Grenzen aus grundrechtlicher Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 673 Josef Isensee Damoklesschwert über der Finanzverfassung: der Staatsbankrott . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 687 Monika Jachmann Die Rechtfertigung der ökologisch motivierten Steuer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 707 Ferdinand Kirchhof Das Erlöschen von Ansprüchen nach Art. 104 a Abs. 2 GG zwischen Bund und Ländern infolge Zeitablaufs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 725 Paul Kirchhof Steuersubventionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 745 Hans-Joachim Koch Umweltabgaben in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts . . . . . . . . . . . . . 769 Otto Luchterhandt Russlands Finanzverfassung zwischen Unitarismus und Budgetföderalismus . . . . . . . . 791 Ingo von Münch Die Rundfunkgebühr: Ein verfassungsrechtlich unhaltbares Fossil? . . . . . . . . . . . . . . . . . . 821 Gert Nicolaysen Rechtliche Bindungen einer Stabilitätspolitik. Blicke auf das deutsche Stabilitätsgesetz und den europäischen Stabilitätspakt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 833 Fritz Ossenbühl Staatliche Finanzgewalt und Strafgewalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 859
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Lerke Osterloh Besteuerungsneutralität – ökonomische und verfassungsrechtliche Aspekte . . . . . . . . . 875 Franz Ruland Zur Neuordnung der steuerrechtlichen Behandlung von Altersvorsorgeaufwendungen und Altersbezügen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 889 Hartmut Söhn Steuervereinbarungen und Verfassungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 911 Christian Starck Wieviel Finanz- und Steuerrecht gehört zum Jurastudium? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 925 Christoph Trzaskalik (y 6. 12. 2003) Die Kurtaxe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 947 Klaus Vogel Progressionsvorbehalt und Progressionsermäßigung in Doppelbesteuerungsabkommen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 959 Joachim Wieland Deutschlands Finanzverfassung vor neuen Herausforderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 973
Schriftenverzeichnis Peter Selmer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 993
Verzeichnis der Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1001
I. Staat
2 FS Selmer
Die Entscheidung über die Staatsaufgaben und ihre Finanzierung in der parlamentarischen Demokratie Von Peter Badura
I. Das parlamentarische Budgetrecht: „Haushaltskompetenzen“ der Volksvertretung 1. Die Staatsaufgaben werden – nach der Leitlinie des „sozialen Rechtsstaates“ und speziellerer Staatszielnormen der Verfassung – durch die Gesetzgebung bestimmt. Art und Maß ihrer Erledigung sind von der politischen Leistungsfähigkeit der parlamentarischen Demokratie und den durch Produktivität und Wachstum der Wirtschaft erschließbaren finanziellen Ressourcen abhängig. Verfassungsrechtlich handelt es sich dabei weniger um eine Frage der Programmatik als um eine institutionelle Frage. Die Gesetzgebung über die Ausübung öffentlicher Verwaltung zur Erfüllung der Staatsaufgaben und über die hauptsächlich durch Steuern erfolgende Beschaffung der finanziellen Deckungsmittel ist äußerlich und der normativen Wirkung nach getrennt von der für ein oder mehrere Rechnungsjahre in den Rechtsakten der Haushaltswirtschaft, insbesondere im Haushaltsplan, stattfindenden Bewilligung der Ausgaben zur Deckung des staatlichen Finanzbedarfs. Die „außenwirksamen“ materiellen Rechtsnormen, die durch Gesetz oder auf Grund Gesetzes Aufgaben und Befugnisse der öffentlichen Gewalt und Rechte und Pflichten des Einzelnen regeln, sind von den nur im organschaftlichen Rechtskreis des Staates wirksamen Rechtsvorschriften des nur „formellen“ Haushaltsgesetzes unterschieden. Hier wie dort aber ist es die gesetzgebende Volksvertretung, die kraft ihrer gesetzgebenden Gewalt über das Entscheidungsrecht verfügt. „Das Haushaltsgesetz benennt die finanzerheblichen Staatsaufgaben, ihre Dringlichkeit und die für ihre Erfüllung periodisch verfügbaren Finanzmittel. Das Verwaltungsrecht bindet Haushaltsgesetzgebung und Haushaltsvollzug durch Aufgabenzuweisungen, Handlungsprogramme, Handlungsbefugnisse und Zahlungsverbindlichkeiten“1. Die Planung und Regelung der Staatsaufgaben und folgeweise die Bestimmung der Verwaltungszwecke und der zu ihrer Ausführung erforderli1 P. Kirchhof, Die Steuerung des Verwaltungshandelns durch Haushaltsrecht und Haushaltskontrolle, NVwZ 1983, 505.
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Peter Badura
chen Rechtsakte ist Sache des materiellen Gesetzes, das für die Rechte und Pflichten im Staat-Bürger-Verhältnis maßgeblich ist. Demgegenüber ist es Sache des Haushaltsrechts, das als „Verfahrensrecht des Finanzstaates“ (G. F. Schuppert) der finanzpolitischen Willensbildung dient, die zur Wahrnehmung der Staatsaufgaben erforderlichen Geldmittel bereitzustellen 2. Ungeachtet der praktischen „Verzahnung von Haushaltsrecht und Fachgesetz“3 ist die Sachnorm für die Haushaltswirtschaft wesentliche Vorgabe der Aufstellung und Ausführung des Haushaltsplans. Das gilt im Staat-Bürger-Verhältnis und im bundesstaatlichen Finanzrechtsverhältnis. Die bundesstaatliche Kompetenzverteilung für gesetzliche Sach- und Finanzierungsregelungen bleibt nur gewahrt, wenn das Haushaltsrecht lediglich die finanzrechtlichen Voraussetzungen der Leistungsverwaltung, nicht die Maßstäbe des Leistens und Finanzierens selbst regelt4. 2. Das parlamentarische Budgetrecht ist das Recht der Volksvertretung, den von der Regierung vorgelegten jährlichen Haushaltsplan durch Gesetz festzustellen und den ordnungsgemäßen Haushaltsvollzug auf Grund der Rechnungslegung durch den Finanzminister nach Rechnungsprüfung durch einen unabhängigen Rechnungshof zu kontrollieren (Art. 110 Abs. 2, 114 GG)5. Das parlamentarische Budgetrecht ist dadurch sichergestellt, dass der Haushaltsplan durch Gesetz festzustellen ist und dass Kredite und ähnliche Verpflichtungen der öffentlichen Hand einer gesetzlichen Ermächtigung bedürfen (Art. 115 GG)6. Die ältere Betrachtungsweise entwickelte die Finanzwirtschaft und Finanzpolitik allein aus dem finanziellen Prinzip: Die Steuer wurde als ein Instrument zur Beschaffung der für die Erfüllung der Staatsaufgaben notwendigen Mittel und der Haushalt als eine Technik der geordneten und überschaubaren Bewirtschaftung der öffentlichen Finanzen begriffen. Das Vordringen der nichtfiskalischen Nebenzwecke der Besteuerung7 und die konsequente Berücksichtigung der „ökonomischen Budgetfunktion“ (Art. 109 Abs. 2 GG in der Fassung der GG-Novelle vom 8. Juni 1967) haben die Grundsätze der Finanz- und Haushaltswirtschaft verändert und dem Finanzwesen auch in der Verfassungsordnung eine neue Stellung gegeben. Die Orientierung der Finanz- und Haushaltspolitik an den Erfordernissen des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts hat dem Haushaltsgesetzgeber im Verhältnis zur Regierung und zur Aufgabengesetzgebung keine Verstärkung zuge 2 R. Mußgnug, Der Haushaltsplan als Gesetz, 1976, S. 252 ff.; G. F. Schuppert, Die Steuerung des Verwaltungshandelns durch Haushaltsrecht und Haushaltskontrolle, VVDStRL 42, 1984, S. 216 / 230, 235. 3 H.-J. Papier, Der Wandel der Lehre von Ermessens- und Beurteilungsspielräumen als Reaktion auf die staatliche Finanzkrise, in: W. Hoffmann-Riem / E. Schmidt-Aßmann, Hrsg., Effizienz als Herausforderung an das Verwaltungsrecht, 1998, S. 231 / 233 f. 4 P. Kirchhof (Fn. 1), S. 506, 508. 5 P. Badura, Wirtschaftsverfassung und Wirtschaftsverwaltung, 1971, S. 49 ff. 6 BVerfGE 79, 311 – Grenzen der Staatsverschuldung. Dazu W. Patzig, DÖV 1989, 1022; W. Höfling, Staat 29, 1990, S. 255; L. Osterloh, NJW 1990, 145. 7 P. Selmer, Steuerinterventionismus und Verfassungsrecht, 1972, S. 209 ff.
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führt8. Auch sind dadurch die Finanzfunktion des Haushaltsplans und die rechtliche Qualität der einzelnen Ausgabenbewilligungen nicht substantiell verändert worden, wenngleich die Ausweisung von Investitions- und Subventionsausgaben nach Intention und politischer Wirkung auf Ausführung durch die Exekutive abzielt9. Der Haushaltsplan dient der Feststellung und Deckung des Finanzbedarfs, der zur Erfüllung der Aufgaben des Bundes oder des Landes im Bewilligungszeitraum voraussichtlich notwendig ist; dementsprechend „ermächtigt“ er die Verwaltung, Ausgaben zu leisten und Verpflichtungen einzugehen (§§ 2 Satz 1, 3 Abs. 1 HGrG)10. Durch den Haushaltsplan, der durch Gesetz festgestellt wird und der Befugnisse und Verantwortlichkeiten im organschaftlichen Rechtskreis schafft, werden Ansprüche oder Verbindlichkeiten weder begründet noch aufgehoben (§ 3 Abs. 2 HGrG)11.
II. Parlamentarische Kontrolle der Exekutive durch Haushaltsgesetzgebung 1. Der Bundestag „trifft mit der Entscheidung über den Haushaltsplan, der ein Wirtschaftsplan und zugleich ein staatsleitender Hoheitsakt in Gesetzesform ist, eine wirtschaftliche Grundsatzentscheidung für zentrale Bereiche der Politik während des Planungszeitraums“. Der Haushaltsplan enthält – zeitlich begrenzt und ausgabenbezogen – ein Regierungsprogramm in Gesetzesform und spiegelt die Regierungspolitik in Zahlen wider. Das Budgetrecht der Volksvertretung ist so im Wege der Haushaltsgesetzgebung eines der wesentlichen Instrumente der parlamentarischen Regierungskontrolle, die die rechtsstaatliche Demokratie entscheidend prägt12. In der vollen Ausbildung der Haushaltskompetenzen des Parlaments vollendete sich die Parlamentarisierung staatsleitender Funktionen in der konstitutionellen Monarchie13. Der Wohlfahrtsauftrag der Demokratie hat – der institutionellen Ordnung nach – das parlamentarische Regierungssystem durch eine Regierung durch das Parlament modifiziert. Diese im Wortlaut der Verfassung nur angedeutete Entwicklung kommt in der Haushaltspolitik und den Sachentscheidungen des Gesetzgebers zur Geltung. Der Staatshaushalt ist im Sozialstaat wegen der Ausweitung der Staatsaufgaben und der Erfüllung eines Großteils dieser Aufgaben durch Geldleistungen zu einem bedeutenden politischen Gestaltungsmittel geworden. Durch die Entscheidung über die Prioritäten und durch die Verteilungsentscheidungen im einzelnen erhalten eine Regierung und die sie tragende parlamenG. F. Schuppert (Fn. 2), S. 225 ff. G. F. Schuppert, Verwaltungswissenschaft, 2000, S. 698 ff.: Vom klassischen Kontrollbudget zur neuen Budgetsteuerung. 10 BVerfGE 20, 56 / 90 ff. 11 BVerfGE 20, 56 / 91; 38, 121 / 125 f. 12 BVerfGE 70, 324 / 355 f.; 79, 311 / 329. 13 W. Mößle, Regierungsfunktionen des Parlaments, 1986, S. 60 ff., 126 ff. 8 9
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tarische Mehrheit ihr wirtschafts- und sozialpolitisches Profil14. Das parlamentarische Budgetrecht „wird entscheidend durch eine Entwicklung geprägt, die zum einen seine tendenzielle Vorabbestimmung durch die ausgabenwirksame Gesetzgebung, zum anderen seine konjunkturpolitische Weiterentwicklung im Sinne der ökonomischen Budgetfunktion zum Inhalt hat“15. 2. Auf den ersten Blick scheint die Haushaltsgesetzgebung eine Schlüsselstellung der Politik einzunehmen. Der gesetzlich festgestellte Haushaltsplan wird gelegentlich als eine Art „Plan der Pläne“, also als eine Art jährliche Grundsatzentscheidung über die Staatsaufgaben, aufgefasst. Die aus der Weimarer Zeit stammende Lehre, dass es sich bei dem gesetzlich festgestellten Haushaltsplan um einen Regierungsakt in Gesetzesform handele16, hat diese Vorstellung begünstigt. Auch die Einrichtung der mehrjährigen Finanzplanung (Art. 109 Abs. 3 GG, § 9 StabG, § 50 HGrG)17, die die Haushaltswirtschaft in die gouvernementale Politik und Planung einbettet, unterstreicht die Bedeutung der Haushaltsgesetzgebung. Andererseits ist – unbeschadet der rechtlich umfassenden, alleinigen Entscheidungs- und Feststellungskompetenz des Gesetzgebers – der Gestaltungsspielraum für das einzelne Haushaltsgesetz dadurch beschränkt, dass der größte Teil der Ausgaben durch außerbudgetäre Gesetze und bei einer hohen Staatsverschuldung durch die Zins- und Tilgungslasten festgelegt ist. Wirtschaftliche Gegebenheiten, vorgegebene und überkommene rechtliche Verpflichtungen, mittel- und langfristige Planungen und ihre Zwangsläufigkeiten engen tatsächlich den Entscheidungsspielraum des Gesetzgebers ein. Der Spielraum für sachliche Gestaltungen im Rahmen der Haushaltsgesetzgebung, die disponible Finanzmasse, über die ohne Bindung an gesetzliche Verpflichtungen entschieden werden kann, ist sehr begrenzt18. „Staatsleitung“, Regierung durch das Parlament, wie sie die Lehre vom Staatshaushaltsplan als staatsleitendem Akt vor Augen hat19, ist, soweit es um die Haushaltsgesetzgebung geht, demokratische Legitimierung und Kontrolle der Exekutive, in gestaltender Hinsicht dagegen zuerst Sache der ausgabenwirksamen materiellen Gesetzgebung. 3. Die politischen Vorgegebenheiten des Haushaltsplans sind von dessen rechtlich bestehenden „Vorbindungen“ zu unterscheiden. Zu diesen gehören die rechtBVerfGE 79, 311 / 329. W. Mößle (Fn. 13), S. 126. 16 J. Heckel, Die Entwicklung des parlamentarischen Budgetrechts und seiner Ergänzungen, HDStR, 2. Bd., 1932, § 87, S. 358. 17 P. Badura, Verfassungsfragen der Finanzplanung, in: Festgabe für Theodor Maunz, 1971, S. 1. 18 BVerfGE 45, 1 / 32; 79, 311 / 329. – V. Götz, Die Staatsausgaben in der Verfassungsordnung, JZ 1969, 89; Chr. Tomuschat, Die parlamentarische Haushalts- und Finanzkontrolle in der Bundesrepublik Deutschland, Staat 19, 1980, S. 1 / 7; Th. Maunz, in: Maunz / Dürig, Grundgesetz, Art. 110 (1981), Rn. 13; G. F. Schuppert, Steuerung (Fn. 2), S. 228 f. 19 K. H. Friauf, Der Staatshaushaltsplan im Spannungsfeld zwischen Parlament und Regierung, 1968, S. 280 ff. 14 15
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lich wirksamen Verpflichtungen des Staates, die aus gesetzlich begründeten Zahlungspflichten, aber auch aus sonstigen, z. B. aus Vertrag oder Verwaltungsakt hervorgehenden, Verbindlichkeiten entstehen können. Die mit wirksamen Rechtsakten verbundenen Leistungspflichten führen zu notwendigen Ausgaben, die durch das Haushaltsgesetz zu decken sind. Das Haushaltsgesetz unterliegt dem Vorrang der sachentscheidenden Aufgabennorm und der sonstigen außenwirksamen Verbindlichkeit gegenüber Dritten. Tarifverträge sind ein besonders augenfälliges – letztlich auf einer Verfassungsnorm beruhendes (Art. 9 Abs. 3 GG) – Beispiel für außerbudgetäre, nicht durch ein Gesetz geschaffene Vorbindungen der Haushaltsgesetzgebung20. Ein anderes Beispiel sind internationale und bundesstaatliche Staatsverträge, deren Erfüllung Aufwendungen für Investitionen, Beschaffungen u. a. zum Gegenstand oder zur Folge hat21. Aus dem parlamentarischen Budgetrecht folgt, dass die Exekutive ausgabenwirksame Verpflichtungen nur auf Grund einer Verfassungsnorm (z. B. Art. 91 a GG) oder auf Grund Gesetzes eingehen darf, soweit die notwendigen Mittel nicht durch einen Ansatz im Haushaltsplan oder – wenn es sich um Leistungen in künftigen Haushaltsjahren handelt – durch Verpflichtungsermächtigungen (§ 22 HGrG) bereitgestellt sind22. Soweit die Ermächtigung durch die Sachnorm der Exekutive Ermessen oder einen Gestaltungsspielraum einräumt, sind nicht schlechthin haushaltsrechtliche Direktiven der Wirtschaftlichkeit oder Sparsamkeit oder sonstige finanzwirtschaftliche Erwägungen maßgebend. Denn diese selbständigen Entscheidungsbefugnisse der Verwaltung werden u. U. spezifisch durch den auszuführenden Verwaltungsrechtssatz determiniert und limitiert. Die Vorgaben der ermessensbegründenden Sachnorm sind eine vorrangige Bindung der Verwaltungsentscheidung23. 20 K. Lange, Die Abhängigkeit der Ausgabenwirtschaft der Bundesregierung von der parlamentarischen Budgetbewilligung, Staat 11, 1972, S. 313 / 318 f.; R. Mußgnug (Fn. 2), S. 244 ff.; E. Moeser, Die Beteiligung des Bundestages an der staatlichen Haushaltsgewalt, 1978, S. 69 ff.; Th. Maunz (Fn. 18), Rn. 13; P. Kirchhof (Fn. 1), S. 506; H. Fischer-Menshausen, in: I. von Münch / Ph. Kunig, Hrsg., GG-Kommentar, Bd. 3, 3. Aufl., 1996, Rn. 4; H. Dreier, Der Kampf um das Budgetrecht als Kampf um die staatliche Steuerungsherrschaft – Zur Entwicklung des modernen Haushaltsrechts, in: W. Hoffmann-Riem / E. Schmitt-Aßmann, Hrsg., Effizienz als Herausforderung an das Verwaltungsrecht, 1998, S. 59 / 100 ff.; H.-J. Papier (Fn. 3), S. 233 f.; Chr. Hillgruber, in: H. von Mangoldt / Fr. Klein / Chr. Starck, Das Bonner Grundgesetz, 4. Aufl., Bd. 3, 2001, Art. 110, Rn. 84; H. Siekmann, in: M. Sachs, Hrsg., Grundgesetz, 3. Aufl., 2003, Art. 110, Rn. 35 ff. 21 Die Verpflichtungen des Bundes zum Donauausbau (Main-Donau-Vertrag vom 13. Juni 1921, Donaukanalisierungs-Vertrag vom 11. August 1976; § 56 Abs. 4 WaStrG) stehen unter dem Vorbehalt der haushaltsrechtlichen Bereitstellung der Mittel. Bindende Vorgabe der haushaltswirtschaftlichen Entscheidung ist jedoch die verkehrspolitischen Sachentscheidung durch die vertraglichen Abreden, so dass die Ausweisung der erforderlichen Mittel im Haushaltsplan nur von finanzpolitischen, nicht aber von verkehrspolitischen Gründen abhängig gemacht werden darf. 22 Fehlt eine entsprechende Bewilligung im zuständigen Haushaltsgesetz und ist der Weg des Art. 112 GG nicht gangbar, bedarf es eines Nachtragshaushalts (§ 33 BHO). Schlichte Parlamentsbeschlüsse genügen nicht (R. Mußgnug, Fn. 2, S. 288 ff.). 23 H.-J. Papier (Fn. 3), S. 233 f.
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Der gesetzlich festgelegte Haushaltsplan kann sich über verbindliche Sachentscheidungen und Verpflichtungen des Staates nicht hinwegsetzen. Eine Befreiung von derartigen materiellen Bindungen unter Durchbrechung schutzwürdigen Vertrauens kann, soweit verfassungsrechtlich möglich, durch außerbudgetäres Gesetz – „Haushaltsbegleit-“ oder „–sicherungsgesetzgebung„ – erreicht werden. Auf diesem Wege können ausgabenwirksame Gesetze geändert werden, um Art und Maß der gesetzlichen Verpflichtungen, die aus dem öffentlichen Haushalt gedeckt werden müssten, den finanziellen Möglichkeiten anzupassen oder um veränderten Gegebenheiten Rechnung zu tragen24. 4. Das parlamentarische Budgetrecht ist ein Instrument der finanzpolitischen und haushaltswirtschaftlichen Kontrolle der Regierung und Verwaltung. Das Haushaltsgesetz ist nach Funktion und Wirkung nicht geeignet, ein Planungsgesetz für die Staatsaufgaben zu sein. Auch im Verhältnis zur Exekutive bleibt das Budgetrecht des Parlaments in den verfassungsrechtlichen Rahmen gespannt, den Gewaltenteilung und parlamentarisches Regierungssystem der gewählten Volksvertretung zumessen. Die Haushaltskompetenzen des Parlaments können die politischen Entscheidungsrechte der Regierung nicht verdrängen oder ersetzen (vgl. Art. 113 GG)25. Mit dem Übergang von der konstitutionellen Monarchie zur parlamentarischen Demokratie ist die Konfrontation von Regierungsmehrheit und Opposition in den Vordergrund getreten. Das institutionelle Grundmuster von Verantwortung und Kontrolle, das das parlamentarische Regierungssystem kennzeichnet, ist dadurch nicht außer Kraft gesetzt worden. Die dem Budgetrecht des Parlaments entsprechende rechtlich umfassende Entscheidungs- und Feststellungskompetenz des Haushaltsgesetzgebers, die den im Parlament vertretenen politischen Kräften vor allem im Haushaltsausschuss selbständigen Einfluss gibt (§ 95 GeschOBTag), ist Beleg dafür26. Dem Haushaltsplan kann eine doppelte Kontrollfunktion zugesprochen werden: Das Ausgabenbewilligungsrecht eröffnet dem Parlament eine politische Kontrolle des gesamten Staatsapparats und Staatshandelns und das Budget bildet zugleich die Grundlage der umfassenden Finanzkontrolle hinsichtlich der Ausführung der Ausgabenbewilligungen27. Das parlamentarische Budgetrecht ermöglicht es dem Bundestag, seine Kontrollbefugnisse gegenüber der Regierung auch dort auszuüben, wo sie ohne gesetzliche Ermächtigung oder sonstige parlamentarische Billigung tätig werden darf. Diese Form der parlamentarischen Kontrolle lässt es als verfassungsrechtlich tragbar erscheinen, dass weitreichende politische Entscheidungen nicht durch das Parlament, sondern durch andere – haus24 P. Badura, Staatsrecht, 3. Aufl., 2003, I 31; W. Heun, in: H. Dreier, Hrsg., Grundgesetz, Bd. III, 2000, Art. 110, Rn. 31; H. Siekmann (Fn. 20), Rn. 19, 39. 25 Th. Maunz (Fn. 18), Rn. 14, 24. 26 Th. Maunz (Fn. 18), Rn. 5; H. Fischer-Menshausen (Fn. 20), Vorb. Art. 110 – 115, Rn. 4, 5. 27 W. Heun (Fn. 24), Rn. 12.
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haltsrechtlich gebundene – Staatsorgane getroffen werden28. Im Bereich der materiellen Gesetzgebung jedoch hat das Budgetrecht der parlamentarischen Demokratie nicht mehr die herausgehobene Position als politischer Machtfaktor im Verhältnis von Volksvertretung und Exekutive, die ihm zur Zeit seiner Durchsetzung im monarchischen Konstitutionalismus zukam29. Positiv gestaltende Steuerung von Regierung und Verwaltung durch einzelne Bewilligungen oder durch Ablehnung einzelner Haushaltsanforderungen der Regierung liegt in der Budgetvollmacht des Parlaments, ist aber nicht die ihr allgemein eigentümliche Perspektive30.
III. Finanzwirksame Volksgesetzgebung in der parlamentarischen Demokratie 1. Nach den Verfassungsregeln der Weimarer Reichsverfassung über die Volksgesetzgebung war über den „Haushaltsplan“ ein durch Volksbegehren initiierter Volksentscheid ausgeschlossen. Über den Haushaltsplan, über Abgabengesetze und Besoldungsordnungen konnte nur der Reichspräsident einen Volksentscheid veranlassen (Art. 73 Abs. 4 WRV). Der Zweck dieser Exemtion wurde nur erreicht, wenn man die Ausdrücke „Haushaltsplan“, „Abgabengesetze“, „Besoldungsordnungen“ weit auslegte und insbesondere unter „Haushaltsplan“ nicht bloß das Etatgesetz (Art. 85 Abs. 2 WRV), sondern jedes Gesetz verstand, das infolge der von ihm angeordneten Einnahmen oder Ausgaben den Staatshaushalt wesentlich beeinflusste31. Soweit die Landesverfassungen nach dem Krieg und nach der Wiedervereinigung Verfahren der Volksgesetzgebung eingeführt haben, sind nach dem Vorbild der restriktiven Klausel des Art. 73 Abs. 4 WRV mit variierendem Wortlaut der „Staatshaushalt“, der „Haushalt“, der „Haushaltsplan“, „Haushaltsgesetze“, „finanzwirksame Gesetze, insbesondere der Staatshaushalt“ oder „Finanzfragen“ keine zulässigen Gegenstände der Volksgesetzgebung32. Der Grundgedanke dieser Normativbestimmungen ist überall derselbe, nämlich die Sicherung des parlamentarischen Budgetrechts. Die den Kern des Budgetrechts des Parlaments bildende Entscheidungsvollmacht über die Ausgabenwirtschaft des Staates und die Verwendung der öffentlichen Finanzmittel kommt darin zur Geltung, dass der von der Regierung aufgestellte Haushaltsplan in Gesetzesform zu verabschieden ist33. Der BVerfGE 70, 324 / 356. H. Dreier (Fn. 20), S. 89. 30 G. F. Schuppert, (Fn. 2), S. 220 ff. 31 G. Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reichs, 14. Aufl., 1933, Art. 73, Anm. 10. 32 Die Ausführungen beruhen auf einem Gutachten, das der Verfasser im September 2001 dem Sächsischen Staatsministerium der Justiz zu dem Volksantrag „Zukunft braucht Schule“ erstattet hat. 33 J. Heckel (Fn. 16); H. von Mangoldt, Das Bonner Grundgesetz, 1953, Art. 110, Anm. 4; K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, 1980, § 49 III; H. Meyer, 28 29
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Haushaltsvorbehalt „dient maßgeblich dazu, die Etathoheit des Landtags und die Leistungsfähigkeit des Staates und seiner Verwaltung vor Eingriffen durch den Volksgesetzgeber zu sichern. Haushaltswirksame Entscheidungen sind komplexer Natur, die ein plebiszitäres ,Ja‘ oder ,Nein‘ weitgehend ausschließen. Sie sind durch zahlreiche kaum veränderbare Eckwerte wie Personalkosten, außerbudgetäre Gesetze etwa in Gestalt sozialstaatlicher Leistungsgesetze und vertragliche Bindungen vorbestimmt . . . Vor diesem Hintergrund wird es dem Volksgesetzgeber häufig schwer fallen, die finanzielle Tragweite gesetzgeberischer Entscheidungen in vollem Umfang zu ermessen“34. 2. Das Budgetrecht des Parlaments würde verfassungswidrig geschmälert, wenn es zulässig wäre, dass im Wege der Volksgesetzgebung ohne Mitwirkung des Parlaments das Gesamtbild des Haushalts und das Volumen der aufzubringenden Staatsausgaben wesentlich verändert werden könnte, insbesondere im Hinblick auf den zu deckenden Finanzbedarf. Für dieses Recht des Parlaments, das zu den Grundfesten der parlamentarischen Demokratie gehört35, fällt ins Gewicht, dass das Gleichgewicht des Haushalts und die ausgleichende Disposition der verfügbaren Finanzmittel entsprechend den Bedürfnissen und Gestaltungserfordernissen der Staatsaufgaben der Verantwortung des Parlaments anvertraut ist. Diese Verantwortung ist unteilbar. Das ist der Grund dafür, dass das Verbot von Volksinitiativen und ähnlichen plebiszitären Begehren über den Haushalt alle Initiativen für Gesetze ausschließt, die gewichtige staatliche Einnahmen oder Ausgaben auslösen und damit den Haushalt des Landes wesentlich beeinflussen36. Ob im Einzelfall von einer „wesentlichen Beeinflussung“ des Haushalts gesprochen werden kann, ist eine wertende Einschätzung, deren Kriterien aus dem Sinn und Zweck der Verfassungsnorm zu gewinnen sind, das Budgetrecht des Parlaments zu wahren und das „Gleichgewicht des Haushalts“ zu gewährleisten. Das berechenbare Volumen der finanziellen Auswirkungen eines Gesetzentwurfs im Verhältnis zu dem Haushaltsvolumen insgesamt und zu den betroffenen Einzelplänen ist dafür die Basis, aber für sich allein in der Regel noch nicht durchschlagend. Der Haushaltsvorbehalt greift ein, wenn eine Volksinitiative zu „gewichtigen staatlichen Ausgaben“ führt und sich unter Berücksichtigung der Auswirkungen auf das Gesamtgefüge des Haushalts und der weiteren Umstände des Falles bei wertender Gesamtbetrachtung als „wesentliche Beeinträchtigung des parlamentarischen BudgetDie Stellung des Parlaments in der Verfassungsordnung des Grundgesetzes, in: H.-P. Schneider / W. Zeh, Hrsg., Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, 1984, § 4, Rn. 53; P. Badura, Staatsrecht (Fn. 4), I 26. 34 BVerfGE 102, 176 / 187 f. (Volksinitiative „Schule in Freiheit“ in Schleswig-Holstein). O. Jung, NVwZ 2002, 41. 35 BayVerfGH VGH 53, 42 / 67 f.; ThürVerfGH Urteil vom 19. 9. 2001 – VerfGH 4 / 01 – B.II.18.a. 36 BVerfGE 102, 176 / 187 f. (Art. 41 Abs. 2 Verf.SchlH: „Haushalt des Landes“); VerfGBrbg. Urteil vom 20. 9. 2001 – 57 / 00 – B.II.1d (Art. 76 Abs. 2 Verf.Brbg.: „Landeshaushalt“).
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rechts“ darstellt37. Die variierenden Textfassungen des Haushaltsvorbehalts in den verschiedenen Landesverfassungen begründen keine Unterschiede in Inhalt, Zweck und Reichweite dieser Schranke der Volksgesetzgebung. Insbesondere betrifft die Ausnahme nicht nur das Haushaltsgesetz im technischen Sinn. Im Bund wie in den Ländern wird der im Haushalt niedergelegte Haushalt des Staates durch Gesetz – das Haushaltsgesetz – festgestellt38. Die gemeindeutsche Grundlinie misst dem durch Gesetz festzustellenden Haushaltsplan einen im parlamentarischen Budgetrecht wurzelnden Entscheidungs- und Garantiegehalt für eine ausgewogene Haushalts- und Finanzwirtschaft des Staates zu. Abweichend von der Praxis des Bundesverfassungsgerichts und der anderen Verfassungsgerichte entnimmt der Verfassungsgerichtshof des Freistaates Sachsen der Landesverfassung eine engere Bedeutung und Reichweite des Haushaltsvorbehalts für „Abgaben-, Besoldungs- und Haushaltsgesetze“ (Art. 73 Abs. 1 Verf.Sa.)39, obwohl keine Gründe ersichtlich sind, wonach in Sachsen eine andere Rechtslage als in den anderen Bundesländern bestehen könnte40. Prämisse dieser Auslegung ist die mit den Grundlagen der parlamentarischen Demokratie und dem Homogenitätsgebot des Art. 28 Abs. 1 GG unvereinbare Rechtsauffassung, wonach die Volksgesetzgebung durch die Verfassung Sachsens unmittelbar und gleichberechtigt der gesetzgebenden Gewalt des Landtages „ohne Vorrangentscheidung“ an die Seite gestellt sei. Das repräsentative Regierungssystem der parlamentarischen Demokratie sei dadurch „plebiszitär modifiziert“. Praktisch – und entgegen dem Wortlaut und Sinn der Verfassungsnorm – wird dadurch der Volksgesetzgebung ein Anteil an der Haushaltspolitik vindiziert, soweit diese nicht gerade durch das Gesetz des Landtages zur Feststellung des Haushaltsplans ausgeübt wird. Dass die Möglichkeit der Setzung politischer Prioritäten durch das Parlament und die mehrheitlich von ihm getragene Regierung verringert werde, sei angesichts der Gleichrangigkeit parlamentarischer und plebiszitärer Sachgesetzgebung folgerichtig. „Solange also der parlamentarische Gesetzgeber in der Lage ist, einen den verfassungsrechtlichen Anforderungen genügenden Haushalt vorzulegen, wird das Budgetrecht des Parlaments nicht gestört.“ Im übrigen könne das Parlament durch Gesetz die „vom Volksgesetzgeber geschaffenen haushaltswirksamen Positionen“ wieder beseitigen. Das Urteil des Verfassungsgerichtshofs des Freistaates Sachsen sollte Anlass dazu geben, angesichts der sich verdüsternden Horizonte der öffentlichen Finanzen der auf klare Verantwortlichkeiten zielenden Befestigung des Budgetrechts der ge37 VerfGBrbg. (Fn. 36) betr. die KITA-Volksinitiative, B.II.1.d. Siehe auch NRWVerfGH NVwZ 1982, 188. 38 Siehe Chr. Starck, Die Verfassungen der neuen deutschen Länder, S. 29 f. – Näher dazu ThürVerfGH (Fn. 35), B.II.18.b. 39 Urteil vom 11. 7. 2002 – Vf. 91-VI-01 – Volksantrag „Zukunft braucht Schule“. 40 Siehe V. Schimpf / J. Rühmann, Hrsg., Die Protokolle des Verfassungs- und Rechtsausschusses zur Entstehung der Verfassung des Freistaates Sachsen, 1997, bes. S. 97 ff., 524 f., 621 ff.
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wählten Volksvertretung Aufmerksamkeit zuzuwenden. Darüber hinaus sollte es als Anschauungsmaterial dafür dienen, womit bei einer Umgestaltung des Grundgesetzes durch Einführung einer Volksgesetzgebung zu rechnen ist.
Polizeiliche und nachrichtendienstliche Befugnisse zur Verdachtsgewinnung Von Hans Peter Bull
I. Die Rasterfahndung als Ausgangsfall Keine andere polizeiliche Arbeitsmethode hat so viel Aufmerksamkeit erregt und so viel Kritik hervorgerufen wie die „Rasterfahndung“. Das Wort suggeriert heimliches Handeln, das als unheimlich empfunden wird; es ist für große Teile der politischen und fachlichen Öffentlichkeit geradezu ein Unwort geworden, ein Synonym für übermäßige „Sammelwut“ und Überwachungswillen des Staates. Nur selten wird klargestellt, was unter diesem Titel eigentlich geschieht: Die Rasterfahndung ist ein Verdachtsgewinnungsverfahren1 mit ganz bestimmten Merkmalen und Folgen, die klarzustellen sind, ehe ein Urteil über die Rechtmäßigkeit abgegeben werden kann. Die Kritik an der Rasterfahndung gründet sich u. a. darauf, dass sie „im Vorfeld“ stattfindet, nämlich bevor ein konkreter Verdacht gegen bestimmte Personen erkennbar ist, die eine Straftat begangen oder eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit verursacht haben oder verursachen werden. Die Rasterfahndung ist aber nicht das einzige Instrument der Polizei, das dazu dient, Hinweise auf ein polizeilich relevantes Verhalten und mögliche Täter oder Verantwortliche schon zu einem frühen Zeitpunkt zu gewinnen. Die Polizei sucht im Rahmen ihrer Aufgaben ständig nach Anzeichen, aus denen weitere, einen Verdacht im gesetzlichen Sinne begründende Tatsachen abgeleitet werden oder die zu weiteren Ermittlungen führen können, und benutzt dazu verschiedene Formen der Informationssammlung und -verarbeitung, die als „vorbeugende Verbrechensbekämpfung“ oder – genauer – „Vorsorge für“ bzw. „Vorbereitung auf die Straftatenaufklärung“ bezeichnet werden2. Erhard Denninger spricht – mit erkennbarem Unbehagen – von „Verdachtschöpfungs- und Verdachtkonkretisierungsinstrumenten“3. Hans Lisken hält „Verdachtsgewinnungseingriffe“ sogar für grundsätzlich unzulässig4. 1 So auch Ch. Gusy, in: H.-J. Koch (Hrsg.), Terrorismus – Rechtsfragen der äußeren und inneren Sicherheit, 2002, S. 93 (107 ff.), und in: KritV 2002, 474 (481 ff.). 2 Vgl. etwa Rachor, in: H. Lisken / E. Denninger (Hrsg.), Handbuch des Polizeirechts, 3. Aufl. 2001, F 164 – 171. 3 Denninger, in: Lisken / Denninger (Fn. 2), E 194. 4 Lisken, in: Lisken / Denninger (Fn. 2), K 107; s.a. ebd. C 70 ff..
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Edda Weßlau hat die Frage untersucht, ob in „Vorfeld“-Aktivitäten der Polizei als Bestandteil einer „neuen Präventionsstrategie“ eine dritte, „operative“ Dimension der Kriminalitätsbekämpfung neben den klassischen Aufgaben der Gefahrenabwehr und der Strafverfolgung zu sehen sei5. Sie knüpft dabei an Äußerungen von Kriminalisten wie Alfred Stümper und Edwin Kube an, die diese Begriffe – positiv besetzt – in die Diskussion um die Polizeipolitik eingebracht haben6. Mit Recht fragt Weßlau auch, welche Veränderungen gegenüber der früheren Praxis die damit propagierten Ziele tatsächlich bewirkt haben7. Die Unklarheit und Unbegrenztheit von Begriffen wie „operative Kriminalitätsbekämpfung“, „vorbeugende Bekämpfung von Straftaten“, „Vorfeldbefugnisse“, „Vorsorge für die Strafverfolgung“ und „Initiativermittlungen“8 hat offensichtlich dazu beigetragen, Misstrauen auch gegenüber der Befugnis der Polizei zu säen, sich auf den künftigen Aufklärungsbedarf durch Sammlung geeigneter Informationen vorzubereiten. Im folgenden soll nicht von „operativem“ Vorgehen gesprochen werden, weil damit eine falsche Vorstellung geweckt wird (als ob es um militärische Taktik oder Guerillakrieg ginge9), und auch nicht weiter von „vorbeugender Verbrechensbekämpfung“, weil dies schon sprachlich ungenau ist und eben nur von Vorbereitung auf die Strafverfolgung oder auf die Gefahrenabwehr die Rede sein kann10. Klar ist auch, dass einige Autoren weiterreichende Intentionen verfolgen, nämlich Aufklärung der kriminellen „Szene“ als solcher und Gewinnung von „Lagebildern“ zu den „übergreifenden kriminellen Zusammenhängen“11. Der Präventionsbegriff wird hier in einem sehr weiten Sinn verstanden12. Verdachtsgewinnung ist auch die wesentliche Aufgabe der Nachrichtendienste, die ja gar nicht mit der Aufklärung bestimmter Straftaten beauftragt sind und auch nicht die Aufgabe haben, Gefahren durch hoheitliches Handelns unmittelbar abzuwehren13; sie sind geradezu typische Verdachtsgewinnungsinstitute und vom GeE. Weßlau, Vorfeldermittlungen, 1989 (Diss. Hamburg 1988), S. 15, 42 ff.. Stümper, Kriminalistik 1975, 49; 1984, 129 und 1985, 293; ders., Systematisierung der Verbrechensbekämpfung, 1981; Kube, Systematische Kriminalprävention, 1986, S. 212 ff.. 7 Weßlau (Fn. 5), S. 49. 8 Vgl. etwa W. Schreiber, NJW 1997, 2137 (2142 f.). 9 So auch Rachor (Fn. 2), F 20. 10 Damit wird auch deutlich, dass hier die Gesetzgebungskompetenz für die Gefahrenabwehr jedenfalls für den größeren Bereich, die strafprozessuale Informationssammlung nicht ausreicht. Unzutreffend insofern Schreiber, NJW 1997, 2137 (2143). 11 So z. B. Schreiber (Fn. 10). Zu diesen Vorstellungen s.a. Weßlau (Fn. 5), S. 56 ff., 74 f. 12 Eine wiederum andere Vorstellung verfolgt Horst Herold mit seinem Plädoyer für eine (anonymisierte) Nutzung von Polizeidaten für präventive Zwecke, ausgeführt z. B. in: H. Bäumler (Hrsg.), Polizei und Datenschutz, 1999, S. 329 ff.; ihm geht es wesentlich um die Zuarbeit für Politik und Gesetzgebung. 13 Vgl. die Aufgabennormen in § 3 BVerfSchG und den Landesgesetzen über den Verfassungsschutz (Informationssammlung usw. über „Bestrebungen“ und „Tätigkeiten“ verschiedener Art). Zur Zusammenarbeit der Verfassungsschutzbehörden mit anderen Sicherheitsbehörden vgl. §§ 19 ff. BVerfSchG. 5 6
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setzgeber bewusst im Vorfeld von Strafverfolgung und Gefahrenabwehr angesiedelt worden. Die folgenden Überlegungen sollen zur verfassungsrechtlichen Beurteilung dieser Instrumente und Institute beitragen.
II. Der traditionelle Grundsatz: Keine Ermittlungen ohne Verdacht Es gilt als „eherne Schwelle des überkommenen, rechtsstaatlich geprägten Polizeirechts“14, dass die Polizei sich für Individuen nur interessieren darf, wenn ein Anlass in Gestalt eines Straftatverdachts oder des Verdachts einer im Einzelfall bestehenden (konkreten) Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung besteht oder diese bereits gestört ist. „Abstrakte“ Gefahren sollen durch Rechtsverordnungen bekämpft werden. „Die polizeiliche Informationsverarbeitung wich jedoch von Anfang an und ,in großem Stil‘ von den Kernprinzipien des Polizeirechts ab“15. Soweit Rasterfahndung und andere Methoden der Verdachtsgewinnung Eingriffe in Individualrechte darstellen, sind sie möglicherweise unter verfassungsrechtlichen Aspekten unzulässig. Um die verschiedenen Konstellationen und ihre Zusammenhänge rechtlich angemessen bewerten zu können, sind zunächst die tatsächlichen Bedingungen der Entstehung eines Verdachts und die üblichen Praktiken der Behörden zu skizzieren (III.) und die Hilfsmittel der Behörden mit ihren Rechtsgrundlagen zu beschreiben (IV.). Anschließend sollen die wesentlichen Rechtsprobleme der Verdachtsgewinnung untersucht (IV.) und die zum Schutz von Individualrechten gebotenen Vorkehrungen genannt werden (V.). Am Schluss ist auf die künftigen Entwicklungsmöglichkeiten einzugehen (VI.).
III. Wie entsteht Verdacht? Ein Verdacht entsteht nicht aus dem Nichts. Am Anfang handelt es sich um eine Konstruktion von Wirklichkeit im Kopf des Betrachters. Wir wissen wenig darüber, wie diese Konstruktion jeweils zustande kommt. Eine allgemein akzeptierte empirisch-deskriptive Theorie des Verdachts gibt es nicht16, und ebenso fehlt es an präskriptiven Regeln. So sind die Praktiker meist auf sich selbst gestellt, wenn sie im „Vorfeld“ nach Verdachtsmomenten suchen. Sie bedienen sich dabei z. B. der Spurenanalyse, fertigen kriminaltechnische Untersuchungen an oder befragen PerKniesel / Vahle, DÖV 1990, 646 (648). R. Riegel, Datenschutz bei den Sicherheitsbehörden, 2. Aufl. 1992, S. 197. 16 Aus der älteren Literatur s. etwa die nach wie vor lesenswerte Studie von J. Feest / E. Blankenburg, Die Definitionsmacht der Polizei, 1972, insbes. S. 35 ff. 14 15
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sonen, ohne sie als Verdächtige oder Zeugen anzusprechen, als „Auskunftspersonen“. Auch Streifengänge werden u. a. zu dem Zweck genutzt, Hinweise auf begangene oder bevorstehende Straftaten oder Störungen zu erlangen. Polizeibeamte beanspruchen häufig einen besonderen Spürsinn für sich, also die aus Erfahrungen mit anderen Fällen gewonnene, mehr oder weniger intuitive oder durch Kombination von Informationen gewonnene Einsicht in Handlungszusammenhänge und Kausalitäten. Im Kern handelt es sich wohl darum, dass Polizeibeamte aufgrund gemachter Erfahrungen vieles genauer beobachten als Menschen, die Straftätern selten begegnen. Sie haben häufig eine größere Sensibilität für Besonderheiten eines Geschehensablaufs, für Auffälligkeiten im Verhalten von Menschen, ihre Körpersprache, Unsicherheiten bei der Befragung, Unsauberkeiten in vorgelegten Papieren und ähnliche Indizien, die eine genauere Untersuchung nahe legen17. Andererseits kann die besondere professionelle Kompetenz sogar zur Fehlerquelle werden: Die häufige Konfrontation mit Kriminellen führt dazu, dass Gegenindizien übersehen oder zu gering gewichtet werden; extremes Misstrauen wird manchmal zur Berufskrankheit. Sicher ist, dass die Herausarbeitung eines Verdachts aus der Fülle der wahrnehmbaren Wirklichkeitssegmente ein Selektionsprozess ist, der teilweise ungesteuert, teilweise aber aufgrund fragwürdiger Vorurteile18 abläuft und in dem viel Raum für Zufälle bleibt. Ermittlungen „ins Blaue“ hinein sind in der Praxis wohl eher die Ausnahme; man wird regelmäßig zuerst „kombinieren“ und häufig ein „Raster“ bilden, in dessen Rahmen die weiteren Schritte geplant werden. Aber auch wenn die Tatumstände eine erste grobe Selektion von Tätergruppen zulassen (was nicht immer der Fall ist) – die einzelnen verdächtigen Personen sind zunächst unbekannt. Vielleicht sind sie in der Gruppe verborgen, aber sie müssen erst noch identifiziert werden. Die Sicherheitsbehörden brauchen daher zusätzliche Instrumente und Methoden der Verdachtsgewinnung gegen bestimmte Personen. Welche aber sind zugelassen?
IV. Die Hilfsmittel und ihre rechtlichen Grundlagen 1. Informationssammlungen Routinemäßig werden zur Verdachtsgewinnung vorhandene Informationssammlungen genutzt19. Früher waren es Karteien und Akten, jetzt sind es elektronisch geführte Dateien, die den Sicherheitsbehörden Informationen über vergangene S. a. Rachor (Fn. 2), F 369. Informativ dazu M. Herrnkind, Personenkontrollen und Schleierfahndung, KJ 2000, 188 ff. (auch zu den Erfahrungen anderer Staaten). 19 Rachor (Fn. 2), F 168 f. und H. Bäumler ebd. J 554 ff. Umfassende Angaben zum Stand der polizeilichen Datenverarbeitung bei Bäumler ebd. J 133 – 234. Vgl.a. verschiedene Darstellungen bei Bäumler (Hrsg.), Polizei und Datenschutz (Fn. 12). 17 18
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Straftaten und die beteiligten Täter geben und sie in die Lage versetzen, die Art und Weise der Tatbegehung mit der aktuell aufzuklärenden Tat zu vergleichen oder durch andere Anknüpfungspunkte auf mögliche Verdächtige zu schließen. So wird ein Verdacht gegen eine Person sehr häufig aus deren früherem Verhalten konstruiert. Vorbestrafte und frühere Verdächtige geraten leichter in den Blick der Ermittler als Personen, über die „nichts vorliegt“. Das benutzte Material stammt aus strafgerichtlichen Urteilen (Bestrafungen, aber unter bestimmten Bedingungen auch Freisprüchen20) und eigenen Ermittlungsakten der Polizei, die nach verschiedenen Kriterien ausgewertet werden, z. B. nach modus operandi, Straftatarten und Täterpersönlichkeiten21. Erkennungsdienstliche Sammlungen, die auf der Grundlage von § 81b, 2. Alt. StPO eingerichtet werden, stellen ebenfalls wichtiges Material dar, desgleichen zunehmend auch die Sammlungen von DNA-Analysen22. In allen diesen Fällen spricht man vom „Abgleich“ von Dateien. Wenn schon erste Verdachtsmomente erkennbar sind, wird der Sachbearbeiter möglicherweise die Datei der gesuchten Personen (Fahndungsdatei)23 dazu nutzen, einen oder mehrere mögliche Verdächtige zu bestimmen – etwa weil die Tatumstände auf einen Mehrfachtäter schließen lassen, nach dem bereits gefahndet wird, oder auf einen Ausbrecher aus einer Haftanstalt. Für die Verdachtsgewinnung sind aber andere Dateien wichtiger, die in ländereigenen oder dem bundesweiten polizeilichen Informationssystem enthalten sind. Das Bundeskriminalamt hat u. a. die Befugnis zur Speicherung von Daten „für Zwecke künftiger Strafverfahren“ (§ 20 i.V.m. § 8 BKAG24). Als Datenquelle von besonderer Bedeutung wird in der Literatur die „anlassunabhängige“ „Schleierfahndung“ angesehen, die nach den Polizeigesetzen der meisten Länder zulässig ist25. Ferner kommen die Dateien in Betracht, die aus Aufzeichnungen über Personenkontrollen an „gefährlichen“ oder „gefährdeten Orten“ aufgrund der Landespolizeigesetze entstehen26. Grenzkontrollen und innerstaatliche Personenkontrollen sind zwar nach ihrem primären Zweck 20 Das BVerfG lässt dies ausdrücklich zu, soweit die Verdachtsmomente nicht ausgeräumt sind: 1. Kammer des Ersten Senats, B. v. 16. 5. 2002, NJW 2002, 3231. 21 Dazu Rachor (Fn. 2), F 171. Wenn sie Merkmale zu „Personen, Institutionen, Objekten und Sachen“ enthalten, firmieren sie als „PIOS“-Dateien. – Zur Entwicklung des polizeilichen Informationswesens s.a. H. P. Bull, Datenschutz oder Die Angst vor dem Computer, München 1984, S. 218 – 248. 22 §§ 81e-81g StPO; s.a. Bäumler, in: Lisken / Denninger (Fn. 2), J 562 ff. 23 Bäumler, in: Lisken / Denninger (Fn. 2), J 154 ff. 24 Dazu Bäumler ebd. (Fn. 2), J 577 ff. 25 Vgl. Denninger, in: Lisken / Denninger (Fn. 2), E 198 f.; Rachor ebd. F 352 ff.; Lisken, NVwZ 1998, 22 ff.; gegen ihn J. Schwabe, NVwZ 1998, 709 ff.; s.a. LVerfG MecklenburgVorpommern, DVBl. 2000, 262 = DÖV 2000, 71 m. krit. Anm. K. Engelken DVBl. 2000, 269. 26 Zu dem dabei verwendeten Muster (§ 9 Abs. 2 Nr. 2 und 3 MEPolG) und zu den geltenden Landesgesetzen s. Ch. Möllers, NVwZ 2000, 382 (383), mit Nachweisen und kritischen Bemerkungen.
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Fahndungs- und keine Verdachtsgewinnungsinstrumente; sie sollen dazu führen, dass Personen aufgefunden werden, die bereits (aus unterschiedlichen Gründen) gesucht werden. Jedoch wird vermutet, dass die Polizei auch diese Informationssammlungen in erheblichem Maße gerade zur Suche nach Verdachtsmomenten nutzt27, so wie die in § 163d Abs. 1 S. 1 S. 1 StPO zugelassene „Schleppnetzfahndung“ die Suche „nach einem unbekannten Täter“ bedeute, „dessen Identifizierung durch die Speicherung der Daten einer Vielzahl von Personen erst ermöglicht werden“ solle28. Die Schleierfahndung ersetzt heute wohl auch die Praxis, die Befugnis zu Straßenverkehrskontrollen für „verdachtslose“ Personenkontrollen zu benutzen29. Die Telekommunikationsüberwachung, die ebenfalls als Instrument der Verdachtsgewinnung geeignet ist, setzt nach den gesetzlichen Vorschriften voraus, dass bereits ein Verdacht gegen die zu überwachende Person vorliegt30. Anders ist es bei den besonderen Befugnissen, die das Abhören durch den BND im Interesse der Verfolgung bestimmter schwerer Straftaten erlauben („strategische Überwachung“). Das BVerfG hat sie im Ansatz für zulässig erklärt31. Nach Ansicht von Lisken und Denninger32 bestimmen „die anlass- und verdachtsunabhängige ,Jedermannskontrolle‘ (,Schleierfahndung‘), die Videoüberwachung öffentlicher Räume (vom ,Lauschangriff‘ in Wohnungen ganz zu schweigen), Unterbindungsgewahrsam, Aufenthaltsverbote und ,genetischer Fingerabdruck‘ [ . . . ] mehr und mehr die alltägliche Polizeiarbeit“. Ob diese Einschätzung zutrifft, lässt sich ohne Insider-Kenntnisse nicht feststellen; was öffentlich von der Polizeiarbeit wahrnehmbar ist, spricht eher dagegen. Die Aufklärungsquote ist zwar in der letzten Zeit gestiegen, aber worauf dies zurückgeht, weiß niemand genau – außer dass die DNA-Analyse zu Aufsehen erregenden Aufklärungserfolgen geführt hat. 2. Die polizeiliche Rasterfahndung Die Rasterfahndung33 stellt eine besondere Form der Nutzung vorhandener Informationssammlungen dar. Im Unterschied zu dem polizeiinternen Datenabgleich34, von dem soeben (zu 1.) die Rede war und der ebenso als „Rasterung“ Rachor (Fn. 2), F 366: „ein unspezifisches Instrument der Informationsgewinnung“. J. Welp, Zur Legalisierung der Rasterfahndung, in: H.-U. Erichsen / H. Kollhosser / J. Welp (Hrsg.), Recht der Persönlichkeit, 1996, S. 389 (404). 29 Dazu Rachor (Fn. 2), F 373. 30 § 100a StPO; S. 2 erweitert allerdings den Kreis der zugelassenen Betroffenen um Mittelsleute. 31 Vgl. BVerfGE 100, 313. S.a. unten IV. 4. 32 Vorwort zur 3. Auflage ihres Handbuchs des Polizeirechts (2001). 33 Bäumler, in: Lisken / Denninger (Fn. 2), J 256 – 297. 34 Bäumler (Fn. 2), J 298 – 305. 27 28
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bezeichnet werden könnte, verschafft sich die Polizei zur „Rasterfahndung“ im Sinne der Polizeigesetze personenbezogene Daten von anderen Stellen und gleicht sie mit eigenen Beständen ab. In der einschlägigen Vorschrift der StPO (§ 98a) liest sich der Sachverhalt so, dass „personenbezogene Daten von Personen, die bestimmte, auf den Täter vermutlich zutreffende Prüfungsmerkmale erfüllen, mit anderen Daten maschinell abgeglichen werden, um Nichtverdächtige auszuschließen oder Personen festzustellen, die weitere für die Ermittlungen bedeutsame Merkmale erfüllen“. Damit sind die „negative“ und die „positive“ Rasterfahndung gesetzlich definiert. Diese Unterscheidung wird in der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen und ist auch rechtlich von geringer Bedeutung35. In der rechtspolitischen Diskussion dominieren Vergleiche aus anderen Lebensbereichen und Metaphern: Der Staat – manchmal heißt es auch: „der Innenminister“ – „durchleuchte“ „routinemäßig“ „den deutschen Biedermann“36, er „durchrastere“ die ganze Bevölkerung oder „durchforste“ „eine große Anzahl von Personen, die nichts mit der Polizei zu tun haben und auch nicht als Störer oder als gefährlich qualifiziert werden können“, greife also in das Datenschutzgrundrecht von Unbescholtenen ein37. Auch wegen der Heimlichkeit der Maßnahme halten manche die Rasterfahndung für einen schweren „Massengrundrechtseingriff“38, der „eine beliebige Vielzahl von unbeteiligten Personen, letztlich die Gesamtheit aller Bürger, in den strafrechtlichen Kontrollprozess einbezieht“ 39. Aus leidvoller Erfahrung muss ich bekennen, ebenfalls der Versuchung zu nicht ganz tragfähigen Vergleichen und zugespitzten Bewertungen erlegen zu sein40. 35 Bäumler (Fn. 2), J 258; B. Sokol, in: H. Bäumler (Hrsg.), Polizei und Datenschutz (Fn. 12), S. 188 (190 f.) m. w. N.; anders aber M. Kniesel, Die Polizei 2003, 89 (93). 36 S. Gerbich, in: InformationWeek Nr. 1 v. 10. 1. 2002, S. 3. 37 J. Limbach, RDV 2002, 163 (164), und dies., Ist die kollektive Sicherheit der Feind der individuellen Freiheit? Festvortrag zum 53. Deutschen Anwaltstag am 10. Mai 2002 in München, Sonderdruck Köln u. a. 2002, S. 6. S. a. ebd. S. 10, wo es heißt, die „Furchtlosigkeit“ der Menschen werde „allmählich verloren gehen, wenn der Staat seine Bürger biometrisch vermisst, datenmäßig durchrastert und seine Lebensregungen elektronisch verfolgt“. 38 J. Welp (Fn. 28), S. 414; W. Achelpöhler / H. Niehaus, DÖV 2003, 49 (50). 39 J. Welp (Fn. 28), S. 414. 40 So sind seinerzeit einige Sätze meines Buches: Datenschutz oder Die Angst vor dem Computer (1984) auf Klage des früheren BKA-Präsidenten Horst Herold vom OLG Hamburg beanstandet worden, weil die von Herold gemachte Unterscheidung zwischen „negativer“ (von H. für gut gehaltener) und „positiver Rasterfahndung“ (die er nur unter engen Voraussetzungen für zulässig hielt) nicht berücksichtigt worden war (NJW 1987, 1416); das BVerfG hat diese Entscheidung gebilligt (NJW 1989, 1789). Das BVerfG hat dabei – entgegen seiner sonstigen Tendenz, Werturteile anzunehmen – meine (durchaus zurückhaltend) kommentierende Wiedergabe von Zitaten von Herold als unrichtige Tatsachenbehauptungen über diesen bewertet; in der Vernachlässigung der „Selbstdefinition“ des Autors liege eine Persönlichkeitsrechtsverletzung. Wenn solche Maßstäbe durchgehend auf die übliche rechtswissenschaftliche Literatur angewandt würden, könnte kaum noch ein Artikel unbeanstandet erscheinen. Der Streit mit Herold, den ich keineswegs beleidigen wollte und dessen Leistungen große Anerkennung verdienen, ist inzwischen beigelegt. Vgl. dazu auch die detailreiche und
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Aber nur eine genaue Beschreibung dessen, was tatsächlich geschieht, kann die Grundlage für eine korrekte rechtliche Beurteilung sein. Was also geschieht bei der „Rasterung“? Das wird selten genau genug beschrieben41. Da der Eingriff in das informationelle Individualrecht bereits in der Anfangsphase, nämlich der Erhebung, Weitergabe oder Nutzung der Daten zum Abgleich mit anderen gesehen wird, bleiben die folgenden Schritte meist relativ unbeachtet. Die Kommentatoren versperren sich damit den Weg zu einer realistischen Analyse der Folgen für die Betroffenen und einer entsprechenden Gewichtung der beteiligten Interessen. Tatsächlich ist die erste Phase der Rasterfahndung in der Tat „nahezu klinisch steril“42. Zunächst finden nur ein oder mehrere maschinelle Abgleiche statt, in deren Rahmen kein Mensch von den einzelnen Daten Kenntnis nimmt. Zwar geschieht die Rasterung auf der Grundlage von Annahmen über die möglichen oder wahrscheinlichen Täter bzw. Verantwortlichen, aber es ist falsch, in diesem Stadium bereits von „Verdächtigen“ zu sprechen; denn die erfasste Personengruppe enthält ganz überwiegend Nichtverdächtige. Das Produkt des Abgleichs ist die „Schnittmenge“ der Daten, deren Subjekte die verschiedenen Merkmale erfüllen („positive“ Rasterfahndung) oder von denen feststeht, dass sie nicht als Verdächtige in Betracht kommen („negative Rasterfahndung“). Erst die „positiv Gerasterten“, die „Recherchefälle“ werden in der Folge – nicht zwingend43, aber wohl in der Regel – zu Verdächtigen. Je nach den Umständen können zahlreiche Ermittlungsschritte, Umwege und Zusatzinformationen nötig sein, ehe sich schließlich die Namen tatsächlich Verdächtiger herauskristallisieren. Diese weitere Arbeit an den Daten produziert u.U. spürbare Eingriffe in Gestalt von Ermittlungsmaßnahmen gegen einzelne „herausgefilterte“ Personen. Von nun an besteht Bedarf an Rechtsschutz, während dieser Bedarf bis dahin mangels erkennbarer Beschwer sehr gering war und allenfalls als immaterielle Belastung durch die Ungewissheit über mögliche Vorgänge begründet war. Vielfach wird die durch die Rastermerkmale umschriebene Personengruppe als „potenziell Verdächtige“ bezeichnet44. Ein „potenzieller Verdacht“ ist aber noch keine ernsthafte Belastung – in diese Situation kann jedermann geraten, ja es ist fast die normale Lage von Menschen, die in unserer x-fach vernetzten Welt auf einem Territorium zusammenleben, in dem Kriminalität vorkommt. Das Wort vom „potenziellen Verdacht“ verschleiert den Unterschied zu dem aktuellen Verdacht, um den es im Polizei- und Strafrecht nur gehen kann. Schlicht unrichtig ist auch die Behauptung, bei der Rasterfahndung werde „ganzen Bevölkerungsgrupfaire Darstellung bei Dieter Schenk, Der Chef. Horst Herold und das BKA, 1998, insbes. S. 387 ff.. 41 Einige Bemerkungen zur technischen Durchführung finden sich bei Lothar Seel, Die Polizei 2002, 192 (196). 42 Zitat Herold (vgl. Fn. 40). 43 So aber Welp (Fn. 28), S. 398: die Koinzidenz der Rastermerkmale begründe den Verdacht der Täterschaft. 44 Vgl. etwa Kniesel (Fn. 35).
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pen eine besondere Gefahrennähe attestiert“, was einem „Generalverdacht“ gleichkomme45. Für die Gewichtung kann es keine Rolle spielen, dass am Anfang die Daten besonders vieler Menschen in die Maßnahme einbezogen werden. Das vielgebrauchte Argument, dass es sich um Massendatenverarbeitung und daher um eine besonders große Zahl von Betroffenen handle46, ist also rechtlich irrelevant. Es kommt für die Zulässigkeit des Eingriffs nur auf die Betroffenheit des oder der Einzelnen an, die in die Fahndungsaktion einbezogen werden; die Intensität dieser Betroffenheit ist, wie gesagt, am Anfang äußerst gering. Bei den Rasterfahndungen der letzten Zeit sollen sehr große Mengen von „Treffern“ herausgekommen sein, die deswegen gerade nicht zur weiteren Aufklärung taugten47. Es dürfte auch vorkommen, dass ganz ungeeignete Rastermerkmale ausgewählt werden; dann sind die Ergebnisse vollständig unbrauchbar (und müssen, wie alle „abgearbeiteten“ Daten, vernichtet werden). Auch die Geheimhaltung der Maßnahme begründet keine besondere Belastung. Im Gegenteil: Wenn die Tatsache einer Rasterfahndung und die dabei verwendeten Auswahlkriterien geheim bleiben, so schützt dies die Betroffenen vor der vorzeitigen Etikettierung als „Verdächtige“. Werden hingegen Rastermerkmale öffentlich bekannt, so ist zu befürchten, dass die Betroffenen pauschal als Verdächtige bezeichnet werden. So geschah es bei den Fahndungsmaßnahmen nach den Anschlägen vom 11. September 2001, als die Polizei sich zum Zwecke der Terrorismusbekämpfung Dateien über die in Deutschland lebenden Angehörigen bestimmter arabischer Staaten und Menschen islamischen Glaubens beschaffte. Solche Massenaktionen verstärken die ohnehin stattfindende öffentliche Stigmatisierung der betroffenen Bevölkerungsgruppe48. Die Stigmatisierung war aber in diesem Fall und ist auch sonst wohl kaum davon abhängig, dass die Polizei Rasterfahndungen vornimmt – sie beginnt vielmehr in den Köpfen der Mitmenschen, und die Polizei ist leider auch nicht frei von solchen Vorurteilen. Um es also nochmals zu sagen: Massendatenverarbeitung als solche ist nicht belastender als individuelle Fahndung, im Gegenteil; ihre Eingriffstiefe ist wesentlich geringer und geht unter Umständen gegen Null. Je größer die Menge der einbezogenen Personen, desto geringer ist die individuelle Belastung. Und heimliche Verdachtsgewinnung ist nicht öffentliche „Verdächtigung“; die Geheimhaltung einer Rasterfahndung schont die Betroffenen mehr als deren Bekanntgabe. Beide Aspekte müssen bei der notwendigen Abwägung zwischen Individualinteressen und öffentlichem Interesse an Strafverfolgung bzw. Gefahrenabwehr beachtet werden. So aber Achelpöhler / Niehaus, DÖV 2003, 49 (56). So auch einige meiner früheren Äußerungen (vgl. Fn. 40). 47 Achelpöhler / Niehaus, DÖV 2003, 49 (57). 48 Besorgt darüber auch Limbach, Ist die kollektive Sicherheit der Feind der individuellen Freiheit?, S. 10. 45 46
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Eine ganz andere Frage ist es, inwieweit die polizeiliche Rasterfahndung mit den gesetzlichen Vorschriften vereinbar ist. Die Gesetzmäßigkeit einiger Rasterfahndungen ist in der Tat fragwürdig – schon ihre Eignung gerade zur Gefahrenabwehr kann zweifelhaft sein, auch sind die umsetzbaren Rastermerkmale zum Teil kaum brauchbar, weil sie viel zu große Mengen von Personen betreffen. Das Herausfinden der geeigneten Merkmale ist allerdings zunächst ein praktisches Problem, eine Herausforderung für die Kriminalpolizei und die Staatsanwaltschaft; sie brauchen dafür einen gewissen Spielraum, der auch die Möglichkeit einschließen muss, durch Versuch und Irrtum dem Ziel näher zu kommen. Scheitern sie, so ist es leicht, die Eignung nachträglich in Frage zu stellen, aber nicht immer ist das angemessen. – Soweit die einschlägigen Gesetze auf eine „gegenwärtige Gefahr“ abstellen, fehlt u.U. gerade diese Voraussetzung49.
3. Weitere Entwicklungen a) Zu den alltäglich benutzten Instrumenten polizeilicher Informationssammlung sind in den letzten Jahrzehnten andere hinzugekommen oder stärker genutzt worden. Zu denken ist an die längerfristige Observation, die ursprünglich wohl nur ein Mittel der Geheimdienste war, inzwischen aber in der Strafprozessordnung (§ 163 f.) und in den Polizeigesetzen (unter einschränkenden Voraussetzungen) ausdrücklich erlaubt wurde. Die strafprozessuale Observation richtet sich gegen einen Beschuldigten, während die polizeirechtliche immerhin tatsächliche Anhaltspunkte dafür voraussetzt, dass ein Schaden für wichtige Rechtsgüter droht und bestimmte Personen dafür verantwortlich sind50. Im Verhältnis zu dem „harmlosen“ Streifengang hat die Observation, vor allem wenn sie über einen längeren Zeitraum hin erfolgt – einen völlig anderen Charakter; sie greift erheblich in die Sphäre der Betroffenen ein. b) Auch die informationelle Abschöpfung von V-Leuten51 kann als Verdachtsgewinnungsmethode angesehen werden. Gelegentlich werden die V-Leute sogar als die typischen Vorfeld-Aufklärer bezeichnet. So formuliert Eckart Riehle, der 49 Vgl. insbes. Gusy (Fn. 1); Th. Groß, KJ 2002, 1 (2 ff.); Achelpöhler / Niehaus, DÖV 2003, 49; H. Lisken, NVwZ 2002, 513; Bäumler, in: Lisken / Denninger (Fn. 2), J 709; s.a. J 717. Generell zum Thema: J. Taeger / J. Simon, Rasterfahndung, 1981; S. Wanner, Die negative Rasterfahndung, 1985; ders., CuR 1986, 216, 274, 403; M. Siebrecht, Rasterfahndung, 1997; J. Welp (Fn. 28); Sokol bei Bäumler (Fn. 35), S. 188 ff.. Anders aber u. a. W. Bausback, BayVBl 2002, 713 ff.. Zur Rspr. vgl. die Übersicht bei Gusy, KritV 2002, 474 (480 ff.), P. Gola, RDV 2002, 85 sowie Kniesel, Die Polizei 2003, 89 ff. 50 Bäumler, in: Lisken / Denninger (Fn. 2), J 627 ff.. 51 Vgl. etwa § 185 Abs. 1 Nr. 3 Schleswig-Holsteinisches LVwG („die Aufnahme von Hinweisen von Personen, deren Zusammenarbeit mit der Polizei Dritten nicht bekannt ist“). Zur rechtlichen Problematik des V-Leute-Einsatzes s. etwa Bäumler, in: Lisken / Denninger (Fn. 2), J 372, zu den praktisch-kriminalistischen Fragen z.B. G. Bauer, Moderne Verbrechensbekämpfung, Bd. 2, 1970, S. 338 ff..
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V-Mann suche systematisch nach Tätern, obwohl eine Tat noch nicht vorliege52. Das dürfte für einen großen Teil der V-Leute nicht zutreffen; zu vermuten ist vielmehr, dass sie überwiegend von bereits begangenen Taten berichten und Täter, Mittäter und Verstecke verraten. Die Polizei hat immer Informationen von „Vertrauensleuten“ erhalten, die im kriminellen Milieu zu Hause sind, also Menschen, die gegen Geld oder aus anderen Gründen mit den Behörden zusammenarbeiten. – Von den V-Leuten zu unterscheiden sind die „Verdeckten Ermittler“. Hier handelt es sich um Beamte, die unter einer Legende in Kreise vermuteter Krimineller eindringen und dort Informationen sammeln. Auch ihr Einsatz ist inzwischen jedenfalls teilweise gesetzlich geregelt (§§ 110a-110e StPO und einige Landespolizeigesetze53); er soll der Aufklärung begangener schwerer Straftaten und der Abwehr oder „vorbeugenden Bekämpfung“ solcher Straftaten dienen. Da es zweifelhaft ist, ob solche Ermittler wirklich zur Gefahrenabwehr in der Lage sind, haben nicht alle Länder diese Befugnis eingeführt54. Die Verdeckten Ermittler dürfen wiederum nicht mit Agents Provocateurs verwechselt werden. Selbstverständlich ist es Polizeibeamten, die in der kriminellen Szene ermitteln sollen, nicht erlaubt, andere zu Straftaten anzustiften; gerade noch erträglich ist es, dass sie mit Drogenhändlern Scheinkäufe vereinbaren und diese dadurch überführen55. c) Die Verbesserung der elektronischen Datenübermittlung hat es ermöglicht, wesentlich schneller und sicherer festzustellen, wo bestimmte Personen sich jeweils aufhalten, und daraus „Bewegungsprofile“ zu erstellen. Aus Reisewegen und dabei aufscheinenden Kontakten lässt sich auf gefährliche Pläne oder begangene Straftaten schließen. Man spricht von der „polizeilichen Beobachtung“ als einem neuen Standardinstrument (früher „beobachtende Fahndung“)56. Nach § 163e StPO darf sich diese Anordnung nur gegen einen Beschuldigten richten, der Anfangsverdacht einer Straftat muss also gegeben sein. Die Voraussetzungen der präventiv-polizeilichen Beobachtung57 sind weniger streng; sie ist ein rechtlich problematisches Instrument der „vorbeugenden Kriminalitätsbekämpfung“ (s. o. I.). d) Für einige international bedeutsame Straftatkomplexe liefert das europäische Polizeiamt Europol Daten, die zur Gewinnung eines konkreten Verdachts genutzt KrimJ 1985, 44 (54). Vgl. Bäumler, in: Lisken / Denninger (Fn. 2), J 370 f. und J 709 ff.. 54 Nachweise bei Bäumler, in: Lisken / Denninger (Fn. 2), J 710 mit Fn. 829 – 833. Schleswig-Holstein hat auf die verdeckten Ermittler im Polizeirecht (wie auch ursprünglich auf die Rasterfahndung zur Gefahrenabwehr), bewusst verzichtet, vgl. § 185 LVwG i. d. F. v. 2. 6. 1992 (GVOBl S. 243). 55 Kritisch zur staatlich provozierten „Fallenstellerei“ durch verdeckte Ermittler Lisken, in: Lisken / Denninger (Fn. 2), K 122 mit Hinweisen auf die Rspr. des EGMR. S. a. Schreiber, NJW 1997, 2137 (2143). 56 Auch dazu Bull, Datenschutz (Fn. 40), S. 221 f. 57 S. z. B. § 13 HmbPolDVG. Kritisch insofern Bäumler, in: Lisken / Denninger (Fn. 2), J 714. 52 53
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werden können, nämlich Lagebilder aus den Analysedateien, die dort über bestimmte Straftatkomplexe angefertigt werden58.
4. Die Nachrichtendienste Die geheimen Dienste – Verfassungsschutz, Militärischer Abschirmdienst und Bundesnachrichtendienst – dürfen und sollen nach ihrem Auftrag, gefährliche „Bestrebungen“ aufzuklären, im „Vorfeld“ konkreter Verdachtsmomente Informationen sammeln. Sie sind von der Polizei sorgfältig abgetrennt und schirmen sich selbst ab – oft mehr als gut ist, ja sogar zum eigenen Schaden, weil sie dadurch in den Verdacht geraten, sich nicht streng genug an die rechtlichen Grenzen zu halten, die ihnen auferlegt sind. Die Rechtsgrundlagen der nachrichtendienstlichen Tätigkeit finden sich im Grundgesetz (Art. 73 Nr. 10 Buchst. b und c sowie Art. 87 Abs. 1 S. 2), in den Bundesgesetzen über den Verfassungsschutz, den Militärischen Abschirmdienst und den Bundesnachrichtendienst und in den Landesverfassungsschutzgesetzen. So enthält das Hamburger Verfassungsschutzgesetz59 einen zwölf Punkte umfassenden Katalog zulässiger nachrichtendienstlicher Mittel (§ 8 Abs. 2 S. 1). Dort sind u. a. die „verdeckt eingesetzten hauptamtlichen Mitarbeiter“ des Landesamtes und die „verdeckt eingesetzten Personen“ genannt, „die nicht in einem arbeitsvertraglichen oder öffentlich-rechtlichen Dienstverhältnis zum Landesamt für Verfassungsschutz stehen“ (Nr. 1 und 2), aber auch „planmäßig angelegte Beobachtungen (Observationen)“, „Bildaufzeichnungen“ und „verdeckte Ermittlungen und Befragungen“ (Nr. 3 – 5). Die genannten Gesetze werden durch Dienstanweisungen ergänzt. Die Dienstvorschrift des Bundesamtes für Verfassungsschutz über die zulässigen Methoden der Informationsbeschaffung ist ebenso wie die des Hamburger Landesamtes gesetzlich vorgeschrieben; bei ihrem Erlass ist das Parlamentarische Kontrollgremium zu beteiligen (§ 8 Abs. 2 S. 2 und 3 BVerfSchG, §§ 8 Abs. 2 S. 2 und 26 Abs. 4 Nr. 2 HmbVerfSchG). Die Datenverarbeitungsbefugnisse der Nachrichtendienste sind seit einigen Jahren bereichsspezifisch recht ausführlich geregelt. Inwieweit sich die Nachrichtendienste der Rasterfahndungsmethode bedienen, ist von außen kaum zu beurteilen. Zur Spionagebekämpfung wird vermutlich durchaus häufig mit Rastern gearbeitet. Dem Bundesnachrichtendienst wurde im Jahre 1994 im Rahmen des Verbrechensbekämpfungsgesetzes die Befugnis eingeräumt, durch Abhören von internationalen Ferngesprächen mit Hilfe von Suchwörtern „verdachtslose Fahndungen“ nach Straftätern vorzunehmen60; das ist nichts 58 Dazu M. Baldus, in: Koch (Hrsg.) (Fn. 1), S. 121 ff. (124 ff.); s. a. H. P. Bull, Europol, der Datenschutz und die Informationskultur, in: S. Lamnek / Th. Tinnefeld (Hrsg.), Globalisierung und informationelle Rechtskultur in Europa, 1998, S. 217 (226 f.). 59 V. 7. 3. 1995 (HmbGVBl S. 45). 60 J. Bizer, in: J. Bizer / H.-J. Koch (Hrsg.), Sicherheit, Vielfalt, Solidarität, 1998, S. 37
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anderes als wiederum eine neue Methode der Verdachtsgewinnung. Das BVerfG hat sie mit gewissen Einschränkungen gebilligt61. Auch die neuen Befugnisse der Dienste nach dem Terrorismusbekämpfungsgesetz 2002 (Auskünfte über Finanzverbindungen und Telekommunikationsvorgänge) erlauben die „Rasterung“ von Datenbeständen in großem Umfang62. Die für die Nachrichtendienste typische Geheimhaltung nimmt den Betroffenen die Möglichkeit, sich gerichtlich zu wehren, und ist deshalb vom BVerfG für die Telekommunikationsüberwachung im Grundsatz missbilligt worden63; der Gesetzgeber hat nachgebessert (§ 12 G 10 n.F.).
V. Wesentliche Rechtsprobleme der Verdachtsgewinnung 1. Der Gefahrenverdacht im Polizeirecht Versuche, die Probleme der sicherheitsbehördlichen Verdachtsgewinnung mit rechtsdogmatischen Mitteln zu bewältigen, sind im Polizeirecht unter dem Begriff des „Gefahrenverdachts“ unternommen worden. Diese Diskussion kann hier nicht nachgezeichnet werden. Ihr Ergebnis ist – bei Differenzen in der Begründung – inzwischen im wesentlichen unstreitig. Als Gefahrenverdacht wird eine Konstellation bezeichnet, „bei der die Polizei- oder Ordnungsbehörden [ . . . ] über tatsächliche Anhaltspunkte verfügen, die auf eine Gefahr hindeuten, sie sich aber bewusst sind, dass ihre Erkenntnisse unvollständig sind und eine Gefahr daher möglicherweise nicht vorliegt“64. Damit wird sozusagen ein „Verdacht vor dem Verdacht“ gefordert. Das ist sicher logisch richtig – niemand wird eine Verdachtssituation annehmen, ohne irgendwelche Indizien dafür zu erkennen. Die grundsätzlichen Bedenken gegen Vorfeldermittlungen sind durch diese Konstruktion aber nicht ausgeräumt, zumal das Vorliegen dieses „Vorverdachts“ wohl nicht immer überprüfbar ist. Bei strenger Beurteilung handelt es sich hier um verdachtlose Polizeikontrollen, die nach verbreiteter Ansicht mit den bisher geltenden Grundsätzen des Polizeirechts nicht vereinbar sind65. „Das Polizeirecht geht BVerfGE 100, 313. § 8 Abs. 5 – 11 BVerfSchG, § 10 Abs. 3 MAD-Gesetz und § 8 Abs. 3a BND-Gesetz i.d.F.d. Terrorismusbekämpfungsgesetzes v. 9. 1. 2002 (BGBl. I S. 361). 63 BVerfGE 30, 1 (31); 100, 313 (361); anders jedoch für die „strategische Kontrolle“ BVerfGE 67, 157 (184 f.). 64 W.-R. Schenke, Gefahrenverdacht und polizeirechtliche Verantwortlichkeit, in: FS für Karl Heinrich Friauf, 1996, S. 455 m. w. N.; ders., Polizei- und Ordnungsrecht, 2. Aufl. 2003, S. 43. 65 S. oben II. mit Fn. 14 / 15. Ch. Möllers hält solche Befugnisse für „eine neue Dimension polizeilichen Zugriffs“ (NVwZ 2000, 382). H.-H. Trute spricht von der „Erosion des klassischen Polizeirechts durch die polizeiliche Informationsvorsorge“ (in: Rechtstheorie und Rechtsdogmatik im Austausch. Gedächtnisschrift für Jeand’Heur, 1996, S. 403 ff.). 61 62
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historisch von der Eingriffsschwelle der konkreten Gefahr aus. Objekt der jeweiligen Maßnahme ist damit prinzipiell der Störer. Der Nichtstörer darf nur dann in Anspruch genommen werden bzw. Ziel polizeilicher Maßnahmen sein, wenn eine der Voraussetzungen des polizeilichen Notstandes vorliegt“66. Dass dem Polizeirecht bei dem Thema „Gefahrenverdacht“ „eine schmale Gratwanderung abverlangt“ wird67, ist offensichtlich. Allerdings betreffen die Beispiele, die in diesem Zusammenhang regelmäßig angeführt werden, fast ausschließlich vermutete Gefahren für andere Rechtsgüter als die informationelle Selbstbestimmung, so etwa Gefahren für Leib und Leben oder die Gesundheit, und die Informationen sollen nicht zur Vorbereitung künftiger Aktivitäten, sondern zur aktuellen Gefahrenabwehr gesammelt werden68. Die Zulässigkeit der Untersuchung vermutlich kontaminierter Böden erfordert andere Überlegungen als die kriminalpolizeiliche Suche nach Mordverdächtigen.
2. Verfassungsgarantie der Verdachtsschwelle? Die entscheidende Frage ist also, ob der eingangs bezeichnete Grundsatz, dass die Polizei sich nur für Verdächtige interessieren darf, geltendes Recht darstellt und auch durch Gesetz nicht geändert werden darf. Ist also die polizeirechtliche Verdachtsschwelle verfassungsrechtlich vorgegeben? Die Frage ist zu verneinen. Die Rechtstradition ist nicht verfassungsrechtlich festgeschrieben; es gibt keinen Verfassungsrechtssatz, wonach dem Gesetzgeber verboten wäre, neue Eingriffsbefugnisse von anderen (geringeren) Voraussetzungen abhängig zu machen als vom Vorliegen des konkreten, gegen eine bestimmte Person gerichteten Verdachts einer Gefahr oder Straftat. Auch die meisten derjenigen Autoren, die sich für das Festhalten an der Verdachtsschwelle aussprechen, behaupten nicht, dass das Abweichen von dieser Regel zur Verfassungswidrigkeit der betreffenden Norm führe69. Für das strafrechtliche Ermittlungsverfahren kann nichts anderes gelten; die Befugnis zur Vorbereitung auf künftige Strafverfolgung sollte nicht stärker eingeschränkt werden als die Gefahrenabwehrkompetenz. Einschränkungen des gesetzgeberischen Erfindungsrechts können sich aber aus Grundrechten der Betroffenen ergeben70; unter diesem Aspekt ist die verfassungsrechtliche Prüfung fortzusetzen. Riegel (Fn. 15), S. 196. Schenke (Fn. 64), S. 456. 68 Vgl. nochmals Schenke (Fn. 64), S. 470 f. 69 Ausnahme: Lisken, z. B. NVwZ 2002, 513 (515). Demgegenüber betont u. a. B. Kastner, VerwArch 92 (2001), S. 216 ff. (259 f.), dass „verdachtsunabhängige Kontrollen nicht per se verfassungswidrig sind, sondern die Folgemaßnahmen entsprechend kritisch zu betrachten sind“; ebenso Trute (Fn. 65), S. 414. S. a. die Bemerkung in BVerfGE 100, 313 (383 oben). Gegen die „verfassungsrechtliche Überhöhung“ des einfachen Rechts wendet sich auch Engelken in seiner Anmerkung zu LVerfG Mecklenburg-Vorpommern, DVBl. 2000, 262 (269 ff.). 70 So auch M. Möstl, DVBl. 1999, 1394 (1398). 66 67
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3. Informationssammlung auf Vorrat? Die staatliche Informationsvorsorge wird von verschiedenen Autoren als eine „eigenständige“ oder „genuine“ Staatsaufgabe angesehen, die in gewisser Weise zur Sammlung und Auswertung auch personenbezogener Daten legitimiere71. Aber verstößt nicht die „Informationsvorsorge“ für eine künftige Aufklärung derzeit noch unbekannter Straftaten oder Gefahrenlagen gegen das Verbot des Sammelns personenbezogener Daten „auf Vorrat“? Das BVerfG hat bekanntlich festgestellt, dass „die Sammlung nicht anonymisierter Daten auf Vorrat zu unbestimmten oder noch nicht bestimmbaren Zwecken“ mit dem Gebot bereichsspezifischer und präziser Zweckbestimmung nicht zu vereinbaren wäre72. Daraus folgt die Frage, ob die bereichsspezifischen Regelungen über die Registrierung „künftiger Straftäter“ in der StPO und den Polizeigesetzen des Bundes und der Länder73 – hinreichend genau die Zwecke bestimmen. Ist z. B. der Zweck „bestimmt“ genug, wenn § 8 Abs. 2 BKAG die Speicherung von Daten über verdächtige Personen unter der Voraussetzung erlaubt, dass „Grund zu der Annahme besteht, dass Strafverfahren gegen den Beschuldigten oder Tatverdächtigen zu führen sind“? Und wie ist die neue Ermächtigung in § 7 Abs. 2 BKAG zu beurteilen, „Daten zur Ergänzung vorhandener Sachverhalte oder sonst zu Zwecken der Auswertung“ zu erheben? Der Gesetzgeber sieht hier und anderswo offenbar in solchen Dateien keine „Vorratsspeicherung zu unbestimmten Zwecken“ oder er hat das datenschutzrechtliche Prinzip des Verbots von Vorratsdateien nicht akzeptiert74. Für die grundsätzliche Zulässigkeit solcher Dateien sprechen gute praktische Gründe, vor allem dass die Sicherheitsbehörden mit ihren Ermittlungen nicht jeweils beim Nullpunkt vollkommener Unwissenheit beginnen können. Aber die Zweifel, ob derartige Ermächtigungen nicht doch zu weit gehen, sind damit nicht ausgeräumt.
71 R. Scholz / R. Pitschas, Informationelle Selbstbestimmung und staatliche Informationsverantwortung, 1984, insbes. S. 103 ff., 125 ff.; J. Aulehner, Polizeiliche Gefahren- und Informationsvorsorge, 1998, S. 51; s.a. U. Di Fabio, in: Maunz / Dürig, GG, Art. 2 Abs. 1 Rn. 179. 72 BVerfGE 65, 1 (46) – Volkszählungs-Urteil. Vgl. dazu Simitis, Kommentar zum BDSG, 5. Aufl. 2003, § 14 Rn. 19 / 20 (ohne Bearbeiterangabe): „Der vorgesehene Verwendungszweck muss also feststehen, lediglich der Zeitpunkt der Aktualisierung der Erforderlichkeit im Einzelfall kann bei manchen Aufgaben zunächst offen bleiben“ (Rn. 19) und: „Gehört die Gefahrenvorsorge zu den Aufgaben der Stelle (was gesondert zu prüfen ist), so sind – im Rahmen des Verhältnismäßigkeitsprinzips – auch die Speicherung, Veränderung und Nutzung personenbezogener Daten nur zulässig, soweit die Aufgabenerfüllung eine datenmäßige Vorsorge erfordert . . .“ (Rn. 20). Danach ist das Verbot der Vorratsspeicherung für die heiklen Fälle in praktisch bedeutsamer Weise relativiert. 73 Z. B. §§ 8, 20. BKAG, 29 Abs. 2 BGSG. S. oben IV. 1. 74 Kritisch z. B. Rachor, in: Lisken / Denninger (Fn. 2), F 109 sowie Bäumler ebd. J 578 f., 583 und 598 f., insbes. 607 ff. (verfassungsrechtliche Bedenken). S. aber auch K. Waechter, JZ 2002, 854 (857 mit Fn. 27).
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Eine weitere verfassungsrechtliche Prüfung ist also auch auf diesem Wege unumgänglich. Man geht dabei sicher, wenn man sich an die Methode des BVerfG hält, also fragt, welches Grundrecht oder welche Grundrechte beeinträchtigt sein können und ob dafür eine verfassungskonforme Rechtfertigung gegeben ist.
4. Die Maßstäbe des Verfassungsrechts a) Legales Verhalten als „Schutzwall“ gegen den Staat? Eine grundsätzliche Position nimmt Dieter Grimm ein, wenn er meint, der Staat dürfe sich überhaupt nur um illegales Verhalten der Menschen kümmern; der Einzelne müsse den Staat durch legales Betragen auf Distanz halten können75. Er beklagt, dass dies heute nicht mehr möglich ist. Seiner Feststellung, der Staat mische sich zunehmend in das private Leben der Menschen ein, mag man zustimmen – obwohl viel dafür spricht, dass gerade dies heute nicht der Fall sei, sondern die private Sphäre der Individuen gegen den Staat und seine Organe besser denn je abgeschirmt ist, die Einmischung in die Lebensgewohnheiten der Menschen vielmehr von gesellschaftlichen Kräften ausgeht. Der historische Vergleich ist überdies offensichtlich falsch: Der Staat hat sich in früheren Epochen keineswegs weniger mit sich legal verhaltenden Bürgern befasst, er hat im Gegenteil schon immer – legitimerweise – Arbeit und Umsätze, Kapitalverkehr und Dienstleistungen besteuert und zu diesem Zweck zahllose Informationen gefordert, Auskunftspflichten über geschäftliche und private Vorgänge (z. B. Wirtschafts- und Verbrauchsstatistiken) statuiert und durchgesetzt sowie Melde- und Ausweispflichten verschiedener Art bis hin zu Straßenverkehrskontrollen ohne Anlass vorgeschrieben. Mit der Idee eines in der Gemeinschaft lebenden Menschen wäre es vollends unvereinbar, wenn rechtmäßiges Verhalten einen „Schutzwall“ gegen jegliche staatliche Kenntnisnahme von dem Individuum begründete.
b) Mitwirkungs- und Duldungspflichten nur im Notstandsfall? Ähnlich wie Grimm argumentiert Hans Lisken, wenn er darauf besteht, der Einzelne brauche polizeirechtliche Belastungen im Vorfeld eines konkreten Verdachts grundsätzlich nur im Falle des Notstandes hinzunehmen. Mitwirkungs-, Auskunftsund Ausweispflichten ließen sich polizeirechtlich nur begründen, soweit der Betroffene nach den Gefahrenindizien als Störungsverantwortlicher oder Zeuge oder Nothelfer in Betracht komme76. Allenfalls noch die räumliche oder soziale Nähe zum Tatort oder Tatgeschehen könnten es gestatten, von der an sich zu fordernden 75 D. Grimm, in: ders., Die Zukunft der Verfassung, 1991, S. 397 ff. (418), auch in: U. K. Preuß, Zum Begriff der Verfassung, 1994, S. 277 f. (283). 76 In: Lisken / Denninger (Fn. 2), C 42; auch in NVwZ 2002, 513 (515 f.).
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Störereigenschaft abzusehen und als eine Form von Nothilfe eine Duldungspflicht anzunehmen77. Das ist sehr einleuchtend und sicherlich eine geeignete Grenzziehung, um schikanöse oder missbräuchliche Eingriffe der Behörden in die Individualsphäre auszuschließen. Gegen die Anknüpfung an die „Nähe zum Geschehen“ spricht aber, dass individuelle Beziehungen im Zeitalter der globalen Vernetzung der Informationssysteme heute auch zwischen Personen bestehen, die sich weit voneinander entfernt aufhalten. Die Informationstechnik relativiert die Bedeutung von räumlicher und sozialer Nähe und begründet informationelle Nähe der ganzen Welt. Für die Sicherheitsbehörden bedeutet diese technische Globalisierung, dass nicht nur die Akteure, Urheber und Beteiligten legaler geschäftlicher Transaktionen über den Globus verstreut sind, sondern auch die Täter, Anstifter, Gehilfen und Begünstigten krimineller Aktivitäten. Auch in diesem Zusammenhang erweist es sich deshalb als notwendig, die grundrechtliche Überprüfung umfassender anzulegen. So plausibel die polizeirechtliche Beschränkung auf Notstand und Nothilfe ist – eine überzeugende Konfliktlösung setzt die möglichst vollständige Abwägung zwischen den zu erwartenden Lasten für den Einzelnen und den Vorteilen für die Allgemeinheit voraus.
c) Betroffene Grundrechte Das BVerfG hat uns gelehrt, dass aus Art. 2 Abs. 1 GG ein Grundrecht auf Unbehelligtsein abzuleiten ist – eine Grundfreiheit gegenüber dem Staat und von Belastungen durch den Staat, die im Laufe der Zeit immer formaler verstanden wurde und sich von dem persönlichkeitsrechtlichen Ursprung inzwischen weit entfernt hat78. Der Rückgriff auf das Recht der informationellen Selbstbestimmung als einen weiteren Bestandteil des Art. 2 Abs. 1 GG (i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG) ist angesichts dieser extensiven Auslegung der allgemeinen Handlungsfreiheit kaum noch erforderlich. In Betracht kommen auch noch spezielle Grundrechte wie Art. 4 Abs. 1 und 2 (i.V.m. Art. 140 GG, Art. 136 Abs. 3 WRV), Art. 4 Abs. 3, Art. 5, 8, 9, 10, 12 Abs. 1 GG79. Entscheidend ist jedoch bei allen grundrechtlichen Ansätzen, ob in den Schutzbereich „eingegriffen“ wird oder nicht. Der Eingriffsbegriff wird inzwischen einhellig so weit verstanden, dass es kaum noch eine Form des Umgangs mit personenbezogenen Daten gibt, die nicht „Eingriff“ ist, mag auch das Gewicht minimal sein80. Dazu hat auch der Hinweis des BVerfG beigetragen, In: Lisken / Denninger (Fn. 2), C 31. Vgl. etwa die insofern wohl radikalste Entscheidung BVerfGE 74, 129 (151 ff.), wo die wirtschaftliche Handlungsfreiheit eines Unternehmens und seiner Pensionskasse auf der Grundlage des Art. 2 Abs. 1 GG gegen eine Verletzung des Vertrauensschutzprinzips durch das Bundesarbeitsgericht geschützt wurde. 79 Dazu H. P. Bull, Verfassungsrechtlicher Datenschutz, in: Bieber / Bleckmann / Capotorti u. a. (Hrsg.), Das Europa der zweiten Generation, GS Sasse, Bd. 2, 1981, S. 869 ff. (881 ff.). 77 78
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dass es „unter den Bedingungen der automatischen Datenverarbeitung“ kein „belangloses“ Datum mehr gebe81. Diese Vorstellungen vom Schutzbereich und von der Schutzbedürftigkeit von Informationen führen notwendigerweise dazu, dass die Informationsinteressenten sich auf die Einschränkungsmöglichkeiten berufen, die das BVerfG – richtigerweise und unausweichlich – zugelassen hat82. Damit haben sie in der politischen und administrativen Praxis – gegen alle Kritik von Datenschutzbeauftragten und Medien – fast immer Erfolg gehabt. Es hat wenig Sinn und jedenfalls kaum Aussicht auf Erfolg, die allzu weite Schutzbereichsbestimmung zu kritisieren und nach präziseren Umschreibungen zu suchen83. Dass die Kernsätze des Volkszählungs-Urteils in unkritischer Weise verallgemeinert worden sind, sollte allerdings schon deshalb wahrgenommen werden, damit sie nicht immer wieder formelhaft reproduziert werden. Was als Mahnung vor politischem Missbrauch der Datenverarbeitung richtig war – nämlich der Hinweis auf mögliche Einschüchterung oppositioneller Meinungen –, bildet keinen geeigneten Ausgangspunkt für die Kriminalitätsbekämpfung in Zeiten globaler Netze. 5. Die Abwägung Um die praktische Konkordanz zwischen individuellen Grundrechten und entgegenstehenden öffentlichen Interessen herzustellen, ist eine Abwägung erforderlich84. Auf diese Weise kommt stets das Verhältnismäßigkeitsprinzip ins Spiel. Soweit nicht die Eignung oder Erforderlichkeit der Maßnahme bestritten wird85, entscheidet sich die Zulässigkeit der polizeilichen und nachrichtendienstlichen Maßnahmen an der Einschätzung der Eingriffstiefe. Die Abwägung der betroffenen Rechtsgüter fällt ganz unterschiedlich aus, je nachdem wie der Eingriff gewichtet wird. Wohlgemerkt: Entscheidend ist das Gewicht des Eingriffs in die Sphäre des Betroffenen, nicht der Rang und die Bedeutung des betroffenen Grundrechts. In der Literatur wird häufig der hohe Rang des Persönlichkeitsrechts betont – aber diese Hervorhebung des beeinträchtigten Rechts besagt für die erforderliche Ab80 Zur Kritik daran s. z. B. K. Rogall, Informationseingriff und Gesetzesvorbehalt im Strafprozessrecht, 1992, S. 56 ff.. 81 BVerfGE 65, 1 (45). 82 BVerfGE 65, 1 (43 ff.). 83 Man denke an die vergeblichen Bemühungen von Grimm in Sachen „Freie Entfaltung der Persönlichkeit“ (BVerfGE 80, 137 [164 ff.] – Abweichende Meinung zu „Reiten im Walde“). Auch die differenzierenden Bemerkungen von Hoffmann-Riem in Sachen „Recht auf informationelle Selbstbestimmung“ (u. a. AöR 123 [1998], S. 513 – 540) sind kaum zur Kenntnis genommen worden. 84 So für die „Vorfeldbefugnisse“ auch R. P. Schenke, AöR 125 (2000), S. 1 (31 f.), sowie M. Möstl, DVBl. 1999, 1394 (1398). 85 So zahlreiche Stimmen zur präventiv-polizeilichen Rasterfahndung, vgl. oben Fn. 49. Anders aber z. B. OLG Düsseldorf, DÖV 2002, 436 (438).
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wägung mit anderen Rechtsgütern wenig oder nichts, solange der Eingriff harmlos ist. Auch bei der Rasterfahndung kommt es, wie schon ausgeführt (s. oben IV. 2.), rechtlich auf die individuelle Betroffenheit an und nicht auf die Zahl der Betroffenen – trotz ihrer Bedeutung für die öffentliche Meinung, für das „öffentliche Klima“ im Gemeinwesen und damit für die politische Bewertung. Bei einer – noch dazu geheimen – Massendatenverarbeitung geschehen in der Regel geringere Eingriffe in das informationelle Selbstbestimmungsrecht als bei individueller Adressierung der Betroffenen. Das Gesetz muss freilich typisieren, also einen ungefähren „Mittelwert“ der Gewichtung zugrundelegen. Eingriffe in immaterielle Rechtsgüter wie die informationelle Selbstbestimmung werden von den Menschen höchst unterschiedlich wahrgenommen, das Gefühl für die Verletzung eigener Rechte variiert stark. Es darf nicht auf die niedrigste Empfindlichkeitsschwelle abgestellt werden. Wichtiger ist, die relative Schwere des Eingriffs zu bewerten. Dabei ergibt sich u. a., dass z. B. die Anordnung von Untersuchungshaft, der Observation oder der Telekommunikationsüberwachung wesentlich schwerer wiegen als die Einbeziehung von Personen in eine Rasterfahndung oder eine vorübergehend angelegte Arbeitsdatei. Nicht ganz leicht wiegt es jedoch, wenn an einer Kontrollstelle oder an einem gefährlichen oder gefährdeten Ort die Personalien festgestellt oder die Daten einer Person in eine auf Dauer verfügbare kriminalpolizeiliche oder nachrichtendienstliche Datei aufgenommen werden. Auf der letzten Stufe der Verhältnismäßigkeitsprüfung kommt die Bedeutung der angestrebten Ziele zur Geltung. Ist das Gewicht der Belastung für die Betroffenen sehr gering – wie etwa bei der ersten Stufe der Rasterfahndung, der bloßen „Einbeziehung“ in die Ausgangsmenge –, das Ziel jedoch hochrangig – z. B. die Aufklärung terroristischer Vorhaben –, dann spricht alles für die Zulässigkeit der Maßnahme. Was die konkrete Sicherheitslage angeht, so zweifelt wohl niemand daran, dass der Terrorismus eine schwere aktuelle Bedrohung darstellt, deren Abwehr erhebliche Anstrengungen und eben auch gewisse Opfer an individueller Freiheit von staatlicher Behelligung erzwingt. Andererseits sollte in die Waagschale fallen, dass die Gefahr des Missbrauchs staatlicher Befugnisse zur Unterdrückung politischer Opposition – ein wichtiger Grund für eine strenge Datenschutzpraxis86 – derzeit in Deutschland nicht besteht und auch nicht zu erwarten ist. Kein Kritiker von Staat oder Regierung muss befürchten, dass seine Handlungen und Äußerungen (soweit sie nicht strafbar sind) von der Polizei systematisch registriert und gegen ihn verwendet werden, und es ist auch nicht erkennbar, dass die Nachrichtendienste ihren Auftrag, extremistische Bestrebungen zu bekämpfen, missbrauchen.
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VI. Datenschutzprinzipien als Rechtsschutz der Betroffenen In Rechtsprechung und Literatur überwiegt im Ergebnis die Tendenz, neue Informationsverarbeitungsmethoden nicht als verfassungswidrig zu verbieten. Vielmehr wird häufig zwar auf ihre Bedenklichkeit hingewiesen, aber daraus wird kein eindeutiges Verbot entsprechender Praktiken hergeleitet. Umso wichtiger ist in dieser Situation die Einhaltung allgemeiner datenschutzrechtlicher Prinzipien. Den Betroffenen kann auf diese Weise ein erhebliches Maß an Rechtsschutz gewährleistet werden. Datenschutzrechtliche Kautelen gewährleisten, dass die Eingriffe in die Sphäre der Betroffenen gering bleiben und dass sie keine unzumutbaren Nachteile verursachen. So ist an die von Rechtsprechung und Literatur entwickelten Regeln zu erinnern, die das Handeln der Behörden eingrenzen und an Verfahrensvoraussetzungen knüpfen und damit zur Beachtung individueller Interessen beitragen. Zum einen gehören dazu die an die Gesetzgebung gerichteten Grundsätze: neben der schon behandelten Verhältnismäßigkeit vor allem die Bestimmtheit der Ermächtigungsnormen (d. h. auch eine entsprechende Differenzierung der Eingriffsschwelle und -intensität je nach Art der Maßnahme87), das Trennungsgebot, das die Abschottung der Polizei gegenüber den Nachrichtendiensten und umgekehrt fordert, sowie die Garantie der Kontrolle durch unabhängige Organe (Datenschutzbeauftragte und parlamentarische Geheimdienstkontrolle)88. Zum anderen hat die Verwaltung die Regeln des Datenschutzrechts zu beachten, also die Daten unter den gesetzlichen Voraussetzungen zu sperren oder zu löschen, Auskunftsansprüche der Betroffenen zu erfüllen und für die interne und externe Überwachung der ordnungsmäßigen Datenverarbeitung zu sorgen. Bei einer Massendatenverarbeitung wie der Rasterfahndung kann freilich kein Auskunftsanspruch über die gespeicherten eigenen Daten eingeräumt werden, weil eine Auskunft während der Ermittlungen unsinnig wäre, für die Zeit danach aber kein Rechtsschutzbedürfnis besteht – denn entweder sind strafprozessuale oder polizeiliche Ermittlungen eingeleitet worden und es sind die dagegen vorgesehenen Rechtsbehelfe möglich, oder die Daten müssen gelöscht und dürfen gerade nicht für Auskunftszwecke aufbewahrt werden Über die Umsetzung dieser Gebote wird es auch in Zukunft Auseinandersetzungen geben. So verdient eine Ermächtigung wie die in § 8 Abs. 5 BKAG Kritik – erlaubt sie doch die Speicherung von Daten unter der sehr pauschalen Voraussetzung, dass „dies erforderlich ist, weil bestimmte Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass die Betroffenen Straftaten von erheblicher Bedeutung begehen werden“. Zumindest sollten in derartigen Vorschriften die Arten von Straftaten beTh. Groß, KJ 2002, 1 (10 ff.). Bemerkenswert auch die Empfehlung R (87) 15 des EG-Ministerkomitees an die Mitgliedstaaten über die Nutzung personenbezogener Daten im Polizeibereich v. 17. 9. 1987, abgedruckt bei M. Baldus (Hrsg.), Polizeirecht des Bundes mit zwischen- und überstaatlichen Rechtsquellen, 2. Aufl. 2000, Nr. 92 (mit einem auffallenden Vorbehalt des Vertreters der Bundesrepublik Deutschland!). 87 88
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nannt werden, zu deren Bekämpfung die Dateien angelegt werden dürfen. Dass die Rasterfahndung von den meisten Ländern und vom BKA nicht auf polizeirechtliche Grundlagen gestellt werden kann, ist wohl – trotz abweichender Entscheidungen verschiedener Gerichte89 – inzwischen herrschende Ansicht; eine konkrete, „gegenwärtige“ Gefahr, wie sie von den Polizeigesetzen überwiegend gefordert wird, lag in Deutschland nach dem 11. September wohl tatsächlich nicht vor. Wir wissen allerdings nicht alles, was die Ermittlungsbehörden wissen; das war vermutlich auch der Grund dafür, dass einige Gerichte die Rasterfahndungen unbeanstandet gelassen haben. Achelpöhler / Niehaus bezweifeln, dass das BKA die Daten aus früheren Rasterfahndungen nach Abschluss der Aktion gelöscht hätten, und befürchten, dass auch jetzt „die Daten Zehntausender unbescholtener Bürger im Fahndungscomputer des BKA gespeichert werden könnten“90. Das ist freilich sehr unwahrscheinlich; denn zur Fahndung sind diese „Zehntausende“ ganz gewiss nicht ausgeschrieben; die Frage ist nur, ob und wann in Bezug auf die „Recherchefälle“ (die „Schnittmenge“) eine Löschungspflicht eintritt. – Eine besondere Untersuchung wäre auch für die Einschätzung der Informationssammlung durch das Europäische Polizeiamt Europol nötig. Auch hier sind gewisse Zweifel angebracht, ob die allgemeinen Verfassungsprinzipien der Mitgliedstaaten derartig umfassend angelegte Informationssammlungen noch erlauben91.
VII. Bilanz und künftige Entwicklungsmöglichkeiten Dass die Befugnisse der Sicherheitsbehörden immer mehr ausgeweitet werden, ist kein Naturgesetz92. Die Sicherheitsbehörden sind auch nicht „unersättlich“93. Jedenfalls können Wissenschaft und Politik gegensteuern und darauf achten, dass diese Entwicklung nach klaren rechtsstaatlichen Vorgaben und vor allem auf der Grundlage realistischer Lageeinschätzungen gesteuert wird. Die im Mittelpunkt des Interesses stehende Rasterfahndung ist weder ein polizeiliches Wundermittel noch eine Bedrohung unserer freiheitlichen Ordnung. Auch die übrigen Methoden polizeilicher und nachrichtendienstlicher Verdachtsgewinnung können rechtlich abgesichert und dabei in angemessener Weise eingeschränkt werden. Zu diesem Zweck ist – von einigen kleineren Korrekturen und Klarstellungen abgesehen – keine gesetzgeberische Aktivität mehr erforderlich. Die Sicherheitsbehörden und ihre Kontrollinstanzen können das rechtsstaatlich Gebotene tun, indem sie das gel89 Vgl. nochmals die Angaben in Fn. 49 und 85. S.a. die Zusammenstellung von Bizer, in: Datenschutz und Datensicherheit 27 (2003), S. 44 – 51 sowie VG Trier, NJW 2002, 3268. 90 DÖV 2003, 49 (57). 91 Vgl. meine Beiträge in: KritV 1995,313 und in: Lamnek / Tinnefeld (Fn. 58). 92 Ähnlich aber Denninger, StV 2002, 96 (102). 93 So aber Limbach, Ist die kollektive Sicherheit der Feind der individuellen Freiheit? (Fn. 37), S. 8.
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tende Verfassungs- und Gesetzesrecht zur Geltung bringen, und die Gerichte verfügen über die nötigen rechtlichen Maßstäbe und Befugnisse, um etwa dennoch geschehendes Unrecht auszuräumen. Dass darüber hinaus zur Bekämpfung der aktuellen Gefahren auch noch andere als polizeiliche und nachrichtendienstliche Aktivitäten erforderlich sind, ist selbstverständlich. Jutta Limbach hält es für einen „Mangel unseres Krisenmanagements, dass die Politik der inneren Sicherheit weitgehend abgekoppelt von Strategien agiert, die im Feldzug gegen den Terrorismus eine zivile, eine politische Front eröffnen“ – wie etwa „der Dialog der Kulturen und der Religionen“, die bei den Wurzeln des Terrorismus ansetzen94. In der Tat darf man von den Sicherheitsbehörden erwarten, dass sie um diese Zusammenhänge wissen und dass sie ihre Maßnahmen nicht etwa kontraproduktiv gestalten. Aber nicht zuletzt um der Rechtsstaatlichkeit willen sollten die Aufgaben und Befugnisse getrennt bleiben. Polizei und Nachrichtendienste sind für den interkulturellen Dialog nicht kompetent. Sie sollen mit ihren hoheitlichen Befugnissen ihre Aufgaben zur Bewahrung der inneren Sicherheit erfüllen – in dem Bewusstsein, dass wir inneren Frieden, Demokratie und Freiheit nur im Zusammenwirken aller staatlichen und gesellschaftlichen Kräfte schützen können.
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Ebd. (Fn. 93), S. 11.
Erosionsprozesse des Verfassungsstaates Von Horst Dreier
I. Eingrenzung des Themas Der Titel meines Beitrages spannt ein sehr weites Dach, unter dem sich viele Themen und Aspekte versammeln lassen. Wer die Entwicklung des Staats- und Verfassungsrechts in Deutschland auch nur beiläufig verfolgt, wird um einschlägige Beispiele nicht verlegen sein. Je nach gesellschaftspolitischer Ausrichtung wird man hier vielleicht mit Blick auf einige Gesetzgebungsprojekte der abgelaufenen Legislaturperiode einerseits eine schleichende Aushöhlung des Leitbildes von Ehe und Familie1 oder – mit Blick auf Stammzellforschung und andere brisante bioethische Fragen – andererseits einen beklagenswerten Abfall vom Menschenbild des Grundgesetzes konstatieren2. Die Aushöhlung oder die Überbetonung individueller Grundrechte – je nach Standort – wäre ein weiteres Thema: Kruzifix- und Soldatensind-Mörder-Entscheidungen auf der einen3, die Judikatur zu den Enteignungen in der damaligen SBZ4 auf der anderen Seite zeigen, wie tief verletzt hier Teile der Öffentlichkeit (vor allem die unmittelbar Betroffenen) reagieren und wie rasch sie die Basis des Grundgesetzes als erodiert ansehen. Die Verfassungsänderungen des Asyl- und Wohnungsgrundrechts5 haben, um weitere Exempel zu nennen, einmal 1 Kritisch zu einschlägigen Gesetzgebungsprojekten und verfassungsgerichtlichen Entscheidungen etwa W. Pauly, Sperrwirkungen des verfassungsrechtlichen Ehebegriffs, NJW 1997, S. 1955 ff.; R. Scholz / A. Uhle, „Eingetragene Lebenspartnerschaft“ und Grundgesetz, NJW 2001, S. 393 ff.; im Überblick R. Gröschner, in: H. Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. I, 2. Aufl. 2004, Art. 6 Rn. 86 ff. 2 Repräsentativ die Position der Minderheit im Nationalen Ethikrat zur Ablehnung einer begrenzten Zulassung der PID. – Nüchtern und abgewogen zum Komplex R. Schröder, Die Forschung an embryonalen Stammzellen, Berliner Theologische Zeitschrift 19 (2002), S. 280 ff. 3 BVerfGE 93, 1 – Kruzifix; BVerfGE 93, 266 – Soldaten sind Mörder. Zur Einordnung der Rolle des Bundesverfassungsgerichts bei schwierigen gesellschaftlichen und gesellschaftspolitischen Fragen siehe etwa H. Schulze-Fielitz, Das Bundesverfassungsgericht in der Krise des Zeitgeists, AöR 122 (1997), S. 1 ff. 4 Einige Hinweise dazu bei H. Dreier, Verfassungsstaatliche Vergangenheitsbewältigung, in: P. Badura / H. Dreier (Hrsg.), FS 50 Jahre Bundesverfassungsgericht, Bd. I, 2001, S. 159 ff. (186 ff.). 5 Art. 16a GG wurde vom Bundesverfassungsgericht im Ergebnis überzeugend als Verfassungsänderung gewertet, die nicht an Art. 79 III GG scheiterte: BVerfGE 94, 49 (103 f.); 94,
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mehr die Frage aufgeworfen, was eigentlich den unantastbaren Kern der Grundrechte ausmacht – bzw. ob es einen solchen überhaupt gibt – oder ob auch hier politische (Tages-?)Bedürfnisse letztlich gegenüber Verfassungsgarantien obsiegen. Überhaupt das Thema der Verfassungsänderungen. Bald wird es wohl die 52. ihrer Art geben, in gerade einmal 55 Jahren Existenz der Bundesrepublik6. Wenn man das mit den USA vergleicht, wirkt das Grundgesetz weniger wie ein festes, unverrückbares Fundament des Staates, sondern eher wie eine ewige Baustelle. Doch ganz abgesehen von der schieren Zahl, von der man sich im übrigen nicht irreführen lassen sollte, hat man sich in den letzten Jahren vor allem am Stil des Grundgesetzes versündigt. Wenn man die schönen schlanken Sätze des ersten Teils über die Grundrechte in der Urfassung einmal mit dem hässlichen Wanst des Art. 16a GG vergleicht, kann man nur erschrecken7. Dass es eine gewisse Ästhetik des Verfassungsrechts gibt, die auch zur Stabilität beiträgt, scheint in einer Politiklandschaft, der Formgebung zunehmend weniger bedeutet, vollends in Vergessenheit zu geraten. Nicht nur an dieser ästhetischen Seite lässt sich im übrigen zeigen, dass einer der schlechtesten, unaufmerksamsten, gedankenlosesten Gesetzgeber ausgerechnet der verfassungsändernde Gesetzgeber ist8. Das liegt nicht zuletzt daran, dass es in Deutschland (anders als in den meisten anderen Verfassungsstaaten) die gleichen Faktoren sind wie bei der normalen oder einfachen Gesetzgebung, die über Verfassungsänderungen beschließen. Faktisch heißt das lediglich, dass sich die großen politischen Parteien einig sein müssen9 – das genügt. Und als letztes, da wir gerade bei Parteien sind: als ganz zeit- und politiknahes Beispiel für mögliche Erosionsprozesse der Verfassung könnten Täuschungsprozesse vor und Enttäuschungsprozesse nach einer Wahl gelten, wenn sie vitale Interessen breiter Bevölkerungskreise berühren, deren (natürlich immer diffuses) Grundvertrauen in die Ordnung des Verfassungsstaates dadurch gravierende Einbußen erleiden dürfte. Für den Willen zur Verfassung, von dem Konrad Hesse einmal gesprochen hat10, kann und wird das keine positiven Folgen haben. 115 (148); 94, 166 (195). Gleiches dürfte für die neuen Absätze 3 bis 6 des Art. 13 GG gelten; dazu C. Momsen, Der „große Lauschangriff“, ZRP 1998, S. 459 (461 f.); G. Hermes, in: H. Dreier (Hrsg.), GG-Kommentar, Bd. I, 2. Aufl. 2004, Art. 13 Rn. 59. 6 Einen plastischen Eindruck von der Änderungsfülle vermitteln A. Bauer / M. Jestaedt, Das Grundgesetz im Wortlaut. Änderungsgesetze, Synopse, Textstufen und Vokabular zum Grundgesetz, 1997. 7 Kritisch zum Stil mancher Verfassungsänderungen aus jüngerer Zeit auch D. Grimm, Als Verfassungssatz untauglich, in: ders., Die Verfassung und die Politik: Einsprüche in Störfällen, 2001, S. 82 ff. 8 Mit Recht aufgespießt von J. Schwabe, Anmerkungen zum Verfassungshandwerk, ZRP 1991, S. 361 ff. 9 In anderen Verfassungsstaaten, auch in den meisten Bundesländern, sind die Hürden für Verfassungsänderungen viel höher: siehe näher H. Dreier, in: ders. (Hrsg.), GG-Kommentar, Bd. II, 1998, Art. 79 II Rn. 7 ff., 10 ff. 10 K. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl. 1995, Rn. 44.
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In dieser Negativliste könnte man zweifelsohne noch eine Weile fortfahren und von Parteispenden, Bundestagsausflügen oder Bonusmeilen sprechen. Doch um all‘ dies soll es im folgenden nicht oder jedenfalls nicht im Kern gehen. Stattdessen sei das Thema etwas struktureller und, wenn man so will, etwas grundsätzlicher gefasst. Dazu ist etwas weiter auszuholen und nach der Struktur, nach Sinn und Kerngehalt von Verfassungsstaatlichkeit überhaupt zu fragen. Was leistet sie, worin liegen die Gründe für ihren weltweiten Siegeszug, worauf beruht sie gedanklich, welches sind ihre Hauptelemente? Wenn man „Erosionsprozesse des Verfassungsstaates“ ausmachen will, muss man zunächst erläutern, worin Verfassungsstaatlichkeit im Kern besteht; andernfalls lassen sich Art und Ausmaß des möglichen oder bereits eingetretenen Verlustes gar nicht näher ausloten. Diese Besinnung führt uns konkret auf die Frage danach, wer die Verfassung gibt (also wer Subjekt der Verfassunggebung ist) und worauf sich die Verfassung eigentlich bezieht, was also ihr Objekt ausmacht. Daran, an Subjekt wie Objekt, knüpfen sodann Überlegungen zu möglichen Erosionsprozessen an. Es deutet sich nämlich, dies als vorweggenommene These, der beunruhigende Befund an, dass der Verfassungsstaat unserer Tage sowohl beim Subjekt- wie auch beim Objektbereich gravierende Einbußen erleidet. Von Erosionen solcher – struktureller – Art soll also im folgenden die Rede sein.
II. Hauptelemente der Verfassungsstaatlichkeit 1. Zur Idee der verfassunggebenden Gewalt Begeben wir uns zur Klärung der Frage nach Sinn und Kerngehalt einer modernen, neuzeitlichen Verfassung an den Ursprung, die Entstehung der Vereinigten Staaten von Amerika. Die US-Verfassung wird eingeleitet mit den berühmten Worten: „We the People of the United States, in Order to form a more perfect Union, establish Justice . . . and secure the Blessings of Liberty to ourselves and our Posterity, do ordain and establish this Constitution for the United States of America.“11
Also in ungefährer Übersetzung: „Wir, das Volk der Vereinigten Staaten, von der Absicht geleitet, unseren Bund zu vervollkommnen, Gerechtigkeit zu verwirklichen . . . und das Glück (oder die Segnungen, H.D.) der Freiheit uns selbst und unseren Nachkommen zu bewahren, verfügen und erlassen diese Verfassung für die Vereinigten Staaten von Amerika.“
In den Eingangsworten, im „we the people“, steckt die in der Amerikanischen wie der Französischen Revolution entfaltete Idee der verfassunggebenden Ge11
Zitiert nach G. Franz, Staatsverfassungen, 3. Aufl. 1975, S. 10.
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walt12, auf die auch die Präambel des Grundgesetzes rekurriert13. Dabei handelt es sich zweifelsohne um eine komplexe, zwischen Staatsrecht und Verfassungstheorie changierende Legitimationsfigur. Das berechtigt aber nicht dazu, sie als bloßen Mythos oder gar als reines Sprachspiel zu marginalisieren oder als reine Ideologie zu perhorreszieren14. Denn letztlich gibt die Idee der verfassunggebenden Gewalt eine Antwort auf die Frage nach dem rechtlichen Uranfang, deutet sie das ewige Rätsel des Ursprunges staatlicher Normativitätsstiftung. In einem außerordentlichen Urakt der Rechtsetzung wird mit der Ausübung der verfassunggebenden Gewalt der Rahmen für die noch zu schaffenden Staatsorgane gesetzt, die durch diesen Akt erzeugt, legitimiert und zugleich in ihrem Aktionsradius limitiert werden15. Geprägt ist das Konzept der verfassunggebenden Gewalt vom Grundsatz der Volkssouveränität, demgemäß alle Staatsgewalt vom Volke ausgeht16. 2. Selbstherrschaft: individuelle und kollektive Freiheit In der Wendung von den blessings of liberty, von denen die amerikanische Präambel spricht – dies der zweite wichtige Punkt – steckt der Gedanke der Selbstherrschaft. Er geht nicht im punktuellen Akt der Verfassunggebung auf; sondern er dominiert die Strukturen der Verfassung und ihre wesentlichen Garantien17. Dieser Selbstherrschaftsgedanke setzt sich also fort in den wesentlichen inhaltlichen Verbürgungen. Einer schon von Georg Jellinek angestellten Beobachtung zufolge regeln moderne Verfassungen vor allem zwei große Komplexe: die innere Ordnung des Staates einerseits, die Stellung des Einzelnen zum Staat anderer12 Aus der überreichen Literatur nur E. Zweig, Die Lehre vom Pouvoir Constituant, 1909; E.-W. Böckenförde, Die verfassunggebende Gewalt des Volkes – Ein Grenzbegriff des Verfassungsrechts, 1986; H. Hofmann, Zur Idee des Staatsgrundgesetzes, in: ders., Recht – Politik – Verfassung, 1986, S. 261 ff. (286 ff.); H.J. Boehl, Verfassunggebung im Bundesstaat, 1997, S. 15 ff., 25 ff., 62 ff. 13 Dort heißt es: „Im Bewußtsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen . . . hat sich das Deutsche Volk kraft seiner verfassungsgebenden Gewalt dieses Grundgesetz gegeben.“ 14 Versuche in dieser Richtung etwa bei J. Isensee, Schlußbestimmung des Grundgesetzes: Art. 146, in: ders. / P. Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. VII, 1992, § 166 Rn. 45; P. Kirchhof, Der deutsche Staat im Prozeß der europäischen Integration, ebd., § 183 Rn. 34; G. Roellecke, Verfassungsgebende Gewalt als Ideologie, JZ 1992, S. 929 ff. 15 Zutreffend und eindringlich für die Beibehaltung der staatstheoretischen Figur Boehl, Verfassunggebung (Fn. 12), S. 14, 127 ff.; siehe auch H. Dreier, in: ders. (Hrsg.), GG-Kommentar, Bd. III, 2000, Art. 146 Rn. 21 ff. 16 Insoweit zutreffend J. Isensee, Das Volk als Grund der Verfassung (= Nordrhein-Westfälische Akademie der Wissenschaften, Vorträge G. 334), 1995, S. 76 ff.; zur Volkssouveränität als Ausgangspunkt für eine moderne demokratische Verfassung etwa Böckenförde, Verfassunggebende Gewalt (Fn. 12), S. 14 ff. 17 Zum folgenden näher H. Dreier, Grenzen demokratischer Freiheit im Verfassungsstaat, JZ 1994, S. 741 ff.
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seits18. Daraus resultiert die Gliederung in die zwei Säulen moderner Verfassungen: den Regelungen über das, was die Amerikaner frame of government nennen und was wir im weitesten Sinne als Staatsorganisation bezeichnen; und als zweite Säule eine bill of rights, also die Verbürgung der Grundrechte, die im Grundgesetz aus naheliegenden und allseits bekannten Gründen an den Anfang gestellt worden sind. Nun dürfen diese beiden Elemente aber nicht voneinander isoliert und in rein technischer Weise verstanden werden. Vielmehr gilt es zu erkennen, dass beide Säulen dem Ziel der Freiheit dienen, und zwar der Freiheit der Bürger im Sinne von Selbstbestimmung und Selbstgesetzgebung. Die verfassungsstaatliche Ordnung beruht, um eine Wendung des Bundesverfassungsgerichts aufzugreifen, auf der „Idee der freien Selbstbestimmung aller Bürger“19. Das meint natürlich zum einen die individuell-personale Freiheit, aber eben auch – zweitens – die politische Selbstbestimmung, also nicht nur civil liberty, sondern auch political liberty20. Für die letztgenannte Sphäre demokratischer Staatsorganisation ist konstitutiv der Gedanke, dass die der staatlichen Rechtsordnung Unterworfenen im Sinne der Selbstbestimmung des Volkes auch deren Schöpfer sein sollen21. Natürlich wohnt dieser Vorstellung ein nicht unbeträchtlicher „utopischer Gehalt“ inne; er ist der Demokratie ohnehin eigen. Aber nur so lässt sich die Qual der Heteronomie einigermaßen lindern; nur so lässt sich in staatlicher Herrschaft, namentlich in den für alle verbindlichen Gesetzen, letztlich der Ausdruck des (natürlich zumeist repräsentierten und nicht per Abstimmung ermittelten) Volkswillens erkennen; genauer: der Wille der Mehrheit der Repräsentanten des Volkes, also ein zumindest durch gleich zwei Metamorphosen stark vom Einzelwillen abgehobener Gesamtwille. Entscheidend sind aber nicht diese ganz unausweichlichen Metamorphosen, entscheidend ist die Gesamtperspektive. Ihr zufolge sollen die Adressaten der Rechtsnormen zugleich deren Autoren, die der staatlichen Herrschaftsordnung und ihren Rechtsakten Unterworfenen zugleich die Schöpfer eben dieser Rechtsordnung sein. Friedrich Müller hat, ein wenig komplizierter noch, als urdemokratischen Kerngedanken die „Selbstcodierung im positiven Recht durch alle vom normativen Code Betroffenen“22 bezeichnet. Hierin liegt vielleicht der letzte und eigentliche Sinn demokratischer Verfassungsstaatlichkeit. G. Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 3. Aufl. 1914, S. 532. BVerfGE 44, 125 (142). 20 Dass civil liberty und political liberty im demokratischen Verfassungsstaat einen Freiheitszusammenhang bilden, der seinen Kern in der Idee der Selbstgesetzgebung hat, zeigt am Beispiel der nordamerikanischen Kolonien im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts W.P. Adams, Republikanische Freiheit und bürgerliche Freiheit, 1973, S. 7 f., 147 ff.; siehe auch R. Aron, Über die Freiheiten, 1984, S. 16. 21 H. Dreier, in: ders. (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. II, 1998, Art. 20 (Demokratie) Rn. 62. – Im diskurstheoretischen Gewand begegnet der Gedanke bei J. Habermas, Faktizität und Geltung, 1992, S. 51 f., 153 f. 22 F. Müller, Demokratie in der Defensive, 2001, S. 76 (Hervorhebung im Original, H.D.). 18 19
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Verfassunggebende Gewalt, Volkssouveränität, Grundrechte; dazu noch rechtsstaatliche Sicherungen und eine die normative Kraft der Verfassung sichernde Verfassungsgerichtsbarkeit – das sind die Kernelemente der Verfassungsstaatlichkeit, wie sie die heutigen demokratischen Verfassungen prägen23. Man kann insoweit von einem Ensemble verfassungsstaatlicher Prinzipien sprechen.
III. Das Grundgesetz als Prototyp des modernen Verfassungsstaates Das gilt in ganz besonderer Weise für das Grundgesetz, das ohne Übertreibung oder nationale Egozentrik als Prototyp des modernen Verfassungsstaates bezeichnet werden kann. Es beruft sich für seine Entstehung auf die verfassunggebende Gewalt des Volkes; es bietet einen breiten Grundrechtskatalog, vielfältige rechtstaatliche Sicherungen sowie ein Verfassungsgericht, das – auch und gerade im internationalen Vergleich – über beeindruckend vielfältige und breiten- wie tiefenwirksame Kompetenzen verfügt24. Auch und vor allem ist der Gedanke der Volkssouveränität und damit die demokratische Legitimation der Staatsgewalt im Grundgesetz klar zum Ausdruck gebracht und damit als verbindlicher normativer Anspruch formuliert. „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus“, heißt es unmissverständlich in Art. 20 II GG25. Es ist klar, dass damit keine Zuständigkeitsregelung, sondern ein Legitimations- und Verantwortungsprinzip gemeint ist. Dieses aber hat erhebliche Implikationen zum Teil höchst konkreter Art. Auf das Stichwort der „demokratischen Legitimation“ und die entsprechend feinziselierte Judikatur des Bundesverfassungsgerichts kann hier vorerst nur pauschal hingewiesen werden26. Für unsere weiteren Überlegungen ist der einfache Gedanke leitend, dass dieses auf Art. 20 II GG beruhende Modell ein Legitimationssubjekt (das Volk) und ein Legitimationsobjekt (die Staatsgewalt) kennt. Und bei beiden stellen sich Erosionsprozesse ein, die das insgesamt wohlaustarierte Gefüge der Verfassungsordnung aus dem Lot zu bringen drohen. Das sei im folgenden etwas näher erläutert.
Vgl. R. Wahl, Elemente der Verfassungsstaatlichkeit, JuS 2001, S. 1041 ff. Zum letztgenannten Punkt nur K. Schlaich / S. Korioth, Das Bundesverfassungsgericht. Stellung, Verfahren, Entscheidungen, 5. Aufl. 2001. 25 Zum folgenden Dreier (Fn. 21), Art. 20 (Demokratie) Rn. 76 ff. m. w. N. 26 Aus der Literatur E.-W. Böckenförde, Demokratie als Verfassungsprinzip, in: J. Isensee / P. Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, 1987, § 22 Rn. 11 ff.; M. Jestaedt, Demokratieprinzip und Kondominialverwaltung, 1993, S. 265 ff., 301 ff., 369 ff.; F. Brosius-Gersdorf, Deutsche Bundesbank und Demokratieprinzip, 1997, S. 30 ff.; V. Mehde, Neues Steuerungsmodell und Demokratieprinzip, 2000, S. 164 ff. – Kritisch B.-O. Bryde, Die bundesrepublikanische Volksdemokratie als Irrweg der Demokratietheorie, Staatswissenschaft und Staatspraxis (StWStP) 5 (1994), S. 305 ff.; A. Rinken, Demokratie und Hierarchie, KritV 79 (1996), S. 282 ff. (284 ff.). 23 24
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IV. Erosionsprozess des Legitimationssubjekts (Staatsvolk) Fassen wir zunächst das Legitimationssubjekt, das Staatsvolk, ins Auge. Art. 20 II GG spricht ohne nähere Spezifizierung einfach „vom Volke“27. Ganz herrschender staatsrechtlicher Lehre und bundesverfassungsgerichtlicher Judikatur gemäß ist damit nicht die wechselhafte Summe der von der Staatsgewalt Betroffenen oder aller in der Bundesrepublik lebenden Personen gemeint. Art. 20 II GG bezieht sich vielmehr auf das Staatsvolk der Bundesrepublik Deutschland. Und das sind die Staatsangehörigen, in der insofern etwas komplizierten Lage nach dem Zweiten Weltkrieg die Deutschen im Sinne des Art. 116 GG. Für diese Beschränkung auf das Staatsvolk lassen sich überzeugende grundrechtssystematische Argumente ebenso ins Feld führen wie eindrucksvolle historische und verfassungsvergleichende Betrachtungen. 1. Staatsvolk und Adressatenvolk Aber damit sind nicht etwa alle Probleme gelöst. Sondern damit beginnen sie erst. Denn wenn die Staatsvolk-Konzeption auch zweifelsohne richtig ist, so führt sie doch in der Bundesrepublik unserer Tage zu einem nicht zu übersehenden Dilemma. Es besteht nicht in einem Verfassungs-, sondern in einem Politikdefizit. Diesem ist es geschuldet, dass über Jahrzehnte hinweg Einwanderung in die Bundesrepublik ermöglicht, gefördert, geduldet oder auch geleugnet wurde, ohne sich die Konsequenzen auch und gerade in verfassungsrechtlicher Hinsicht vor Augen zu halten28. Diese Augen hat man lieber verschlossen gehalten und sich mit wohlfeilen Formeln wie jener, dass Deutschland kein Einwanderungsland sei29, aus der Affäre und damit aus der Verantwortung zu ziehen versucht. Das daraus resultie27 Zum folgenden zusammenfassend R. Grawert, Staatsvolk und Staatsangehörigkeit, in: Isensee / Kirchhof, HStR I (Fn. 26), § 14 Rn. 11 ff.; P.M. Huber, Das „Volk“ des Grundgesetzes, DÖV 1989, S. 531 ff.; Jestaedt, Demokratieprinzip (Fn. 26), S. 276 ff.; Dreier (Fn. 21), Art. 20 (Demokratie) Rn. 83 ff.; programmatisch P. Kirchhof, Der demokratische Rechtsstaat – die Staatsform der Zugehörigen, in: J. Isensee / ders. (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. IX, 1997, § 221 Rn. 16 ff. – Kritisch wiederum Bryde, Volksdemokratie (Fn. 26), S. 317 ff. sowie jüngst D. Gosewinkel, Einbürgern und Ausschließen: die Nationalisierung der Staatsangehörigkeit vom Deutschen Bund bis zur Bundesrepublik Deutschland, 2001, S. 422 f. 28 Dazu S. Hobe, Das Staatsvolk nach dem Grundgesetz, JZ 1994, S. 191 (194); M. Zuleeg, Der unvollkommene Nationalstaat als Einwanderungsland, ZRP 1987, S. 188 ff.; H. Rittstieg / G.C. Rowe, Einwanderung als gesellschaftliche Herausforderung: Inhalt und rechtliche Grundlagen einer neuen Politik, 1992, S. 11 ff.; zu Einwanderung in Deutschland allgemein H. Hagedorn, Wer darf Mitglied werden? – Einbürgerungen in Deutschland und Frankreich, in: D. Thränhardt (Hrsg.), Einwanderung und Einbürgerung in Deutschland: Jahrbuch Migration 1997 / 1998, S. 15 ff. 29 So ließ sich auch lange Zeit die Judikatur des Bundesverwaltungsgerichts verstehen: BVerwGE 36, 45 (51 f.); 38, 90 (92); 56, 254 (270); 65, 188 (190 f.); 70, 127 (133 f.); 78, 192 (200 f.); vgl. O. Uhlitz, Das Wiedervereinigungsgebot als verfassungsrechtliche Schranke der Einwanderungs- und Einbürgerungspolitik, ZRP 1987, S. 191 (191).
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rende verfassungsrechtliche Dilemma besteht nun darin, dass zum Volk in diesem Sinne längst nicht mehr alle gehören, die dauerhaft auf dem Territorium der Bundesrepublik wohnen. Sie sind zwar Objekt der staatlichen Rechtsordnung, der sie unterliegen wie jeder, der sich hier – und sei es noch so kurz – aufhält. Aber Subjektstatus im oben angedeuteten Sinne einer (natürlich in gewisser Weise virtuellen) Autorschaft am Staatswillen haben sie nicht. Und „sie“ – das sind immerhin knapp zehn Prozent der in der Bundesrepublik dauerhaft lebenden ausländischen Bevölkerung. Das Staatsvolk als zur Summe der zur demokratischen Legitimation befugten Bürger und das Adressatenvolk als Summe der staatlicher Herrschaft Unterworfenen fallen auseinander30. Man könnte sich nun vordergründig damit beruhigen, dass das „We the People“ der Amerikanischen Verfassung seinerzeit natürlich auch nicht alle Menschen meinte, sondern nur die „weißen Männer“31. Aber die Idee der Verfassungsstaatlichkeit und der Volkssouveränität ist nicht auf dem seinerzeitigen Stand eingefroren worden. Vielmehr ist das beherrschende Moment des Entwicklungsprozesses gerade im 19. und 20. Jahrhundert die Ausdehnung der Partizipationsmöglichkeiten, die Überwindung von Zensus- und Dreiklassenwahlrecht, schließlich auch und vor allem die Durchsetzung des Frauenwahlrechts. Der egalitäre Grundzug der Demokratie hat sich sukzessive durchgesetzt32. Und insofern ist die deutsche Verfassungsentwicklung im allgemeinen, die Paulskirchenverfassung im besonderen eine durchaus ruhmvolle und im internationalen Vergleich fortschrittliche 33 – ganz anders, als es die hartnäckig sich haltende Legende vom durch und durch restaurativen deutschen Sonderweg will. Man kann sich auch nicht damit beruhigen, dass dem Adressatenvolk, das nicht Staatsvolk ist, zwar das Wahlrecht (und in den Ländern: das Abstimmungsrecht) fehlt, sich darin aber demokratische Staatlichkeit nicht erschöpft. Das ist zwar vollständig richtig. Demokratie erschöpft sich in der Tat nicht in einem punktuellen Wahlakt alle vier oder fünf Jahre, sondern ist durch und durch prozesshaft bestimmt, ein beständiges Verfahren der Kontrolle, Kritik und Legitimation von Herrschaft34. „Das Recht des Bürgers auf Teilhabe an der politischen Willensbildung“, so hat es das Bundesverfassungsgericht vor langer Zeit schon deutlich ausgesprochen, „äußert sich nicht nur in der Stimmabgabe bei Wahlen, sondern auch in der Einflussnahme auf den ständigen Prozess der politischen Meinungsbildung“35. An diesem offenen Kommunikationsprozess, der Voraussetzung wie beUnterscheidung in Anlehnung an Müller, Demokratie (Fn. 22), S. 76 f. Treffende Formulierung bei H. Hofmann, Die Grundrechte 1789 – 1949 – 1989 (1989), in: ders., Verfassungsrechtliche Perspektiven, 1995, S. 23 ff. (37). 32 Hinweise bei M. Morlok, in: H. Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. II, 1998, Art. 38 Rn. 8 ff. 33 Siehe nur J.-D. Kühne, Die Reichsverfassung der Paulskirche, 1985, 2. Aufl. 1998. 34 Näher dazu Dreier (Fn. 21), Art. 20 (Demokratie) Rn. 72 ff. m. w. N. 35 BVerfGE 20, 56 (98). 30 31
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ständiger Faktor der politischen Willensbildung ist und Rückkoppelungseffekte einschließt, können alle Grundrechtsberechtigten teilnehmen, also auch diejenigen, die nicht Staatsbürger sind und daher nicht zum Staatsvolk i. S. d. Art. 20 II GG gehören. Doch so richtig man die Grundrechte als „Fundament und sozusagen Infrastruktur aller demokratischen Prozesse“36 tituliert hat, so unverrückbar bleibt es dabei, dass der Wahlakt den „entscheidenden und letztlich ausschlaggebenden Akt“37 (BVerfGE 20, 56 [113]) darstellt. Er trägt in der strikt repräsentativ ausgestalteten Verfassungsordnung des Grundgesetzes die gesamte Last der demokratischen Legitimation der Staatsgewalt.
2. Wahlbeteiligung (Aktivvolk) Angesichts dieses Befundes ist ein weiterer Erosionsprozess nur umso besorgniserregender. Von denjenigen, die zum Staatsvolk gehören und wahlberechtigt sind, machen in der langfristigen Beobachtung immer weniger von ihrem urdemokratischen Recht Gebrauch38. Ablesen lässt sich das an den Zahlen für die Bundestagswahlen, wo bislang erst zweimal die Grenze von 80% Wahlbeteiligung unterschritten wurde – bezeichnenderweise einmal im vergangenen Jahr, das andere Mal 199439. Noch dramatischer sieht es auf Landesebene aus: Tiefststand in Brandenburg 1999 mit gerade einmal 54,3% Wahlbeteiligung40. In anderen Bundesländern hat man sich an Zahlen zwischen 60 und 70 Prozent gewöhnt; bei den jüngsten Landtagswahlen in Hessen und Niedersachsen am 2. Februar 2003 haben jeweils mehr als ein Drittel von ihrem Wahlrecht nicht Gebrauch gemacht41. Für diese oft beschönigend so genannte „Wahlmüdigkeit“ gibt es vermutlich viele Gründe, von denen einige möglicherweise eingangs angesprochen wurden.
36 R. Wahl, Art. Demokratie, Demokratieprinzip, in: Ergänzbares Lexikon des Rechts, Nr. 5 / 170 (1990), S. 1 ff. (4). 37 BVerfGE 20, 56 (113). 38 Dazu, dass dies zu einem empfindlichen Legitimitätsverlust führt, vgl. etwa Müller, Demokratie (Fn. 22), S. 52 f.; R. Wassermann, Von Bonn nach Berlin – Chance für die Demokratie. Zur Überwindung der Krise des Parteienstaates, in: Recht und Politik, Bd. 30 (1994), S. 63 ff. (65); allgemein zur Wahlenthaltung T. Renz, Nichtwähler zwischen Normalisierung und Krise: Zwischenbilanz zum Stand einer nimmer endenden Diskussion, ZParl. 28 (1997), S. 572 ff.; zur „Partei- und Parlamentsverdrossenheit“ H.–P. Schneider, in: Alternativkommentar zum Grundgesetz, 3. Aufl., vor Art. 38 (2002), Rn. 4 f. 39 Vgl. http: //www.bundeswahlleiter.de / bundestagswahl2002 / deutsch / ergebnis2002 / bund_ land / wahlkreis / btw98 / kr99999_btw98.htm bzw. http: // www.bundeswahlleiter.de / bundestagswahl2002 / deutsch / ergebnis2002 / bund_land / wahlkreis / kr99999.htm. 40 Ergebnis unter http: // www.bundeswahlleiter.de / wahlen / ergebalt / d / t / ltwint13.htm. 41 Ergebnisse unter http: // www.bundeswahlleiter.de / wahlen / ergebalt / d / t / ltwint06.htm bzw. http: // www.bundeswahlleiter.de / wahlen / ergebalt / d / t / ltwint03.htm.
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3. Thementabuisierung Vielleicht lässt sich diese geringe Wahlbeteiligung auch damit erklären, dass die Bürger nicht immer das Gefühl haben, bei der Wahl auch tatsächlich über die wirklich wichtigen Fragen auf der Grundlage programmatischer Alternativen abstimmen zu können. Man hat es in den letzten zehn, zwanzig Jahren mehr als einmal erlebt, dass – zum Teil von Inhabern höchster Staatsämter – bestimmte Fragen als „für den Wahlkampf untauglich oder ungeeignet“ bezeichnet wurden. Solche Themen, so der Konsens der herrschenden politischen Klasse, gehörten gleichsam nicht in die Hände der Bürger, an deren Mündigkeit man offenbar gewisse Zweifel hegt42. Man mag es den betreffenden Politikern zugute halten (aber das ist ein geringer Trost), dass ihnen gar nicht klar war, dass sie mit solchen Äußerungen die Axt an eben den Verfassungsstaat legen, als dessen Organ sie fungieren. Denn es ist ganz unbegreiflich, dass dem Souverän gerade die Fragen, die ihn am meisten interessieren, nicht zur Entscheidung vorgelegt werden. Eben das aber ist geschehen und geschieht weiter: einschlägige Beispiele sind die Einwanderungs- und Asyldebatte, das Staatsangehörigkeitsrecht, die demographische Entwicklung, das marode Gesundheitswesen und anderes mehr. 4. Belastung zukünftiger Generationen Renten- und Zukunftsfragen bieten das Stichwort für einen vierten Punkt, der unsere Aufmerksamkeit verdient. Denn das Herausnehmen von Zentralproblemen aus der Wahlentscheidung impliziert natürlich noch keine Lösung, sondern fördert nur die Verschiebung von Lasten auf Dritte und möglichst solche, die noch nicht über Wahlrechte verfügen. Dafür bieten sich die zukünftigen Generationen an43. Auch hier begegnet uns das Auseinanderfallen von Legitimationssubjekt und Normadressat, von Urhebern und möglicherweise Leidtragenden: jetzt freilich nicht gegenüber den Nachbarn im Raum oder auf einem Staatsterritorium, sondern im Verhältnis zu unseren Nachbarn in der Zeit, als welche Günther Anders die zukünftigen Generationen einmal so treffend bezeichnet hat44. Diese nachfolgenden Generationen werden durch Weichenstellungen heutiger Mehrheiten irreversibel belastet und so in ihrer Gestaltungsfreiheit erheblich eingeengt. Wenn man 42 Zum Thema „Zuwanderung“ kürzlich W. Leisner, Ungeeignete Themen für Wahlkämpfe – Zurück zum unmündigen Bürger?, NJW 2002, S. 1699 ff. 43 Grundlegend zur Generationenfrage als einer verfassungsrechtlich relevanten Gerechtigkeitsfrage H. Hofmann, Rechtsfragen atomarer Entsorgung, 1981, S. 258 ff.; siehe weiter P. Saladin / C.A. Zenger, Rechte künftiger Generationen, 1988; H. Unnerstall, Rechte zukünftiger Generationen, 1999; P. Häberle, Ein Verfassungsrecht für künftige Generationen. Die „andere“ Form des Gesellschaftsvertrages: Der Generationenvertrag (1998), in: ders., Kleine Schriften, 2002, S. 254 ff. 44 G. Anders, Endzeit und Zeitenende, 1972, S. 52.
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die negativen Folgen eigener Beschlüsse auf die zukünftigen Generationen überwälzt, die bald gar keine Entscheidungsfreiheit mehr haben werden, dann unterläuft dies die demokratische Mehrheitsregel, für die cum grano salis gilt, dass die Minderheit von heute die Mehrheit von morgen werden kann und diese mit entsprechender Revisibilitätsmacht ausgestattet sein muss45. Wenn aber heute die später nicht mehr rückgängig zu machenden Entscheidungen getroffen und die dazugehörigen Lasten einfach der Nachwelt aufgebürdet werden46 (man denkt unwillkürlich an die aktuelle Rentendiskussion, an atomare Entsorgung oder die astronomische Staatsverschuldung), dann geht hier jedenfalls auf der Zeitschiene das „we the people“ verloren. Der Grund: es handelt sich ja bei jenen auf die Zukunft überwälzten Lasten im Kern nicht mehr um Selbstgesetzgebung der hier und jetzt verfassten Gesellschaft, sondern um Fremdbelastung unserer „Nachbarn in der Zeit“, also der künftigen Generationen, denen wir damit exakt jene Spielräume rauben, die wir heute umso ungehemmter ausnutzen. Erinnern wir uns nochmals an die Väter der US-Verfassung: sie versprachen ihrer Nachwelt nichts anderes, als ihnen Freiheit zu hinterlassen. In der Bundesrepublik ist man – nicht erst seit heute oder gestern – dabei, Freiheit durch Schulden zu ersetzen. Fasst man den ersten Komplex zusammen, so ist zu konstatieren: Erosionsprozesse auf der Ebene des Legitimationssubjekts bestehen darin, dass das Legitimationsvolk nicht mehr mit dem Adressatenvolk identisch ist, das Legitimationsvolk sich am Legitimationsakt tendenziell weniger beteiligt, es beim Legitimationsakt zuweilen zu Thementabuisierungen und bei den Entscheidungen immer öfter zu Überwälzungen auf künftige Generationen kommt. Durch all dies nimmt die Idee demokratischer Selbstherrschaft, die der Vorstellung von Verfassungsstaatlichkeit als wesentliches Element zugrunde liegt, eindeutig Schaden. Natürlich ist hier kein präziser Punkt zu benennen, bis zu dem man die erforderliche demokratische Legitimation noch gerade als gegeben ansehen könnte und wann nicht mehr. Das ist ja gerade das Eigentümliche und besonders Gefährliche an Erosionsprozessen: sie bezeichnen das sukzessive Wegbrechen oder lautlose Wegrutschen von Fundamenten und Grundlagen. Nicht auszuschließen scheint, dass der Verlust erst bemerkt wird, wenn es definitiv zu spät ist.
45 Dazu H. Hofmann / H. Dreier, Repräsentation, Mehrheitsprinzip und Minderheitenschutz, in: H.-P. Schneider / W. Zeh (Hrsg.), Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, 1989, § 5 Rn. 58. 46 Beredt der Titel von U.K. Preuß, Die Zukunft – Müllhalde der Gegenwart?, in: ders., Politische Verantwortung und Bürgerloyalität, 1984, S. 272 ff.
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V. Erosionsprozess des Legitimationsobjekts (Staatsgewalt) Die nur kursorisch geschilderten Erosionsprozesse beim Legitimationssubjekt sind zweifelsohne schon dramatisch genug, wenn man den hohen Anspruch des modernen Verfassungsstaates auf Selbstgesetzgebung in Rechnung stellt. Möglicherweise noch dramatischer fällt der Befund beim Legitimationsobjekt aus, also bei der Staatsgewalt.
1. Bestimmung auf nationaler Ebene Vergleichsweise einfach ist die Bestimmung der Staatsgewalt, wenn wir uns auf die nationale Ebene, also die Staatsgewalt der Bundesrepublik beschränken. Der Verfassungsstaat ist seiner historischen Genese nach ein Nationalstaat, der den Prozess des nation-building aufgegriffen, vorangetrieben, verstärkt und nicht selten maßgeblich geprägt hat47. Man kann wohl mit Recht von einer wechselseitigen Stärkung von Verfassunggebung und staatlicher Einheit sprechen. Die durch die Verfassung legitimierte und limitierte Hoheitsgewalt war und ist Staatsgewalt, Gewalt des Staates derjenigen Nation, die sich diese Verfassung gibt. Damit verbunden war die oft unausgesprochene Vorstellung, dass damit alle Hoheitsgewalt vom Volke abgeleitet gelten konnte. Die Hoheitsgewalt war Staatsgewalt der Nation, und diese wurde durch die Verfassung konstituiert48. Den amerikanischen Verfassungsvätern stand das vor dem Hintergrund des bundesstaatlichen Charakters ihres Gemeinwesens so deutlich vor Augen, dass sie anfangs für die Bundesverfassung gar keine Grundrechte vorsahen: diese gab es ja auf der Ebene der Einzelstaaten, und der Bundesebene kamen nur die in der US-Verfassung strikt limitierten Kompetenzen zu49. Nehmen wir die Bundesrepublik, so ist denn auch völlig unbestritten, dass Objekt demokratischer Legitimation die gesamte Staatsgewalt ist, worunter alle Arten der Ausübung von Staatsgewalt zu verstehen sind50. Erfasst werden alle Staats47 Dazu knapp C. Dipper, Zur Bedeutung des Nationalstaats in der europäischen Geschichte und über die Möglichkeit der Überwindung nationalstaatlichen Denkens, zur Debatte 3 / 2002, S. 20 ff.; programmatisch E. Fehrenbach, Verfassungsstaat und Nationsbildung 1815 – 1871, 1992, bes. S. 17 ff.; vgl. ferner M.R. Lepsius, Nation und Nationalismus in Deutschland, in: ders., Interessen, Ideen und Institutionen, 1990, S. 235 ff. (242 ff.); E.-W. Böckenförde, Die Nation – Identität in Differenz, in: ders., Staat – Nation – Europa, 1999, S. 35 ff. (39 ff.). 48 So eher beiläufig O. Höffe, Nationalstaaten im Zeitalter der Globalisierung, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 25. 07. 2000, S. 14, Sp. 4 Mitte; ähnlich W. Hennis, Motive des Bürgersinns (1962), in: ders., Politikwissenschaft und politisches Denken, 2000, S. 148 ff. (153). 49 Das ist erläutert bei F. Ermacora, Einführung, in: ders., Der Föderalist, 1958, S. 28 ff. (das ist eine deutsche Übersetzung der Federalist Papers, H.D.). 50 Dreier (Fn. 21), Art. 20 (Demokratie) Rn. 79 ff.
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organe und Amtswalter in der Summe ihrer legislativen, exekutiven und judikativen Funktionen. Weder gibt es eine Einschränkung auf hoheitliches Handeln noch einen Bagatellvorbehalt. Das Bundesverfassungsgericht hat auf der Grundlage von Vorarbeiten in der Literatur ein recht komplexes Modell demokratischer Legitimation entworfen51, dem die Ausübung von deutscher Staatsgewalt Genüge tun muss, in dessen Zentrum das demokratisch gewählte Parlament steht.
2. Supranationales Recht als Legitimationsobjekt? Was aber, wenn der Konnex von Nationalstaat und Verfassungsstaat zerbricht? Wir alle wissen, dass das keine irgendwie hypothetische oder rein theoretische Frage ist. Vielmehr zielt sie auf die Kernproblematik, wie sich eigentlich der Gedanke der Volkssouveränität und das Europäische Gemeinschaftsrecht, dessen Bedeutung uns immer klarer wird und das unser Leben immer stärker regiert, zu einander verhalten52. Natürlich bezieht sich Art. 20 II GG im Kern auf die deutsche Staatsgewalt. Aber bedeutet das, dass die Idee der Volkssouveränität und der demokratischen Legitimation vor der supranationalen Ebene kapituliert? Wandern ehedem staatliche Hoheitsbefugnisse einfach ab oder aus, ohne dass ihnen entsprechende Legitimationserfordernisse folgen würden?
a) Legitimierungsbedürftigkeit der europäischen Ebene? Man könnte in der Tat schon daran zweifeln, ob die europäische Ebene, die ja ersichtlich etwas anderes als einen Staat bildet, überhaupt der demokratischen Legitimation bedürftig ist. Eine in diese Richtung weisende listige Überlegung stellte vor Jahren einmal ein Politikwissenschaftler auf einer interdisziplinären Tagung an: wenn das europäische Gemeinschaftsrecht gar nicht als Staatsgewalt im Sinne des Art. 20 II GG betrachtet werden könne, dann habe man doch auch kein Problem mit der demokratischen Legitimation dieser Staatsgewalt. Es bedürfe ihrer schon definitionsgemäß gar nicht. Eine solche Sichtweise aber verkennt die grundlegende Bedeutung des demokratischen Gedankens, was Art. 23 Abs. 1 GG denn auch (später) klargestellt hat. Dieser Grundgedanke verlangt nach demokratischer Legitimation unabhängig davon, ob die Hoheitsgewalt, der die Bürger unterliegen, eine rein innerstaatliche oder eine supranationale ist. Und mit einer Hoheitsgewalt haben wir es zu tun: die Europäische Gemeinschaft ist ein politisches Herrschaftssystem eigener Art, dessen Vgl. oben in Fn. 26. Umfängliche Bestandsaufnahme bei I. Pernice / P.M. Huber / G. Lübbe-Wolff / C. Grabenwarter, Europäisches und nationales Verfassungsrecht, VVDStRL 60 (2001), S. 148 ff., 194 ff., 246 ff., 290 ff. 51 52
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aus autonomer Quelle fließendes Recht prinzipiellen Vorrang gegenüber den nationalen Rechtsordnungen genießt und dort – anders als bei völkerrechtlichen Vertragsbeziehungen – ohne weitere Umsetzungs- oder Transformationsakte unmittelbare Geltung beansprucht53. Für diese eigengeartete, mit „Durchgriffswirkung“ ausgestattete autonome Hoheitsgewalt kommt keine andere als eine demokratische Legitimation in Betracht, auch keine rein funktionalistische oder technokratische – mögen derartige Formen auch angesichts der Genese der Gemeinschaften durchaus nicht fern liegen. b) Legitimierungsfähigkeit der europäischen Ebene? Große und bis heute noch nicht zur allgemeinen Überzeugung gelöste Schwierigkeiten bereitet daher nicht die Frage der Legitimierungsbedürftigkeit, wohl aber die Frage der Legitimierungsfähigkeit der europäischen Ebene54. Klar ist hier zunächst nur, dass es dabei der Legitimation durch mehrere Staatsvölker bedarf, Art. 20 Abs. 2 GG also nicht alleiniger Maßstab und das deutsche Staatsvolk nicht alleiniger Träger sein kann. Doch bleibt etwa über die Zustimmungsgesetze zu den Änderungs- und Erweiterungsverträgen oder auch über die Bindung deutscher Vertreter im Ministerrat die Bindungswirkung durchaus, wenngleich modifiziert, wirksam55. Andererseits hindern die Modifikationen und das fehlende Einstimmigkeitserfordernis Deutschland auch nicht, Mitglied der Europäischen Gemeinschaft zu sein und zu bleiben. Hinzu tritt das, was man die eigenständige supranationale Legitimation auf der Ebene der Gemeinschaft selbst nennt. Ihr wird vom Bundesverfassungsgericht die Rolle einer eher ergänzenden, abstützenden demokratischen Legitimation zugewiesen56. In der Literatur geht man zuweilen deutlich weiter, doch dominieren auch hier Mehrebenenmodelle (sog. multi-level-constitutionalism)57. Doch wie man diese auch dreht und wendet: es führt kein Weg daran vorbei, dass jedenfalls im der53 Klar und deutlich zu diesen Wirkmomenten des Europäischen Gemeinschaftsrechts P.M. Huber, Recht der Europäischen Integration, 2002, § 9; T. Oppermann, Europarecht, 2. Aufl., 1999, § 6 IV 1 (Rn. 615 ff.); D. Ehlers, in: H.-U. Erichsen (Hrsg.), Allgemeines Verwaltungsrecht, 11. Aufl., 1998, § 3 Rn. 42 ff.; I. Pernice, in: H. Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. II, 1998, Art. 23 Rn. 20. 54 Im europarechtlichen Schrifttum ist eine ähnliche Unterscheidung gebräuchlich mit Bezug auf die Frage nach Verfassungsbedürftigkeit und Verfassungsfähigkeit der Gemeinschaft: jüngst E. Pache, Eine Verfassung für Europa – Krönung oder Kollaps der europäischen Integration?, EuR 2002, S. 767 ff. (770 ff.). 55 Näher H. Dreier, in: ders. (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. I, 2. Aufl. 2004, Art. 1 III Rn. 15 ff. 56 So jedenfalls im Maastricht-Urteil: BVerfGE 89, 155 (184 f.). 57 So Pernice, Verfassungsrecht (Fn. 52), S. 148 ff.; ders. (Fn. 53), Art. 23 Rn. 20; Huber, Recht (Fn. 53), § 5 II; weitergehend A. von Bogdandy, Supranationaler Föderalismus als Wirklichkeit und Idee einer neuen Herrschaftsform, 1999, S. 61 ff.
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zeitigen Stadium die demokratische Legitimation der Europäischen Gemeinschaft etwas (nochmals neudeutsch) „Patchworkartiges“ an sich hat, wenn vielleicht auch keinen Flickenteppich, so doch ein aus mehreren Teilen zusammengesetztes Bild bietet, dessen Komponenten heterogener Natur sind. Die demokratische Legitimation supranationaler Hoheitsakte ist und bleibt eine Art Komplementärwerk, hat den Charakter eines mixtum compositum.
c) Besondere Organstruktur Diese Konstruktionsprobleme haben natürlich ihren sachlichen Grund. Er liegt darin, dass die Binnenstruktur der Europäischen Gemeinschaft nicht einfach eine Kopie staatlicher Strukturen darstellt. Die dort – also auf der einzelstaatlichen Ebene – vorzufindenden und zentral über das Parlament vermittelten Legitimationsstränge finden sich in den EG-Organen nicht wieder und können auch nicht als nachzuahmendes Vorbild aufgefasst werden58. Man darf sich insofern durch terminologische Ähnlichkeiten nicht beirren lassen59. Das Europäische Parlament etwa heißt zwar Parlament, ist aber keines, solange es weder nach einem einheitlichen Wahlrecht gewählt wird noch über die volle Budgethoheit und ein uneingeschränktes Gesetzesinitiativrecht verfügt. Entscheidende Macht- und Rechtsetzungsfaktoren sind auf supranationaler Ebene vielmehr der Rat und die Kommission. Das Hauptrechtsetzungsorgan ist der Ministerrat, der freilich nur tätig werden kann, wenn die Kommission initiativ geworden ist. Diese verfügt nämlich abgesehen von kleineren Einschränkungen nach wie vor über das Initiativmonopol für die Rechtsetzung. So sind Ministerrat und Kommission die zentralen Organe der Union, während das Parlament eher negative Politik betreiben und Vetopositionen einnehmen, kaum aber wirklich positiv gestalten kann. Eine vergleichbare Machtkonzentration bei der Exekutive wäre auf staatlicher Ebene, jedenfalls der der Bundesrepublik, ganz ausgeschlossen. So hat denn ein spöttischer Geist einmal bemerkt, dass kein Staat Mitglied der Europäischen Union werden dürfte, der intern so organisiert wäre wie diese. d) Verfassungsfähigkeit Europas? Wenn die demokratische Legitimation der Europäischen Gemeinschaft aber so schwierig und so kompliziert ist, im übrigen oft auch so unbefriedigend, weil ohne klar erkennbare Verantwortungszuschreibungen, ohne präzise Steuerung und ohne 58 Darauf hat kein Geringerer als der Nestor des Europäischen Gemeinschaftsrechts, Hans Peter Ipsen, nachdrücklich und wiederholt hingewiesen. Vgl. H.P. Ipsen, Verfassungsperspektiven der Europäischen Gemeinschaften, 1970, S. 14 ff.; ders., Die europäische Integration in der deutschen Staatsrechtslehre, in: FS Bodo Börner, 1992, S. 163 ff. (167 f., 170 ff., 176 f.). 59 Zum folgenden näher und mit Nachweisen H. Dreier, Die drei Staatsgewalten im Zeichen von Europäisierung und Privatisierung, DÖV 2002, S. 537 ff. (540 f.).
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wirksame Kontrollmechanismen – könnte uns nicht in einem großen Befreiungsschlag gelingen, Europa eine eindeutige und selbstständige Legitimationsgrundlage zu geben, es gleichsam auf eigene Füße zu stellen und auf die Krücken nationaler Zusatz- oder Hauptlegitimation zu verzichten? Statt es im wesentlichen von den nationalen Verfassungsstaaten abzuleiten und an diese zurückzubinden – sollte sich Europa nicht selbst gleichsam „verfassungsverstaatlichen“, sich konstitutionalisieren? Sollte es nicht einen Akt geben, dessen Einleitungsworte in Anlehnung an das große amerikanische Vorbild „We the People of Europe“ oder „We the People of the United States of Europe“ lauten könnten? Mit dieser (letzten) Frage springen wir mitten hinein in Debatten, die nicht erst seit gestern geführt werden60, durch den Verfassungskonvent unter dem Präsidium von Valery Giscard d’Estaing aber neue Brisanz und Aktualität erlangt haben. Hier müssen wir im folgenden freilich etwas genauer zwischen dem bloßen Wort Verfassung und dem Begriff oder der Sache unterscheiden61. Und wir müssten erneut unterscheiden zwischen der Frage, ob Europa verfassungsbedürftig und ob es verfassungsfähig ist. Dabei gilt es zunächst den etwas irritierenden Umstand ins Auge zu fassen, dass die Europäische Gemeinschaft, glaubt man der Judikatur des Gerichtshofes, eigentlich schon eine Verfassung hat, nämlich die Europäischen Verträge (genauer die Gründungs-, Änderungs- und Erweiterungsverträge). Sie werden jedenfalls des öfteren als Verfassung apostrophiert62. Aus der wissenschaftlichen Literatur hört man ähnliches: die „bereits bestehende europäische Verfassung“ sei in einem kontinuierlichen Prozess entstanden und fortentwickelt worden, ja mehr noch der „europäische Konstitutionalisierungsprozess“ habe „nicht erst im Jahre 2002 begonnen, sondern bereits vor 50 Jahren“63. Wenn das schon die ganze Wahrheit wäre, brauchten wir eigentlich keine weiteren herausgehobenen Verfassungsakte mehr. Auch müsste dann das Formenarsenal der verfassunggebenden Gewalt um die Kategorie der klandestinen Verfassunggebung erweitert werden. Denn wenn es schon seit fünfzig Jahren einen europäischen Verfassunggebungsprozess gibt, dann hat es lange eigentlich niemand so recht bemerkt. Verfassunggebung wäre dann nicht ein besonders herausgehobener punktueller Gründungsakt, sondern eine Art fleet in being. Freilich wird man fra-
60 An Beiträgen zu einer „Verfassung für Europa“ aus jüngerer Zeit siehe etwa J. Schwarze (Hrsg.), Die Entstehung einer europäischen Verfassungsordnung, 2000; Pernice, Verfassungsrecht (Fn. 52), S. 165 ff.; A. Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, 2001; M. Zuleeg, Die Vorzüge einer europäischen Verfassung, Der Staat 41 (2002), S. 359 ff.; P. Häberle, Europäische Verfassungslehre, 2002. 61 Treffend H.H. Rupp, Anmerkungen zu einer Europäischen Verfassung, JZ 2003, S. 18 ff. (18). 62 Nachweise bei Pache, Verfassung (Fn. 54), S. 774 f. 63 S. Hobe, Bedingungen, Verfahren und Chancen europäischer Verfassungsgebung. Zur Arbeit des Brüsseler Verfassungskonvents, Ms. 2002.
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gen müssen, ob ein derart verwendeter Verfassungsbegriff nicht in die Konturenlosigkeit abgleitet, könnte man ihn mit Fug und Recht doch auf die Regelwerke eines jeden rechtlich geordneten Verbandes bis hin zur Gemeinde-„Verfassung“ anwenden. Von einer mit Vorrang ausgestatteten Grundordnung des Gemeinwesens, die die Freiheitssphären der Bürger abgrenzt und Staatsorgane konstituiert, also von der „Verfassung“ im Sinne des Verfassungsstaates, sind wir damit weit entfernt64. Um nicht falsch verstanden zu werden. Was der Konvent letztlich wohl an technisch-formalen Ordnungsleistungen erbringen wird, kann unserer vollen Zustimmung sicher sein. Es ist ja heute selbst für Volljuristen außerordentlich schwierig, sich durch das Gestrüpp der Verträge und Protokollerklärungen, durch die immer wieder veränderten Zählungen und anderes hindurchzuarbeiten 65. Eine klarere Struktur, eine Trennung zwischen Wichtigem und Unwichtigem, eine Integration der Europäischen Grundrechtecharta, kleinere institutionelle Neuarrangements – dies alles wäre ohne Frage erfreulich, es wäre nützlich, es wäre hilfreich. Aber man hat natürlich das Gefühl, dass mit der Rede vom „Verfassungskonvent“ für Europa eigentlich mehr und Anspruchsvolleres ausgesagt sein soll, dass man vom Nimbus desjenigen Verfassungsbegriffs zehren will, der mit der Amerikanischen und Französischen Revolution die moderne Zeit eingeläutet und in Frankreich gar zu einem „Verfassungsfieber“66 geführt hat. Kann man einen solchen Anspruch seriöserweise erheben? Oder sieht das nicht eher nach Etikettenschwindel aus? Rufen wir uns ein letztes Mal die amerikanische Erklärung in Erinnerung, dann lautet doch die Kardinalfrage, ob es derzeit oder auch nur in absehbarer Zeit einen ähnlichen Gründungs- und Fundamentierungsakt für die Vereinigten Staaten von Europa geben kann wie es ihn für die Vereinigten Staaten von Amerika gegeben hat. Und da scheint mir nach wie vor klar zu sein, was Dieter Grimm, Ernst-Wolfgang Böckenförde, Hasso Hofmann und andere67 in klaren und eindringlichen Analysen vorgetragen haben: solange es an einem demokratischen Unterbau und einer Infrastruktur in Europa fehlt, ist weder an eine De64 Nochmals Rupp, Anmerkungen (Fn. 61), S. 18. – In diese Richtung einer Differenzierung nach Verfassungsbegriff und Verfassungsfunktion auch eingehend und materialreich H. Köppen, Verfassungsfunktionen – Vertragsfunktionen. Strukturelle Divergenz zwischen bundesstaatlichen Verfassungen und EU-Gründungsverträgen aus funktioneller Sicht, 2002, S. 30 ff. (bes. S. 312 ff.); die Arbeit macht deutlich, dass es mit dem vielfach zu hörenden Hinweis, die Verfassung setze keinen (National-)Staat voraus, nicht getan ist. 65 E. Pache, Europäische und nationale Identität: Integration durch Verfassungsrecht, DVBl. 2002, S. 1154 ff. (1164 f.) nennt mehr als 15 Gründungs-, Änderungs-, Ergänzungsund Beitrittsverträge mit mehr als 600 Artikeln. 66 Hierzu H. Hofmann, Über Verfassungsfieber, in: Ius Commune XVII (1990), S. 317 ff. 67 D. Grimm, Braucht Europa eine Verfassung?, 1995; E.-W. Böckenförde, Welchen Weg geht Europa?, 1997; H. Hofmann, Vom Wesen der Verfassung, 2002, S. 5 f., 12 ff., 22 ff. Vgl. hierzu auch die Überlegungen von M. Rainer Lepsius zur zentralen Rolle des „Unionsbürgers“ für eine demokratische Legitimation Europas: M.R. Lepsius, Die Europäische Union als rechtlich konstituierte Verhaltensstrukturierung, in: H. Dreier (Hrsg.), Rechtssoziologie am Ende des 20. Jahrhunderts, 2000, S. 289 ff. (303 ff.).
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mokratisierung der europäischen Institutionen nach nationalstaatlichem Muster noch an eine echte Verfassunggebung zu denken68. An derartigen Voraussetzungen und Strukturelementen für eine substantielle Demokratie fehlt es aber in Europa seit je und immer noch: es gibt keine gemeinsame europäische Presse, keine gemeinsamen Medien, keine europäischen Parteien – und vor allem gibt es keine gemeinsame Sprache, in der die Gesellschaft die politischen Probleme diskutieren und jene Kontroll-, Kritik- und Rückkoppelungsleistungen erbringen könnte, die für eine funktionierende Demokratie unerlässlich sind69. Anders gesagt: Es kann keine demokratische Verfassung ohne die verfassunggebende Gewalt des Volkes geben. Sie ist es, die die Verfassung als zentrale Einheit und entscheidende Grundlage für das politische Gemeinwesen erschafft und trägt. Und das setzt entweder eine gewisse Homogenität oder doch zumindest eine kollektive Identität und vor allem den Willen voraus, sich als zentrale und entscheidende Größe zu etablieren – übrigens auch mit dem Willen aktiver und zielgeleiteter Zukunftsgestaltung. So war es in den USA, so in Frankreich, so bei der Paulskirchenverfassung und nicht anders in Weimar oder beim Parlamentarischen Rat. Dort war das „we“ jeweils klar und eindeutig und Selbstgesetzgebung möglich, weil die Erstreckung des „selbst“ außer Zweifel stand. Ganz anders stellt sich die Lage in Europa dar – mit seinen so vielfältigen und so unterschiedlichen Kulturen, mit seinen konfessionellen Differenzen, seinen tiefverwurzelten Aversionen, seiner so belastenden, weil konfliktgeladenen, nicht selten kriegerischen Vergangenheit. Diese vielfältigen kraftvollen Identitäten auf der Nationalstaatsebene oder noch darunter schaffen eine vollständig andere Lage. Hier finden wir einerseits einer den nationalen Vorbildern ähnliche Disponiertheit für eine Verfassung nicht vor – und andererseits kann dieses vielfältige Europa nicht einfach ohne historischen Ballast in eine offene und gemeinsame Zukunft blicken, wie dies die Amerikaner 1787 tun konnten. Dazu gibt es in Europa einfach zu viel Vergangenheit.
68 Skeptisch auch Rupp, Anmerkungen (Fn. 61), S. 22: „Die Hoffnung auf eine politische Union oder gar auf die Gründung der ,Vereinigten Staaten von Europa‘ hat sich zerschlagen und als trügerische Illusion erwiesen, weil unter den gegebenen Umständen das Entstehen einer solchen Union im Sinne eines die verschiedenen Nationalstaaten mit ihrer unterschiedlichen Kultur, Geschichte, Tradition, Sprache und Zusammengehörigkeitsgefühl ablösenden und ersetzenden Gemeinwesens noch in weiter Ferne liegt und jeder Versuch politischen Ehrgeizes, dieses Ergebnis dennoch in absehbarer Zeit durchzusetzen, Gefahr läuft, die Bürger in den Mitgliedstaaten vor den Kopf zu stoßen, Krisen und Konflikte auszulösen, die mehr zerstören als fördern.“ 69 Vgl. dazu P. Häberle, Gibt es eine europäische Öffentlichkeit?, in: FS Yvo Hangartner, 1998, S. 1007 ff. sowie oben bei und in Fn. 34.
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VI. Verfassungsdämmerung? Was bedeuten unsere Überlegungen nun, so wollen wir am Schluss fragen, für die Perspektiven der Verfassungsstaatlichkeit? Stehen wir etwa am Ende von deren Epoche, erleben wir eine Art von „Verfassungsdämmerung“? So weit muss man nun nicht gehen. Aber das strahlende Leitbild liberaler, demokratischer Verfassungsstaaten auf nationaler Grundlage trübt sich etwas ein. Keinesfalls hat es für die fortbestehenden Nationalstaaten an Bedeutung verloren. Hier lautet das Gebot der Stunde trotz oder gerade wegen der beim Legitimationssubjekt zu konstatierenden Probleme nicht Aufgabe des Prinzips, sondern dessen Verstärkung und kraftvolle Wiederbesinnung auf seine Strukturelemente. Aber diese Nationalstaaten haben angesichts von Supranationalisierung und Internationalisierung ihrerseits an Bedeutung verloren. Nicht alle Hoheitsgewalt ist mehr, wie es den amerikanischen Verfassungsvätern vorschwebte, vom Staatsvolk selbst abgeleitet und durch das Volk legitimiert. Die Europäische Gemeinschaft liefert das wichtigste Exempel dafür. Und für diese eigentümliche Form lässt sich der Gedanke der Verfassungsstaatlichkeit im eingangs näher umrissenen Sinne nicht einfach kopieren oder adaptieren – jedenfalls nicht in der Ausprägung und dem Anspruch, mit der er seit Ende des 18. Jahrhunderts in die Weltgeschichte eingetreten ist. Jenes Verfassungsprogramm lässt sich eben – wie gesehen – nicht einfach auf Europa als eine vermeintlich bloß größere Einheit übertragen. Also bleibt es auch für das Europa der Zukunft bei einem nur schwer zu erfassenden mixtum compositum. Staatliche und supranationale Ebene werden sich weiterhin durchdringen, ergänzen, vielleicht auch widersprechen und müssen in einen immer schwierigen Ausgleich gebracht werden. Die völkerrechtlichen und intergouvernementalen Elemente des ganzen Komplexes werden auf absehbare Zeit nicht verschwinden, sondern im Zuge der Erweiterung nach Ost- und Südosteuropa vielleicht noch zunehmen. Daneben und darüber wird es, vermutlich sukzessive und im Krebsgang, Erweiterungen des originär supranationalen Elementes geben. Kurz: die europäische Gemeinschaft wird ein kompliziertes Konglomerat bleiben. Doch halten wir hier einen Moment inne. Kommt uns eine solche Charakterisierung in Deutschland nicht irgendwie bekannt vor? Gab es so etwas nicht schon einmal, etwas, was seinerzeit auch in keine Schublade der tradierten Staats- und Regierungsformen passen wollte und deshalb gar als monstro simile charakterisiert wurde? So bezeichnete Pufendorf bekanntlich unter Pseudonym das Alte Reich, also das Heilige Römische Reich Deutscher Nation70. Könnte es nicht sein, dass dieses seltsame Gebilde nicht eine rückständige und verstaubte Form war, an der der rasante Zug der Nationenbildung vorbeirauschte, sondern im Grunde genommen frühe 70 Severinus de Monzambano, Die Verfassung des Deutschen Reiches (1667), VI 9, zit. nach der Insel-Ausgabe, 1994, S. 198 f.
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(vielleicht verfrühte) Form der Organisation von Herrschaftsträgern oberhalb der staatlichen Ebene? Das wäre vielleicht ein reizvoller Gedanke71. Möglicherweise ist die Phase der nationalen Verfassungsstaaten nur eine Art Durchgangsstation gewesen. Dann müssen wir heute nach anderen Formen und Arten der Rechtfertigung und Ausbalancierung von Herrschaftsansprüchen in komplexen, semi- oder quasiföderalen Systemen Ausschau halten72. Vielleicht bedeutet das einfach, dass wir künftig weniger Hamilton, Madison oder Sieyes und mehr Vertreter der Reichspublizistik wie Moser und Pütter oder den Emdener Syndikus Althusius studieren müssten73. Es ist ja nicht auszuschließen, dass wir da noch die eine oder andere interessante Entdeckung machen.
71 Trotz allen Reizes sollte man vorschnelle Parallelisierungen vermeiden, wie J. Weitzel, Das alte Reich und die neue Union, in: FS Karl Kroeschell, 1997, S. 1347 ff. (1353. 1358 f., 1359 f.) zu Recht betont. 72 v. Bogdandy, Föderalismus (Fn. 57), S. 61 ff. 73 Zu ihnen etwa A. Laufs, Johann Jacob Moser, in: M. Stolleis (Hrsg.), Staatsdenker im 17. und 18. Jahrhundert, 2. Aufl. 1987, S. 284 ff.; C. Link, Johann Stephan Pütter, ebd., S. 310 ff.; M. Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. I, 1988, S. 258 ff., 312 ff.; H. Hofmann, Repräsentation in der Staatslehre der frühen Neuzeit – Zur Frage des Repräsentativprinzips in der „Politik“ des Johannes Althusius, in: ders., Recht – Politik – Verfassung, 1986, S. 1 ff.
Der Vorbehalt des Gesetzes im Recht der Europäischen Union Von Meinhard Hilf und Kai-Dieter Classen
I. Einführung Der Gesetzesvorbehalt kommt nicht zur Ruhe. Von den verfassungsrechtlichen Epizentren gehen immer wieder Erdstöße und Schockwellen aus: Vom Gewaltenteilungsprinzip und von den Grundsätzen der Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit. Hatte Peter Selmer 1968 noch eine umfassende Bestandsaufnahme der Probleme um den Gesetzesvorbehalt vorgelegt, so sind inzwischen viele der damaligen Streitfragen „gelöst“ worden. Aber immer wieder sind neue Streitfälle aufgebrochen, so etwa um den Gesetzesvorbehalt im Hinblick auf die Rechtschreibreform, um die Entsendung von Soldaten ins Ausland, um den Sitz der Verfassungsorgane oder um zahlreiche Randfragen der Leistungsverwaltung. Im Recht der Europäischen Union (EU) ist dies nicht anders. Wen sollte es auch wundern, ist doch die EU auf den Verfassungsböden aller ihrer Mitgliedstaaten gegründet. Den zwingenden Vorgaben der Struktursicherungsklausel des Art. 23 Abs. 1 GG scheint entsprochen worden zu sein. Mit viel Scharfsinn und auch Skepsis hat Peter Selmer die entstehende Verfassungsstruktur der Europäischen Union untersucht. Seine differenzierte und mitunter auch handfeste – er möge diese Formulierung nachsehen – Ausarbeitung zu den Grundlagen der EG-Bananenmarktordnung1 hat zwar letztere nicht zum Einsturz bringen können2. Aber sie hat auch dazu beigetragen, dass diese Marktordnung letztlich doch umgestaltet und neu verankert worden ist. Zu den nachfolgenden Hinweisen zum Gesetzesvorbehalt im Recht der Europäischen Union sollte man sinnvollerweise (auch) vom deutschen Verfassungsrecht 1 P. Selmer, Die Gewährleistung der unabdingbaren Grundrechtsstandards durch den EuGH: Zum „Kooperationsverhältnis“ zwischen BVerfG und EuGH am Beispiel des Rechtsschutzes gegen die Bananenmarkt-Verordnung, 1998. 2 Vgl. aus der zahlreichen Rechtsprechung etwa: EuGH Rs. C-280 / 93, Deutschland / Rat, Slg. 1994, I-4973; EuGH Rs. C-122 / 95, Deutschland / Rat, Slg. 1998, I-973; EuGH verb. Rs. C-364 u. 365 / 95, T-Port GmbH & Co KG / Hauptzollamt Hamburg Jonas, Slg. 1998, I-1023; BVerfG, EuZW 2000, S. 702 – Bananenmarktordnung.
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ausgehen (II.). Über die Brücke des Art. 23 GG werden entsprechende Verfassungsfragen an das Recht der EU gestellt (III.). Diese zeigen bei allen strukturellen Unterschieden eine ausreichende verfassungsrechtliche Absicherung des Rechts der EG (IV.). Vor allem werden die Grundrechtecharta und der neue Verfassungsentwurf dazu beitragen, ein homogenes Fundament des Gesetzesvorbehalts im Gemeinschaftsrecht zu legen (V.). So werden in einer Schlussbetrachtung (VI.) die im Gesetzesvorbehalt liegenden Funktionen der Machtbegrenzung und der Legitimation auch für die Europäische Union sichtbar werden. II. Der Vorbehalt des Gesetzes im deutschen Recht Der Begriff des Vorbehalts des Gesetzes umreißt Sachbereiche, die dem Gesetzgeber vorbehalten sind, also einer autonomen Regelung der Verwaltung entzogen sind3. Verfassungsrechtlich wird somit ein Kompetenzproblem erfasst, denn es geht um die Abgrenzung der Wirkungsbereiche von Gesetzgebung und Verwaltung. Bedeutung und Reichweite des Gesetzesvorbehalts sind damit eine der Zentralfragen der Gewaltenteilung4. Gleichzeitig kommt der Vorbehalt des Gesetzes historischen Forderungen aus rechtsstaatlichen und demokratischen Gründen nach.
1. Bedeutung und Begriffsbestimmung Die Begriffe Vorbehalt des Gesetzes und Gesetzesvorbehalt werden weitestgehend synonym verwendet. Sie bezeichnen Regelungsgegenstände, die vom Gesetzgeber selbst geregelt, aber auch zum Teil an die Exekutive delegiert werden können. Eine Verdichtung des Gesetzesvorbehalts zum Parlamentsvorbehalt liegt vor, wenn der parlamentarische Gesetzgeber eine bestimmte Regelungsmaterie nicht übertragen darf und somit eine Regelung durch förmliches Gesetz erforderlich ist5. Abzugrenzen sind solche aufgrund eines Parlamentsvorbehalts zustande gekommenen Gesetze von sogenannten konstitutiven Parlamentsbeschlüssen ohne Gesetzescharakter6, die das Bundesverfassungsgericht etwa im Zusammenhang mit dem Einsatz der Bundeswehr im Ausland7 für erforderlich erachtet. Zum Parlamentsvorbehalt gehört inhaltlich-systematisch die Wesentlichkeitstheorie8, nach der alle wesentlichen Entscheidungen im Staate dem Parlament vorVgl. P. Selmer, Der Vorbehalt des Gesetzes, JuS 1968, S. 489. F. Ossenbühl, in: J. Isensee / P. Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts Band III, 1988, § 62 Rn. 7. 5 W. Krebs, Zum aktuellen Stand der Lehre vom Vorbehalt des Gesetzes, Jura 1979, S. 304, 312. 6 H.-U. Erichsen, Vorrang und Vorbehalt des Gesetzes, Jura 1995, S. 550, 553. 7 Vgl. BVerfGE 90, 286 (381 ff.) – AWACS. 3 4
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behalten sind. Erst durch den Maßstab der Wesentlichkeit wird der Parlamentsvorbehalt annäherungsweise konturiert und substantiiert9. Die Formel der Wesentlichkeitstheorie klingt griffig, ist in ihrer praktischen Anwendung jedoch diffus und findet ihre Konkretisierung häufig erst durch die Gerichte anhand des Einzelfalls. Der Rechtssatzvorbehalt schließlich lässt auch Regelungen unterhalb des förmlichen Gesetzes zu, solange diese abstrakt-genereller Natur sind und rechtliche Außenwirkung10 besitzen11.
2. Entstehungsgeschichtliches Im historischen Rückblick handelt es sich bei dem Gesetzesvorbehalt um ein wesentliches Postulat der liberalen Verfassungsbewegung des 19. Jahrhunderts. Mit der schrittweisen Auflösung der alleinigen Staatsgewalt in den Händen der Landesherren ging eine steigende Beteiligung der Untertanen an grundlegenden Entscheidungen des Staates einher. Diese grundlegenden Entscheidungen betrafen insbesondere Eingriffe in Freiheit und Eigentum der Bürger, weshalb sich im Kontext des Gesetzesvorbehalts die schlagwortartige „Freiheit und Eigentum“ – Formel bildete12. Eingriffe sollten grundsätzlich nur noch möglich sein, wenn die betroffenen Bürger zuvor durch ihre Repräsentationsorgane ihre Zustimmung gegeben hatten. Am Vorbehalt des Gesetzes konnte somit der Konflikt zwischen landesherrlicher Exekutive und bürgerlichen Repräsentationsorganen festgemacht werden. In der spätkonstitutionellen Staatsrechtslehre trat die Notwendigkeit einer Ermächtigungsgrundlage für das Handeln der Verwaltung in den Vordergrund13, wies aber stets nach innen: Das Verfassungsrecht machte zunächst noch an den Grenzen halt.
3. Ausprägungen im deutschen Verfassungsrecht Der Schutz vor willkürlichen Akten durch die Staatsgewalt und die Beteiligung des Bürgers an der Staatsgewalt konstituieren somit historisch eine rechtsstaatliche und eine demokratische Komponente des Gesetzesvorbehalts. Die rechtsstaatliche Komponente ermöglicht die (Selbst-)Bindung staatlicher Macht durch die Formulierung allgemein gültiger Rechtssätze: Es entsteht Berechenbarkeit staatlicher Machtausübung. BVerfGE 49, 89 (126 f.) – Kalkar. F. Ossenbühl (Fn. 4), § 62 Rn. 41 f. 10 Vgl. M. Kloepfer, Der Vorbehalt des Gesetzes im Wandel, JZ 1984, S. 685, 693. 11 Vgl. zur Begrifflichkeit insges. F. Ossenbühl (Fn. 4), § 62 Rn. 9 – 12. 12 Vgl. P. Selmer (Fn. 3), S. 489, 490. 13 F. Ossenbühl (Fn. 4), § 62 Rn. 13 u. 33. 8 9
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In der demokratischen Komponente geht es darum, dass die Normen von dem Organ, welches das Volk repräsentiert, erlassen werden, um einen Repräsentationszusammenhang zwischen dem Volk und dem Gesetz einerseits und der Bindung der Exekutive an dieses Gesetz andererseits herzustellen14. Unter dem Grundgesetz wurde zunächst ein eigenständiger Anwendungsbereich für einen allgemeinen Gesetzesvorbehalt in Frage gestellt: Zweifel wurden laut, weil Art. 20 Abs. 2 und 3 GG keine ausdrückliche Anordnung beinhalteten und weil über die Grundrechte, insbesondere über Art. 2 Abs. 1 GG, der gesamte Bereich der Eingriffe in Freiheit und Eigentum durch einen Gesetzesvorbehalt abgesichert sei15. Diese Sichtweise hat sich jedoch nicht durchsetzen können16. Überwiegend hält man weiterhin an der Existenz eines allgemeinen Gesetzesvorbehalts fest. Dieser wird entweder aus Art. 20 Abs. 3 GG, den Grundrechten, gewohnheitsrechtlich oder aus dem Rechtsstaats- bzw. Demokratieprinzip hergeleitet17. Gründe für das Festhalten sind die unterschiedlichen Funktionen, die dem allgemeinen und dem grundrechtlichen Gesetzesvorbehalt zukommen18. Vereinzelt wurde die Lehre vom Gesetzesvorbehalt zu einer Lehre vom Totalvorbehalt fortentwickelt: Jesch19 folgerte eine solche Notwendigkeit aus einer behaupteten Stellung des Parlaments als höchstem Staatsorgan. Einer solchen Deutung ist jedoch u. a. das BVerfG entgegengetreten20. Rupp21 machte die Vorbehaltsfrage an rechtsstaatlichen Argumenten fest. Keiner dieser generellen Begründungsansätze konnte sich jedoch vollständig durchsetzen.
4. Bereichsspezifische Betrachtung Nach 50 Jahren Verfassungsentwicklung unter dem Grundgesetz ist noch keine abschließende Klarheit erreicht worden. Neben klassischen Diskussionsfeldern brechen immer wieder neue Problemkreise auf, bei denen es zu klären gilt, wann bestimmte Maßnahmen unter einen Gesetzesvorbehalt, beziehungsweise nach der Wesentlichkeitstheorie unter einen Parlamentsvorbehalt fallen.
W. Krebs (Fn. 5), S. 304, 305. Vgl. K. Vogel, Gesetzgeber und Verwaltung, VVDStRL (24), 1966, S. 125, 151. 16 F. Ossenbühl (Fn. 4), § 62 Rn. 16. 17 Vgl. H.-U. Erichsen (Fn. 6), S. 550, 552 m. w. N. 18 M. Kloepfer (Fn. 10), S. 685, 687. 19 Vgl. D. Jesch, Gesetz und Verwaltung, 1961, S. 171 ff. 20 BVerfGE 49, 89 (124 ff.) – Kalkar; BVerfGE 68, 1 (87) – NATO-Doppelbeschluss; vgl. auch Ernst-Wolfgang Böckenförde, Organisationsgewalt und Gesetzesvorbehalt, NJW 1999, S. 1235, 1236. 21 H.-H. Rupp, Grundfragen der heutigen Verwaltungsrechtslehre, 1965, S. 113 ff. 14 15
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Jüngst sah das Bundesverfassungsgericht die Regierungsaufgabe der Öffentlichkeitsarbeit als ausreichende Rechtsgrundlage an, um auch ohne andere gesetzliche Grundlage kritisch über Sekten zu informieren22. Im Bereich der Leistungsverwaltung bewegt seit langem die Frage der Reichweite des Gesetzesvorbehalts die Gemüter. Fragen zur Regelungsdichte und zur Form einer Ermächtigungsgrundlage, etwa bei der Subventionsvergabe, werden immer wieder neu gestellt23. Im Zusammenhang mit der durch einen Organisationserlass geplanten Zusammenlegung von Innen- und Justizministerium übertrug der nordrhein-westfälische Verfassungsgerichtshof in einer höchst strittigen Entscheidung den Gedanken des Vorbehalts des Gesetzes auf einen internen Organisationsakt24. Und über das Bedürfnis einer gesetzlichen Grundlage wurde in ähnlicher Form bei der Einführung der Rechtschreibreform gestritten25. Besondere verfassungsrechtliche Regelungen finden sich hinsichtlich der Delegation von Rechtssetzungsbefugnissen in Art. 80 GG und hinsichtlich der unter einem Gesetzesvorbehalt stehenden kommunalen Selbstverwaltungsgarantie26 in Art. 28 Abs. 2 GG27.
III. Artikel 23 I GG als Brücke ins Gemeinschaftsrecht Als Brücke ins Gemeinschaftsrecht für den Gesetzesvorbehalt dient aus deutscher Sicht die sogenannte „Struktursicherungsklausel“ in Art. 23 Abs. 1 GG28: Grundlegende Anforderungen an Demokratie und Rechtsstaatlichkeit werden nachdrücklich auch an die Europäische Union im Sinne einer „strukturangepassten Grundsatzkongruenz“29 gestellt30. Einen ersten gemeinschaftsrechtlichen Ausdruck fanden diese Prinzipien 1984 durch die Präambel zum Spinelli-Entwurf eines Vertrages über die Europäische Union31. Ausdrücklich wurden diese Anforderungen an die EU / EG allerdings erst BVerfG 105, 279. Vgl. bereits P. Selmer (Fn. 3), S. 489, 492 ff.; einen Überblick über den gegenwärtigen Diskussionsstand gibt H.-U. Erichsen (Fn. 6), S. 550, 553 m. w. N. 24 NWVerfGH, Urt. v. 9. 2. 1999 – VerfGH 11 / 98, NJW 1999, S. 1243; vgl. hierzu die kritischen Anmerkungen von Böckenförde (Fn. 20), S. 1235. 25 Vgl. BVerfGE 98, 218 – Rechtschreibreform. 26 Vgl. BVerfGE 79, 127 (143 ff.) – Rastede. 27 Zu Fragestellungen der demokratischen Legitimation der Rechtsprechung vgl. C.-D. Classen, Gesetzesvorbehalt und Dritte Gewalt, JZ 2003, S. 693 ff. 28 In der jetzigen Fassung eingefügt durch Gesetz vom 21. 12. 1992, BGBl. I S. 2086. 29 R. Streinz, Europarecht, 6. Aufl., 2003, Rn. 281. 30 Vgl. zum Demokratieprinzip in Europa BVerfGE 89, 155 (185 ff.) – Maastricht. 31 Vgl. F. Capotorti / M. Hilf / F. G. Jacobs / J.-P. Jacqué, The European Union Treaty – Commentary on the Draft Adopted by the European Parliament, 1986, S. 25 ff. 22 23
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im Maastricht-Vertrag von 1992 durch Art. F EUV verankert, in erweiterter Fassung in Art. 6 EUV (Vertrag von Amsterdam). Gleichzeitig strahlen seither diese Prinzipien auch wieder auf die Mitgliedstaaten über Art. 7 EUV zurück. Bei den Anforderungen an Rechtsstaatlichkeit und Demokratie handelt es sich somit nicht mehr nur um eine Einbahnstraße von den Mitgliedsstaaten hin zur EU – es kann auch „Gegenverkehr“ geben. Dies zeigte sich erstmals im Rahmen der umstrittenen Sanktionen gegen Österreich32. Art. 7 EUV erinnert insoweit an die bundesstaatliche Homogenitätsklausel des Art. 28 GG.
IV. Der Vorbehalt des Gesetzes im Gemeinschaftsrecht 1. Gesetzesvorbehalt und strukturelle Unterschiede der EG Von jeher handelt es sich bei der durch den Gesetzesvorbehalt vorgenommenen Kompetenzabgrenzung von Exekutive und Legislative nicht um eine starre Linie. Entscheidend für Bedeutung und Reichweite des Gesetzesvorbehalts sind vielmehr sowohl die Struktur der jeweiligen „Verfassungsordnung“ als auch das zugrundeliegende „Staatsverständnis“33. Da der Gesetzesbegriff und der Gesetzesvorbehalt stets historisch geprägt und an einer bestimmten Verfassungsstruktur ausgerichtet waren, ist auch das jeweilige Begriffsverständnis von eben diesen Faktoren abhängig. Diese Abhängigkeit kennzeichnet daher den Gesetzesvorbehalt als wandelbaren Begriff, dem je nach Verfassungsstruktur unterschiedliche Sinngehalte zugeordnet werden können34. Wie ist der Gesetzesvorbehalt auf Gemeinschaftsebene zu verstehen? Zunächst könnte man unbedarft daran denken, eine europarechtliche Entsprechung zum nationalen Gesetzesvorbehalt im Vertragsvorbehalt, das heißt in dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung zu sehen. Zumindest terminologisch besteht eine gewisse Nähe. Allerdings geht dieser Vergleich fehl, denn der Vertragsvorbehalt regelt die Frage, welche Kompetenzen der EG / EU überhaupt zustehen, während der Gesetzesvorbehalt die Frage betrifft, von welchen Organen die bestehenden Kompetenzen zum Erlass von Sekundärrechtsakten ausgehen müssen35. Eine kompetenzabgrenzende Funktion kommt dem durch den EuGH36 entwickelten Prinzip des institutionellen Gleichgewichts zu, so dass sich ein Vergleich zwischen Gesetzesvorbehalt und diesem Prinzip aufdrängen könnte. 32 Vgl. F. Schorkopf, Die Maßnahmen der XIV EU-Mitgliedstaaten gegen Österreich, 2002. 33 F. Ossenbühl (Fn. 4), § 62 Rn. 8. 34 F. Ossenbühl (Fn. 4), § 62 Rn. 14; vgl. auch F. Sander, Repräsentation und Kompetenzverteilung, Diss. Universität Hamburg 2003, S. 22 ff., i.E. 35 Vgl. grundlegend D. Triantafyllou, Vom Vertrags- zum Gesetzesvorbehalt, 1996, S. 21 ff. 36 Ihren Ausgang findet diese Rechtssprechung in der Meroni-I Entscheidung des EuGH, Rs. 9 / 56, Slg. 1958, S. 1, 44.
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Das Prinzip des institutionellen Gleichgewichts soll einvernehmliche oder einseitige Aufgabenverschiebungen zwischen den Organen verhindern und so die in den Verträgen ausbalancierte Kompetenz- und Befugnisordnung sichern37. Andererseits vermag es das gegenwärtige Kompetenzgefüge immer nur in seiner vertraglich vorgesehenen gegenwärtigen Struktur gleichsam einer Fotografie zu sichern. Aufgaben, Kompetenzen und Befugnisse können laufend im Wege der Vertragsänderung neu austariert werden. Eine Entsprechung zum grundlegenden Gesetzesvorbehalt stellt dieses Prinzip damit nicht dar. Will man den Vorbehalt des Gesetzes auf das Gemeinschaftsrecht übertragen, so trifft man zunächst auf zahlreiche dem europäischen Rechts- und „Verfassungssystem“ immanente Unterschiede: Fehlender Gesetzesbegriff, Verteilung der Rechtssetzung auf verschiedene Organe und kaum eindeutige Unterscheidbarkeit zwischen Legislative und Exekutive – dies gilt es für die Bestimmung eines europäischen Verständnis des Gesetzesvorbehalts zu berücksichtigen.
a) Der fehlende Gesetzesbegriff im Gemeinschaftsrecht Zum ersten stößt man auf terminologische Schwierigkeiten: In Art. 249 EGV sind die Rechtsakte der Gemeinschaft benannt. Der EUV ergänzt diesen Kanon durch Handlungsformen in der zweiten und dritten Säule, wie etwa gemeinsame Standpunkte bzw. Rahmenbeschlüsse und Beschlüsse nach Art. 34 Abs. 2 EUV38. Der Terminus des „Gesetzes“ ist dem Gemeinschaftsrecht dagegen – bislang – fremd39. Beim Abschluss der Gemeinschaftsverträge passte der deutsche formelle Gesetzesbegriff ebenso wenig wie der französische Begriff „loi“ oder der englische Begriff des „Act (of Parliament)“40 auf Rechtshandlungen der EG, insbesondere nicht auf die Verordnung, da ein demokratisch legitimiertes Europäisches Parlament zunächst noch nicht bestand41. Dennoch sprach der EuGH – zumindest in der deutschen Fassung einiger Urteile – gelegentlich von den an der Rechtssetzung nach dem EGV beteiligten Organen als dem „Gemeinschaftsgesetzgeber“ 42. M. Hilf, Die Organisationsstruktur der Europäischen Gemeinschaften, 1982, S. 314. Vgl. etwa V. Röben, in: E. Grabitz / M. Hilf (Hrsg.), Das Recht der Europäischen Union, Art. 34 EUV Rn. 8 ff. 39 C. Calliess, Die Charta der Grundrechte der europäischen Union, EuZW 2001, S. 261, 264. 40 Vgl. zu den jeweiligen Begriffsimplikationen: H. Grams, Zur Gesetzgebung der Europäischen Union, 1998, S. 59. 41 Vgl. H. Grams (Fn. 40), S. 67; E. Grabitz, in: E. Grabitz / M. Hilf (Hrsg.), Kommentar zum EWG-Vertrag, Art. 189 Rn. 43 (EL 5 – Sept. 1992). Vgl. auch M. Nettesheim, in: E. Grabitz / M. Hilf (Hrsg.), Das Recht der Europäischen Union, Art. 249 EGV Rn. 8. 42 Vgl. jüngst etwa EuGH 10. 07. 2003, verb. Rs. C-20 / 00 u. C-64 / 00, Booker Aquacultur Ltd and Hydro Seafood GSP Ltd, hekt., I-17, Rn. 58. 37 38
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Mit dem Ausbau der Beteiligungsbefugnisse des Europäischen Parlaments gingen stets Bemühungen um eine Neueinteilung der Rechtsakte einher. Im SpinelliEntwurf für einen Vertrag zur Gründung der Europäischen Union wurde eine neue Typologie von Rechtsakten mit entsprechenden Hierarchiestufen vorgeschlagen, um so dem Mangel an Transparenz des Rechtssystems abzuhelfen und dem Bürger die ihm vertraute Rechtsfigur des Gesetzes gegenüberzustellen43. b) Die institutionelle Struktur der Gemeinschaft Das zweite Problem ist in der zahlenmäßigen und funktionellen Vielfalt der Gemeinschaftsorgane angelegt: Es gibt drei an der Rechtsetzung beteiligte Organe. Der Gesetzesvorbehalt beziehungsweise Parlamentsvorbehalt bedeutet, dass eine gewisse Regelungsmaterie (gegebenenfalls ausschließlich) vom Gesetzgeber selbst in Form eines – nach deutschem Verständnis – formellen Gesetzes geregelt werden muss. Aber wer ist auf der Gemeinschaftsebene als Gesetzgeber anzusehen? Der Rat ist das Hauptrechtssetzungsorgan für sekundäres Gemeinschaftsrecht. Nach Art. 202 EGV kann er der Kommission Durchführungsbefugnisse übertragen. Eine indirekt vermittelte demokratische Legitimation der Mitglieder des Rates besteht über deren Rückbindung an die nationalen Regierungen und die Parlamente, die die Vertreter im Rat – wenn auch mit Mühe – kontrollieren. Dem Europäischen Parlament wird durch die direkte Wahl seiner Mitglieder eine ungleich höhere unmittelbare demokratische Legitimation zu Teil44. Es ist auf unterschiedliche Weise am Rechtssetzungsprozess auf Gemeinschaftsebene beteiligt, etwa im Wege des Anhörungsverfahrens (z. B. Art. 175 Abs. 2 EGV), im jetzt auslaufenden Verfahren der Zusammenarbeit nach Art. 252 EGV, im inzwischen zum Regelfall mutierten Mitentscheidungsverfahren nach Art. 251 EGV sowie im Verfahren der Zustimmung (z. B. Art. 161 EGV). Die Beteiligung der von den Regierungen der Mitgliedstaaten benannten Kommission am Rechtssetzungsprozess besteht primär im Vorschlagsmonopol: Der Rat kann erst rechtssetzend beschließen, wenn die Kommission einen Vorschlag unterbreitet hat. Darüber hinaus kann der Rat die Kommission zum Erlass der im Vertrag vorgesehenen Rechtshandlungen ermächtigen (Art. 202 Spiegelstrich 3 und Art. 211 Spiegelstrich 4 EGV: „Regeldelegation“). Eine eigene Rechtssetzungskompetenz steht der Kommission nur begrenzt etwa nach Art. 86 Abs. 3 EGV zu. Die Mitglieder der Kommission werden gemäß Art. 214 EGV ernannt. Eine demokratische Legitimationskette besteht hier mittelbar über die die Benennung vorneh43 Vgl. zur Debatte um die Normhierarchie H. Hofmann, Normenhierarchien im Europäischen Gemeinschaftsrecht, 1999, S. 31 f. 44 Teilweise wird allerdings die legitimationsstiftende Funktion des Parlaments bezweifelt, weil eine solche nur von einem – bislang nicht existenten – „europäischen Volk“ herrühren könne: Vgl. S. Hölscheidt, in: E. Grabitz / M. Hilf (Hrsg.), Das Recht der Europäischen Union, Art. 189 EGV Rn. 7 m. w. N.
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menden Regierungen der Mitgliedstaaten und über die erforderliche Zustimmung des Europäischen Parlaments. Der Beitrag an demokratischer Legitimation durch das Parlament ist damit begrenzt, denn die bloße Möglichkeit der Bestätigung bleibt, was die Vermittlung demokratischer Legitimation angeht, deutlich hinter einer selbständigen Kreation kraft eigener Legitimation zurück. Diese Pluralität rechtssetzender Organe mit unterschiedlich ausgeprägter demokratischer Legitimation macht eine Anpassung der demokratischen Komponente des Gesetzesvorbehalts an die gegenwärtige Organstruktur und die Typologie der Rechtssetzungsverfahren erforderlich. Dies zeigt, dass die im deutschen Verfassungsrecht geprägte und gewachsene Figur des Gesetzesvorbehalts nicht ohne weiteres übertragbar ist.
c) Die Abgrenzung von legislativen und exekutiven Rechtsakten Letztendlich stellt sich die Frage, welche europäischen Rechtsakte denn einem formellen Gesetz im Sinne eines Legislativakts und welche eher einem rein materiellen Gesetz im Sinne eines Exekutivakts entsprechen. Die EG verfügt über eigene Formen von Rechtsakten, die sich nicht ohne weiteres den Kategorien von Gesetz und Rechtsverordnung zuordnen lassen. Vielmehr kann ein und dieselbe Rechtsform einmal Legislativrecht und einmal Durchführungsrecht sein45. Eine Abgrenzung anhand der Rechtsform führt daher nicht weiter. Dies gilt ebenso für eine Zuordnung nach erlassendem Organ wegen der bereits skizzierten Verteilung der rechtssetzenden Funktionen auf Rat, Parlament und Kommission. Auf der Grundlage der Entscheidung Köster46 erfolgt die Abgrenzung nach der Rechtsgrundlage, auf welche ein Rechtsakt gestützt wird: Der EuGH differenziert zwischen Legislativakten, die ihre Rechtsgrundlage unmittelbar im Vertrag finden, und abgeleitetem Recht als Exekutivakt, das der Durchführung dieser Rechtsakte dient und seine Rechtsgrundlage folglich in einem Legislativakt oder einem anderen Exekutivakt findet47. Diese Abgrenzung ist formal und erfolgt ohne inhaltliche Differenzierung, die sich ebenfalls als Abgrenzungskriterium angeboten hätte. Inhaltliche Kriterien zur Definition der notwendigen Regelungsdichte von Legislativakten und den Grenzen der Gestaltungsfreiheit bei der Durchführung durch Exekutivakte hat der EuGH variierend je nach Politikbereichen entwickelt48. Ausgehend von der Formel in der Entscheidung Köster, wonach der Rat die wesentli45 S. Magiera, Zur Reform der Normhierarchie im Recht der Europäischen Union, integration 1995, S. 197, 200; H. Hofmann (Fn. 43), S. 25 f. 46 EuGH Rs. 25 / 70, Köster, Slg. 1970, 1161, 1172 Rn. 6. 47 Vgl. EuGH Rs. 25 / 70 (Fn. 46), sowie K. Lenaerts, Regulating the Regulatory Process: „Delegation of Powers“ in the European Community, ELR 1993, S. 23, 27. 48 Vgl. H. Hofmann (Fn. 43), S. 117 ff.
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chen Grundzüge der zu regelnden Materie selbst bestimmen muss, hat der EuGH konkretisierend ausgeführt, dass zum einen der Begriff der Durchführung weit zu verstehen sei49 und dass zum anderen als wesentlich nur solche Bestimmungen anzusehen seien, durch die die grundsätzlichen Ausrichtungen der Gemeinschaftspolitiken umgesetzt werden50. Somit hat diese „Wesentlichkeitsrechtsprechung“ des EuGH einen rudimentären und weit zu verstehenden Vorbehalt zugunsten der Rechtssetzung des Rates umrissen51.
2. Funktionen des Gesetzesvorbehalts im Gemeinschaftsrecht – Zwischenergebnis Damit sind die Schwierigkeiten angedeutet, wenn man den aus dem deutschen Verfassungsrecht bekannten Gesetzesvorbehalt auf die EG / EU übertragen will. Hier wie dort kommen ihm jedoch dieselben Funktionen zu: Die rechtsstaatliche Komponente, auf die die Union gemäß Art. 6 Abs. 1 EUV verpflichtet ist, sichert die Gesetzesbindung der Verwaltung und führt zur Beschränkung und Berechenbarkeit von Machtausübung. Die demokratische Komponente, die nach Art. 6 Abs. 1 EUV ebenso maßgeblich ist, soll die Vermittlung von hinreichender Legitimität durch entsprechende Repräsentationsorgane als Gesetzgeber sichern. Hier, und nicht im Bereich der rechtstaatlichen Komponente, erscheint es gegenwärtig fraglich, ob der Gesetzesvorbehalt seine Funktion erfüllen kann, nämlich einen ausreichend starken Legitimationszusammenhang zwischen Bürger und Eingriff durch oder aufgrund eines Rechtsakts herzustellen. Je nach Rechtssetzungsverfahren und gegebenenfalls weitestgehender Übertragung der Durchführung an die Kommission kann der legitimierende „rote Faden“ reichlich dünn erscheinen. Eine Stärkung der demokratischen Komponente erscheint erforderlich und ist auch weitestgehend unumstritten. Dies dürfte durch eine durchgehende Einführung des Mitentscheidungsverfahrens als Regelfall erfolgen. Eine alleinige Rechtssetzungskompetenz des Europäischen Parlaments ist derzeit undenkbar, weil dies die mitgliedstaatliche Komponente zu weitgehend außer Acht lassen würde.
49 EuGH Rs. 23 / 75, Rey Soda, Slg. 1975, 1279, 1302 Rn. 10 / 14; EuGH verb. Rs. 133 – 136 / 85, Rau / BALM, Slg. 1987, 2289, 2341 f. Rn. 30 f. 50 EuGH Rs. C-240 / 90, Deutschland / Kommission, Slg. 1992, I-5383, 5433 f. Rn. 35 ff. 51 Zum ganzen H. Hofmann (Fn. 43), S. 116 ff.; vgl. für einzelne Nachweise zum Umfang der Übertragung und Bestimmtheit der Durchführungsermächtigung: J. -P. Hix, in: J. Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar, 2000, Art. 202 EGV Rn. 13 ff.
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3. Vergleiche im Rahmen der bereichsspezifischen Betrachtung Letztlich drängt sich, abgesehen von allen institutionellen Erwägungen, die Suche nach gemeinschaftsrechtlichen Entsprechungen der im deutschen Verfassungsrecht umstrittenen Fälle des Gesetzesvorbehalts auf. Hier müssen stichwortartige Hinweise genügen52.
a) Eingriffsverwaltung Für die Eingriffsverwaltung und insbesondere den grundrechtlichen Eingriffsvorbehalt kann vorsichtig eine Annäherung an das deutsche Recht festgestellt werden. Zu den Anforderungen einer Rechtsgrundlage bei Eingriffen in Grundrechte nahm der EuGH in den Entscheidungen Hoechst und Dow Chemical Stellung. Er führte aus, dass Eingriffe der öffentlichen Gewalt in den Mitgliedstaaten einer Rechtsgrundlage bedürfen. Selbiges sei als allgemeiner Rechtsgrundsatz auch für das Gemeinschaftsrecht anzuerkennen53. Dies kann als Postulat für eine zumindest schriftliche Rechtsgrundlage54 gewertet werden.
b) Leistungsverwaltung Im Haushaltsrecht der Gemeinschaft gilt der Grundsatz, dass die Vornahme von Ausgaben für alle bedeutenden Gemeinschaftsausgaben nicht nur der Ausweisung der entsprechenden Mittel im Haushaltsplan bedarf, sondern auch den vorherigen Erlass eines Basisrechtsakts zur Bewilligung dieser Ausgaben voraussetzt55. Ob es sich bei einigen Maßnahmen der Kommission um solche „bedeutenden Gemeinschaftsaktionen“ handelte, die folglich unter dem Vorbehalt eines Gemeinschaftsrechtsaktes ständen, hatte der Gerichtshof 1998 zu entscheiden56.
Vgl. zu Detailfragen: D. Triantafyllou (Fn. 35), S. 152 ff. EuGH verb. Rs. 46 / 87 und 227 / 88, Hoechst, Slg. 1989, 2859, 2924 Rn. 19 und EuGH verb. Rs. 97 – 99 / 87, Dow Chemical Ibérica u.a., Slg. 1989, 3165, 3186 Rn. 16. 54 Th. Kingreen, in: C. Calliess / M. Ruffert (Hrsg.), Kommentar zu EU-Vertrag und EGVertrag, 2. Aufl. 2002, Art. 6 EUV Rn. 72, mit dem Zugeständnis für den Fall, dass commonlaw-Staaten Grundfreiheiten kraft nationalen Rechts einschränken. A.A. O. Müller-Michaels, Grundrechtlicher Eigentumsschutz in der Europäischen Union, 1997, S. 48, der ungeschriebene Rechtsgrundlagen für ausreichend hält. 55 EuGH Rs. C-106 / 96, Vereinigtes Königreich / Kommission, Slg. 1998, I-2729, 2755 Rn. 26; U. Häde, Die Finanzverfassung der Europäischen Gemeinschaften – ein Überblick, EuZW 1993, S. 401, 405. 56 EuGH Rs. C-106 / 96 (Fn. 55), Rn. 26 ff. 52 53
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c) Delegation Delegiert der Rat Befugnisse, so ist in inhaltlicher Hinsicht die bereits oben vorgestellte Wesentlichkeitsrechtsprechung zu beachten. Eine Subdelegation, das heißt die Weiterübertragung einer durch Delegation der Kommission zugewiesenen Zuständigkeit auf die Mitgliedstaaten, dürfte unzulässig sein57.
d) Organisationsakte der Gemeinschaft Im Bereich der Organisationsstruktur der Gemeinschaft kann sich die Frage stellen, wann der „Vertragsgeber“ bei organisatorischen oder institutionellen Änderungen tätig werden muss58, wann solche auf der Basis einer vertraglichen Ermächtigung, beispielsweise nach Art. 171, 172 EGV oder Art. 308 EGV, vorgenommen werden können59, oder wann gar die Organisationsmacht kraft Geschäftsordnungskompetenz beziehungsweise die ungeschriebene akzessorische Organisationsgewalt der Verwaltung zur Vornahme eines Organisationsakts ausreicht60. Ein anschauliches Beispiel für mögliche Konflikte und Konkurrenzen zwischen den aufgezeigten Regelungshierarchien bot der Streit um den Sitz des Europäischen Parlaments61. Hier hatte der EuGH einen taktvollen Ausgleich zwischen dem „mitgliedsstaatlichen Entscheidungsvorbehalt“ und dem Selbstorganisationsrecht des Parlaments herzustellen62.
57 Vgl. EuGH Rs. 23 / 75, Rey Soda, Slg. 1975, 1279, 1304 Rn. 25 / 26; D. Triantafyllou (Fn. 35), S. 242; P. Schindler, Delegation von Zuständigkeiten in der Europäischen Gemeinschaft, 1972, S. 213 f.; K. Lenaerts (Fn. 47), S. 23, 29. 58 Vgl. hierzu etwa R. Priebe, Entscheidungsbefugnisse vertragsfremder Einrichtungen im Europäischen Gemeinschaftsrecht, 1979, S. 105; H. Weis, Außervertragliche Institutionen der Gemeinschaft, EuR 1980, S. 273, 280 ff. 59 Vgl. D. Triantafyllou (Fn. 35), S. 264 f.; I. Schwartz, in: H. von der Groeben / J. Thiesing / C. -D. Ehlermann (Hrsg.), Kommentar zum EU- / EG-Vertrag, Band 5, 5. Aufl., 1997, Art. 235 Rn. 278 ff. 60 Vgl. M. Hilf (Fn. 37), S. 111; 115; 131 f. Zur grds. Anerkennung der autonomen Organisationsgewalt vgl. u. a. EuGH verb. Rs. 198 – 202 / 81, Micheli, Slg. 1982, 4145, 4160 Rn. 18. Bezüglich der Gründung von OLAF als Dienststelle der Kommission vgl. L. Kuhl / H. Spitzer, Das europäische Amt für Betrugsbekämpfung (OLAF), EuR 2000, S. 671 ff. 61 Gemäß Art. 289 EGV wird der Sitz der Organe im Einvernehmen zwischen den Regierungen der Mitgliedstaaten bestimmt. Nach Art. 199 EGV besitzt das Europäische Parlament ein Selbstorganisationsrecht, nach dem es geeignete Maßnahmen erlassen kann, um sein ordnungsgemäßes Funktionieren sicherzustellen. 62 EuGH Rs. 230 / 81, Luxemburg / Parlament, Slg. 1983, 255 ff.; EuGH verb. Rs. 358 / 85 u. 51 / 86, Frankreich / Parlament, Slg. 1988, 4821 ff.
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V. Der Gesetzesvorbehalt in der künftigen Verfassungsstruktur der Europäischen Union Es verwundert nicht, wenn auch der Gesetzesvorbehalt von den jüngsten Ansätzen für eine tiefer greifende Konstitutionalisierung der Europäischen Union erfasst wird. Zum einen taucht in der am 7. Dezember 2000 feierlich proklamierten Charta der Grundrechte der Europäischen Union ein Gesetzesvorbehalt in terminologisch und technisch reinstem Sinne auf. Zum anderen hat auch die Arbeitsgruppe IX des Europäischen Verfassungskonvents („Konvent 2004“) mit der Aufgabenstellung „Vereinfachung“ die Begriffe des Gesetzes und des Rahmengesetzes – an Stelle von Verordnung und Richtlinie – für das künftige Verfassungsrecht vorgeschlagen.
1. Der Gesetzesvorbehalt in Art. 52 Abs. 1 Grundrechtecharta (GRC) So heißt es in der Schrankenregelung des Art. 52 Abs. 1 der GRC: „Jede Einschränkung der Ausübung der in dieser Charta anerkannten Rechte und Freiheiten muss gesetzlich vorgesehen sein und den Wesensgehalt dieser Rechte und Freiheiten achten.“ Im Interesse der Lesbarkeit und Verständlichkeit der Charta hatte sich der „Herzog-Konvent“ darauf verständigt, auf spezifische Schrankenklauseln zu verzichten und statt dessen die Einschränkbarkeit der Grundrechte in einer allgemeinen horizontalen Bestimmung zu regeln63. Dass die Formulierung einer Schrankenklausel mit einem Gesetzesvorbehalt kein einfaches Unterfangen sein sollte, mag vor dem Hintergrund der oben aufgezeigten Schwierigkeiten nicht verwundern. Dessen war man sich im Konvent durchaus bewusst, denn sehr treffend wurde die Natur des Rechtsakts problematisiert, mit dem die Grundrechte eingeschränkt werden könnten. Dies widerspiegelnd war ein erster Formulierungsansatz des Präsidiums entsprechend technisch geprägt: „Vorbehaltlich der einen besseren Schutz gewährleistenden Bestimmungen dieser Charta ist eine Einschränkung der in ihr anerkannten Rechte und Freiheiten nur zugelassen, wenn sie aufgrund einer Rechtsvorschrift erfolgt, die keine Durchführungsvorschrift darstellt, . . .“.64 Deutlich zum Ausdruck kommt in dieser holperigen Formulierung das Problem der Abgrenzung von exekutivem und legislativem Rechtsakt. Hierzu führte das Präsidium erläuternd aus: „Der Begriff der Rechtsnorm erscheint zu weit gefasst, da er auch Durchführungsmaßnahmen umfasst, der Begriff „Gesetz“ wiederum ist 63 M. Borowsky, in: J. Meyer (Hrsg.), Kommentar zur Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2003, Art. 52 Rn. 2. 64 Art. Y in CHARTE 4123 / 1 / 00 REV 1 CONVENT 5 vom 15. 2. 2000.
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nicht zutreffend, da ihm im derzeitigen Gemeinschaftsrecht keine Bedeutung zukommt, es sei denn, er wird, wie in der Europäischen Menschenrechtskonvention – unabhängig vom Urheber der Norm – im Sinne einer allgemeinen und abstrakten Norm verstanden. Die derzeitige Formulierung lässt nicht zu, dass die Rechte im Wege von Durchführungsmaßnahmen eingeschränkt werden. Sie räumt diese Möglichkeit nur dem Gesetzgeber ein, der auf eine entsprechende Rechtsgrundlage gestützt handeln kann.“65 Eine Einschränkbarkeit sollte demnach nur durch ein – nach deutschem Verständnis – formelles Gesetz möglich sein, welches auf eine entsprechende vertragliche Ermächtigung im Sinne der begrenzten Einzelermächtigung gestützt ist. In einem späteren Entwurf hatte man diese Formulierung bereits wieder aufgegeben. Statt dessen hieß es nunmehr: „Vorbehaltlich der einen besseren Schutz gewährleistenden Bestimmungen dieser Charta oder der Europäischen Menschenrechtskonvention muss jede Einschränkung der in dieser Charta anerkannten Rechte und Freiheiten gesetzlich vorgesehen sein. ( . . . )“66. Damit war die sprachliche Differenzierung zwischen Legislativakt und Durchführungsmaßnahme zu Gunsten eines einheitlichen Gesetzlichkeitsbegriffs aufgegeben worden. Mit Blick auf die Auslegung der Einschränkungsklauseln der EMRK wurde argumentiert, dass der Begriff „Recht“ nach der Auslegung des EGMR im materiellen und nicht im formellen Sinn verstanden werden müsse. Er könne daher Normen umfassen, die nicht Gesetzescharakter haben, dem Gewohnheitsrecht entstammen oder auf der Rechtsprechung beruhen. Für den Bürger müsse nur gewährleistet werden, dass er Zugang zum Recht genießt und das Recht es ihm ermöglicht, die Folgen seines Verhaltens abzuschätzen67. Eine solche Auslegung war auch bereits für die EMRK im Hinblick auf die Common Law geprägten Staaten erforderlich68. Ein nächster Entwurf sah eine Übernahme der Einschränkungsklauseln aus der EMRK für die Rechte vor, welche den in der EMRK verbürgten Rechten entsprechen. Darüber hinaus war der Gesetzesvorbehalt in neue Worte gefasst worden: „Jedwede Einschränkung der durch diese Charta gewährleisteten Rechte und Freiheiten ist vom Gesetzgeber vorzusehen. ( . . . ).“69 Auf die Rechtsnatur des einschränkenden Rechtsakts wurde in den Erläuterungen des Präsidiums nicht eingegangen. Sie schien somit im Sinne des Vorentwurfs geklärt zu sein. Diese Formulierung warf vielmehr die nicht beantwortete Frage auf, wer denn als Gesetzgeber anzusehen sei. 65 Begründung der Präsidiums, CHARTE 4123 / 1 / 00 REV 1 CONVENT 5 vom 15. 2. 2000. 66 Art. X in CHARTE 4149 / 00 CONVENT 13 vom 8. 3. 2000. 67 Begründung des Präsidiums, CHARTE 4149 / 00 CONVENT 13 vom 8. 3. 2000. 68 Vgl. dazu insg. J. Frowein, in: J. Frowein / W. Peukert, EMRK-Kommentar, 2. Aufl., 1996, Vorbemerkungen zu Art. 8 – 11, Rn. 2 ff. 69 Art. H.2 Abs. 2 in CHARTE 4235 / 00 CONVENT 27 vom 18. 4. 2000.
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Der vor dem Hintergrund der gegenwärtigen „verfassungsrechtlichen Struktur“ der Gemeinschaft problematische Begriff des „Gesetzgebers“ wurde im nächsten Entwurf bereits wieder fallengelassen und durch die neutrale Formulierung „zuständige gesetzgebende Instanz“ ersetzt: „Jede Einschränkung der Ausübung der in dieser Charta anerkannten Rechte und Freiheiten muss durch die zuständige gesetzgebende Instanz vorgesehen werden.“70 Im Entwurf des Präsidiums vom 14. September 2000 fand der Gesetzesvorbehalt seine abschließende Formulierung: „Jede Einschränkung der Ausübung der in dieser Charta anerkannten Rechte und Freiheiten muss gesetzlich vorgesehen sein und den wesentlichen Gehalt dieser Rechte und Freiheiten achten.“71 Durch diese Formulierung war wiederum ein semantischer Abstrahierungsgrad erreicht worden, der im Wortlaut der Norm sowohl die Frage nach der Rechtsnatur des einschränkenden Rechtsakts als auch die Frage nach dem erlassenden Organ offen ließ. Einen gemeinsamen Gesetzgebungsakt von Parlament und Rat gemäß dem Mitentscheidungsverfahren für jegliche Grundrechtseinschränkung zu fordern, würde zwar dem häufig kritisierten Demokratiedefizit entgegenwirken72. Es hieße aber gleichzeitig, dass im Falle der Verbindlichkeit der Charta zahlreiche sekundärrechtliche Vorschriften nicht mehr zur Grundrechtseinschränkung herangezogen werden könnten, weil sie ohne die qualifizierte Mitwirkung des Parlaments beschlossen wurden73. Diese Rechtsakte wären allenfalls durch eine Freistellung von einer so verstandenen Anforderung des Art. 52 GRC als „vor-Charta-Recht“ zu retten. Der Gesetzesvorbehalt kann daher gegenwärtig nicht im Sinne eines „europäischen Parlamentsvorbehalts“, das heißt Rechtssetzung im Mitentscheidungs- oder Zustimmungsverfahren, verstanden werden; dies wäre zwar wünschenswert, greift der Zukunft aber noch deutlich voraus74. Nach der Genesis der Norm und den Erläuterungen des Konvents liegt der Schluss nahe, dass es sich bei dem „Gesetzesvorbehalt“ des Art. 52 Abs. 1 GRC um einen weit zu verstehenden Rechtssatzvorbehalt handelt75, bei dem es überdies Art. 43 in CHARTE 4316 / 00 CONVENT 34 vom 16. 5. 2000. Art. 51 in CHARTE 4470 / 00 CONVENT 47 vom 14. 9. 2000. Die Formulierung der Wesengehaltsgarantie fand erst im Rahmen der Überarbeitung des Entwurfs durch die Rechts- und Sprachsachverständigen ihre endgültige Formulierung, vgl. CHARTE 4470 / 1 / 00 REV 1 CONVENT 47 vom 21. 9. 2000. 72 So: Th. von Danwitz, Zwischen Symbolismus und Realismus, Internationale Politik 2001, Nr. 2, S. 37, 42; D. Triantafyllou, The European Charter of Fundamental Rights and the „Rule of Law“: Restricting Fundamental Rights by Reference, CMLRev. 2002, S. 53, 61. 73 Vgl. N. Philippi, Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2002, S. 41. 74 Vgl. A. Weber, Die Europäische Grundrechtscharta – auf dem Weg zu einer europäischen Verfassung, NJW 2000, S. 537, 543. 75 So etwa M. Borowsky (Fn. 63), Art. 52 Rn. 20. 70 71
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nicht auf die Beteiligung bestimmter Organe, wie etwa des Europäischen Parlaments im Mitentscheidungsverfahren, ankommt, sondern vielmehr nur auf die Wahrung der Zuständigkeit des erlassenden Organs. Damit wäre – in Anlehnung an die im Hinblick auf die Common Law geprägten Staaten erforderliche Auslegung der EMRK – auch Gewohnheitsrecht und judge-made law erfasst76. Für die Union geht dieser Schluss aber wohl zu weit, da ihr Rechtssystem eben nicht nur durch Common Law Prinzipien geprägt wird. Unter Zugrundelegung der gegenwärtigen Rechtssetzungsverfahren mit ihren inhärenten Legitimationsunterschieden und -defiziten ist wohl zumindest eine bindende schriftliche Rechtsgrundlage zu fordern77. Diese muss generell-abstrakter Natur ein, weshalb primär Verordnungen und Richtlinien in Betracht kommen. Eine Gleichstellung von einer konkret-individuell wirkenden Entscheidung mit einem „Gesetz“ würde die Funktion eines Gesetzesvorbehalts ad absurdum führen78 und wäre auch terminologisch nicht zu vertreten. Neben Rechtsakten mit qualifizierter Parlamentsbeteiligung können also auch Rechtsakte des Rates und der Kommission außerhalb von Mitentscheidungs- und Zustimmungsverfahren Grundrechte vorerst wirksam beschränken79. Dies sollte auch für Exekutivrecht gelten, sofern sich dieses auf eine hinreichende präzise und den Grundrechtseingriff konkretisierende rechtliche Grundlage stützen lässt. Denn auch in Deutschland können Grundrechte „durch Gesetz oder aufgrund eines Gesetzes“ beschränkt werden. So kann in Art. 12 Abs. 1 GG durch berufsregelnde Rechtsverordnungen eingegriffen werden, sofern deren Rechtsgrundlage dem Wesentlichkeitserfordernis und Art. 80 Abs. 1 GG genügt80. Bei Art. 2 Abs. 1 GG besteht sogar nur ein allgemeiner Rechtsvorbehalt („verfassungsmäßige Ordnung“), der etwa Verordnungen, Satzungen und auch Richterrecht erfasst81. Für die Zukunft sollte im Ergebnis jede Einschränkung von Grundrechten auf einem Rechtsakt beruhen, an dem das Europäische Parlament qualifiziert beteiligt war bzw. auf einem Durchführungsakt, der auf einen solchen zurückgeführt werden kann. Dies käme dem klassischen Verständnis eines Gesetzesvorbehalts immerhin nahe.
M. Borowsky (Fn. 63), Art. 52 Rn. 20. Vgl. D. Triantafyllou (Fn. 72), S. 53, 60. 78 N. Philippi (Fn. 73), S. 41: „Die Gleichstellung einer Entscheidung mit einem „Gesetz“ dürfte unter demokratietheoretischen Gesichtspunkten nicht zu vertreten sein, außerdem würde dem Erfordernis eines Gesetzesvorbehalts keinerlei praktische Bedeutung mehr zukommen.“ 79 Vgl. P. Hector, Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union, in: J. Bröhmer (Hrsg.), Der Grundrechtsschutz in Europa, 2002, S. 180, 202. 80 Vgl. H. Dreier, in: H. Dreier (Hrsg.), Grundgesetzkommentar, Band I Art. 1 – 19, 1996, Art. 12 , Rn. 93. 81 H. Dreier (Fn. 80), Art. 2 I, Rn. 38. 76 77
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2. Der Verfassungskonvent 2004 In diese Richtung orientiert sich gegenwärtig der Verfassungsentwurf des Konvents 2004. Denn das Mandat der Arbeitsgruppe IX lautet „Vereinfachung der Rechtssetzungsverfahren und Rechtsakte“82. Ziel der angestellten Reformüberlegungen ist, die Durchschaubarkeit des Systems für den Bürger zu erhöhen, eine gleiche demokratische Legitimität von Rechtsakten mit derselben rechtlich-politischen Wirkung zu garantieren, wobei zu beachten ist, dass sich die demokratische Legitimation der Union dual auf die Staaten und die Völker gründet, und zu einer klareren Hierarchie von Rechtsnormen zu gelangen.83 Die Empfehlungen der Arbeitsgruppe sehen zum Teil einschneidende Veränderungen im Bereich der Typologie der Normen, der Normhierarchie und der Ausgestaltung und Anwendung der Rechtssetzungsverfahren vor.
a) Neue Typologie der Rechtsakte Zunächst soll durch eine Neubezeichnung der Rechtsakte eine erhöhte Klarheit hinsichtlich Bedeutung und Funktion der Rechtsakte erreicht werden. Die Verordnung soll in „Gesetz der Europäischen Union“ umbenannt werden. Ihre Definition würde der derzeitigen Definition in Art. 249 EGV entsprechen. Die Richtlinie wird in „Rahmengesetz der Europäischen Union“ umgetauft – auch hier gilt die bisherige Definition des Art. 249 EGV weiter. Die Entscheidung soll als ein in allen Teilen verbindlicher Rechtsakt betrachtet werden, der an bestimmte Adressaten gerichtet sein kann, aber nicht zwingend sein muss. Auf eine Umbenennung wurde hier verzichtet, allerdings geht diese Definition der Entscheidung über den bisherigen Art. 249 hinaus, nach dem eine Entscheidung stets an bestimmte Adressaten gerichtet sein muss. Hintergrund ist die Idee, die Entscheidung als flexibles Instrument auch beispielsweise im Bereich der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) einsetzen zu können. Als nicht verbindliche Rechtsakte sollen die Empfehlung und die Stellungnahme wie bisher gemäß Art. 249 EGV beibehalten werden. Diese neue Typologie soll sowohl im Bereich des gegenwärtigen EGV als auch des Titels VI des EUV für die polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen (PJZS) Anwendung finden. Die Rahmenbeschlüsse und Beschlüsse nach Titel VI EUV würden zu Rahmengesetzen bzw. Gesetzen, wobei Sonderregelungen hinsichtlich der unmittelbaren Wirkung erwogen wurden. 82 Ausgangspunkt der Überlegungen der Arbeitsgruppe IX war eine Analyse der gegenwärtigen Situation auf der Basis der Verträge, vgl. CONV 162 / 02 vom 13. 6. 2002. 83 Vgl. hier und im Folgenden CONV 424 / 02 vom 29. 11. 2002.
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Im Bereich des Titels V des EUV über die GASP sollen die Besonderheiten der Rechtsakte beibehalten werden, „gemeinsame Strategien“, „gemeinsame Aktionen“ und „gemeinsame Standpunkte“ würden aber durch die „GASP-Entscheidung“ ersetzt werden. An atypischen Rechtsakten wird aus Gründen der Flexibilität festgehalten, wenngleich ein restriktiverer Umgang mit ihnen angemahnt wird.
b) Neue Hierarchie der Rechtsakte Unter dieser Fragestellung galt es, das schwierige Problem zu lösen, welche Rechtsakte unter die Legislative und welche unter die Exekutive fallen. Deutlich unterschieden wird künftig in Gesetzgebungsakte und sonstige Rechtsakte. Bei Gesetzgebungsakten handelt es sich um Rechtsakte, die unter Zugrundelegung des Vertrags angenommen werden und die die wesentlichen Regelungen für einen bestimmten Bereich enthalten. Sie sollen generell nach dem Mitentscheidungsverfahren angenommen werden. Als Gesetzgebungsakte sind das künftige „Gesetz der Europäischen Union“ sowie das künftige „Rahmengesetz der Europäischen Union“ vorgesehen. Um eine flexible Reaktion auf die Anforderungen der Rechtspraxis zu gewährleisten, soll eine Delegation technischer Aspekte oder Konkretisierung von Rechtsvorschriften ermöglicht werden. Hierzu schlägt die Arbeitsgruppe die neue Kategorie des „delegierten“ Rechtsakts vor. Der Gesetzgeber könne sich so auf die Regelung von wesentlichen Bestimmungen in einem Rechtsakt beschränken und technische Aspekte an die Exekutive delegieren, ohne befürchten zu müssen, die Gesetzgebungsbefugnis nicht wiedererlangen zu können. Selbst die Befugnis zur späteren Änderung bestimmter Teile des eigentlichen Gesetzgebungsaktes soll übertragen werden können. Die Ziele, Inhalte, Tragweite und Grenzen der Delegation und entsprechende Kontrollregelungen (etwa ein Evokationsrecht oder eine Auflösungsklausel) sind vom Gesetzgeber selbst im Gesetzgebungsakt festzulegen. Als Bezeichnung für diese Rechtsakte wird der Terminus der „delegierten Verordnung“ vorgeschlagen, die im Regelfall durch die Kommission und in Sonderfällen durch den Rat mit qualifizierter Mehrheit erlassen werden. Schlussendlich dienen Durchführungsakte der Durchführung von Gesetzgebungsakten, delegierten Rechtsakten oder von Rechtsakten, die im Vertrag selbst vorgesehen sind. Nimmt die Union die Durchführung vor, so würden entsprechende Rechtsakte im Regelfall durch die Kommission mit oder ohne Ausschussverfahren, im Ausnahmefall der Wahrnehmung exekutiver Aufgaben durch den Rat angenommen. Als Rechtsakte in dieser Kategorie sind die in dieser Terminologie besser erkennbare „Durchführungsverordnung“ und die „Durchführungsentscheidung“ vorgesehen.
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c) Die Vereinfachung der Rechtssetzungsverfahren Besondere Aufmerksamkeit widmete die Gruppe insbesondere dem Mitentscheidungsverfahren (Artikel 251 EGV), dem Verfahren der Zusammenarbeit (Artikel 252 EGV), dem Verfahren der Zustimmung und dem Haushaltsverfahren. Das Mitentscheidungsverfahren soll nach überwiegender Auffassung in der Arbeitsgruppe in „Rechtssetzungsverfahren“ umbenannt werden und grundsätzlich im Rat eine Abstimmung mit qualifizierter Mehrheit vorsehen. Darüber hinaus sollte um der Klarheit willen sprachlich eindeutig zum Ausdruck kommen, dass es sich um ein Verfahren gleichberechtigter Mitentscheidung handelt. Dieses Verfahren soll bei der Annahme von „Gesetzen“ und „Rahmengesetzen“ generell Anwendung finden. Ausnahmen sind nur für die Bereiche vorgesehen, die für die Mitgliedstaaten als besonders „heikel“ gelten könnten oder in denen die Struktur der Union eine besondere Beschlussfassung erforderlich macht. Beispiele hierfür benennt der Abschlussbericht allerdings nicht. Das Verfahren der Zusammenarbeit soll entfallen: Die bisher dem Verfahren der Zusammenarbeit zugeordneten Fälle sollen je nach Sachcharakter in das Mitentscheidungs- bzw. Anhörungsverfahren überführt werden. Das Verfahren der Zustimmung soll der Ratifizierung internationaler Abkommen vorbehalten werden und generell dort zur Anwendung kommen, wo das zu ratifizierende Abkommen Auswirkungen auf interne Rechtsvorschriften hat. Die übrigen Fälle, in welchen gegenwärtig das Zustimmungsverfahren aufgrund der großen politischen Bedeutung der Sachmaterie gilt (etwa Art. 161 EGV – Strukturund Kohäsionsfonds), sollen zukünftig dem Mitentscheidungsverfahren unterfallen. Für die Haushaltsbestimmungen wurden eine separate und eindeutige Verankerung der geltenden Grundsätze im Verfassungsvertrag gefordert und darüber hinaus Prinzipien für eine Vereinfachung und Aktualisierung des Haushaltsverfahrens ausgearbeitet. d) Der Verfassungsentwurf vom 18. Juli 2003 Die von der Arbeitsgruppe IX unterbreiteten Vorschläge haben weitestgehend Eingang in den abschließenden Verfassungsvertragsentwurf vom 18. Juli 200384 gefunden. Darin beinhalten die Art. 32 ff. die Umsetzung der vorstehend geänderten Normentypologie und -hierarchie. Zunächst werden allgemein die Rechtsakte der Union definiert, wobei nicht mehr von „Entscheidung“, sondern von „Beschluss“ die Rede ist. Gleichzeitig werden diese Rechtsakte den Kategorien „Gesetzgebungsakt“, im Sinne eines Legislativakts, und „Rechtsakte ohne Gesetzescharakter“, im Sinne eines Exekutivakts, zugeordnet. 84
CONV 850 / 03 vom 18. 7. 2003.
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Art. 33 legt für Gesetzgebungsakte das „ordentliche Gesetzgebungsverfahren“ als Regelbeschlussverfahren85 fest. Bei dem neubenannten Gesetzgebungsverfahren handelt es sich um das ehemalige Mitentscheidungsverfahren nach Art. 251 EGV, das nunmehr in Artikel III-302 geregelt ist. Durch diese Zuweisung von Legislativakten an Parlament und Rat als Erlassorgane wird gleichermaßen eine zukünftige europäische Legislative definiert. Das Recht zum Erlass von Exekutivakten, das heißt „Rechtsakten ohne Gesetzescharakter“, wird durch Art. 34 Rat und Kommission sowie in Fällen besonderer vertraglicher Ermächtigung der EZB zugewiesen. Delegierte Verordnungen finden ihre Rechtsgrundlage in Art. 35: Diese Norm verlangt, dass in der delegierenden Vorschrift Ziele, Inhalt, Geltungsbereich und Dauer der Übertragung ausdrücklich festgelegt werden. Gleichzeitig wird ausgeschlossen, dass „wesentliche Vorschriften“ delegiert werden – diese sind dem Gesetz oder Rahmengesetz vorbehalten86. Erstgenannte Anforderung erinnert an Art. 80 Abs. 1 GG, wonach Inhalt, Zweck und Ausmaß der erteilten Ermächtigung im ermächtigenden Gesetz selbst bestimmt werden müssen87. Das Verbot der Delegation wesentlicher Vorschriften legt eine Parallele zur grundgesetzlichen Wesentlichkeitstheorie nahe. Allerdings dürfte diese Formulierung eher an die oben skizzierte sehr „weite“ Wesentlichkeitsrechtsprechung des EuGH angelehnt worden sein. Dennoch sollte dieses Postulat im Sinne bestmöglicher demokratischer Legitimation für Rechtseingriffe ernstgenommen werden und in einer Weise verstanden werden, die zu einer erhöhten Mindestanforderung an die Regelungsdichte des delegierenden Gesetzgebungsaktes führt. Art. 36 regelt die Durchführungsrechtsakte, Art. 37 beschränkt die Wahl des Rechtsakts gemäß dem Prinzip der Verhältnismäßigkeit auf die zur Erreichung des Ziels erforderliche Rechtsform und normiert einen Begründungszwang für Europäische Gesetze, Europäische Rahmengesetze, Europäische Verordnungen und Europäische Beschlüsse. Art. 38 regelt letztendlich die Veröffentlichung und das Inkrafttreten der Rechtsakte. Damit ist man bei der Frage angelangt, was sich aus all dem für den Gesetzesvorbehalt ergibt.
VI. Schlussbetrachtung Die Übertragung der Rechtsfigur des allgemeinen Vorbehalts des Gesetzes auf die gegenwärtige Struktur der Europäischen Union hat sich insgesamt als probleAusnahmen sieht Art. 33 Abs. 2 vor. Abs. 2 beinhaltet ein Evokationsrecht hinsichtlich der Übertragung und ein fristgebundenes Widerspruchsrecht für das Inkrafttreten der delegierten Verordnung. 87 Vgl. zur Auslegung des grundgesetzlichen Bestimmtheitsgebots H. Bauer, in: H. Dreier (Hrsg.), Grundgesetzkommentar, Band II Art. 20 – 82, 1998, Art. 80 Rn. 27 ff. 85 86
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matisch dargestellt. Eine eindeutige Definition der zukünftigen europäischen Legislative, eine klare Terminologie und eine Normhierarchie, die zwischen Legislativ- und Exekutivakten trennt, wären die erforderlichen Lösungen für die im gegenwärtigen Gemeinschaftsrecht existierenden und oben dargestellten Probleme. Zielführend sind insoweit durchaus die Vorschläge des Verfassungskonvents: Sie führen nicht nur zu mehr Transparenz, sondern stärken auch nachhaltig den demokratischen Pfeiler des Gesetzesvorbehalts. Auf dieser Grundlage kann das Prinzip des Gesetzesvorbehalts seine Funktion der Machtbeschränkung und der Absicherung hinreichender Legitimation für Eingriffsakte wirksam entfalten. Hier zeigt sich eine neue Qualität der terminologischen, demokratischen und rechtsstaatlichen Durchdringung des Unionsrechts. Letztlich müssen aber europäische Gesetze stets das Wohl und die Interessen der Bürger Europas, beziehungsweise des „europäischen Volkes“88 repräsentieren. Auch nach 35 Jahren gilt noch das um die Perspektive der EU erweiterte – man ist versucht zu sagen – „zeitlose“ Fazit, mit welchem Peter Selmer 1968 seine Untersuchung zum Gesetzesvorbehalt beschloss: „Insgesamt mögen die Ausführungen aber gezeigt haben, mit welchen historischen Abhängigkeiten und in wie vielfältiger Weise die Frage nach der Abgrenzung der Regelungsbefugnisse von Gesetzgeber und Exekutive weite Teile unserer Verfassungs- und Verwaltungswirklichkeit berührt. Sie ist sicher noch nicht abschließend beantwortet.“
88 Vgl. Th. Schmitz, Das Europäische Volk und seine Rolle bei der Verfassungsgebung in der Europäischen Union, EuR 2003, S. 217 ff.; A. Augustin, Das Volk der Europäischen Union: Zu Inhalt und Kritik eines normativen Begriffs, 2000.
Zum Gewährleistungsgehalt der Petitionsfreiheit Von Wolfgang Hoffmann-Riem* Wer – wie der Jubilar – an der Grenzlinie von Verfassungs- und Verwaltungsrecht arbeitet, wird notwendig auch zum Wächter des Grundrechtsschutzes, also der Aktivierung der Grundrechte, um den Bürgern individuelle Freiheit zu sichern und den Staat an seine Aufgabe der Grundrechtsachtung, aber auch der Grundrechtsvorsorge und Grundrechtssicherung für alle, zu erinnern. Argumentatives Mittel dazu ist die Grundrechtsdogmatik. Die Ausdifferenzierung der Grundrechtsordnung fordert eine dem jeweiligen Grundrecht angemessene Bestimmung seines Schutz(Gewährleistungs-)gehalts1, die Voraussetzung der weiteren Arbeit, etwa mit Grundrechtsschranken, ist. Im Folgenden soll ein nicht im Zentrum wissenschaftlicher Aufmerksamkeit stehendes Grundrecht – das Petitionsrecht (Art. 17 GG) – nach Ansatzpunkten zur Bestimmung seines Gewährleistungsgehalts und nach Folgen für Grenzen seiner Ausübung besehen werden, und zwar mit besonderem Blick auf das Verhältnis zur Meinungsfreiheit des Art. 5 GG. Dabei werden zum Teil Parallelen zu Art. 103 Abs. 1 GG gezogen, dem Recht auf Zugang zum Gericht. I. Funktion und Gehalt des Petitionsrechts 1. Das Petitionsrecht als Kommunikationsgrundrecht Historisch betrachtet2 steht das heutige Petitionsrecht in der Tradition der englischen Bill of Rights (1869)3, des First Amendment der amerikanischen Verfas* Für hilfreiche Anregungen danke ich Burkhard Gehle und Bruno Menhofer. 1 Dazu weiterführend E.-W. Böckenförde, Schutzbereich, Eingriff, verfassungsimmanente Schranken. Zur Kritik gegenwärtiger Grundrechtsdogmatik, Der Staat 2003, S. 165 ff. O. Bumke, Publikumsinformationen, Die Verwaltung 2004 (im Erscheinen). Kritisch W. Kahl, Vom weiten Schutzbereich zum engen Gewährleistungsgehalt? Der Staat 2004 (im Erscheinen). 2 Zur historischen Entwicklung siehe H. Sengelmann, Der Zugang des Einzelnen zum Staat: abgehandelt am Beispiel des Petitionsrechts. Ein Beitrag zur allgemeinen Staatslehre, Hamburg 1965; H. Neuhaus, Reichstag und Supplikationsausschuß. Ein Beitrag zur Reichsverfassungsgeschichte der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts, Berlin 1977; M. Terbille, Das Petitionsrecht in der Bundesrepublik Deutschland – Genese, Geltungsgrund und Ausgestaltung, Münster 1980; D. Mohme, Das Petitionsrecht im Vormärz, Pfaffenweiler 1992. 3 Vgl. Mohme (Fn. 2), S. 32 ff.
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sung (1791), der französischen Verfassung von 1791 und des Preußischen Allgemeinen Landrechts aus dem Jahre (1794)4. In seinem Ursprung ist es sogar erheblich älter5. Das Petitionsrecht ist ein Kommunikationsgrundrecht, das heute im Kontext der anderen Kommunikationsfreiheiten – der Meinungs- und Medienfreiheit, der Informationsfreiheit sowie der Versammlungsfreiheit – gesehen werden muss, die ergänzend (bzw. zum Teil funktional ersetzend) mit dazu beitragen, das ursprüngliche Anliegen des Petitionsrechts zu erfüllen. Wie die Kommunikationsfreiheit ist auch das Petitionsrecht Ausdruck individueller Freiheit, und zwar gegenwärtig insbesondere als Mittel individueller Interessenwahrnehmung. Hinzu kommt eine gewisse Rechtsschutzersatz- und -ergänzungsfunktion6. Das Petitionsrecht sichert aber auch die Möglichkeit der Einbindung des Einzelnen in die Kommunikationsprozesse der Gesellschaft und hat als Mittel zur staatlichen Willens- und Entscheidungsbildung einen nahen Bezug zum Demokratieprinzip 7. Zum Teil wird sogar sein partizipatorischer Charakter betont8.
2. Das Petitionsrecht als Zugangsrecht Inhaltlich ist das Petitionsrecht (wie das Recht auf den gesetzlichen Richter, Art. 103 Abs. 1 GG9) ein Zugangsrecht. Es gewährleistet einen Zugang zum „Staat“ gerade außerhalb der üblichen Zugangswege mit ihren spezifischen Zugangsschranken, also insbesondere außerhalb der gegebenen Verfahrensordnungen. Zugangsrechte sind besonders wichtig als Freiheitsrechte10. Freiheit, so auch die Freiheit inhaltlichen Ausdrucks individueller Anliegen, steht heute kaum noch unter dem Risiko, schlicht unterdrückt zu werden. Wohl aber ist es immer schwerer, Aufmerksamkeit zu gewinnen11. Grundrechte können als Schutz dafür wichtig Vgl. auch E. Stein, in: AK-GG Bd. 2, 3. Aufl., 2001, Art. 17 Rn. 1 ff. Verwiesen wird auf römisch-rechtliche und germanisch-rechtliche ideengeschichtliche Wurzeln, siehe die Nachweise bei M. Hornig, Die Petitionsfreiheit als Element der Staatskommunikation. Grundrechtsfunktionen und einfachgesetzliche Ausgestaltung, Baden-Baden 2001, S. 23 Fn. 4, 5. 6 Siehe dazu Hornig (Fn. 5), S. 63 ff. 7 Dazu siehe Hornig (Fn. 5), S. 96 ff. 8 Siehe J. Masing, Die Mobilisierung des Bürgers für die Durchsetzung des Rechts. Europäische Impulse für eine Revision der Lehre vom subjektiv-öffentlichen Recht, Berlin 1997, S. 165 ff., 169 9 Diesem Recht fehlen aber die besonderen demokratiestaatlichen Komponenten des Bezugs auf öffentliche Kommunikation, die das Petitionsrecht mitprägen. 10 Allgemein dazu J. Rifkin, Access – Das Verschwinden des Eigentums. Warum wir weniger besitzen und mehr ausgeben werden, Frankfurt / Main 2000. 11 Dazu siehe G. Franck, Ökonomie der Aufmerksamkeit. Ein Entwurf, München 1998; M. J. Wolf, The Entertainment Economy, New York 1999; K. Hickethier / J. K. Bleicher (Hrsg.), Aufmerksamkeit, Medien und Ökonomie, Münster 2002. 4 5
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sein, dass Aufmerksamkeit zuteil wird, insbesondere, dass die geäußerten Inhalte auf diese Weise Wirkungen entfalten können. Garantiert ist zwar nicht das Erreichen von Wirkungen, geschützt ist aber eine Chance dazu. Heute wird zunehmend anerkannt, dass Freiheitsschutz unter heutigen Bedingungen vielfach in erster Linie Zugangsschutz sein muss12. Das Petitionsrecht sichert die Zugänglichkeit zu „zuständigen Stellen“ und zu der Volksvertretung für schriftliche „Bitten und Beschwerden“. Der Begriff der „zuständigen Stelle“, an die eine Petition gerichtet werden kann, ist weit auszulegen. Es reicht hierfür die allgemeine Befugnis der angerufenen Stelle, in ihrem jeweiligen Geschäftsbereich Regelungskompetenzen wahrnehmen zu können13. Auch eine privatwirtschaftlich organisierte Einrichtung ist „zuständige Stelle“, sofern sie dem Staat zurechenbar ist14. In der Literatur wird meist betont, Art. 17 GG diene in erster Linie dem Bedürfnis, abseits förmlicher Verfahren, aber dennoch mit einem Bearbeitungs- und Bescheidungsanspruch versehen, einen informellen Zugang zu den staatlichen Organen zu eröffnen15. Die Pflicht zur Entgegennahme und Bearbeitung wird auch von den Gerichten anerkannt16. Sie ist ein notwendiges Korrelat eines Zugangsrechts, wenn es so verstanden wird, dass es die Möglichkeit des Erzielens von Wirkungen mitumfasst. In seinem Kern ist das Petitionsrecht als Abwehrrecht konzipiert: Niemand darf daran gehindert werden, eine Petition an die zuständigen Stellen zu richten17. Der Staat als Adressat des Abwehrrechts darf den Zugang und die Kenntnisnahme nicht unterbinden. Verfassungswidrig sind also Petitionsverbote, aber auch Diskriminierungen von Petenten. Am Grundrecht des Art. 17 GG ist auch die Behinderung von Vorbereitungshandlungen zu beurteilen, etwa des Sammelns von Unterschriften für gemeinsame Petitionen oder der Übergabe der Petition18. Besonders wichtig ist,
Siehe W. Hoffmann-Riem, Kommunikationsfreiheiten, Baden-Baden 2002, S. 47 f., 55 ff. Vgl. BVerfGE 2, 225 (229). 14 Vgl. R. Stettner, in: Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 3, 94. Lfg., November 2000, Heidelberg, Art. 17 Rn. 67. 15 Vgl. R. Stettner (Fn. 14), Art. 17 Rn. 19, 108; J. Burmeister, Das Petitionsrecht, in: J. Isensee / P. Kirchhof (Hrsg.), HdbStR, Bd. II: Demokratische Willensbildung – Die Staatsorgane des Bundes, 2. Aufl., 1998, § 32 Rn. 4; M. Brenner, in: v. Mangoldt / Klein / Starck, Bonner Grundgesetz. Kommentar, Bd. 1, 4. Aufl. 1999, Art. 17 Rn. 14, 44, 46; H. Bauer, in: H. Dreier (Hrsg.), Grundgesetz. Kommentar, Bd. I, 1996, Art. 17 Rn. 27 f.; H. Krüger / M. Pagenkopf, in: M. Sachs, Grundgesetz-Kommentar, 3. Aufl., 2003, Art. 17 Rn. 8; K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. III / 2, 1994, S. 1160; B. Schmidt-Bleibtreu, in: ders. / F. Klein, Kommentar zum Grundgesetz, 9. Aufl., 1999, Art. 17 Rn. 1, 5. 16 Vgl. BVerfGE 2, 225, 229 f.; NJW 1992, 3033; DVBl 1993, 32, 33. sowie M. Siegfried, Begründungspflicht bei Petitionsbescheiden, DÖV 1990, S. 279 ff.; U. Rühl, Der Umfang der Begründungspflicht von Petitionsbescheiden, DVBl 1993, S. 14 ff. 17 Zum Verständnis von Abwehrrechten als Unterlassungspflichten des Staates siehe grundlegend R. Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte, Tübingen 2003. 12 13
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dass der Staat, soweit er selbst Adressat ist, die Entgegennahme der Petition nicht verweigern darf und – wie erwähnt – sie sachlich prüfen und mit Begründung bescheiden muss19. Insofern hat das Petitionsrecht auch leistungsrechtliche Gehalte20.
3. Schutz des Inhalts der Petition vor straf- und zivilrechtlichen Sanktionen? Während die Anforderungen an die Sicherung der Zugänglichkeit als solche in Rechtsprechung und Lehre weitgehend geklärt sind21, kommt es immer wieder zu Konflikten über die Frage, wie weit Art. 17 GG den Petenten davor schützt, wegen des Inhalts seiner Petition zur Rechenschaft gezogen zu werden, etwa durch Widerrufs-, Unterlassungs- oder Schadensersatzklagen oder durch Strafsanktionen, z. B. auf Grund der Normen über Ehrenschutzdelikte (etwa §§ 185 ff. StGB). Dieses Risiko besteht, wenn die in der Petition enthaltenen Äußerungen Rechtsgüter anderer verletzen, etwa die Ehre der für den Staat handelnden Akteure (z. B. Beleidigung des Beamten) oder die Ehre Dritter, gegen die sich der Petent mit einem an den Staat gerichteten Begehren wendet. Muss der Petent fürchten, wegen der Inhalte zivilrechtlich zu haften oder strafrechtlich sanktioniert zu werden, kann dieses Risiko einschüchternd wirken und von der Nutzung des Petitionsrechts abschrecken. Hätte der Petent aber –im Interesse der Vermeidung von Einschüchterungseffekten – „Immunität“ vor weiteren Rechtsfolgen, könnte das Petitionsrecht missbraucht werden, um unter seinem Deckmantel sanktionslos Rechtsgüter zu verletzen. Die bei Art. 17 GG auftauchende Problematik ist der bei Art. 103 Abs. 1 GG vergleichbar: Auch im Gerichtsverfahren stellt sich die Frage, wie weit der Anspruch auf rechtliches Gehör vor Sanktionen gegen das im Verfahren Geäußerte schützt22. Die Rechtsprechung und Lehre behandeln das Petitionsrecht allerdings nicht im Sinne einer Immunisierung des Petenten vor der Anwendung der allgemeinen Rechtsordnung. So sollen beispielsweise Persönlichkeitsverletzungen nicht durch das Petitionsrecht gedeckt sein und deshalb strafrechtlich oder gar zivilrechtlich geahndet werden dürfen23. Die dafür gegebenen Begründungen sind allerdings 18 Vgl. Stein (Fn. 4), Art. 17 Rn. 27; Bauer (Fn. 15), Art. 17 Rn. 27, 33 (Schutz von „allen Stadien des Petitionierens als Aktion“). Siehe auch Brenner (Fn. 15), Art. 17 Rn. 44 ff; Burmeister (Fn. 15), § 32 Rn. 28. 19 S. o. Fn. 16. 20 Siehe M. Hornig (Fn. 5), S. 95 f. 21 Siehe die Nachweise in der in Fn. 18 zitierten Literatur. 22 Siehe E. Schmidt-Aßmann, in: Maunz / Dürig, Grundgesetz. Kommentar, Bd. V, 27. Lfg., November 1988, München, Art. 103 Abs. 1 Rn. 88; H. Schulze-Fielitz, in: H. Dreier (Hrsg.), Grundgesetz. Kommentar, Bd. III, 2000, Art. 103 Abs. 1 Rn. 80; H. Rüping, in: Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 8, 41. Lfg., März 1980, Heidelberg, Art. 103 Abs. 1 Rn. 73. 23 Vgl. BVerfG (3. Kammer des Ersten Senats) NJW 1991, 1475; Stettner (Fn. 14), Art. 17 Rn. 102; Stein (Fn. 4), Art. 17 Rn. 34.
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nicht immer leicht nachvollziehbar. Dies deutet auf Schwierigkeiten bei der Bestimmung des grundrechtlichen Schutzgehalts hin. Zur Illustration sei – statt vieler – eine aktuelle Kommentierung von Stettner zitiert24: „Keinen Eingriff in das Petitionsrecht bringen jedoch Strafrechtsnormen mit sich, die beleidigende oder in anderer Weise gegen den strafrechtlichen Ehrenschutz verstoßende Petitionen sanktionieren; da es ohne weiteres möglich ist, eine Petition ohne Ehrverletzung oder falsche Anschuldigung auf den Weg zu bringen, lassen diese Strafrechtsnormen das Recht ,Bitten und Beschwerden‘ bei den Staatsorganen anzubringen, unberührt“. Hier werden für die Bestimmung des Schutzgehalts von Art. 17 GG – missverständlich formuliert oder gar in rechtsdogmatisch angreifbarer Weise – Überlegungen zur Erforderlichkeit einer Äußerung zur Verfolgung des für den Petenten individuell maßgebenden Zwecks herangezogen, statt auf den Zweck des Petitionsrechts abzustellen25. Ferner heißt es in dem Kommentar: „Wenn im Übrigen Normen des Zivil- oder Strafrechts ,allgemeine‘, also vom Gesetzgeber nicht beabsichtigte Auswirkungen auf das Petitionsrecht haben sollten, sind sie, wenn ihnen kein ausreichend gewichtiges Gut von Verfassungsrang zur Seite steht, im Wege verfassungskonformer Auslegung auf ihren legitimen Anwendungsbereich einzugrenzen“. Hier soll mit Hilfe verfassungskonformer Interpretation eine Einschränkung der allgemeinen Normen erreicht werden, ohne zuvor geklärt zu haben, ob der Gewährleistungsgehalt des Art. 17 GG überhaupt betroffen ist. Eine dritte Kommentaräußerung: „Liegt demgegenüber eine echte Kollision von Verfassungsgütern mit dem Petitionsgrundrecht vor, so muss der Gesetzgeber unter Beachtung des Kerngehalts des Petitionsgrundrechts einen verhältnismäßigen Ausgleich finden“. Hier wird die Kollisionslösung dem Gesetzgeber aufgegeben. Das ist grundsätzlich zutreffend. Was aber gilt, wenn sich der Gesetzgeber der Aufgabe nicht – oder jedenfalls nicht in einer spezifisch auf das Petitionsrecht bezogenen Weise – gestellt hat? Dies aber ist in Drittwirkungsfällen eine übliche Konstellation. Sie wird gewöhnlicherweise dadurch bewältigt, dass die ausfüllungsfähigen Begriffe des Zivilrechts vom Rechtsanwender mit dem objektiv-rechtliche Grundrechtsgehalt „aufgefüllt“ werden26. Besondere Brisanz enthält die Konfliktlage in Drittbeziehungen. Gemeint sind Situationen, in denen der Petent sich mit seiner Eingabe an staatliche Stellen wendet und durch deren Inhalt Rechtsgüter eines Dritten verletzt, der sich nun seinerseits gegen den Petenten wendet, etwa durch die erwähnten zivilrechtlichen Ansprüche auf Widerruf, Unterlassung oder Schadensersatz. Hat das Petitionsrecht Stettner (Fn. 14), Art. 17 Rn. 102. Auf die Notwendigkeit der Beachtung dieser Differenz in Drittwirkungsbeziehungen weist R. Poscher (Fn. 17), S. 326 f. zu Recht hin – dort allerdings bezogen auf das Verhältnis von Ehrenschutz und Meinungsäußerungsfreiheit. 26 Zum Verhältnis von Grundrechten und Privatrecht, insbesondere in Drittwirkungskonstellationen, siehe aus der neueren Literatur M. Ruffert, Vorrang der Verfassung und Eigenständigkeit des Privatrechts. Eine verfassungsrechtliche Untersuchung zur Privatrechtswirkung des Grundgesetzes, Tübingen 2001; Poscher (Fn. 17), S. 229 ff., 346 ff. jeweils m.w.Nachw. 24 25
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„Drittwirkung“ in den Zivilrechtsbeziehungen, immunisiert es also auch vor Sanktionen in Drittbeziehungen? Anders formuliert: Schützt das Petitionsrecht dagegen, dass Privatpersonen auf Grund der Verletzung ihrer privaten Rechte den Schutz der Gerichte in Anspruch nehmen, um die Rechtsverletzung abzuwehren? Hätten solche Gegenansprüche Erfolg, könnte die in der Petition enthaltene Information nicht zum Gegenstand einer an den Staat gerichteten Eingabe werden. Grundrechte enthalten historisch27 und aktuell auch eine objektiv-rechtliche Schutzdimension, die alle Bereiche des Rechts beeinflussen kann28. Gilt dies auch für Art. 17 GG – wie üblicherweise angenommen wird –29, kann ihm die Ausstrahlung auch auf privatrechtliche Rechtsbeziehungen nicht von vornherein abgesprochen werden. Wird die Drittwirkung bejaht, ergibt sich jedoch ein dogmatisches Problem, da das Petitionsrecht mangels eines Gesetzesvorbehalts keiner Beschränkung unterworfen werden kann, allenfalls verfassungsunmittelbaren Schranken30. Zwingt dies zu der Annahme, dass das Petitionsrecht vor der Anwendung von Rechtsnormen immunisiert, die in der allgemeinen Rechtsordnung zum Schutz von Rechtsgütern enthalten sind, soweit diese nicht zugleich den Rang verfassungsunmittelbarer Schutzgüter haben? Keine angemessene Problemlösung wäre es, nun praktisch alle in der straf- und zivilrechtlichen Rechtsordnung enthaltenen Schranken zu verfassungsunmittelbaren zu erklären. Dann wäre das Fehlen des Schrankenvorbehalts in Art. 17 GG folgen- und sinnlos. Treffender erscheint es, nicht gleich bei den Schranken anzusetzen, sondern zunächst nach dem Gewährleistungsgehalt des Art. 17 GG zu fragen. Die folgende Prüfung wird ergeben, dass diese Norm einen spezifischen Gewährleistungsgehalt hat. Die These lautet: Art. 17 GG eröffnet ein Zugangsrecht, und zwar ohne Möglichkeit der Beschränkung des Zugangs31. Hinsichtlich des in einer Petition über27 Siehe etwa die Hinweise bei Hornig (Fn. 5), S. 29 f., 43 f.; H. Dreier, Dimensionen der Grundrechte. Von der Wertordnungsjudikatur zu den objektiv-rechtlichen Grundrechtsgehalten, Hannover 1993. Einen knappen Überblick über die Entwicklungsgeschichte der Grundrechte gibt Poscher (Fn. 17), S. 15 ff., mit besonderem Bezug auf Abwehrrechte. 28 Zu objektiven Grundrechtsgehalten siehe M. Gellermann, Grundrechte im einfachgesetzlichen Gewande. Untersuchung zur normativen Ausgestaltung der Freiheitsrechte, 2000, S. 36 ff., 74 ff.; C. Bumke, Der Grundrechtsvorbehalt. Untersuchungen über die Begrenzung und Ausgestaltung der Grundrechte, 1998, S. 60 ff. jeweils m.w.Nachw. Zur Ausstrahlungswirkung von Grundrechten allgemein siehe BVerfGE 7, 198, 204 f.; Ruffert (Fn. 26). 29 Hornig (Fn. 5), S. 102 ff. m.w.Nachw. Gleiches dürfte gemeint sein, wenn in der Literatur (allerdings dogmatisch ungenau) von verfassungskonformer Interpretation gesprochen wird, so etwa Stettner (Fn. 14), Art. 17 Rn. 102; s. auch E. Stein (Fn. 4), Art. 17 GG Rn. 34. 30 Siehe dazu statt vieler Stettner (Fn. 14), Art. 17 Rn. 101. Allgemein zu verfassungsunmittelbaren Schranken s. C. M. Pecher, Verfassungsimmanente Schranken von Grundrechten, 2002, m.w.Nachw., s. insbes. zu Art. 17 GG S. 87 ff. 31 Sollte es dennoch ausnahmsweise ein verfassungsrechtlich legitimes Interesse an Zugangsbeschränkungen geben, müsste auf die Rechtsfigur der verfassungsunmittelbaren Grundrechtsschranken zurückgegriffen werden. Solche Lagen sind aber kaum vorstellbar
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mittelten Inhalts dispensiert das Zugangsrecht aber nicht von der Beachtlichkeit der Rechtsordnung in Beziehungen, die nicht den Zugang selbst betreffen, die also gar nicht im Verhältnis des Petenten zum Petitionsadressaten bestehen. Art. 17 GG strahlt in seinem objektiv-rechtlichen Gehalt aber auf die Auslegung und Anwendung solcher Normen der allgemeinen Rechtsordnung aus. II. Konkurrenzen zwischen Art. 17 GG und den anderen Kommunikationsgrundrechten Entscheidendes Element einer Petition ist die Übermittlung einer Bitte oder eines Begehrens32. Damit liegt in der Petition regelmäßig auch eine Meinungsäußerung. Andererseits ist nicht jede Meinungsäußerung petitionsfähig, so z. B. nicht eine bloße Feststellung33: Ihr fehlt das Anliegen, das auf eine Bescheidung zielt. Hat aber die Petition als Gegenstand eine Meinungsäußerung, stellt sich das Problem der Konkurrenz zwischen Art. 5 und Art. 17 GG. Es handelt sich um ein Nebeneinander von zwei Grundrechten mit unterschiedlichen Gewährleistungsgehalten. Art. 5 GG verankert die Freiheit der Kommunikationsinhalte (der Äußerung von Werturteilen und Tatsachen) und sichert deren Äußerung und Verbreitung. Erfasst ist insbesondere die Wahl des Ortes und der Zeit der Äußerung, auch die der Ausdrucksform (Wort, Schrift, Bild). Soweit Transportmittel eingesetzt werden (Brief, Zeitung, Telekommunikation) kennt das Grundgesetz zum Teil Spezialregelungen (s. Art. 10, 87 f. GG) mit der Folge, dass der Transportweg ohne Rücksicht auf den Inhalt durch die Spezialnorm geschützt wird, der Schutz des Inhalts sich aber weiter ausschließlich nach Art. 5 GG richtet. Gleiches gilt für den Fall, dass die Meinung in der speziellen Form einer kollektiven Meinungskundgabe durch eine Versammlung verbreitet wird34. Dementsprechend müssen Versammlungsauflagen, die die Äußerung bestimmter Meinungen beschränken oder gar verbieten, durch den Schrankenvorbehalt des Art. 5 Abs. 2 GG gerechtfertigt sein35. In vergleichbarer Weise ist das Verhältnis von Art. 17 zu Art. 5 GG zu bestimmen36. Das Petitionsrecht gewinnt seinen spezifischen Gehalt nicht durch den (vielleicht diese: Ein Petent wird an der Übergabe einer Petition in dem brennenden Gebäude des Ministeriums gehindert). 32 Vgl. für die h.M. R. Stettner (Fn. 14), Art. 17 Rn. 42, 45. 33 Vgl. BVerfG, NJW 1991, 1475 (1477). 34 Vgl. BVerfGE 90, 241, 246 (250 f.); C. Gusy, in: von Mangoldt / Klein / Starck, 4. Aufl. 1999, Art. 8 Rn. 87; W. Müller, Wirkungsbereich und Schranken der Versammlungsfreiheit, insbesondere im Verhältnis zur Meinungsfreiheit, 1974, S. 73; U. Schwäble, Das Grundrecht der Versammlungsfreiheit, 1975, S. 102, 136. Für eine umfassende Spezialität von Art. 8 GG aber K.-H. Ladeur, in: H. Ridder / M. Breitbach u. a., Versammlungsrecht, Baden-Baden 1992, Art. 8 Rn. 15 ff.; C. Ehrentraut, Die Versammlungsfreiheit im amerikanischen und deutschen Verfassungsrecht, Berlin 1990, S. 132 ff. 35 Siehe BVerfGE 90, 241 (250 f.); DVBl. 2002, 690 f.; NVwZ 2002, 983. 36 Strukturell Gleiches gilt für das Verhältnis von Art. 17 GG zu Art. 8 GG. 7*
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Inhalt der Petition, sondern durch die Eröffnung eines Zugangs zu einem bestimmten Adressatenkreis für (irgend-)ein Begehren. Art. 17 GG ergänzt daher den allgemein auch von Art. 5 GG umfassten Schutz, Begehren gegenüber jedermann zu äußern – gekoppelt mit der Pflicht zur Beachtung der Schranken (Art. 5 Abs. 2 GG) -, durch ein darüber hinausgehendes selbständiges Recht: Es gibt erstens ein Recht, das Begehren bestimmten Adressaten gegenüber zu äußern, das heißt an dem Zugang zu den zuständigen Stellen nicht gehindert zu werden. Der Petitionsadressat hat (anders als z. B. eine Privatperson37) keine negative Kommunikationsfreiheit, also kein Recht, das Begehren nicht entgegenzunehmen. Insofern ist das Petitionsrecht unbeschränkt. Hinzu kommt zweitens das Recht des Petenten, von dem Adressaten der Petition nicht nur die Kenntnisnahme verlangen zu können; vielmehr sind die zuständigen Stellen – wie erwähnt – auch zur sachlichen Prüfung und Beantwortung zulässiger Petitionen verpflichtet38. Dies wird als ein „formelles Recht“ bezeichnet39, das auf die beschriebene Art der Erledigung zielt, nicht aber auf die Erreichung bestimmter Ergebnisse durch das Begehren.
III. Die Beachtlichkeit der allgemeinen Rechtsordnung bei der Wahrnehmung des Petitionsrechts 1. Drittwirkung des Petitionsgrundrechts Da Art. 17 GG in seinem objektiv-rechtlichen Gehalt Drittwirkung entfaltet40, strahlt er auch auf Privatrechtsbeziehungen aus. Dies kann etwa bewirken, dass auch private Dritte (etwa Arbeitgeber) auf dieses Petitionsrecht Rücksicht zu nehmen haben. Die Normen des Zivilrechts – etwa des Arbeitsrechts – sind unter Beachtung der Ausstrahlungswirkung des Art. 17 GG so auszulegen, dass sie nicht als Mittel genutzt werden können, um den Zugang zum Petitionsadressaten zu verhindern. Andererseits sind Arbeitgeber – da Art. 17 GG ihnen keine Pflichten auferlegt – z. B. nicht verpflichtet, die Überreichung einer Petition an eine zuständige Stelle in der Arbeitszeit zu ermöglichen, wenn dies auch zu einer anderen Zeit geschehen kann. Ist dies nicht möglich, kann die Ausstrahlungswirkung des Art. 17 37 Zur negativen Kommunikationsfreiheit in Form der negativen Informationsfreiheit siehe J. Fenchel, Negative Informationsfreiheit. Zugleich ein Beitrag zur negativen Grundrechtsfreiheit, Berlin 1997; R. Wendt, in: von Münch / Kunig (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, 5. Aufl. 2000, Art. 5 Rn. 26. 38 Vgl. dazu Stettner (Fn. 14) Art. 17 Rn. 75 ff., 79; G. Dürig, in: Maunz / Dürig, Grundgesetz. Kommentar, Bd. II, 1960, Art. 17 Rn. 46; E. Stein (Fn. 4), Art. 17 Rn. 28 f. 39 Stein (Fn. 4), Art. 17 Rn. 28; P. Dagtoglou, in: in: Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 3, Heidelberg 1967, Art. 17 Rn. 95; Masing (Fn. 8), S. 166. Differenzierend (nicht nur als rein formelles Recht) etwa J. Burmeister (Fn. 15), § 32 Rn. 9; W. Vitzthum / W. Merz, Das Grundrecht der Petitionsfreiheit, JZ 1985, S. 809 ff. (810). 40 S. o. Fn. 29.
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GG zu einer Modifikation arbeitsrechtlicher Pflichten führen, etwa im Zuge eines Anspruchs auf Urlaub41. Im Folgenden ist zu klären, ob und wie weit die Ausstrahlungswirkung des Art. 17 GG auf die Anwendung zivil-(aber auch straf-)rechtlicher Normen zurückwirkt, die an den Inhalt der Petition anknüpfen.
2. Enger Gewährleistungsgehalt Als Zugangsrecht regelt Art. 17 GG den Zugang: Jede Petition ist durch das Zugangsrecht geschützt. Dementsprechend ist Art. 17 GG keine Aussage darüber zu entnehmen, welche Inhalte nach den sonstigen Vorschriften der Rechtsordnung zum Gegenstand von Kommunikation – und in der Folge zusätzlich zum Gegenstand einer Petition – gemacht werden dürfen. Auch enthält Art. 17 GG keine Aussage dahingehend, dass der Inhalt einer Petition, der gegen Strafgesetze oder sonstige Rechtsvorschriften verstößt, allein deshalb rechtmäßig wird, weil er in eine Petition eingeht42. Gegenläufiges folgt auch nicht aus Sinn und Zweck des Art. 17 GG. Art. 17 GG erweitert die Möglichkeiten, die eigenen Interessen des Petenten durchzusetzen – nämlich außerhalb der sonst üblichen Verfahren -, allerdings nur in der einen Hinsicht, nämlich als Garantie des Zugangs zu den Petitionsadressaten. Auch insofern besteht eine Parallele zu Art. 8 GG. Garantiert ist dort die Freiheit kollektiver Kundgabe in öffentlichen Angelegenheiten43. Eine nach allgemeinen Maßstäben rechtswidrige Handlung, etwa eine Sachbeschädigung, wird aber nicht etwa deshalb rechtmäßig, weil sie in der Versammlung erfolgt und / oder der Erfüllung des Versammlungszwecks – etwa der Auslösung öffentlicher Aufmerksamkeit – dient44. Wohl aber muss die Ausstrahlungswirkung der Versammlungsfreiheit auf die Auslegung und Anwendung der Normen des Haftungsrechts u. ä. berücksichtigt werden45. Auch Art. 17 GG bewirkt keinen Wegfall der Maßgeblichkeit der in der Rechtsordnung enthaltenen Rechte anderer, etwa solcher Personen, von denen die Petition inhaltlich handelt. Eine Einschränkung von Rechten Dritter ist dem Petitionsrecht auch in seiner historischen Entwicklung fremd und wäre in der Rechtsordnung des Grundgesetzes, die umfassenden Rechtsschutz materiell und formell gewährt (etwa gemäß Art. 19 Abs. 4 GG bzw. nach dem allgemeinen Justizgewährungsanspruch46), schon deshalb nicht hinnehmbar, weil das Petitionsrecht dem betroffe41 Vgl. die Parallelprüfung im Hinblick auf Art. 8 GG, siehe dazu W. Hoffmann-Riem, in: AK-GG Bd. I, 3. Aufl., 2001, Art. 8 Rn. 40. 42 Vgl. Stettner (Fn. 14), Art. 17 Rn. 77; E. Stein (Fn. 4), Art. 17 Rn. 23. 43 Zum Versammlungsbegriff siehe BVerfGE 104, 92 (104). 44 Dazu siehe W. Hoffmann-Riem (Fn. 41), Art. 8 Rn. 41, s. aber auch Rn. 24. 45 Siehe W. Hoffmann-Riem (Fn. 41), Art. 8 Rn. 41.
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nen Dritten keinerlei Rechtsschutzmöglichkeiten einräumt. Weder wird er an dem Petitionsverfahren beteiligt noch ist der Petitionsadressat auf Grund des Art. 17 GG verpflichtet47 und berechtigt, zum Schutz des Dritten tätig zu werden48. Vielmehr mündet das Petitionsrecht lediglich in der Pflicht des Petitionsadressaten zur Prüfung und Beantwortung gegenüber dem Petenten, ohne eine Pflicht zu einer bestimmten Art der Sachbehandlung auslösen oder gar zu einer Sachbehandlung, die zugleich dem Schutz des benachteiligten Dritten dient. Dies verdeutlicht, dass Art. 17 GG einen Kommunikationsvorgang nicht aus der sonstigen Rechtsordnung heraushebt und einer gesonderten, andere Maßnahmen ausschließenden Behandlung unterwirft. Sein Gewährleistungsgehalt ist vielmehr auf die Eröffnung der Zugänglichkeit und die Bearbeitung des Anliegens begrenzt. Diese Beschränkung des Gewährleistungsgehalts findet seine Bestätigung darin, dass Art. 17 GG keine Schranken kennt: Der Zugang als solcher – also ohne Blick auf den Inhalt der Petition – ist ja nicht geeignet, Rechtsgüter anderer zu verletzen, so dass keine verfassungsrechtliche Notwendigkeit besteht, Schranken zur Bewältigung von Kollisionslagen vorzusehen49. Das Fehlen eines Schrankenvorbehalts ist ein Indiz für einen eng zu verstehenden Gehalt des Grundrechts: Der Gewährleistungsgehalt des Art. 17 GG ist – wie m. E. bei Art. 4 Abs. 1, 2; Art. 5 Abs. 3 GG50 – so zu bestimmen, dass eine Kollisionsmöglichkeit, die über eine Schrankensetzung zu bewältigen wäre, jedenfalls grundsätzlich51 gar nicht eintreten kann. Ist der Gewährleistungsgehalt auf das Zugangsrecht mit Bearbeitungsanspruch begrenzt, entfällt das Risiko, dass diese Norm Schutzmöglichkeiten vereitelt, die in der Rechtsordnung, insbesondere in anderen Grundrechten, in anderen Kontexten für sonstige Personen und deren Rechtsgüter vorgesehen sind, etwa zur Abwehr rechtsgutverletzender Inhalte. Der Schutz durch diese anderen Grundrechte entfällt nicht dadurch, dass sich jemand auf Art. 17 GG beruft52. Insofern ist die Redeweise zutreffend, Art. 17 GG und andere Grundrechte – wie Art. 5 GG – stünden im Verhältnis der Alternativität (also: nicht der Spezialität) zueinander53. Die Grundrechte mit ihren jeZu seiner Reichweite siehe BVerfGE 107, 395, 410, 415. Eine Rechtspflicht könnte aber anderweitig begründet sein, so z. B. auf Grund der Fürsorgepflicht, wenn eine dem Petitionsadressaten anvertraute Person - etwa ein Beamter in dienstlicher Eigenschaft angegriffen wird. Die Pflicht folgt aber nicht aus Art. 17 GG, sondern z. B. aus Art. 33 GG i.V.m. Beamtenrecht. 48 Ob er dazu berechtigt ist, folgt nicht aus Art. 17 GG, sondern aus anderen Rechtsnormen und setzt die Zuständigkeit der Stelle dazu voraus. 49 Siehe aber oben Fn. 31. 50 Siehe dazu W. Hoffmann-Riem, Enge oder weite Schutzbereiche der Grundrechte?, in: Bäuerle u. a. (Hrsg.), Haben wir wirklich Recht? 2004, 45 ff. 51 Für den Ausnahmefall gäbe es Rückgriffsmöglichkeiten auf verfassungsunmittelbare Schranken (Fn. 31). Siehe auch E.-W. Böckenförde, Der Staat 2003, S. 190 f. 52 Der Staat hat diesen anderen Grundrechtsträgern gegebenenfalls sogar bei der Durchsetzung ihrer Rechte behilflich zu sein. Die Grundrechtsordnung zielt auf Grundrechtssicherung für alle. 46 47
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weils spezifischen Gewährleistungsgehalten regeln jeweils unterschiedliche Aspekte von Freiheit. Im konkreten Fall eines faktisch einheitlichen Vorgangs können sie zusammentreffen, ohne dass sie deshalb miteinander in Kollision geraten. Wird Art. 17 GG dahingehend verstanden, dass er dem Petenten eine besondere Möglichkeit für den Zugang zu staatlichen Stellen bietet, aber die Reichweite anderer Grundrechte grundsätzlich unberührt lässt und damit den Schutz Dritter durch solche Grundrechte nicht ausschließt, gibt es keinen Anlass, die Rechtsverfolgung im Rahmen anderer Grundrechtsnormen zu unterbinden. Deshalb ist es im Ergebnis richtig, wenn die Literatur – wie erwähnt – formuliert, Art. 17 GG stelle an sich strafbare Petitionen nicht straffrei54. Auch schützt Art. 17 GG eine Äußerung, die gegen sonstige Rechtsvorschriften, wie das Persönlichkeitsrecht eines Dritten, verstößt, nicht dadurch auch in ihrem Inhalt, dass sie in eine Petition aufgenommen wird.
3. Behandlung von Kollisionslagen Ein eigenständiges Problem ist es, wie mit einer Petition umgegangen wird, die rechtswidrige Inhalte enthält oder die von dem Petitionsadressaten etwas rechtlich Verbotenes verlangt. Eine solche Petition verliert nicht schon allein wegen dieses Inhalts den Zugangsschutz des Art. 17 GG55 und wird insofern nicht „unzulässig“; sie enthebt den Petitionsadressaten aber nicht davon, bei der Reaktion auf das Begehren die Rechtsordnung zu beachten. So darf der Petitionsadressat z. B. dem Verlangen nach einem strafbaren Tun nicht nachgeben. Verletzt die Petition inhaltlich die Rechte eines Dritten, so hat der Petitionsadressat in seiner Reaktion auf das Begehren dafür zu sorgen, dass diese Rechtsverletzung nicht vertieft wird und, wenn er dazu in der Lage ist, ist er zur Sorge dafür berechtigt56, dass sie möglichst beseitigt wird. Letzteres ist dem Petitionsadressaten allerdings häufig nicht möglich. In jedem Fall steht dem verletzten Dritten der Rückgriff auf die allgemeine 53 Vgl. BVerfG, 3. Kammer des Ersten Senats, NJW 1991, 1475 (1476); Stettner (Fn. 14), Art. 17 Rn. 109; Bauer (Fn. 15), Art. 17 Rn. 46; wohl auch R. Rauball, in: von Münch / Kunig, Grundgesetz-Kommentar, Bd. I, 5. Aufl., 2000, Art. 17 Rn. 20. Die Meinung von M. Brenner (Fn. 15), Art. 17 Rn. 29, Art 5 Abs. 1 GG sei bei Äußerung einer Meinung ohne Petitionsgehalt die speziellere Regelung, bedarf keiner Vertiefung, da sie - zutreffend - davon ausgeht, dass Art. 17 GG mangels eines Begehrens insoweit nicht einschlägig ist; damit erübrigt sich jedoch die Frage nach einem Konkurrenzverhältnis der beiden Normen. 54 Vgl. auch BVerfGE 2, 225 (229). 55 Anders aber offenbar BVerfGE 2, 225 (229). Die dort enthaltene Aussage, eine Petition sei unzulässig, wenn mit ihr „etwas gesetzlich Verbotenes gefordert wird“ oder sie „beleidigenden, herausfordernden oder erpresserischen Inhalt hat“, ist heute nicht mehr angemessen, siehe auch B. Pieroth / B. Schlink, Grundrechte, Staatsrecht II, 19. Aufl., 2003, Rn. 999. Dazu siehe auch unter 4. 56 S. o. Fn. 48.
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Rechtsordnung zum eigenen Rechtsgüterschutz offen, insbesondere die Aktivierung von Gerichtsschutz. Das Verständnis des Petitionsrechts als Zugangsrecht schließt es nach allem nicht aus, den Inhalt des Begehrens – etwa die transportierte Meinungsäußerung oder auch eine im Schutzbereich der Art. 4 oder Art. 5 Abs. 3 GG u.ä. liegende Äußerung – anhand der Regeln der sonstigen Rechtsordnung zu beurteilen. Es berührt den Gewährleistungsgehalt des Art. 17 GG nicht und bedeutet deshalb keine Beeinträchtigung des Petitionsrechts, wenn der von einer Rechtsverletzung des Petenten – etwa einer Ehrverletzung – betroffene Dritte sich vor den Zivilgerichten gegen diese Äußerung wehrt und Unterlassen verlangt. Die Berechtigung des Unterlassungsanspruchs ist im Rahmen des Art. 5 GG – insbesondere unter Anwendung der Schranken des Absatzes 2 (dazu zählen §§ 823, 826, 1004 BGB u. ä.) – zu prüfen. 4. Ausstrahlungswirkung des Petitionsrechts in Drittbeziehungen Mit dieser Feststellung ist aber noch keine dem Grundgesetz angemessene abschließende Antwort gegeben. Es bleibt noch zu klären, ob Art. 17 GG in seinem objektiv-rechtlichen Gehalt derart auf die allgemeine Rechtsordnung ausstrahlt, dass bei der Bestimmung der Rechtswidrigkeit des Inhalts der Petition oder der Festlegung der Rechtsfolgen eines rechtswidrigen Inhalts die Rückwirkung auf die Ausübung des Petitionsrechts auch unter Berücksichtigung seiner Funktion für die staatliche und gesellschaftliche Ordnung (s. o. I 1) zu beachten ist. Die Kollisionslage verweist auf ein Dreiecksverhältnis: (1) Der Petent kann sich in inhaltlicher Hinsicht auf die Meinungsfreiheit (allerdings nur unter Einschluss der Schranken des Art. 5 Abs. 2 GG), hinsichtlich der Wahl der Form und des Weges der Petition auf Art. 17 GG berufen. (2) Der (staatliche) Petitionsadressat selbst kann sich auf kein Grundrecht berufen und hat die Petition auch dann entgegenzunehmen und zu bescheiden, wenn ihr Inhalt die Rechte Dritter verletzt. Dieser Umstand kann und muss gegebenenfalls – wie erwähnt – aber in die Art der Bearbeitung des Petitionsbegehrens, etwa die konkrete Antwort, einfließen. (3) Der vom Inhalt der Äußerung betroffene Dritte kann dem Petenten nicht verwehren, eine Petition an die zuständige Stelle zu richten; er kann sich aber nach Maßgabe der allgemeinen Rechtsordnung gegen den Petenten wegen des Inhalts der Petition wehren, etwa unter Berufung auf sein Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG). Dieses gewährt jedoch keinen absoluten Schutz. Würde die behauptete Persönlichkeitsverletzung außerhalb des Petitionsvorgangs erfolgen, kämen die allgemeinen Regeln über den Umgang mit solchen Rechtsgüterkollisionen zur Anwendung57. Die entscheidende Frage ist, ob die Art 57
Siehe statt vieler BVerfGE 93, 266; 97, 391; 99, 185.
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bzw. das Gewicht des Grundrechtsschutzes des Petenten in dieser, durch eine Rechtsgutbeeinträchtigung geprägten, Kollisionslage sich deshalb verändert – und zwar verstärkt -, weil der Petent sich zusätzlich auf Art. 17 GG stützen kann. Letzteres kann er im Verhältnis zum Träger des Persönlichkeitsrechts nur im Rahmen der Konstruktion der mittelbaren Drittwirkung der Grundrechte. Maßgebender Anknüpfungspunkt der rechtlichen Prüfung ist also zunächst der objektiv-rechtliche Gehalt des Art. 17 GG: die Ausstrahlungswirkung des Petitionsrechts auf Drittbeziehungen. Rechtsdogmatische Ansatzmöglichkeiten schaffen die in den zivilrechtlichen Normen enthaltenen unbestimmten Rechtsbegriffe und Abwägungsermächtigungen. Der objektiv-rechtliche Gehalt des Art. 17 GG – geprägt insbesondere durch die Verankerung des Zugangsrechts auch im Demokratieprinzip und im Interessen- und Rechtsschutz (s. o. I) – ist bei der Anwendung wertausfüllungsbedürftiger Begriffe des Zivilrechts und insbesondere bei Abwägungen in die Prüfung einzubeziehen. So kann bei der Abwägung der Kommunikationsfreiheit mit einem beeinträchtigten Persönlichkeitsrecht bedeutsam werden, dass die Meinungsäußerung in einer Petition enthalten war58. Im Rahmen der Abwägung kann sich z. B. auswirken, dass die Äußerung an die öffentliche Hand, nicht etwa an die allgemeine Öffentlichkeit, gerichtet ist, also auf eine gewisse (regelhaft allerdings beschränkte) Sachprüfung durch eine hierzu berufene, der Wahrung sowohl des gemeinen als grundsätzlich auch des individuellen Wohls verpflichtete Stelle zielt. In der Rechtsprechung und Rechtswissenschaft ist anerkannt, dass Äußerungen, die auf ein hierfür vorgesehenes geordnetes Verfahren vor Gerichten oder Behörden bezogen sind, nicht mit einer Ehrenschutzklage abgewehrt werden können, solange sie in einem Zusammenhang mit dem verfolgten Anliegen des Äußernden stehen und nicht missbräuchlich erscheinen59. Ein anerkannter Weg zur Verwirklichung des Petitionsschutzes ist die Prüfung der Rechtswidrigkeit unter Rückgriff auf Rechtfertigungsgründe wie die Rechtsfigur des berechtigten Interesses für die Äußerung (vgl. § 193 StGB). Neben gerichtlichen Entscheidungen, die (allerdings meist nicht im Rahmen des Art. 17 GG, sondern des Art. 103 Abs. 1 GG) zur Bestimmung des Schutzumfangs auf die Wahrung berechtigter Interessen verweisen, gibt es aber auch solche, die schon ein Rechtsschutzbedürfnis für zivilrechtliche Klagen gegen die Äußerung verneinen60, da eine Sachprüfung nicht stattfinden dürfe, weil sie einen Übergriff 58 Vgl. BVerwGE 103, 81 (89); OLG Düsseldorf, NJW 1972, 650 (651); OLG Düsseldorf, NVwZ 1983, 502 (502 f.); OLG Celle, NVwZ 1985, 69 (69 f.); Stettner (Fn. 14), Art. 17 Rn. 75; Brenner (Fn. 15), Art. 17 Rn. 71; Bauer (Fn. 15), Art. 17 Rn. 35. 59 Vgl. RGZ 140, 393; BGH, NJW 1962, 243; NJW 1986, 2502; BVerfG, NJW 1991, 29. Ausführliche Nachweise bei J. Haager, in: Staudinger, Kommentar zum BGB, 13. Bearbeitung 1999, § 823 Rn. C 135 ff. insbesondere Rn. 140. 60 Siehe etwa BGH, NJW 1965, 1803 (1803); 1987, 3138 (3139); 1988, 1016 (1016); 1992, 1314 (1315), s. auch R. Rixecker, in: Münchner Kommentar zum BGB, 4. Aufl., München 2001, § 12 Anh. Rn. 177.
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in ein anderes Verfahren darstelle. Andere Autoren verneinen sogar die Klagbarkeit; die Klage sei wegen des Interesses an der Funktionsfähigkeit der Gesamtrechtsordnung unzulässig61. Aus verfassungsrechtlicher Sicht muss bei der Anwendung einfachen Gesetzesrechts vorgesorgt sein, dass die Ausstrahlungswirkung des Art. 17 GG (bzw. bei Verfahren vor Gericht die des Art. 103 Abs. 1 GG) berücksichtigt wird. Ob sie dazu führen muss, dass das Interesse des Petenten stets vorgeht (das wäre der Fall, wenn die Klage des Dritten gegen den Inhalt der Petition stets unzulässig wäre, etwa wegen eines stets fehlenden Rechtsschutzbedürfnisses oder gar fehlender Klagbarkeit), ist aber zweifelhaft. Soweit im Fachrecht eine Abwägung geboten ist, muss sie den objektiv-rechtlichen Vorgaben des Petitionsrechts hinreichend Rechnung tragen. Die Anwendung des Zivil- oder Strafrechts zum Schutz Dritter vor dem Inhalt der Petition kann rechtstechnisch jedoch nicht zu einem Eingriff in das Petitionsrecht führen, wenn der Gewährleistungsgehalt so spezifisch bestimmt wird, wie oben (2) dargelegt worden ist. Die Ausstrahlungswirkung des Art. 17 GG hängt allerdings nicht davon ab, dass zuvor das Vorliegen eines Eingriffs in das Petitionsrecht bejaht wird. Eine vergleichbare Situation hatte das BVerfG im Urteil zum Schächten62 zu bewältigen. Es bewertet das Schächten durch einen muslimischen Metzger als Teil seiner Berufsausübung, nicht als Akt der Religionsausübung63, betont aber, dass der Schutz seiner Berufsfreiheit in Verbindung mit der Religionsfreiheit zu bestimmen ist, also durch den spezifischen Freiheitsgehalt des Art. 4 Abs. 1 GG verstärkt wird64. Die relativ enge Schutzgehaltsbestimmung zu Art. 4 Abs. 1 GG65 schließt es aus, das Vorliegen eines Grundrechtseingriffs zu bejahen; dennoch entnimmt das Gericht dem Art. 4 Abs. 1 GG objektiv-rechtliche Vorgaben für Wertungen bei der Anwendung des für den subjektiv-rechtlichen Schutz einschlägigen Grundrechts, hier das Grundrecht der Berufsfreiheit. In vergleichbarer Weise wirken die objektiv-rechtlichen Vorgaben des Art. 17 GG sich bei der Anwendung wertbezogener Normen im Zuge systematischer Interpretation als normativer Orientierungsmaßstab aus. Der hohe Wert der Petitions61 Siehe G. Walter, Ehrenschutz gegenüber Parteivorbringen im Zivilprozeß, JZ 1986, S. 615 ff. (618 f.); ders., JZ 1986, S. 1058 ff.; ders., JZ 1988, S. 307. 62 BVerfGE 104, 337 (346). 63 Sonst hätte das BVerfG die Prüfung anhand des Art. 4 GG vornehmen und sich mit dem Fehlen eines Schrankenvorbehalts auseinander setzen müssen. 64 Kritisch zur Rechtsfigur der Grundrechtsverstärkung T. M. Spranger, Die Figur der „Schutzbereichsverstärkung“, NJW 2002, S. 2074 ff. (2075 f.); K.-E. Hain / P. Unruh, Neue Wege in der Grundrechtsdogmatik? DÖV 2003, S. 147 ff. (150 f.) 65 Das BVerfG hat allerdings bisher meist eine relativ weite Schutzbereichsbestimmung vorgenommen: Schutz der Ausrichtung des Verhaltens an den Lehren des eigenen Glaubens und eines Handelns gemäß der inneren Glaubensüberzeugung (siehe BVerfGE 32, 98[106]; 41, 29 [49]; 93, 1 [15]); Urteil des Zweiten Senats v. 24. Sept. 2003, 2 BvR 1436 / 02, Umdruck S. 21 f. Enger der Erste Senat in BVerfGE 104, 337 (345 ff.).
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freiheit beeinflusst insbesondere die Verhältnismäßigkeitsprüfung (Angemessenheitsprüfung) bei der Prüfung der Rechtswidrigkeit (vgl. etwa § 193 StGB) im Zuge der Anwendung der §§ 823 ff. BGB. Zu verhindern ist insbesondere, dass die Rechtsordnung mittelbare Einschüchterungswirkungen für das Petitionsrecht verursacht66. Solche Wirkungen sind allgemein in der Rechtsordnung zu berücksichtigen, also auch dann, wenn der Petent selbst keinen subjektiv-rechtlichen Schutz vor der Rechtsdurchsetzung Dritter beanspruchen kann, die sich gegen Äußerungen des Petenten richtet. Eine Berücksichtigung objektiv-rechtlicher Grundrechtswirkungen soll offenbar in gerichtlichen Ausführungen zum Ausdruck kommen, nach denen der Schutz gegen Äußerungen des Petenten im Interesse der „Gesamtrechtsordnung“ vermindert ist, also: nicht (nur) im Interesse subjektiven Rechtsgüterschutzes des Petenten. Eingaben an öffentliche Stellen sollen wegen des öffentlichen Interesses an der Aufdeckung etwaiger Missstände gleichen Schutz der Meinungsäußerung erfahren wie es für Äußerungen im Rahmen eines gerichtlichen Verfahrens seit langem anerkannt ist67. Für diese Bereiche hat die Rechtsprechung Differenzierungen erarbeitet, die keineswegs auf einen absoluten Vorrang des Art. 17 GG (bzw. des Art. 103 Abs. 1 GG) hinweisen. Wendet sich jemand mit Vorwürfen u. ä. an eine zur Prüfung solcher Vorwürfe berufene Stelle, dann gelten z. B. die Grenzen zulässiger Tatsachenbehauptung erst dann als überschritten, wenn die Äußerung bewusst unwahr ist oder ihre Unwahrheit ohne weiteres – also ohne Beweisaufnahme – auf der Hand liegt68. Auch wird in den Rechtsfolgen differenziert. So werden im zivilrechtlichen Verfahren zwar Ansprüche auf die zukünftige Unterlassung solcher Äußerungen anerkannt69, nicht aber der Anspruch auf Widerruf der im Zeitpunkt der Petition über den Rechtfertigungsgrund der Wahrung berechtigter Inte66 Vgl. die ähnliche Konstruktion in BVerfGE 100, 313 (376); 107, 299, 320 f.: Die Gefährdung der Unbefangenheit der Nutzung der Telekommunikation und in der Folge der Qualität der Kommunikation in einer Gesellschaft werden im Bereich des Art. 10 GG angesichts der Streubreite von Überwachungsmaßnahmen und des Risikos, dass durch sie das Gefühl des Überwachtwerdens bewirkt wird, in die Beurteilung der Rechtmäßigkeit von Überwachungsmaßnahmen einbezogen. Denn sie haben Auswirkungen auf die Funktionsweise von Rechtsstaat und Demokratie, deren Schutz Art. 10 GG auch gilt. Derartige Überlegungen gelten dem Gewährleistungsgehalt des Art. 10 GG, nicht dem Eingriffscharakter der Maßnahme: Art. 10 Abs. 1 GG gewährt keinen subjektivrechtlichen Schutz vor spurenlosen und anonymen Überwachungsmaßnahmen. Die Norm stellt aber einen Maßstab zur verfassungsrechtlichen Beurteilung derartiger Überwachungsmaßnahmen bereit. Der objektivrechtliche Gehalt des Art. 10 Abs. 1 GG ist also auch gegen solche Überwachungsmaßnahmen in Stellung zu bringen. 67 Vgl. OLG Düsseldorf, NVwZ 1983, 502; OLGR 1992, 133; OLGR 1993, 107; OLG Celle, NVwZ 1985, 69. 68 Vgl. BVerfG, NJW 1991, 1475 (1476); NJW 1991, 2074 (2075); OLG Düsseldorf, OLGR 1993, 107. 69 BGH, NJW 1987, 3138, scheint auch dies zu verneinen. Siehe aber die Anmerkung G. Walter, NJW 1987, S. 3140, der auf die prozessualen Unstimmigkeiten in der Argumentation des BGH verweist.
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ressen (§ 193 StGB) in Verbindung mit Art. 17 GG geschützten Äußerung; auch entfällt ein Anspruch auf Schadensersatz unter Anknüpfung an diese ursprünglich nicht rechtswidrige Äußerung. Steht aber (etwa auf Grund der Beweisaufnahme vor dem Gericht) die Unrichtigkeit rechtskräftig oder sonst wie außerhalb vernünftigen Zweifels fest, bewirkt die Ausstrahlungswirkung des Art. 17 GG nicht auch, dass die Äußerung in der Zukunft aufrecht erhalten werden darf. Auch von der historisch fundierten und aktuell bestätigten Ratio des Art. 17 GG her besteht kein Grund zum Schutz von Äußerungen, deren Unrichtigkeit feststeht und für die das Gericht einen Unterlassungsanspruch bejaht hat. Das Recht des Petenten auf Zugang zum Petitionsadressaten darf zwar nicht beschränkt werden, wohl aber das Recht, Inhalte zum Gegenstand der Petition zu machen, die Rechtsgüter anderer verletzen. Die Petition wird dadurch nicht „unzulässig“70: Der Petitionsadressat muss sie also entgegennehmen, wenn sie ihm übergeben wird. Die Rechtswidrigkeit des Inhalts wirkt aber auf die Art der Prüfung und Bescheidung zurück. Im Übrigen widerspricht es nicht der Rechtsordnung, wenn dem Petenten durch die allgemeine Gerichtsbarkeit verwehrt wird, einen Inhalt zum Gegenstand einer Petition zu machen, weil er die Rechte anderer verletzt. War die Rechtsverletzung im Zeitpunkt der Petition nicht sicher erkennbar (etwa weil die Unwahrheit einer Tatsachenbehauptung noch nicht feststand), kann dies die Geltendmachung von Ansprüchen wegen der schon erfolgten Rechtsverletzung ausschließen, nicht aber die Aufrechterhaltung der Äußerung in der Gegenwart und Zukunft rechtfertigen.
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S. o. Fn. 55.
Verfassungsfragen der Berufsbildung Von Friedhelm Hufen
I. Einleitung Die Berufsbildung ist ein Thema exakt auf der Grenzlinie von Wirtschaftsverwaltungsrecht und Bildungsrecht. Der verfassungsrechtliche Rahmen ist durch gerade jetzt wieder aktuelle Kompetenzfragen im Bundesstaat einerseits und durch die Berufsfreiheit des Art. 12 GG andererseits umrissen. Wirtschaftsverwaltungsrecht und Bildungsverwaltungsrecht: So lauten neben anderen auch die „Ressorts“, in denen Peter Selmer und der Verfasser dieser Zeilen im Rahmen der Rechtsprechungsübersicht einer Ausbildungszeitschrift1 in stets erfreulicher wissenschaftlicher Nachbarschaft leben. Dass bei beiden Zuständigkeitsbereichen Fragen des Bundesstaates und der Berufsfreiheit immer wieder angesprochen sind, bedarf kaum der Begründung. Beide Aspekte sind derzeit wieder einmal von besonderer Aktualität. Europäische Anstöße, aber auch zunehmend bemerkbare Krisensymptome im Inneren haben den früheren deutschen „Exportschlager“ Berufsbildung erneut zum Thema gemacht. Schon ist von einer umfassenden Reform die Rede und es wird nach den kompetenzrechtlichen und grundrechtlichen Rahmenbedingungen gefragt. Dabei sind die praktischen Probleme bekannt: Vernachlässigung gegenüber dem Sekundarschulbereich, heterogene Leistungsfähigkeit der Schüler, Unterlaufen der Berufsschulpflicht durch Umwandlung von Lehrlingsstellen in Praktikantenstellen und dergleichen mehr. Verfolgt man die derzeitige Diskussion, dann scheinen zumindest neben die praktischen auch zunehmende verfassungsrechtliche Probleme zu treten. Da wird das Subsidiaritätsprinzip in Stellung gebracht, um das duale Berufsausbildungssystem und das „Berufe-Monopol“ des Staates in der Bundesrepublik in Zweifel zu ziehen. Da wird die Berufsschulpflicht zumindest für Volljährige mit Argumenten der Berufsfreiheit in Frage gestellt2 – angesichts des wachsenden Anteils von Volljährigen an der Schülerschaft eine besonders brisante These. Da wird „duales Berufsbildungssystem“ mit dem Gegensatz von Theorie 1 Es handelt sich um die „JuS-Rechtsprechungsübersicht“, in deren Rahmen der Laureat für das Besondere Verwaltungsrecht und der Autor u. a. für Entscheidungen aus dem Kulturrecht „zuständig“ ist. 2 Mirbach, Berufsschulpflicht für Volljährige – verfassungswidrig?, RdJB 2002, S. 434 ff.
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und Praxis übersetzt3 und darauf verwiesen, dass praktische Ausbildung bereits ohnehin privat organisiert sei, nunmehr auch der theoretische Bereich mehr und mehr im Bereich der Wirtschaft erbracht werde und damit die staatliche Berufsschule überflüssig werde. Demgegenüber ist schon rein begriffsmäßig zunächst einmal festzuhalten, dass das duale System der Berufsausbildung der Bundesrepublik nicht deckungsgleich mit der Dualität von Theorie und Praxis ist, sondern traditionell und auch in der rechtlichen Ausgestaltung Dualität von Staat und Wirtschaft meint, also in der Regel Dualität von Berufsschule und Betrieb4. Theoretische Ausbildung findet dabei sowohl im staatlichen System der Berufsschulen als auch in den Betrieben statt. Im letzteren Bereich sind große Unterschiede zu verzeichnen: Betriebseigene Fachschulen von hoher Qualität sind ebenso möglich wie der nahezu gänzliche Verzicht auf die „Theorie“. Die großen Unterschiede im theoretischen Ausbildungsbereich legitimieren schon auf den ersten Blick kaum den weiteren Rückzug des Staates aus diesem Sektor; sie zeigen vielmehr, dass der staatliche Bildungsauftrag gerade im Zeichen vielfacher Überforderung der privaten und der in harten Zeiten „rotstiftbedrohten“ betrieblichen Bildung besonders wichtig ist. Auch im übrigen aber empfiehlt es sich, die klassischen Ziele des staatlichen Anteils an der Berufsbildung in Erinnerung zu rufen: Es sind dies – die Sicherung der fachlichen Qualität der berufsbezogenen Ausbildung, die die praktische Ausbildung im Beruf ergänzen soll und von den Erfordernissen des jeweiligen Berufsfeldes bestimmt wird5. Dieses Element wird zumindest teilweise in der Praxis geleistet, Defizite und Unterschiede müssen aber im staatlichen Schulbereich kompensiert werden. – Die berufsübergreifende Allgemeinbildung und im weiteren Sinne gemeinschafts- und demokratiebezogene Bildungsinhalte6. Auch dieser Auftrag wird nahezu einhellig zum Kerngehalt der traditionellen Berufsbildung gezählt. Er erlangt neue Aktualität durch die rasche Veralterung des fachbezogenen Wissens und die Notwendigkeit der breiten Wissensbasis auch im beruflichen Bereich sowie durch die Erkenntnis, dass das demokratische Gemeinwesen ohne ein Mindestmaß an Kenntnis über seine Grundstrukturen und -inhalte nicht auskommt.
Mirbach (Fn. 2), S. 448 f. Oppermann, in Isensee / Kirchhof (Hrsg.), HdStR VI, § 135, Rn. 6; verdienstvolle Übersicht auch bei Görner, Berufliche Bildung, RdJB 1998, S. 3 ff.; Schermer, Zur Modernisierung der beruflichen Bildung – Die Entwicklung seit 1990, RdJB 2001, S. 437 ff.; zur Geschichte des dualen Ausbildungssystems E. Hoffmann, Zur Geschichte der Berufsausbildung in Deutschland 1962. 5 Oppermann (Fn. 4), § 135, Rn. 6; Deutscher Juristentag, Entwurf für ein Landesschulgesetz (1981), S. 75. 6 Oppermann (Fn. 4), § 135, Rn. 6; Deutscher Juristentag (Fn. 5), S. 75. 3 4
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– Besonders umstritten ist die dritte – m.E. aber ebenso legitime – „Säule“ des beruflichen Schulwesens, nämlich ein eigenständiger Erziehungsauftrag im Hinblick auf Ziele wie Selbständigkeit, Gleichberechtigung, Integrationsfähigkeit, Fähigkeit zur Konfliktaustragung, Gewaltfreiheit usw. Auf die Berechtigung, aber auch auf die Schranken dieses Auftrags wird zurückzukommen sein7. – Als Querschnittsthema und zugleich Bildungsziel steht die Befähigung zu lebenslangem Lernen und damit die Verbindung von beruflicher Bildung und beruflicher Fortbildung mehr und mehr im Mittelpunkt8.
Vermerkt sei aber schon an dieser Stelle, dass der Auftrag des beruflichen Schulwesens zur Allgemeinbildung und der eigenständige Erziehungsauftrag in Frage gestellt werden9. Die Differenziertheit der Fragestellung zeigt, dass es nicht um die Vereinbarkeit „der“ Berufsausbildung mit „der“ Verfassung gehen kann. Die verfassungsrechtlichen Rahmenbedingungen müssen vielmehr zu ganz konkreten verfassungsrechtlichen Fragestellungen „kleingearbeitet“ werden. Solche konkreten Fragen stellen sich vor allem im Hinblick auf die Gesetzgebungskompetenz (II). Zu prüfen ist sodann, ob sich aus dem Grundsatz der Subsidiarität ein Vorrang privater Ausbildungsträger ergibt (III) und ob existierende staatliche Berufsausbildung bestimmte Berufsfelder in verfassungsrechtlich bedenklicher Weise festlegt (IV). Erst danach kann die Frage der Berufsschulpflicht erneut gestellt und beantwortet werden (V), wobei im Hinblick auf nicht volljährige und volljährige Schüler zu differenzieren sein wird. Ausgeklammert werden die europarechtlichen Probleme10. Nicht zum eigentlichen Thema gehört die Berufs7 Allgemein zum Elternrecht (Art. 6 Abs. 2 GG) und diesem gleichgeordneten staatlichen Erziehungsauftrag BVerfGE 34, 165 (182 f.); 47, 46 (71 ff.); 96, 288 (304); 98, 218 (244); Evers, Die Befugnis des Staats zur Festlegung von Erziehungszielen in der pluralistischen Gesellschaft 1979; Häberle, Erziehungsziele und Orientierungswerte im Verfassungsstaat 1981; Avenarius / Heckel, Schulrechtskunde (7. Aufl. 2000), S. 61 ff.; Oppermann (Fn. 4), § 135, Rn. 9; Deutscher Juristentag (Fn. 5), §§ 2 bis 6; zu den Besonderheiten des Berufsschulwesens Marwede, Entwicklungen in der Berufsschule – Partner oder Störfaktor, RdJB 1998, S. 91 ff. 8 Dazu nachdrücklich Sauter, Der Beitrag der beruflichen Bildung zu einem neuen Leitbild für das Bildungssystem, RdJB 2002, S. 261; V. Lange, Die rechtlichen Rahmenbedingungen für die Realisierung des lebenslangen Lernens in der beruflichen Bildung, RdJB 2002, S. 273. 9 Mirbach (Fn. 2), S. 441 f.; grundsätzlich noch Bärmeier, Über die Legitimität staatlichen Handelns unter dem Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland. Die Unvereinbarkeit staatlichen Schulehaltens mit den Verfassungsprinzipien der „Staatsfreiheit“ und der „Verhältnismäßigkeit“ (1992), S. 141 ff.; erinnert sei auch an die grundsätzliche Infragestellung des staatlichen Erziehungsauftrags bei Ossenbühl, Schule im Rechtsstaat, DÖV 1977, S. 801, 808, die aber seinerzeit wohl eher auf bestimmte emanzipatorische und kritische Ziele gemünzt war. 10 Dazu Schweitzer, Der europarechtliche Rahmen, Arbeitskreis 6.3: „Staatliches BerufeMonopol oder Berufs-Freiheit?“, 4. Fachkongress des Bundesinstituts für Berufsbildung (BIBB 2002).
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fachschule als berufliche Vollzeitschule 11. Im Mittelpunkt der folgenden Ausführung steht also die „klassische“ Berufsausbildung im Sinne von § 1 Abs. 1 BBiG.
II. Zur Gesetzgebungskompetenz Im Bereich der Berufsbildung überschneiden sich traditionell die Regelungskreise „Kultur“ und „Wirtschaft“. Ebenso traditionell reklamiert der Bund die konkurrierende Gesetzgebungszuständigkeit unter dem Stichwort „Recht der Wirtschaft“ (Art. 74 Nr. 11 GG) für sich. Daneben aber gibt es rein schulische Aspekte, für die die Länder mit ihren eigenen Berufsbildungs- bzw. Berufsschulgesetzen verantwortlich sind12. Die bildungsrechtlichen Aspekte werden bei der genannten Argumentation zum Annex des Regelungsbereichs „Wirtschaft“, was natürlich nicht unproblematisch ist. Neue Bedenken ergaben sich zunächst unter dem Aspekt der seit 1994 geltenden „neuen Fassung“ des Art. 72 Abs. 2 GG. So schien es zumal nach Erlass dieser Norm keinesfalls ausgemacht, dass das Berufsbildungswesen bundeseinheitlich geregelt werden müsse, weil und soweit für die „Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse im Bundesgebiet oder die Wahrung der Rechts- oder Wirtschaftseinheit im gesamtstaatlichen Interesse eine bundesgesetzliche Regelung erforderlich“ sei. Warum dies bei der Berufsbildung mehr der Fall sein soll als in den Bereichen Schule und Universität, scheint weiterhin zumindest begründungsbedürftig13. Allerdings hat das BVerfG soeben verhindert, dass gerade die Berufsbildung zum Testfall für größere Gesetzgebungskompetenzen der Länder nach der Neufassung des Art. 72 Abs. 2 GG wird. Im Altenpflegeurteil vom 24. 10. 200214 hat das Gericht zwar einerseits die Länderkompetenzen im allgemeinen erheblich gestärkt, in dem es – wie vom Verfassungsgeber beabsichtigt – die unbestimmten Rechtsbegriffe in Art. 72 Abs. 2 GG für justiziabel erklärt und dem Bund einen eigenständigen Beurteilungsspielraum ausdrücklich versagt hat15. Mit begrüßenswerter Deutlichkeit hat das Gericht ferner betont, dass gleichwertige Lebensverhältnisse nicht einheitliche Lebensverhältnisse sein müssen und dass eine konkrete Bedrohung der Einheitlichkeit bestehen muss, um eine bundeseinheitliche Regelung zu rechtfertigen. Das gilt grundsätzlich auch für die Bildungsabschlüsse. Sind diese gleichwertig, dann müssen sie nicht gleichartig sein; es gilt vielmehr das Prinzip gegenseitiger Anerkennung. Betont wurde ferner die eigenständige Kompetenz der Länder zur Regelung des Bereichs Wirtschaft. Unterschiedliche Dazu Schermer (Fn. 4), S. 439. Übersicht bei Mirbach (Fn. 2), S. 436; umfassend informierend jetzt auch Behmenburg, Kompetenzverteilung bei der Berufsausbildung 2003, S. 128 ff. 13 Für mehr Zentralismus Müller, Die Gesetzgebungskompetenz im Berufsbildungsrecht, RdJB 1994, S. 467 ff., 486. 14 BVerfG, NJW 2003, S. 41. 15 BVerfG, NJW 2003, S. 41, 51. 11 12
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Regelungen sind hier wie in anderen Bereichen gerade Korrelat der Bundesstaatlichkeit. Andererseits aber bestätigt das Gericht ausdrücklich die fortbestehende Regelungskompetenz des Bundes im Bereich der Altenpflegeausbildung. Gerade weil es hier um einen besonderen Sektor der Berufsausbildung geht, lassen diese Ausführungen aufhorchen; sie lassen sich auch generalisieren: So weist das Gericht aus der Entstehungsgeschichte des Art. 72 Abs. 2 n.F. GG nach, dass gerade die Einheit der Berufsbildung nicht in Frage gestellt werden sollte16, dass die Einheitlichkeit der beruflichen Ausbildung und die damit einhergehenden gleichen Zugangsmöglichkeiten weiterhin für die Bundeskompetenz sprechen, und dass eine Rechtszersplitterung gerade in diesem Bereich „im Interesse der Bürger“ nicht hingenommen werden sollte. Trotz des zuvor entwickelten massiven verfassungsrechtlichen Prüfungsrahmens lässt das BVerfG die Altenpflegeausbildung im allgemeinen als durch die Bundeskompetenz gedeckt passieren und verneint diese Kompetenz nur im Hinblick auf den (offenbar durch das Gericht selbst zu den aussterbenden Berufen gerechneten) Beruf des Altenpflegehelfers. Insgesamt ist daher kaum davon auszugehen, dass das BVerfG Bedenken im Hinblick auf die Bundeskompetenz der Berufsausbildung im allgemeinen teilen wird, wenn es die Bundeskompetenz für die Altenpflegeausbildung bejaht. Im übrigen ist daran zu erinnern, dass Art. 125a GG ein „Verfassungswidrigwerden“ des Berufsbildungsgesetzes des Bundes verhindern würde und dass sich dieses Gesetz ohnehin verfassungskonform sehr stark auf die wirtschaftsbezogenen Aspekte der Berufsbildung bezieht17.
III. Subsidiarität als Privatisierungsgebot? Verfassungsrechtliche Prüfungsmaßstäbe Das Grundgesetz enthält zwar konkrete Gewährleistungen, die den Vorrang privater vor öffentlicher Aufgabenerfüllung und den Vorrang dezentraler vor zentraler Entscheidungsbildung betonen (Art. 2 Abs. 1; Art. 6 Abs. 2; Art. 9 Abs. 3; Art. 12 – Art. 30, 70, 83 sowie Art. 28 Abs. 2 GG). So betont das Grundgesetz den Vorrang privater Lebensgestaltung in den Bereichen Kunst und Religion, Wissenschaft, Familie, Vereinswesen, Tarifautonomie, Beruf, Markt und Wettbewerb18. Dagegen ist es sehr fraglich, ob – abgesehen von den genannten konkreten Normen – dem Grundgesetz ein allgemeines Prinzip der Subsidiarität zu entnehmen ist, das z. B. ein Zurücktreten des staatlichen Bildungsauftrags gegenüber privater BVerfG, NJW 2003, S. 41, 53. Zum Fortgelten des alten Rechts auch Müller (Fn. 13), S. 470. 18 Zu den Grundlagen Isensee, Subsidiaritätsprinzip und Verfassungsrecht, 2. Aufl. 2001; ders., in: Isensee / Kirchhof HdStR V, § 115, Rn. 190; Sodan, Freie Berufe als Leistungserbringer im Recht der gesetzlichen Krankenversicherung (1997), S. 307 ff. 16 17
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Gestaltung im Bereich der Berufsbildung fordern würde. Anders als bei Kunst, Religion und Familie geht das Grundgesetz nämlich gerade in den Bereichen Bildung und Erziehung nicht von einem generellen Vorrang privater vor öffentlicher Gestaltung aus. Dagegen spricht bereits Art. 7 GG, der unstreitig auch die Berufsbildung miterfasst, denn Berufsschule ist „Schule“ im Sinne dieser Norm19. Kommt es zu Konflikten zwischen staatlicher und privater Bestimmung, dann sind diese konkret an Hand von Art. 12 GG ggf. auch Art. 6 GG „abzuarbeiten“. Beide Normen verlangen aber keine grundsätzliche Enthaltsamkeit des Staates in Sachen Berufsbildung. Anderes ergibt sich auch nicht aus der in weiten Bereichen bisheriger Staatsaufgaben feststellbaren Privatisierung. Diese mag ein verfassungs- und bildungspolitischer Trend sein, der den Schutzbereich einzelner Grundrechte erweitert; er schlägt aber damit noch keinesfalls um in ein Verfassungsgebot zur Privatisierung. Im Gegenteil: Für den Schulbereich setzen Art. 7, Art. 20 (Legitimationsgebot) und auch Art. 33 Abs. 4 GG dort entscheidende Grenzen, wo es um die autoritative Zuteilung von Lebenschancen geht. Da die Schule Lebenschancen verwaltet und für den sozialen Ausgleich verantwortlich ist, greifen auch das Demokratieprinzip mit seinen Legitimationsforderungen, das Sozialstaatsprinzip und der Funktionsvorbehalt des Art. 33 Abs. 4 GG20. Zu fragen ist allerdings, ob sich aus der konkreten Norm des Art. 7 Abs. 4 GG („Privatschul“-freiheit) ein Gebot der Privatisierung ableiten lässt. Art. 7 Abs. 4 GG schützt die Gründungsfreiheit privater Schulen und den institutionellen Bestand und die Existenzfähigkeit der Schulen in privater Trägerschaft und damit auch der privaten Berufsschulen. Die durch die Genehmigungsvoraussetzungen der Art. 7 Abs. 4 S. 3 und 4 GG bestehenden Nachteile müssen sogar durch staatliche Leistungen kompensiert werden21. Das durch das BVerfG ausdrücklich hervorgehobene Gebot der Schulvielfalt22 gilt also auch für die Berufsausbildung in freier Trägerschaft. Der Staat darf also durch die Förderung eigener Einrichtungen, die Formulierung von durch freie Träger nicht erfüllbarer Anforderungen und durch „unangemessene Konkurrenz“ die Gründungsfreiheit und den Bestand privater Einrichtungen nicht gefährden. Auch aus Art. 7 Abs. 4 S. 4 GG ergibt sich dagegen kein allgemeines „Rückzugsgebot“ des Staates aus der Berufsausbildung. Im Gegenteil: Schulvielfalt bedeutet die gleichberechtigte Koexistenz privater und staatlicher Modelle, wobei es 19 Avenarius / Heckel (Fn. 7), S. 38; Gröschner, in: Dreier, GG, Art. 7, Rn. 28; Oppermann (Fn. 4), § 135, Rn. 2 und 23 ff. 20 Zu den Problemen der Privatisierung Avenarius, Berufliche Schulen als Kompetenzzentren regionaler Bildungsnetzwerke – Rechtliche Rahmenbedingungen, RdJB 2001, S. 470 ff. (473). 21 BVerfGE 75, 40 (62 ff.); 90, 107 (115). 22 BVerfGE 75, 40 (62 ff.); 90, 107 (115); dazu Jach, Schulverfassung und Bürgergesellschaft in Europa, 1998; LVerfG Mecklenburg-Vorpommern, DVBl. 2001, 1753.
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insbesondere dem Staat nicht verwehrt sein kann, gerade die im Privatsektor für nicht bedeutsam gehaltenen gemeinschaftsbezogenen Bildungsinhalte zu betonen. Primärer Prüfungsmaßstab für die Verfassungskonformität der Berufsausbildung sind also weder ein allgemeines Subsidiaritätsgebot der Verfassung noch Art. 7 Abs. 4 GG, sondern vor allem Art. 12 GG. Daneben kommen für Einzelfragen Art. 6 Abs. 2 GG, Art. 4 GG (z. B. im Hinblick auf religionsbedingte Besonderheiten muslimischer Schüler) und, soweit spezielle Grundrechte nicht anwendbar sind, auch Art. 2 Abs. 1 GG in Betracht. Die Berufsausbildung allgemein wird von der staatlichen Verantwortung für das „gesamte Schulwesen“ in Art. 7 GG erfasst und legitimiert. Die Verantwortung bezieht sich dabei auf die eingangs zitierten Erziehungsziele, kann aber – auch das ist wichtig – nicht allein Rechtsgrundlage für Eingriffe in die Berufsfreiheit oder andere Grundrechte sein. Die Rechtfertigung solcher Eingriffe richtet sich vielmehr nach dem jeweiligen Grundrecht und dessen Schranken. Verfassungsrechtlich gesehen geht es also nicht um ein „Erziehungsrecht des Staates“ oder dergleichen. Die mit der Berufsbildung verfolgten Ziele treten vielmehr ausschließlich als mögliche Rechtfertigungsgründe für staatliche Eingriffe auf den Plan.
IV. Unzulässige Fixierung der Berufsbilder durch staatliche Berufsausbildung? Im theoretischen, weniger im allgemeinbildenden Bereich spiegelt die staatliche Berufsausbildung bestimmte Berufsbilder ab, wie sie insbesondere in der Handwerksordnung und deren Anlagen, aber auch in anderen Gesetzen und praktischen Entwicklungen angelegt sind23. Dagegen schützt nach der Rechtsprechung des BVerfG24 die Berufsfreiheit nicht nur überkommene Berufsbilder, sondern auch die Freiheit zur Entwicklung, Wahl und Ausübung neuer Berufe. Der Schutzbereich „Beruf“ definiert und differenziert sich also immer wieder neu. Straffe Strukturen, Festhalten an überkommenden Berufsbildern und Fixierung von Prüfungs- und Berechtigungsgehalten können also durchaus in die Berufsfreiheit eingreifen. Auch kann es zu Gleichheitsverstößen kommen, wenn ungleich Gewordenes weiterhin gleich behandelt wird. Aus Art. 12 GG i.V. mit Art. 3 GG folgen daher ein Differenzierungsgebot und die Pflicht zur Anerkennung neuer Ausbildungsberufe, wenn sich diese faktisch herausgebildet haben. Insbesondere muss die „Nischenbildung“ im flexiblen Berufssystem erlaubt sein und sie darf auch nicht durch die Berufsausbildung be- oder gar verhindert werden25.
23 Zu den aktuellen Fragen s. etwa Czybulka, Die Entwicklung des Handwerksrechts 1995 bis 2001, NVwZ 2003, S. 164. 24 BVerfGE 7, 377 (397); 30, 292 (334). 25 Dazu Hufen, Berufsfreiheit – Erinnerung an ein Grundrecht, NJW 1994, S. 2913 (2916).
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Das heißt aber nicht, dass das staatliche Berufsbildungssystem sogleich jeder neuen Windung oder gar jeder aktuellen Modeerscheinung in der Berufswelt nachgehen muss. Wie in allen übrigen Bereichen darf der Staat vielmehr auch hier typisieren und Erscheinungsformen der Berufswelt zu bestimmten „Fächern“ zusammenfassen26. Auch ist zu beachten, dass sich die Berufsausbildung im Zeichen der Dienstleistungsgesellschaft und neuer Berufe ihrerseits zunehmend ausdifferenziert hat27. Berufsschulen verstehen sich vielfach heute nicht mehr als vereinheitlichende hoheitliche Bildungs„anstalten“ sondern als „Kompetenzzentren“28. Es ist also derzeit nicht feststellbar, dass über zu starre Strukturen der Berufsbildung eine unzulässige Prägung der Berufsbilder stattfindet. Fragen ergeben sich hier allenfalls „an der Quelle“, nämlich im Bereich der Handwerksordnung und anderer Berufsordnungen, die sich ihrerseits immer neuen Ausdifferenzierungen und beruflichen Entwicklungen gegenüber sehen, diese aber nicht immer mit der erforderlichen Flexibilität wiedergeben29.
V. Die Berufsschulpflicht und die Freistellungspflicht des Unternehmers Die mit der Berufsbildung befassten Einrichtungen sind Ausbildungsstätten im Sinne von Art. 12 GG. Die Auszubildenden sind also Träger des Grundrechts der freien Wahl der Ausbildungsstätte, die hier als Spezialnorm zur allgemeinen Berufsfreiheit fungiert. Zum Schutzbereich der Norm gehört grundsätzlich auch das Recht, keine Ausbildungsstätte zu wählen. Wird dieses Recht nicht in Art. 12 GG verortet, so folgt es doch aus der allgemeinen Handlungsfreiheit des Art. 2 Abs. 1 GG – letzteres gilt besonders für ausländische Jugendliche, die nicht Träger des Grundrechts aus Art. 12 GG sind. Aus Sicht der ausbildenden Betriebe tangiert die Berufsschulpflicht den Schutzbereich der Berufsfreiheit. Insbesondere die Freistellungspflicht des § 7 BBiG 26 Zuletzt etwa BVerfGE 82, 126 (151); 96, 17; 97, 103 (114 ff.); allgemein zur Berechtigung zur Setzung von Standards und zur Typisierung Weyreuther, Gleichbehandlung und Typisierung, DÖV 1997, S. 521. 27 Schermer (Fn. 4), S. 440; Woortman, Kursänderungen im Berufsbildungsgesetz, RdJB 1998, S. 11, 13. 28 Avenarius, RdJB 2001, S. 470. 29 Dazu Hufen (Fn. 25), S. 2913 ff.; Degenhart, Strukturwandel im Handwerk, Handwerksbegriff und Kammerzugehörigkeit, DVBl. 1996, S. 551; Depenheuer, Freiheit des Berufs und Grundfreiheiten der Arbeit, in: FS 50 Jahre BVerfG (2001) Bd. II, S. 241 ff. (251); Gelking, Deregulierung der freien Berufe. Kritische Analyse einer berufs- und standesrechtlichen Überregulierung freiberuflicher Dienstleistungen (1997); Czybulka, Die Handwerksnovelle 1998, NVwZ 2000, S. 136; Mirbach, Anfang vom Ende des Meisterzwangs?, NVwZ 2001, S. 161; aus europäischer Sicht bedeutsam EuGH, NVwZ 2001, S. 182 – keine Eintragungspflicht in Handwerksrolle für ausländische Dienstleister.
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stellt einen Eingriff dar, der allerdings nicht die Berufswahl, sondern die Berufsausübung betrifft. Daraus folgt: Die „obligatorische Leistung“ in Gestalt der Berufsschule ist nicht nur Begünstigung des Einzelnen und infrastrukturelle Wohltat. Die Berufsschulpflicht stellt vielmehr tatbestandsmäßig einen Eingriff in die Freiheit der Wahl der Ausbildungsstätte und die Berusausübung dar. Insofern ist sie eine „Ausbildungsstättenpflicht“ 30. Das gilt zunächst unabhängig vom Lebensalter, es gilt auch unabhängig davon, ob die Berufsschule ergänzend oder „anstatt“ der Berufsbildung besucht wird. Hinsichtlich minderjähriger Schüler kommt auch ein Eingriff in das Elternrecht (Art. 6 Abs. 2 GG) in Betracht, denn dieses umfasst neben der Schulartenwahl auch die freie Bestimmung darüber, ob der Minderjährige eine Schule besucht. Für die Eltern vermindert sich die Schwere des Eingriffs allerdings in dem Maße, in dem der junge Mensch in der Lage ist, eigenverantwortlich über seine Ausbildung zu entscheiden31. Nach Eintritt der Volljährigkeit spielt Art. 6 Abs. 2 GG keine Rolle mehr. Umgekehrt steigt die Intensität des Eingriffs beim Jugendlichen entsprechend32. Der grundsätzliche Eingriffscharakter der Schulpflicht heißt aber noch nicht, dass die „Ausbildungsstättenpflicht“ schon deshalb verfassungswidrig wäre. Eine solche Sichtweise würde nicht nur verkennen, dass es im Bereich der Schule nicht um die rein abwehrrechtliche Sicht der Grundrechte geht, sondern der Staat immerhin auch zu Gunsten des Einzelnen einen Bildungsauftrag erfüllt und die Voraussetzungen der freien Entfaltung seiner Persönlichkeit schafft. Diese Schutzpflicht und die objektive Bedeutung der Grundrechte sind also gleichfalls in Betracht zu ziehen. Die Schule ist nicht nur Eingriff, sondern auch sozial- und kulturstaatliche Leistung33. Eine weitere und grundlegende Unterscheidung besteht im Hinblick auf die „allgemeine Schulpflicht“, die in Art. 7 GG wurzelt, einerseits und im Hinblick auf die besonderen Schulpflichten, die Voraussetzung eines bestimmten Bildungszieles sind, andererseits. So kann nach Ende der „allgemeinen Berufsschulpflicht“ durchaus eine an das Ausbildungsziel geknüpfte besondere Schulpflicht bestehen. Sanktion ist dann nicht mehr die im allgemeinen öffentlichen Interesse folgende Durchsetzung, sondern allenfalls der Verlust einer bestimmten Berufsqualifikation. Unabhängig davon bedarf die Einführung der Schulpflicht als Grundrechtseingriff bzw. als wesentliche Voraussetzung beruflicher Freiheit einer gesetzlichen Ähnlich Mirbach (Fn. 2), S. 444 f.; Avenarius / Heckel (Fn. 7), S. 450, 461. Zur „abnehmenden“ Bedeutung des Elternrechts bei Annäherung an die Volljährigkeit s. etwa BVerfGE 59, 360 (382); Jarass / Pieroth, GG, 6. Aufl. 2002, Art. 6, Rn. 37. 32 Zur Geschichte der Berufsschulpflicht Oppermann (Fn. 4), § 135, Rn. 23; allgemein zum Eingriffscharakter der Schulpflicht auch Avenarius / Heckel (Fn. 7), S. 460 ff.; Gröschner, in: Dreier, GG, Art. 7, Rn. 24. 33 Konsequent enthält der Schulgesetzentwurf des Deutscher Juristentag (Fn. 5) in § 38 II einen „Anspruch auf Aufnahme“ in die Berufsschule. 30 31
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Grundlage34. Art. 7 GG reicht als Eingriffsgrundlage also nicht aus; ebenso schließt der Gesetzesvorbehalt eine verpflichtende Regelung der Berufsausbildung im Wege der berufsständischen Selbstverwaltung – also z. B. durch Handels- oder Handwerkskammern – aus. Schulpflichtgesetze müssen selbst verfassungskonform sein. Da es hier um „Schule“, jedenfalls nicht primär um „Wirtschaft“ geht, ist der Landesgesetzgeber zuständig. Inhaltlich bestimmt sich die Verfassungsmäßigkeit heute im wesentlichen nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, in dessen Prüfung Elemente der „Dreistufentheorie“ eingehen35. Als Teil der subjektiven Berufsqualifikation geht es um subjektive Berufszulassungsvoraussetzungen, nicht um objektive. Es kommt dabei auf die Qualifikation, nicht allein auf die „Beeinflussbarkeit“ durch den Einzelnen an36. Keine Bedenken bestehen im Hinblick auf die Rechtfertigung der Berufsschulpflicht durch wichtige Gemeinschaftsgüter. Hierhin zählen sowohl das Interesse der Gemeinschaft an qualifizierter fachlicher Ausbildung als auch an der Vermittlung einer fundierten Allgemeinbildung. Hinsichtlich des „Erziehungsauftrags“, also der „dritten Säule“ der Berufsausbildung ist allerdings zu differenzieren. Nicht nur „Privatsache“ ist der Bereich der fachlich – theoretischen Qualifikation. Hier ist das Interesse der Gemeinschaft an einer erstklassigen und gleichmäßigen Ausbildung auch verfassungsrechtlich von Gewicht. Der Staat darf davon ausgehen, dass bei der Vielfalt der Ausbildungsstätten erhebliche Unterschiede bestehen, die durch die Berufsschule zu kompensieren sind. Auch die Vermittlung einer fundierten Allgemeinbildung für alle Schüler einschließlich des Grundwissens über die Rechte und Pflichten des Bürgers im demokratischen Verfassungsstaat gehört zu den legitimen Gemeinwohlbelangen und wichtigen Gemeinschaftsgütern, die der Staat mit der Einführung der Berufsschulpflicht verfolgen darf37. Wenn es nach dem bekannten Satz Ernst-Wolfgang Böckenfördes richtig ist, dass der freiheitliche Rechtsstaat von Voraussetzungen lebt, die er nicht selbst garantieren kann, ohne seine Freiheitlichkeit in Frage zu stellen38, so ist es auch richtig, dass der Staat über die Berufsbildung Voraussetzungen beeinflusst (und in gewissem Umfang auch garantieren muß), von denen er lebt. Allgemeinbildung und Grundwissen über Rechte und Pflichten innerhalb des demokratischen Verfassungsstaates sind keine auf den Sekundarschulbereich be34 Übersicht über die Schulpflichtregeln der Länder bei Mirbach (Fn. 2), S. 450 ff.; vgl. auch Deutscher Juristentag (Fn. 5), § 38 III = S. 83. 35 BVerfGE 76, 196 (207); 94, 372 (389). 36 So aber Mirbach (Fn. 2), S. 444. 37 So auch Oppermann (Fn. 4), § 135, Rn. 24. 38 Böckenförde, Das Grundrecht der Gewissensfreiheit, hier zitiert n. ders., Staat, Gesellschaft, Freiheit 1976, S. 253 ff. (284).
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grenzte Bildungsinhalte. Sie gelten auch und gerade für diejenigen, die mit oder ohne Schulabschluss eine Berufsbildung durchlaufen oder ohne Berufsausbildung sogleich im Wirtschaftsleben stehen. Das gilt für ausländische Schüler und Angehörige anderer Kultur nicht weniger, sogar eher mehr als für den „Regelfall“: Der Staat kann die notwendige Integrationsleistung im Zeichen der sozialen und ethnischen Entwicklung nur erbringen, wenn die Schule für alle einen verpflichtenden und gleichen Sockel staatsbürgerlicher Bildung bereithält. Das gilt auch und erst recht für Minderjährige ohne Lehre. Der zitierte „Abschreckungseffekt“ gegenüber dem „ausbildungslosen Jobben“ ist daher völlig legitim, denn der Bildungsauftrag endet nicht mit dem Hauptschulniveau39. Im Hinblick auf Minderjährige ist auch die erzieherische Komponente verfassungsrechtlich nicht in Frage zu stellen. Sie tritt wie bei allen anderen Schülern auch gleichberechtigt neben die elterliche Erziehungskompetenz. Die Vermeidung oder jedenfalls Verminderung von Bildungs- und Erziehungsdefiziten gegenüber gleichaltrigen Gymnasiasten ist legitim. Das hat jedenfalls im Idealfall nichts mit „Verwahrung“ zu tun und es gilt unabhängig davon, ob die Jugendlichen wirklich eine Berufsausbildung absolvieren oder nur „jobben“, denn erziehen heißt nicht nur Berufsqualifikation sondern legitime Beeinflussung einer Person. Gerade deshalb ist der eigenständige Erziehungsauftrag für Volljährige allerdings fragwürdig. Das Menschenbild des Grundgesetzes geht davon aus, dass mit der Volljährigkeit die Basis für die Persönlichkeitsentfaltung gelegt ist. Erwachsene Menschen können gebildet, legitimerweise aber durch den Staat nicht mehr „erzogen“ werden. Das bedeutet, dass für Volljährige die Berufsschulpflicht nicht mehr aus der „allgemeinen“ Verpflichtung folgen, sondern nur noch an das Ausbildungsziel gekoppelt sein kann. Liegt ein solches nicht mehr vor oder ist es bereits erreicht, dann kann nur eine gesetzlich verankerte Freistellungspflicht helfen, die Verfassungsmäßigkeit einer Berufsschulpflicht zu sichern. Insgesamt bieten die eingangs zitierten „drei Säulen“ des Bildungsziels der Berufsausbildung also hinreichende wichtige Gemeinschaftsgüter zur Rechtfertigung der Schulpflicht. Diese ist auch grundsätzlich geeignet, die genannten Ziele zu erfüllen. Hier gilt es zunächst den gesetzgeberischen Einschätzungsspielraum zu berücksichtigen. Dieser ist derzeit jedenfalls nicht überschritten40. Mängel in der Praxis und Umgehungen der Schulpflicht stellen die Eignung erst dann in Frage, wenn sie „systemimmanent“ und durch Reformen nicht behebbar sind41. Auch die Bildung von Bezirken und die Aufteilung der Erfüllungsorte der Schulpflicht dürften in diesem Sinne geeignet sein, weil sie mit der schon geschilderten Diversifizierung der Berufe zu tun haben. Die Berufsschulpflicht ist zur Erreichung der genannten Gemeinwohlbelange auch erforderlich. Insbesondere stellt die Verlagerung und damit Privatisierung der theoretischen Ausbildung in die Betriebe kein 39 40 41
So aber Mirbach (Fn. 2), S. 438. Dazu allgemein BVerfGE 4, 7 (15); 30, 292 (317); 53, 135 (145); 90, 145 (173). Übersicht zu solchen Nachteilen bei Mirbach (Fn. 2), S. 446 f.
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„milderes Mittel“ dar. Das gilt selbst dann, wenn die fachlichen Kapazitäten – was offenbar nicht der Fall ist – im privaten Sektor vorhanden wären. Privatisierungsforderungen in diesem Bereich liegen zumeist als verengtes Bild der Berufsausbildung zu Grunde. Wäre Berufsausbildung nur Fachausbildung „für den Beruf im Beruf“ – also gewissermaßen „learning by doing“ – , dann hätten die Kritiker Recht und es bestünde kein Bedürfnis nach einer zusätzlichen staatlichen Berufsausbildung. Diese ist aber jedenfalls idealiter weit mehr als reine Fachausbildung, denn sie verfolgt ein integratives Konzept von Fachausbildung, Bildung und gemeinschaftsbezogener Erziehung und ist damit ein „Aliud“ gegenüber privater Fachausbildung. Auch die fachlich noch so herausragende Medizinausbildung im Rahmen eines Selbststudiums oder der elterlichen Privatklinik würde nicht das Medizinstudium als Zulassungsvoraussetzung ersetzen. Das Universitätsstudium ist berechtigterweise weiterhin Voraussetzung für zahlreiche Berufe. Nicht anders verhält es sich bei den Ausbildungsberufen von Wirtschaft und Handwerk. Auch hier ist die Schule mit ihrer integrativen und gemeinschaftsbildenden Komponente legitime Voraussetzung des Erwerbs bestimmter Qualifikationen. Die gewünschte Privatisierung kann also nicht durch „Entschulung“ der Berufsausbildung erreicht werden. Private Bildungseinrichtungen sind also nur dann ein angemessenes und damit bei der Verhältnismäßigkeit zu berücksichtigendes Mittel, wenn sie die fachlichen Ziele, die Bildungsziele und die Erziehungsziele gleichermaßen verwirklichen. Nur dann sind sie „Schule“ im Sinne von Art. 7 GG. Auch die vielfach gepriesenen „Turbo-Ausbildungen“ sind in der Regel nur im Hinblick auf die fachlichen Komponenten gleich gut oder sogar besser. Sie funktionieren in der Regel auch nur dort, wo die privaten Ausbildungsstätten ihre Schüler aussuchen können und die übrigen Ziele vernachlässigen. Verfassungsrechtlich möglich – und im Hinblick auf Art. 7 Abs. 4 GG und das Gebot der Schulvielfalt sogar erwünscht – ist allerdings ein hoher Anteil von Berufsschulen in freier Trägerschaft. Denkbar ist auch die Delegation einzelner Kompetenzen an Private, die dann aber besonders qualitätsgesichert agieren müssen. Nur für Volljährige ist eine staatliche Berufsschulpflicht im Hinblick auf Ziele der Allgemeinbildung und der Erziehung fragwürdig. Erziehungsziele müssen hier der beruflichen Ausbildung und damit der zu erwerbenden Qualifikation zugeordnet sein. Auch hierbei ist aber zu bedenken, dass Berufsausbildung nicht nur Fachausbildung ist und dass gerade die Erfordernisse „lebenslangen Lernens“ allgemeine Kompetenzen voraussetzen, die nur in einer schulischen Ausbildung neben der eigentlichen Fachausbildung zu sichern sind42. Auch darf die Berufsausbildung nicht mit der „Erwachsenenbildung“ verwechselt werden. Berufsausbildung hat vielmehr ein primäres Bildungs- nicht nur ein Fortbildungsziel. Auch die Oberstufe der Gymnasien ist nicht Erwachsenbildung, auch wenn die Schüler in der Oberstufe sehr häufig volljährig sind. Im übrigen kann es dem Staat und den Selbstverwal42 So im Ergebnis auch Höfling, Berufsschulpflicht für Erwachsene? – Eine verfassungsrechtliche Anfrage, NVwZ 1985, S. 550.
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tungskörperschaften der Wirtschaft und des Handwerks nicht verwehrt sein, die Teilnahme an der Berufsschule zur Voraussetzung des Berufsabschlusses und zum Element des beruflichen Berechtigungswesens zu machen. Hier sind sowohl die freiwillige Teilnahme als auch Teilnahmeverpflichtungen im Rahmen privater oder öffentlicher Ausbildungsverträge möglich.
VI. Ergebnis Insgesamt hat sich gezeigt, dass Angriffe auf das existierende Modell der dualen Berufsausbildung auch im Zeichen von Privatisierung und Subsidiarität wenig Rückhalt im konkreten Verfassungsrecht finden. Zweifel an der Gesetzgebungskompetenz des Bundes hat das BVerfG soeben auch unter Geltung des neuen Artikel 72 Abs. 2 GG ausdrücklich ausgeräumt. Inhaltliche Bedenken bestehen allenfalls im Hinblick auf den Erziehungsauftrag gegenüber Volljährigen. Eine überzogene staatliche Fixierung der Berufsbilder findet nicht durch die Berufsausbildung, sondern allenfalls durch die Berufsbilder der Handwerksordnung und vergleichbarer Berufsordnungen statt. Auch die Berufsschulpflicht ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Privatisierung darf hier nicht „Entschulung“, sondern allenfalls Schulvielfalt auch durch freie Träger bedeuten. Gleichwertigkeitsdefizite in der privaten Berufsbildung darf der Staat durch obligatorische Bildungsangebote ausgleichen. Allgemeinbildung und Gemeinschaftsqualifikation gehören zu den legitimen und ungeachtet aller Defizite im öffentlichen Bereich durch private Alternativen nicht zu leistenden Zielen. Verfassungsrechtlich geboten sind im Hinblick auf Art. 12 GG und Art. 3 GG Diversifizierung und Schulvielfalt. Wahlfreiheit kann und muss durch Berufsschulen in freier Trägerschaft gesichert werden. Im Ergebnis ist zum einen festzuhalten: Die öffentliche Berufsbildung in Deutschland mag sich vielen praktischen Sorgen und Problemen gegenübersehen. Verfassungsrechtliche Probleme hat sie zumindest derzeit eher nicht. Zum anderen: Berufsfreiheit wie alle Freiheiten der Verfassungen der Welt sind nicht voraussetzungslos. Berufsfreiheit steht staatlicher Berufsausbildung nicht entgegen. Sie setzt ein funktionierendes System staatlicher Berufsausbildung geradezu voraus. Diese wiederum hängt von der fruchtbaren Kooperation von Staat und Wirtschaft ab. Deshalb ist die eingangs zitierte gute Nachbarschaft von Wirtschaftsverwaltungsrecht und Bildungsrecht unter dem Dach des Verfassungsrechts so wichtig.
Nationales Verfassungsrecht mit Blick auf eine Europäische Verfassung Rechtsvergleichende Überlegungen unter besonderer Berücksichtigung des griechischen Verfassungsrechts Von Julia Iliopoulos-Strangas Vor zwanzig Jahren hatte ich beim Rigorosum vor meinem verehrten Doktorvater, Professor Dr. Peter Selmer, damals Mitglied des Prüfungsausschusses, das Thema „Rechtsfragen der Mitgliedschaft Griechenlands in einer Europäischen Politischen Union“1 behandelt. Die inzwischen eingetretenen Entwicklungen sowohl in Bezug auf das Recht der damaligen Europäischen Gemeinschaften als auch im griechischen Verfassungsrecht bewegten mich, das mit dem Jubilar damals über diesen Problemkreis angefangene wissenschaftliche Gespräch, und zwar rechtsvergleichend, fortzusetzen. I. Einführung Bereits in der Zeit bis zum gegenwärtigen Stadium der Integration ist in den meisten nationalen Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten der damaligen Europäischen Gemeinschaften, darunter auch in Griechenland, eine Reihe von verfassungsrechtlichen Fragen aufgeworfen worden, die die Beziehungen zwischen nationalem Verfassungsrecht und Gemeinschafts- bzw. Unionsrecht betreffen. Diese Fragen, die von Wissenschaft und Rechtsprechung nur zum Teil bewältigt wurden bzw. werden könnten, werden sich aller Voraussicht nach mit der Annahme einer europäischen Verfassung in mehreren, wenn nicht in allen Mitgliedstaaten verschärfen. Bei allen unterschiedlichen Betrachtungsweisen in den verschiedenen Mitgliedstaaten ist allerdings davon auszugehen, dass im Rahmen der Europäisierung zumindest die Begriffe „Souveränität“ und „Verfassung“ tiefgreifenden Änderungen ausgesetzt sind. Dennoch, wie man auch immer zu der Aussage stehen mag, „Ist es nicht unser altes Problem, dass wir die Gemeinschaftsentwicklung durch die Brille des nationalen Verfassungsrechts betrachten und uns dann wundern, dass wir in Schwierigkeiten geraten?“2, wird man als Verfassungsrechtler die 1 Eine bearbeitete Fassung dieses Vortrags wurde veröffentlicht mit dem Titel „Rechtsfragen der Mitgliedschaft Griechenlands in einer Europäischen politischen Union“, in: Europarecht (EuR), 1983, S. 199 ff. 2 So J.-Abr. Frowein, Die rechtliche Bedeutung des Verfassungsprinzips der parlamentarischen Demokratie für den europäischen Integrationsprozeß, EuR, 1983, S. 301.
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Europäische Konstruktion m.E. weiterhin auch durch die Brille des nationalen Verfassungsrechts betrachten sollen bzw. betrachten müssen, zumindest solange die traditionelle Verfassungsstaatlichkeit weiter besteht. Die nationalen Staatsorgane bleiben solange, und zwar primär, an ihre nationale Verfassung gebunden und die Staatsrechtslehrer sind gefordert, das Integrationsphänomen mit „verfassungsrechtlicher Würde“ zu bewältigen. Letztere Gedanken liegen den nachfolgenden Ausführungen zugrunde.
II. Die gegenwärtige verfassungsrechtliche Bewältigung des Integrationsprozesses 1. Die verfassungsrechtliche Grundlage für die Beziehungen der Mitgliedstaaten zu der Europäischen Gemeinschaft / Europäischen Union Das Verhältnis zwischen der nationalen Verfassungsordnung und der EG- / EUGrundordnung wurde aus nationaler Sicht in unterschiedlicher Weise geregelt. So gibt es unter den Mitgliedstaaten Verfassungen, die keine spezifische Regelung enthalten bzw. beim Abschluss der Gründungsverträge oder beim Beitritt zu diesen enthielten und diese Frage mit traditionellen Mitteln beantworten bzw. beantworteten, wie z. B. Verfassungsvorschriften, die die Beziehungen zwischen Völkerrecht bzw. Völkervertragsrecht und nationalem Recht regeln oder solchen, die die Mitgliedschaft des Staates in internationalen Organisationen im allgemeinen betreffen. Zu diesen Mitgliedstaaten zählen bzw. zählten z. B. Belgien (bis zur Revision von 1970), Finnland3 (bis zur Verabschiedung der Verfassung von 1999, mit der zum großen Teil die bis dahin geltenden Verfassungsgesetze in einem einheitlichen Text kodifiziert wurden), Italien4, Luxemburg (bis zur Verfassungsrevision von 1956) und zum Teil Frankreich5 (bis zur Verfassungsrevision von 1992). Andere Mitgliedstaaten enthielten in ihrer Verfassung bereits zur Zeit des Abschlusses der Gründungsverträge bzw. des Beitritts Regelungen, die in allgemeiner Weise die Möglichkeit von Souveränitätseinschränkungen (so etwa die noch heute 3 Vgl. Art. 33 der finnischen „Regierungsform“ (Verfassungsgesetz) i.V.m. Art. 69 des „Organgesetzes über das Parlament“ (ebenfalls Verfassungsgesetz). Letzterem Verfassungsgesetz wurde allerdings im Jahre 1994 ein neuer Titel 4a hinzugefügt, der die Kontrolle des Parlaments in Fragen der Europäischen Union regelt(e). Seit 1. März 2000 besitzt Finnland eine neue Verfassung : Das neue finnische Grundgesetz, hat im Großen und Ganzen die bis dahin geltenden, verschiedenen Grundgesetze inkorporiert, darunter die sog. „Regierungsform“ von 1919 und das Parlamentsgesetz von 1928. 4 Vgl. Art. 11 der italienischen Verfassung: „. . . . Unter der Bedingung der Gleichstellung mit den anderen Staaten stimmt es (Italien) Souveränitätseinschränkungen zu, die für eine Ordnung notwendig sind, welche den Frieden und die Gerechtigkeit unter den Nationen gewährleistet. Es (Italien) fördert und begünstigt internationale Organisationen, die diesem Zweck dienen“. 5 Vgl. Art. 52, 53, 54 und 5 über die völkerrechtlichen Verträge.
Nationales Verfassungsrecht und Europäische Verfassung
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geltende Präambel der französischen Verfassung von 19466) oder der Übertragung oder Beschränkung von Hoheitsrechten (so etwa Art. 20 der dänischen Verfassung7, Art. 24 des deutschen Grundgesetzes, Art. 92 der niederländischen Verfassung8, Art. 9 Abs. 2 des österreichischen Bundesverfassungsgesetzes [seit der Revision von 1981]9 und Kapitel 10 Art. 5 der schwedischen Verfassung10) vorsahen. Dennoch wurden diese Vorschriften in einigen Mitgliedstaaten nicht als ausreichende verfassungsrechtliche Grundlage für die Bewältigung der Mitgliedschaft in den Gemeinschaften und der Union angesehen. So hat Schweden durch die Verfassungsänderung von 1994, d. h. vor dem Beitritt (1. 1. 1995), die obenerwähnte Verfassungsvorschrift um einen neuen Absatz ergänzt, wonach der Reichstag Beschlussrechte auf die Europäischen Gemeinschaften übertragen kann, solange diese über einen Freiheits- und Rechtsschutz verfügen, der dem in dieser Verfassung und in der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten gegebenen entspricht. Andere Mitgliedstaaten haben im Hinblick auf den angestrebten Beitritt Vorschriften in ihre Verfassung aufgenommen, die als Grundlage dafür dienen könnten. So wurde durch die Verfassungsrevision von 1982 dem Artikel 8 der portugiesischen Verfassung ein neuer Absatz 3 hinzugefügt, wonach die Regelungen, die von den zuständigen Organen der internationalen Organisationen, in welchen Portugal Mitglied ist, aufgestellt werden, unmittelbar innerhalb Portugals gelten, sofern dies in den jeweiligen Verträgen ausdrücklich11 entsprechend geregelt ist. In Spanien wurde in die Verfassung von 1978, also ebenfalls vor dem Beitritt, Artikel 93 aufgenommen, wonach durch ein verfassungsausführendes Gesetz der Abschluss von Verträgen autorisiert werden kann, durch die einer internationalen Or6 Abs. 15 der Präambel lautet : „Unter dem Vorbehalt der Gegenseitigkeit stimmt Frankreich den zur Organisation und Verteidigung des Friedens notwendigen Einschränkungen seiner Souveränität zu“. 7 Art. 20 Abs. 1 der dänischen Verfassung sieht vor: „Befugnisse, die auf Grund dieser Verfassung den Organen des Königreichs zustehen, können durch Gesetz in näher bestimmtem Umfang solchen zwischenstaatlichen Einrichtungen übertragen werden, die durch gegenseitige Übereinkunft zwecks Förderung zwischenstaatlicher Rechtsordnung und Zusammenarbeit errichtet worden sind“. 8 Art. 92 der niederländischen Verfassung lautet: „Durch Vertrag oder kraft eines Vertrages können völkerrechtlichen Organisationen Gesetzgebungs-, Verwaltungs- und Rechtsprechungsbefugnisse übertragen werden, erforderlichenfalls unter Berücksichtigung von Artikel 91 Absatz 3“. 9 Art. 9 Abs. 2 des österreichischen Bundesverfassungsgesetzes sieht vor: „Durch Gesetz oder durch einen gemäß Art. 50 Abs. 1 zu genehmigenden Staatsvertrag können einzelne Hoheitsrechte des Bundes auf zwischenstaatliche Einrichtungen und ihre Organe übertragen und kann die Tätigkeit von Organen fremder Staaten im Inland sowie die Tätigkeit österreichischer Organe im Ausland im Rahmen des Völkerrechtes geregelt werden“. 10 Kapitel X Art. 5 der schwedischen Verfassung lautet: „Der Reichstag kann Beschlussrechte auf die Europäischen Gemeinschaften übertragen, solange . . .“. 11 Durch die Revision von 1989 wurde allerdings das Wort „ausdrücklich“ gestrichen, damit die unmittelbare Anwendung von Richtlinien nicht in Zweifel gezogen wird.
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ganisation oder Institution die Ausübung von aus der Verfassung abgeleiteten Kompetenzen übertragen wird. Aber auch unter den Gründungsstaaten gibt es einige, die nach der Gründung der Gemeinschaften durch Revision Vorschriften in die Verfassung aufgenommen haben, die mehr oder weniger auf die Gemeinschaften bzw. die Union Anwendung finden könnten. Dies ist der Fall für Belgien und Luxemburg. So hat in Luxemburg die Verfassungsrevision von 195612 die Möglichkeit der vorübergehenden Übertragung von Befugnissen, die von der Verfassung der gesetzgebenden, der vollziehenden und der rechtsprechenden Gewalt vorbehalten sind, an Institutionen des internationalen Rechts vorgesehen. In ähnlicher Weise wurde durch die Verfassungsrevision von 1970 eine neue, allgemeine Vorschrift in der belgischen Verfassung eingeführt, die die Möglichkeit der Übertragung der Ausübung bestimmter Gewalten an völkerrechtliche Einrichtungen durch einen Vertrag oder ein Gesetz vorsieht13. Schließlich haben viele Mitgliedstaaten, vor oder nach der Ratifikation der Änderungsverträge, auf die Erfordernisse der verschiedenen Integrationsstufen mit Verfassungsrevisionen reagiert, die zum großen Teil speziell auf die neuen Vertragsregelungen der Europäischen Integration zugeschnitten waren. Darauf wird später zurückzukommen sein. Was speziell Griechenland angeht, so hatte schon in der Zeit vor dem Beitritt Griechenlands zu den Europäischen Gemeinschaften (1981) der griechische Verfassunggeber dem politischen Willen des Landes, Mitglied der Gemeinschaften zu werden, und den verfassungsrechtlichen Schwierigkeiten einiger Mitgliedstaaten hinsichtlich der Übertragung von Zuständigkeiten an Organe und Institutionen der Gemeinschaften Rechnung getragen. In der Tat wurden in die nach der Militärdiktatur (1967 – 1974) beschlossene und heute noch geltende Verfassung von 1975 Vorschriften aufgenommen, die als sedes materiae für den späteren Beitritt gelten sollten. Es handelt sich insbesondere um die in Artikel 28 der Verfassung normierten Regelungen, die die Möglichkeit der Zuerkennung von verfassungsgemäßen Zuständigkeiten an Organe internationaler Organisationen (Art. 28 Abs. 2) und der Einschränkung der Ausübung der nationalen Souveränität (Art. 28 Abs. 3) vorsehen. Im Einzelnen heißt es in Artikel 28 Abs. 2 und 3 : „2. Um wichtigen nationalen Interessen zu dienen und um die Zusammenarbeit mit anderen Staaten zu fördern, ist durch Verträge oder Abkommen die Zuerkennung von verfassungsgemäßen Zuständigkeiten an Organe internationaler Organisationen zulässig. Zur Verabschiedung von Ratifikationsgesetzen für solche Verträge oder Abkommen ist eine Mehrheit von drei Fünfteln der Gesamtzahl der Abgeordneten erforderlich. “ 12 Art. 49bis der luxemburgischen Verfassung lautet: „Die Ausübung von Befugnissen, die von der Verfassung der gesetzgebenden, der vollziehenden und der rechtsprechenden Gewalt vorbehalten sind, kann durch Vertrag vorübergehend Institutionen des internationalen Rechts übertragen werden“. 13 Art. 25bis, heutiger Art. 34, der belgischen Verfassung sieht vor: „Die Ausübung bestimmter Gewalten kann völkerrechtlichen Einrichtungen durch einen Vertrag oder ein Gesetz übertragen werden“.
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„3. Griechenland stimmt freiwillig durch ein Gesetz, das der absoluten Mehrheit der Gesamtzahl der Abgeordneten bedarf, einer Einschränkung der Ausübung seiner nationalen Souveränität zu, wenn dies ein wichtiges nationales Interesse erfordert, die Menschenrechte und die Grundlagen der demokratischen Staatsordnung nicht berührt werden und wenn es in Gleichberechtigung und Gegenseitigkeit erfolgt.“
Durch die Revision von 2001 wurde dem Artikel 28 eine sogenannte „Erklärung zur Interpretation“14 hinzugefügt, auf die später zurückzukommen sein wird. Dort heißt es nämlich : „Artikel 28 bildet die Grundlage für die Beteiligung des Landes an den Verfahren der europäischen Vollendung“.
Die Verfassung von 1975 hat außerdem die Beziehungen zwischen nationalem Recht und Völkerrecht ausdrücklich geregelt. Artikel 28 Abs. 1 Verf. lautet : „Die allgemein anerkannten Regeln des Völkerrechts sowie die internationalen Verträge nach ihrer gesetzlichen Ratifikation und ihrer in ihnen geregelten Inkraftsetzung sind Bestandteil des inneren griechischen Rechtes und gehen jeder entgegenstehenden Gesetzesbestimmung vor. Die Anwendung der Regeln des Völkerrechts und der internationalen Verträge gegenüber Ausländern erfolgt stets unter der Bedingung der Gegenseitigkeit“.
Schließlich bestimmt Artikel 2 Absatz 2 Satz 2 : „Griechenland ist bestrebt, unter Beachtung der allgemein anerkannten Regeln des Völkerrechts, den Frieden, die Gerechtigkeit und die Entwicklung freundschaftlicher Beziehungen zwischen den Völkern und Staaten zu fördern“.
2. Das gegenwärtige Verhältnis von nationalem Verfassungsrecht und Gemeinschafts- bzw. Unionsrecht Der Abschluss und die Ratifikation sowohl der Gründungs- als auch der Änderungsverträge der Europäischen Gemeinschaft(en) und der Europäischen Union haben bekanntlich in den meisten Mitgliedstaaten nicht nur lebhafte wissenschaftliche Diskussionen, sondern auch Stellungnahmen von Verfassungsgerichten15 zur Frage der Vereinbarkeit von gemeinschaftsrechtlichen Regelungen mit dem nationalen Verfassungsrecht hervorgerufen. Darüber hinaus wurden in einigen Mitgliedstaaten in den verschiedenen Integrationsstufen, und zwar anlässlich der Änderungsverträge, Verfassungsänderungen veranlasst16. Griechenland hat sowohl den 14 Die „Erklärungen zur Interpretation“ (oder „auslegenden Erklärungen“) stellen eine Besonderheit des griechischen Verfassungsrechts dar. Es handelt sich hierbei um in aller Regel gleichzeitig mit den übrigen Verfassungsbestimmungen verabschiedete Verfassungsnormen, welche einige Verfassungsbestimmungen authentisch interpretieren bzw. ergänzen und in der Normenhierarchie denselben erhöhten Rang wie letztere besitzen. Näheres dazu bei J. Iliopoulos-Strangas, Grundrechtsschutz in Griechenland, JöR, 1983, S. 395 ff. (402). 15 So bekanntlich das deutsche Bundesverfassungsgericht und die italienische Corte Costituzionale. Ausführlich zu dieser Frage T. de Berranger, Constitutions nationales et construction communautaire, 1995, S. 124 ff.
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Vertrag von Maastricht als auch den Vertrag von Amsterdam – wie auch den von Nizza – ohne Verfassungsänderung „überstanden“, obwohl einige der neuen Regelungen dieser Verträge aus griechischer verfassungsrechtlicher Sicht zumindest als problematisch angesehen werden könnten. Im Einzelnen :
a) „Konfliktsituationen“ bis zum Vertrag über die Europäische Union aa) „Konfliktsituationen“ zwischen nationalem Verfassungsrecht und Gemeinschaftsrecht hat es bereits vor dem in das Verfassungsrecht der meisten Mitgliedstaaten tief eingreifenden Vertrag zur Gründung der Europäischen Union gegeben. Die Gründung der Europäischen Gemeinschaften bzw. der Beitritt zu diesen haben von Anfang an in den meisten Mitgliedstaaten die Vereinbarkeit des Gemeinschaftsrechts mit deren Verfassung in Frage gestellt17. Zu den sogenannten allgemeinen Schwierigkeiten aus verfassungsrechtlicher Sicht zählen etwa die Verletzung der Staatssouveränität oder die Eingriffe in die interne Organisation des Staates. Letztere treten in verschiedenen Erscheinungsformen auf. Um nur einige Beispiele zu nennen: Verletzung der staatlichen Unabhängigkeit einiger Organe (so etwa der Judikative oder der nationalen Zentralbank), Verletzung der Bundesstaatlichkeit oder der regionalen Struktur des Staates, Beeinträchtigung der kommunalen Autonomie oder auch Eingriffe in die Beziehungen zwischen Parlament und Regierung. Die meisten dieser „Konfliktsituationen“ betreffen auch die griechische Verfassungsordnung18. Über diese allgemein bestehenden Berührungspunkte hinaus, ergaben sich in einigen Mitgliedstaaten zusätzliche Schwierigkeiten, die mit Besonderheiten ihrer Verfassung zusammenhängen. So sind in einigen Verfassungen Bestimmungen, und zwar insbesondere auf dem Gebiet des materiellen Verfassungsrechts, enthalten, die als solche dem Gemeinschaftsrecht widersprechen könnten. Als typisches Beispiel sei auf den in einer Reihe von nationalen Verfassungen, darunter auch die Verfassung Griechenlands19, garantierten Zugang zu den öffentlichen Ämtern bzw. 16 Zur Anpassung der Mitgliedstaaten an die Erfordernisse ihrer Mitwirkung an der europäischen Konstruktion vgl. F. Hoffmeister, Europäisches Verfassungsrecht nach Amsterdam, EuR, 1999, S. 280 ff. Allgemeiner zum Verhältnis des Gemeinschaftsrechts zum Recht der Mitgliedstaaten s. etwa Th.Oppermann, Europarecht, 2. Aufl., 1999, S. 228 ff. 17 Ausführlich dazu M.Fromont, Nationales Verfassungsrecht mit Blick auf die europäische Integration in J.Schwarze (Hrsg.), Ergebnisse und Perspektiven, 17. F.I.D.E. Kongress, Berlin, 1996, S. 29 – 59. 18 Ausführlich dazu J.Iliopoulos-Strangas, Grèce, (auf französisch), in, 17. F.I.D.E. Kongress, I. Nationales Verfassungsrecht mit Blick auf die europäische Integration, Berlin, 1996, S. 120 – 205. 19 Art. 4 Abs. 4 der griechischen Verfassung lautet: „Nur griechische Staatsbürger sind zu allen öffentlichen Ämtern zugelassen vorbehaltlich der in speziellen Gesetzen geregelten Ausnahmen“.
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zum Beamtentum nur für eigene Staatsbürger verwiesen. Entsprechende Regelungen sind etwa auch in der Verfassung von Dänemark (Art. 27), Frankreich (Art. 6 der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789), den Niederlanden (Art. 3) und Portugal (Art. 47 Nr. 2 und 50 Nr. 1) enthalten. Auch die luxemburgische Verfassung, die eine solche Regelung enthielt, hat durch die Revision von 1999 die diesbezügliche Vorschrift den Erfordernissen des Gemeinschaftsrechts angepasst20. Hervorzuheben ist, dass die griechische Verfassung die diesbezügliche Vorschrift (Art. 4 Abs. 4) zu denjenigen Verfassungsbestimmungen zählt, die von einer Verfassungsänderung ausgeschlossen sind21. Außerdem sieht die griechische Verfassung zwei Regelungen vor, die ebenfalls zu Konflikten hinsichtlich der ungehinderten Anwendung des Gemeinschaftsrechts in Griechenland führen könnten. Es handelt sich hierbei einerseits um die Verfassungsvorschrift, die die Rückwirkung von Steuergesetzen nur für ein Jahr zulässt22 und andererseits um das verfassungsrechtliche Verbot der Errichtung von Hochschulen durch Private23. Bekanntlich stellt die Rückwirkungsjudikatur des EuGH auf Vertrauensschutzerwägungen und die Erforderlichkeit einer Rückwirkung und nicht auf eine absolute zeitliche Einschränkung der Rückwirkung ab24. Außerdem führt das verfassungsrechtliche Verbot der Errichtung von Hochschulen durch Private über den Weg der Anerkennung der in anderen Mitgliedstaaten erworbenen Hochschuldiplome zu gemeinschaftsrechtlich bedenklichen Hindernissen des freien Dienstleistungsverkehrs, dies wohl auch unter Zugrundelegung des Umstandes, dass die Bildung weiterhin zu den Zuständigkeiten der Mitgliedstaaten zählt. Solche und ähnliche Schwierigkeiten anderer nationaler Verfassungen konnten die Mitgliedstaaten dennoch auf die eine oder andere Weise bis zum Vertrag über die Europäische Union (Vertrag von Maastricht) bewältigen: sei es durch Anerkennung des Vorranges des Gemeinschaftsrechts, sei es durch gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung der Verfassung. Wie noch zu zeigen sein wird, wird letzterer Weg von der herrschenden Meinung in der griechischen Rechtsprechung und Lehre am meisten bevorzugt. So konnte Griechenland mit dem oben dargestellten, vor seinem Beitritt zu den Europäischen Gemeinschaften bereits vorhandenen verfassungsrechtlichen Instrumentarium bis zum Vertrag über die Europäische Union seine Beziehungen zur 20 In Art. 10 Abs. 4 der luxemburgischen Verfassung heißt es nunmehr: „Sie (Die Luxemburger) haben Zugang zu allen zivilen und militärischen öffentlichen Ämtern; den Zugang von Nicht-Luxemburgern zu diesen Ämtern regelt das Gesetz“. 21 Vgl. Art. 110 Abs. 1 Verf. 22 Art. 78 Abs. 2 der griechischen Verfassung lautet: „Steuern oder andere Finanzlasten jeder Art dürfen nicht durch ein Gesetz auferlegt werden, das über das der Auferlegung der Steuern vorangehende Rechnungsjahr hinaus zurückwirkt“. 23 Art. 16 Abs. 3 Satz 2 der griechischen Verfassung lautet: „Die Errichtung von Hochschulen durch Private ist verboten“. 24 Dazu J. Iliopoulos-Strangas, Rückwirkung und Sofortwirkung von Gesetzen (Diss.), Baden-Baden, 1986, S. 272 f. m. w. N.
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Gemeinschaftsordnung bzw. die oben erwähnten „Konfliktsituationen“ relativ leicht bewältigen. Dazu hat sicherlich der Umstand beigetragen, dass die Mitgliedschaft Griechenlands in den Gemeinschaften von der überwältigenden Mehrheit des Volkes politisch nie in Zweifel gezogen war. bb) Allerdings ist darauf hinzuweisen, dass im Gegensatz zu anderen Mitgliedstaaten, die die Vorrangfrage unmittelbar oder mittelbar entweder in der Verfassung selbst geregelt (so etwa Irland25 oder auch in einer anderen, allgemein das Völkerrecht betreffenden, Weise die Niederlande26) oder in ihrer Rechtsprechung geklärt haben, die Vorrangfrage bzw. ihre Begründung in der griechischen Verfassungsordnung noch ein offenes Diskussionsthema bleibt. Dennoch haben Rechtsprechung und Lehre verschiedene Lösungswege beschritten, die ein harmonisches Nebeneinander von Gemeinschaftsrecht und griechischer Verfassung ermöglicht haben27. Im Einzelnen: Für die griechische höchstrichterliche Rechtsprechung28 bleibt zwar bis heute die Vorrangfrage offen, dennoch findet das Gemeinschaftsrecht in aller Regel volle Anwendung. In der Tat weigern sich die höchsten Gerichte, den Vorrang des Gemeinschaftsrechts gegenüber der Verfassung explizit auszusprechen. So ist etwa das Plenum des griechischen Staatsrates (höchstes Verwaltungsgericht) den diesbezüglichen zwei Versuchen der Vierten Kammer des Gerichts entgegengetreten. Im ersten Fall hat nämlich das Plenum entschieden, dass kein Verstoß gegen Gemeinschaftsrecht vorliege, und im zweiten Fall hat das Gericht die fragliche Maßnahme als außerhalb des Anwendungsbereichs des Gemeinschaftsrechts liegend betrachtet29. Ebenso ist aber auch, auf der anderen Seite, das Plenum dem Versuch der Sechsten Kammer entgegengetreten, einen Vorrang der Verfassung gegenüber dem Gemeinschaftsrecht anzuerkennen. Auch in diesem Fall hat sich das Plenum hin25 Art. 29 Abs. 4 der irischen Verfassung sieht vor: „Keine Bestimmung dieser Verfassung macht staatliche Gesetze, Handlungen oder Maßnahmen ungültig, die in Erfüllung der Mitgliedschaftspflichten der Europäischen Union oder der Europäischen Gemeinschaften notwendig sind, oder hindert Gesetze, Handlungen oder Maßnahmen, die von der Europäischen Union oder den Europäischen Gemeinschaften oder deren Institutionen oder von Körperschaften, die nach den Gemeinschaftsverträgen eingerichtet werden, erlassen oder vorgenommen werden, daran, im Staate Rechtskraft zu erlangen“. 26 Art. 94 der niederländischen Verfassung bestimmt: „Innerhalb des Königreichs geltende gesetzliche Vorschriften werden nicht angewandt, wenn die Anwendung mit allgemeinverbindlichen Bestimmungen von Verträgen und Beschlüssen völkerrechtlicher Organisationen nicht vereinbar ist“. 27 Ausführlich dazu Julia Iliopoulos-Strangas / Eugénie Prevedourou, Le droit de lÚnion européenne et les Constitutions nationales: Rapport hellénique, F.I.D.E. XX. Congress, London 2002, (veröffentlicht in ), S. 52 ff., 56 f. 28 Einige Instanzgerichte hingegen haben nicht gezögert dem Gemeinschaftsrecht einen Vorrang auch gegenüber der Verfassung explizit anzuerkennen. Näheres dazu bei J. Iliopoulos-Strangas / G. Leventis, Grèce, in J. Iliopoulos-Strangas (éd.), La protection des droits sociaux fondamentaux dans les Etats membres de lÚnion européenne – Étude de droit comparé, Athènes – Bruxelles – Baden-Baden, 2000, S. 395 – 486 (408 ff.). 29 S. die Urteile des Staatsrates 1545 / 1995 und 4674 / 1998.
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sichtlich der Vorrangfrage nicht geäußert. Interessant ist allerdings zu bemerken, dass sich der Staatsrat im letzteren Fall auch geweigert hat, dem EuGH eine Vorlagefrage zu stellen, obwohl sich eine nicht unbedeutsame Mehrheit seiner Mitglieder im Plenum (11 von insgesamt 27 Richtern) für eine Vorlage geäußert hatte30. Im griechischen Schrifttum besteht Einigkeit darüber, dass die Eventualität von Konfliktsituationen zwischen Gemeinschaftsrecht und griechischer Verfassung eher selten wenn nicht marginal ist. Insbesondere das europarechtliche Schrifttum spricht sich naturgemäß auch in Griechenland, und zwar meistens mit derselben Argumentation wie der EuGH, für den uneingeschränkten Vorrang des Gemeinschaftsrechts auch gegenüber der Verfassung aus. Demgegenüber bemüht sich das staatsrechtliche Schrifttum, Lösungen in der Verfassung selbst zu finden, die allerdings meistens auf eine gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung der Verfassung hinauslaufen. So werden etwa die einschlägigen Vorschriften des Art. 28 Abs. 2 und 3 Verf. als Klausel einer quasi stillschweigenden Revision angesehen31 oder es wird ihnen eine (neue) Funktion zuerkannt, die sogenannte „Integrationsfunktion“32. Gelegentlich aber wurde insbesondere von einem Teil des älteren Schrifttums der Vorrang der Verfassung gegenüber dem Gemeinschaftsrecht vertreten. Wenn man realistisch die Situation zusammenfassen wollte, dann müsste man eingestehen, dass sich in Griechenland, wie im übrigen bei den anderen Mitgliedstaaten, durch die Entwicklung und Anwendung des Gemeinschaftsrechts eine stillschweigende Verfassungsänderung vollzieht.
b) „Konfliktsituationen“ nach dem Vertrag über die Europäische Union aa) Den tiefgreifenden Einschnitten in das nationale Verfassungsrecht, die durch den Vertrag von Maastricht hervorgerufen wurden, sind die Mitgliedstaaten unterschiedlich begegnet. Insbesondere wurden die Einführung des aktiven und des passiven Wahlrechts bei Kommunalwahlen für Angehörige anderer Mitgliedstaaten, die Wirtschafts- und Währungsunion, aber auch die Erweiterung der Zuständigkeiten der Union im Bereich der Außen- und Sicherheitspolitik und im Bereich der Justiz und des Inneren sowie die Erweiterung des Anwendungsbereichs des Mehrheitsprinzips und nicht zuletzt die Verallgemeinerung33 des Subsidiaritätsprinzips in einer Reihe von Mitgliedstaaten aus der Sicht des nationalen Verfassungsrechts für bedenklich gehalten. Diese „Konfliktsituationen“ wurden, wie oben erwähnt, in einer Reihe von Mitgliedstaaten mit Verfassungsänderungen bewältigt. So haben S. das Urteil des Staatsrates 3457 / 1998. So J. Iliopoulos-Strangas (Fn. 18), S. 130 ff. 32 So G. Papadimitriou, Europäische Integration und nationales Verfassungsrecht in Griechenland, in U. Battis / D. Tsatsos / C. Stefanou (éd.) Europäische Integration und nationales Verfassungsrecht, Baden-Baden, 1995, S. 149 – 182 (155 ff.). 33 Bekanntlich wurde das Subsidiaritätsprinzip bereits 1986 durch die Einheitliche Akte zur Reform der EG für den Bereich des Umweltschutzes institutionalisiert. 30 31
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Deutschland, Frankreich, Portugal und Spanien vor der Ratifikation des Vertrags von Maastricht ihre Verfassungen geändert, während Österreich, Belgien und Luxemburg die Verfassung nach dem Beitritt bzw. nach der Ratifikation ebenfalls revidiert haben. Irland hat aufgrund seines dualistischen Systems bei jeder Vertragsänderung seine Verfassung geändert. Ebenso haben die mit dem Amsterdamer Vertrag erfolgten weiteren Einschnitte in das nationale Verfassungsrecht bzw. in die nationale Souveränität –insbesondere die Übertragung von Zuständigkeiten zugunsten der Gemeinschaft in den Bereichen der Visa, des Asyls, der Einwanderung und des Grenzübergangs (Art. 62 – 63 EG-V), und zwar in dem Maße als nach einer Übergangsperiode von fünf Jahren (während derer der Rat einstimmig auf Vorschlag der Kommission oder auf Initiative der Staaten entscheidet) ein bedingungsloser Übergang zum Mehrheitsprinzip und ein Verlust des Initiativrechts der Mitgliedstaaten stattfindet– einige Mitgliedstaaten veranlasst, ihre Verfassung zu ändern, um diesen Regelungen eine verfassungsrechtliche Akzeptanz zu verleihen. So haben, wie oben erwähnt, außer Irland auch Frankreich und Österreich eine Verfassungsänderung im Hinblick auf den Vertrag von Amsterdam vorgenommen, Frankreich vor der Ratifikation, Österreich hingegen fast gleichzeitig mit der Ratifikation (Juni und Juli 1998). Man könnte sich in diesem Zusammenhang fragen, warum die in einigen dieser Mitgliedstaaten bereits vorhandenen verfassungsrechtlichen Regelungen für die Bewältigung des Integrationsprozesses nicht für ausreichend gehalten wurden. Erwähnt sei in diesem Zusammenhang etwa Art. 24 des deutschen GG, der die Übertragung von Hoheitsrechten auf zwischenstaatliche Einrichtungen vorsieht. Bekanntlich wurde vor der Ratifikation des Maastrichter Vertrags im GG der (neue) Artikel 23 über die Europäische Union eingeführt, obwohl sich das Bundesverfassungsgericht in dieser Richtung nicht geäußert hatte. Auch Österreich, das entsprechend seinen verfassungsrechtlichen Vorgaben vor dem Beitritt zur Union ein diesbezügliches Referendum abgehalten hatte, hat nach dem Beitritt einen neuen Titel über die „Europäische Union“ in die Verfassung eingeführt, in dem eine Reihe von den durch den Vertrag von Maastricht erzwungenen Regelungen, wie z. B. das aktive und passive Wahlrecht der Angehörigen anderer Mitgliedstaaten für die Wahlen zum Europäischen Parlament (Art. 23a), aufgenommen wurden. Ebenso hat Portugal eine (neue) Verfassungsrevision für die Ratifikation des Maastrichter Vertrags für notwendig gehalten und durchgeführt, obwohl in der Revision von 1989 bereits einige Regelungen getroffen waren, die unter Umständen als ausreichend bezüglich des obigen Vertrags angesehen werden könnten, wie z. B. die Möglichkeit, durch Gesetz und auf der Grundlage der Gegenseitigkeit den auf dem Staatsgebiet wohnhaften Ausländern das aktive und passive Wahlrecht für die Wahl der Amtsträger der kommunalen Selbstverwaltungsorgane zuzuerkennen (Art. 15 Nr. 4). Durch die Revision von 1992 wurden in die portugiesische Verfassung Vorschriften aufgenommen, die u. a. das aktive und passive Wahlrecht der im Staatsgebiet wohnhaften Angehörigen der Mitgliedstaaten der Europäischen Union
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für die Wahlen zum Europäischen Parlament (Art. 15 Nr. 5) und die Bank von Portugal betreffen. Eine Revision der Verfassung hinsichtlich der Anerkennung des aktiven und passiven Wahlrechts bei Gemeindewahlen für Angehörige anderer Mitgliedstaaten wurde auch vom spanischen Verfassungsgerichtshof für notwendig gehalten und vor der Ratifikation des Vertrags von Maastricht realisiert (Art. 13 Abs. 2). Dies freilich, obwohl die spanische Verfassung schon vorher, und zwar in derselben Vorschrift, die Möglichkeit der Anerkennung durch Vertrag oder Gesetz des aktiven Wahlrechts bei Gemeindewahlen für Ausländer vorsah und darüber hinaus, wie oben erwähnt, eine Grundlage für Verträge enthält, durch die einer internationalen Organisation oder Institution die Ausübung von aus der Verfassung abgeleiteten Kompetenzen übertragen wird. Auch in Belgien und Luxemburg fand eine Verfassungsrevision hinsichtlich der Anerkennung des aktiven und passiven Wahlrechts bei Kommunalwahlen für Angehörige anderer Mitgliedstaaten34, allerdings erst nach der Ratifikation des Maastrichter Vertrags, statt, obwohl der belgische Staatsrat und das luxemburgische Parlament bereits vor der Ratifikation das Erfordernis einer Verfassungsänderung anerkannt hatten. Demgegenüber hat Dänemark bezüglich einiger Regelungen des Maastrichter Vertrags einen Sonderstatus ausgehandelt – nachdem weder die zur Annahme von Gesetzesvorlagen, die zwischenstaatlichen Einrichtungen Befugnisse übertragen, welche auf Grund der Verfassung den Organen des Königreichs zustehen, erforderliche Mehrheit von fünf Sechsteln der Mitglieder des Folketing (Parlaments) erreicht wurde35, noch die Annahme der diesbezüglichen Gesetzesvorlage durch Volksentscheid von Wählern des Folketing gemäß den in Art. 42 Verf. für Volksentscheide festgesetzten Vorschriften erfolgte. bb) Wie hat Griechenland auf diese tiefgreifenden Entwicklungen im Bereich der Integration reagiert? Obwohl einige Regelungen des Vertrags von Maastricht nach einhelliger Auffassung im griechischen Schrifttum eindeutig gegen die Verfassung verstießen (so insbesondere hinsichtlich der Vollendung der Wirtschaftsund Währungsunion) und andere Regelungen desselben Vertrags nach Auffassung zumindest eines nicht unbedeutsamen Teils des Schrifttums ebenfalls für aus der Sicht des griechischen Verfassungsrechts bedenklich gehalten wurden (so insbesondere die Verleihung des aktiven und passiven Wahlrechts bei den Kommunalwahlen an Angehörige der anderen Mitgliedstaaten), hat der Verfassunggeber dennoch lange Zeit nicht reagiert. Während die Rechtsprechung keinen Anlass gehabt hat, sich darüber zu äußern, kamen in der Wissenschaft verschiedene Meinungen 34 Art. 8 Abs. 2 der belgischen Verfassung lautet nach der Revision: „In Abweichung von Absatz 2 kann das Gesetz das Stimmrecht der Bürger der Europäischen Union, die nicht die belgische Staatsangehörigkeit haben, gemäß den internationalen und überstaatlichen Verpflichtungen Belgiens regeln“. Art. 107 Abs. 5 der luxemburgischen Verfassung bestimmt nach der Revision: „Die Staatsangehörigkeitsbedingungen, die die Mitglieder des Bürgermeister- und Schöffenkollegiums erfüllen müssen, werden durch ein gemäß den Bestimmungen des Art. 114 Abs. 5 beschlossenes Gesetz festgelegt“. 35 Vgl. Art. 20 der dänischen Verfassung.
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zur Begründung der Vereinbarkeit der Ratifikation mit der Verfassung zum Ausdruck, die m.E. weniger überzeugend sind. So wurde u. a. das Fehlen einer diesbezüglich politisch kritischen Frage als Rechtfertigungsgrund für die Untätigkeit des Revisionsverfassunggebers hinsichtlich der fraglichen Bestimmungen des Maastrichter Vertrags herangezogen, obwohl die Vereinbarkeit einiger dieser Bestimmungen mit der griechischen Verfassung explizit in Frage gestellt wurde36. Auch wurde die Meinung vertreten, dass die mit Regelungen des Maastrichter Vertrages kollidierenden Vorschriften der griechischen Verfassung gegenüber der Gemeinschaft unwirksam geworden sind – dies wohl, weil sich Griechenland durch die ohne vorherige Verfassungsänderung erfolgte Unterzeichnung und „Kontrolle“ des obigen Vertrags im Hinblick auf die in Art. 28 Abs. 2 und 3 verlangten Voraussetzungen so verhalten habe, als ob es den Vorrang des Gemeinschaftsrechts auch gegenüber mit diesem kollidierenden verfassungsrechtlichen Vorschriften mittelbar akzeptiert habe37. Diesen beiden Literaturmeinungen kann nicht gefolgt werden. Sie beschreiben beide schlechthin das Geschehene, vermögen aber nicht es als solches verfassungsrechtlich zu begründen und zu legitimieren. Dies gilt um so mehr, als sich die griechische Verfassung gegenüber ihrer Änderung durch das Vorsehen eines sehr komplizierten Änderungsverfahrens und einer „Ewigkeitsgarantie“ für eine Reihe ihrer Bestimmungen abgeschirmt hat. Ebenso wenig rechtzeitig hat aber auch der griechische Verfassunggeber auf die oben erwähnten, aus der Sicht der nationalen Verfassungsrechte fraglichen Regelungen des Vertrags von Amsterdam reagiert. Dieses Zögern des Verfassunggebers bei der Anpassung der nationalen Verfassung an die Erfordernisse der jeweiligen Integrationsstufen ist, zumindest zum Teil, mit der Schwerfälligkeit des Revisionsverfahrens zu erklären. In der Tat gehört Griechenland zusammen mit Belgien38, Dänemark39, Luxemburg40, den Niederlanden41 und Schweden42 zu den Mitgliedstaaten, die ein sehr kompliziertes Revisionsverfahren vorsehen, das die Durchführung von Wahlen oder (in einigen dieser Mitgliedstaaten) sogar von Referenden verlangt. So wird in Artikel 110 der griechischen Verfassung über die Änderung der Verfassung u. a. die zwischenzeitliche Durchführung von Wahlen verlangt, denn das erste Parlament entscheidet über die Erforderlichkeit der Verfassungsänderung, während das nächste Parlament 36 Vgl. E. Venizelos, Der Vertrag von Maastricht und der europäische verfassungsrechtliche Raum (griech.), 1994, S. 23 – 24, der im übrigen unter Berufung auf den „starren“ Charakter der griechischen Verfassung die für den Bereich des Gemeinschaftsrechts quasi Revisionsfunktion der Vorschriften des Art. 28 §§ 2 und 3 Verf. mit Nachdruck ablehnt. 37 So N. Scandamis, Europäisches Recht – Institutionen und Rechtsordnungen der Europäischen Union (griech.), 1997, S. 344. 38 Vgl. Art. 195 der belgischen Verfassung. 39 Vgl. Art. 88 der dänischen Verfassung. 40 Vgl. Art. 114 der luxemburgischen Verfassung. 41 Vgl. Art. 137 – 139 der niederländischen Verfassung. 42 Vgl. Kapitel VIII Art. 15 der schwedischen Verfassung.
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über die zu ändernden Bestimmungen beschließt. Dabei werden auch qualifizierte Mehrheiten verlangt und es wird außerdem eine Zeitsperre vorgesehen. Eine Verfassungsänderung ist nämlich vor dem Ablauf von fünf Jahren nach dem Abschluss der vorhergehenden unzulässig. Last but not least, worauf im nächsten Abschnitt zurückzukommen sein wird, verbietet die griechische Verfassung die Abänderbarkeit einiger Vorschriften und Prinzipien. Das geltende Revisionsverfahren ist von einem Teil der Lehre heftig kritisiert worden. Ein Teil des Schrifttums spricht sich nämlich für eine den Integrationserfordernissen aber auch den heutigen raschen gesellschaftlichen, sozialen, politischen und technologischen Entwicklungen Rechnung tragende Vereinfachung dieses Verfahrens aus, und insbesondere für die Abschaffung der Zeitsperre und für die Möglichkeit des Abschlusses des Änderungsverfahrens innerhalb ein und derselben Legislaturperiode43. Der Verfassunggeber hat bei der letzten Verfassungsänderung von 2001 dieses Änderungsverfahren nicht angetastet. Dennoch hat er das Integrationsphänomen nicht unberücksichtigt gelassen. Auf der einen Seite hat er einige punktuelle Lösungen für bereits durch den Maastrichter Vertrag entstandene, oben erwähnte „Konfliktsituationen“ bereitgestellt. So wurde Artikel 80, der in Absatz 2 vorsieht, dass das Münzrecht und die Ausgabe von Geld durch Gesetz geregelt werden, durch eine „Erklärung zur Interpretation“ ergänzt, die folgendes bestimmt: „Absatz 2 steht einer Beteiligung Griechenlands an den Verfahren der Wirtschafts- und Währungsunion, im weiteren Rahmen der europäischen Vollendung gemäß den Regelungen des Artikels 28, nicht entgegen“. In ähnlicher Weise hat er dem die gesetzgeberische Tätigkeit des Parlaments regelnden und neu verfassten Artikel 70 einen neuen Absatz Nr. 8 hinzugefügt, der Folgendes festlegt: „Die Parlamentsordnung sieht die Verfahrensweise vor, nach der das Parlament von der Regierung über die Fragen informiert wird, die Gegenstand von Rechtsetzungsregelungen im Rahmen der Europäischen Union sind, und darüber diskutiert “. Auf der anderen Seite wurde durch die Revision in die Verfassung die oben erwähnte „Erklärung zur Interpretation“ aufgenommen, die lapidar festsetzt, dass Artikel 28 der Verfassung die Grundlage für die Beteiligung des Landes an den Verfahren der Vollendung der europäischen Integration bildet. Diese neue Verfassungsvorschrift vermag m.E. nicht Artikel 28, der von Anfang an unbestritten die verfassungsrechtliche Grundlage für die Beziehungen Griechenlands zu der Gemeinschaft und der Union bildet, zu „interpretieren“. Sie ist weder geeignet, bestehende Auslegungsschwierigkeiten dieses Artikels auszuräumen, noch Klarheit über die zumindest theoretisch noch umstrittene Vorrangfrage zu schaffen. In der Tat sind die oben erwähnten von Anfang an in die geltende Verfassung aufgenommenen Vorschriften über die „Zuerkennung von verfassungsgemäßen 43 So mit Nachdruck J. Iliopoulos-Strangas, „Verfassungsrevision im Rahmen einer einzigen Legislaturperiode“ (griech.), in To Syntagma (Die Verfassung / Juristische Zeitschrift), 6 / 2000, S. 1069 – 1091.
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Zuständigkeiten an Organe internationaler Organisationen“ und die „Einschränkung der Ausübung der nationalen Souveränität“ gesetzestechnisch recht problematisch und haben zu Auslegungsschwierigkeiten geführt, auf die das gesamte griechische Schrifttum mehrmals hingewiesen hat44. Angesichts der bereits aus der Lektüre beider Vorschriften paradox erscheinenden Feststellung, dass der griechische Verfassunggeber für die Zuerkennung von Zuständigkeiten zwar die schwierigeren formellen Voraussetzungen verlangt (3 / 5 Mehrheit, eine Mehrheit die grundsätzlich für die Verfassungsänderung verlangt wird), diese Zuerkennung aber nicht von der Erfüllung der schwerwiegenden materiellen Voraussetzungen abhängig macht, die für die durch (lediglich) absolute Mehrheit zu beschließenden Einschränkungen der Ausübung der nationalen Souveränität vorgesehen sind, hat es im Schrifttum Streit gegeben, welche dieser beiden Vorschriften im Falle des Beitritts oder der Änderungsverträge anzuwenden ist. Als weitgehend herrschend soll heutzutage die Meinung angesehen werden, die sich unter Hinweis auf eine teleologische Auslegung für die kumulative Anwendung beider Vorschriften ausspricht. Wenn man darüber hinaus bedenkt, dass ein Teil des zeitgenössischen Schrifttums es nicht ausschließt, dass für bestimmte EG / EU-Verträge eine Anwendung von Art. 28 Abs. 1 nicht auszuschließen sei – eine These die m.E. u. a. deswegen nicht zu vertreten ist, weil sie zwangsweise dazu führt, diesen europarechtlichen Verträgen den dem (normalen) Völkervertragsrecht kraft dieser Verfassungsvorschrift zukommenden (schlichten) übergesetzlichen Rang zu verleihen –, dann ist es nicht mehr zu leugnen, dass für die hier angesprochene Problematik der Bestimmung der genauen verfassungsrechtlichen Grundlage für die Beziehungen zwischen griechischem Verfassungsrecht und EG- / Unionsrecht die durch die Revision neu aufgenommene „Erklärung zur Interpretation“ nichts Neues bringt. Darüber hinaus besagt diese Vorschrift, die lapidar die Beteiligung Griechenlands an der Vollendung der europäischen Integration „voraussagt“, nichts über die Stellung des Gemeinschafts- / Unionsrechts gegenüber der Verfassung. Zusammenfassend, was das hier angesprochene Thema der Beziehungen zwischen nationalem Verfassungsrecht und EG- / Unionsrecht angeht, hat die letzte Revision eine Chance verpasst, Klarheit zu schaffen. Dies wird sich sicherlich bei der Weiterentwicklung der europäischen Integration noch bemerkbar machen.
III. Die künftige europäische Verfassung aus nationaler verfassungsrechtlicher Sicht Die in den verschiedenen Integrationsstufen, insbesondere in den achtziger Jahren45 oft aufgeworfene Frage, inwieweit eine europäische „Verfassung“ erforder44 Ausführlich dazu und zum Folgenden bereits J. Iliopoulos-Strangas, a.a.O (Fn. 1) S. 202 ff.
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lich oder sogar unerlässlich für das vereinte Europa sei, wurde naturgemäß von Politik und Wissenschaft in den verschiedenen Mitgliedstaaten unterschiedlich beantwortet. Während Euroskeptiker rechtliche und politische Bedenken hinsichtlich der Annahme einer Verfassung äußerten und die Notwendigkeit einer Verfassung ablehnten, plädierte ein anderer Teil von Politikern und Fachleuten für das Erfordernis einer überschaubaren, formellen Verfassung im traditionellen Sinne allerdings unter Betonung des Umstandes, dass die Europäische Union schon eine Verfassung hat46. Nun ist diese Diskussion mit der Vorlage des vom EU-Reformkonvent erarbeiteten Entwurfs einer europäischen Verfassung auf dem Gipfeltreffen der Staats- und Regierungschefs am 20. und 21. Juni in Thessaloniki zum großen Teil obsolet geworden. Dennoch stellt sich aus der Sicht der nationalen Rechtsordnungen in Zusammenhang mit der Europäischen Verfassung eine Reihe von rechtstheoretischen, rechtspolitischen, aber auch verfassungsrechtlichen Fragen, die für die Akzeptanz dieser Verfassung in den Mitgliedstaaten nicht ohne Bedeutung sind. Einige dieser Fragen werden mitunter auch im Hinblick auf diesen Entwurf angesprochen. Dabei werden potentielle verfassungsrechtliche Grenzen, insbesondere, nicht jedoch ausschließlich, aus der Sicht des griechischen Verfassungsrechts, aufgezeigt, an die eine Europäische Verfassung eventuell stoßen wird.
1. Auswirkungen der Europäischen Verfassung auf nationale traditionelle Rechtsbegriffe der mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen am Beispiel des Begriffes „Verfassung“ und „Volks- bzw. nationale Souveränität“ Ein rechtsvergleichender Blick in die Mitgliedstaaten führt zu der Feststellung, dass der Begriff „Verfassung“ in den verschiedenen Rechtsordnungen nicht identisch verwendet wird. Sowohl seine Grundlage als auch seine äußere Form weisen Unterschiede auf. Was die Grundlage der Verfassung anbelangt, so spielt in einigen Mitgliedstaaten, wie etwa in Frankreich, der Begriff çontrat social“ („Sozialkontrakt“ bzw. Gesellschaftsvertrag), eine herausragende Rolle. Demgegenüber ist der Verfassungstradition der meisten Mitgliedstaaten, darunter auch Griechenlands, der Gedanke des çontrat social“ fremd. Diese Aussage gilt naturgemäß insbesondere für solche Mitgliedstaaten, denen eine Verfassung kraft internationaler Abkommen 45 Ausführlich zum Stand der damaligen Diskussion J. Schwarze / R. Bieber (Hrsg.), Eine Verfassung für Europa, 1984, und insbesondere für die diesbezügliche Initiative des Europäischen Parlaments vgl. den dort enthaltenen Beitrag von Altiero Spinelli „Das Verfassungsprojekt des Europäischen Parlaments“, S. 231 ff. 46 Für einen zusammenfassenden Überblick der gegenseitigen Positionen vgl. aus dem deutschen Schrifttum etwa M. Zuleeg, „Die Vorzüge der Europäischen Verfassung“, Der Staat, 2002, S. 359 ff. (377 ff.).
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aufgezwungen wurde. Als typisches Beispiel dafür ist der Fall von Zypern zu nennen. Die zypriotische Verfassung wurde nämlich dem zypriotischen Volk ohne seine Zustimmung durch die Abkommen von Zürich und London von 1959 vorgeschrieben. Wie man auch immer zu der auf Ereignisse des 18. und 19. Jahrhunderts zurückgehenden Unterscheidung zwischen den oktroyierten, den paktierten und den vom souveränen Volk gesetzten Verfassungen47 verfassungspolitisch stehen mag, bietet sich diese Unterscheidung für das europäische Integrationsphänomen nicht an. In diesem Zusammenhang soll freilich darauf hingewiesen werden, dass auch das Prinzip, wonach alle Staatsgewalt vom Volk ausgeht, oder das Prinzip der Volkssouveränität, Prinzipien die in einer Reihe von nationalen Verfassungen ausdrücklich garantiert werden (so etwa in Deutschland [Art. 20 Abs. 2 GG], Finnland [Art. 2 Abs. 1 Verf.], Frankreich [Art. 3 Abs. 1 Verf.], Griechenland [Art. 1 Verf.], Österreich [Art. 1 Verf.] Schweden [Kapitel I Art. 1] und Spanien [Art. 1 Abs. 2 Verf.]) nicht in allen Mitgliedstaaten als Grundlage des Verfassungsrechts gelten. Letzteres ist der Fall etwa in den Niederlanden48. Was die äußere Form der Verfassung angeht, wird in den meisten mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen, so auch in Griechenland, unter „Verfassung“ ein einheitlicher geschriebener Text verstanden, der mit einer erhöhten Gesetzeskraft ausgestattet ist. Dennoch besteht in einigen Mitgliedstaaten die „Verfassung“ aus mehreren sog. Grundgesetzen (Schweden) oder sie wird durch eine hohe Zahl von Verfassungsgesetzen ergänzt (Österreich). Auf der entgegengesetzten Seite besitzt das Vereinigte Königreich gar keine formelle Verfassung. Eine weitere Frage, die in den meisten Mitgliedstaaten die Verfassungstheorie schon in der Vergangenheit beschäftigt hat und nunmehr in Bezug auf die Europäische Verfassung aktuell wurde, ist, inwieweit es eine staatenlose Verfassung geben kann. Angesichts des Umstandes, dass traditionell der Verfassungsbegriff mit dem Gedanken der Volkssouveränität zusammenhängt, wurde bereits die Frage gestellt, inwieweit das Primärrecht der Gemeinschaften als Verfassung qualifiziert werden könnte. Mit der Verabschiedung, in welcher Form auch immer, einer formellen Europäischen Verfassung wird sich diese Diskussion verschärfen. Dennoch wird man solchen Bedenken gegen eine „staatenlose“ Verfassung zunächst mit Hinweisen auf die Geschichte einiger Mitgliedstaaten widersprechen können, die Verfassungen hatten, bevor sie von der internationalen Gesellschaft als Staat anerkannt wurden. Als typisches Beispiel dafür sei Griechenland genannt. Bevor es nämlich als ein Staat durch das Londoner Protokoll von 1830 anerkannt wurde49, waren in 47 Ausführlich dazu statt vieler Maunz / Zippelius, Deutsches Staatsrecht, 30. Auflage, 1998, S. 30 f. 48 Vgl. C. A. J. M. Kortmann, European Law and National Constitutions: The Netherlands, in Lord Slynn of Hadley / M. Adenas (eds.), F.I.D.E. XX. Congress, London 2002, Volume I., National Reports, 2002, S. 299 ff. (301). 49 Durch das Londoner Protokoll vom 22. Januar 1830 hat Griechenland nach fast 400jähriger türkischer Herrschaft seine Unabhängigkeit infolge eines Befreiungskrieges erlangt, der im Jahre 1821 ausbrach und acht Jahre andauerte.
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Griechenland schon während des Befreiungskrieges (1821 – 1829) geschriebene Verfassungen verabschiedet, die als solche Geltung beanspruchten und u. a. Grundrechtskataloge enthielten50. Während also in zahlreichen Staaten Europas und Amerikas um diese Zeit die Frage des „verfassungslosen“ Staates zur Debatte stand, ging es in Griechenland zur selben Zeit um die „staatenlose“ Verfassung. Auch alle späteren Verfassungen Griechenlands seit seiner Befreiung bis heute51 sind geschriebene Verfassungen. Im Hinblick auf diese Verfassungstradition wird Griechenland keine Schwierigkeiten haben, eine formelle europäische Verfassung anzunehmen. Die vorherigen Ausführungen zeigen deutlich, dass die Europäische Verfassung zwar unausweichlich Auswirkungen auf traditionelle Verfassungsbegriffe einer Reihe von Mitgliedstaaten, wie etwa die Begriffe Verfassung und Volks- bzw. Nationalsouveränität, haben wird und insbesondere für das Vereinigte Königreich die Tradition der ungeschriebenen Verfassung durchbrechen wird, es handelt sich aber hierbei um keine unüberwindbaren verfassungsrechtlichen Hindernisse, die ihre Akzeptanz seitens der Mitgliedstaaten in Frage stellen könnten. Allerdings wird, unter Berücksichtigung aller oben geschilderten Aspekte, auch die in der Lehre in einigen Mitgliedstaaten geäußerte Skepsis hinsichtlich der Verwendung des Begriffes Verfassung im Fall der Europäischen Union verständlich. So wurden im Fachschrifttum u. a. die Begriffe „de facto Verfassung“ oder „Unionsgrundordnung“ oder auch „Statut der Europäischen Union“52 als Alternative zum Begriff „Verfassung“ vorgeschlagen. Nunmehr sind diese Gedanken teilweise überholt, können jedoch bei den Verhandlungen über den Abschluss des Verfassungsvertrags oder gar vielleicht für den Ausgang der Ratifikation der Europäischen Verfassung durch einige Mitgliedstaaten nicht ohne jegliche Bedeutung sein.
2. Auswirkungen der Europäischen Verfassung auf das Verfassungsrecht der Mitgliedstaaten, insbesondere auf dem Gebiet des Grundrechtsschutzes a) Vorrang des Unionsrechts Eine erste verfassungsrechtliche Frage, die sich eventuell aus der Sicht einiger Mitgliedstaaten stellen könnte, ist der nunmehr im Verfassungsentwurf ausdrück50 Es handelt sich im einzelnen um die „Provisorische Verfassung Griechenlands bei der I. Nationalversammlung in Epidaurus“ (1. 1. 1822), die „Provisorische Verfassung Griechenlands bei der II. Nationalversammlung in Astros“ (13. 4. 1823), die „Politische Verfassung Griechenlands bei der III. Nationalversammlung in Troizen“ (1. 5. 1827) und die „Politische Verfassung Griechenlands bei der IV. Nationalversammlung in Nauplia“ (16. 3. 1832). 51 Es handelt sich hierbei um die in der Zeit der Konstitutionellen Monarchie (1844 – 1863) und der „Gekrönten Demokratie“ bzw. „Parlamentarischen Monarchie“ (1863 – 1924) entstandenen Verfassungen von 1844, 1864 (revidiert im Jahre 1911) sowie um die Verfassungen von 1927, von 1952 und von 1975 (geltende Verfassung). 52 So Julia Iliopoulos-Strangas / Eugénie Prevedourou (Fn. 27), p. 90.
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lich vorgesehene Vorrang des Unionsrechts insgesamt, d. h. des Primär- und Sekundärrechts. Artikel I-10 Abs. 1 des Entwurfs lautet: „Die Verfassung und das von den Organen der Union in Ausübung der ihnen zugewiesenen Zuständigkeiten gesetzte Recht haben Vorrang vor dem Recht der Mitgliedstaaten“. Diese nunmehr formell eingeführte Kollisionsregel könnte zunächst einmal für diejenigen Mitgliedstaaten, wie etwa Griechenland, die die Vorrangfrage nicht eindeutig bzw. nicht ausdrücklich gelöst haben, eventuell Schwierigkeiten bereiten. Darüber hinaus wird der Verfassungsvertrag für alle diejenigen Mitgliedstaaten verfassungsdogmatische Fragen stellen, die in ihrer Verfassung eine Normenhierarchie vorsehen, welche die Verfassung an die Spitze stellt und dem Völkervertragsrecht einen unterverfassungsrechtlichen Rang einräumt. Durch das Ratifikationsgesetz – dem in einigen Mitgliedstaaten (so etwa in Italien oder auch in Deutschland) von Verfassungs wegen der Rang eines einfachen Gesetzes zusteht – wird nämlich einem zwar sui-generis, aber immer noch bleibenden völkerrechtlichen Vertrag überverfassungsrechtlicher Rang – und speziell hinsichtlich des Sekundärrechts eine Blanko-Anerkennung dieses Vorrangs – eingeräumt, ohne dass dies durch die nationale Verfassung zugelassen bzw. dem zugestimmt wird. Ohne den Vorrang des Unionsrechts in Zweifel ziehen zu wollen, ist m.E. aus der Sicht des nationalen Verfassungsrechts dieser Weg dogmatisch nicht sauber, es sei denn der Ratifikation geht eine in diese Richtung gehende Verfassungsänderung in den betroffenen Mitgliedstaaten voraus. Mit letzterer ist allerdings in einigen Mitgliedstaaten, die komplizierte Revisionsverfahren kennen, schwerlich zu rechnen. Dieses paradox erscheinende Ergebnis, dass für einige Mitgliedstaaten mit (einfachem) Gesetz praktisch die Verfassung geändert wird, war außerdem weder unerlässlich noch notwendig, um das gewünschte Ziel, den Vorrang des Unionsrechts, zu erreichen. Man sollte es den Mitgliedstaaten weiterhin überlassen, in welcher Weise auch immer – sei es durch Revision der Verfassung, sei es durch deren europarechtskonforme Auslegung, sei es mit anderen Mitteln – sie ihrer Verpflichtung entsprechen, dem Unionsrecht den Vorrang einzuräumen.
b) „Verrechtlichung“ der Grundrechtecharta Eine zweite Frage könnte sich in Zusammenhang mit der „Verrechtlichung“ bzw. der Erhebung der Charta der Grundrechte der Europäischen Union zu Primärrecht der Union stellen. Selbst wenn man davon ausgeht, dass die Grundrechtecharta keinerlei Kompetenzverschiebungen zugunsten der Union bewirken wird53, wird man dennoch unter Berücksichtigung von Unterschieden, die sie im Vergleich zu den nationalen Verfassungsordnungen aufweist54, erkennen müssen, dass sie, erhoben zum Teil 53
So ausdrücklich in Art. 51 Abs. 2 der Grundrechtecharta.
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des Primärrechts, zumindest faktisch Auswirkungen auf das Verfassungsrecht einiger Mitgliedstaaten haben wird. Dies gilt insbesondere, aber nicht nur, auf dem Gebiet des Schutzes der „sozialen Grundrechte“, wobei letztere, im Einklang mit der Tendenz in einer Reihe von Mitgliedstaaten und den wissenschaftlichen Erkenntnissen, begrifflich sehr weit zu verstehen sind: neben den sozialen Grundrechten im engeren Sinne werden auch die sozialen Freiheiten und das Gleichheitsprinzip einbezogen. Außerdem werden unter dem Begriff „soziale Grundrechte im engeren Sinne“ nicht nur spezifisch grundrechtlich ausgestaltete Rechtspositionen sozialen Charakters, sondern auch sonstige Gewährleistungen sozialen Inhalts erfasst55. Im Einzelnen: aa) Soweit die in der Grundrechtecharta garantierten sozialen und sonstigen Grundrechte in größerem Umfang geschützt werden, als dies in nationalen Verfassungen der Fall ist (1) oder die Grundrechtecharta Rechte und Prinzipien garantiert, die in den meisten Mitgliedstaaten verfassungsrechtlich (oder auch überhaupt) nicht gewährleistet (2) oder lediglich auf der einfachgesetzlichen Ebene gewährleistet werden (3), ist zu erwarten, dass dieser weitgehende Grundrechtsschutz durch die Grundrechtecharta Auswirkungen auf das nationale Recht haben wird, selbst wenn dies in mittelbarer Weise geschehen wird. Im Einzelnen fallen unter diese drei Kategorien beispielsweise folgende Rechte und Prinzipien: (1) Rechte und Prinzipien, die in der Grundrechtecharta einen weiteren Schutz genießen als in den nationalen Verfassungen: – das Recht auf Leben, dem in der Grundrechtecharta das Verbot der Todesstrafe zugeordnet wurde (Art. 2 Abs. 2 der Grundrechtecharta); – eine Reihe von Rechten, die aus dem Recht auf Unversehrtheit (Art. 3) abgeleitet werden, so das Verbot eugenischer Praktiken, das Verbot der Nutzung des menschlichen Körpers und von Teilen davon als solchen zur Erzielung von Gewinnen sowie das Verbot des reproduktiven Klonens von Menschen; – das Recht auf Kollektivverhandlungen und Kollektivmaßnahmen, und speziell das Recht auf Streik (Art. 28) – ausdrücklich als Bestandteil des Rechts der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sowie der Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber oder ihrer jeweiligen Organisationen, bei Interessenkonflikten kollektive Maßnahmen zur Verteidigung ihrer Interessen zu ergreifen –, ein Recht, welches außerdem in einigen Mitgliedstaaten nicht verfassungsrechtlich gewährleistet wird;
54 Für eine Auflistung der Unterschiede insbesondere auf dem Gebiet der sozialen Grundrechte s. J. Iliopoulos-Strangas, Der Schutz sozialer Grundrechte in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union vor dem Hintergrund des Schutzes sozialer Grundrechte in den Verfassungsordnungen der Mitgliedstaaten, in Dieter H. Scheuing (Hrsg.), Europäische Verfassungsordnung, 2003, S. 133 (157 ff.). 55 Ausführlich dazu J. Iliopoulos-Strangas, Conclusions comparatives, in J. IliopoulosStrangas (éd.) (Fn. 28), S. 793 (799).
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– der Gesundheitsschutz, insbesondere als Recht auf Zugang zur Gesundheitsvorsorge und auf ärztliche Versorgung (Art. 35);
(2) Rechte und Prinzipien der Grundrechtecharta, die in den meisten Mitgliedstaaten nicht verfassungsrechtlich oder in einigen Mitgliedstaaten überhaupt nicht gewährleistet werden : – das Recht auf Schutz personenbezogener Daten (Art. 8); – die unternehmerische Freiheit als solche (Art. 16); – das Recht auf Prozesskostenhilfe (Art. 47 Abs. 3)56; – das Recht auf eine gute Verwaltung (Art. 41); – die Institutionalisierung der so genannten „affirmative action“ (Art. 23 Abs. 2)57; – das Recht auf eine soziale Unterstützung und eine Unterstützung für die Wohnung (Art. 34 Abs. 3); – der Zugang zu Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse (Art. 36).
(3) Rechte und Prinzipien der Grundrechtecharta, die in den Mitgliedstaaten, wenn überhaupt, lediglich auf der einfachgesetzlichen Ebene gewährleistet werden: – eine Reihe von Rechten aus dem Arbeitsverhältnis, wie das Recht auf Unterrichtung und Anhörung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer im Unternehmen (Art. 27), das Recht auf Zugang zu einem Arbeitsvermittlungsdienst (Art. 29), der Schutz bei ungerechtfertigter Entlassung (Art. 30), das Recht auf gerechte und angemessene Arbeitsbedingungen (Art. 31), sowie das Verbot der Kinderarbeit und der Schutz der Jugendlichen am Arbeitsplatz (Art. 32). – Rechte aus dem Bereich des Sozialrechts, wie die Gewährleistung des rechtlichen, wirtschaftlichen und sozialen Schutzes der Familie (Art. 33), das Recht auf Leistungen der sozialen Sicherheit und auf soziale Unterstützung (Art. 34)).
In den oben genannten sowie in anderen ähnlich gelagerten Fällen ist zu erwarten, dass dieser weitgehende Grundrechtsschutz durch die Grundrechtecharta Auswirkungen auf das nationale Recht haben wird, selbst wenn dies in mittelbarer Weise geschehen wird. Auch wenn die Grundrechtecharta viele der oben aufgezählten Rechte, insbesondere soziale Grundrechte und Gewährleistungen sozialen Inhalts, nicht uneingeschränkt garantiert, sondern diese „nach dem Gemeinschaftsrecht und den 56 Dieses Recht ist in der Verfassung lediglich zweier Mitgliedstaaten, der Niederlande (Art. 18 Abs. 2) und Spaniens (Art. 119), enthalten. 57 Dieses Prinzip findet sich nur in zwei nationalen Verfassungen wieder: in der finnischen Verfassung (Art. 6 Abs. 4) und, noch klarer formuliert, in der griechischen Verfassung seit der Verfassungsänderung von 2001 (Art. 116 Abs. 2).
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einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten“ garantiert werden (vgl. etwa Art. 27, 28, 30, 34, 35, 36), so wird sicherlich die Gewährleistung dieser Rechte und Prinzipien per se eine faktische Auswirkung auf die Entwicklung des Schutzes dieser Rechte in den nationalen Rechtsordnungen haben, sei es bei ihrer Ausgestaltung durch den Gesetzgeber selbst, sei es, und zwar insbesondere, bei ihrer Ausformung durch die Rechtsprechung. bb) Auf der anderen Seite wird sich der Umstand, dass sich in der Grundrechtecharta einige soziale Rechte nicht wieder finden, die in nationalen Verfassungen ausdrücklich garantiert sind oder in einigen Mitgliedstaaten von der höchstrichterlichen Rechtsprechung aus dem Verfassungsrecht abgeleitet werden, oder auch in der Grundrechtecharta einige soziale Rechte in geringerem Umfang geschützt werden als im Verfassungsrecht einzelner Mitgliedstaaten, nicht negativ auf den nationalen Grundrechtsschutz auswirken. Denn die in Art. 53 enthaltene, das Schutzniveau betreffende Generalklausel legt ausdrücklich fest, dass keine Bestimmung der Grundrechtecharta als eine Einschränkung oder Verletzung der Menschenrechte und Grundfreiheiten auszulegen ist, die in dem jeweiligen Anwendungsbereich durch . . . die Verfassungen der Mitgliedstaaten anerkannt werden. Als Beispiele für Fälle geringeren Schutzes in der Grundrechtecharta im Vergleich zu den nationalen Rechtsordnungen einiger Mitgliedstaaten seien folgende Rechte genannt : – das Recht auf Bildung (Art. 14) – im Gegensatz zu der Grundrechtecharta ist die kostenlose Bildung in einigen Mitgliedstaaten58 für alle Stufen verfassungsrechtlich gewährleistet –; – das in einer Reihe von Mitgliedstaaten59 verfassungsrechtlich garantierte soziale Recht auf Arbeit, das keineswegs mit der Berufsfreiheit und dem Recht zu arbeiten (Art. 15 der Grundrechtecharta) gleichzusetzen ist. – Schließlich ist die für den Umweltschutz in Art. 37 der Grundrechtecharta gewählte Formulierung60 weniger streng als entsprechende Anforderungen, die in einer Reihe nationaler Verfassungen aufgestellt werden.61 Diese Regelung bedeutet zudem einen Rückschritt im Vergleich zu einigen nationalen Verfassun58 Vgl. etwa die Präambel der französischen Verfassung von 1946 (Absatz 13) oder die griechische Verfassung (Art. 16 Abs. 4). 59 Vgl. u. a. die Verfassungen von Belgien (Art. 23), Dänemark (Art. 75 Abs. 1), Deutschland (Art. 12), Finnland (Art. 18), Italien (Art. 4), Luxemburg (Art. 11 Abs. 4), Portugal (Art. 58) und Spanien (Art. 35) sowie die Präambel der französischen Verfassung von 1946 (Absatz 5). Vgl. ferner die Verfassungen von Griechenland (Art. 22 Abs. 1), den Niederlanden (Art. 19) und Schweden (Kapitel I Art. 2). 60 D. h. die Verpflichtung, ein hohes Umweltschutzniveau und die Verbesserung der Umweltqualität in die Politiken der Union einzubeziehen und nach dem Grundsatz der nachhaltigen Entwicklung sicherzustellen. 61 Vgl. u. a. die Verfassungen von Finnland (Art. 20 Abs. 2), Griechenland (Art. 24), Portugal (Art. 66) und Spanien (Art. 45) sowie die Verfassungen von Belgien (Art. 23), Deutschland (Art. 20a), Italien (Art. 9) und den Niederlanden (Art. 21).
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gen, die ein (subjektives öffentliches) Recht auf Schutz der natürlichen und kulturellen Umwelt garantieren (so etwa die griechische Verfassung seit der Revision von 200162), sowie im Vergleich zu der Rechtsprechung in einigen Mitgliedstaaten, die das Recht auf Schutz der natürlichen Umwelt als einklagbares Recht anerkannt hat (vgl. insbesondere die Rechtsprechung des griechischen Staatsrats, des höchsten griechischen Verwaltungsgerichts)63. – Ebenso liegt unter dem in einigen Mitgliedstaaten bereits erreichten Schutzniveau die für den Verbraucherschutz in Art. 38 der Grundrechtecharta verwendete vage Formulierung64. Die dort gewählte lakonische Aussage bleibt weit hinter den ausführlichen und präzisen verfassungsrechtlichen Gewährleistungen zurück, die in einigen Mitgliedstaaten existieren und die den Verbrauchern sowie ihren Organisationen konkrete Rechte etwa auf Information, Unterstützung und Anhörung einräumen oder auch Regelungen bezüglich der Werbung enthalten65.
cc) Der oben vorgenommene Vergleich macht deutlich, dass die Grundrechtecharta als Teil einer Europäischen Verfassung zumindest potentiell in der Lage sein wird, Auswirkungen, in welcher Form auch immer, auf das Verfassungsrecht der Mitgliedstaaten zu entfalten. Allerdings wird durch die Ergänzung der ursprünglichen Fassung von Art. 52 der Grundrechtecharta mit drei im Verfassungsentwurf aufgenommenen neuen Absätzen versucht, diese Auswirkungen so weit wie möglich abzuwenden oder gar zu verhindern. Auf der einen Seite wird nämlich ausdrücklich vorgesehen, dass, soweit in der Charta Grundrechte anerkannt werden, wie sie sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten ergeben, sie im Einklang mit diesen Überlieferungen ausgelegt werden (Absatz 4) und dass den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten, wie es in dieser Charta bestimmt ist, in vollem Umfang Rechnung zu tragen ist (Absatz 6). Auf der anderen Seite wird bestimmt – und dies betrifft insbesondere den Bereich der sozialen Gewährleistungen der Grundrechtecharta –, dass die Bestimmungen der Charta, in denen Grundsätze festgelegt sind, durch Akte der Gesetzgebung und der Ausführung der Organe und Einrichtungen der Union sowie durch Akte der Mitgliedstaaten zur Durchführung des Rechts der Union in Ausübung ihrer jeweiligen Zuständigkeiten umgesetzt werden können, und, dass sie vor Gericht nur bei der Auslegung dieser Akte und bei Entscheidungen über deren Rechtmäßigkeit66 herangezogen werden können (Absatz 5). Wie den Erläuterungen des Präsidiums des Verfassungskonvents67 zu entnehmen ist, wird in Absatz 5 die Unterscheidung zwischen Rechten 62 63 64 65
Vgl. die revidierte Fassung von Art. 24 Abs. 1. Näheres dazu bei J. Iliopoulos-Strangas / G. Leventis (Fn. 28), S. 442 f., 458, 479, 483. Danach stellen die Politiken der Union ein hohes Verbraucherschutzniveau sicher. Vgl. z. B. Art. 51 der spanischen Verfassung und Art. 60 der portugiesischen Verfas-
sung. 66
Hervorhebung durch die Verfasserin.
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und Grundsätzen in der Charta näher bestimmt. Es wird außerdem darauf hingewiesen, dass letztere68 keine direkten Ansprüche auf den Erlass positiver Maßnahmen durch die Organe der Union oder der Behörden der Mitgliedstaaten begründen69.
3. Verfassungsrechtliche Grundlagen, Grenzen und Modalitäten für die Annahme der Europäischen Verfassung a) Verfassungsrechtliche Grundlagen für die Annahme der Europäischen Verfassung Soweit ersichtlich gibt es keine mitgliedstaatliche Verfassung, die eine ausdrückliche, spezielle Grundlage für die Annahme der künftigen Europäischen Verfassung enthält. Lediglich das deutsche Grundgesetz und die griechische Verfassung nehmen ausdrücklich Bezug auf die allgemeinere Frage der Vollendung der europäischen Integration. So ist in Artikel 23 Abs. 1 GG die „Verwirklichung eines vereinten Europas“ als Ziel gesetzt, während in der mit der Revision von 2001 dem Art. 28 der griechischen Verfassung beigefügten „Erklärung zur Interpretation“ bestimmt wird, dass dieser Artikel als „Grundlage für die Beteiligung des Landes an den Verfahren der europäischen Vollendung“ dient. Es ist also davon auszugehen, dass für die Annahme auch der zur Debatte stehenden Europäischen Verfassung in den Mitgliedstaaten von den bereits für die geltenden Verträge verwendeten verfassungsrechtlichen Grundlagen Gebrauch gemacht wird.
b) Verfassungsrechtliche Grenzen für die Annahme der Europäischen Verfassung aa) In der Wissenschaft einiger Mitgliedstaaten wurden gegen die Konstitutionalisierung der Union überhaupt bereits vor der Verabschiedung des Verfassungsentwurfs und unabhängig von diesem Bedenken aus nationaler verfassungsrechtlicher 67 Vgl. Aktualisierte Erläuterungen zum Text der Charta der Grundrechte, 18. Juli 2003, CONV 828 / 1 / 03, REV 1. 68 Als Beispiele für Grundsätze werden vom Konventspräsidium die Rechte älterer Menschen (Art. 25), die Integration von Menschen mit Behinderung (Art. 26) und der Umweltschutz (Art. 37) genannt, wobei es darauf hingewiesen wird, dass in einigen Fällen ein Charta-Artikel sowohl Elemente eines Rechts als auch eines Grundsatzes enthalten kann. Als Beispiele für solche Fälle werden die Artikel 23, 33 und 34 erwähnt. 69 Zur Rechtsnatur der in der Charta enthaltenen sozialen Grundrechte ausführlich J. Iliopoulos-Strangas (Fn. 54), S. 170 f.
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Sicht erhoben, und zwar unter verschiedenen Gesichtspunkten. Insbesondere wurde aus der Sicht der konstitutionellen Autonomie der Mitgliedstaaten die „Übertragung von Zuständigkeiten“ seitens der Mitgliedstaaten an die Gemeinschaft bzw. die Union mit gewisser Skepsis betrachtet. Dies kommt auch in der Formulierung zum Ausdruck, die einige Verfassungen in diesem Zusammenhang verwenden. So spricht etwa die belgische Verfassung von einer „Übertragung der Ausübung bestimmter Gewalten“ (Art. 34), die luxemburgische Verfassung von einer „vorübergehenden Übertragung der Ausübung von Befugnissen“ (Art. 49bis) und die spanische Verfassung von einer „Übertragung der Ausübung von Kompetenzen“ (Art. 93). Demgegenüber verwendet die französische Verfassung den Ausdruck einer gemeinsamen Ausübung einiger der Kompetenzen der Mitgliedstaaten (Art. 88 Abs. 1) und die portugiesische Verfassung den ähnlichen Ausdruck der gemeinschaftlichen Ausübung der zur Bildung der Europäischen Union erforderlichen Befugnisse (Art. 7 Abs. 6). In ähnlicher Weise benutzt die griechische Verfassung dafür den Ausdruck „Zuerkennung von Zuständigkeiten“ und „Einschränkung der Ausübung der nationalen Souveränität“ (Art. 28 Abs. 2 und 3), während die italienische Verfassung in diesem Zusammenhang lediglich von „Souveränitätsbeschränkungen“ spricht (Art. 11). Den Begriff „Übertragung“ bzw. „übertragen“ trifft man, auf der anderen Seite, in den Verfassungen von Dänemark (Art. 20), Deutschland (Art. 23 Abs. 1 GG), den Niederlanden (Art. 92) Österreich (Art. 9 Abs. 2) und Schweden (Kapitel X Art. 5). Was die konstitutionelle Autonomie der Mitgliedstaaten angeht, so ist der in Artikel I-1 des Verfassungsentwurfs, der die Gründung der Union betrifft, enthaltene ausdrückliche Hinweis auf die „Übertragung“ von Zuständigkeiten seitens der Mitgliedstaaten an die Union ein bedeutsames Element für die Bestimmung der verbleibenden Autonomie. In Artikel I-1 Abs. 1 des Verfassungsentwurfs heißt es nämlich, dass diese Verfassung die Europäische Union begründet, der die Mitgliedstaaten Zuständigkeiten übertragen haben, während in Artikel I-9 Abs. 2 desselben Entwurfs von Zuständigkeiten die Rede ist, die der Union von den Mitgliedstaaten in der Verfassung zugewiesen werden. Bemerkenswert ist an dieser Stelle, dass in der Fassung des Entwurfs in anderen Sprachen, bewusst oder unbewusst, kein dem deutschen Wort „übertragen“ entsprechender Begriff erscheint. So werden in anderen Sprachen die nachstehenden Termini entsprechend verwendet: z. B. in der englischen Fassung „the Member States confer competences“ und çompetences conferred“, in der französischen Fassung „les États membres confèrent des compétences“ und çompétences attribuées“, in der griechischen Fassung der auf deutsch übersetzte Audruck „die Mitgliedstaaten tragen der Union Zuständigkeiten“ auf und „Zuständigkeiten, die ihr aufgetragen wurden“, in der italienischen Fassung „gli Stati membri conferiscono competenze“ und çompetenze che lo sono conferite“, in der spanischen Fassung „los Estados miembros confieren competencias“ und „las competencias que le atribuyen los Estados miembros“. Nach dem oben Skizzierten könnte die im Verfassungsentwurf vorgesehene „Übertragung“ zu verfassungsrechtlichen Schwierigkeiten für die Ratifikation der
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Europäischen Verfassung seitens einiger Mitgliedstaaten führen bzw. Verfassungsänderungen veranlassen. Man wird dennoch eventuelle verfassungsrechtliche Bedenken gegen die im Vertrag gewählte Formulierung, außer mit der grammatikalischen und teleologischen Auslegung der einschlägigen Vorschriften des Entwurfs, mit dem weiteren Argument ausräumen können, dass der Vertrag als quasi Kompensation zu dieser Souveränitätseinschränkung die bis dahin zum Teil heikle Frage der Zulässigkeit eines Austritts aus den Gemeinschaften zugunsten der nationalen Souveränität gelöst hat. In der Tat kann man die im Verfassungsentwurf zum ersten Mal in der Geschichte der Gemeinschafts- und Unionsverträge vorgesehene Möglichkeit eines freiwilligen Austritts aus der Union als Gegengewicht zu der oben erwähnten, aus der Sicht einiger nationaler Verfassungen nicht unproblematischen, Formulierung der „Übertragung von Zuständigkeiten“ ansehen, und zwar für diejenigen Staaten, deren Verfassungen lediglich eine Übertragung der Ausübung von Zuständigkeiten oder eine Einschränkung der Ausübung der Souveränität, nicht aber eine Übertragung der Zuständigkeiten oder der Souveränität selbst für unbedenklich halten. Gemäß Artikel I-59 des Entwurfs kann jeder Mitgliedstaat gemäß seinen internen Verfassungsvorschriften beschließen, aus der Europäischen Union auszutreten. Der Austritt erfolgt durch ein Abkommen, welches nach Zustimmung des Europäischen Parlaments vom Rat mit qualifizierter Mehrheit im Namen der Union geschlossen wird. Schließlich sollte in diesem Zusammenhang noch erwähnt werden, dass auch hinsichtlich der Änderung des Vertrags über die Verfassung in Artikel IV-7 des Verfassungsentwurfs eine Reihe von Klauseln vorgesehen wird, die aus verfassungsrechtlicher Sicht seitens der Mitgliedstaaten nur positiv bewertet werden können. So besitzt neben dem Europäischen Parlament und der Kommission auch die Regierung eines jeden Mitgliedstaates das Initiativrecht für solche Änderungen und die diesbezüglichen Entwürfe werden den Parlamenten der Mitgliedstaaten mitgeteilt. Außerdem treten, wie bisher, die Änderungen in Kraft, nachdem sie von allen Mitgliedstaaten gemäß ihren verfassungsrechtlichen Vorschriften ratifiziert worden sind. Schließlich gehören dem nunmehr institutionalisierten Konvent zur Prüfung der Änderungsentwürfe und Annahme im Konsensverfahren einer Empfehlung für die Konferenz der Vertreter der Regierungen der Mitgliedstaaten neben den Vertretern des Europäischen Parlaments und der Kommission auch Vertreter der nationalen Parlamente der Mitgliedstaaten an. Alle diese Regelungen enthalten Elemente, die den vielfach in einer Reihe von nationalen Verfassungen für die Europäische Union verlangten Demokratiegrundsatz – so etwa das deutsche Grundgesetz (Art. 23 Abs. 1), die griechische Verfassung (Art. 28 Abs. 3) und die portugiesische Verfassung (Art. 7 Abs. 5) – bekräftigen. bb) Weitere Schranken für die Annahme einer Europäischen Verfassung könnten sich gegebenenfalls in denjenigen Mitgliedstaaten ergeben, die in ihrer Verfassung eine sog. Ewigkeitsgarantie hinsichtlich bestimmter Verfassungsvor10*
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schriften oder -prinzipien vorsehen. Dies ist der Fall außer für Deutschland und Griechenland auch für Frankreich, Italien und Portugal. Während die französische70 und die italienische71 Verfassung lediglich die republikanische Staatsform von einer Verfassungsänderung ausschließen, dürfen eine Reihe von Verfassungsvorschriften und -prinzipien in den anderen drei genannten Mitgliedstaaten nicht Gegenstand einer Verfassungsänderung sein. So erklärt bekanntlich das deutsche Grundgesetz72 eine Änderung für unzulässig, durch welche die Gliederung des Bundes in Länder, die grundsätzliche Mitwirkung der Länder bei der Gesetzgebung oder die in Artikel 1 (Schutz der Menschenwürde) und 20 (Grundsatz des demokratischen und sozialen Bundesstaates; Volkssouveränität und Ausübung der Staatsgewalt vom Volk in Wahlen und Abstimmungen; Gewaltenteilungsprinzip; Bindung der Gesetzgebung an die verfassungsmäßige Ordnung und der vollziehenden Gewalt sowie der Rechtsprechung an Gesetz und Recht; Widerstandsrecht) niedergelegten Grundsätze berührt werden. Auch die griechische Verfassung73 verbietet die Änderung der Bestimmungen über die Staatsgrundlage und die Staatsform als parlamentarische Republik sowie der Bestimmungen der Artikel 2 Absatz 1 (Schutz der Menschenwürde), Artikel 4 Absätze 1 (Gleichheitssatz), 4 (gleicher Zugang zu den öffentlichen Ämtern) und 7 (Verbot der Verleihung und Anerkennung von Adelstiteln oder Rangbezeichnungen für griechische Staatsbürger), Artikel 5 Absätze 1 (Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit) und 3 (Unverletzlichkeit der persönlichen Freiheit), Artikel 13 Absatz 1 (Freiheit des religiösen Gewissens) und Artikel 26 (Gewaltenteilungsprinzip). Schließlich enthält die portugiesische Verfassung74 einen ziemlich breiten Katalog von Verfassungsvorschriften und -prinzipien, die von jeglicher Änderung ausgeschlossen sind. Darunter fallen: die nationale Unabhängigkeit und die Einheit des Staates; die republikanische Regierungsform; die Trennung von Kirche und Staat; die Rechte, Freiheiten und Garantien der Bürger; die Rechte der Arbeiter, der Arbeiterausschüsse und der gewerkschaftlichen Vereinigungen; die Koexistenz von öffentlichem, privatem und genossenschaftlich-sozialem Bereich des Eigentums an den Produktionsmitteln; die Existenz von Wirtschaftsplänen im Rahmen einer gemischten Wirtschaft; die Benennung der wählbaren Organwalter der Hoheitsorgane, der Organe der selbständigen Regionen und der örtlichen Gemeinschaftsgewalt durch allgemeine, unmittelbare, geheime und regelmäßige Wahl sowie das System verhältnismäßiger Repräsentation; der Meinungspluralismus und der Pluralismus der politischen Ordnung, worin die politischen Parteien und das Recht auf demokratische Opposition mit einbegriffen sind; die Teilung und Verschränkung der Gewalten der Hoheitsorgane; die Überwachung der Verfassungsmäßigkeit der Handlungen oder der unterlassenen 70 71 72 73 74
Vgl. Art. 89 in finem. Vgl. Art. 139. Vgl. Art. 79 Abs. 3. Vgl. Art. 110 Abs. 1. Vgl. Art. 288.
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Rechtsnormierungen; die Unabhängigkeit der Gerichte; die Selbständigkeit der örtlichen Selbstverwaltungskörperschaften; die politische und verwaltungsmäßige Selbständigkeit der Inselgruppen Azoren und Madeira. Unter Zugrundelegung des vorliegenden Verfassungsentwurfs wird man allerdings feststellen können, dass auch diese materiellen verfassungsrechtlichen Schranken, die für einige Mitgliedstaaten bestehen, im konkreten Fall unangetastet bleiben.
c) Modalitäten für die Annahme der Europäischen Verfassung Die Frage nach den möglichen Wegen für die Annahme einer Europäischen Verfassung überhaupt hängt zunächst einmal mit dem Inhalt dieser Verfassung zusammen, d. h. ob und in welchem Umfang sie Änderungen im gegenwärtigen Verhältnis von nationalem Verfassungsrecht und Gemeinschafts- bzw. Unionsrecht mit sich bringt, und kann nur von den nationalen Verfassungen oder den mitgliedstaatlichen Verfassungsordnungen beantwortet werden. Das nationale Recht bestimmt, in welcher Weise das Gemeinschafts- bzw. Unionsrecht in die nationale Rechtsordnung eindringt. Unter diesem Blickwinkel können Stimmen in Wissenschaft und Politik, die für eine direkte Adoption der künftigen Europäischen Verfassung durch die Bürger im Wege eines Referendums oder für eine Adoption durch einen Konvent von Repräsentanten hinsichtlich des vorliegenden Verfassungsentwurfs plädierten – Lösungen, die für eine Reihe von Mitgliedstaaten verfassungsrechtlich bedenklich oder sogar unzulässig erschienen oder Verfassungsrevisionen voraussetzten –, nur so interpretiert werden, dass sie diese Wege gegebenenfalls als zusätzliche Verfahren zu den verfassungsrechtlich gebotenen Verfahren vorschlagen. Nach der Vorlage des Verfassungsentwurfs hat sich allerdings die Frage der Modalitäten für die Annahme der Europäischen Verfassung zunächst einmal entschieden. Nunmehr ist in den Allgemeinen und Schlussbestimmungen des Verfassungsentwurfs (Teil IV) mehrfach von einem Vertrag über die Verfassung ausdrücklich die Rede (so in den Artikeln IV-3 bis IV-10). Soweit es die griechische Rechtsordnung angeht, soll demzufolge das in Artikel 28 der Verfassung vorgesehene Ratifikationsverfahren75 angewandt werden. Dieses Verfahren könnte nicht durch ein in der griechischen Verfassung sonst vorgesehenes Referendum76 ersetzt werden, auch wenn man die Annahme der EuropäiAusführlich dazu oben II. A. und II. B. b. in finem. Art. 44 Abs. Verf. 2 lautet: „Der Präsident der Republik kann nach Beschluss der absoluten Mehrheit der Abgeordneten, der auf Vorschlag des Ministerrates gefasst wird, durch Verordnung die Durchführung einer Volksabstimmung über besonders wichtige nationale Fragen anberaumen. Der Präsident der Republik kann durch Verordnung eine Volksabstimmung auch über schon verabschiedete Gesetzesentwürfe zu wichtigen gesellschaftlichen Fra75 76
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schen Verfassung unter den in der einschlägigen Verfassungsvorschrift enthaltenen Begriff von „besonders wichtigen nationalen Fragen“ (Art. 44 Abs. 2 Satz 1) subsumieren könnte. Außerdem ist zu erwähnen, dass im griechischen Schrifttum selbst über die Rechtsverbindlichkeit der Ergebnisse eines Referendums Unklarheit besteht77.
IV. Ausblick – Die vorherigen Ausführungen haben gezeigt, dass in der gegenwärtigen Integrationsphase die Wechselwirkungen zwischen der künftigen Europäischen Verfassung und den nationalen Verfassungen der Mitgliedstaaten aller Voraussicht nach auf dieselbe Weise ablaufen werden, wie es bis jetzt bei den früheren Verträgen der Fall war. Dies ist u. a. damit zu erklären, dass nach dem vorliegenden Verfassungsentwurf keine bahnbrechenden Änderungen zum aktuellen Status quo, insbesondere auf dem Gebiet der Kompetenzen, erfolgt sind. – Außerdem könnte die im Verfassungsentwurf aufrechterhaltene und präziser definierte Verpflichtung der Union, die nationale Identität ihrer Mitgliedstaaten zu achten (Art. I-5 Abs. 1 des Entwurfs), die bereits im Unionsvertrag (Art. 6 Abs. 3) normiert war, m.E. als Gegengewicht zu der der Union innewohnenden und dem Endziel der Vollendung der Integration dienenden Tendenz zur Erweiterung der Kompetenzen der Union angesehen werden.
In Artikel I-5 des Verfassungsentwurfs, der den Titel „Beziehungen zwischen der Union und den Mitgliedstaaten“ trägt, ist nämlich im ersten Absatz festgelegt, dass „die Union die nationale Identität ihrer Mitgliedstaaten achtet, die in deren grundlegender politischer und verfassungsrechtlicher78 Struktur einschließlich der regionalen und kommunalen Selbstverwaltung zum Ausdruck kommt. Sie achtet die grundlegenden Funktionen des Staates79, insbesondere die Wahrung der territorialen Unversehrtheit, die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und den Schutz der inneren Sicherheit“. Hinsichtlich dieser Gewährleistung ist allerdings zu bemerken, dass, selbst wenn diese Bestimmung die nationale Identität näher präzisiert und gleichzeitig einschränkt, der Begriff nationale Identität ein unbestimmter Rechtsbegriff bleibt, der von Staat zu Staat variiert. Es obliegt grundsätzlich dem jeweils betroffenen Staat, die Bestandteile seiner Identität – darunter auch seine verfassungsrechtliche Struktur –, zu definieren und näher zu bestimmen, wobei zu betonen ist, dass er dabei nicht völlig frei ist. Angesichts des Umstandes, gen – außer wenn sie die öffentlichen Finanzen betreffen – anberaumen, falls dies von drei Fünfteln der Gesamtzahl der Abgeordneten auf Vorschlag von zwei Fünfteln . . . beschlossen wurde. . . .“. 77 Ausführlich dazu Julia Iliopoulos-Strangas / E. Prevedourou (Fn. 27), S. 26 f. 78 Hervorhebung durch die Verfasserin. 79 Hervorhebung durch die Verfasserin.
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dass die Bestandteile der nationalen Identität bzw. die Grundwerte, auf denen diese beruht, änderungs- und anpassungsfähig sind und sich im multinationalen und polyzentrischen Rahmen der Union weiter entwickeln, braucht man die nationale Identität andererseits grundsätzlich nicht als ein Hindernis der Vollendung der europäischen Integration zu betrachten.
Die Internationale Weltraumstation Die Rechtsgrundlagen Von Günther Jaenicke Die Internationale Weltraumstation („International Space Station“) ist ein gemeinsames multinationales Weltraumunternehmen, an dem folgende Staaten beteiligt sind: Die Vereinigten Staaten von Amerika, Kanada, die folgenden Mitgliedstaaten der „European Space Agency“(ESA): Belgien, Dänemark, Frankreich, Deutschland, Großbritannien, Italien, Niederlande, Norwegen, Spanien, Schweden und Schweiz, sowie die Russische Föderation und Japan. Rechtliche Grundlage des gemeinsamen Unternehmens ist das Regierungsabkommen der genannten Staaten vom 19. Januar 19981. Durch eine am gleichen Tage getroffene Vereinbarung2 verpflichteten sich die beteiligten Regierungen, das Abkommen, das ratifizierungsbedürftig ist, bis zu seinem Inkrafttreten sofort anzuwenden, soweit eine solche Anwendung mit den innerstaatlichen Gesetzen und sonstigen Rechtsvorschriften ihres Staates vereinbar ist3. Das Regierungsabkommen ist, wie es in seinem Artikel 1 Absatz 1 qualifiziert wird, der „rechtliche Rahmen für eine langfristige internationale Kooperation der Vertragsstaaten auf der Basis einer echten Partnerschaft“ zum Zweck der Planung, des Aufbaues, des Betriebs und der Nutzung einer ständig bewohnten Raumsta1 Text des Abkommens siehe BGBl. 1998, Teil II, S. 2445. Das Abkommen ist auch als Anhang zu dem Aufsatz von K.-F. Nagel über das Abkommen in der Zeitschrift für Luft und Weltraumrecht, Bd. 47 (1998), S. 143 – 149 abgedruckt. Eine gute Übersicht über den Inhalt des Abkommens findet sich ferner bei R. Moenter, Journal of Air Law and Commerce, Bd. 64 (1999), S. 1033 – 1056. 2 Siehe das gleichzeitig mit dem Regierungsabkommen abgeschlossene Arrangement Concerning Application of the Space Station Intergovernmental Agreement Pending its Entry into Force vom 29. Januar 1998. Ziff. 4 dieser Vereinbarung lautet: „The Parties to this Arrangement therefore undertake, to the fullest extent possible consistent with their domestic laws and regulations, to abide by the terms of the Intergovernmental Agreement until it enters into force or becomes operative with respect to each of them.“ 3 Inzwischen ist das Regierungsabkommen von den USA, Kanada, Russland und Japan ratifiziert worden und nach Art. 25 Abs. 2 Unterabs.(a) zwischen diesen Staaten in Kraft getreten. Auf der europäischen Seite fehlen noch die Ratifikationen Frankreichs und Großbritanniens sowie die formale Notifikation des Vorsitzenden des ESA-Rates, so dass das Abkommen nach Art. 25 Abs. 2 Unterabs.(c) im Verhältnis zu den europäischen Staaten noch nicht in Kraft getreten ist (Stand 1. Januar 2003). Damit gilt im Verhältnis zu den europäischen Staaten noch die Vereinbarung über die vorläufige Anwendung des Abkommens mit dem Vorbehalt des Vorrangs des nationalen Rechts.
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tion4. Auf die aus dieser Qualifizierung des Abkommens resultierenden Pflichten der Vertragsstaaten (nachfolgend Partnerstaaten genannt) werden wir noch an späterer Stelle zurückkommen. Das Regierungsabkommen vom 29. Januar 1998 ersetzt ein vorangegangenes, nicht in Kraft getretenes, aber ebenfalls vorläufig angewendetes Regierungsabkommen vom 29. September 1988 zwischen den Vereinigten Staaten, Kanada, Mitgliedstaaten der ESA und Japan, das hauptsächlich wegen des Wunsches nach stärkerer Betonung des partnerschaftlichen Charakters des Projekts und wegen der Beteiligung Russlands an dem Projekt einer teilweisen Neuverhandlung bedurfte. Das Regierungsabkommen wird ergänzt durch umfangreiche, mehr als 50 Druckseiten umfassende detaillierte Durchführungsbestimmungen, die in bilateralen parallelen Übereinkommen („Memoranda of Understanding“) zwischen den mit der Durchführung des Projekts der Weltraumstation betrauten Weltraumbehörden der Partnerstaaten vereinbart worden sind. Wegen der projektführenden und koordinierenden Rolle der National Aeronautics and Space Agency der Vereinigten Staaten von Amerika (NASA) sind vier bilaterale Memoranda jeweils zwischen der NASA einerseits und den Raumfahrtbehörden der übrigen Partnerstaaten andererseits (der Canadian Space Agency, der ESA, der Russian Space Agency und der japanischen Regierung) ausgehandelt und vereinbart worden. Die europäischen Partnerstaaten haben die Durchführung des Abkommens der ESA übertragen; dementsprechend ist ein Memorandum of Understanding zwischen der NASA und der ESA als der für die Durchführung des Abkommens zuständigen europäischen Raumfahrtbehörde ausgehandelt und vereinbart worden (Art. 4 Abs. 1 und 2 des Regierungsabkommens). In diesem Zusammenhang ist anzumerken, dass die europäischen Staaten zwar vollberechtigte Partnerstaaten des Regierungsabkommens sind, dass sie aber in allen Bestimmungen des Abkommens, in denen von „Partnern“ die Rede ist, als ein „kollektiv handelnder“ Partner gelten (Art. 3 [b]). Die Aufspaltung der Durchführungsbestimmungen in vier selbständige bilaterale Memoranda zwischen den mit der Durchführung des Regierungsabkommens beauftragten Raumfahrtbehörden hat den Vorteil, dass Abänderungen oder Anpassungen dieser Durchführungsbestimmungen jeweils direkt zwischen den mit dem konkreten sachlichen Problem befassten Raumfahrtbehörden mit unmittelbarer Wirkung vereinbart und angewendet werden können, ohne auf das sonst übliche förmliche völkerrechtliche Vertragsänderungsverfahren zurückgreifen zu müssen. Die Memoranda of Understanding sind dennoch echte zwischenstaatliche völkerrechtliche Verträge, wenn auch auf niederer Ebene, mit Bindungswirkung zwischen den Vertragsstaaten, vergleichbar mit anderen zwischenstaatlichen Verwaltungsabkommen. 4 Siehe Art. l Abs. l des Regierungsabkommens: „The object of this Agreement is to establish a longterm international cooperative framework among the Partners, on the basis of a genuine partnership, for the detailed design, development, operation, and utilization of a permanently inhabited civil international Space Station for peaceful purposes, in accordance with international law . . .“.
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Die vier Memoranda of Understanding regeln, im Text vielfach übereinstimmend, das Programm und die zeitliche Abfolge des Aufbaues der Station, die nähere Beschreibung der von den Partnern zu leistenden Beiträge, die Organisation des Managements der Station, das Verfahren zur Aufteilung der Nutzungsrechte und weitere technische Einzelheiten zur Durchführung des Regierungsabkommens. Abänderungen und Anpassungen müssen sich im Rahmen der Vorgaben des Regierungsabkommens halten (Art. 4 Abs. 2). Der Inhalt der Memoranda ist mehr technischer als rechtsgrundsätzlicher Natur und kann wegen seines Umfangs hier nicht näher dargestellt werden. Von Interesse ist jedoch die Beschreibung der Aufgaben der Station in Art. 2 Ziff. 2.3. der Memoranda: Durchführung von wissenschaftlichen und technologischen Untersuchungen unter den besonderen Bedingungen der Schwerelosigkeit und des fast perfekten Vakuums des Weltraumes, dauernde Beobachtung der Erde und anderer Himmelskörper aus einer hohen Erdumlaufbahn, Benutzung der Station als Ausgangsbasis für weitere Weltraumflüge5. Wegen des Umfangs und des Gewichts (über 450 t) der projektierten Station ist es nicht möglich, sie auf der Erde als Ganzes zu montieren und mit den vorhandenen Trägersystemen auf eine Erdumlaufbahn zu befördern. Die Station muss in Teilen in den beteiligten Staaten vorgefertigt und, nachdem diese auf die gleiche Erdumlaufbahn befördert worden sind, im Weltraum zusammengebaut werden. Dem Regierungsabkommen ist ein Annex beigefügt, der zum verbindlichen Inhalt des Abkommens gehört und die zentralen Bauelemente aufzählt, die von bestimmten, namentlich genannten Partnern als Beitrag zum Bau der Station zu liefern sind (Art. 1 Abs. 2), wobei, wie bereits oben erwähnt, die kollektiv durch die European Space Agency (ESA) handelnden europäischen Staaten als ein Partner im Sinne des Abkommens behandelt werden (Art. 3[b]) und im Vertragstext als „the European Partner“ oder als „the European Governments“ bezeichnet werden. Das Bauprogramm sieht vor, dass die von den Partnern vorgefertigten Bauelemente, insbesondere die abgeschlossenen Raumkapseln (sog. „Module“ mit Laboreinrichtungen, Aufenthaltsräumen oder sonstigen Servicefunktionen) durch Trägerraketen oder Raumfähren auf eine erdnahe Erdumlaufbahn in etwa 350 – 400 km Höhe6 befördert und dort miteinander verbunden oder eingebaut werden. Ein 5 Art. 2 Ziff. 2.3 lautet wie folgt: „The Space Station will enable its users to take advantage of human ingenuity in connection with its low-gravity environment, the near-perfect vacuum of space and the vantage point for observing the Earth and the rest of the Universe. Specifically, the Space Station and its evolutionary additions could provide for a variety of capabilities, for example: – a laboratory in space, for the conduct of science and applications and the development of new technologies; – a permanent observatory in high-inclination orbit from which to observe Earth, the Solar System and the rest of the Universe; . . .. – a staging base for possible future missions, such as a permanent lunar base, a human mission to Mars, robotic planetary probes, a human mission to survey the asteroids, and a scientific and communications facility in geosynchronous orbit.“
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wichtiger Teil des Bauprogramms ist bereits vollendet worden. Die ersten beiden Module für die Infrastruktur der Station sind am 20. November 1998 vom russischen Cosmodrom Baikonur und am 4. Dezember 1998 vom amerikanischen Startplatz Cape Canaveral erfolgreich gestartet und nach Erreichen der vorgesehenen Erdumlaufbahn miteinander verbunden worden. Ein weiteres Modul mit Servicefunktionen und 3 Astronauten an Bord, die die erste ständige, periodisch auszutauschende Besatzung der Station bilden, ist am 31. Oktober 2000 von Baikonur aus gestartet worden. Damit ist die Weltraumstation, wenn auch im eingeschränkten Maße, funktionsfähig geworden. Eine Crew von 3 Astronauten kann neben ihren laufenden Aufgaben für Betrieb und Unterhalt der Station nur wenig Zeit für die Durchführung von Forschungsaufträgen erübrigen. Der weitere Ausbau der Station durch Hinzufügen weiterer Module mit Laboreinrichtungen und Aufenthaltsräumen für zusätzliche Astronauten, die dann ausschließlich für Forschungsaufgaben einsetzbar wären, ist bereits eingeleitet worden. Die ESA plant nach 2005 den Start einer Ariane 5-Trägerrakete mit dem Modul Çolumbus“, das sich in der Fertigung befindet, vom ESA-Startplatz Kourou (franz. Guyana). Damit wären breitere Forschungsmöglichkeiten auf der Station gegeben7. Zusammenbau, Betrieb und Nutzung der Weltraumstation sind Weltraumaktivitäten, für die die rechtlichen Regelungen der völkerrechtlichen Weltraumverträge maßgebend sind. Art. 2 Abs. 1 des Regierungsabkommens bestätigt dies mit folgender Bestimmung: „The Space Station shall be developed, operated, and utilized in accordance with international law, including the Outer Space Treaty, the Rescue Agreement, the Liability Convention, and the Registration Convention.“
Die Frage, ob die genannten Verträge infolge der großen Zahl der Staaten, die in der Generalversammlung der Vereinten Nationen ihnen zugestimmt und sie anschließend ratifiziert haben, bereits als allgemein geltendes Völkerrecht angesehen werden können oder nur die Staaten binden, die sie auch ratifiziert haben8, kann 6 Die Raumstation verliert auf ihrer erdnahen Umlaufbahn infolge der Abbremsung durch Atmosphärenreste laufend an Höhe. Sie muss deshalb durch Raketenschübe der Raumfähren immer wieder auf die gewünschte Höhe gehoben werden. In Zukunft werden von der ESA entwickelte unbemannte Raumfahrzeuge (Automated Transfer Vehicles) diese Aufgabe übernehmen. Diese werden, mit Versorgungsgütern beladen, periodisch (in 1 1 / 2 -jährigen Abständen) durch Ariane-Trägerraketen der ESA zur Raumstation befördert, dort die Station immer wieder auf die gewünschte Höhe hochheben und nach Erfüllung dieser Aufgabe, mit Abfall der Station beladen, auf die Erde zurückfallen und beim Eintritt in die dichtere Atmosphäre verglühen. 7 Der gegenwärtige Stand des Ausbaues der Station und die weitere Planung sind dem ESA-Bulletin Nr. 107 (August 2001) zu entnehmen. 8 Der Weltraumvertrag (Treaty an Principles Governing the Activities of States in the Exploration and Use of Outer Space) vom 27. Januar 1967 (Text siehe BGBl. 1969, Teil II, S. 1969) ist von 64 Staaten ratifiziert worden, darunter von allen Signatarstaaten des Regierungsabkommens.
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hier auf sich beruhen bleiben. Jedenfalls haben die Unterzeichnerstaaten, unabhängig von der Ratifizierung der Verträge, mit diesem Artikel des Regierungsabkommens die Geltung dieser Verträge für das Projekt der Weltraumstation anerkannt. Auf die Rechtsfolgen, die sich aus diesen Verträgen für Bau, Betrieb und Nutzung der Weltraumstation ergeben, soll im Folgenden näher eingegangen werden. Ein Staat, der den Start eines Gegenstandes in den Weltraum durchführt oder veranlasst, übernimmt für einen solchen Gegenstand („space object“ in der Definition der Weltraumverträge) die Verantwortung während seines gesamten Fluges im Weltraum. Er muss dieses „space object“ nach den Bestimmungen der Registrierungskonvention9 registrieren, womit die Staatszugehörigkeit des registrierten „space object“ dokumentiert wird. Der Staat behält während des gesamten Fluges des von ihm registrierten „space object“ im Weltraum, was besonders hervorzuheben ist, die Hoheitsgewalt und Kontrolle („jurisdiction and control“) über dieses „space object“ und dessen gesamte Besatzung (Art. VIII Satz 1 des Weltraumvertrages) und haftet für etwaige von diesem verursachte Schäden (Art. VII des Weltraumvertrages) nach den Modalitäten der dazu abgeschlossenen Haftungskonvention10. Soweit Starts von der European Space Agency (ESA) im Auftrage und im Namen der kollektiv handelnden europäischen Partnerstaaten von der ESA durchgeführt oder veranlasst worden sind, würde dies entsprechend gelten. Die Haftung für Schäden, die Personen oder Sachen auf der Erde zugefügt worden sind, einschließlich von Schäden an Luftfahrzeugen (etwa durch Fehlstarts oder auf die Erde zurückfallende Teile), ist eine absolute, die nicht den Nachweis eines Verschuldens voraussetzt (Art. 2 der Haftungskonvention); für Schäden, die dem „space object“ eines anderen Staates oder Personen oder Sachen an Bord eines solchen „space object“ zugefügt worden sind, tritt die Haftung des Startstaates nur ein, wenn dem für das „space object“ verantwortlichen Staat oder Personen, für die er verantwortlich ist, ein Verschulden nachgewiesen werden kann (Art. 3 der Haftungskonvention). Im Falle der Internationalen Weltraumstation stellt sich die Frage, welche Rechtsfolgen sich daraus für die zunächst als selbständige „space objects“ gestarteten Bauelemente der Station infolge ihres Zusammenbaues im Weltraum ergeben. Es läge nahe, nunmehr die Station als gemeinsames „space object“ der Partnerstaaten anzusehen, obwohl dies mit dem Wortlaut der Weltraumverträge, die an den Start von der Erde und die zugehörige Registrierung anknüpfen, eine ausdehnende, wenn auch durchaus vertretbare Interpretation der Weltraumverträge erfordern würde. Das Regierungsabkommen vom 29. Januar 1998 löst dieses Problem jedoch auf andere Weise. Art. 5 Abs. 1 Satz 1 des Abkommens bestimmt, dass jeder Partner9 Text der Registrierungskonvention (Convention an Registration of Objects Launched into Outer Space) vom 14. Januar 1975 siehe BGBl. 1979, Teil II, S. 651 ff. 10 Text der Haftungskonvention (Convention an International Liability for Damage Caused by Space Objects) vom 29. März 1972 siehe BGBl. 1975, Teil II, S. 1210.
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staat des Abkommens die Bauelemente, mit denen er zum Bau der Internationalen Raumstation beiträgt, als sein „space object“ registrieren muss; im Falle der europäischen Partnerstaaten stellt Art. 5 Abs. 1 Satz 2 klar, dass sie der ESA die Verpflichtung übertragen haben, die Registrierung für sie und in ihrem Namen vorzunehmen. Die entscheidende Folgerung aus dieser Registrierung findet sich dann in Art. 5 Abs. 2: Danach behält jeder Partner des Abkommens die ihm nach Art. VIII des Weltraumvertrages zustehende staatliche Hoheitsgewalt und Kontrolle über die Bauelemente oder Module, deren Starts er registriert hat, ungeachtet ihres Einbaues in die Weltraumstation und er behält außerdem in und auf der Weltraumstation die Hoheitsgewalt (Personalhoheit) über das Personal, die seine Staatsangehörigen sind11. Daraus ergibt sich, dass die staatliche Hoheitsgewalt und Kontrolle der einzelnen Partnerstaaten über die von ihnen gelieferten und registrierten Module und sonstigen Bauelemente durch ihren Einbau in die Weltraumstation nicht berührt wird. Das wird insbesondere praktisch bei den Modulen, die Labor- und Aufenthaltsräume enthalten; sie unterliegen jeweils der Hoheitsgewalt und Kontrolle des Staates, der mit diesem Modul zum Bau der Station beigetragen und dieses Modul als sein „space object“ zur Registrierung angemeldet hat. Die Verbindung der Bauelemente führt also nicht dazu, dass die Weltraumstation dadurch rechtlich zu einem neuen gemeinsamen „space object“ der Partnerstaaten wird. Nach dem gleichen Prinzip führt die Verbindung der Bauelemente zu einer „integrierten“ Weltraumstation nicht zu einer Änderung der Eigentumsverhältnisse an den von den Partnerstaaten gelieferten und registrierten Bauelementen, Modulen und sonstigen Ausrüstungen und Geräten. Nach Art. VIII Satz 2 des Weltraumvertrages wird das Eigentum an Gegenständen, die in den Weltraum befördert worden sind, durch ihren Aufenthalt im Weltraum nicht berührt. Art. 6 Abs. 1 des Regierungsabkommens verlangt, dass jeder Partnerstaat Eigentümer der von ihm gelieferten Bauelemente sein muss, ungeachtet ihres Zusammenbaues oder ihrer Verbindung mit anderen Teilen der Weltraumstation. Das hat zur Folge, dass die von einem Partnerstaat zum Einbau in die Station vorgesehenen Bauelemente vor ihrem Einbau in das volle Eigentum des betreffenden Partnerstaates gelangt sein müssen; es wäre deshalb nicht zulässig, den an der Fertigung der Bauelemente beteiligten privaten Firmen Eigentumsvorbehalte zur Sicherung ihrer finanziellen Ansprüche aus der Herstellung der Bauelemente einzuräumen. Art. 6 Abs. 4 verbietet eine Eigentumsübertragung an dritte Staaten oder private Eigentümer ohne vorherige Zustimmung aller Partnerstaaten. Das Gleiche gilt für die von der ESA gelieferten Bauelemente; die ESA übt in diesem Falle die Eigentumsrechte für und im Namen der europäischen Partnerstaaten aus (Art. 6 Abs. 2). Ebenso wird das Eigentum an Material und Gerät, das ein Nutzer der Station für seine Forschungs11 Art. 2 Abs. 2 Satz 1 lautet: „Pursuant to Article VIII of the Outer Space Treaty and Article II of the Registration Convention, each Partner shall retain jurisdiction and control over the elements it registers in accordance with paragraph 1 above and over personnel in and on the Space Station who are its nationals“.
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zwecke mitführt oder bereitstellt, durch den Aufenthalt auf der Station nicht berührt (Art. 6 Abs. 5). Art. 21 des Regierungsabkommens regelt die rechtliche Behandlung der durch eine Tätigkeit auf der Weltraumstation erworbenen intellektuellen Eigentumsrechte. Hierunter fallen aufgrund der ausdrücklichen Verweisung (Art. 21 Abs. 1) auf Art. 2 des Grundvertrages der World Intellectual Property Organization von 1967 alle dort aufgezählten intellektuellen Schutzrechte (Patente, Markenrechte, Urheberrechte und sonstige Erfinderrechte). In Übereinstimmung mit dem Prinzip der Erstreckung der staatlichen Hoheitsgewalt und Kontrolle über die von einem Partnerstaat gelieferten und registrierten Module oder sonstigen Bauelemente, bestimmt Art. 21 Abs. 2, dass eine Tätigkeit, auf deren Grundlage ein intellektuelles Schutzrecht beansprucht wird, als im Territorium des Staates geschehen anzusehen ist, der das betreffende Modul oder sonstige Bauelement bereitgestellt und registriert hat. Das hat zur Folge, dass die Erteilung solcher Schutzrechte und ihre Schutzwirkung sich insoweit nach dem Recht dieses Partnerstaates bestimmt. Speziell für intellektuelle Eigentumsrechte, die aufgrund einer Tätigkeit in einem von der ESA registrierten Modul oder Bauelement beansprucht werden gilt, dass dafür Schutzrechte in jedem europäischen Partnerstaat erteilt werden können und erteilte Schutzrechte und Lizenzen in jedem europäischen Partnerstaat geltend gemacht werden können (Art. 21 Absätze 4 und 5). Eine Sonderregelung gilt nach Art. 22 des Regierungsabkommens für die strafrechtliche Jurisdiktion über die Personen, die sich auf der Station aufhalten. In Abweichung von der in Art. 5 Abs. 2 des Abkommens festgelegten Zuordnung der staatlichen Hoheitsgewalt und Kontrolle über die einzelnen Teile der Weltraumstation verbleibt den Partnerstaaten die strafrechtliche Jurisdiktionsgewalt über ihre eigenen Staatsangehörigen in allen Teilen der Station (Art. 22 Abs. 1). Soweit jedoch strafbare Handlungen Leben und Sicherheit von Staatsangehörigen eines anderen Partnerstaates bedroht haben oder Schäden an anderen Teilen der Station angerichtet haben, kann der davon betroffene andere Partnerstaat die Straftat verfolgen, sofern der aufgrund seiner Personalhoheit zuständige Partnerstaat der Strafverfolgung zustimmt oder keine hinreichende Garantie bietet, dass seine strafgerichtlichen Behörden die strafrechtliche Verfolgung seines Staatsangehörigen aufnehmen werden (Art. 22 Abs. 2). Auch die Auslieferung des Täters kann vom Partnerstaat verlangt werden, sofern die Auslieferung nach dem Recht des ersuchten Staates zulässig ist (Art. 22 Abs. 3). Die Vergabe von Nutzungsrechten an den Einrichtungen der Weltraumstation ist in Art. 9 des Regierungsabkommens geregelt. Das Recht der Partnerstaaten zur Vergabe von Nutzungsrechten, vor allem von Forschungsplätzen, ist von dem Anteil der von ihnen gelieferten, der Nutzung dienenden Bauelementen (z. B. der Module mit Forschungslaboratorien) und von ihrem Beitrag zur sonstigen Infrastruktur der Weltraumstation abhängig. Jeder einzelne Partnerstaat (oder die ESA für die europäischen Partnerstaaten) hat zunächst das vorrangige Recht, Plätze für For-
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schungsprogramme in den von ihm gelieferten Modulen zu vergeben; ein prozentualer Anteil der vorhandenen Plätze bleibt jedoch den anderen Partnerstaaten vorbehalten, die Beiträge zur Infrastruktur der Weltraumstation geleistet haben (Art. 9 Abs. l). Das Verfahren zur Verteilung der Nutzungsanteile ist in den Memoranda of Understanding geregelt. Nutzungsrechte können mit anderen Partnerstaaten getauscht oder an sie verkauft werden (Art. 9 Abs. 2). An Nichtpartnerstaaten oder an Private, die unter der Jurisdiktion solcher Staaten stehen, dürfen Nutzungsrechte nur mit einstimmiger Zustimmung aller Partnerstaaten vergeben werden (Art. 9 Abs. 3). Der Grundsatz, dass Forschungsplätze nur an Partnerstaaten oder deren Staatsangehörige vergeben werden dürfen, wirft die Frage auf, ob diese Regelung mit den in den Artikeln X und XI des Weltraumvertrages angesprochenen Pflichten der Staaten zur Förderung der internationalen Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Raumfahrt vereinbar ist und / oder ob daraus Ansprüche von Nichtpartnerstaaten auf Zugang zu den Forschungseinrichtungen der Weltraumstation hergeleitet werden könnten. Eine so weitgehende Teilhabe an der wissenschaftlichen und kommerziellen Nutzung der Weltraumstation ohne gleichzeitige Beteiligung an den Kosten der Station ist jedoch zu verneinen12. Das Regierungsabkommen sieht die Möglichkeit eines Beitritts weiterer Staaten (ausgenommen weiterer Mitgliedstaaten der ESA) nicht vor. Dennoch wird dritten Staaten, die über die notwendigen finanziellen und technischen Ressourcen verfügen, um einen effektiven Beitrag zur Weltraumstation leisten zu können, ein Wunsch nach einem Beitritt zu dem Abkommen, der eine angemessene Beteiligung an den Kosten für den Bau und den Unterhalt der Station einschließen würde, nicht a limine abgelehnt werden können. Ein Anspruch jedoch auf freien Zugang zu den Forschungsplätzen der Weltraumstation würde im Hinblick auf den dafür von den Partnerstaaten des Abkommens geleisteten Aufwand außer Verhältnis stehen und über die Verpflichtung zur Förderung der internationalen Zusammenarbeit hinausgehen. Das Nebeneinander mehrerer nationaler Hoheitsgewalten in und auf der Weltraumstation, das zu Friktionen bei der Verwaltung der Station führen könnte, wird durch die aus dem Partnerschaftsverhältnis der beteiligten Staaten folgende Pflicht zur Kooperation überbrückt. Die Pflicht zur Kooperation wird in zahlreichen Bestimmungen des Regierungsabkommens und der Memoranda of Understanding konkretisiert. Art. 4 des Regierungsabkommens bezeichnet die mit der Durchführung des Abkommens beauftragten nationalen Raumfahrtbehörden und die ESA als çooperating agencies“ und impliziert damit eine allgemeine Pflicht dieser Raumfahrtbehörden zur Kooperation bei der Durchführung des Abkommens. Die in Art. 4 genannten Raumfahrtbehörden sind „verantwortlich“ für die Durchführung der 12 Zur Auslegung der Art. X und XI des Weltraumvertrages, siehe Wolfrum, Die Internationalisierung staatsfreier Räume (1984), S. 270 – 295.
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„Space Station cooperation“ gemäß den Bestimmungen des Regierungsabkommens und der Memoranda of Understanding. In diesen Abkommen werden insbesondere bei der Verwaltung (Management) der Station die Formen der Kooperation näher konkretisiert. Nach Art. 7 des Regierungsabkommens soll das Management der Station auf multilateraler Basis durch Bildung spezieller kollegialer Organe organisiert werden, die den Bau und den sicheren, effektiven und wirkungsvollen Betrieb der Station planen und koordinieren sollen, wobei Entscheidungen grundsätzlich im Konsens getroffen werden. Die NASA der Vereinigten Staaten ist für das Gesamtmanagement der Station und seine Koordinierung zuständig (Art. 7 Abs. 2). Die nationalen Raumfahrtbehörden (bzw. die ESA) sind zwar für den Betrieb ihrer Module und das Management ihrer Forschungsprogramme selbst verantwortlich, sollen aber die NASA bei der übergeordneten Planung und Koordinierung eines „integrierten“ Betriebs der Station unterstützen (Art. 7 Abs. 3). Bei der Entwicklung und näheren Ausgestaltung der Bauelemente, deren Planung in die Zuständigkeit der einzelnen Partner fällt, sollen sich die Partner miteinander abstimmen (Art. 8). Das Verfahren für die Koordinierung der Pläne für einen späteren weiteren Ausbau der Weltraumstation über das derzeitige Bauprogramm hinaus ist in den Memoranda of Understanding geregelt (Art. 14 Abs. 3). Die kürzlich aufgetretenen Schwierigkeiten der Vereinigten Staaten, die haushaltsmäßige Finanzierung ihrer zugesagten Beiträge zum Bau der Weltraumstation sicherzustellen, und die damit begründeten Vorschläge, das Bauprogramm einzuschränken, wirft die Frage nach dem Grad der Verbindlichkeit der programmatischen Festlegungen des Abkommens auf. Dies soll nachfolgend näher untersucht werden. Das Regierungsabkommen vom 29. Januar 1998 ist ein völkerrechtlicher Vertrag, aus dessen Festlegungen für einen Partnerstaat völkerrechtliche Pflichten gegenüber den anderen Partnern des Abkommens entstehen können. Allerdings ist zunächst darauf hinzuweisen, dass das Abkommen nach Art. 25 Abs. 3 im Verhältnis zu den europäischen Partnerstaaten noch nicht in Kraft getreten ist13 und insoweit infolge der lediglich vorläufigen Anwendung des Abkommens noch der Vorbehalt des nationalen Haushaltsrechts gilt. Aber auch nachdem das Abkommen im Verhältnis zu den europäischen Staaten in Kraft getreten sein wird, bleibt zu untersuchen, inwieweit sich aus dem Regierungsabkommen überhaupt rechtliche Pflichten der Partnerstaaten zur Lieferung der zugesagten Beiträge ergeben. Eine eindeutige Verpflichtung der Partnerstaaten, die im Bauprogramm vorgesehenen Beiträge bis zu einem bestimmten Zeitpunkt oder innerhalb einer bestimmten Frist zu liefern, ergibt sich aus dem Abkommen nicht. Ein Ausfall der Transportsysteme, wie zum Beispiel durch den Fehlstart der Ariane 5 ECA der ESA am 11. Dezember 2002 oder durch die Katastrophe der US-Raumfähre Columbia am 13
Siehe oben Fn. 3.
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l. Februar 2003, kann unvermeidbare, von den Partnerstaaten nicht zu vertretende Verzögerungen bei der Durchführung des Bauprogramms zur Folge haben. Die im Annex zum Abkommen von den einzelnen Partnern zu leistenden Beiträge zum Bau der Weltraumstation sind allerdings wiederum eindeutig und konkret verpflichtend formuliert („The Government of . . . shall provide . . .“). Art. 1 des Abkommens definiert den Zweck des Vorhabens als ein „international cooperative framework among the Partners an the basis of a genuine partnership“ und bezeichnet den Inhalt des Abkommens als eine Definition der Natur dieser Partnerschaft, einschließlich der damit verbundenen Rechte und Pflichten der Partner. Aus diesen Formulierungen des Abkommens muss man wohl entnehmen, dass die Partnerstaaten mit dem Abkommen eine rechtlich bindende Verpflichtung zum Zusammenwirken beim Aufbau und Betrieb der Internationalen Weltraumstation begründen wollten. Entscheidend für die hier zu behandelnde Frage ist jedoch, dass die Leistungen der einzelnen Partner nicht an einen verbindlichen Zeithorizont für ihre jeweiligen, im Annex zum Abkommen und in den Memoranda of Understanding näher spezifizierten Beitragsleistungen gebunden sind. Noch deutlicher wird dies unterstrichen durch Art. 15 des Regierungsabkommens, der die Bereitstellung der erforderlichen Finanzmittel für Bau und Betrieb der Internationalen Raumstation betrifft. Nach Art. 15 Abs. 1 ist zwar jeder Partnerstaat grundsätzlich zur Bereitstellung der erforderlichen Haushaltsmittel verpflichtet, nach Abs. 2 steht diese Verpflichtung jedoch unter dem Vorbehalt der nationalen haushaltsmäßigen Zuweisungsverfahren und dem Vorhandensein zugewiesener Haushaltsmittel; angesichts der Wichtigkeit des Vorhabens zum Bau und Betrieb der Internationalen Weltraumstation verspricht jedoch die Regierung jedes Partnerstaates, alle Anstrengungen zu unternehmen, die Zuweisung der notwendigen Haushaltsmittel zur Erfüllung ihrer Verpflichtungen zu erreichen („to use its best efforts to obtain approval for funds“). Sollte dies nicht gelingen, so ist lediglich ein Konsultationsverfahren zwischen den Partnerstaaten vorgeschrieben (Art. 15 Abs. 3). Es wäre bedauerlich, wenn der nach den bisherigen Plänen vereinbarte Ausbau der Weltraumstation eingeschränkt oder gestoppt werden sollte. Die Bereitstellung einer höheren Anzahl von Forschungsplätzen ist schon deshalb notwendig, um den bisherigen Aufwand an finanziellen Mitteln für den Bau und die Unterhaltung der Weltraumstation zu rechtfertigen. Im übrigen wird es von der Haushaltssituation der Partnerstaaten und vom Stellenwert der Weltraumforschung in der Prioritätenskala der Forschungsförderung der Partnerstaaten abhängen, ob und wann der programmierte weitere Ausbau der Weltraumstation vollendet werden wird, um einen den Aufwand rechtfertigenden Umfang von Forschungsmöglichkeiten auf der Weltraumstation zu eröffnen. Sollte es bei den Konsultationen über dieses Thema zu Meinungsverschiedenheiten zwischen den Partnerstaaten über die Erfüllung der sich aus dem Programm des Regierungsabkommens ergebenden Verpflichtungen kommen, so sieht Art. 23 des Regierungsabkommens lediglich eine Verpflichtung zur Fortsetzung der Konsultationen vor; eine obligatorische gerichtliche Streiterle-
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digung ist nicht vorgesehen. Art. 23 Abs. 4 sieht zwar vor, dass bei einem Scheitern der Konsultationen die Parteien sich einer zwischen ihnen zu vereinbarenden Form der Streitregelung (çonciliation, mediation, or arbitration“) unterwerfen können; eine Verpflichtung, das schiedsgerichtliche Verfahren zu wählen, besteht jedoch nicht.
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Kommunale Kulturvielfalt ist schön! Und wer bezahlt sie? Von Ulrich Karpen
I. Kultur als kommunale und staatliche Aufgabe 1. Bei aller Bedeutung der großen „Leuchttürme“ der Kultur – Staatstheater, Museen, Festspiele – war die Förderung der Kultur in Deutschland weitgehend staatsfrei und ist es geblieben. Das macht die in der Welt immer noch unvergleichliche Vielfalt, Diversifizierung, Flexibilität, auch kreative Dynamik der deutschen Kultur aus. Jedenfalls soweit es die „Schöne Kultur“ angeht – also nicht Schulen, Hochschulen, Wissenschaft – beschränkt der Staat sich weitgehend darauf, Kultur dadurch zu „pflegen“, dass er den kulturellen Freiraum garantiert, die gesetzlichen Rahmenbedingungen schafft, die Selbstverwaltungsgarantie des Art. 28 Abs. 2 GG1 beachtet, verwaltungsrechtlich geeignete Organisationsformen bereithält und Fördermittel zur Verfügung stellt. Die Kulturpflege variiert von Gemeinde zu Gemeinde nicht nur nach relativ festen Größen wie Einwohnerzahl, Finanzkraft, geographische Lage und Tradition, sondern auch nach dem jeweiligen kulturpolitischen Konzept der zuständigen Gemeindeorgane. Das Profil von Kunst und Kultur in der Stadt und in der Gemeinde wird zugleich als Ausdruck der kommunalen Selbstdarstellung eingeschätzt und im zwischenkommunalen Wettbewerb um Reputation, Bürger und Standortentscheidungen zur Geltung gebracht. Selbstverwaltung im Kulturbereich und in der örtlichen Gemeinschaft sind gekennzeichnet durch Basisnähe, Flexibilität, Sachnähe, Vielfalt der Themenstellungen, Dezentralisation usw.2
1 Steiner, Kulturpflege, in: Isensee / Kirchhof (Hrsg.) HdbStR Bd. III, 1988, S. 1235 (1252); E. Pappermann, Grundzüge des kommunalen Kulturverfassungsrechts, DVBl. 1980, S. 701; B. Wiegand, Das Gesetz über Kulturräume in Sachsen, LKV 1994, S. 205 f. 2 P. Ditges, Rechtsprobleme kommunaler Kulturarbeit, Diss., Würzburg, 1986, S. 29; B. Wiegand (Fn. 1), S. 205 f.; E. Pappermann, in: ders. / P. M. Mombaur-J. Th. Blank, Kulturarbeit in der kommunalen Praxis, Köln 1984, S. 11; BVerfGE 83, 363 (382) (Krankenhausfinanzierung), A. Gern, Sächsisches Kommunalrecht, 1994, Rn. 189; „Kultur vor Ort als Problem kommunaler Politik und Verwaltung“, in: E. Pankoke, Kulturtheorien und Kommunalwissenschaft, in: J. J. Hesse (Hrsg.), Kommunalwissenschaften in der BRD, Baden-Baden 1989, S. 414; H. Treinen, Kulturwissenschaften und Stadtforschung: Räumliche Identität aus kulturökologischer Sicht, S. 429 ff. (436): Zur Bedeutung von Images.
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Auch die Landkreise haben als Gemeindeverbände im Rahmen ihres gesetzlichen Aufgabenbereiches nach Maßgabe des Gesetzes das Recht der Selbstverwaltung (Art. 28 Abs. 2 Satz 2 GG). Dazu gehört auch die überörtliche Kulturpflege.3 Sie ist eine kreisintegrale Aufgabe4, die sich aus dem Kreisgebiet als einheitlichem Ganzen ergibt. Es gilt die Faustregel: Überörtlichkeit ist um so eher anzunehmen, je kleiner im Durchschnitt die Gemeinden sind. Die Kulturpolitik im Landkreis ist von besonderen Faktoren und Maßstäben geprägt. Anders als in der Stadt ist ihre Ausgestaltung nicht so sehr auf „Kulturkonsum“ ausgerichtet. Kultur in ländlichen Raum wird von jeher von den Bürgern aktiv mitgestaltet; persönliche Initiativen und persönliche Aktivitäten sind ihre Grundelemente. Gute Kulturpolitik in der Fläche kann den Vorwurf, dass „wahre Kultur“ nur dort zu finden sei, wo anspruchsvolle Theater, Konzerte, bedeutsame Ausstellungen und andere Leistungen von hohem Rang angeboten werden, leicht entkräften.5 2. Zur bürgernahen Kulturpolitik der Gemeinden und Landkreise, die ein Herzstück des deutschen Kulturföderalismus6 mit dem typischen selbstverwaltungsrechtlichen Einschlag ist, gehören auch Zweckverbände, die Gemeinden und Landkreise als Träger kommunaler Kultur bei der Erfüllung ihrer Aufgaben von regionaler Bedeutung unterstützen. Dazu gehören etwa die sächsischen Kulturräume nach dem Kulturraumgesetz (KRG) vom 20. Januar 19947. Einrichtungen von regionaler Bedeutung sind außer Musikschulen solche8, die für das Selbstverständnis und die Tradition der Region von spezifischem historisch begründeten Wert sind, einen besonderen Stellenwert oder Modellcharakter haben oder sich durch besondere künstlerisch-asthetische oder wissenschaftliche Innovationskraft besitzen. Die Kulturräume sind Zweckverbände der Landkreise9 und einiger kreisfreier Städte nach dem Sächsischen Gesetz über kommunale Zusammenarbeit10. Organe dieser Kulturräume sind der Kulturkonvent, dem die Landräte und Oberbürgermeister und von den Kreistagen bzw. Stadträten gewählte Vgl. § 2 I 2 SächsLKO. H.-G. Hennecke, Kreisrecht in den Ländern der BRD, 1994, S. 29. 5 Empfehlungen des Deutschen Landkreistages zur Kulturarbeit der Kreise, Der Landkreis 8 / 9 – 1984, S. 365; s.auch Th. Strittmatter, Kulturelle Funktionen der Kreise in Ost- und Westdeutschland, Der Landkreis, 1994, S. 107 f. 6 P. Häberle, Provinziell ist nur der Bundeskulturminister, FAZ vom 31. August 2002, S. 36. 7 GVBl S. 175; es tritt nach seinem § 10 am 31. Juli 2004 ausser Kraft; der Gesetzentwurf der Landesregierung zur (unbefristeten) Verlängerung ist am 9. April 2002 in den Landtag eingebracht worden (Dr 3 / 6203). Zu denken ist hier aber auch an die bayerischen Bezirke, dazu H. Maier, Die kulturelle Situation in Bayern unter besonderer Berücksichtigung der Leistungen der Bezirke, in: Die Bezirke, Träger der landschaftlichen Kulturpflege, Verband der Bayerischen Bezirke, 3. ordentliche Verbandsversammlung, Bamberg 1982. 8 § 3 III KRG. 9 Die kreisfreien Städte Chemnitz, Leipzig und Dresden sind urbane (im Unterschied zu den ländlichen) Kulturräume und veränderter Organisation. 10 SächsKomZG vom 19. August 1993 (GVBl S. 815). 3 4
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Vertreter angehören, ferner der geschäftsführende Konventsvorsitzende und ein Kulturbeirat. 3. Staatlich sind nur solche Aufgaben, die gerade wegen ihrer überörtlichen Aspekte staatlich geregelt und vom Staat und nach staatlicher Weisung überörtlich betrieben werden11. Der Frage, ob aus Art. 5 Abs. 3 GG eine Verpflichtung zu staatlicher Kulturförderung zu entnehmen ist, braucht angesichts expliziter landesverfassungsrechtlicher Bestimmungen – wie Art. 11 SächsVerf. – sowie Art. 35 Einigungsvertrag und XII Abschnitt 151 EG-Vertrag nicht entschieden zu werden12. In der bundesstaatlichen Kompetenzordnung liegt die Kulturhoheit bei den Ländern (Art. 30, 70, 83 GG; Art. 35 Abs. 3 EV; Art. 11 SächsVerf.). Der Staat ist nicht darauf beschränkt, kulturelle Einrichtungen von überregionaler Bedeutung zu fördern. Die Zuständigkeit des Landes umfasst vielmehr auch Einrichtungen, in denen sich der Gesamtstaat repräsentiert13. Der Kulturauftrag des Staates ist eine Staatszielbestimmung. Der Staat muss Kultur nach Maßgabe seiner (finanziellen) Kräfte fördern. Die politische Planung muss Kultur mit einbeziehen. Im übrigen muss der Staat sein Ermessen in der Kulturförderung pflichtgemäß betätigen. 4. Zu den rahmensetzenden Kulturförderungsaufgaben des Staates gehört es auch, die gemeindliche Selbstverwaltung, bei der der größere Teil der „Kulturhoheit“ liegt, näher auszugestalten14. Das Sächsische Kulturraumgesetz, das den weiteren Überlegungen zugrundegelegt werden soll, tut das in der Weise, dass die bislang freiwillige Kulturpflegeaufgabe zur Pflichtaufgabe erklärt15 und die kulturellen Angelegenheiten von regionaler Bedeutung, welche bisher im Rahmen der Kulturpflege von Gemeinden und Landkreisen allein wahrgenommen wurden, nunmehr unter Teilfinanzierung durch die „Kulturräume“ erfüllt werden16. Das wirft die beiden Fragen auf, ob dieser Eingriff mit der Selbstverwaltungsgarantie des Art. 28 Abs. 2 GG, Art. 82 Abs. 3 SächsVerf. in Übereinstimmung zu bringen ist (II) und ob Gemeinden und Landkreise für die Wahrnehmung der neuen Pflichtaufgabe finanziell angemessen ausgestattet werden (III).
BVerfGE 83, 363 (368) (Krankenhausfinanzierung). B. Geissler, Staatliche Kunstförderung nach GG und Recht der EG, 1995, S. 34, 57; Ch. Degenhart, Denkmalschutz und Eigentum in den neuen Bundesländern, in: FS Wolfgang Gitter, 1995, S. 195 ff. (197). 13 U. Steiner, Kulturpflege (Fn. 1), S. 1248; M. Heintzen, Erziehung, Wissenschaft, Kultur, Sport, in: Isensee / Kirchhof (Hrsg.), HdbStR, Bd. IX, 1997, S. 799 (838); J. Isensee, Chancen und Grenzen der Landesverfassung im Bundesstaat, in: SächsVerwBl 1994, S. 28. 14 Ditges,(Fn. 2) passim; B. Wiegand (Fn. 1), S. 205 f. 15 § 2 Abs. 1 KRG. 16 § 2 Abs. 2, 3 KRG. 11 12
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II. Kultur als Pflichtaufgabe eines kommunalen Zweckverbandes 1. Grundsätzlich ist anerkannt, dass die Selbstverwaltungshoheit der Kommunen einschränkbar ist.17 Soweit es die Pflichtigmachung und Teilfinanzierung durch einen Zweckverband angeht, müssen für eine verfassungsmäßige Einschränkung folgende Voraussetzungen erfüllt sein: – die Einschränkung muss durch den zuständigen Gesetzgeber erfolgen; – es muss eine bestimmte Aufgabe übertragen werden; – die Eingriffe müssen im Interesse des Gemeinwohls geboten sein; – die Eingriffe müssen verhältnismäßig sein; – bei der Anhebung von Aufgaben auf eine höhere Ebene muss insbesondere das Subsidiaritätsprinzip Beachtung finden; – der Kern der Selbstverwaltungsgarantie muss unangetastet bleiben; – schließlich ist zu beachten, dass der Gesetzgeber eine Einschätzungsprärogative hat, welche eine reduzierte gerichtliche Kontrollkompetenz zur Folge hat, die sich letztlich auf eine Vertretbarkeitskontrolle beschränkt18.
2. Diese Voraussetzungen sind im Falle des SächsKRG erfüllt. Der zuständige Gesetzgeber, der Sächsische Landtag19, hat eine „bestimmte“ Aufgabe zur Pflichtaufgabe gemacht und ihre Teilfinanzierung auf einer höheren Ebene angeordnet, eben die Förderung regional bedeutsamer Kultur in der Definition des § 3 Abs. 3 KRG20. Gemeinwohlorientierung der staatlichen, der gemeindlichen, auch jeder anderen öffentlichen Tätigkeit heißt, dass die Aufgabenerfüllung das Wohl des ganzen Staatsvolkes, Landesvolkes, aller Gemeindebürger usw. im Auge haben soll, m.a.W. gerecht, fair sein, dem gemeinen Besten dienen soll. Auf der nächsten Stufe der Konkretisierung ist das Gemeinwohl als Ziel der jeweiligen Aufgabe zu bestimmen: in der Bildungspolitik, der Verkehrspolitik, der Städtebaupolitik und – eben – der Kulturpolitik. Kulturpolitik soll kulturelle Güter, kulturelle Werte, Erlebnisse, Erfahrungen für jedermann bereithalten. Gemeinwohlorientierung ist eines der ältesten Aufgaben17 BVerfGE 17, 172 (182); 79, 127 (151) (Rastede); 83, 363 (386) (Krankenhausfinanzierung). 18 Zum Ganzen vor allem BVerfGE 79, 127 (146 f.) (Rastede) (vor allem für die Hochzonung); 83, 353 (384) (Krankenhausfinanzierung) (für die Pflichtigerklärung); SächsVerfGH, Jb SächsOVG 2, 79 (85 f.); SächsVerfGH, SächsVBl 2001, 61 (62) (Finanzausgleich); SächsVerfGH, DVBl. 2001, 294 (303) (Sparkassen); sowie statt aller F. Schoch, in: H.-G. Hennecke-H. Maurer / F. Schoch, Die Kreise im Bundesstaat. Zum Standort der Kreise im Verhältnis zu Bund, Ländern und Gemeinden, Baden-Baden, 1994. 19 Art. 28 Abs. 2 GG, Art. 3 Abs. 2, 11, 82 Abs. 2, 85 Abs. 1 SächsVerf. 20 Art 85 Abs. 1 Satz 1 („Erledigung bestimmter Aufgaben“), BWStGH, NVerwZ-RR 1999, 93 (94); SächsVerfGH, SächsVBl 2001, 61 (62) („inhaltlich festgelegt“).
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felder gemeindlicher und staatlicher Tätigkeit. Der Mensch lebte nie vom Brot allein. Gerade die Gemeinden haben immer Kultur bereit gehalten und gefördert. Kulturförderung durch Gemeinden und Landkreise dem Grunde nach immer eine Pflichtaufgabe war und ist es noch heute21. Vielfach wird das aus den Staatsstrukturbestimmungen der Demokratie und des Sozialstaates der Daseinsvorsorge sowie aus der kulturstaatlichen Einheit von Bildung und Kultur hergeleitet22. Die sächsischen Gemeinden und Landkreise haben seit je Kulturpflege als pflichtige Aufgabe begriffen, die man unmöglich „auf Null fahren“ kann. Insofern lässt sich mit Fug sagen, dass die gesetzliche Inpflichtnahme deklaratorischen Charakter habe. Es bestehen keine Bedenken, die regionale Kulturpflege den Kommunen als Pflichtaufgaben aufzuerlegen23. In das einheitliche System der Aufgabenerfüllung durch die Kommunen (monistisches Modell nach 84 Abs. 1, 85 Abs. 2 SächsVerf.) ist die regionale Kulturförderung damit von Stufe 1 – freiwillige Selbstverwaltungsaufgaben (die Kommune entscheidet über das Ob und das Wie der Aufgabenerfüllung) – auf die Stufe 2 gehoben worden – pflichtige Selbstverwaltungsaufgaben (Staat entscheidet über das Ob, Kommune über das Wie). Ein Fall der Stufe 3 – Pflichtaufgaben nach Weisung (Staat entscheidet über das Ob und das Wie) liegt nicht vor24. Sachlich gerechtfertigt ist aber auch die Erfüllung der regionalen Kulturaufgaben auf der die Landkreise übersteigende Ebene der Kulturräume. Die Einschätzung des Gesetzgebers, dass diese Aufgaben nur durch einen (Staatszuschuss- und umlagefinanzierten) Verbund erledigt werden können, ist nicht zu widersprechen25. 3. Der Eingriff in die kommunale Selbstverwaltungsgarantie ist auch verhältnismäßig, d. h. geeignet, erforderlich und die Selbstverwaltung, soweit als möglich, schonend. Das Verhältnismäßigkeitsprinzip stellt sich in der Stufenordnung der kommunalen Selbstverwaltung als Gebot der Subsidiarität dar, d. h. als das aus der
21 Pappermann (Fn. 1) S. 705; P. Häberle, Kulturpolitik in der Stadt ein Verfassungsauftrag, Karlsruhe 1979, S. 21; w.N. bei Ditges (Fn. 2), S. 82. 22 Vgl. nur U. Steiner, Kulturauftrag im staatlichen Gemeinwesen, in: VVDSTRL 42 (1983), S. 24; Ditges, a. a. O. 23 BVerfGE 83, 363 (384) (Krankenhausfinanzierung). 24 F. Schoch / J. Wieland, Finanzierungsverantwortung für gesetzgeberisch veranlasste Aufgaben, 1995, S. 99; A. v. Mutius / H.-G. Hennecke, Anmerkung zu VerfGH NRW, DVBl. 1985, 685 (689 f.). Nach Schoch-Wieland, S. 43, beträgt der Anteil der freiwilligen Selbstverwaltungsaufgaben heute maximal 10 %. 25 F. Ossenbühl, Kommunale Kulturpflege und legislative Organisationshoheit. Zur Verfassungsmäßigkeit der Bildung von Kulturräumen im Freistaat Sachsen, Rechtsgutachten, Juni 1993, S. 53; auch abgedruckt in: M. Vogt (Hrsg), Kulturräume in Sachsen, 2. Aufl., Leipzig 1996, S. 133 – 183; vgl. auch dens., Kulturpflege als Pflichtaufgabe kommunaler Selbstverwaltung, in: SächsVBl 1994, S. 145 ff.
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Selbstverwaltungsgarantie abzuleitende verfassungsrechtliche Prinzip der zentralen Aufgabenverteilung26. Der zuständigkeitsverteilende Gesetzgeber muss es beachten und für Angelegenheiten mit örtlichem Charakter einen Vorrang dezentral-kommunaler vor überörtlicher kommunaler oder zentral-staatlicher Aufgabenerfüllung begründen. In Ausgestaltung des Subsidiaritätsgedankens ist in Art. 85 Abs. 5 Satz 1 SächsVerf. der Satz eingefügt worden, dass den kommunalen Trägern die Erledigung bestimmter Aufgaben übertragen werden kann, wenn sie von ihnen „zuverlässig und zweckmäßig“ erfüllt werden können27. Der Sächsische Verfassungsgerichtshof28 sieht das Subsidiaritätsprinzip vor allem im Demokratieprinzip verankert. „Zu seiner Stärkung sichert die Garantie eigenverantwortlicher Selbstverwaltung die unmittelbare demokratische Teilhabe der Gemeindebürger an allen Entscheidungen über Angelegenheiten ihrer örtlichen Gemeinschaft. Mit dem Prinzip dezentraler Aufgabenverteilung wäre es deshalb nicht vereinbar, wenn der Gesetzgeber in großem Umfang kondominale Strukturen schaffen oder dazu ermächtigen wollte mit der Folge, dass an die Stelle eigenständiger, örtlich-demokratisch legitimierter kommunaler Selbstverwaltungstätigkeit die Aufgabenwahrnehmung durch staatliche oder vom Staat mitgetragene und maßgeblich beeinflusste Verwaltungsträger treten würde – sei es auch unter Beteiligung kommunaler Körperschaften an einer nun nicht mehr eigenverantwortlichen, sondern staatlich geleiteten oder zumindest teilweise staatlich determinierten Aufgabenerfüllung“. So liegt es auch im Verhältnis von gemeindlich-kommunaler zu kreis-kommunaler und zweckverbandlich-kommunaler Aufgabenwahrnehmung: Je „weiter unten“ eine Aufgabe wahrgenommen wird, desto stärker ist die Bürgerbeteiligung. Allerdings kann es wichtige Gründe des Gemeinwohls geben, die Anlass sein können, eine Aufgabe auf der nächst höheren Ebene wahrzunehmen. So verhält es sich mit der regionalen Kulturförderung. Die Gemeinden und Landkreise sind allein nicht in der Lage, diese Aufgabe effektiv zu erfüllen. Sie brauchen einmal staatliche Hilfe und solidarische Korperation. Das Belassen der Aufgaben bei den Gemeinden und Landkreisen würde zu einem unverhältnismäßigen Kostenanstieg führen. Hier ist die Ergänzungs- und Ausgleichsfunktion der Landkreise im Verbund – eben der Kulturräume – gefordert. Die Entscheidung des Gesetzgebers, dass „neue finanzierbare Organisations- und Leistungsstrukturen“ (Präambel Abs. 3) nur geschaffen werden, wenn Kulturräume gebildet werden, ist wohl begründet, verhältnismäßig und steht in Übereinstimmung mit der Verfassung. 4. Letztlich wird weder durch die Pflichtigmachung der Aufgaben noch durch ihre Wahrnehmung auf Kulturraumebene der Kern der Selbstverwaltungsgarantie SächsVerfGH, DVBl. 2001, 293 (297); BVerfGE 79, 127 (146) (Rastede). H.G. Hennecke, Rechtliche und finanzielle Rahmenbedingungen kreiskommunaler Kulturarbeit, Der Landkreis, 1994, S. 508; s. auch dens., Kreisrecht in den Ländern der BRP, Stuttgart 1994, S. 21. 28 DVBl. 2001, 293 (297 r.Sp.). 26 27
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verletzt. Beschränkungen der Selbstverwaltung sind mit Art. 28 Abs. 2 GG, Art. 82 Abs. 2 SächsVerf. vereinbar, wenn sie den Kernbereich unangetastet lassen. Bei der Bestimmung dessen, was zu diesem Bereich gehört, muss der geschichtlichen Entwicklung und den verschiedenen historischen Erscheinungsformen der Selbstverwaltung Rechnung getragen werden29. Die Kulturförderpflicht auf höherer Ebene berührt erkennbar keine identitätsbestimmenden Merkmale der kommunalen Selbstverwaltung. Die Förderpflicht stellt die Fortsetzung der seit je wahrgenommenen Sachaufgaben dar. Der Kernbereich ist auch nicht dergestalt berührt, dass die Aufgabenwahrnehmung derart vornormiert ist, dass die Gemeinden keine Ausgestaltungsmöglichkeiten mehr haben, dass sie sozusagen zu Erfüllungsgehilfen des Staates werden30. Letztlich wird das Selbstverwaltungsrecht nicht dadurch „erdrosselt“, dass kommunale Mittel in erheblichem Umfang beansprucht werden, so dass kommunale Selbstverwaltungsmöglichkeiten praktisch nicht mehr bestehen. Vielmehr setzt die Förderung von Einrichtungen und Maßnahmen nach dem Kulturraumgesetz einen Antrag des kommunalen Trägers voraus, so dass dieser disponieren kann.
III. Finanzierung der kommunalen Kulturförderung und Konnexitätsprinzip 1. Herrscht über die Zuverlässigkeit von Aufgabenverlagerungen auf die Kommunen, soweit sie deren Selbstverwaltungsrecht nicht erdrosseln, noch weitgehend Einigkeit, so ist das für die Frage der Finanzierung nicht der Fall. Die Gewährleistung der kommunalen Selbstverwaltung umfasst auch die Finanzhoheit (Haushaltsautonomie) von Gemeinden und Kreisen, wie Art. 28 Abs. 3 Satz 3 GG ausdrücklich bestimmt31. Die Finanzhoheit umfasst das Recht der Kommunen, eigenverantwortlich über die Verwendung ihrer Haushaltsmittel zu befinden. Die Einnahmen und Ausgaben der Kommunen gelten im Verhältnis zum Bund als solche des Landes. Die Gemeinden sind über die ihnen zukommenden Zuweisungen (Art. 106 Abs. 7 GG) mit dem Land und auch dem Bund in einem allgemeinen Steuerverbund zusammengefasst. 29 BVerfGE 17, 172 (182); A. Deutelmoser, Die Rechtsstellung der Bezirke in den Stadtstaaten Berlin und Hamburg, 2000, S. 219 f., vor allem zur Kernbereichslehre als Ausdruck des traditionellen Selbstverwaltungsverständnisses im Unterschied zum funktionellen Autonomieverständnis, das substantielle Bestände zu Gunsten einer Mitwirkung an höherstufigen Entscheidungsprozessen aufgibt. 30 Schoch / Wieland (Fn. 24), S. 101; A.v. Mutius, Übertragung öffentlicher Aufgaben auf Komunen und Struktur des übergemeindlichen Finanzausgleiches – zu den verfassungsrechtlichen Anforderungen an das Sächsische Finanzausgleichsgesetz 1996 / 1997. Rechtsgutachten, Juni 1997, S. 61. 31 BVerfGE 83, 363 (368) (Krankenhausfinanzierung); NdsStGH, DVBl. 1998, 185.
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Kulturförderung ist eine kommunale Aufgabe. Die Gemeinden und Landkreise erfüllen sie durch die Vorhaltung eigener Kultureinrichtungen wie durch die Mitwirkung an der Förderung der Kulturarbeit anderer Träger. Die Kulturförderung von Gemeinden und Kreisen leidet an bedenklichen Strukturdefiziten. Wie Schoch / Wieland eingehend nachgewiesen haben32, nimmt die Fremdverwaltung überhand. Anteilmäßig ist ein Rückgang der freiwilligen Selbstverwaltungsaufgaben am Gesamtbestand der kommunalen Aufgaben festzustellen, ein sukzessives Verschwinden „freier Spitzen“. Diese Strukturmängel äußern sich im Kreisfinanzierungssystem in einer permanenten Erhöhung des Kreisumlagesatzes, welche wiederum Spannung in das Verhältnis zwischen Landkreisen und kreisangehörigen Gemeinden bringt. In der überwiegenden Zahl von Einrichtungen und Projekten, welche die Kreise fördern, bleiben die Gemeinden zuständig. Die Aufgabe des Kreises beschränkt sich auf Unterstützungs-, Förderungs-, Ergänzungs-, Ausgleichsaufgaben33. Nur bei den kreisintegralen Aufgaben ist der Kreis im Verhältnis zu einer kreisangehörigen Gemeinde ausschließlich zuständig, da diese Aufgaben mangels Örtlichkeit von der Allzuständigkeitsvermutung des Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG nicht erfasst werden34. Diese können die Landkreise nur erfüllen, wenn sie eine ausreichende Finanzausstattung durch die Kreisumlage wie staatliche Zuweisungen erhalten. Denn anders als die Gemeinden haben die Kreise kaum gestaltbare Einnahmen. Aus Steuern und Gebühren nehmen sie etwa 1 % ihres Budgets ein, während die Kreisumlage einen Anteil von 45 % und die Staatszuweisungen 34 % ausmachen35. Die Finanzlage der Gemeinden wird teilweise als so besorgniserregend angesehen, dass die Frage gestellt wird, ob „ein Land seine Kommunen in die Verschuldung zwingen“ darf?36 Ausgangspunkt ist das Problem, ob und inwieweit der Landesgesetzgeber bei Aufgabenverlagerungen auf die kommunale Ebene einen finanziellen Ausgleich leisten muss. Das ist letztlich eine Frage nach Geltung und Reichweite des Konnexitätsprinzips im Verhältnis von Land und Kommune. Es ist die prüfen, ob und inwieweit es herangezogen werden kann und muss, wenn – wie hier – das Parlament Kommunalaufgaben zu Pflichtaufgaben erklärt. 2. Das Konnexitätsprinzip ist Maßstab der Finanzverteilung zwischen verschiedenen Aufgabenträgern. Eine rationale Finanzordnung muss von den Aufgaben (Fn. 24), S. 40 ff. Hennecke (Fn. 27), S. 509 mit zahlreichen Beispielen. 34 Hennecke, S. 508. 35 Schoch / Wieland (Fn. 24), S. 30; E .Schmidt / Aßmann, in: F. Schoch / Hrsg.), Selbstverwaltung der Kreise in Deutschland, Köln, 1996, S. 91 (94). 36 So der Titel eines neueren Aufsatzes von R. Wendt / M. Elicker, mit dem Untertitel „Grundsätzliche Anmerkungen aus Anlass des erneuten Verfassungsstreits um die Finanzierung des öffentlichen Personennahverkehrs in Sachsen-Anhalt“, VerwArch 93 (2002), S. 187 ff. 32 33
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ausgehen. Die für ihre Erledigung notwendigen Ausgaben müssen geleistet werden können. Nach diesem Finanzbedarf sind die Einnahmen zu gestalten. Die Finanzausstattung muss deshalb auf allen Ebenen stets Folgerecht der Aufgabenzuweisung sein.37 Für das Bund-Länder-Verhältnis ist das Konnexitätsprinzip in Art. 104 a Abs. 2, 104 Abs. 3, 104 a Abs. 4, 91 a / b GG festgeschrieben. Ob es auch für das Verhältnis Land-Kommunen gilt, ist umstritten. Vieles spricht dafür, dass es sich um einen allgemeinen (rechtsstaatlichen) Rechtsgrundsatz handele, der kraft „sachlicher Überzeugungskraft“38 auch dort gelten müsse39. Letztlich braucht die Frage hier aber nicht entschieden zu werden, da Art. 85 Abs. 2 SächsVerf. das Konnexitätsprinzip als verbindlich erklärt. 3. Das Land hat eine Garantenstellung für die Finanzkraft der Gemeinden und Landkreise (Art. 106 Abs. 4, Abs. 6, 107 GG, Art. 87 Abs. 1 SächsVerf.). Sie haben einen Rechtsanspruch auf eine gerechte Finanzausstattung.40 Das Land erfüllt diese Garantie in dreierlei Form: – zunächst durch die Einräumung einer Realsteuergarantie (Art. 106 GG, Art. 87 Abs. 2 SächsVerf.). Gemeinden und Kreise haben das Recht, Steuern und Abgaben nach Maßgabe der Gesetze zu erheben, – ferner durch die Verpflichtung zum Finanzausgleich (Art. 107 GG, Art. 87 Abs. 3 SächsVerf.), – sowie durch die Erstattung von Kosten der Mehrbelastung (Art. 85 Abs. 2 SächsVerf., §§ 2 Abs. 2, 60 LKO).
37 P. Kirchhof, Die kommunale Finanzhoheit, in: G. Püttner (Hrsg), HdbKommWiss und Praxis, 2. Aufl., Bd. 6, 1985, S. 3 (14); F. Kirchhof, Empfehlen sich Maßnahmen, um in der Finanzverfassung Aufgaben- und Ausgabenverantwortung von Bund, Ländern und Gemeinden stärker zusammenzuführen? Gutachten für den 61. Deutschen Juristentag, 1996, S. 15; Schoch / Wieland (Fn. 24), S. 38. 38 Schoch / Wieland (Fn. 24), S. 39. 39 So auch P. Kirchhof (Fn. 37), S. 13: Konnexitätsprinzip „gilt nicht nur im Rechtsverhältnis zwischen Bund und Ländern, sondern hat die Bedeutung einer allgemeinen Lastenverteilungsregel des Verfassungsrechtes (BVerfGE 26, 328 und bestimmt deshalb auch die kommunale Finanzausstattung“. Auch die Entscheidung BVerfGE 79, 127 (Rastede) ist in diesem Sinne zu verstehen: der Staat müsse sicherstellen, dass die Gemeinden ihre Aufgaben nach den Grundsätzen der Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit erfüllen können. So auch F. Schoch, Verfassungsrechtlicher Schutz der kommunalen Finanzautonomie. Darstellung am Beispiel saarländischer Kommunen, 1997, S. 175, und R. Grote, Empfehlen sich Maßnahmen, um in der Finanzverfassung Aufgaben- und Ausgabenverantwortung von Bund, Ländern und Gemeinden stärker zusammenzuführen?, JZ 1996, 832 (840); so neuerdings U. Schliesky, Gemeindefreundliches Konnexitätsprinzip, DÖV 2001, S. 714 f.; a.A. v. Mutius (Fn. 30), S. 26 mit der wohl h. M. 40 Hennecke, in: Hennecke / Maurer / Schoch (Fn. 18), S. 80; F. Kirchhof (Fn. 37), S. 91; BVerfGE 26, 172.
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Soweit es die Finanzierung der kommunalen Kulturausgaben angeht, so steht diese auf vier Säulen: – dem allgemeinen Finanzausgleich nach Art. 87 Abs. 3 SächsVerf. als interregionalem vertikalen Lastenausgleich als erstem Element des „Sächsischen Kulturlastenausgleiches“ nach § 6 KRG; – dem Mehrbelastungsausgleich nach Art. 85 Abs. 2 SächsVerf., der finanzkraftunabhängig ist und einen vollen Kostenausgleich vorsieht; er ist das zweite Element des „Sächsischen Kulturlastenausgleiches“; – hinzu treten die Kulturumlage (§§ 6 Abs. 3 / 2 KRG) als eine Form des horizontalen intraregionalen Lastenausgleiches und – der Sitzgemeindeanteil nach § 3 Abs. 2 KRG.
Die in Art. 28 Abs. 2 Satz 3 GG und Art. 87 Abs. 3 SächsVerf. garantierte Finanzausstattung der Kommunen erfüllt der Freistaat Sachsen in erster Linie durch den Finanzausgleich41. Er orientiert sich an dem Dreieck „Leistungsfähigkeit des Landes“ – „Eigenverantwortlichkeit der Kommunen“ – „Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse im Lande ohne Aufgabe des Nivellierungsverbotes“42. Der Finanzausgleich stellt auf die gesamte Finanzkraft der Gemeinden ab, verlangt aber keinen vollen Ausgleich der anfallenden Kosten, beschränkt sich vielmehr auf die Garantie einer ausreichenden Finanzdecke der Kommunen, die diesen in der Gesamtschau eine kraftvolle Erfüllung ihrer Aufgaben erlauben43. Die Erfüllung der Kulturraumaufgaben wird ferner durch die Erhebung einer Kulturumlage finanziert44. Sie ist eine Kreisumlage, also eine allgemeine, anteilsmäßige, von einer Körperschaft zur Restdeckung ihres Finanzbedarfs getätigte Finanzschöpfung bei den allgemeinen Einnahmen der nachgeordneten Körperschaften. Die Kreisumlage ist eine Umlage, welche BVerfGE 83, 363 (389) definiert als eine Finanzierungslast, die einer öffentlichen Gebietskörperschaft von einer anderen Gebietskörperschaft regelmäßig höherer Ordnung auferlegt wird. Sie lenkt Finanzströme von unten nach oben und bewirkt damit einen vertikalen Finanzausgleich. Im Unterschied zu einer Umlage zum Ausgleich der allgemeinen Finanzkraft ist die Kulturumlage eine Zweckumlage. Sie dient dem intraregionalen interkommunalen Kulturlastenausgleich (Sonderlastenausgleich). Der Zweck ist zunächst ein fiskalischer. Hinzu tritt aber eine Ausgleichsfunktion dergestalt, dass Niveauunterschiede im Kulturraum verringert und eine gleichmäßige Versorgung 41 Art. 106 Abs. 7 GG, Art. 87 Abs. 3 SächsVerf., FAG i.d.F. der Bekanntmachung vom 19. 12. 2000 (GVBl S. 2). 42 K. Hardraht, Finanzverfassung, in: Degenhart / Meissner, Handbuch der Verfassung des Freistaates Sachsen, 1997, S. 473; NdsStGH DVBl. 19 , 1175 (1177). 43 Schoch / Wieland (Fn. 24), S. 161. 44 §§ 6 Abs. 3, 7 Abs. 2, 3 KRG, 27 FAG.
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der Bevölkerung und regional bedeutsamer Kulturgüter sichergestellt wird45. Die Umlage ist heute die wichtigste Finanzquelle von Kreisen46. Sie spielt auch für die Finanzierung der Kulturräume eine existenzielle Rolle. Was der NdsStGH47 für die Kreisumlage feststellt, gilt auch für die Kulturumlage im Verhältnis zu den Kreisen. Die Umlage ist mit der Garantie der kommunalen Selbstverwaltung der herangezogenen Gemeinden jedenfalls dann vereinbar, wenn die angemessene Finanzausstattung der umlagepflichtigen kreisangehörigen Gemeinde nicht in Frage gestellt wird, d. h. den Gemeinden ein substantieller Finanzspielraum verbleibt. Letztlich ist die Förderung einer Einrichtung oder Maßnahme grundsätzlich von einer Beteiligung der Sitzgemeinde an den Kosten abhängig zu machen. 4. Diese Finanzierungsquellen der kommunalen Kulturarbeit sind im deutschen Kommunalfinanzverfassungsrecht Standard und im wesentlichen unbestritten. Diese Feststellung lässt sich für den Mehrbelastungsausgleich durch das Land als Ausprägung des Konnexitätsprinzips nicht treffen. Das gilt für mehrere Länder, auch Sachsen. Der Streit hat sich an der Pflichtaufgabe der Kulturräume erneut entzündet. Nach Art. 85 Abs. 2 mit Abs. 1 SächsVerf. (Art. 106 Abs. 8 GG) ist durch das Land ein entsprechender finanzieller Ausgleich zu schaffen, wenn die Übertragung bestimmter Aufgaben zur Erledigung durch die Kommunen zu einer Mehrbelastung der kommunalen Selbstverwaltungsträger führt. Diese Vorschrift beinhaltet das Konnexitätsprinzip zwischen Aufgabenerledigung und Finanzausstattung. Die Vorschrift ordnet einen finanzkraftunabhängigen Mehrbelastungsausgleich an48. Es handelt sich um einen durchsetzbaren Anspruch. Die Zeiten, in denen Bestimmungen dieser Art als Verfassungsdirektiven angesehen wurden, sind vorbei49. Streit herrscht nur darüber, ob in jedem Falle ein vollständiger Mehrbelastungsausgleich erforderlich ist oder ob eine Eigenbeteiligung der Kommunen zulässig ist. Das gilt insbesondere für den Fall, dass freiwillige Selbstverwaltungsaufgaben – wie hier die Kulturförderung – durch Gesetz zur Pflichtaufgabe gemacht werden. Dieser Fall wird z.T. unterschieden von der Übertragung von Pflichtaufgaben nach Weisung (Auftragsangelegenheiten). Dieser Streit ist im wesentlichen unabhängig davon, ob man für die Kommunalaufgaben von einem dualistischen System – (pflichtige) Selbstverwaltungsaufgaben / Auftragsangelegenheiten – oder – wie in Sachsen (Art. 82 SächsVerf.) – von einem monistischen System ausgeht – öfK. H. Friauf / R. Wendt, Rechtsfragen der Kreisumlage, 1998, S. 10. Schoch / Wieland (Fn. 24), S. 219 m. w. N. 47 DVBl. 1998, 185 (189). 48 SächsVerfGH, JbSächsOVG 2, 79 (90); JbSächs OVG 4, 132 (136); SächsVBl 2001, 61 (63); Wieland / Schoch (Fn. 24), S. 162 49 NWVerfGH, NVwZ-RR 1999, 81 (83); v. Mutius / Hennecke, Kommunale Finanzaustattung und Verfassungsrecht, dargestellt am Beispiel der nordrhein-westfälischen Gemeindefinanzgesetze 1983 und 1984, 1985, S. 100; E. Möcklinghoff, Gemeindliche Selbstverwaltung im Spannungsfeld. Städte- und Gemeindebund 1978, S. 337 (341). 45 46
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fentliche Aufgaben als (pflichtige) Selbstverwaltungsaufgaben und Pflichtaufgaben nach Weisung. Es gibt zu der Streitfrage im wesentlichen drei Positionen: Es gibt eine Garantie der gesonderten Abgeltung der Kosten des übertragenen Wirkungskreises. Die Finanzausgleichskostenregelung ist nicht auf bestimmte Aufgabenfelder begrenzt, sondern bezieht sich auf alle Aufgaben, unabhängig ob sie dem eigenen Wirkungskreis oder dem der Auftragsverwaltung angehören. Finanzausgleichsleistungen betreffen deshalb Selbstverwaltungs- und Auftragsangelegenheiten. Eine Kostenerstattung orientiert sich auch an der Haushaltslage – wie in Sachsen nach Art. 87 Abs. 3 SächsVerf. zweifellos der Fall50. Eine zweite Meinung verweist auf die Bestimmung des Art. 85 Abs. 2 SächsVerf. und betont, dass das Land bei Pflichtaufgabenübertragung – welcher Art auch immer – vollen Kostenersatz leisten müsse. Art. 87 SächsVerf. sei auf solche Fälle nicht anwendbar. Auch dann, wenn dem Gesetzgeber bei der Aufgabenübertragung einer Fehlprognose unterlaufen sei, müssten die gestiegenen Kosten nach Art. 85 Abs. 2 SächsVerf. voll ersetzt werden. Er herrsche volle Konnexität51. Schließlich gibt es eine vermittelnde Auffassung, die insbesondere der SächsVerfGH in seiner Entscheidung vom 23. November 2000 vertreten hat. Grundsätzlich müsse das Land nach Art. 85 Abs. 2 SächsVerf. erstatten. Allerdings müssten durch Fehlprognose verursachte Mehrkosten nach Art. 87 Abs. 3 SächsVerf. ausgeglichen werden, also die Haushaltslage des Freistaates berücksichtigen. Im übrigen eröffnet das Gericht den Weg zur Anwendung von Modellen, Pauschalierungen, der Berücksichtigung von Interessenquoten bei der Erstattung nach Art. 85 Abs. 2 SächsVerf., was als Abrücken von der strikten Kostenerstattung zu verstehen sein mag52. Klarheit in diesem Meinungsstreit mag eine genaue Auslegung des Art. 85 Abs. 2 SächsVerf. bringen, seine Bedeutungserschließung durch die Wortlautmethode, die systematische, historische, teleologische Methode, im Bemühen, ein verfassungskonformes Verständnis zu finden. 5. Die Wortlautauslegung des Art. 85 Abs. 2 SächsVerf. hat folgende Elemente zu berücksichtigen: notwendig ist eine (gesetzliche) Übertragung bestimmter Aufgaben, deren Erledigung eine Mehrbelastung der Kommunen bewirkt; entsprechend dieser Mehrbelastung muss der Freistaat Kostenerstattung gewähren, wenn und soweit ein logisch-kausaler Zusammenhang zwischen Aufgabenwahrnehmung und Mehrbelastung besteht53. 50 Vgl. statt aller M. Inhester, Kommunaler Finanzausgleich im Rahmen der Staatsverfassung, 1998, S. 153. 51 Schoch / Wieland (Fn. 24), S. 164, 165; Hennecke, Wer bestellt, bezahlt, SächsVBl 1996, 53. 52 Vgl. auch A. Wahl, . . . dass diejenigen bezahlen sollen, die bestellen, SächsVBl 1996, 98, unter Rückgriff auf die Geschichte der Verfassung. 53 V. Mutius (Fn. 30), S. 436 f.
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Das Kulturraumgesetz hat in § 2 Abs. 1 den Gemeinden und Kreisen die Kulturpflege als pflichtige Selbstverwaltungsaufgabe übertragen. „Aufgabenübertragung“ ist hier im umfassenden Sinne zu verstehen. Gemeint ist jede gesetzliche Inpflichtnahme54. Damit ist Art. 85 Abs. 2 SächsVerf. sowohl für die Pflichtigmachung von Selbstverwaltungsaufgaben – wie hier – wie auch für die Übertragung von Pflichtaufgaben zur Erfüllung nach Weisung (Auftragsangelegenheiten) anwendbar55. Gleichwohl muss die Frage gestellt werden, ob wirklich beide Aufgabenarten gleichbehandelt werden müssen. Es ist richtig, dass in beiden Füllen eine Aufgabe durch gesetzliche Bestimmung zur Pflichtaufgabe geworden ist. Das schließt aber nicht aus, dass der Umfang der gesetzlich verursachten Kostenlast typischerweise dann sinkt, wenn der Kommune Spielraum bei der Wahrnehmung der Aufgabe belassen wird. Das ist aber bei der pflichten Wahrnehmung von Kulturaufgaben der Fall. Die Landkreise können disponieren und entscheiden, welche Einrichtungen und Maßnahmen sie für die Kulturraumförderung anmelden wollen oder nicht. In diesen Fällen müsste die Verfassung eine differenzierte Kostentragungspflicht anordnen. Sie müsste das Prinzip der Gesetzeskausalität auch hier durchsetzen und eine angepasste Kostenregelung vorsehen, d. h. die Kosten zwischen Land und Kommunen am Maßstab der Kostenkausalität aufteilen56. Da diese notwendige Differenzierung zwischen pflichtigen Selbstverwaltungsaufgaben und Pflichtaufgaben nach Weisung – welch letztere einen Durchführungsspielraum typischerweise nicht einräumen – in Art. 85 Abs. 2 SächsVerf. explizit nicht vorgenommen worden ist, ist es um so wichtiger zu prüfen, ob die Unterscheidung mit den Mitteln der Auslegung erreichbar ist. Es stellt sich nämlich die Frage, ob Art. 85 Abs. 2 SächsVerf. typischerweise nur für „neue“, die Kommune zusätzlich belastende, den „Spielraum für freiwillige Selbstverwaltungsaufgaben unangemessen verengende57 Aufgaben gilt. Das Gericht spricht in der Tat von „neuen Selbstverwaltungsaufgaben“, die den Kommunen zugewiesen werden, „etwa im Zusammenhang mit einer durch Gesetz angeordneten Verlagerung von einer kommunalen Ebene auf eine andere“. Es liegt auch nicht der Fall vor, dass eine bislang von einem anderen Verwaltungsträger wahrgenommene Aufgabe durch Gesetz neu auf andere Träger der kommunalen Selbstverwaltung übertragen wird. Davon kann hier – anders als im Fall BVerfGE 79, 127 (Rastede) – nicht die Rede sein. Kulturförderung ist eine primäre Selbstverwaltungsaufgabe der Gemeinden und Kreise. Sie war ursprünglich eine freie Schoch / Wieland (Fn. 24), S. 105. Während SächsVerfGHJbSächsOVG 2, 79 (90), es noch ausdrücklich offengelassen hat, ob Kostenerstattung nur bei Übertragung von an sich staatlichen Aufgaben gelte oder auch bei der Pflichtigmachung einer örtlichen Selbstverwaltungsaufgabe, hat sich der SächsVerfGH, SächsVBl 2001, 61 (63), der weiten Auslegung angeschlossen. 56 F. Kirchhof, Anm. zu NdsStGH, DVBl. 1998, S. 185 (191). 57 SächsVerfGH, SächsVBl 2001, 61 (63). 54 55
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Selbstverwaltungsaufgabe, aber zugleich immer schon „pflichtig“ in dem Sinne, dass es keiner Kommune möglich gewesen wäre, diese wichtige Aufgabe der Daseinsvorsorge wesentlich zu reduzieren oder gar „auf Null zurückzufahren“. Insofern lässt sich feststellen, dass die gesetzliche Pflichtigerklärung überwiegend „deklaratorische Elemente“ enthält und von einer „Aushöhlung“ der Autonomie von der finanziellen Seite nicht gesprochen werden kann. Bei der Wahrnehmung der nun pflichtigen Aufgabe kann von einem zusätzlichen Finanzierungsbedarf nur in sehr begrenztem Sinne die Rede sein, wenn sich ein solcher Mehrbedarf überhaupt nachweisen lässt. Es zeigt sich, dass Art. 85 Abs. 2 SächsVerf. typischerweise den Fall der Übertragung von Pflichtaufgaben zur Erfüllung nach Weisung im Auge hat. Das müssen auch Schoch-Wieland (S. 184) einräumen: „Wenn der Staat eigentlich ihm obliegende Aufgaben den Kommunen überträgt, erscheint es sachgerecht, die Finanzierung dieser Aufgabe durch eine Verlagerung staatlicher Mittel an die Kommunen sicherzustellen“. Die „Mehrbelastung“ muss nach Art. 85 Abs. 2 SächsVerf. ausgeglichen werden. Das heißt, es muss ein erhöhter Personal- und Sachaufwand – Vergleich vorher / nachher – nachgewiesen werden. Eine Abrechnung auf Heller und Pfennig kann schon aus Rationalitätsgesichtspunkten nicht gefordert werden. Eine pauschalierende und typisierende Betrachtungsweise ist zulässig. Der Ausgleich muss „entsprechend“ erfolgen, d. h. es muss der Maßstab der Proportionalität angelegt werden58. Der finanzielle Ausgleich umfasst die Kosten der Verwaltungstätigkeit, also Zweckausgaben, Personal- und Sachkosten59. Soweit es die Art und Weise der Erstattung angeht, hat der Freistaat ein Ermessen mit einem weiten Beurteilungsspielraum60. Art. 85 Abs. 2 SächsVerf. normiert das Konnexitätsprinzip (Verursachungsprinzip). Es muss ein logisch-kausaler Zusammenhang zwischen der Aufgabenübertragung und der Entstehung von zusätzlichen Kosten bestehen. Art. 85 Abs. 1 Satz 2 SächsVErf. hat insofern eine „Warnfunktion“: Gleichzeitig („dabei“) mit der Aufgabenübertrag muss der Gesetzgeber eine Prognose über die Zusatzkosten anstellen61. Für die Prognose kommt es also auf den Zeitpunkt der Übertragung an. Die Warnfunktion des Art. 85 Abs. 1 Satz 2 SächsVerf. ist erfüllt, wenn sich der Gesetzgeber Klarheit über die finanzielle Gesamtbelastung verschafft hat, die durch eine Inpflichtnahme der kommunalen Selbstverwaltungsträger entsteht. Spätere SächsVerfGH, JbSächsOVG 4, 132 (136). E. Schmidt-Jortzig / J. Makswit, Handbuch des Kommunalen Finanz- und Haushaltsrechts, 1991, Rn. 35, STGH BW, VerwBlBW 1991, 21. 60 NdsStGH DVBl. 1998, 1185. 61 NdsStGH DVBl. 1999, 1175 (1177). 58 59
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Abweichungen von dem prognostizierten Verlauf sind nach Art. 87 Abs. 3 SächsVerf. auszugleichen62. Die Wortlautauslegung führt also zu dem Ergebnis, dass angesichts des Umstandes, dass immer schon freiwillig wahrgenommene Selbstverwaltungsaufgabe im Kulturbereich durch die Pflichtigmachung eine eher unerhebliche Veränderung erfahren haben. Der Entscheidungsspielraum der Kommunen ist eher unwesentlich eingeschränkt. Eine volle Kostenerstattung findet nicht statt. Die Kommunen müssen die Mehrausgaben nachweisen. Die Obergrenze der Kostenerstattungspflicht liegt in einer Prognose zur Zeit der Übertragungsgesetzgebung. Fehlprognosen sind nach Art. 87 Abs. 3 SächsVerf. zu berücksichtigen. 6. Wendet man sich der systematischen, historisch-genetischen und teleologischen Auslegung zu, so bleibt zunächst festzuhalten, dass nach Art. 85 Abs. 2 SächsVerf. über das Ob des Ausgleichs kein Zweifel bestehen kann63. Über das Wie entscheidet der Gesetzgeber. Der Ausgleich kann durch staatliche Finanzzuweisungen ebenso erfolgen wie über die Erschließung neuer Abgabenquellen und die Reduzierung anderer kommunaler Leistungspflichten. Über das Verhältnis von Art. 85 Abs. 2 und 87 Abs. 3 SächsVerf. herrscht Streit. Art. 85 Abs. 2 SächsVerf. gewährt einen Mehrbelastungsausgleich ohne Rücksicht auf die Haushaltslage des Landes, während der Finanzausgleich „unter Berücksichtigung der Aufgaben des Freistaates“ erfolgt (Art. 87 Abs. 3 SächsVerf.). Schoch-Wieland gehen systematisch von einem beziehungslosen Nebeneinander von Art. 85 und 87 SächsVerf. aus, d. h. bei einer Fehlprognose bestehe „selbstverständlich eine Nachbesserungspflicht“. Ein Rückgriff auf Art. 87 SächsVerf. sei nicht möglich. Hingegen geht der SächsVerfGH von einer systematisch-funktionalen Verknüpfung der beiden Vorschriften aus. Eine Fehlprognose ist danach über Art. 87 SächsVerf. auszugleichen. Historisch-genetisch ist nicht zu bezweifeln, dass der Gesetzgeber sich bewusst für einen „entsprechenden“ (also proportionalen) und gegen einen „angemessenen“ Ausgleich entscheiden hat. Der ehemalige Justizminister Heitmann hat sich in den Beratungen mit dem Vorschlag, die finanzielle Gesamtsituation von Land und Gemeinden zu berücksichtigen, nicht durchgesetzt. Allerdings umfasst die Prognoseentscheidung z.Zt. der Übertragung auch eine eigenverantwortlich auszufüllenden Beurteilungsspielraum hinsichtlich der Mehrkosten. Und von Mutius64 gibt zu bedenken, ob es nicht zwischen einem angemessenen und einem vollständigen finanziellen Ausgleich der Mehrbelastung einen vermittelnden Weg gebe, nämlich den, der dem Gesetzgeber als Inhaber des Budgetrechts seine maßgebenden verfassungsrechtlichen Befugnisse belässt, die Einstandspflicht nach Art. 87 SächsVerf. berücksichtigt und akzeptiert, dass Land und Kommunen bezüglich der Einnahmen 62 63 64
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SächsVerfGH, SächsVBl 2001, 61 (64). Hennecke, Kreisrecht (Fn. 27), S. 21: striktes Konnexitätsprinzip. (Fn. 30), S. 64.
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und Ausgaben, der finanziellen Rahmenbedingungen und der Haushaltswirtschaft in haushaltswirtschaftlicher Gesamtverantwortung stehen. Die teleologische Auslegung fragt nach dem Sinn und Zweck der Norm, nach der Sachgemäßheit des Ergebnisses. Art. 85 Abs. 2 SächsVerf. will dem besonderen Schutzbedürfnis der Kommunen genügen. Die Vorschrift soll verhindern, dass beständig wachsende Aufgabenüberbürdungen die Kommunen letztlich zu bloßen Erfüllungsgehilfen des Staates werden, also zu untersten staatlichen Verwaltungsinstanzen. Art. 85 Abs. 2 SächsVerf. ist insofern eine (finanzielle) „Bremse“ gegen überbordende Aufgabenübertragungen. Dieser Verfassungszweck passt auf die Kulturförderung nach dem Kulturraumgesetz nicht. Die Aufgabe haben die Kommunen seit je als freiwillige Selbstverwaltungsaufgabe wahrgenommen. Es hat lediglich eine Umwandlung in Pflichtaufgaben stattgefunden. Es kann aber ersichtlich nicht der Zweck des Art. 85 Abs. 2 SächsVerf. sein, in diesem Fall, allein durch den gesetzgeberischen Akt der Umwandlung in Pflichtaufgaben, die gesamte Kostenlast auf den Staat zu überwälzen. Art. 85 Abs. 2 SächsVerf. ist hier ersichtlich zu weitreichend, zu undifferenziert und muss im Auslegungswege der teleologischen Reduktion der hier vorliegenden Konstellation angepasst werden. Teleologische Auslegung heißt Auslegung gemäß den erkennbaren Zwecken und dem Grundgedanken der Regelung. Der vernünftige Grund der Regelung ist, den Gemeinden Ersatz für die wirklich entstandenen Mehrkosten zu verschaffen. Es fallen aber nicht alle Kosten, die bisher für die Erfüllung der freiwilligen Selbstverwaltungsaufgabe Kulturförderung geleistet wurden, nun plötzlich infolge Umwandlung in Pflichtaufgaben als Mehrkosten an. Nicht schwarz / weiß ist das Bild, sondern grau. Ein Teil der Kosten mögen Mehrkosten sein, ein Teil ist es nicht. Art. 85 Abs. 2 SächsVerf. enthält, weil es diese Differenzierung, die nicht zuletzt in der Unterscheidung von pflichtigen Selbstverwaltungsaufgaben und Pflichtaufgaben zur Erfüllung nach Weisung liegt, nicht aufnimmt, ein planwidrige Lücke, die durch eine sinngemäß geforderte Einschränkung des Geltungsraumes des Art. 85 Abs. 2 SächsVerf. geschlossen wird65. Die von der Wertung her erforderliche Differenzierung bedeutet, dass bei der Pflichtigmachung von Selbstverwaltungsaufgaben unter Berücksichtigung des Einzelfalles eine Kostenteilung zwischen Staat und Kommunen möglich und geboten ist. Der Gesetzgeber hat einen Beurteilungs- und Gestaltungsspielraum und kann bei dessen Ausfüllung die Finanzkraft der Kommunen berücksichtigen. Diese Auslegung wird gestützt durch andere Einschränkungen einer vollständigen Mehrbelastungsausgleichspflicht, die von Rechtsprechung und Literatur vorgenommen werden und in dieselbe Richtung wie die teleologische Reduktion wei65 Zur teleologischen Reduktion vgl. K. Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaften, 6. Aufl., 1991, S. 391; F. Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, Wien 1982, S. 480; H. M. Pawlowski, Methodenlehre für Juristen, 2. Aufl., 1991, S. 218.
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sen: die Pauschalierung und Deckelung der Erstattung, die Anwendung von Typisierungen und Modellen, die Berücksichtigung einer Interessenquote der Kommunen. So sagt der SächsVerfGH, dass es dem Gesetzgeber zur Vermeidung großen Verwaltungsaufwandes nicht verwehrt sei, pauschalierende Ansätze oder einfach gehaltene Modellberechnungen zu Grunde zu legen, bei denen auch mehrere übertragene Aufgaben zusammengefasst werden könnten. Das ergibt eine Annäherung an die Berechnungsmodalitäten des Finanzausgleiches66. In jedem Fall wird eine bei den Kommunen verbleibende Interessenquote die (volle) Kostenerstattung mindern. BVerfGE 9, 305 (330) geht selbstverständlich davon aus, dass beim Bund-Länder-Finanzausgleich die Länder im Interesse einer sparsamen Verwaltung bei gewissen Lasten in Form einer sog. „Interessenquote“ an den Aufwendungen beteiligt werden können. In der Tat widerspricht eine vollen Kostenerstattung der Setzung von notwendigen Anreizen zur Nutzung von Einsparmöglichkeiten und damit dem Rechtsgrundsatz von Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit. So sieht es auch der NdsStGH67: „Der Gesetzgeber hat Art. 57 IV auch dadurch verletzt, dass er es bei den Zuweisungen für Aufgaben des übertragenen Wirkungskreises unterlassen hat, die von ihm angenommene Interessenquote der Kommunen ausdrücklich im Gesetz zu regeln. Damit hat er gegen das Verfassungsgebot der Publizität und Transparenz der Kostendeckungsbestimmung verstoßen“. Auch das SächsAnhVerfG68 geht in einer Entscheidung zu Art. 87 Abs. 3 SaAnhVerf, der allerdings eine „angemessene“ Kostenerstattung verlangt, von einer „kommunalen Interessenquote“ aus. von Hoerner69 berichtet, dass die Interessenquote in Niedersachsen bis 1992 25 % betragen habe, sich jetzt – unter dem Gebot voller Kostenerstattung – immerhin auf 5 % beläuft. Das sei von den kommunalen Spitzenverbänden akzeptiert. Auch Ferdinand Kirchhof70 bejaht neben der Pauschalierung eine Interessenquote. Nicht unberücksichtigt bleiben darf auch, dass es (noch) keine echten Leistungs- / Kostenrechnungen gibt. Erst die Einführung des „Neuen Steuerungsmodells“ wird objektive Kostenanalysen ermöglichen. Bis dahin ist man auf Annahmen angewiesen, die zu Pauschalierungen und Näherungswerten führen müssen. Zieht man letztlich auch in diesem Argumentationszusammenhang in Rechnung, dass der SächsVerfGH eine Nachbesserung nur nach Art. 87 Abs. 3 SächsVerf. vorsieht, so ist – wenn die Diagnose für die Kommunen von der Prognose ungünstig abweichende Kosten feststellt – eine Reduktion der Kostenerstattung zulässig. 66 von Hoerner, in: Kirchhof / Meyer, Kommunaler Finanzausgleich im Flächenbundesland, 1996, S. 38: Pauschalregel im FAG, wenn diese nur in einem Sonderansatz besteht, der die Kostendeckung erkennbar und damit nachprüfbar darstellt. 67 DVBl. 1998, 185 (188). 68 NVwZ-RR 1999, S. 96. 69 In: Kirchhof / Meyer (Fn. 66), S. 38 ff. 70 Anm. zu NdsStGH, DVBl. 1998, 189 (190).
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Fasst man das Ergebnis der Auslegung nach der teleologischen Methode zusammen, so wird das früher genommene Auslegungsergebnis erhärtet. Eine volle Kostenerstattung verlangt Art. 85 Abs. 2 SächsVerf. in diesem Falle nicht. Auszugleichen sind nur die Mehrkosten, die den Kommunen nachweislich durch die Pflichtigerklärung der Kulturförderungsaufgabe entstehen. Es ist z. Zt. nicht zu sehen, dass solche Mehrkosten überhaupt entstanden sind oder entstehen könnten. Sollte das gleichwohl der Fall sein, wären diese Mehrkosten durch die Zurverfügungstellung von 90 Mio. DM pro anno mehr aus ausgeglichen. Dieses Ergebnis gilt auch pro futuro. Wenn das Kulturraumgesetz verlängert wird – was noch zu erörtern ist – müsste der Gesetzgeber auch prognostische Erwägungen hinsichtlich möglicher Mehrkosten nach Art. 85 Abs. 2 SächsVerf. anstellen. Da bisher Mehrkosten nicht nachgewiesen wurden, sind nicht leicht detaillierte Kriterien für die Prognose zu entwickeln. Es kann aber festgestellt werden, dass auch in Zukunft ein Betrag von 90 Mio. DM pro anno alle Mal als ausreichend erscheint, anfallende Mehrkosten zu decken. Jedenfalls hat es der Haushaltsgesetzgeber in der Hand, flexibel auf jetzt nicht erkennbare Entwicklungen zu reagieren. 7. Schließlich muss jede Norm verfassungskonform ausgelegt werden. Das Grundgesetz wie die Sächsische Verfassung bilden je eine Einheit. Das hat zur Folge, dass Art. 85 Abs. 2 SächsVerf. so auszulegen ist, dass er mit anderen Verfassungsnormen (und dem Grundgesetz) harmoniert. Hier ist die Harmonie mit Art. 82 Abs. 2 SächsVerf. und Art. 28 Abs. 2 GG herzustellen. Wenn der Freistaat nach Art. 85 Abs. 2 SächsVerf. alle Kosten erstattete, würde er Art und Umfang der regionalen Kulturförderung bestimmen. Das darf er aber nicht. Mit der Selbstverwaltungsgarantie ist es nicht vereinbar, dass der Staat mit dem „goldenen Zügel“ – wie bei den Zweckzuweisungen – den Gestaltungsspielraum der Kommunen einschränkt. Eine solche Einflussnahme verstieße gegen die in Art. 28 Abs. 2 GG, 82 Abs. 2 SächsVerf. gewährleistete Befugnis der Kommunen, Aufbauund Ablauforganisation zu regeln und Aufgaben eigenverantwortlich effizient wahrzunehmen. Fehlende Anreizeffekte stehen einer solchen effizienten Aufgabenwahrnehmung entgegen, welche ihrerseits rechtsstaatlich geboten ist71. Unterstellt, die Kommunen behielten auch bei voller Kostenerstattung Dispositionsfreiheit, dann könnten sie dem Staat Kosten aufdrängen. Das verstieße gegen die staatliche Haushaltshoheit. Die Ausgabenlasten und die entsprechenden Finanzbedürfnisse der Kommunen dürfen m.a.W. nicht absolut gesehen werden. Vielmehr müssen auch die Kommunen bei ihrer Entscheidung darüber, welche Aufgaben mit relevantem örtlichen oder regionalem Charakter sie wahrnehmen wollen, die prinzipielle Begrenztheit der dem Staat insgesamt zur Verfügung stehende Mittel und die Gleichrangigkeit der Aufgaben von (Bund)Länder und Gemeinden beachten. Die ihren Aufgaben entsprechenden Finanzbedürfnisse der Kommunen habe also keinen Vorrang vor den Finanzbedürfnissen von (Bund und) Ländern72.
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BayVerfGH, DÖV 1997, S. 639.
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Das ist ein Kerngedanke des Art. 87 Abs. 3 SächsVerf., den auch jede Auslegung des Art. 85 Abs. 2 SächsVerf. im Auge behalten muss. In Anwendung des Art. 85 Abs. 2 SächsVerf. stellt das Land für die Kulturräume als Mehrbelastungsausgleich gegenwärtig 90 Mio. DM bereit. Finanzausgleich (Art. 87 Abs. 3 SächsVerf.) (60 Mio. DM) und Mehrbelastungsausgleich (Art. 85 Abs. 2 SächsVerf.) (90 Mio. DM) ergeben zusammen 150 Mio. DM, die der Freistaat nach § 6 Abs. 2 KRG für die Kulturraumförderung jährlich zur Verfügung stellt.
IV. Kommunale Kulturförderung im Ausnahme- und Regelfall 1. Die regionale Kulturförderung durch Zweckverbände war ursprünglich eine aus der Not geborene Maßnahme. Die Wende zeitigte in allen neuen Ländern eine Überforderung der Kommunen auf dem Gebiet der Kultur, der bis zum drohenden Zusammenbruch kultureller Förderung führte. Dazu trug der Umstand bei, dass eine Vielzahl von Einrichtungen aus zentraler DDR-Trägerschaft in ausschließlich kommunale Trägerschaft übergegangen waren. Massive Kostenzuwächse, nicht zuletzt durch den Tarifausgleich und unabweisbare Investitionen für die verschlissene bauliche und technische Infrastruktur kam hinzu. Die kulturverfassungsrechtliche Übergangsphase (1990 – 1994), die weitgehende Abweichungen von der Kompetenzordnung des Grundgesetzes (Art. 143 GG) und damit massive Förderungen durch Bund (und Länder) vorsah, ist vorüber. Die Konsolidierungsphase (1995 – 2005) brachte das Ende des Rechtes der Übergangszeit, allerdings mit Ausnahme der finanziellen Maßnahmen73. 2. Inzwischen sind zehn Jahre ins Land gegangen und hinreichende Erfahrung mit dem damals geplanten, seit 1994 in Kraft befindlichen Kulturraumgesetz gesammelt worden. Es hat sich gezeigt, dass die staatliche Förderung der regional bedeutsamen Kultur eine existenzielle Bedingung ihrer Fortführung ist. Ohne eine Förderung durch den Freistaat müsste die regionale bedeutsame Kulturarbeit erheblich eingeschränkt werden oder gar zum Erliegen kommen. Nach allen Prognosen wird sich an diesem Zustand auch nichts ändern. Das gibt Anlass, die gesetzlich angeordnete Förderung pflichtiger Kulturarbeit auf regionaler Ebene für so gewichtig zu halten, dass es eine im Sinne des Verhältnismäßigkeitsprinzips geeignete und erforderliche Maßnahme ist, die Eingrenzung der kommunalen Selbstverwaltung weiterhin und auch ohne zeitliche Begrenzung aufrechtzuerhalten. Dabei ist erneut darauf hinzuweisen, dass das Art. 28 Abs. 2 GG, Art. 82 Abs. 2 SächsVerf. tangierende Gesetz lediglich ein rechtsstaatlich notwendiges Instrument ist,
Schoch / Wieland (Fn. 24), S. 180. Heintzen (Fn. 13), S. 853; H. Bauer, Die finanzverfassungsrechtliche Integration der neuen Länder, in: Isensee / Kirchhof; HdbStR, Bd. 9, S. 259 (303); Geissler (Fn. 12), S. 110; Schulze-Fielitz, Zeitoffene Gesetzgebung in: W. Hoffmann-Riem / E. Schmidt-Aßmann (Hrsg), Innovation und Flexibilität des Verwaltungshandelns, 1994, S. 139 (172). 72 73
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die kommunale Selbstverwaltungsarbeit im Kulturbereich zu stärken und zu fördern, nicht aber zu beschneiden. 3. Es erscheint kulturpolitisch wünschenswert, die regionale Kulturförderung auf Dauer zu stellen. Die Hochzonung entbindet Synergieeffekte und ermöglicht eine effizientere Betreuung kultureller Einrichtungen. Der Begriff „Region“ erfährt in der Europäischen Union insgesamt eine Bedeutungssteigerung, verstanden als eine Ebene zwischen Landkreis und Land74. Die sächsischen Kulturräume folgen einem Trend zur Regionalisierung, im Zuge der Ökonomisierung, der Steigerung der Leistungsfähigkeit der Einheiten und des Einsatzes neuer Steuerungsmodelle75. 4. Die insgesamt positive Einschätzung regionaler Kulturförderung bedeutet nicht, dass nicht Verbesserungen wünschenswert und möglich sind. Die definitorische Einschätzung der „regionalen Bedeutsamkeit“ gehört ebenso dazu wie die Einführung einer Bagatellgrenze und die Konzentration und Reduzierung der Sparten der Kulturförderung, die nicht „Bibliotheken“, „Film und Video“, „Soziokultur“, „regionale Künstlerwerkstätten, Künstlerhäuser und Galerien“ usw. relativ breit angelegt sind. Die „angemessene Beteiligung“ der Zuwendungsempfänger kann so gestaltet werden, dass Anstrengungen, die Besucherzahlen zu steigern, das Marketing zu verbessern, Kooperationsvorteile zu nutzen, Einspielergebnisse zu steigern usw. gefördert, kurz: Wettbewerb ermutigt wird. Dieses in Rechnung gestellt, haben sich die Sächsischen Kulturräume als Instrumente der kommunalen Kulturvielfalt als Vorbild bewährt76.
74 Amtsbl EG Nr C, 326 / 296 vom 18. November 1988; vgl. auch Art. 130 a EGV und Art. 198 a EGV: ferner U. Karpen, Regionalisierungstendenzen in Europa und ihre Rückwirkung auf die nationalen Bürokratien!, DVBl. 1991, S. 1251; D. Fürst, Regionalmanagement zwischen Regionalkonferenz und Regionalplanung, NWVBl, 1995, S. 416; W. Haneklaus, Zur Frage der funktionengerechten Regionalisierung in einer föderal verfassten Europäischen Union, DVBl. 1991, 295; E. Schleberger, Die Region – Aufgabe des Staates oder der Selbstverwaltung, NWVBl 1992, S. 81; besonders zur Kulturpflege in Regionen: Richter, in: Pappermann / Mombaur / Blank (Fn. 2), S. 56; Hartung, ebda., S. 295 f.; Schoch, in: Hennecke / Maurer / Schoch (Fn. 18), S. 9 f.; F.-L. Knemeyer, Europa der Regionen – Europa der Kommunen, 1994, darin u. a. Hoffschulte, Kommunale und regionale Selbstverwaltung im Europa der Regionen, S. 135. 75 Vgl. das Gesetz über die Oldenburgische Landschaft vom 27. Mai 1974, GVBl S. 253. 76 P. Häberle, FAZ v. 31. August 2002, S. 36.
Die uneinheitliche Stimmabgabe eines Landes im Bundesrat Zum Urteil des BVerfG vom 18. Dezember 2002 – 2 BvF 1 / 02 (Zuwanderungsgesetz) Von Hans-Christoph Leo
Eine Wissenschaft ist, wie jede menschliche Anstalt und Einrichtung, eine ungeheure Anhäufung von Wahrem und Falschem, von Freiwilligem und Notwendigem, von Gesundem und Krankhaftem. (Goethe, Tag- und Jahreshefte, Bd. 17 (1911)
I. Gegenstand Dieser Peter Selmer zum 70. Geburtstag gewidmete Beitrag befasst sich mit der Auslegung und Anwendung des Art. 51 Abs. 3 Satz 2 GG (Gebot der einheitlichen Stimmabgabe eines Landes im Bundesrat)1 und dem hierzu ergangenen Urteil des BVerfG2. Mit diesem Urteil hat das Gericht das Gesetz zur Steuerung und Begrenzung der Zuwanderungen und zur Regelung des Aufenthalts und der Integration 1 Zur rechtshistorischen Einordnung dieser Norm: Ihr Regelungsinhalt stimmt sinngemäß mit Art. 6 Abs. 2 RV 1871 überein. Nach Abs. 1 dieses Artikels bestand der Bundesrat aus den Vertretern der Mitglieder des Bundes. Nach Abs. 2 konnte jedes Mitglied des Bundes so viele Bevollmächtigte zum Bundesrat ernennen wie es Stimmen hat, „doch kann die Gesamtheit der zuständigen Stimmen nur einheitlich abgegeben werden“. Dieses „Einheitlichkeitsgebot“ wurde nicht in die WRV 1918 übernommen. Nach Art. 63 Satz 2 WRV waren die Länder berechtigt, so viele Vertreter in den Reichsrat (Vertretung der deutschen Länder) zu entsenden wie sie Stimmen führten. Bei den Verfassungsberatungen befasste man sich mit der Frage, ob das Gebot einer einheitlichen Stimmabgabe der Länder in die Verfassung aufgenommen werden sollte. Eine Entwurfsbestimmung besagte ausdrücklich, dass die Stimmen eines Landes nur einheitlich abgegeben werden können. Der Vorschlag wurde abgelehnt, weil man jedenfalls den preußischen Provinzialvertretern freistellen wollte, im Reichsrat anders zu stimmen als die von der preußischen Staatsregierung (vgl. Das Recht der preußischen Provinzialverwaltungen zur Bestellung nach Art. 63 Abs. 1 S. 2 WRV) entsandten Mitglieder. Dieses Recht zur Uneinheitlichkeit wollte man auch den anderen Ländern zugestehen (in der Annahme, dass man aus politischen Gründen einheitlich stimmen werde); vgl. zum Vorstehenden G. Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reiches, 11. Aufl., 1929, Art. 63 Anm. 8. 2 BGBl. I 2003, S. 126 = NJW 2003, S. 330 = DVBl. 2003, S. 194 = DÖV 2003, S. 246.
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von Unionsbürgern und Ausländern (Zuwanderungsgesetz) vom 20. Juni 20023 wegen seiner förmlichen Unvereinbarkeit mit dem Grundgesetz für nichtig erklärt. Zwei Richterinnen haben abweichend votiert.
II. Die verfassungsrechtliche Streitfrage Der Bundestag hat in seiner Sitzung am 1. März 2002 den – von der Bundesregierung sowie von der SPD-Fraktion und der Fraktion Bündnis 90 / Die Grünen eingebrachten – Entwurf des Zuwanderungsgesetzes angenommen. Der Bundesrat behandelte das Gesetz in seiner Sitzung am 22. März 2002. Nach einer Plenardebatte wurde nach § 29 Abs. 1 Satz 2 GeschOBR durch Aufruf der Länder abgestimmt. Es bestand Einvernehmen darüber, dass das Gesetz nach Art. 84 Abs. 2 GG der Zustimmung des Bundesrats bedurfte. Da in ihm insgesamt 69 Stimmen vertreten sind und der Bundesrat nach Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GG seine Beschlüsse mit mindestens der Mehrheit seiner Stimmen (absolute Mehrheit) fasst, erforderte eine Zustimmung mindestens 35 Ja-Stimmen. Nach Abschluss der Abstimmung stellte der amtierende Bundesratspräsident Wowereit fest, der Bundesrat habe mit der Mehrheit seiner Stimmen dem Gesetz zugestimmt. Gegen diese Feststellung erhoben die Länder Sachsen, Bayern, Baden-Württemberg, Hessen, Sachsen und Thüringen Normenkontrollklage mit dem Antrag festzustellen, das Gesetz sei wegen förmlicher Unvereinbarkeit mit dem GG nichtig. Das Gesetz habe – abweichend von der Feststellung des amtierenden Bundesratspräsidenten – nicht die erforderliche Stimmenmehrheit im Bundesrat gefunden. Die Stimmabgaben der brandenburgischen Bundesratsmitglieder hätten wegen Uneinheitlichkeit im Sinne von Art. 51 Abs. 3 Satz 2 GG nicht mit Ja gewertet werden dürfen. Der Zweite Senat des BVerfG hat mit der Mehrheit von 6 Richtern in seinem Urteil festgestellt, das Zuwanderungsgesetz sei mit Art. 78 GG unvereinbar und somit nichtig. Der Senat teilt die Auffassung der Antragsteller, dass im Bundesrat keine Stimmenmehrheit zustande gekommen sei. Der Bundesratspräsident habe die Stimmen des Landes Brandenburg mangels Einheitlichkeit nicht als Ja-Stimmen werten dürfen. Infolgedessen habe der Bundesrat – unter Berücksichtigung des Ergebnisses der Gesamtabstimmung – nicht die für die Zustimmung nach Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GG erforderliche Mehrheit der Stimmen erzielt. Im Hinblick auf die von anderen Ländern abgegebenen Stimmen war es für die Feststellung, ob der Bundesrat dem Gesetz zugestimmt hat, entscheidend, ob das Land Brandenburg mit Ja gestimmt hat.
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BGBl. I S. 1946.
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III. Zur Stimmabgabe durch das Land Brandenburg4 Als das Land Brandenburg zur Stimmabgabe nach § 29 Abs. 1 Satz 2 GeschOBR aufgefordert wurde, stimmten die Brandenburgischen Bundesratsmitglieder Minister Ziel (SPD) mit Ja und Minister Schönbohm (CDU) mit Nein. Das ebenfalls anwesende Bundesratsmitglied Ministerpräsident Stolpe gab keine Stimme ab; er äußerte sich auch nicht zu der unterschiedlichen Stimmabgabe von Ziel und Schönbohm. In Übereinstimmung mit seiner Nein-Stimme hatte Schönbohm bereits in der der Abstimmung vorausgegangenen Plenardebatte unter Angabe von Gründen unmissverständlich angekündigt, dass er in diesem Sinne stimmen werde, und unter Bezugnahme auf ein Rechtsgutachten von Professor Dr. Josef Isensee die Ansicht vertreten, bei einer uneinheitlichen Abstimmung durch die Bundesratsmitglieder von Brandenburg dürften die Stimmen dieses Landes nicht als Ja-Stimmen gedeutet werden. Nach diesen Stimmabgaben durch Ziel und Schönbohm stellte der Bundesratspräsident fest, das Land Brandenburg habe nicht einheitlich abgestimmt; er verweise auf Art. 51 Abs. 3 Satz 2 GG, wonach Stimmen eines Landes „nur einheitlich abgegeben werden“ dürfen. Unmittelbar nach dieser Feststellung fragte der Bundesratspräsident (nur) Ministerpräsident Stolpe, wie das Land Brandenburg abstimmt. Stolpe erklärte: „Als Ministerpräsident des Landes Brandenburg erkläre ich hiermit Ja.“ Dazu bemerkte Schönbohm: „Sie kennen meine Auffassung, Herr Präsident!“ Der Bundesratspräsident stellte nunmehr fest: „Das Land Brandenburg hat mit Ja abgestimmt.“ Als wegen dieser Feststellung Unruhe entstand, bemerkte der Bundesratspräsident: „Ich habe bei der zweiten Frage gefragt, ob Herr Ministerpräsident Stolpe für Brandenburg eine Erklärung abgibt. Das hat er getan.“ Als die Unruhe nicht nachließ, bemerkte der Bundesratspräsident: „Ich kann auch Herrn Ministerpräsident Stolpe nochmals fragen, ob das Land noch Klärungsbedarf hat.“ Darauf erklärte dieser: „Als Ministerpräsident des Landes Brandenburg erkläre ich hiermit Ja.“ Darauf der Bundesratspräsident: „So, dann ist das so festgestellt.“ Die Länderabstimmung wurde fortgesetzt mit dem Ergebnis, dass nur die Länder Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, RheinlandPfalz, Sachsen-Anhalt und Schleswig-Holstein mit Ja gestimmt haben. Nach Abschluss der Abstimmung erklärte der Bundesratspräsident: „Das ist die Mehrheit. Der Bundesrat hat dem Gesetz zugestimmt.“ IV. Die tragenden Entscheidungsgründe des BVerfG Die tragenden Entscheidungsgründe des BVerfG lassen sich wie folgt zusammenfassen: 4 Die nachfolgende Darstellung des Abstimmungsverlaufs ist dem Urteil des BVerfG und den dort vermerkten Zitaten aus dem Sitzungsprotokoll des Bundesrats entnommen.
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1. Das Gericht erblickt in den Stimmabgaben durch die Bundesratsmitglieder Ziel und Schönbohm einen einheitlichen und in sich abgeschlossenen Abstimmungsvorgang. Der Bundesratspräsident habe unmittelbar nach den Stimmabgaben der beiden Bundesratsmitglieder zutreffend festgestellt, es sei uneinheitlich abgestimmt worden mit der Rechtsfolge der Ungültigkeit aus Art. 51 Abs. 3 Satz 2 GG. 2. Nach Ansicht des Gerichts ist die Uneinheitlichkeit der Stimmabgabe für das Land Brandenburg durch den anschließenden Abstimmungsverlauf (vgl. oben III) nicht beseitigt worden. Dieser Abstimmungsverlauf sei nicht mehr rechtlich erheblich. Er habe sich außerhalb der gebotenen Form des Abstimmungsverfahrens bewegt. Der Bundesratspräsident habe im vorliegenden Fall kein Recht zur Nachfrage an Ministerpräsident Stolpe gehabt. Gemeint ist die an ihn gerichtete Frage, wie das Land Brandenburg abstimme. Der amtierende Bundesratspräsident sei als Sitzungsleiter grundsätzlich berechtigt, bei Unklarheiten im Abstimmungsverlauf mit geeigneten Maßnahmen eine Klärung herbeizuführen und auf eine wirksame Abstimmung des Landes hinzuwirken. Das insoweit bestehende Recht zur Nachfrage entfalle jedoch, wenn ein einheitlicher Landeswille erkennbar nicht besteht und nach den gesamten Umständen nicht zu erwarten ist, das ein solcher noch während der Abstimmung zustande kommen werde. 3. Nur hilfsweise erwägt das Gericht: Auch bei Bestehen eines solchen Rechts auf Nachfrage hätte sie nicht nur an den Ministerpräsidenten, sondern zumindest auch an die Minister Schönbohm und Ziel gerichtet werden müssen. Die Beschränkung der Frage auf den Ministerpräsidenten allein habe sich außerhalb der mit dem Abstimmungsverhalten gewählten Form des Aufrufs nach Ländern bewegt; vgl. § 29 Abs. 1 Satz 2 GeschOBR. Die Frage an Ministerpräsident Stolpe habe deshalb einer besonderen Rechtfertigung bedurft. Ein Rechtfertigungsgrund wäre in Betracht gekommen, wenn sich der Ministerpräsident in der Abstimmung über die Stimmabgaben durch die anderen Bundesratsmitglieder von Brandenburg hätte hinwegsetzen dürfen, weil er bezüglich des Abstimmungsverhaltens dieser Bundesratsmitglieder ein Weisungsrecht im Bundesrat beanspruchen konnte oder weil nur so ein drohender Verstoß gegen die Bundesverfassung hätte abgewendet werden können. Nach Ansicht des Gerichts haben beide Voraussetzungen nicht vorgelegen. Rangverhältnisse, die im Landesverfassungsrecht begründet sind, seien auf der Bundesebene ohne rechtliche Bedeutung. Der Erklärung Stolpes komme auch unter dem Gesichtspunkt der Stimmführerschaft keine entscheidende Bedeutung zu. Das Grundgesetz respektiere die Praxis der landesautonom bestimmten Stimmführer, ohne seinerseits mit Geboten und Festlegungen in den Verfassungsraum des Landes überzugreifen. Aus der Konzeption des Grundgesetzes für den Bundesrat folge jedoch, das der Abgabe der Stimmen durch einen Stimmführer jederzeit durch ein anderes Bundesratsmitglied desselben Landes widersprochen werden könne und damit die Voraussetzungen der Stimmführerschaft insgesamt entfallen.
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Unter diesem Aspekt meint das BVerfG im Rahmen seiner Hilfsüberlegungen: Angesichts des Zwischenrufs von Minister Schönbohm (nach der Erklärung des Ministerpräsidenten), der Bundesratspräsident kenne seine, Schönbohms, Auffassung, sei die Feststellung des Bundesratspräsidenten, das Land Brandenburg habe mit Ja gestimmt, fehlerhaft und rechtlich bedeutungslos, weil ein einheitliches Abstimmungsverhalten nicht vorgelegen habe. 4. Die Abstimmung für Brandenburg sei – so das Gericht – nach der – rechtlich unwirksamen – Feststellung des BR-Präsidenten, das Land Brandenburg habe mit Ja gestimmt, nicht wiedereröffnet worden (anders das abweichende Sondervotum; vgl. unten V). Der Hinweis des BR-Präsidenten, er könne dem Ministerpräsidenten noch einmal fragen, ob das Land Brandenburg noch Klärungsbedarf habe, genüge nicht einem geordneten Abstimmungsverfahren. Die Erklärung des Ministerpräsidenten, das Land stimme mit Ja, sei deshalb rechtlich bedeutungslos. Insgesamt sei die Uneinheitlichkeit der Stimmabgabe durch die Minister Ziel und Schönbohm nicht durch den nachfolgenden Abstimmungsverlauf aufgehoben worden.
V. Die abweichenden Richtervoten Das abweichende Sondervotum ist – mit der Senatsmehrheit – der Ansicht, dass das Land Brandenburg zunächst durch die unterschiedlichen Stimmen der Minister Ziel und Schönbohm im Sinne von Art. 51 Abs. 3 Satz 2 GG uneinheitlich abgestimmt habe. Bei dieser uneinheitlichen Stimmabgabe „im ersten Durchgang“ sei es jedoch nicht geblieben. Der amtierende BR-Präsident habe mit seiner durch die uneinheitliche Stimmabgabe veranlassten Nachfrage, wie das Land Brandenburg abstimme, „einen neuen Abstimmungsdurchgang eröffnet“. In ihm sei es nicht mehr auf die im ersten Durchgang abgegebenen Stimmen, sondern darauf angekommen, ob das Land nunmehr seine Stimmen einheitlich abgeben würde. Dies sei geschehen. Der Ministerpräsident des Landes habe „im zweiten Durchgang“ mit Ja gestimmt. Minister Schönbohm habe „dem keine klar als Stimmabgabe identifizierbare Auffassung mehr entgegengesetzt“.
VI. Anmerkungen zu dem Urteil5 1. Die Ausgangspunkte a) Das Urteil macht überzeugend eine Zäsur zwischen den Stimmabgaben6 durch die Minister Ziel und Schönbohm einerseits und dem nachfolgenden Abstimmungs5 Vgl. zum Nachfolgenden die Urteilsanmerkungen von G. Renner, NJW 2003, S. 332; Chr. Gusy, ZParl 2003, S. 596; M. Sachs, JuS 2003, S. 399; H. Risse, DVBl. 2003, S. 319; Th. Tetzlaff, DÖV 2003, 693; eine kritische Auseinandersetzung mit diesen Stellungnahmen muss leider aus Raumgründen unterbleiben.
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verfahren. Mit der Stimmabgabe durch die beiden Minister nach dem Aufruf des Landes Brandenburg gemäß § 29 Abs. 1 Satz 2 GeschOBR war die Stimmabgabe durch dieses Land beendet und gewissermaßen in seinem Ergebnis fixiert. An der Uneinheitlichkeit der Abstimmung war nichts mehr zu ändern7. Auch wenn sich der Ministerpräsident an diesem Abstimmungsvorgang mit einer Ja-Stimme beteiligt hätte, was er nicht getan hat, wäre die Uneinheitlichkeit nicht beseitigt worden. Mangels eines bundesverfassungsrechtlich begründeten Vorrangs des Ministerpräsidenten hätte diese Ja-Stimme nicht die Wirksamkeit der von Schönbohm abgegebenen Nein-Stimme außer Kraft setzen können (vgl. hierzu unten 6a). b) Die Beendigung der Stimmabgabe durch Brandenburg wird nicht dadurch in Frage gestellt, dass sich die anderen Bundesratsmitglieder Brandenburgs, insbesondere der Ministerpräsident, an der Abstimmung nicht durch eigene Stimmabgabe beteiligt haben. Weiterer Stimmen bedurfte es nicht, da die Uneinheitlichkeit (Art. 51 Abs. 3 Satz 2 GG) bereits durch die Stimmen von Ziel und Schönbohm entstanden war und nicht mehr durch weitere Stimmen der Bundesratsmitglieder von Brandenburg beseitigt werden konnten. c) Eine solche uneinheitliche Stimmabgabe liegt vor, wenn zumindest zwei Stimmen eines Landes inhaltlich nicht übereinstimmen. Unter den gegebenen Umständen kam als Stimminhalt in Betracht: Ja, Nein oder Enthaltung. Als zulässige Stimminhalte wären – anders wohl das Sondervotum – auch Ausführungen in Betracht gekommen, mit denen unmissverständlich zum Ausdruck gebracht wird, dass für Zustimmung, Ablehnung oder Enthaltung gestimmt wird. Bei fehlender Eindeutigkeit kann und muss der amtierende Bundesratspräsident durch Nachfrage für eine Klarstellung sorgen. Unter den hier gegebenen Umständen bestehen keine Zweifel an der Auffassung des BVerfG, dass in einer unmissverständlichen Weise uneinheitlich abgestimmt worden ist8; zur Rechtsauffassung der abweichenden Richtervoten vgl. oben V9. 6 Mit Recht hat das BVerfG keinen Zweifel daran geäußert, dass es sich bei der Stimmabgabe durch Ziel und Schönbohm um eine Stimmrechtsausübung im Sinne von Art. 51 Abs. 2, 3 GG handelt. Es bestanden keine Gegengründe aus dem hier maßgeblichen Bundesverfassungsrecht (Recht des Bundesrats). 7 Anders nur, wenn der amtierende Bundesratspräsident – etwa wegen einer anders nicht zu beseitigenden Unklarheit oder aus einem anderen Rechtfertigungsgrund – die Abstimmung für Brandenburg nach Maßgabe des § 29 Abs. 1 Satz 2 GeschOBR wiederholt hätte und die Bundesratsmitglieder von Brandenburg nunmehr einheitlich gestimmt hätten. So lag aber die Sache hier nicht; zur Frage der Wiedereröffnung der Abstimmung durch Brandenburg vgl. im Text unten. 8 Die Uneinheitlichkeit wäre auch dann entstanden, wenn Minister Schönbohm mit Enthaltung gestimmt hätte. Dieser Stimminhalt hätte sich deutlich von der Ja-Stimme des Ministers Ziel abgesetzt. Die Enthaltung hätte zum Ausdruck gebracht, dass Schönbohm sich nicht in der Lage sieht, sich der Ja-Stimme von Ziel anzuschließen. 9 Zu der Frage, ob Art. 51 Abs. 3 Satz 2 GG sachlich erforderlich ist: Die Frage wird zu bejahen sein. Ohne diese Regelung könnten bei der Stimmenzählung nach Art. 52 Abs. 3 GG (absolute Mehrheit der Stimmen im Bundesrat) Zweifel darüber entstehen, wie die Stimmen bei uneinheitlicher Abstimmung durch die BR-Mitglieder eines Landes zu werten sind. Die
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d) Es bestehen auch keine Bedenken dagegen, dass das BVerfG aus der Uneinheitlichkeit der Stimmabgabe die Ungültigkeit der Abstimmung für Brandenburg abgeleitet hat. Da der Bundesrat nach Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GG seine Beschlüsse mit mindestens der Mehrheit seiner Stimmen fasst, wirkt sich die Ungültigkeit wie eine Nein-Stimme oder eine Enthaltung aus10. Wenn Art. 51 Abs. 3 Satz 2 GG für eine wirksame Stimmabgabe durch die Bundesratsmitglieder eines Landes die inhaltliche Übereinstimmung der abgegebenen Stimmen (Einheitlichkeit) voraussetzt („können“), so kann die Uneinheitlichkeit keine andere Rechtsfolge als die der Ungültigkeit haben. Das brauchte im Grundgesetz nicht ausdrücklich bestimmt zu werden. Zu einer „differenzierenden“ Beurteilung besteht kein Grund, jedenfalls nicht, wenn der Tatbestand der Uneinheitlichkeit bis zum Sitzungsende (Wirksamwerden der Beschlüsse) aufrecht erhalten bleibt, also z. B. nicht durch eine rechtlich zulässige Wahlwiederholung aufgehoben wird. e) Ziel und Schönbohm haben mit ihrer Stimmabgabe rechtsgeschäftliche, empfangsbedürftige Willenserklärungen eigener Art abgegeben, die für sie persönlich und das Land Brandenburg mit dem Zugang bei dem amtierenden Bundesratspräsidenten (Kenntnisnahme, Protokollierung) wirksam geworden sind und deshalb von ihnen nicht ohne besondere rechtliche Voraussetzungen widerrufen werden konnten (vgl. § 130 BGB). Auch der Bundesratspräsident, der nach § 29 Abs. 1 Satz 2 GeschOBR zur Stimmabgabe aufgefordert hatte, war an den Erklärungsinhalt der abgegebenen Stimmen gebunden, es sei denn, dass aus besonderen – hier nicht vorliegenden – Gründen die Stimmen als solche ihre rechtliche Wirksamkeit verlieren. Der rechtsgeschäftliche Wille der beiden Minister war darauf gerichtet, durch ihre Stimmen positiv oder negativ auf das Gesamtergebnis der Länderabstimmung einzuwirken. Die Rechtslage ist insoweit ähnlich wie bei der Stimmabgabe der Aktionäre in der Hauptversammlung einer AG11. Ziel und Schönbohm haben während des gesamten Abstimmungsverlaufs keine Erklärungen abgegeben, die als ein – wirksamer oder unwirksamer – Widerruf ih„Einheitlichkeitsklausel“ in Art. 51 Abs. 3 Satz 2 GG dürfte ein Reflex der eigenartigen Doppelstellung der Bundesratsmitglieder sein: einerseits Bestellung und Abberufung durch Landesregierung; andererseits gleichberechtigtes und gleichverpflichtetes Mitglied in dem kollegialem Bundesorgan Bundesrat – Vgl. zur Auslegung des Art. 51 Abs. 3 Satz 2 GG die vielstimmigen Beiträge in dem Sammelband von Hans Meyer (Hrsg.) Abstimmungskonflikt im Bundesrat im Spiegel der Staatsrechtslehre, 2003. Der Band enthält noch keine Stellungnahme zu dem hier kommentierten Urteil des BVerfG. 10 Die Annahme der Ungültigkeit entspricht der vorherrschenden Meinung; vgl. z. B. B. Pieroth in: Jarass / Pieroth, GG, 6. Aufl., Art. 51 Rn. 6 m. w. N.; vgl. in diesem Sinne auch J. Ipsen, Staatsrecht, 14. Aufl., Rn. 340. 11 Auch die in der Hauptversammlung einer AG abgegebene Stimme ist eine rechtsgeschäftliche Willenserklärung, die mit Zugang bei dem Hauptversammlungsleiter wirksam wird; vgl. BGHZ 14, 264 (267) = NJW 1954, 1564; BGH NJW 1952, 98 (99); vgl. Hüffer, AktG, 5. Aufl., § 133 Rn. 18 ff.; Karsten Schmidt, Gesellschaftsrecht, 4. Aufl., S. 437.
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rer Stimmabgabe – etwa zu dem Zweck, eine einheitliche Stimmabgabe zu ermöglichen – gedeutet werden könnten. Der rechtlichen Wirksamkeit der Stimmabgaben durch Ziel und Schönbohm steht nicht entgegen, dass die Uneinheitlichkeit dieser Stimmen in ihrer Gesamtheit bei der Stimmenzählung als eine ungültige Abstimmung durch Brandenburg zu werten sind, Art. 51 Abs. 3 Satz 2 GG. Die Annahme der Ungültigkeit setzt voraus, dass die Einzelstimmen als solche wirksam abgegeben sind. Die Abgabe der Stimmen als solche verstieß nicht etwa gegen ein gesetzliches Verbot im Sinne von § 134 BGB12. Die Bundesratsmitglieder Ziel und Schönbohm haben auch nicht durch ihre unterschiedliche Stimmabgabe gegen eine verfassungsrechtliche „Pflicht“ verstoßen. Art. 51 Abs. 3 Satz 2 GG erlegt den Bundesratsmitgliedern eines Landes, in dem keine einheitliche Meinung zu einem vom Bundestag beschlossenen Gesetz herbeizuführen ist, in Respekt vor den politischen Gegebenheiten keine Rechtspflicht auf, einheitlich zu stimmen. Stimmen die betroffenen Bundesratsmitglieder – als Konsequenz einer politischen Meinungsverschiedenheit – nicht mit Stimmenthaltung, so reagiert die Verfassung in der Weise, dass sie die uneinheitliche Abstimmung als ungültig disqualifiziert, was sich bei der Stimmenzählung nach Art. 52 Abs. 3 GG wie eine Nein-Stimme oder eine Enthaltung auswirkt.
2. Die entscheidende Frage: Aufhebung der Wirksamkeit der früher abgegebenen Stimmen durch die Erklärungen des Ministerpräsidenten? Es bleibt zu fragen, ob durch die zwei – inhaltlich unterschiedlichen – Befragungen des Ministerpräsidenten Stolpe durch den Bundesratspräsidenten Sachverhalte entstanden sind, durch die die rechtliche Wirksamkeit der von Ziel und Schönbohm abgegebenen Stimmen aufgehoben worden ist, und zwar mit der Folge, dass die Erklärungen des Ministerpräsidenten als eine einheitliche Ja-Stimme des Landes Brandenburg zu deuten ist. Das BVerfG hat diese Frage überzeugend verneint.
12 Der Wirksamkeit der Stimmabgabe steht auch nicht entgegen, dass nach § 32 S. 1 GeschOBR die Beschlüsse des Bundesrats mit dem Ende der Sitzung wirksam werden. Aus dieser Regelung (vgl. dazu z. B.die Kommentierung von K. Reuter, Praxishandbuch Bundesrat – Verfassungsrechtliche Grundlagen, Kommentar zur Geschäftsordnung, Praxis des Bundesrats, 1991, Rn. 1 ff.) lässt sich auch nicht folgern, der amtierende Bundesratspräsident sei bis zum Sitzungsende ohne weiteres zu einer Wiederholung der Beratungen und Abstimmungen berechtigt; vgl. dazu die Ausführungen im Text.
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a) Die erste Befragung des Ministerpräsidenten aa) Diese Befragung gehört nicht mehr zu dem abgeschlossenen Abstimmungsvorgang, an dem sich die Minister Ziel und Schönbohm durch Stimmabgabe beteiligt hatten13. In der Befragung von Stolpe liegt keine, jedenfalls keine rechtlich wirksame Wiedereröffnung der Abstimmung für das Land Brandenburg14. Der Bundesratspräsident hätte, um Rechtsklarheit zu schaffen, ausdrücklich erklären müssen, dass er durch Länderaufruf nach § 29 Abs. 1 Satz 2 GeschOBR die Abstimmung (Wahlwiederholung) für Brandenburg erneut eröffnet und damit alle brandenburgischen Bundesratsmitglieder Gelegenheit haben, erneut ihre Stimmen abzugeben. An der Zulässigkeit der Wiedereröffnung der Abstimmung hätten übrigens erhebliche rechtliche Zweifel bestanden. Es braucht hier nicht im einzelnen untersucht zu werden, unter welchen Voraussetzungen eine Wiedereröffnung der Abstimmung zulässig ist15. Der amtierende Bundesratspräsident wird sie einseitig veranlassen können, wenn die erste Abstimmung objektiv den einheitlichen oder uneinheitlichen Länderwillen nicht klar hat erkennen lassen und die Gefahr einer unrichtigen Stimmenwertung besteht. Dies war hier gewiss nicht der Fall16. Unter diesen Umständen hätte die Wiederholung der Abstimmung – angesichts der großen rechtlichen und politischen Bedeutung – der Zustimmung aller brandenburgischen Bundesratsmitglieder bedurft. Die Zustimmung hätte immerhin die rechtliche Bedeutung gehabt, dass die Minister Ziel und Schönbohm auf die fortdauernde Wirksamkeit ihrer früheren Stimmabgabe verzichtet hätten. 13 Dieser Trennung entspricht es, dass der amtierende Bundesratspräsident die erste Befragung des Ministerpräsidenten als eine „zweite Frage“ kommentiert hat, mit der geklärt werden sollte, ob der Ministerpräsident eine Erklärung (gemeint Stimmerklärung) abgeben will; vgl. dazu oben III. Auch wenn man – mit größten Bedenken – die gezielte Befragung Stolpes noch zu dem Abstimmungsvorgang (mit Stimmabgaben durch Ziel und Schönbohm) rechnen wollte, würde die Ja-Stimme des Ministerpräsidenten die bereits hergestellte Uneinheitlichkeit der Stimmabgabe nicht aufheben, da der Ministerpräsident nicht die Rechtsmacht gehabt hat, die Wirksamkeit der von seinen beiden Ministern abgegebenen Stimmen aufzuheben; vgl. unten im Text. 14 Anders die Auffassung im Sondervotum, vgl. oben V. Auch der amtierende Bundesratspräsident hat die Befragung des Ministerpräsidenten nicht als eine Wiedereröffnung der Abstimmung für Brandenburg, sondern als eine „zweite Frage“ kommentiert, die klären sollte, ob der Ministerpräsident für Brandenburg eine Erklärung abgeben wolle; vgl. oben III. 15 Vgl. dazu z. B. K. Reuter (Fn. 12), Rn. 10 ff., unter besonderer Berücksichtigung des Grundsatzes der Unverrückbarkeit des Parlamentsbeschlusses. Es ist jedoch nach der hier vertretenen Auffassung nicht nur dieses Prinzip, sondern auch der Umstand zu berücksichtigen, dass die Stimmabgaben der Bundesratsmitglieder rechtsgeschäftliche Willenserklärungen sind, die mit ihrem Zugang bei dem Sitzungsleiter wirksam werden und deren Wirksamkeit nur unter besonderen Voraussetzungen aufgehoben werden dürfen. Verallgemeinernd wird man feststellen können, dass der amtierende Bundesratspräsident eine Beratung und Abstimmung nur dann wiederholen lassen darf, wenn hierfür ein wichtiger Grund besteht. 16 Dies ergibt sich auch aus der Reaktion des amtierenden Bundesratspräsidenten nach der Stimmabgabe durch Ziel und Schönbohm (vgl. oben III).
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Das Erfordernis der Zustimmung wird sinngemäß durch § 32 Satz 2 GeschOBR bestätigt, wonach über Gegenstände, deren Behandlung abgeschlossen ist, nicht erneut beraten und abgestimmt werden darf, wenn nicht sämtliche Länder zustimmen17. Von einer Zustimmung der brandenburgischen Bundesratsmitglieder kann bei dem gegebenen Sachverhalt nicht gesprochen werden. Auch das BVerfG verneint zutreffend eine Wiedereröffnung des Abstimmungsverfahrens für Brandenburg. Sie war auch von dem amtierenden Bundesratspräsidenten nicht gewollt. Eine – verfahrensrechtlich einwandfreie – Wiederholung der Abstimmung durch die brandenburgischen Bundesratsmitglieder hätte auch unter den gegebenen Umständen mit Sicherheit erneut zu einer Uneinheitlichkeit geführt. Eine abweichende Prognose ist dem Sachverhalt, insbesondere bei der gegebenen politischen Konstellation, nicht zu entnehmen. bb) Da das Abstimmungsverfahren für Brandenburg nicht wiedereröffnet worden ist, erblickt das BVerfG in der allein an Ministerpräsident Stolpe gerichteten Frage, wie das Land Brandenburg abstimme, eine „Nachfrage“. Für diese Nachfrage18 verneint das Gericht mit Recht einen legitimierenden Anlass, da es offenkundig gewesen ist, dass eine uneinheitliche Willensbildung des Landes besteht und auch nicht zu erwarten ist, dass sich hieran etwas ändern würde19. Das BVerfG verneint auch einen sonstigen Rechtfertigungsgrund für die Nachfrage, der – möglicherweise – die Rechtsauffassung des Bundesratspräsidenten zugrunde gelegen hat, der Ministerpräsident könnte in seiner Eigenschaft als Ministerpräsident einheitlich und mit Außerkraftsetzung gegenteiliger Stimmabgaben durch die anderen Bundesratsmitglieder des Landes das Stimmrecht ausüben. Das BVerfG vertritt überzeugend die Auffassung, dass im jeweiligen Landesrecht begründete Vorrangstellungen eines Bundesratsmitglieds, z. B. eines Ministerpräsidenten, in dem Bundesorgan Bundesrat und dem hierfür geltenden Bundesrecht keine Geltung beanspruchen können20. Hier gilt das auf Gleichrangigkeit bedachte 17 Das Erfordernis der Zustimmung entfällt nur ausnahmsweise unter besonderen, hier nicht bestehenden Voraussetzungen; vgl. hierzu K. Reuter (Fn. 12), Rn. 14 ff. Jedenfalls ist der Tatbestand der uneinheitlichen Abstimmung kein rechtfertigender Grund für eine Wiederholung der Abstimmung, für die im übrigen, wie ausgeführt, ein eindeutiger erneuter Länderaufruf erforderlich ist. Es muss hier unerörtert bleiben, ob die Beratungs- und Abstimmungswiederholung ohne Länderzustimmung in allen Fällen rechtlich einwandfrei ist, in denen sie nach Reuter, a. a. O., praktiziert wird. 18 Es handelt sich hier eigentlich nicht um eine Nachfrage, wenn man darunter eine auf Klärung bedachte Frage an denjenigen versteht, der eine Erklärung abgegeben hat und zu einer ergänzenden Erklärung veranlasst werden soll. Dieser Sachverhalt war bei der Frage des amtierenden Bundesratspräsidenten an Ministerpräsident Stolpe nicht gegeben, da er sich bisher nicht geäußert hatte und deshalb kein Anlass zu einer „Nach-Frage“ bestand. 19 Es ist für die rechtliche Beurteilung ohne Bedeutung, ob es sich bei dieser Frage an den Ministerpräsidenten um die Ausführung einer „politischen Inszenierung“ gehandelt hat. 20 Nach Art. 89 der brandenburgischen Verfassung bestimmt der Ministerpräsident die Richtlinien der Regierungspolitik; er ist dafür dem Landtag verantwortlich. Innerhalb dieser Richtlinien leitet jeder Minister den ihm anvertrauten Geschäftsbereich selbstständig und
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Kollegialitätsprinzip, ungeachtet der Tatsache, dass ein weisungswidriges Stimmverhalten eines Bundesratsmitglieds Rechtsfolgen (und politische Folgen) nach dem Landesrecht haben kann. Vorsorglich und einleuchtend weist das BVerfG darauf hin, dass nach dem Landesverfassungsrecht begründete Richtlinienkompetenzen mit entsprechenden Weisungsrechten grundsätzlich anerkannt werden, jedoch nur, wenn Einvernehmen zwischen den Bundesratsmitgliedern des Landes über das Stimmverhalten besteht und dementsprechend kein Bundesratsmitglied sein Stimmrecht abweichend ausübt. Vorsorglich erwägt deshalb das Gericht, dass eine etwaige Stimmführerschaft von Stolpe (die das Gericht verneint) an der Bemerkung Schönbohms gescheitert wäre, der Bundesratspräsident kenne seine Meinung. Diese Äußerung habe nach den Redebeitrag Schönbohms in der Plenardebatte und nach Abgabe der NeinStimme nur in dem Sinne gedeutet werden können, das Schönbohm erneut in diesem Sinne Stolpe widerspreche. Unter keinem Gesichtspunkt wird sich die Auffassung vertreten lassen, Schönbohm sei zur Vermeidung von Missverständnissen verpflichtet gewesen, ausdrücklich mit Nein zu stimmen. Er hätte auch schweigen können, da mangels einer rechtswirksamen Wiedereröffnung der Abstimmung für das Land Brandenburg weder der Ministerpräsident noch die anderen Bundesratsmitglieder von Brandenburg ein neues Stimmrecht gehabt haben21. unter eigener Verantwortung gegenüber dem Landtag. Die Richtlinienkompetenz schließt das Recht des Ministerpräsidenten ein, das Abstimmungsverhalten der Landesminister im Bundesrat inhaltlich festzulegen. Diese Entscheidung hat rechtlich den Vorrang vor einer entsprechenden Koalitionsvereinbarung, da diese nur politische Absichtserklärungen enthält und nicht rechtlich verbindlich ist. Weicht die Entscheidung des Ministerpräsidenten in Ausübung der Richtlinienkompetenz von einer Koalitionsvereinbarung ab, stimmen aber die Bundesratsmitglieder des Landes im Bundesrat entsprechend der Koalitionsvereinbarung, so sind die Stimmen gültig; vgl. z. B. Pieroth (Fn. 9), Art. 51 Rn. 6 mwN. 21 Soweit bei der ungewöhnlichen Materialfülle in Schrifttum (zum Teil auch in Tageszeitungen; vgl. bei H. Meyer (Fn. 9), S. 12 ff., veröffentlichte Tageszeitungsbeiträge) übersehbar, entspricht das Urteil des BVerfG insbesondere die Würdigung des Vorgangs: Befragung des Ministerpräsidenten, der deutlich vorherrschenden Meinung im verfassungsrechtlichen Schrifttum. Die Ansicht von v. Mangoldt, BK, 1. Aufl. 1953, Art. 53 Fn. 3, über die Rechtsfolgen der uneinheitlichen Abstimmung im Bundesrat gilt seit Jahrzehnten als überholt. Der Vorschlag K. Sterns, Staatsrecht, Bd. II, 1980, S. 137, bei Uneinheitlichkeit der Abstimmung keine Ungültigkeit anzunehmen, sondern die Stimme des anwesenden Kabinettsvorsitzenden entscheiden zu lassen, berücksichtigt nicht ausreichend, dass ein solches Letztentscheidungsrecht des Kabinettsvorsitzenden in den bundesverfassungsrechtlichen Regelungen über den Bundesrat aus den von dem BVerfG ausgeführten Gründen keine Grundlage findet. Das Gericht brauchte sich mit dieser Auffassung nicht auseinander zu setzen, da Ministerpräsident Stolpe an der verfahrensrechtlich maßgeblichen Abstimmung nicht mit einer eigenen Stimme teilgenommen hat. Seine spätere Stimmabgabe ist rechtlich u. a. deshalb nicht relevant, weil der Bundesratspräsident das Abstimmungsverfahren für Brandenburg nicht wiedereröffnet hat. Die landesrechtlich begründete Vorrangstellung des Ministerpräsidenten (Richtlinienkompetenz, Außenvertretung usw.) bricht sich sozusagen an dem für das Bundesorgan Bundesrat geltenden Bundesverfassungsrecht. – Zum Verhältnis Landesrecht / Recht des Bundesrats bot sich dem BVerfG nach der Ausgestaltung der rechtlichen Regelungen über den 13*
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b) Die zweite Befragung des Ministerpräsidenten Überzeugend vertritt das BVerfG die Ansicht, dass die zweite Befragung keine rechtliche Bedeutung hat, da sie außerhalb eines geordneten Abstimmungsverfahrens steht. Die Frage, ob der Ministerpräsident noch „Klärungsbedarf“ hat, war unzulässig. Es ist deshalb ohne Bedeutung, welche Erklärung der Ministerpräsident hierzu abgegeben hat. Schönbohm war weder berechtigt noch verpflichtet, sich seinerseits zu der Erklärung des Ministerpräsidenten zu äußern oder gar ausdrücklich mit Nein zu stimmen. Aus dem Schweigen Schönbohms lässt sich dementsprechend auch nicht folgern, der Minister habe sinngemäß durch sein Schweigen seine Nein-Stimme aufgegeben und sich der – außerhalb der Verfahrensordnung abgegebenen – Ja-Stimme des Ministerpräsidenten angepasst.
VII. Ergebnisse 1. Dem Urteil des BVerfG ist in seinem Ergebnis und in seiner Begründung zuzustimmen. 2. Es ist rechtlich und politisch zu begrüßen, dass durch das Urteil wichtige Auslegungs- und Verfahrensfragen zu Art. 51 Abs. 3 Satz 2 GG in einer überzeugenden und den Bedürfnissen der Bundesratspraxis entsprechenden Weise geklärt worden sind. 3. Das Urteil entfaltet eine besondere Bedeutung für Koalitions-Landesregierungen, wenn es den Koalitionspartnern nicht gelingt, sich bei Uneinigkeit auf eine Abstimmung im Bundesrat mit Enthaltung zu verständigen. Das Urteil stellt klar, dass in diesen Fällen die Bundesratsmitglieder des Landes – ungeachtet politischer Folgen auf Länderebene – berechtigt sind, ihr Stimmrecht nach ihrer Überzeugung auszuüben. Stimmen sie uneinheitlich (mit der Rechtsfolge der Ungültigkeit), so zeigt sich darin, dass sich die Bundesratsmitglieder des Landes nicht in der Lage sehen, das vom Bundestag beschlossene Gesetz zu unterstützen.
Bundesrat, insbesondere durch die Art. 51, 52 GG, keine sinnvolle Alternative zu der von ihm vertretenen Auffassung.
Fragen des Bund-Länder-Streits Von Peter Lerche Peter Selmer wandte sich an herausgehobenem Ort1 dem Bund-Länder-Streit zu; einer ehrwürdigen Verfahrensart2. Unter der Herrschaft des Grundgesetzes aktualisierte sich ein solches Verfahren – aus mancherlei Gründen3 – nicht sonderlich häufig; wenn aber doch, dann zumeist in Prozessen erheblicher Tragweite4. In einem Zentrum der Darlegungen Selmers steht das für den Bund-LänderStreit zu fordernde „bundesstaatsspezifische Verfassungsrechtsverhältnis“, wie er diese Voraussetzung im Einklang mit einer verbreiteten Terminologie nennt5. Im Folgenden seien einige Fragen aus diesem Bereich ausgewählt; und zwar verständlicherweise solche, bei denen der Verfasser ausnahmsweise die Dinge etwas anders sieht als Selmer. Die Betrachtung beschränkt sich im Übrigen auf den Bund-Länder-Streit im engeren Sinn, d. h. auf das Feld allein des Art. 93 Abs. 1 Nr. 3 GG.
1 P. Selmer, Bund-Länder-Streit. In: P. Badura / H. Dreier (Hrsg.), FS 50 Jahre Bundesverfassungsgericht, Bd. I, 2001, S. 563 ff. 2 „Urgestein deutscher Verfassungsgerichtsbarkeit“, vgl. H. Bethge in Th. Maunz u. a. (Hrsg.), Bundesverfassungsgerichtsgesetz, § 13, Rn. 69; aufgenommen etwa von K. Schlaich / St. Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, 5. Aufl., 2001, Rn. 95. Zur staatsgerichtlichen Traditionslinie aus der jungen Literatur zusammenfassend etwa A. Voßkuhle, in: v. Mangoldt / Klein / Starck, GG, Bd. 3, 4. Aufl. 2001, Art. 93, Rn. 133. Zur jüngeren Praxis etwa W. Brechmann, Der Bund-Länder-Streit in der aktuellen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, in: J. Aulehner (Hrsg.), Föderalismus – Auflösung oder Zukunft der Staatlichkeit?, 1997, S. 113 ff. 3 Dazu nur etwa neben den schon Genannten P. Selmer (Fn. 1), S. 564 ff.; E. Benda / E. Klein, Verfassungsprozessrecht, 2. Aufl. 2001, Rn. 1088; W. Löwer, Zuständigkeiten und Verfahren des Bundesverfassungsgerichts, in: J. Isensee / P. Kirchhof (Hrsg.), HdbStR, Bd. II, 1987, § 56, Rn. 29; Chr. Pestalozza, Verfassungsprozessrecht, 3. Aufl. 1991, § 9, Rn. 2, u. a. m. 4 W. Leisner, Der Bund-Länder-Streit vor dem Bundesverfassungsgericht, in: Chr. Starck (Hrsg.), Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz (BVerfG-Festgabe), Bd. I 1976, S. 260 ff., (262) bemerkte, das Bundesverfassungsgericht habe hier schon früh wenige, aber bedeutsame Weichenstellungen vorgenommen. Das hat sich fortgesetzt. 5 P. Selmer (Fn. 1), S. 574 ff.
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I. Kompetenzrechtsverhältnis und Rechtsstaatsprinzip Die genaue Abgrenzung des bundesstaatsspezifischen Verfassungsrechtsverhältnisses enthält Komplikationen unterschiedlicher Art. Das zeigt sich bereits bei einer eher grundsätzlichen Frage: 1. Der kontradiktorischen Natur des Bund-Länder-Streits muss Rechnung getragen werden; daher können nur subjektive wechselseitige Rechte oder Pflichten von Bund und Ländern (verfassungsrechtlichen Charakters) eingeklagt werden. Das Bundesverfassungsgericht verlangt insbesondere als Streitgegenstand eines von einem Lande erhobenen Bund-Länder-Streits Maßnahmen oder Unterlassungen des Bundes, „die innerhalb eines Bund und Land umspannenden materiellen Verfassungsrechtsverhältnisses eine verfassungsrechtliche Rechtsposition des Landes verletzen oder unmittelbar gefährden können“6. Normalerweise steht daher ein Kompetenzrechtsverhältnis in der Mitte7. Bei diesem hat nach Selmers Meinung die Berufung auf das Rechtsstaatsprinzip nichts zu suchen, was für die Zukunft des Bund-Länder-Streits bedeutsam werden könne8. Damit wendet er sich gegen die jüngere Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum sogen. Kohärenzgebot, soweit dieses auf das Rechtsstaatsprinzip gestützt wird9. Nach diesem literarisch heftig befehdeten10 Gebot verpflichte die bundesstaatliche Kompetenzordnung alle rechtsetzenden Organe, ihre Regelungen so aufeinander abzustimmen, dass die Rechtsordnung nicht aufgrund unterschiedlicher Anordnungen widersprüchlich wird; die Verpflichtungen einerseits zur Beachtung der bundesstaatlichen Kompetenzgrenzen und andererseits zur Ausübung der Kompetenz in wechselseitiger bundesstaatlicher Rücksichtnahme würden – so die Judikatur – „durch das Rechtsstaatsprinzip in ihrem Inhalt verdeutlicht und in ihrem Anwendungsbereich erweitert“11. Ob das Kohärenzgebot mit diesem Inhalt tatsächlich besteht, kann hier nicht erörtert werden. Wenn es aber besteht, handelt es sich um ein solches, das ein Widersprüchlichwerden der Rechtsordnung zwar nicht nur, wohl aber auch im BundLänder-Verhältnis und gerade auch in diesem verhindern will. Dass sich die angeführte Rechtsprechung bislang anscheinend nicht speziell im Bund-Länder-Streit entfaltete, ist dafür irrelevant. Ebenso wie dies für die sonstigen vorstellbaren AnBVerfGE 104, 238 (245 m. w. N.). An dieser Stelle interessiert nicht näher, welche genauere Bedeutung dem „Kompetenz“-Begriff speziell im Bund-Länder-Streit zukommt. Dazu etwa W. Löwer (Fn. 3) in Rn. 30 in Auseinandersetzung mit W. Leisner (Fn. 4), S. 264. 8 P. Selmer (Fn. 1), S. 572 f. Auch etwa Chr. Heitsch, Die Ausführung der Bundesgesetze durch die Länder, 2001, S. 276, Fn. 106, hält die Anreicherung der Kompetenzverteilung durch das rechtsstaatliche Kriterium der „widerspruchsfreien Rechtsordnung“ für „bedenklich“. 9 BVerfGE 98, 265 (301); vgl. auch BVerfGE 98, 83 (97 f.); 98, 106 (118 ff.). 10 Vgl. die Nachweise bei Selmer (Fn. 1), S. 572, Fn. 81. 11 BVerfGE 98, 265 (301) m. w. N. 6 7
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wendungsformen des Gebots zutrifft, gründet das Gebot auch im föderalen Verhältnis auf dem Prinzip der Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung („Einheit“ der Rechtsordnung im engen Sinn) und damit unmittelbar im rechtsstaatlichen Gedankengut. 2. Ein Zweifaches ist dazu bemerkenswert: a) Anders wohl als es Selmer sieht, ist das Rechtsstaatsprinzip hier nicht als ein zusätzlich zu spezifisch bundesstaatlichen Pflichten hinzutretendes Verfassungsgebot und mithin als eine Art von außen kommender Fremdkörper zu betrachten, der im bundesstaatsspezifischen Verfassungsrechtsverhältnis keine Heimstatt hätte. Das trifft zwar für den Regelfall durchaus zu12. Speziell das Kohärenzgebot lebt aber unmittelbar aus jenem Gedanken der Widerspruchsfreiheit, der kraft seiner rechtsstaatlichen Provenienz ebenso im föderalen Verhältnis wie in anderen möglichen Kollisionsbereichen unterschiedlicher Kompetenzträger unmittelbar zur Wirkung kommen muss, daher kein nur hinzutretendes Prinzip, sondern insoweit die Quelle des Ganzen ist. Es ist zwar die Frage, ob das Kohärenzgebot in der von der Judikatur beanspruchten Form (mit einer gewissen Unterbewertung der speziellen Kompetenzfestlegungen?) wirklich eine zwingende Folge dieses sozusagen durchwirkenden Prinzips rechtsstaatlicher Widerspruchsfreiheit ist; anders aber als mit dieser Begründung könnte es schon von Haus aus nicht antreten und bestehen; eben diese Begründung durchströmt die Substanz des Kohärenzgebots. b) Eine zweite Lehre ist aus dem Beobachteten zu ziehen: Das bundesstaatsspezifische Verfassungsrechtsverhältnis braucht nicht auf Stützen zu verzichten, die auch außerhalb des Bundesstaatsverhältnisses wirkungsmächtig sind; Stützen, zu denen u. a. der Rechtsstaatsgedanke zählt. Man könnte auch sagen: Eben weil die formelle Verfassung selbst in gewisser (nicht übertriebener13) Weise als eine Einheit aufgefasst werden muss, liegt es nahe anzunehmen, dass auch das richtige Verständnis des bundesstaatlichen Verhältnisses als solches durch Existenz und Gewicht weiterer Verfassungsbestandteile, insbesondere von Verfassungsfundamentalprinzipien, beeinflusst wird. Dieser Gesamtzusammenhang darf nicht verloren gehen. Dass etwa das Sozialstaatsprinzip den bundesstaatlichen Charakter mitprägt („sozialer Bundesstaat“), ist seit langem anerkannt. Dennoch bleibt die von Selmer bevorzugte Begriffsbildung des „bundesstaatsspezifischen“ Verfassungsrechtsverhältnisses ungefährdet und richtig. Soweit sich rechtsstaatliche Gehalte nicht unmittelbar im Bund-Länder-Verhältnis selbst, dieses mitprofilierend, bemerkbar machen, kann ihre Durchsetzung im Bund-LänderStreit nicht eingefordert werden. Insofern muss stets „spezifisch“ das föderale Verhältnis in Rede stehen14. Dies aber wird in Konsequenz des Gesagten nicht schon 12 Siehe nur etwa die von P. Selmer (Fn. 1), S. 572 f., Fn. 84 angeführte Passage in der Entscheidung BVerfGE 81, 310 (338) sowie BVerfGE 104, 238 (246). 13 Zu Legitimation wie Gefahren der Deutung der formellen Verfassung als Einheit siehe meinen Beitrag Grundrechtswirkungen im Privatrecht, Einheit der Rechtsordnung und materielle Verfassung. In: R. Böttcher u. a. (Hrsg.), FS W. Odersky, 1996, S. 215 ff., 220 f.
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dadurch ausgeschlossen, dass für die Interpretation jenes Verhältnisses sonstige Verfassungsinhalte mit einberechnet werden müssen. „Spezifisch“ bundesstaatlich kann nicht heißen: ausschließlich im bundesstaatlichen Verhältnis existierend; vielmehr genügt es, wenn ein auch sonst geltender Rechtsgedanke in einer bestimmten Konstellation das bundesstaatliche Verhältnis in charakteristischer Weise färbt und es im konkreten Streit auf diese besondere Färbung ankommt. Auch in diesem Fall erfährt m. a. W. das bundesstaatliche Verhältnis eine spezifische Prägung. Auch etwa das gewiss bundesstaatsspezifische (wenngleich nur akzessorische) Prinzip des bundesfreundlichen Verhaltens, auf das noch zurückzukommen sein wird, ist letztlich nur ein Terminus für einen allgemeineren Rechtsgedanken, soweit sich dieser speziell im Bund-Länder-Verhältnis niederschlägt. Die hiernach geforderte wechselseitige Rücksichtnahme ist nicht nur ein föderales Spezifikum, es prägt aber auch das föderale Verhältnis. Im Ergebnis sollte es also nicht verwehrt sein, im Bund-Länder-Streit auch mit rechtsstaatlichem Gedankengut zu operieren, wenn die genannten Voraussetzungen erfüllt sind.
II. Vergleichbare Deutungen des Bundesstaatsspezifischen Zudem mag man fragen, ob nicht auch in anderen besonderen Hinsichten der Begriff des Bundesstaatsspezifischen entsprechend großzügig verstanden wurde. 1. Im Fall des atomrechtlichen Genehmigungsverfahrens BVerfGE 81, 310 hat das Gericht ausdrücklich erklärt, aus dem Rechtsstaatsprinzip abgeleitete Schranken für Einwirkungen des Staates in den Rechtskreis des Einzelnen seien im kompetenzrechtlichen Bund-Länder-Verhältnis nicht anwendbar15. Im Blick auf die Weisungsbefugnis des Bundes gemäß Art. 85 Abs. 3 GG (Auftragsverwaltung) habe das Land dem Bund gegenüber kein einforderbares Recht dahingehend, dass der Bund seine (im Einklang mit der Verfassung in Anspruch genommene) Weisungsbefugnis inhaltlich rechtmäßig ausübt, etwa eine Grundrechtsverletzung unterlässt16. Es besteht demnach in dieser Richtung keine rechtliche Beziehung zwischen Bundesgewalt und Landesgewalt17; m. a. W. für die Annahme eines bundesstaatsspezifischen Verfassungsrechtsverhältnisses ist insoweit kein Raum18. 14 Das dürfte auch mit der Judikatur des Bundesverfassungsgerichts jedenfalls der Sache nach im Einklang stehen; fordert diese doch eine Prägung des föderativen Bund-Länder-Verhältnisses (z. B. BVerfGE 104, 238, 246) durch die als verletzt behaupteten Verfassungsnormen. 15 BVerfGE 81, 310 (338). 16 Ebendort S. 332 ff. 17 Ebendort S. 333. 18 Dass der Antrag des Landes dennoch als zulässig erklärt wurde (ebendort S. 329), beruht darauf, dass eine andere Sicht seinerzeit noch als „möglich“ angesehen wurde, allerdings mit dem etwas geheimnisvollen Zusatz: „die Rechtsposition selbst muss dem Land in der von ihm geltend gemachten Art jedoch zustehen“ – damit werden die Grenzen zwischen Zulässig-
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2. Das aber hinderte das Gericht nicht, für eine extreme Situation etwas anderes anzunehmen; nämlich für den Fall, dass die Weisung vom Lande etwas fordern wollte, „was schlechthin außerhalb des von einem Staat Verantwortbaren gelegen ist“, also etwa bei kollektiver Existenzgefährdung19. Der dahinter aufschimmernde Rechtsgedanke, d. h. das Bestehen einer Bund und Land „gemeinsame(n) Verantwortung für den Bestand des Staates und seiner Verfassungsordnung sowie für die Abwehr kollektiver Existenzgefährdungen“ 20, dieser Rechtsgedanke ist ebenfalls nicht ausschließlich im föderalen Verhältnis präsent, wird dennoch aber, wie man sieht, hier als ein bundesstaatsspezifischer (im obigen Sinn) behandelt. Dass der Rechtsgedanke nicht ausschließlich im föderalen Verhältnis lebt, könnte allerdings angesichts der gerichtlichen Formulierungen etwas verdeutlicht werden. Es äußert sich dies darin: Zwar ist von einer Bund und Land „gemeinsamen“ Verantwortung die Rede; gleichwohl handelt es sich um eine Verantwortung, die primär jeder Staat für sich trägt, die also nicht etwa speziell nur im Verhältnis zu den anderen staatlichen Partnern Gestalt gewönne. Die apostrophierte Gemeinsamkeit der Verantwortung soll ja nach der zitierten Entscheidungslinie gerade nicht zwingend voraussetzen, dass die staatlichen Partner zusammenwirken: Jeder Partner muss möglichst schon für sich selbst im Stande bleiben, jenen Extremgefahren zu begegnen. Infolgedessen ergreift diese allgemeinere Verantwortungskompetenz nur „auch“ das föderale Verhältnis; sie ist aber nicht in dieses ausschließlich eingebunden, d. h. sie ist nicht nur „eigentümlich“ föderal. Man sieht: Schon dies genügt auch hier für die Bejahung eines bundesstaatsspezifischen Verhältnisses; allerdings wiederum nur in dem Sinn, dass bei der im Streit stehenden konkreten föderalen Beziehung (also der Frage: Muss das Land der Weisung des Bundes folgen, wenn diese rechtswidrig ist?) dieser zusätzliche Verfassungsgedanke mit einzubeziehen ist – insofern nicht anders als etwa bei der Verwertung rechtsstaatlichen Gedankenguts bei der Auslegung föderaler Rechtsbeziehungen. Auch in diesem vorgestellten Extremfall knüpft daher die angenommene „gemeinsame Verantwortung“ noch nicht als solche das föderale Band. Dieses entstünde auch hier erst durch ein unterstelltes Gebrauchmachen des Bundes von seiner prinzipiellen Weisungsbefugnis gegenüber dem Land. Ohne Hinzutreten einer solchen spezifisch föderalen Beziehung flösse aus jener gemeinsamen Verantwortung für die Abwehr existentieller Gefährdungslagen kein bundesstaatsspezifisches Verfassungsrechtsverhältnis. Nicht beantwortet ist damit infolgedessen die Frage, ob etwa – in einem unterstellten andersgelagerten, aber ebenfalls extremen Fall – ein Untätigbleiben eines Gliedstaats bzw. des Bundes bei Eintritt einer existentiellen Gefährdungslage der keit und Begründetheit verwischt. P. Selmer (Fn. 1), S. 578 f. m. w. N. hat denn auch diesen Zusatz (der in BVerfGE 84, 25 [30] nicht wiederkehrt) zu Recht kritisiert. 19 Näher ebendort S. 334 f. Vgl. auch BVerfGE 102, 167 (172): „vorbehaltlich äußerster Grenzen“. 20 BVerfGE 81, 310 (334).
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beschriebenen Art die anderen staatlichen Partner im Bundesstaat zur Klage berechtigen könnte; m. a. W. ob dann über das Gesagte hinausgehend schon allein angesichts dieses Umstands ein spezifisch föderales Rechtsverhältnis anzuerkennen wäre. Soweit nicht ohnehin spezielle Verfassungsnormen vorhanden sind, könnte hier möglicherweise die Bundestreue ein sogar substantielles Terrain gewinnen. 3. Was allerdings speziell die möglichen Fälle aufsichtlicher Weisungen anlangt, dürfte eine zusätzliche Gegebenheit einzurechnen sein. Eine Weisung der zuständigen Bundesbehörde kann die Landesbehörden von vornherein nur dann binden, wenn sie nicht nichtig ist21. Bei einer nichtigen Weisung stellt sich die Frage, ob die Landesbehörden an eine inhaltlich rechtswidrige Weisung gebunden sind, vorweg nicht; an nichtige Anordnungen ist wegen des Wegfalls aller gewollten Wirkungen niemand gebunden. Wollte nun in einem Einzelfall ein Land geltend machen, die vom Gericht vorsorglich ins Auge gefasste Extremsituation sei tatsächlich vorhanden, der Bund verlange mithin vom Lande etwas, was schlechthin außerhalb des von einem Staat Verantwortbaren gelegen ist, dann macht das Land doch kaum anderes als Nichtigkeit der Weisung geltend. Es ist dies nicht der einzige mögliche Nichtigkeitsgrund, aber doch ein solcher: Im Grunde behauptet das Land, dass der Bund von ihm evident Unzulässiges einfordere. In wie hohem Maße die Gründe für diese Behauptung substantiiert werden müssten (so dass bei Kenntnis aller Gründe und Unterstellung ihrer Richtigkeit auch Offensichtlichkeit des Rechtsverstoßes eintritt), ist eine sekundäre Frage.
III. Vergleichbare Konstellationen im Organstreit? Eine in gewissem Sinn vergleichbare Fallkonstellation kann sich kennzeichnenderweise auch im Organstreitverfahren zeigen. Der Bund-Länder-Streit ist in den prozessualen Strukturen mit dem ebenfalls kontradiktorischen Organstreit nah verwandt. Bei der Frage der Antragsberechtigung im Organstreit („eigene Rechte“ im Sinn von Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG, § 64 Abs. 1 BVerfGG) ist die Frage eines angeblichen „ultra vires“-Handelns in der jungen Judikatur etwa in BVerfGE 100, 266 (270)22 aufgetaucht. Indes hatte schon die Nachrüstungs-Entscheidung (BVerfGE 68, 1) mit der Frage zu tun, ob die antragstellende Fraktion rügen könne, Rechte des Bundestages seien durch die dort in Streit stehende Maßnahme (Zustimmung) der Bundesregierung u. a. „wegen ihrer inhaltlichen Auswirkungen auf Grundrechte . . .“ verletzt worden23. Das wurde zu Recht prinzipiell verneint: 21 Vgl. dazu (aus der Zeit vor der angeführten Entscheidung) meine Kommentierung in: Maunz / Dürig, Grundgesetz, Art. 85, Rn. 53. 22 In Verbindung mit BVerfGE 91, 246 (250 f.) und einiger früherer Judikatur. Zu der angeführten Entscheidung (BVerfGE 100, 266) siehe insoweit auch J. Pietzker, Organstreit, in: P. Badura / H. Dreier (Fn. 1), S. 587 ff., (604 f.). 23 BVerfGE 68, 1 (69 f.).
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Die Grundrechte begründeten als solche keine Rechte des Bundestages im Sinn des § 64 Abs. 1 BVerfGG24. Aber auch schon bei dieser Gelegenheit nahm das Gericht Witterung möglicher besonders gelagerter Situationen auf und bemerkte: „Ob etwas anderes gälte, wenn die Bundesregierung im Bereich der Grundrechte einen Gesetzesvorbehalt schlechterdings missachtete oder sich schlechthin außerhalb des Rahmens eines den Vorbehalt ausfüllenden Gesetzes bewegte, bedarf nicht der Entscheidung . . .“25. Die Nähe zu der angeführten Vorstellung einer spezifisch eintretenden Verantwortung des jeweils zur Aktion gelangenden Staates im Bund-Länder-Streit für Extremsituationen ist zwar nicht übertrieben zu sehen, in einer inneren Zone aber doch spürbar. Das Gericht hielt jedenfalls bei der vorsorglich vorgestellten extremen Grundrechtsverletzung der Bundesregierung das Bestehen einer kontradiktorischen Beziehung zwischen den Kompetenzträgern für möglich (ohne die Frage zu entscheiden).
IV. Zur Berufung auf Grundrechte 1. Das führt zugleich zur Frage, ob auch in anderen Beziehungen die Berufung auf Grundrechte einen Bund-Länder-Streit zu begründen vermag. Selmer26 verneint für den Regelfall ein bundesstaatsspezifisches Verfassungsrechtsverhältnis deshalb, weil die „föderale Indifferenz der Grundrechte“27 regelmäßig ein bundesstaatsspezifisches Verfassungsrechtsverhältnis ausschließe. Er macht allerdings zugleich darauf aufmerksam, dass die Judikatur verschiedentlich auf der Existenz einer potentiell „kompetenzverteilenden Komponente“ der Grundrechte28 für einen Kernbereich beharrt habe. Damit ist man aber wohl nur wiederum auf die schon erwähnte Art von Extremsituationen, wie sie im Bund-Länder-Streit bei Gelegenheit jenes atomrechtlichen Genehmigungsverfahrens ans Licht trat, zurückgeworfen29. 24 Ebendort S. 70. Das erhält durch die nachfolgenden Ausführungen Farbe, die darauf hinauslaufen, das Grundgesetz habe den Bundestag als Gesetzgebungsorgan, nicht aber als umfassendes „Rechtsaufsichtsorgan“ über die Bundesregierung eingesetzt (ebendort S. 72). Demgemäß lasse sich aus dem Grundgesetz kein „eigenes Recht“ des Bundestages dahingehend ableiten, dass jegliches materiell oder formell verfassungswidrige Verhalten der Bundesregierung unterbleibe (ebendort S. 72 f.). Der Fall des Bundeswehr-Einsatzes BVerfGE 90, 286 (336 ff.) war anders gelagert. – Zur Frage der Rügemöglichkeit von Verletzungen des Gesetzesvorbehalts im Organstreitverfahren sowie im Bund-Länder-Streit siehe auch A. v. Brünneck, Der Vorbehalt des Gesetzes im Organstreitverfahren – Die verfassungsprozessualen Möglichkeiten der Fraktionen und der Länder. in: P. Macke (Hrsg.), Verfassung und Verfassungsgerichtsbarkeit auf Landesebene, 1998, S. 153 ff. m. w. N. 25 BVerfGE 68, 1 (70). Hierzu J. Pietzker (Fn. 22), S. 603 f., der eine „klare Lösung“ nicht sieht. 26 P. Selmer (Fn. 1), S. 575 m. w. N. 27 Terminus im Anschluss an W. Löwer (Fn. 3), Rn. 34. 28 P. Selmer (Fn. 1), S. 576; Terminus im Anschluss an W. Meyer, in: I. v. Münch / P. Kunig, Grundgesetz-Kommentar, Bd. 3, 3. Aufl. 1996, Art. 93, Rn. 49.
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2. Davon zu unterscheiden ist, dass Grundrechtsnormen für die Auslegung von föderalen Kompetenznormen relevant sein können. Dies aber begründet keine Besonderheit. Man beruft sich hier auf das jeweilige Grundrecht nicht als auf eine dem jeweiligen klagenden Staat gegenüber dem bundesstaatlichen Partner zustehende Rechtsposition, vielmehr als auf einen Verfassungsbestandteil, der Auslegungswirkungen äußert; d. h. der bei der jeweils im Streit stehenden Kompetenznorm mitbedacht sein will – nicht anders wiederum als bei den bisher erörterten Fallgestaltungen dieser Art. Ohne Kompetenznorm hinge auch ein solcher Streit in der Luft. 3. Schwieriger liegt die Frage, ob sich ein bundesstaatsspezifisches Verfassungsrechtsverhältnis aus einer anderen grundrechtlichen Besonderheit entwickeln könnte. In einer ebenso berühmten wie etwas unsicheren und erst Recht umstrittenen Passage hatte das frühe numerus-clausus-Urteil des Bundesverfassungsgerichts30 die Mitverantwortung von Bund und Ländern für eine kooperative Verwirklichung des Grundrechtsschutzes vorausgesetzt. Sollte im konkreten Bereich der Bund in angemessener Frist keine befriedigende Regelung treffen, „würde sich die weitere Frage stellen, was die Länder – etwa durch Abschluss von Staatsverträgen – ihrerseits unternehmen können und müssen, um ihrer Mitverantwortung für eine kooperative Verwirklichung des Grundrechtsschutzes gerecht zu werden . . .“. Diese Gestalt einer Mitverantwortung erinnert in der Konstruktion an jene gemeinsame Verantwortung, wie sie für Fälle existentieller Gefährdungslagen angenommen wurde. Aber auch die Mitverantwortung schafft wohl nicht schon als solche ein föderales Rechtsverhältnis, wie es vorliegen müsste, soll ein bundesstaatsspezifisches Verfassungsrechtsverhältnis bejaht werden können. Die zitierte Passage mahnt zwar die Pflichten sowohl des Bundes als auch der Länder an, innerhalb ihres jeweiligen Kompetenzbereichs zum Zweck des Grundrechtsschutzes tätig zu werden. Möglicherweise darf in diese Aussage auch die Rechtfertigung eines gegenüber dem Normalfall weiteren Kompetenzverständnisses des jeweils Handelnden hineingelesen werden. Damit ist aber wiederum noch nichts über eine RechtePflichten-Beziehung zwischen Bund und Ländern gesagt, die hier – etwa bei Untätigbleiben einer Seite – aktuell werden könnte. Inwieweit im Falle des Tätigwerdens sowohl des Bundes als auch der Länder ein gegenseitiges Abstimmungsgebot zu respektieren wäre, dürfte in denselben Fragenkreis einmünden, wie er schon bei der Frage eines allgemein bestehenden Kohärenzgebots31 zu bedenken war. 29 Wie die Zitierung der Entscheidung BVerfGE 81, 310 bei P. Selmer (Fn. 1), S. 576, Fn. 114 zeigt. Die vielfach auch sonst angeführte Passage im Fernseh-Urteil – BVerfGE 12, 205 (259) – zur auch föderalen Bedeutung des Art. 5 Abs. 1 GG bildet einen eher fraglichen, inzwischen in dieser Allgemeinheit wohl überwundenen Hintergrund, wie auch P. Selmer (ebendort S. 576) der Sache nach bemerkt; im Näheren kritisch etwa H. Bethge (Fn. 2), § 69 Rn. 156 m. w. N. Aus der jüngsten Judikatur siehe BVerfGE 104, 238 (245 f.), wobei die Entscheidung BVerfGE 12, 205 (259 ff.) immerhin als „Ausnahmefall“ fortlebt. 30 BVerfGE 33, 303 (357 f.). 31 Oben I.
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V. Zum „Verfassungs“-Rechtsverhältnis als Voraussetzung 1. Ein letzter Punkt sei hervorgehoben. Das maßgebliche Rechtsverhältnis, also die Bund und Land umspannende Rechtsbeziehung, muss verfassungsrechtlicher Natur sein. In dieser Allgemeinheit ist man sich darüber, was Art. 93 Abs. 1 Nr. 3 GG anlangt, wohl einig32. Was aber das zu fordernde Verfassungsrechtsverhältnis im Einzelnen auszeichnet, ist so sicher nicht. Nach Selmer33 kann sich das bundesstaatsspezifische Verfassungsrechtsverhältnis einmal „unmittelbar aus dem Grundgesetz ergeben . . . , von Fall zu Fall in Verbindung mit der konkretisierenden Kraft des verfassungsrechtlichen Gebots bundesfreundlichen Verhaltens“. Dagegen ist gewiss nichts einzuwenden; denn da sich in diesen Fällen das nur akzessorische Gebot der Bundestreue konkret in einer verfassungsrechtlichen Materie bewegt, spielt es keine Rolle, dass dieses Gebot auch in anderen, etwa verwaltungsrechtlichen, Materien zur konkreten Wirkung gelangen und von hierher seine Kennzeichnung erfahren kann. In letzteren Fällen reicht die allgemeine verfassungsrechtliche Provenienz des Gebots der Bundestreue als solche nicht aus, um von einem konkreten Verfassungsrechtsverhältnis sprechen zu können34. 2. Selmer geht aber noch einen Schritt weiter. Er meint, das rechte- und pflichtenbegründende Verfassungsrechtsverhältnis könne sich „unmittelbar aber auch aus außergrundgesetzlichen materiell-verfassungsrechtlichen Zusammenhängen ergeben, die freilich naturgemäß ihrerseits ebenfalls eines gewissen formell-verfassungsrechtlichen Anknüpfungspunktes bedürfen“35. Das ist wohl nicht als letztes Wort zu dieser Frage gedacht. Selmer spürt offenbar zu Recht, dass es nicht genügen kann, wenn sich der konkrete Streit lediglich aus dem materiellen Verfassungsrecht als solchem, d. h. ohne Bezug zur formellen Verfassung, entwickelt: Zum materiellen Verfassungsrecht gehören auch grundlegende Rechtsnormen (etwa des bürgerlichen Rechts), die in der formellen Verfassung keinen fassbaren Niederschlag gefunden haben; die Berufung auf derartige Rechtsnormen könnte kaum zureichen. Genügt es aber, dass nur ein formell-verfassungsrechtlicher „Anknüpfungspunkt“ gefunden wird36? Wie insoweit schon an anderer Stelle in allgemeinerem Zusammenhang (zur Abgrenzung vom Verwaltungsrechtsweg) angedeutet37, dürfte zu verlangen sein, dass die Streitsache durch ihSiehe etwa BVerfGE 13, 54 (72). P. Selmer (Fn. 1), S. 574. 34 Nur im Einzelnen weichen die darauf bezogenen Formulierungen voneinander ab; vgl. etwa W. Leisner (Fn. 4), S. 280 ff.; W. Löwer (Fn. 3), Rn. 34; Chr. Pestalozza (Fn. 3), § 9, Rn. 7 u. a. m. Aus der jungen Judikatur siehe etwa BVerfGE 103, 81 (87 f.); 104, 238 (247 f., 249); 104, 249 (269 ff.); Sondervotum E 104, 249 (282 ff.). 35 P. Selmer (Fn. 1), S. 574 unter Berufung auf W. Leisner (Fn. 4), S. 286 (vgl. näher dort S. 285 f. zu Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 GG). Leisner hält aber, was speziell Art. 93 Abs. 1 Nr. 3 GG anlangt, an dem engeren Verständnis fest (S. 274 ff.): Der Antragsteller müsse sich auf durch das Grundgesetz übertragene Rechte und Pflichten berufen. 36 Von „Anknüpfungspunkt“ spricht allerdings auch BVerfGE 104, 238 (248). 32 33
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ren Bezug auf das formelle Verfassungsrecht geprägt ist, auch wenn die konkrete Materie nicht Bestandteil des formellen Verfassungsrechts ist38. Schon als direkter Bestandteil des formellen Verfassungsrechts können jene Rechtssätze angesehen werden, die durch unmittelbare Konkretisierung (ausformende Interpretation) formellen Verfassungsrechts gewonnen werden – nicht aber etwa einfachgesetzliche Rechtssätze, die dem Verfassungswillen zur Durchsetzung verhelfen sollen. Ob ungeschriebene Rechtssätze bzw. Prinzipien allgemeinerer Natur, die aus dem formellen Verfassungsrecht „entwickelt“ werden und denselben Rang wie dieses beanspruchen, als dessen Bestandteil gelten dürfen, hängt von den Feinheiten der jeweils für richtig gehaltenen Variante der Rechtsquellenlehre ab; doch kann dies unentschieden bleiben, da sich derartige Rechtssätze jedenfalls durch einen spezifischen Bezug auf das formelle Verfassungsrecht auszeichnen; sie werden demgemäß durch diesen Bezug geprägt (oder doch mitgeprägt). 3. Mit Hilfe dieses Kriteriums könnte insbesondere auch beurteilt werden, ob ein Streit zwischen Bund und Ländern über Inhalte eines zwischen ihnen geschlossenen Vertrages als ein Streit über ein Verfassungsrechtsverhältnis im hier maßgeblichen Sinn anzusehen ist oder nicht. Dass dies nicht stets zu sofort erkennbaren Lösungen führen muss, steht auf einem anderen Blatt; die Judikatur gibt dafür eindrucksvolle Beispiele39. Doch kann der Rechtsprechung insoweit kaum zugestimmt werden, als sie derartige Streitigkeiten zwar unter dem Aspekt des Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 GG beurteilt, nicht aber unter dem des Art. 93 Abs. 1 Nr. 3 GG40. Die Frage besitzt freilich eher dogmatische als praktische Bedeutung, so dass sie abschließend nur kurz berührt sei: Der Bund-Länder-Streit nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 3 GG ist zwar regelmäßig, aber nicht notwendigerweise nur als Kompetenzstreit oder Statusstreit zu begreifen. Warum sollen Ansprüche aus Verträgen, die verfassungsrechtsspezifischer Natur im dargelegten Sinn sind, nicht Material für einen Bund-Länder-Streit im engen Sinn des Art. 93 Abs. 1 Nr. 3 GG bieten41? Warum sollen sie auf die gewissen Unsicherheiten des Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 GG verwiesen werden? Man mag einwenden, dass durch die Bezugnahme des § 69 BVerfGG auf § 64 (Abs. 1, 2) BVerfGG klargestellt werde, dass nur solche Rechte und Pflichten den Gegenstand (auch) des Bund-Länder-Streits bilden könnten, die als durch das Grundgesetz übertragen behauptet werden. Zwingend dürfte dieser Einwand aber nicht sein. Klargestellt ist durch diese Verweisung zwar die kontradiktorische Natur der Streitsache und ihre Zurechnung zum spezifischen Verfassungsrechtskreis. 37 P. Lerche, Vom Verfassungsrecht geformte Streitsachen. In: Bayerischer Verfassungsgerichtshof (Hrsg.), Verfassung als Verantwortung und Verpflichtung (Festschr. Bayerischer Verfassungsgerichtshof), 1997, S. 79 ff., 81 ff. 38 H. Bethge (Fn. 2), § 69, Rn. 20 verlangt entsprechend, „dass die Streitigkeit entscheidend vom Verfassungsrecht des Grundgesetzes geprägt ist“; vgl. auch dort Rn. 146 m. w. H. 39 Siehe nur etwa BVerfGE 42, 103 (113 ff.). 40 Ebendort S. 112 f. 41 Vgl. im Ergebnis für verfassungsrechtliche Verträge anscheinend auch etwa E. Benda / E. Klein (Fn. 3), Rn. 1066; W. Meyer (Fn. 28), Rn. 48.
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Warum aber vertragliche Ansprüche schlechthin ausscheiden sollen, ist nicht recht einsichtig. Auch sie kommen in Konsequenz des Gesagten ohnehin nur in Frage, wenn sie durch ihren spezifischen Bezug auf formelles Verfassungsrecht geprägt werden42. Ist dies der Fall, dürfte Substanz genug vorhanden sein, um den geltend gemachten vertraglichen Anspruch von der in § 69 BVerfGG allein geforderten43 „entsprechenden“ Anwendung des § 64 BVerfGG gedeckt zu sehen.
42 Das war z. B. wohl nicht gegeben im Fall des aus dem Einigungsvertrag erwachsenen Streits BVerfGE 94, 297 (309 f.): Zwar handelt es sich beim Einigungsvertrag um materielles Verfassungsrecht, dessen Inhalte weithin auch durch den Bezug zu formellem Verfassungsrecht geprägt werden; der konkret geltend gemachte Anspruch aus dem Einigungsvertrag wies diese Prägung aber kaum auf. Das Gericht (ebendort S. 310) sah Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 GG als gegeben an, weil es sich um materielles Verfassungsrecht handle. 43 Dass nur eine „entsprechende“ Anwendung verlangt wird, betont allgemein z. B. H. Bethge (Fn. 2), § 69, Rn. 10, der aber bei verfassungsrechtlichen Verträgen stets auf Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 GG zurückgreifen will, vgl. § 69, Rn. 150; § 71, Rn. 30, 49.
Informationsinterventionismus und Verfassungsrecht Von Michael Sachs
I. Einführung „Die Problematik der Einspannung des Lenkungsgehalts außerfiskalisch steuerlicher Vorschriften in das grundrechtliche Kraftfeld beruht vor allem auf der spezifischen Wirkungsweise, in der sich hier der staatliche Gestaltungswille artikuliert.“ Mit diesem Satz beginnt Peter Selmer den Abschnitt „II. Grundrechte und Lenkungssteuer“ in § 6 seiner Habilitationsschrift „Steuerinterventionismus und Verfassungsrecht“ von 1972. Er zielt darauf, dass Steuerinterventionismus nicht zu „den Formen hoheitlicher Einflußnahme“ zählt, „die ihr Ziel in Angriff nehmen, indem sie sich mit bindenden Weisungen an den Betroffenen wenden und diese rechtlich zu einem Verhalten verpflichten, . . . .“ Vielmehr steuere er das „Verhalten der betroffenen Privaten nicht mit rechtlichem, sondern psychologisch-ökonomischen Druck.“1 Dieses bis heute aktuelle Thema2 als solches aufzugreifen, verbietet sich für denjenigen, der weder Steuer- noch speziell Finanzverfassungsrechtler ist, von allein, auch oder richtiger gerade dann, wenn es um eine angemessene Ehrung des Jubilars geht, der der Fragestellung über Jahrzehnte hinweg verbunden geblieben ist.3 Doch ist die Behandlung der Lenkungssteuern ein Ausschnitt aus der allgemeineren grundrechtsdogmatischen Problematik des Grundrechtseingriffs4 oder der relevanten Grundrechtsbeeinträchtigungen. 5 Der einleitend zitierte Satz des Ju1 P. Selmer, Steuerinterventionismus und Verfassungsrecht, 1972, S. 214 (Hervorhebungen im Original). 2 Vgl. zuletzt etwa P. Kirchhof, Der Grundrechtsschutz des Steuerpflichtigen, AöR Bd. 128 (2003), S. 1 (24 f.). 3 S. nur P. Selmer / C. Brodersen, Die Verfolgung ökonomischer, ökologischer und anderer öffentlicher Zwecke durch Instrumente des Abgabenrechts, DVBl. 2000, 1153 (1165 f.). 4 Dazu im Überblick H. Bethge, Der Grundrechtseingriff, VVDStRL Heft 57 (1998), S. 7 ff.; insbesondere aus schweizerischer Sicht B. Weber-Dürler, Der Grundrechtseingriff, VVDStRL Heft 57 (1998), S. 57 ff.; ausführlich zum Gesamtkomplex auch M. Sachs, in: K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. III Halbbd. 2, 1994, S. 75 ff. 5 Vgl. im Überblick M. Sachs, Die relevanten Grundrechtsbeeinträchtigungen, JuS 1995, 303 ff.
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bilars kann denn auch weitgehend auf andere Äußerungsformen staatlichen Gestaltungswillens übertragen werden, die menschliches Verhalten lenken wollen, ohne es zu befehlen. Selmer selbst hat ausdrücklich auf die Parallele zwischen der Lenkung durch Besteuerung und durch staatliches Informationshandeln hingewiesen.6 Letzteres ist nun in jüngster Zeit durch zwei bemerkenswerte Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts vom 26. Juni 20027 noch verstärkt8 in den Blickpunkt verfassungsrechtswissenschaftlicher Aufmerksamkeit geraten.9 Bedeutsame aktuelle Entscheidungen für Juristen in Studium und Referendariat aufzubereiten, ist eine Aufgabe, die Peter Selmer seit fast 35 Jahren im Rahmen der Rechtsprechungsübersicht der „Juristischen Schulung“ – mit bewundernswerter Disziplin bei der dort verlangten Zurückhaltung der Referenten mit eigener kritischer Würdigung – wahrnimmt.10 In diesem Rahmen hat er jetzt auch den „Glykol“-Beschluss des Bundesverfassungsgerichts behandelt,11 nachdem er auch schon das darin bestätigte Urteil des Bundesverwaltungsgerichts12 ebenso wie weitere verwandte Judikate dieses Gerichts aus dem Bereich des Art. 12 Abs. 1 GG13 an selbiger Stelle dargestellt hatte. Der Verfasser dieses Beitrags hat seit 1987 die Ehre und das Vergnügen, mit dem Jubilar an der JuS-Rechtsprechungsübersicht zusammen arbeiten zu dürfen;14 parallel zu Selmers Bericht über den Glykol-BeO. Fn. 1, S. 226 f. m. w. N. BVerfGE 105, 252 – Glykol; BVerfGE 105, 279 – Osho; s. seitdem ferner BVerfG (Kammer), NJW 2002, 3458 – Çhick Korea“. 8 Ohnehin gab es speziell hierzu eine überaus rege Diskussion, vgl. die Nachweise bei Sachs (Fn. 4), S. 193 f. mit Fn. 502 (bis 1994); ders. in: ders. (Hrsg.) Grundgesetz, 3. Aufl. 2003, vor Art. 1 Rdn. 89 mit Fn. 193 (seither) und in den jüngsten Beiträgen (u. Fn. 9). 9 Vgl. eingehend D. Murswiek, Das Bundesverfassungsgericht und die Dogmatik mittelbarer Grundrechtseingriffe, NVwZ 2003, 1 ff.; P. M. Huber, Die Informationstätigkeit der öffentlichen Hand – ein grundrechtliches Sonderregime aus Karlsruhe?, JZ 2003, 290 ff.; H. Bethge, Zur verfassungsrechtlichen Legitimation informalen Staatshandelns der Bundesregierung, Jura 2003, 327 ff.; M. Albers, Rethinking the Doctrinal System of Fundamental Rights: New Decisions of the Federal Constitutional Court, GLJ Vol. 3 No. 11, 01 November 2002 (www.germanlawjournal.de); R. Ruge, Between Law and Necessity: The Federal Constitutional Court Confirms the Right of the Federal Government to Warn the Public (In Reply to Marion Albers), GLJ Vol. 3 No. 12, 01 December 2002 (www.germanlawjournal.de); ders., Informationstätigkeit der Bundesregierung: Warnungen vor Jugendsekten und glykolhaltigen Weinen, ThürVBl 2003, 49 ff.; auch H. Dreier, Grundrechtsdurchgriff contra Gesetzesbindung, Die Verwaltung Bd. 36 (2003), S. 105 (135 f.); ferner etwa P. Knitsch, Die Rolle des Staates im Rahmen der Produktinformation, ZRP 2003, 113 (116 f.); J. F. Lindner, Zur grundrechtsdogmatischen Struktur der Wettbewerbsfreiheit, DÖV 2003, 185 ff.; Chr. Ohler, Anm. zu BVerfG – Glykolwein, ZLR 2002, 631 ff. 10 Zuerst wohl in JuS 1969 Heft 6, S. 288 Nr. 1, seinerzeit noch Wiss. Assistent, Frankfurt, zeichnend mit „Se.“ 11 JuS 2003, 190 Nr. 4 = BVerfGE 105, 252 ff.; s. auch die kritische Anmerkung von Chr. von Coelln, JA 2003, 116 (118). 12 JuS 1982, 84 Nr. 12 = BVerwGE 87, 37 ff. – Glykol. 13 JuS 1986, 321 Nr. 15 = BVerwGE 71, 183 – Transparenzlisten; JuS 1997, 180 Nr. 11 = NJW 1996, 3161 – Warentest. 6 7
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schluss fiel ihm die Aufgabe zu, als zweites Teilstück der neuen Judikatur zur grundrechtlichen Bedeutung des staatlichen Informationshandelns den Osho-Beschluss des Bundesverfassungsgerichts darzustellen.15 Diese Duplizität der aktuellen Befassung auf einem Gebiet langjähriger gemeinsamer Tätigkeit gab den Anstoß, gerade an dieser Stelle noch einmal über die mit den genannten Beschlüssen des Bundesverfassungsgerichts nach so langer Zeit16 erneut aufgeworfenen Fragen nachzudenken. Anlass dazu besteht auch unabhängig davon genug, wird doch von den Kritikern die Bedeutung der in den Entscheidungen aufgestellten Grundsätze ebenso hoch eingeschätzt,17 wie ihre Tauglichkeit energisch in Frage gestellt wird.18 In der Tat wollte wohl auch das Bundesverfassungsgericht die übergreifende Bedeutung seiner Überlegungen dadurch, dass es sie in der Form eng miteinander korrespondierender Zwillingsentscheidungen zu verschiedenen Grundrechten präsentierte, unterstreichen; die Schwierigkeiten, die sie aufwerfen, sind allerdings nicht allein dem Bundesverfassungsgericht (bzw. seinem Ersten Senat) anzulasten, sondern sind zum Teil auch Konsequenz der Tatsache, dass bis heute in zentralen Fragen der allgemeinen Grundrechtsdogmatik grundlegende Unklarheiten fortbestehen.
II. Schutzbereich und Schutzgegenstand 1. Am Anfang jeder Grundrechtsprüfung hat die Prüfung des Grundrechtstatbestandes19 zu stehen. Dieser umfasst als subjektives Element die Grundrechts14 Seinen ersten einschlägigen Beitrag hat der Verf. in JuS 1987, 821 Nr. 2, zur Entscheidung BVerfGE 72, 175 verfasst, die der Jubilar längst behandelt hatte, JuS 1987, 402 Nr. 2. Diese wohl einmalige Doppelbehandlung ergänzte sich gleichwohl hervorragend, da der Beschluss zwei getrennte wichtige Aspekte, nämlich die „Grenzen der Befugnisse des Vermittlungsausschusses“ einerseits, den „Verfassungsschutz gegen Subventionsabbau“ andererseits beinhaltete. 15 JuS 2003, 186 Nr. 2 = BVerfGE 105, 279 – Osho; s. auch die (kritische) Anmerkung von M. Winkler, JA 2003, 113 (116); s. als Vorläufer hier JuS 1990, 496 Nr. 1 = BVerwGE 82, 76 und BVerfG (Kammer) NJW 1989, 3269 (Transzendentale Meditation). 16 Die die verwaltungsgerichtlichen Verfahren abschließenden Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts stammen aus den Jahren 1990 und 1991, liegen also über zehn Jahre zurück! 17 So ist bei den (Fn. 9) Genannten die Rede davon, es gehe um „eine neue Grundrechtsdogmatik des staatlichen Informationshandelns“ (so – in einer Zwischenüberschrift, allerdings mit Fragezeichen – Murswiek, S. 8), „ein grundrechtliches Sonderregime aus Karlsruhe“ (so Huber schon in der Überschrift), oder immerhin um ein „bereichsspezifische(s) Sonderrecht“ (Dreier, S. 135 f.). 18 Von den (Fn. 9) Genannten sieht Murswiek, S. 8, „das Vorhaben gescheitert“, für Huber, S. 297, verdienen die Beschlüsse „in der Begründung unter nahezu allen denkbaren Gesichtspunkten Kritik“ und Dreier, S. 136 mit Fn. 192, sieht die „gefestigte Grundrechtsdogmatik . . . ignoriert“. 19 Ausführlich zu dieser eher vernachlässigten Kategorie Sachs (Fn. 4), S. 3 ff. m. w. N.
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berechtigung20 und daneben – bei den Abwehrrechten – ein in der Regel im Gewährleistungssatz der Grundrechtsbestimmung angesprochenes objektives Element, nämlich das Interesse der jeweils Grundrechtsberechtigten, dem der Grundrechtsschutz gilt; dieses kann man als Schutzgut21 oder (wie im folgenden Text) als Schutzgegenstand des Grundrechts bezeichnen. Häufiger ist allerdings in Literatur und Rechtsprechung vom „Schutzbereich“ eines Grundrechts die Rede. Dagegen wäre, sieht man von kaum zwingenden Bedenken gegen eine verräumlichende Metaphorik ab,22 letztlich wenig einzuwenden, wenn mit der Formulierung nicht immer wieder, wohl meist unbewusst, unterschiedliche Inhalte bezeichnet würden. Teilweise als Synonym von „Schutzgut“ oder „Schutzgegenstand“ verwendet, um das grundrechtlich geschützte Interesse zu bezeichnen, werden auf der anderen Seite auch die überhaupt als Beeinträchtigungen relevanten Einwirkungen als „funktionales Element“ des Schutzbereichs einbezogen.23 Die Frage nach dem Schutzbereich betrifft dann nicht nur, was geschützt wird (also im Sinne der hier verwendeten Terminologie: den Schutzgegenstand), sondern auch, wovor bzw. wogegen es geschützt wird24 (nach den traditionellen Strukturen abwehrrechtlicher Prüfung: den Eingriff bzw. die sonst relevante Beeinträchtigung des Schutzgegenstandes; dazu unten III.).25 20
BVerfGE 105, 252 (265) und 279 (293) können diese hier unbedenklich vorab feststel-
len. 21 Das überzeugt sprachlich vor allem, wenn es um Interessen wie Leben, körperliche Unversehrtheit oder die Ehre geht; allgemein, insbes. auch bei Freiheiten für „Schutzgüter“ etwa Th. Koch, Der Grundrechtsschutz des Drittbetroffenen, 2000, S. 66 ff. m. w. N.; W. Höfling, Primär- und Sekundärrechtsschutz im Öffentlichen Recht, VVDStRL 61 (2002), S. 260 (269). 22 Diese ist allerdings doch sehr an „Bereichen“ von Verhaltensfreiheit orientiert, überzeugt hingegen für geschützte Lebensgüter (Fn. 21) weniger, so dass insgesamt die neutralere sprachliche Form für das Wort „Schutzgegenstand“ spricht. 23 Für eine in diese Richtung zielende dogmatische Konstruktion, die explizit den (objektiven) „Schutzbereich“ auf ein sachliches und ein funktionales Element erstreckt, insbesondere U. Ramsauer, Die faktischen Beeinträchtigungen des Eigentums, 1980, S. 50 ff., und dazu Sachs (Fn. 4), S. 38 m. w. N. 24 Zur Unterscheidung dieser beiden Fragen nach dem geschützten Rechtsgut und seiner Beeinträchtigung in aller Klarheit schon J. Schwabe, Probleme der Grundrechtsdogmatik, 1977, S. 152; daran anschließend wieder Koch (Fn. 21), S. 68 f. m. w. N. 25 Grundrechtsbestimmungen, die sich schon ihrem Text her spezifisch gegen bestimmte staatliche Einwirkungen richten, ohne einen Schutzgegenstand zu bezeichnen (vgl. etwa Art. 3 Abs. 3, Art. 6 Abs. 3, Art. 12 Abs. 2, Art. 16 Abs. 2 GG; bei Art. 4 Abs. 3 Satz 1 GG klingt der Bezug zur Gewissensfreiheit immerhin an), mögen sich vielfach ohne gesonderte Prüfung eines beeinträchtigten Schutzgegenstandes anwenden lassen; dies zeigt – wie manches andere, etwa Art. 5 Abs. 1 S. 3 GG – die Bedeutung, die das abzuwehrende Staatshandelns für den Grundrechtsschutz haben kann, und mag – jenseits der allgemeingültigen Kriterien für relevante Beeinträchtigungen oder „Eingriffe“ – diesbezüglich auch für einzelne Grundrechtsbestimmungen differenzierte Lösungen rechtfertigen können. Unabhängig davon sollte aber erkennbar bleiben, worauf sich die Prüfung der Verletzung eines Grundrechts bezieht.
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2. Zu welchen Begriffsverwirrungen solche Mehrdeutigkeit führt, hat Dietrich Murswiek für den Glykol-Beschluss des Bundesverfassungsgerichts im Detail demonstriert;26 für den Osho-Beschluss gilt Ähnliches, wobei hier das zusätzlich eingeführte Neutralitätsgebot die Bestimmung des Schutzgegenstandes der Religionsfreiheit überlagert und verdrängt.27 Das Problem dieses verfassungsgerichtlichen Doppelschlages reicht indes weit über terminologische Ungereimtheiten hinaus. Beide Entscheidungen kennzeichnet – in unterschiedlichem Ausmaß – die Verdrängung des substantiellen Grundrechtsschutzes. Der Schutzgegenstand der als verletzt gerügten Grundrechte aus Art. 4 Abs. 1 und 2 sowie Art. 12 Abs. 1 GG kommt nicht zufällig nur eher am Rande zur Sprache. Gegenüber der berechtigten Informationsarbeit der Bundesregierung und den dafür aufgestellten Kriterien verliert er weitgehend seine eigenständige Bedeutung. Trotz der Verschiedenheit der angesprochenen Grundrechte ist der Leitsatz 2 beider Beschlüsse wortgleich übereinstimmend gefasst; die „überall“ beanspruchte Geltung deutet darauf hin, dass die Berechtigung zur Informationsarbeit nicht auf die hier zufällig tangierten beiden Grundrechte beschränkt, sondern übergreifend bestehen soll. Auch Leitsatz 3 des Osho-Beschlusses28 bezieht sich – von Art. 4 GG abstrahiert – auf Fälle von „mittelbar faktischen Grundrechtsbeeinträchtigungen“ schlechthin.29 Es kommt beiden Entscheidungen weniger darauf an, ob und inwieweit der abwehrrechtliche Schutzgegenstand beeinträchtigt wird und wann dies grundrechtlich relevant ist; vielmehr wird der sog. Schutzbereich der Grundrechte „funktional“ reduziert. Das Bundesverfassungsgericht wertet damit die Bedeutung substantiellen abwehrgrundrechtlichen Freiheitsschutzes gegenüber dem staatlichen Informationsinterventionismus30 ab, setzt statt dessen auf speziell entwickelte Anforderungen an die regierungsamtliche Informationsarbeit. 26 O. Fn. 9, S. 2; vgl. auch Huber (Fn. 9), S. 292 f., der sich gegen eine „situative Bestimmung des Schutzbereichs“ wendet; positiver insoweit Albers (Fn. 9), insbes. Nr. 21. 27 Zur selbständigen „modalen“ Bedeutung des Neutralitätsgebots und des korrespondierenden Rechts auf neutrale Behandlung neben dem Schutz der religiösen Verhaltensfreiheit instruktiv S. Huster, Die ethische Neutralität des Staates, 2002, S. 129 ff. 28 Dasselbe gilt für die entsprechende Passage im Text der Gründe der Entscheidung, BVerfGE 105, 279 (303). 29 Abweichend von diesem generalisierenden Ansatz geht allerdings der Glykolbeschluss bei der Prüfung, ob Art. 14 Abs. 1 GG verletzt ist, BVerfGE 105, 252 (277 f.), geradezu schulmäßig vor, untersucht ausführlich den „Schutzbereich“, hier im Sinne von Schutzgegenstand, und stellt fest, dass weder (tatsächliche) Absatzmöglichkeiten noch bloße Umsatz- und Gewinnchancen noch auch der Unternehmensruf zum „Schutzgut“ (so ebda, S. 277 unten) des Art. 14 Abs. 1 GG gehören. Allerdings unterscheidet sich der insoweit objekthafte Schutzgegenstand des Art. 14 Abs. 1 GG auch von der Verhaltensfreiheit als einem weit weniger greifbaren Schutzgegenstand. 30 Dieser dem „Steuerinterventionismus“ nachempfundene Begriff ist wenig gebräuchlich, gleichwohl treffend; vgl. ähnlich etwa Bethge (Fn. 4), S. 50 m.N.: „Warnungen vor Produkten und Sekten . . . sind gegenüber den betroffenen Grundrechtsträgern . . . belastende Informationsakte mit Interventionseffekt . . .“; ders. (Fn. 9), S. 332; von der „informationellen Intervention“ spricht etwa auch Huber (Fn. 9), S. 293; ähnlich ferner etwa Koch (Fn. 21), S. 293.
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3. Der in den Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts vermiedene nähere Blick auf den sachlichen Schutzgegenstand der als verletzt gerügten Grundrechte vor allem aus Art. 4 und 12 Abs. 1 GG31 ist indes Voraussetzung dafür, auch die nachgelagerte Frage seiner relevanten Beeinträchtigung (des „Eingriffs“; unten III.) zutreffend zu bewerten.32 a) Im Glykolbeschluss findet sich zum Schutzgegenstand des Art. 12 Abs. 1 GG eingangs die ebenso weitreichende wie lapidare, zudem noch für Erweiterungen offen gehaltene Aussage, der Grundrechtsschutz betreffe „das berufsbezogene Verhalten einzelner Personen oder Unternehmen.“ Die damit angesprochene Verhaltensfreiheit als solche wird indes durch die Veröffentlichung der Liste DEG-haltiger Weine ersichtlich nicht berührt. Wenn betroffene Grundrechtsträger die staatlichen Hinweise – unabhängig von mittelbar ausgelösten weiteren Konsequenzen – zum Anlass nehmen, auf den Verkauf ihrer Weine zu verzichten, weil sie von der Richtigkeit der Liste ausgehen, ist das – ebenso wie im umgekehrten Fall – ihre autonom getroffene, freie Entscheidung.33 Tatsächlich kann es um die isolierte Freiheit des (berufsbezogenen) Verhaltens des Grundrechtsträgers als solche nicht gehen. Was darüber hinaus in diesem Kontext zum Schutzgegenstand zu zählen ist, umschreibt der Glykol-Beschluss in einer 31 Weitere Grundrechtsrügen seien hier grundsätzlich ausgeklammert. Von Bedeutung waren im Osho-Beschluss vor allem gleichheitsrechtliche Bestimmungen, die allerdings nur in den Kontext des Neutralitätsgebots integriert angesprochen wurden. Im Glykolbeschluss spielte neben Art. 14 Abs. 1 GG (dazu schon o. Fn. 29) Art. 3 Abs. 1 GG eine gewisse Rolle, dessen Behandlung aus anderen Gründen äußerst unbefriedigend bleibt. Gegenüber dem Vorbringen, dass in ähnlich gelagerten früheren Fällen „keinerlei Warnungen an die Öffentlichkeit gegeben worden seien“, begnügt sich der Beschluss mit zwei Sätzen. Der erste („Eine rechtmäßige Maßnahme wird nicht dadurch gleichheitswidrig, dass in möglicherweise vergleichbaren anderen Fällen anders verfahren worden ist.“) beruht offenbar auf einer Variation der bekannten Negation jeder „Gleichheit im Unrecht“, die so nicht haltbar ist (vgl. näher M. Sachs, Der Gleichheitssatz als eigenständiges subjektives Grundrecht, in: Staat Wirtschaft Steuern, FS Karl Heinrich Friauf, 1996, S. 309 [321 ff.] m. w. N.). Es wäre gerade umgekehrt zu fragen (und zu verneinen!) gewesen, ob die Gleichheitswidrigkeit einer verschiedenen Behandlung dadurch ausgeschlossen wird, dass sie im Übrigen rechtmäßig ist. Den offenbar doch nicht schon qua Rechtmäßigkeit ausgeschlossenen Gleichheitsverstoß verneint das Gericht dann noch mangels (der Behauptung von) Willkür, ohne die Anwendbarkeit der neuen Formel (i.S. von BVerfGE 55, 72 [88]; dazu näher M. Sachs, Die Maßstäbe des allgemeinen Gleichheitssatzes – Willkürverbot und sogenannte neue Formel, JuS 1997, 124 ff.) im Hinblick auf die grundrechtliche Relevanz der Differenzierung im Übrigen (dazu allgemein etwa BVerfGE 95, 267 [316 f.]; 103, 172 [193]) auch nur zur erwägen, die allerdings wegen der Ausblendung des Art. 12 Abs. 1 GG auch nicht in Betracht gekommen wäre. 32 Zur Bedeutung der Prüfung schon dieser Ebene gerade am Beispiel des Glykolfalles auch W. Roth, Faktische Eingriffe in Freiheit und Eigentum, 1994, S. 339 ff., 549 ff. bei sonst zum Teil abweichenden dogmatischen Annahmen. 33 Näher Sachs (Fn. 4), S. 132 f. m. w. N. Ob im Falle der Unrichtigkeit einer Information eine staatliche Haftung für aus dem daran orientierten Verhalten erwachsende Nachteile für andere grundrechtlich geschützte Individualinteressen (etwa: Impfschäden nach Impfaufruf) in Betracht kommt, ist eine andere Frage.
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gewissen Vielfältigkeit,34 bleibt dabei aber aufgrund der gewählten Makroperspektive doch eher vage. Die zentrale Aussage geht dahin, bei Betätigung am Markt werde „die Reichweite des Freiheitsschutzes auch durch die rechtlichen Regeln mitbestimmt, die den Wettbewerb ermöglichen und begrenzen.“ Gesichert sei insoweit „die Teilhabe am Wettbewerb nach Maßgabe seiner Funktionsbedingungen.“35 Deren Festlegung läge damit dem Grundrechtsschutz voraus: Wie das inhaltsbestimmende Gesetz die durch Art. 14 Abs. 1 GG geschützte Eigentumsposition konstituiert, erhielte die Berufsfreiheit, soweit sie im Rahmen des Marktes ausgeübt werden soll, ihre Substanz überhaupt erst durch das Wettbewerbsrecht – wenn denn der Staat seine Gesetzgebung überhaupt bemühen muss (dazu unten IV 1). Die staatliche Setzung wettbewerblicher Rahmenbedingungen wirft danach die Frage der Grundrechtsbeeinträchtigung nicht auf. Aus der Mikroperspektive der Grundrechtsbeeinträchtigung im Einzelfall betrachtet kommt hinter der Chiffre Wettbewerb der Vertragspartner zum Vorschein, mit dem der Grundrechtsträger ins Geschäft kommen muss, um das Erwerbsziel seiner Berufstätigkeit erreichen zu können. Der Beschluss spricht dieses Ziel nur mit der Aussage an, das Grundrecht umfasse „keinen Anspruch auf Erfolg im Wettbewerb und auf Sicherung künftiger Erwerbsmöglichkeiten . . . .“ Eine derartige, allenfalls leistungsgrundrechtlich zu konstruierende Rechtsposition stand freilich gar nicht zur Debatte. Vielmehr wäre die Frage zu stellen gewesen, ob der Grundrechtsschutz beruflicher Freiheit nicht auch und gerade die Möglichkeit umfasst, mit anderen Geschäfte abzuschließen, um so das berufliche Erwerbsziel zu realisieren.36 Ist dieses Element einer (insoweit) interaktionistischen, nur im Zusammenwirken mit einem Partner zu betätigenden Freiheit37 einmal als Gegenstand des Grundrechtsschutzes
34 Neben der im Text zitierten Aussage wird das Recht auf eigene „Außendarstellung einschließlich der Werbung“ in den Schutz der Berufsausübungsfreiheit einbezogen, hingegen das Recht eines Unternehmens, „nur so von anderen dargestellt zu werden, wie es gesehen werden möchte,“ ausgeschlossen, und zwar auch als Parallele zum allgemeinen Persönlichkeitsrecht, BVerfGE 105, 252 (266). 35 BVerfGE 105, 252 (265); später (S. 267 f.) ist in nicht ganz klarer Ausdrucksweise, aber wohl gleichbedeutend von den „Rahmenbedingungen wettbewerbsbezogenen Verhaltens“ (allerdings mit dem Zusatz: „des Staates“?) die Rede, die auch davon geprägt würden, dass der Staat „wettbewerbserhebliche Informationen verbreitet, ohne selbst Wettbewerber zu sein.“ 36 Vgl. dafür etwa W. Höfling, Vertragsfreiheit ,1991, S. 17 m. w. N.; P. J. Tettinger, in: M. Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, 3. Aufl. 2003, Art. 12 Rdn. 57, 162 (auch zum hier nicht weiter zu thematisierenden Verhältnis zu Art. 2 Abs. 1 GG). Das Bundesverfassungsgericht hat zuletzt in seinem Urteil zu den Festbeträgen für Arznei- und Hilfsmittel vom 17. 12. 2002, – 1 BvL 28 / 95 u. a. –, NJW 2003, 1232 (1233) m. w. N., im Anschluss an die bisherige Judikatur noch die Freiheit anerkannt, „das Entgelt für berufliche Leistungen . . . mit den Interessenten auszuhandeln.“ S. aber zu den vom hier vertretenen Standpunkt abweichenden Folgerungen dieses Urteils unten Fn. 40. 37 Zu dieser Dimension grundrechtlicher Freiheit näher D. Suhr, Entfaltung der Menschen durch die Menschen, 1976, und ders., Freiheit durch Geselligkeit, EuGRZ 1984, 529 (534 f.);
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ausgemacht, wird zugleich deutlich, dass der grundrechtliche Schutzgegenstand in diesem Punkt dadurch beeinträchtigt werden kann, dass die grundrechtsgebundene Staatsgewalt in Frage kommende Geschäftspartner von dem geschäftlichen Zusammenwirken abhält – ob dies nur dann als grundrechtlich relevant anzuerkennen ist, wenn weitere Bedingungen erfüllt sind, ist nicht mehr eine Frage des Schutzgegenstandes, sondern eine seiner relevanten Beeinträchtigung (unten 4.). b) Der Osho-Beschluss setzt ebenfalls mit einer Aufzählung möglicherweise relevanter Aspekte des involvierten Grundrechts, hier: der Religions- und Weltanschauungsfreiheit, an, wie namentlich der Freiheiten des religiösen Zusammenschlusses, zur Verbreitung der eigenen Weltanschauung und zur Werbung für die eigene religiöse Überzeugung. Diese Elemente des Schutzgegenstandes werden dann aber nicht auf den Fall angewandt; die Überlegungen wenden sich vielmehr dem alles überlagernden Neutralitätsgebot38 und dabei der Frage zu, gegen was dieses denn Schutz biete – aus den Grenzen des Neutralitätsgebots wird dann abgeleitet, wovor Art. 4 Abs. 1 und 2 GG insgesamt keinen Schutz bietet. Die unausgesprochene und in keiner Weise begründete (auch nicht begründbare), aber denknotwendige Prämisse wäre: Solange der Staat das (modale) Neutralitätsgebot wahrt, kann er das Grundrecht aus Art. 4 Abs. 1, 2 GG (auch in der Substanz) nicht verletzen. Ob das Bundesverfassungsgericht wirklich diesem Irrtum erliegt, bleibt im Gesamtzusammenhang allerdings ungewiss. Es kommt nämlich noch einmal auf die einleitend angesprochenen Freiheitsinteressen zurück und sieht diese durch nachteilige Rückwirkungen betroffen, begründet damit allerdings, dass das „Recht . . . auf eine in religiös-weltanschaulicher Hinsicht neutral und zurückhaltend erfolgende Behandlung“ beeinträchtigt sei. Trotz dieser Wendung führt die Rückbesinnung auf die substantiellen Schutzgegenstandselemente doch dazu, dass sich die Entscheidung den Zugang zur dogmatischen Kernfrage der relevanten Grundrechtsbeeinträchtigungen jenseits des „Grundrechtseingriffs im herkömmlichen Sinne“39 immerhin eröffnet (dazu unten III 3).
III. Eingriff und sonst relevante Grundrechtsbeeinträchtigung 1. Trotz der vor allem in den identischen Leitsätzen 2 hervortretenden Ausrichtung der beiden Entscheidungen auf eine übereinstimmende Bewertung des Informationsinterventionismus der Bundesregierung gehen sie bei der Prüfung seiner Grundrechtserheblichkeit im Einzelnen doch unterschiedlichere Wege, als es auf daran insoweit anschließend M. Sachs, in: K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. III Halbbd. 1, 1988, S. 635 f. und 636 f. zur Frage spezifischer Freiheitshindernisse. 38 Dazu schon oben Fn. 27. 39 Zur Fragwürdigkeit der Annahme eines historisch in klassischer Zeit gewachsenen Begriffs des Grundrechtseingriffs vgl. näher Sachs (Fn. 4), S. 82 ff. m. w. N.
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den ersten Blick den Anschein hat. Allerdings ist die aufgeworfene Grundsatzfrage der allgemeinen Grundrechtsdogmatik dieselbe, weil es in beiden Bereichen darum geht, dass die staatliche Information Dritte zu einem Verhalten veranlasst, das nachteilige Folgen für grundrechtlich geschützte Interessen des Grundrechtsträgers an der Interaktion mit den Dritten mit sich bringt. Bei imperativer Einwirkung auf den Partner grundrechtsgeschützter Interaktion (etwa: bei Verboten, ein Produkt zu kaufen oder Mitglied einer religiösen Vereinigung zu werden) kann deren grundrechtliche Relevanz auch für den durch die Beachtung solcher Imperative mittelbar berührten Grundrechtsträger (den Verkäufer, die religiöse Vereinigung) eigentlich40 keinem Zweifel unterliegen.41 Dabei erfolgt gegenüber dem so betroffenen Grundrechtsträger in diesen Fällen keineswegs ein „klassischer Eingriff“; vielmehr wird der Schutzgegenstand seines Grundrechts (im Wortsinn) „mittelbar“ dadurch beeinträchtigt, dass die Staatsgewalt das Verhalten des prospektiven Interaktionspartners (Kunden oder „Sekten“-Mitglieds) entsprechend steuert. Die Beeinträchtigung des dadurch in der Verwirklichung seines Grundrechts gestörten Grundrechtsträgers ist aber unabhängig davon, welche Mittel der Staat dabei gegenüber dem Dritten einsetzt, gleich zu bewerten: Ob der Vertragspartner durch staatliche Verbote vom Geschäftsabschluss abgehalten wird oder ob der Staat die Verhaltensänderung des Dritten mit „weicheren“ Mitteln der Motivationslenkung herbeiführt, wie etwa durch Verheißung anderweitiger Vor- oder Nachteile (Subventionen, Besteuerung) oder eben auch durch entsprechende Warnungen oder sonstige Informationen – nicht nur die Auswirkung auf den Schutzgegenstand des Grundrechts des Grundrechtsträgers (das Ausbleiben des Geschäftsabschlusses) ist ganz dieselbe, sondern auch die Zwangsläufigkeit, mit dem sie sich – trotz völliger Freiwilligkeit der Dritten – für ihn ergibt. Zumindest dann, wenn der Staat über die Steuerung des Drittverhaltens gezielt dafür sorgt, dass die interaktionistische grundrechtliche Freiheit mangels abschlussbereiten Partners nicht (bzw. seltener oder in begrenzterem Umfang) betätigt werden kann, ist kein Grund erkennbar, den Grundrechtsschutz von vornherein auszuschließen. Darüber hinaus bestand bislang weitgehend Einigkeit, dass die Finalität des grundrechtsbeeinträchtigenden Staatshandelns ein für die grundrechtliche Relevanz jedenfalls hinreichendes, keineswegs aber notwendiges Merkmal 40 Inzwischen hat das Bundesverfassungsgericht in dem erwähnten Urteil zu den Festbeträgen, NJW 2003, 1232 (1233), allerdings wohl den entgegengesetzten Standpunkt bezogen, wenn es feststellt: „Soweit Marktteilnehmer in ihrem Marktverhalten durch gesetzliche Regelungen beschränkt werden, ist dies an ihren Grundrechten zu messen, nicht an denen der anderen Marktteilnehmer.“ Eine Begründung für diese Sichtweise, die die zwangsläufige Verknüpfung der interaktionistischen Freiheitsbetätigung beider Partner ausblendet, wird nicht gegeben; möglicherweise ist das Fehlen einer „berufsregelnden Tendenz“ ausschlaggebend, obgleich deren Vorliegen umgekehrt als denkbarer Grund, warum der „Schutzbereich . . . berührt“ sein könnte, geprüft wird. 41 Näher Sachs (Fn. 4), S. 187 ff., 192 f. m. w. N.
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darstellt.42 Für die genaue Reichweite der staatlichen Verantwortlichkeit außerhalb des Bereichs gezielt veranlasster Drittbeeinträchtigungen grundrechtlicher Schutzgegenstände fehlt es freilich bis heute an einer allseits akzeptierten Lösung. 2. a) Der Glykolbeschluss grenzt demgegenüber im Ausgangspunkt den staatlichen Informationsinterventionismus im Bereich des wirtschaftlichen Wettbewerbs aus dem Anwendungsbereich des Art. 12 Abs. 1 GG mit folgenden Worten aus: „Das Grundrecht schützt aber nicht vor der Verbreitung zutreffender und sachlich gehaltener Informationen am Markt, . . . selbst wenn die Inhalte sich auf einzelne Wettbewerbspositionen nachteilig auswirken.“ Der Schutzgegenstand des Grundrechts begegnet in größtmöglicher Beiläufigkeit („selbst wenn“) und Unbestimmtheit („einzelne Wettbewerbspositionen“); die Frage, ob das Staatshandeln ihn – sei es auch mittelbar – beeinträchtigt, muss so nicht mehr gestellt werden. Das anschließend aufgestellte Postulat: „Die Bundesregierung hat jedoch die rechtlichen Vorgaben für Informationshandeln zu wahren“, ist vor dem Verfassungsgrundsatz der Rechtsbindung exekutiven Staatshandelns selbstverständlich richtig; was es mit dem ja unabhängig davon bereits erfolgten Ausschluss einer relevanten Grundrechtsbeeinträchtigung zu tun haben soll, bleibt vor dem Hintergrund des geschilderten Diskussionsstandes (oben zu 1.) jedoch unerfindlich.43 Die diesbezüglichen Thesen sollen sich offenbar nicht der bisherigen Grundrechtsdogmatik einfügen oder sie fortführen, sondern als (eher außer-) „grundrechtliches Sonderregime“44 an deren Stelle treten.45 b) Letztlich scheut der Glykolbeschluss aber doch davor zurück, die bisher entwickelte Dogmatik der Grundrechtseingriffe und -beeinträchtigungen für den Informationsinterventionismus mit letzter Konsequenz zu überspielen. Er hält vielmehr (an eher versteckter Stelle, ohne Erwähnung in den plakativen Leitsätzen) daran fest, dass die grundrechtlichen Bindungen nicht dadurch umgangen werden können, dass der Staat ein anderes Mittel als das des klassischen Grundrechtseingriffs einsetzt. Vielmehr wird Staatshandeln im Fall eines „funktionalen Äquivalents eines Eingriffs“ den „für Grundrechtseingriffe maßgeblichen rechtlichen Anforderungen“ unterworfen; ein solches Äquivalent wird angenommen, wenn eine staatliche (hier: Informations-) Tätigkeit „in der Zielsetzung und ihren Wirkungen Ersatz für eine staatliche Maßnahme ist, die als Grundrechtseingriff zu qualifizieren wäre.“ 42 Vgl. ausführlich Sachs (Fn. 4), S. 192 ff. m. w. N., bei grundsätzlichem Ausschluss der Zurechnung zum staatlichen Anstoß nur bei ganz ungewöhnlichen und fernliegenden Reaktionen Dritter; insoweit enger etwa Weber-Dürler (Fn. 4), S. 91; differenzierend für eine Lösung nach Fallgruppen Koch (Fn. 21), S. 252 ff., 286. 43 Ratlos auch Bethge (Fn. 9), S. 333, der „ein bisschen mehr strukturelles Denken in Verwaltungsakts-Kategorien“ vermisst. 44 Huber (Fn. 9). 45 Ein weiterer Anwendungsfall für das Sonderregime ist bereits mit dem schon mehrfach erwähnten Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu den Festbeträgen, NJW 2003, 1232 (1234) angefallen.
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Abgesehen von der Diktion ist dies keineswegs neu; Versuche, die relevanten Grundrechtsbeeinträchtigungen jenseits des klassischen Eingriffs mit Hilfe von dessen typischen Eigenschaften abzugrenzen, sind ebenso alt wie ohne rechte Überzeugungskraft geblieben.46 Der Neuaufguss wird durch die Anknüpfung an eine „Ersatz“-Funktion des alternativen Handlungsmittels nicht überzeugender. Der Glykol-Beschluss verrät denn auch nicht, warum es im konkreten Fall an funktionaler Äquivalenz mit einem Eingriff fehlen soll; der lapidare Satz „Eingriffsqualität kommt der Listenveröffentlichung nicht zu“ bleibt nicht nur bloße Behauptung, sondern beschreibt die Denkvoraussetzung, unter der die Frage nach einem funktionalen Äquivalent eines Eingriffs überhaupt nur zu stellen ist. Was mit dieser Chiffre genau gemeint sein soll, bleibt so im Ungewissen. c) All das ist dogmatisch so unbefriedigend, das die weitere Diskussion um die relevanten Grundrechtsbeeinträchtigungen – zumindest außerhalb des nun einmal so verbeschiedenen Problemkreises regierungsamtlicher Informationstätigkeit – die Neuansätze nicht aufgreifen sollte, auch nicht ausgewählte Versatzstücke. So scheint es zweifelhaft, ob mit Murswiek der These des Bundesverfassungsgerichts, „marktbezogene Informationen des Staates stellten keine Beeinträchtigung der Berufsfreiheit, keinen Eingriff, dar,“ zuzustimmen ist, „soweit damit wahre Tatsachenmitteilungen gemeint sind und soweit die Informationen nicht diskriminierend eingesetzt werden, um bestimmte Marktteilnehmer zu benachteiligen.“47 Anders als der Beschluss sucht Murswiek dies im Rahmen der überkommenen Eingriffsdogmatik zu begründen. Seine Aussage, die staatliche Veröffentlichung von „Informationen . . . , die für die Entscheidungsbildung der Marktsubjekte relevant sind, . . . erweiter(e) . . . deren Entscheidungsbasis, ohne ihre Freiheit zu beschränken,“ ist ebenso zutreffend wie im Kontext irreführend; denn es geht ja nicht um die Freiheit des informierten Marktteilnehmers, sondern um die des Grundrechtsträgers, mit dem die informierten Marktteilnehmer keine Geschäfte mehr machen. Die These, die Information lenke das Verhalten der Marktteilnehmer nicht in eine bestimmte Richtung, auch wenn eine bestimmte Ausrichtung dieses Verhaltens ihre „voraussehbare Folge“ sei, wäre bezogen auf die faktisch ja eingetretene Beeinflussung offensichtlich falsch; gemeint ist also wohl, dass Beeinträchtigungen grundrechtlicher Schutzgegenstände in Folge bloß vorhersehbarer Verhaltensbeeinflussung Dritter durch staatliche Informationen nicht als grundrechtsrelevant angesehen werden sollen, sondern nur bei in einem engeren Sinne gezielt verhaltenssteuernden Informationen. Eine solche Reduktion staatlicher Verantwortlichkeit ist sicher diskutabel, kann aber mit Rücksicht auf einen effektiven Grundrechtsschutz doch nicht überzeugen.
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Dazu ausführlich Sachs (Fn. 4), S. 129 ff. m. w. N. Murswiek (Fn. 9), S. 4.
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Letzteres gilt auch für die Annahme, die Schmälerung der Absatzchancen durch die Publikation von Messdaten über den Schadstoffgehalt von Lebensmitteln sei „bei wertender Betrachtung nicht der Veröffentlichung der Daten, sondern dem Umstand zuzurechnen, dass die Produkte tatsächlich einen solchen Schadstoffgehalt aufweisen.“ Ohne „wertende Betrachtung“ wäre die Zurechnung nach Kausalitätskriterien nicht auszuschließen, die vorgenommene Wertung erscheint in diesem Zusammenhang der zentralen Bedeutung der Information unangemessen. Denn der Absatzeinbruch fände ungeachtet desselben Schadstoffgehalts ohne die Information nicht statt, sehr wohl aber mit entsprechender Information, obwohl die Produkte in Wahrheit schadstofffrei sind. Die entscheidende Wertung, dass es dem für das Wohl seiner Bürger verantwortlichen, zum Schutz ihrer Grundrechtsgüter verpflichteten Sozialstaat möglich sein sollte, diese durch entsprechende Informationen zu befähigen, sich selbst vor Schädigungen zu bewahren, gehört auf die Ebene der Rechtfertigung der Grundrechtsbeeinträchtigung; dort ist sie allerdings an die Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit gebunden, und zwar zu Recht: Es ist kein Grund ersichtlich, dem Staat das Recht zuzugestehen, durch die Verbreitung von Informationen vorhersehbare Beeinträchtigungen grundrechtlicher Schutzgegenstände auszulösen, die diesen Anforderungen nicht genügen. d) Der Glykolbeschluss erkennt neben dem funktionalen Eingriffsäquivalent noch einen zweiten Fall relevanter Grundrechtsbeeinträchtigungen an, nämlich „wenn eine Information sich im Nachhinein als unrichtig erweist und dennoch weiterverbreitet oder nicht korrigiert wird, . . .“. Der Kritik Murswieks zu dieser These48 ist wenig hinzuzufügen. Beachtenswert scheint der Nachsatz des Beschlusses, dass „eine Rechtfertigung der Weiterverbreitung der als unrichtig erkannten Information ausgeschlossen ist.“ Diese (nach dem Kontext allerdings auf Informationen mit Bedeutung für Marktverhalten beschränkte) These, die jedenfalls auch bei von Anfang an erkannter Unrichtigkeit durchgreifen muss, enthält dem Staat das Instrument der Verhaltenslenkung durch bewusste Fehlinformationen als schlechthin unzulässig vor, versagt es ihm mithin auch dann, wenn nur so schwerste Gefahren bekämpft werden können, die auf der Basis der Wahrheit von den Bürgern nicht als solche erkannt oder hinreichend ernst genommen werden und denen auch mit anderen Mitteln, namentlich mit Befehl und Zwang, nicht wirksam begegnet werden kann. Die Legitimation dieser wohl verallgemeinerungsfähigen These ist allerdings weniger von den Grundrechten des mittelbar durch das gelenkte Verhalten Beeinträchtigten her zu begründen, die sich bei einer Güterabwägung durchaus als nachrangig erweisen könnten,49 als in der Selbstbestimmung der getäuschten Informationsadressaten; wen der Staat mit wahrheitsgemäßer Information nicht überzeugen kann, darf er Murswiek (Fn. 9), S. 8. Man denke etwa an eine Kampagne gegen das (gesundheitsschädliche) Tabakrauchen mit (unzutreffenden) Informationen über hoch dramatische Risiken, die im Erfolgsfalle den Umsatz der Tabakverkäufer reduzieren, andererseits viele Gesundheitsschäden vermeiden und Leben retten würde. 48 49
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ggf. im Interesse entsprechend wichtiger Gemeinwohlbelange50 zwingen, aber nicht täuschen.51 e) Insgesamt bezieht der Glykolbeschluss den Grundrechtsschutz im Grundansatz nur auf die Verbreitung nicht zutreffend oder nicht sachlich gehaltener Informationen, deren Rechtfertigung – bei erkannter Unrichtigkeit – ausgeschlossen sein soll (oben d); Unsachlichkeit dürfte auch dann nicht zu legitimieren sein, wenn die handelnde Stelle sie nicht erkennt. Damit bleiben als rechtfertigungsfähige Fälle nur die der unerkannt unzutreffenden Informationen; auch deren Legitimation dürfte im Übrigen allgemein auszuschließen sein, „wenn der Irrtum den Umständen nach hätte vermieden werden können.“52 Neben der danach als grundrechtsrelevant verbleibenden unvermeidbar unerkannt unrichtigen Information bedarf auch eine zutreffende und sachlich gehaltene Informationen der Rechtfertigung, wenn sie sich als „funktionales Äquivalent eines Eingriffs“ verstehen lässt; die Voraussetzungen dafür bleiben freilich bislang ungewiss. 3. Der Osho-Beschluss kommt trotz seiner Fokussierung auf das Neutralitätsgebot im Rahmen seiner Argumentation ausführlich auf die zuvor angeführten Elemente des freiheitsrechtlichen Schutzgegenstandes (oben II 3 b) als substantielle Objekte einer rechtfertigungsbedürftigen Grundrechtrechtsbeeinträchtigung zurück. Dies betrifft allerdings nicht die Aussagen, bei denen die Neutralität als gewahrt angesehen wird – insoweit verbleibt es bei fehlender Berührung des Schutzbereichs –, sondern nur den Teil der Äußerungen, für den das Gericht zuvor einen Verstoß gegen die Neutralitätsanforderungen festgestellt hat – was eigentlich bereits genügen müsste, um zumindest eine relevante Grundrechtsbeeinträchtigung, wenn nicht (mangels Rechtfertigungsfähigkeit von „Diffamierungen“ und „Verfälschungen“) zugleich eine Grundrechtsverletzung anzunehmen. Von dieser eigentümlichen, nicht weiter erläuterten Verknüpfung mit dem Neutralitätsgebot abgesehen bewegen sich die Überlegungen des Osho-Beschlusses ganz in den Argumentationsbahnen der bisherigen Diskussion um Grundrechtseingriff und Grundrechtsbeeinträchtigung. Sie setzen bei der Frage nach einem Grundrechtseingriff im herkömmlichen Sinn an, stellen eine dafür übliche Defini50 Ob dazu auch das „eigene Glück“ der Gezwungenen, also der Schutz ihrer eigenen grundrechtlichen Interessen (etwa: der Raucher im Beispiel der Fn. 49) gehören kann, ist eine weitere Frage, die hier nicht weiter behandelt werden soll; vgl. nur die Nachw. bei Sachs (Fn. 8), vor Art. 1 Rdn. 57. 51 Dem Gesagten entspricht es, wenn der Glykolbeschluss es für möglicherweise zulässig erklärt, dass „im öffentlichen Interesse . . . Marktteilnehmer über ein für ihr Verhalten wichtigen Umstand, etwa ein Verbraucherrisiko, aufgeklärt werden“, obwohl noch keine gesicherten Informationen vorliegen, dann aber (wohl zu zurückhaltend: „wird es angezeigt sein“) verlangt, „die Marktteilnehmer auf verbleibende Unsicherheiten der Information hinzuweisen.“ Die Information über als unsicher gekennzeichnete Umstände ist ja als Ganzes unabhängig von der wahren Sachlage zutreffend. Dennoch bleiben die Ausführungen des Glykolbeschlusses auch insoweit unbefriedigend, vgl. Murswiek (Fn. 9), S. 7 f. 52 So Murswiek (Fn. 9), S. 8.
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tion auf53 und halten nach deren Überprüfung im Einzelnen fest, dass keines der Definitionsmerkmale bei den hier fraglichen Äußerungen vorliege. Dadurch sieht sich das Gericht indes nicht gehindert, „Äußerungen der vorliegenden Art an Art. 4 Abs. 1 und 2 GG zu messen.“ Denn das Grundgesetz habe „den Schutz vor Grundrechtsbeeinträchtigungen nicht an den Begriff des Eingriffs gebunden oder diesen inhaltlich vorgegeben.“ Bei den Kriterien dafür, wann staatliches Handeln ohne Eingriffscharakter an den Grundrechten zu messen sei, begnügt sich der Beschluss mit der simplen Feststellung, dass die Äußerungen „in Bezug auf die Beschwerdeführer eine mittelbar faktische Wirkung“ gehabt hätten. Dies bezieht sich auf zuvor behandelte „nachteilige Rückwirkungen“ der Äußerungen auf die einzelne Gemeinschaft, namentlich daraus, „dass der Einzelne aus der ihm zugegangenen Information Konsequenzen zog und der betreffenden Gruppe fernblieb, aus ihr austrat, auf Angehörige oder andere Personen einwirkte, sich ebenso zu verhalten, oder davon absah, die Gemeinschaft (weiter) finanziell zu unterstützen.“ Allein diese „mittelbar faktische Wirkung“ in ihren unterschiedlichen Facetten genügt dem Gericht, um die Notwendigkeit einer hinreichenden verfassungsrechtlichen Rechtfertigung zu fordern; daneben soll offenbar nicht einmal der zuvor festgestellte Umstand, dass die „nachteiligen Rückwirkungen“ „in Kauf genommen“ worden waren, eine notwendige Voraussetzung sein. Damit nimmt der Osho-Beschluss einen denkbar weitreichenden Standpunkt in der Frage der Abgrenzung rechtfertigungsbedürftiger Grundrechtsbeeinträchtigungen ein. Die Bedeutung dieses Ansatzes ist allerdings dadurch entwertet, dass er – wie erwähnt – nur unter der spezifischen Bedingung eines Verstoßes gegen Neutralitätserfordernisse herangezogen wird. Festzuhalten bleibt damit, dass der Osho-Beschluss den rechtfertigungsbedürftigen Eingriff immer dann verneint, wenn eine Information dem Gebot religiösweltanschaulicher Neutralität entspricht. In den verbleibenden Fällen müsste wegen des Verstoßes gegen diesen Grundsatz eine Rechtfertigung eigentlich von vornherein ausscheiden. Der Beschluss scheint dies mit der Wendung, bestimmte Vorwürfe hielten „als das Neutralitätsgebot verletzende Äußerungen der verfassungsrechtlichen Prüfung . . . nicht stand,“ auch ausdrücklich zu bestätigen, erklärt die Äußerungen aber im nächsten Satz für „nach den Maßstäben des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes nicht gerechtfertigt.“ Tatsächlich legen die weiteren Überlegungen nahe, dass das Gericht die Rechtfertigung vor diesem Grundsatz sogar dann für möglich hält, wenn eine staatliche Äußerung „diffamierend“ ist – dafür „hinreichend gewichtige, durch konkrete Tatsachen gestützte Gründe“ waren nur im konkreten Fall „weder vorgetragen worden noch sonst ersichtlich.“ Danach bliebe in der Tat ein Restbereich von gegen das Neutralitätsgebot verstoßenden Äuße53 Als bundesverfassungsgerichtlich bestätigte Definition des klassischen Eingriffs verdient diese, zitiert zu werden (BVerfGE 105, 279 [300]): „Danach wird unter einem Grundrechtseingriff im Allgemeinen ein rechtsförmlicher Vorgang verstanden, der unmittelbar und gezielt (final) durch ein vom Staat verfügtes, erforderlichenfalls zwangsweise durchzusetzendes Ge- oder Verbot, also imperativ, zu einer Verkürzung grundrechtlicher Freiheiten führt.“
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rungen, deren Rechtfertigung vor Art. 4 Abs. 1, 2 GG notwendig und zumindest theoretisch möglich wäre. 4. Relevante, der Rechtfertigung bedürftige Grundrechtsbeeinträchtigungen kommen in der Dogmatik des Informationsinterventionismus, wie sie die beiden Beschlüsse in unterschiedlichen Varianten präsentieren, damit insgesamt nur als Randerscheinungen vor; soweit sie angenommen werden, handelt es sich weitgehend um Fälle, die einer Rechtfertigung gar nicht fähig sind. Der heuristische Wert der dogmatischen Figur der relevanten Grundrechtsbeeinträchtigung wie schon des klassischen Eingriffs, eine Abschichtung von vornherein grundrechtlich unproblematischer Fälle des Staatshandelns von solchen vorzunehmen, deren Legitimation vor den Grundrechten nach den dafür bestehenden Anforderungen näherer Prüfung bedarf, kommt deshalb kaum zur Geltung. Andererseits bleibt die Reichweite der Aussagen zu den Rechtfertigungsanforderungen schon gegenständlich überaus begrenzt.
IV. Rechtfertigung der relevanten Grundrechtsbeeinträchtigung Zur Rechtfertigung von Grundrechtsbeeinträchtigungen gehören nach den bisher maßgeblichen dogmatischen Grundsätzen regelmäßig zwei Elemente, nämlich formell eine diesbezügliche gesetzliche Regelung (unten 1.) und materiell vorrangige Gemeinwohlinteressen (unten 2.). 1. Zentralstück grundrechtlicher Rechtfertigungsanforderungen ist grundsätzlich, dass die fragliche Beeinträchtigung durch Gesetz erfolgt oder auf Grund eines Gesetzes vorgenommen wird. Dies gilt nicht nur bei den Grundrechten, die ausdrücklich einem Gesetzesvorbehalt unterworfen sind, sondern auch für die vorbehaltlosen Grundrechtsgewährleistungen, deren aus der Verfassung im Übrigen abzuleitende Begrenzungen grundsätzlich auch nur Einschränkungsmöglichkeiten durch oder auf Grund eines Gesetzes eröffnen.54 Vorbehaltlich abweichender verfassungsrechtlicher Spezialregeln55 ergibt sich die Notwendigkeit einer gesetzlichen Grundlage zumal für (klassische) Grundrechtseingriffe aus dem überkommenen rechtsstaatlichen Vorbehalt des Gesetzes,56 den man auch – anders als der Osho-Beschluss57 – terminologisch klar von den Gesetzesvorbehalten der Grundrechtsbestimmungen trennen sollte.58 Vgl. nur Sachs (Fn. 4), S. 570. Wie etwa im Falle eines Exekutivvorbehalts wie in Art. 13 Abs. 3 HS 1 GG, vgl. Sachs (Fn. 4), S. 509 f. m. w. N., der (hier nach dem Umkehrschluss aus HS 2 „ausdrücklich“) Grundrechtseingriffe durch die Exekutive ohne gesetzliche Grundlage vorsieht. 56 Zu diesem hat der Jubilar schon vor langer Zeit eine maßgebliche Abhandlung (P. Selmer, Der Vorbehalt des Gesetzes, JuS 1968, 489 ff.) vorgelegt. 57 BVerfGE 105, 279 (303 ff.), verwendet beides synonym, befindet sich damit allerdings im Einklang mit einem weit verbreiteten Sprachgebrauch; kritisch in Übereinstimmung mit dem hier vertretenen Standpunkt Murswiek (Fn. 9), S. 6 mit Fn. 25. 54 55
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Inwieweit der Vorbehalt des Gesetzes auch für sonstige relevante Grundrechtsbeeinträchtigungen Geltung beansprucht, ist seit langem umstritten.59 Im Interesse eines wirksamen Grundrechtsschutzes besteht grundsätzlich kein Anlass, derartige Grundrechtsverkürzungen ohne Gesetz zuzulassen, zumal sie – mangels der rechtsstaatlich disziplinierenden Anforderungen an (klassische) Eingriffe – besonders problematisch erscheinen. Vor allem für finale Einwirkungen sowohl faktischer Art (z. B. den gezielten polizeilichen Todesschuss) als auch mittelbarer Natur (z. B. Bezahlung von Störern) ist die Notwendigkeit gesetzlicher Ermächtigung grundsätzlich weitgehend akzeptiert. Für das staatliche Informationshandeln hat der Osho-Beschluss nun in ebenso restriktiver wie grundsätzlicher Formulierung die Reichweite des Vorbehalts des Gesetzes so bestimmt: „Die Zuweisung einer Aufgabe berechtigt grundsätzlich zur Informationstätigkeit im Rahmen der Wahrnehmung dieser Aufgabe, auch wenn dadurch mittelbar-faktische Beeinträchtigungen herbeigeführt werden können. Der Vorbehalt des Gesetzes verlangt hierfür keine darüber hinausgehende besondere Ermächtigung durch den Gesetzgeber, . . .“. Die Begründung besteht im Wesentlichen in der auf eine Beschreibung der komplexen Wirkungsweise staatlicher Informationen gestützten These: „Derartige faktisch-mittelbare Wirkungen entziehen sich typischerweise einer Normierung.“ Huber hat dem bereits überzeugend widersprochen und den (wohl) darauf gestützten „Schluss von der Aufgabe auf die Befugnis“ mit Recht „als eine juristische Todsünde“ gebrandmarkt.60 Auch die (alternative) Konstruktion, eine verfassungsunmittelbare Ermächtigung zum informationellen Grundrechtseingriff jedenfalls für die Bundesregierung in der ihr zugewiesenen Aufgabe der Staatsleitung impliziert zu sehen, hat ebenso die verdiente Kritik erfahren wie die damit verbundenen Folgerungen für die bundesstaatliche Kompetenzordnung.61 Hier soll daneben nur noch einmal darauf hingewiesen werden, wie begrenzt die Reichweite der so bedeutungsschwer verkündeten dogmatischen Grundsätze im Kontext der übrigen Annahmen des Gerichts eigentlich ist. Entscheidend dafür ist der (im oben angeführten Zitat aus dem Osho-Beschluss zur Entbehrlichkeit einer besonderen gesetzlichen Ermächtigung weggelassene) einschränkende Zusatz: „es sei denn, die Maßnahme stellt sich nach der Zielsetzung und ihren Wirkungen als 58 Während die grundrechtlichen Gesetzesvorbehalte als gegenüber der Grundrechtsbindung wirksame Erlaubnisnormen für die Gesetzgebung an sich verbotenes Staatshandeln zulassen, Sachs (Fn. 8), vor Art. 1 Rdn. 101, bedeutet der rechtsstaatliche Vorbehalt des Gesetzes als Verbotsnorm für die vollziehende Gewalt gerade umgekehrt das Verbot, ohne gesetzliche Grundlage tätig zu werden, ebda, Art. 20 Rdn. 113. 59 Auch dazu schon Selmer (Fn. 56), S. 493; zum differenzierten Meinungsstand im Übrigen nur Sachs (Fn. 8), vor Art. 1 Rdn. 105. 60 Huber (Fn. 9), S. 294 f. m. w. N.; auch Bethge (Fn. 9), S. 332. Für die Notwendigkeit eines Gesetzes deshalb Knitsch (Fn. 9), S. 117. 61 Vgl. Huber (Fn. 9), S. 295 f.; Murswiek (Fn. 9), S. 6 f.; Bethge (Fn. 9), S. 331 ff.; auch Ruge (Fn. 9), S. 52.
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Ersatz für eine staatliche Maßnahme dar, die als Grundrechtseingriff im herkömmlichen Sinne zu qualifizieren ist.“ Daraus ergibt sich nämlich die Konsequenz, dass bei „Wahl eines solchen funktionalen Äquivalents eines Eingriffs . . . das Erfordernis einer besonderen gesetzlichen Grundlage nicht umgangen werden“ kann. Wie oben (zu 1.) gezeigt wurde, sind aber diese Fälle im Wesentlichen identisch mit den rechtfertigungsbedürftigen Grundrechtsbeeinträchtigungen durch informationelles Handeln überhaupt; nimmt man sie aus, bleiben als relevante Grundrechtsbeeinträchtigungen, die ohne gesetzliche Grundlage zulässig sein könnten, nur unvermeidbar unerkannt unrichtige Informationen (Glykolbeschluss) sowie neutralitätswidrige Informationen (Osho-Beschluss). 2. Zur materiellen Rechtfertigung der wenigen rechtfertigungsbedürftigen Grundrechtsbeeinträchtigungen durch staatliches Informationshandeln hatte nur der Osho-Beschluss Stellung zu nehmen, während im Glykolbeschluss – nach Annahme einer Staatsleitungsaufgabe und Überprüfung am Gebot der Richtigkeit und Sachlichkeit – jegliche Grundrechtsbeeinträchtigung verneint wird. Die Rechtfertigung der schon als neutralitätswidrig eingestuften Äußerungen, die allein „nach den Maßstäben des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes“ vorgenommen wird, fällt wohl zwangsläufig wenig überzeugend aus. Allerdings vernachlässigt der Osho-Beschluss schon im Ansatz die nun wirklich hinreichend geläufigen Elemente einer geordneten Verhältnismäßigkeitsprüfung. Dazu hätte es vor allem gehört, das Ziel der informationellen Intervention zu bestimmen und darauf bezogen ihre Eignung und Erforderlichkeit zu untersuchen. Stattdessen verkürzt der Beschluss seine Untersuchung auf das Postulat, bei der „Bewertung von Vorgängen, die religiöse oder weltanschauliche Gruppen, ihre Ziele und ihre Verhaltensweisen betreffen, . . . (müssten) Äußerungen, die den Schutzbereich des Art. 4 Abs. 1 und 2 GG beinträchtigen, danach insbesondere dem Anlass, der sie ausgelöst hat, angemessen sein . . .“. Da die Angemessenheit der bereits als diffamierend qualifizierten Äußerungen im Ergebnis verneint wird, mag dieser Einstieg auf der letzten Stufe der Verhältnismäßigkeitsprüfung im Entscheidungszusammenhang ausreichen. Für die Dogmatik der Rechtfertigung einschlägiger Informationsinterventionen führt er indes nicht weiter. Im Gegenteil werfen die angestellten Erwägungen nur zusätzliche Fragen auf. Schemenhaft tauchen – neben den unspezifiziert bleibenden „hinreichend gewichtige(n) Gründe(n)“ – im Abwägungsnebel als zu berücksichtigende Güter die mit der grundrechtsbeeinträchtigenden Information wohl verfolgten Ziele auf, wenn das Gericht zur tatsächlichen Seite die Einschätzung billigt, „dass insbesondere Jugendliche und junge Erwachsene weiterhin unter den Einfluss der Osho-Bewegung und ihrer Einzelorganisationen geraten und dadurch für sie, aber auch für ihre Familien und für die Gesellschaft insgesamt Folgen entstehen können, die zum damaligen Zeitpunkt weite Kreise der Bevölkerung erheblich beunruhigten.“ Danach könnte das Ziel der Regierungsinformation darin bestanden haben, diese Entwicklung zum Schutz der betroffenen jungen Menschen, ihrer Familien oder 15 FS Selmer
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gar der „Gesellschaft“ zu verhindern, andererseits könnte das Ziel auch lediglich gewesen sein, die Beunruhigung der Bevölkerung zu bekämpfen. Bei beiden Zielen hätte eine Prüfung ihrer prinzipiellen Legitimität im Rahmen des Grundgesetzes nahe gelegen; dies gilt nicht nur, aber vor allem, wenn man mit dem Bundesverfassungsgericht Art. 4 Abs. 1, 2 GG als vorbehaltlos garantiertes Grundrecht versteht.62 Denn dann kommt als legitimes Ziel nur ein seinerseits verfassungsrechtlich garantierter Wert in Frage,63 der in den Informationsaufgaben der Staatsleitung als solchen sicher nicht gefunden werden kann,64 diesen vielmehr begründend vorausliegen müsste.
V. Schluss Peter Selmer hat zum Steuerinterventionismus eindrucksvoll darauf hingewiesen, dass eine Vernachlässigung seiner grundrechtlichen Bindungen „wohl kaum mit dem institutionalisierten Mißtrauen in Einklang (stünde), das der Verfassungsgeber mit der Grundrechtsbindung der gesetzgebenden Gewalt in Art. 1 III GG zum Ausdruck gebracht hat.“65 Für den nicht minder wirkungsmächtigen Informationsinterventionismus der Exekutive kann nichts anderes gelten. Ob das Bundesverfassungsgericht dem im praktischen Ergebnis durch seine materiellen Anforderungen an Richtigkeit und Sachlichkeit bzw. Neutralität des informationellen Staatshandelns gerecht wird, kann sicherlich zur Zeit unterschiedlich bewertet werden. Die allgemeine Grundrechtsdogmatik allerdings droht Schaden zu nehmen; die Verfassungsrechtswissenschaft ist daher aufgerufen, der „letztlich konzeptionslosen Haltung“ der Rechtsprechung zum Informationsinterventionismus ebenso entgegenzutreten, wie dies Peter Selmer beim Steuerinterventionismus getan hat.
62 BVerfGE 33, 23 (30 f.); wohl mit Recht anders namentlich BVerwGE 112, 227 (231 f.) m. w. N.; zum Streitstand etwa J. Kokott, in: Sachs (Fn. 36), Art. 4 Rdn. 109 ff.; D. Ehlers, ebda, Art. 140 Rdn. 4. 63 Genauer: Eine (damit grundrechtsbegrenzend wirksame) Bestimmung des Grundgesetzes müsste die Staatsgewalt ermächtigen, zugunsten eines „Wertes“ die Religionsfreiheit zu beeinträchtigen. Vgl. zur dogmatischen Analyse des bundesverfassungsgerichtlichen Modells der Rechtfertigung von Beeinträchtigungen vorbehaltloser Grundrechte insoweit Sachs (Fn. 4), S. 557 f. 64 Dazu kritisch auch Murswiek (Fn. 9), S. 7. 65 O. Fn. 1, S. 58.
Erscheinungsformen und Grenzen kooperativer Rechtsetzung Von Gunnar Folke Schuppert
Der Beitrag argumentiert in vier Schritten. In einem ersten Schritt geht es um die Darstellung einiger gesetzgebungswissenschaftlicher Befunde, wobei wir an die Erhebungen in unserem Gutachten über Gute Gesetzgebung“1 anknüpfen können; in dem nachfolgenden Schritt haben wir Gelegenheit festzustellen, wie schwer sich die Staatsrechtslehre damit tut, dieser kooperativen Rechtserzeugung mittels der überkommenen verfassungsrechtlichen Maßstäbe Herr zu werden. In einem dritten Schritt ist daher nach den für diesen Befund maßgeblichen strukturellen Ursachen Ausschau zu halten, um dann in einem vierten Schritt die Notwendigkeit neuer, sektorenübergreifender Denkansätze und Analysekategorien zu reklamieren.
I. Gesetzgebungswissenschaftliche Befunde: Kooperationalisierung der Rechtsetzung als Konsequenz des kooperativen Staates Die für den sog. kooperativen Staat2 typische Verbundproduktion bei der Erfüllung öffentlicher Aufgaben macht auch vor der Normproduktion nicht halt. Man kann daher neben dem kooperativen Rechtsvollzug3 und der kooperativen Rechtskonkretisierung4 auch von einer kooperativen Rechtserzeugung sprechen5 und hierin einen Anwendungsfall des Wandels von hierarchischen zu konsensualen Steuerungstechniken sehen; in diesem Sinne heißt es in dem instruktiven Beitrag 1 Gute Gesetzgebung – Bausteine einer kritischen Gesetzgebungslehre –. Rechts- und gesetzgebungswissenschaftliches Gutachten, erstellt im Auftrag des Bundesministeriums der Justiz, Berlin, Juli 2002. 2 Klassisch dazu E.-H. Ritter, Der kooperative Staat. Bemerkungen zum Verhältnis von Staat und Wirtschaft, AöR 1979, S. 389 ff. 3 Klassisch dazu R. Mayntz (Hrsg.), Vollzugsprobleme der Umweltpolitik, 1978. 4 Grundlegend dazu I. Lamb, Kooperative Gesetzeskonkretisierung. Verfahren zur Erarbeitung von Umwelt- und Technikstandards, 1995. 5 G. F. Schuppert, Verwaltungswissenschaft. Verwaltung, Verwaltungsrecht, Verwaltungslehre, 2000, S. 420 ff.: „Zur Rolle des Rechts bei der Strukturierung von Kooperationsbeziehungen.“
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von Florian Becker über „Kooperative und konsensuale Strukturen der Normsetzung“6 wie folgt: „Wenn und soweit Recht unter den entwickelten Bedingungen differenzierter Gesellschaften in modernen Staaten überhaupt noch eine realistische Steuerungsoption sein soll, bedarf es – so die naheliegende Annahme – eines weitgehenden Verzichts auf den Steuerungsmodus „Hierarchie“ zugunsten des Modus ,Verhandlung‘, da nur letztgenannter durch Integration der Steuerungsobjekte in den Vorgang staatlicher Steuerung die soeben entwickelten Informations- und Akzeptanzdefizite zu überwinden vermag, die in dem Steuerungsmodus Hierarchie angelegt sind. Und so stellt sich die funktionelle Öffnung der Normsetzung, die sich in kooperativen und konsensualen Strukturen manifestiert, gegen den durchgängigen Einsatz hierarchischer Steuerungsmuster und erweitert den Anwendungsbereich des Konfliktlösungsmodus ,Verhandlung‘.“
1. Zur Funktionslogik kooperativer Rechtserzeugung a) Die normvorbereitende Kooperation Einer der besten Kenner des kooperativen Staates – Ernst-Hasso Ritter – hat als besonders häufig praktiziertes Verfahren die normvorbereitende Kooperation ausgemacht und diese Technik der Rechtserzeugung am Beispiel des Gesetzes zur Anpassung und Gesundung des deutschen Steinkohlenbergbaus veranschaulicht7: „Aus dem Blickwinkel der Rechtserzeugung sind kooperative Verhaltensweisen ebenfalls bekannt. Hier ist zunächst auf das Aushandeln von Gesetzesentwürfen oder auf konzertierte Aktionen im Vorfeld von Normierungen hinzuweisen, die als moderne Stufe organisierter Interessenvermittlung unter dem Stichwort ,Korporatismus‘ in die Diskussion gekommen sind. Es handelt sich hierbei um ,normvorbereitende Kooperation‘. Eines der eindrucksvollsten und am besten belegten Beispiele dürfte immer noch das Gesetz zur Anpassung und Gesundung des deutschen Steinkohlenbergbaus und der deutschen Steinkohlenbergbaugebiete von 1968 sein, das nicht nur selbst das Ergebnis intensiver Aushandlungsprozesse war, sondern auch in ein dichtes Netzwerk von Verträgen und Abmachungen eingebettet ist, ohne dessen profunde Kenntnis und Berücksichtigung keine Gesetzesanwendung auskommt.“
b) „Die gleichsam kontraktuelle Substanz der demokratischen Gesetzgebung“8 oder das Gesetz als pluralistisches Abkommen Peter Badura hat in einem schon 1987 erschienenen Beitrag überzeugend herausgearbeitet, daß die Entwicklung des Gesetzes zu einem Vertrag pluralistischer 6 F. Becker, Kooperative und konsensuale Strukturen der Normsetzung. Preprint der MaxPlanck-Projektgruppe „Recht der Gemeinschaftsgüter“, S. 11. 7 E.-H. Ritter, Das Recht als Steuerungsmedium im kooperativen Staat, in: D. Grimm (Hrsg.), Wachsende Staatsaufgaben – sinkende Steuerungsfähigkeit des Rechts, 1990, S. 69 ff., 74.
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Kräfte in der Logik des pluralistischen Parteienstaates liege und insofern von der gleichsam kontraktuellen Substanz der demokratischen Gesetzgebung gesprochen9: „Der Kern der parlamentarischen Gesetzgebung ist der Parteienstaat. Die politischen Parteien – und wenn es um die Gesetzgebung geht, zuerst die Regierungsparteien – sind dazu berufen, die politische Aufgabe des Interessenausgleichs und der Konfliktregulierung zu leisten und damit eine erfolgreiche Gesetzgebung zu ermöglichen. Die gleichsam kontraktuelle Substanz der demokratischen Gesetzgebung hat die Nebenwirkung, daß die Verabschiedung oder Verhinderung von Gesetzen zum Werkzeug parteienstaatlichen Wettbewerbs um die Erhaltung oder den Gewinn von Regierungsmacht wird. Im Kampf um bestimmte Gesetze müssen sich die Parteien zur Sicherung ihrer Wahlchancen als möglichst erfolgreiche Promotoren bestimmter Interessen bewähren und auch allgemein ihre Durchsetzungsfähigkeit erweisen. Der Streit um die Novellierung des § 116 AFG und die Kette der Gesetze zur ,Sicherung‘ der Montan-Mitbestimmung sind naheliegende Beispiele.“
Florian Becker hat diese Argumentationslinie aufgenommen und wie folgt zugespitzt10: „Das Parlament tritt hier nicht als Entscheidungszentrum, sondern nur noch gleichsam als ,Notar‘ eines Gesetzgebungsprozesses auf, dessen zentrale Entscheidungen außerhalb des Parlaments und seiner Verfahren getroffen werden. Das parlamentarische Gesetzgebungsverfahren mutiert damit zu einem Kontrollverfahren, dessen Gegenstand im Vorfeld stattgefundene pluralistische Aushandlungsprozesse sind.11 Die mit einem solchen Vorgehen verbundenen Gefahren für das verfassungsrechtlich normierte Gesetzgebungsverfahren und die Stellung des Parlaments liegen auf der Hand.“
c) Jüngste Erscheinungsformen paktierter Gesetzgebung: die Atomausstiegsgesetzgebung und das KWK-Modernisierungsgesetz aa) Der vereinbarte Ausstieg aus der Kernenergienutzung Eine Kurzgeschichte des vereinbarten Ausstiegs aus der Nutzung der Kernenergie12 findet sich in einem Beitrag von Jens-Peter Schneider, der das Phänomen der 8 P. Badura, Parlamentarische Gesetzgebung und gesellschaftliche Autonomie, in: ders. / J. H. Kaiser (Hrsg.), Parlamentarische Gesetzgebung und Geltungsanspruch des Rechts, 1987, S. 9 ff. 9 Badura, (Fn. 8), S. 16. 10 Badura, (Fn. 6), S. 14 f. 11 H. Schulze-Fielitz, Das Parlament als Organ der Kontrolle im Gesetzgebungsprozeß, in: Horst Dreier / Jochen Hofmann, Parlamentarische Souveränität und technische Entwicklung, 1986, S. 71 ff., 76. 12 Vgl. dazu die Beiträge von F. Schorkopf, Die „vereinbarte“ Novellierung des Atomgesetzes, NVwZ 2000, S. 1111 ff.; M. Böhm, Der Ausstieg aus der Kernenergienutzung – Rechtliche Probleme und Möglichkeiten, NuR 1999, S. 661 ff.; O. Klöck, Der Atomausstieg
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„paktierten Gesetzgebung als Ausprägung kooperativer Rechtserzeugung“ zum Gegenstand hat13: „Der Atomausstieg gehört laut der Koalitionsvereinbarung von 1998 zu den herausragenden umweltpolitischen Zielen der gegenwärtigen Regierungsmehrheit. Von vornherein sollte der Ausstieg zur Vermeidung unbezahlbarer Entschädigungsleistungen im Konsens mit den Betreibern erfolgen. Die Koalitionsvereinbarung ging allerdings noch davon aus, daß wesentliche Rahmendaten bereits durch eine in den ersten 100 Tagen der neuen Regierung zu verabschiedende Novelle des Atomgesetzes gesetzt werden sollten. Dazu kam es jedoch nicht. Stattdessen wurde erst nach langwierigen Verhandlungen zwischen Bundesregierung und der Mehrzahl der Kernkraftwerksbetreiber am 14. Juni 2000 eine Vereinbarung zum Atomausstieg paraphiert. In der Vereinbarung legten die Partner unter anderem wesentliche Eckpunkte einer als formeller Umsetzungsakt geplanten AtG-Novelle fest. Zu diesen Eckpunkten gehörten: das Verbot neuer nuklearer Stromerzeugungsanlagen für die Zukunft; eine flexibilisierte Reststrommengenregelung ohne Entschädigung auf der Basis von 32 Kalenderjahren Regellaufzeit, bei der Reststrommengen von den Betreibern auf andere Anlagen übertragen werden können.“
Für uns sind an diesem Verfahren drei Dinge interessant: Erstens der hochrangige Verbund der paraphierenden Amtswalter auf der Seite des Bundes, der durch Staatssekretär Rainer Baake vom Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit, Staatssekretär Dr. Alfred Tacke vom Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie und Staatssekretär Dr. FrankWalter Steinmeier als Chef des Bundeskanzleramtes vertreten war. Zweitens der Text der Einleitung zu dieser Vereinbarung, in der es wie folgt heißt: „Der Streit um die Verantwortbarkeit der Kernenergie hat in unserem Land über Jahrzehnte hinweg zu heftigen Diskussionen und Auseinandersetzungen in der Gesellschaft geführt. Unbeschadet der nach wie vor unterschiedlichen Haltungen zur Nutzung der Kernenergie respektieren die EVU die Entscheidung der Bundesregierung, die Stromerzeugung aus Kernenergie geordnet beenden zu wollen. Vor diesem Hintergrund verständigen sich Bundesregierung und Versorgungsunternehmen darauf, die künftige Nutzung der vorhandenen Kernkraftwerke zu befristen. Andererseits soll unter Beibehaltung eines hohen Sicherheitsniveaus und unter Einhaltung der atomrechtlichen Anforderungen für die verbleibende Nutzungsdauer der ungestörte Betrieb der Kernkraftwerke wie auch deren Entsorgung gewährleistet werden.
im Konsens – ein Paradefall des umweltrechtlichen Kooperationsprinzips?, NuR 2001, S. 1 ff. 13 Jens-Peter Schneider, Paktierte Gesetze als aktuelle Erscheinungsform kooperativer Umweltpolitik, in: B. Hansjürgens / W. Köck / G. Kneer (Hrsg.), Kooperative Umweltpolitik, 2003, S. 43 ff., 44.
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Beide Seiten werden ihren Teil dazu beitragen, daß der Inhalt dieser Vereinbarung dauerhaft umgesetzt wird. Die Bundesregierung wird auf der Grundlage dieser Eckpunkte einen Entwurf zur Novelle des Atomgesetztes erarbeiten.“
Drittens schließlich die Begründung des Gesetzesentwurfs der Bundesregierung, in der explizit auf diese Vereinbarung Bezug genommen wird14: „Der Gesetzentwurf regelt die geordnete Beendigung der Kernenergienutzung zur gewerblichen Erzeugung von Elektrizität durch eine Neuordnung des Kernenergierechts. Andererseits soll für die verbleibende Nutzungsdauer auf einem hohen Sicherheitsniveau der geordnete Betrieb der Kernkraftwerke sichergestellt bleiben. Das sind die wesentlichen Elemente der Vereinbarung zwischen der Bundesregierung und den Energieversorgungsunternehmen vom 14. Juni 2000, die mit diesem Gesetzentwurf umgesetzt wird.“
Nimmt man dies alles zusammen, so wird klar, daß es sich hier um eine Form paktierter Rechtserzeugung handelt, und zwar um einen Pakt zwischen den Energieversorgungsunternehmen und der Bundesregierung, so daß sich von ganz allein die Frage nach der verbliebenen Funktion der gesetzgebenden Körperschaften stellt, eine Frage, die auch in der diesbezüglichen Bundestagsdebatte eine Rolle spielte; der Bundestagsabgeordnete Ruck von der CDU / CSU tat seinen Unmut jedenfalls mit den folgenden Worten kund: „Zynisch ist auch, Herr Trittin, wie Sie mit dem Parlament und den Bundesländern umgehen. Mit Ihrem Vorgehen degradieren Sie alle Abgeordneten, vor allem die der rot-grünen Koalition, zu reinen Abnickautomaten.“
bb) Das Kraft-Wärme-Kopplungs-Gesetz Nicht ganz so spektakulär, aber für die hier zu diskutierenden Fragen kaum weniger interessant, ist die Geschichte des am 25.1.2002 vom Bundestag beschlossenen Gesetzes für die Erhaltung, die Modernisierung und den Ausbau der KraftWärme-Kopplung15, über dessen Vorgeschichte Jens-Peter Schneider folgendes berichtet16: „Für die langfristig angelegte Nachfolgeregelung planten zunächst alle Beteiligten entsprechend den wissenschaftlichen Ratschlägen die für das deutsche Umweltrecht erstmalige Einführung einer ,grünen‘ Zertifikatslösung. Diese noch im Klimaschutzprogramm der Bundesregierung aus dem Oktober 2000 präferierte Lösung scheiterte jedoch am Widerstand einer Koalition zwischen der Landesregierung NRW, der IG Bergbau Chemie Energie, der Stromverbundunternehmen sowie der Ruhrgas. Stattdessen schloß die Bundesregierung eine Vereinbarung mit der deutschen Wirtschaft zur Minderung der CO2-Emissionen und der Förderung der Kraft-Wärme-Kopplung, die 14 Entwurf eines Gesetzes zur geordneten Beendigung der Kernenergienutzung zur gewerblichen Erzeugung von Elektrizität, BT-Drucksache 14 / 7261 vom 1.11.2001. 15 Entwurf eines Gesetzes für die Erhaltung, die Modernisierung und den Ausbau der Kraft-Wärme-Kopplung, BT-Drucksache 14 / 7024. 16 Schneider, (Fn. 13), S. 4 ff.
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am 25. 6. 2001 paraphiert wurde.17 Maßgebend waren dabei nicht so sehr bestimmte Umweltziele, sondern die Einhaltung eines konsentierten Fördervolumens von 8,7 Mrd. DM bis zum Jahr 2010. Aus diesen nicht vom Staat, sondern von den Verbrauchern über die Netznutzungsentgelte aufzubringenden Finanzmitteln sollte zusätzlich zum üblichen Großhandelsmarktpreis eine gesetzlich bestimmte Bonuszahlung der abnahmeverpflichteten Netzbetreiber für eingespeisten KWK-Strom gezahlt werden. Im wesentlichen sollte der KWK-Ausbau aber von der Stromwirtschaft aus eigener Kraft ohne staatlich abgesicherte Fördermechanismen vorgenommen werden. Die Vereinbarung war somit auf eine partielle Umsetzung in Gesetzesform gerichtet, wenngleich der wesentliche umweltpolitische Erfolg, nämlich der Ausbau der KWK, an eine normersetzende Selbstverpflichtung der Wirtschaft geknüpft wurde.“
Interessant ist an diesem Beispiel – das sich vom Atomenergieausstiegsgesetz übrigens dadurch unterscheidet, daß im Gesetzgebungsverfahren eine Reihe nicht unerheblicher Modifikationen der Vereinbarung vorgenommen wurden18 –, daß hier eine interessante Verknüpfung von gesetzlicher Regelung und Selbstverpflichtung der Wirtschaft verwendet wurde, eine Technik, die schon im Erdölbevorratungsgesetz aus dem Jahre 1969 praktiziert worden war.19
2. Zur Funktionslogik kooperativer Normvermeidung Wenn es Sinn macht, von kooperativer Rechtserzeugung zu sprechen, so ist es ein naheliegender Gedanke, auch in die andere Richtung zu schauen und zu fragen, ob es auch so etwas wie kooperative Normvermeidung gibt. In der Tat gibt es sie, und zwar in rechtsverbindlicher wie in informal verabredeter Weise und auf nationalstaatlicher wie auf europäischer Ebene.
a) Normvermeidende Verträge Daß es so etwas wie normvermeidende Verträge geben kann, zeigt nicht nur das schon behandelte Beispiel des Atomausstiegs, sondern vor allem der auf der kommunalen Ebene vorkommende satzungsabwendende Vertrag: 17 Vereinbarung zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der deutschen Wirtschaft zur Minderung der CO2-Emissionen und der Förderung der Kraft-WärmeKopplung in Ergänzung zur Klimavereinbarung vom 9. 11. 2000, paraphiert am 25.6.2001, dokumentiert unter www.bmwi.de / Homepage / download / energie / Klimavereinbarung1625. pdf; zu ersten wissenschaftlichen Überlegungen für ein Bonusmodell siehe M. Fischedick / P. Hennicke, Bonusregelung für Kraft-Wärme-Kopplungs-Anlagen, Bonn 1999; siehe aber auch deren Kritik an der getroffenen KWK-Vereinbarung; Energiewirtschaftliche Tagesfragen, Bd. 50, 2000, S. 140 – 144 und 408 – 411; siehe auch die vorangegangene Vereinbarung; VIK, VKU und VDEW 1999. 18 Schneider, (Fn. 13), S. 6. 19 G. F. Schuppert, Die Erfüllung öffentlicher Aufgaben durch verselbständigte Verwaltungseinheiten, 1981, S. 289 f.
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„Als ein weiteres Instrument kommen schließlich rechtsverbindliche normvermeidende Verträge als Alternative zu den Absprachen in Betracht. Diese Form der Kooperation zwischen Staat und Wirtschaft ist bislang in der Bundesrepublik nur selten praktiziert worden. In der deutschen Absprachepraxis finden sich bisher nur einige Beispiele aus dem Bereich des Bauplanungsrechts, die allerdings einen anderen Gegenstand haben als die im Rahmen dieser Arbeit untersuchten Absprachen: Sie betreffen die Verpflichtung einzelner Gemeinden zum Nichterlaß eines Bebauungsplanes im Gegenzug gegen ein bestimmtes Verhalten Privater. Es handelt sich also um satzungsabwendende Verträge.“20
b) Normvermeidende bzw. normabwendende informale Absprachen Prototyp der normvermeidenden informalen Absprachen sind die sog. Selbstverpflichtungen der Wirtschaft21, auf die wir daher einen kurzen Blick werfen wollen; reiches Material finden wir dazu in der jüngst erschienenen Untersuchung von Gabriele Hucklenbruch, die eine große Zahl von Beispielen zusammengetragen hat, von denen wir die vier instruktivsten herausgesucht haben22: Erklärung zur Reduzierung der Gewässerbelastung durch EDTA (Ethylendiamintetraessigsäure) vom 31. Juli 1991 als Ergebnis von Gesprächen zwischen Vertretern der chemischen Industrie, der BASF AG als Hersteller von EDTA, der Wasserwirtschaft und den Behörden; Erklärung der Industriegemeinschaft Aerosole e. V. (IGA) über die Reduzierung des Einsatzes vollhalogenierter Fluorchlorkohlenwasserstoffe (FCKW) in Spraydosen vom 13. August 1987; Selbstverpflichtungserklärung der deutschen Wirtschaft vom März 1995 zur Reduzierung von CO2-Emissionen und des Energieverbrauchs; Freiwillige Selbstverpflichtung zur umweltgerechten Altautoverwertung (Pkw) im Rahmen des Kreislaufwirtschaftsgesetzes vom 21. Februar 1996.
Diese vier Beispiele veranschaulichen in eindrucksvoller Weise den vermeidungsstrategischen Einsatz von Selbstverpflichtungen: es soll Zeit gewonnen werden und es geht darum, entweder sich politisch abzeichnende oder unmittelbar bevorstehende rechtliche Regelungen in Gestalt von Verordnungen oder Gesetzen abzuwenden. Insoweit handelt es sich in der Tat um eine Erscheinungsform kooperativer Normvermeidung durch eine zum Teil sehr detaillierte Normsubstitution, indem etwa konkrete Zielvereinbarungen sowie Berichts- und Kontrollpflichten T. Köpp, Normvertretende Absprachen zwischen Staat und Wirtschaft, 2001, S. 270. Frühe Diagnosen bei J. H. Kaiser, Industrielle Absprachen im öffentlichen Interesse, NJW 1971, S. 585 ff.; F. von Zezschwitz, Wirtschaftliche Lenkungstechniken. Selbstbeschränkungsabkommen, Gentlemen’s agreement, Moral Suasion, Zwangskartell, JA 1978, S. 497 ff. 22 G. Hucklenbruch, Umweltrelevante Selbstverpflichtungen – ein Instrument progressiven Umweltschutzes?, 2000, S. 31 ff. 20 21
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„verbindlich“ zugesagt werden. Insofern handelt es sich um eine hybride Handlungsform, die zwar noch unterhalb des rechtsverbindlichen Vertrages mit gerichtlicher Durchsetzbarkeit liegt, andererseits aber über eine unverbindliche Verständigung weit hinausgeht. Von ihrer verhaltenssteuernden Wirkung her fungieren diese normvermeidenden Absprachen jedenfalls als Quasi-Rechtsnormen.
II. Zur Hilflosigkeit verfassungsrechtlicher Prüfungsmaßstäbe Blättert man die neuere Literatur durch, die sich mit dem Thema kooperative Rechtsetzung“ beschäftigt, so trifft man auf einen in dieser Eindeutigkeit überraschenden Befund resignativer Hilflosigkeit.23 Drei Autoren wollen wir zum Beleg in den Zeugenstand rufen: Der erste Autor ist Matthias Herdegen, der in seinem Staatsrechtslehrervortrag zum Thema „Informalisierung und Entparlamentarisierung politischer Entscheidungen als Gefährdungen der Verfassung?“ als Folge der Idealisierung der parlamentarischen Deliberation und einer übersubtilen Grundrechtsdogmatik geradezu eine Sehnsucht nach auspaktierten Gesetzen“ ausgemacht hat24: „Die Idealisierung der parlamentarischen Deliberation als Garant von sachgerechter Abwägung verkennt die Rechtswirklichkeit. Sachgerechtigkeit und Transparenz mögen in gesetzesvorbereitenden Absprachen zwischen Interessenvertretern und Exekutive sogar besser aufgehoben sein als in konturenscharfen Koalitionsvereinbarungen. Die staatsrechtliche Entwicklung mit einer subtilen Grundrechtskasuistik induziert geradezu die Sehnsucht nach auspaktierten Gesetzen, über denen nicht mehr das Damoklesschwert verfassungsrechtlicher Auseinandersetzungen schwebt. Schließlich bleibt es dem Parlament unbenommen, sich einer (durch außerparlamentarische Absprachen normativ ungebundenen) Gestaltungskraft zu versichern. Schon deshalb liegt in solchen Abmachungen keine Verletzung der ,Organtreue‘ im Verhältnis von Regierung und Parlament oder gar eine materielle Aushöhlung des Stimmrechts aus Art. 38 GG. Am Ende verfügt jedes Parlament über das Maß an Autorität und Autoritätsverlust, das es nach dem Handeln seiner jeweiligen Mehrheit und Opposition verdient.“
Der zweite Autor ist Peter M. Huber, der in seinem Beitrag über „Konsensvereinbarungen und Gesetzgebung“25 die kooperative Rechtsetzung keinen grundsätzlichen verfassungsrechtlichen Bedenken ausgesetzt sieht, jedenfalls solange nicht, als die grundgesetzliche Kompetenzordnung nicht in Frage gestellt werde. Dies gelte gerade auch für die mangelnde Beteiligung des Parlaments an normvermeidenden und normvorbereitenden Absprachen; die insoweit vollständig formalkompetenzrechtliche Argumentation Hubers liest sich wie folgt26: 23 Ausdrücklich auszunehmen ist hiervon die Arbeit von L. Michael, Rechtsetzende Gewalt im kooperierenden Verfassungsstaat. Normprägende und normersetzende Absprachen zwischen Staat und Wirtschaft, 2002. 24 VVDStRL 62, 2003, S. 7 ff., 18, 19. 25 ZG 2002, S. 245 ff.
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„Fraglich ist dagegen, ob die zur Gesetzesinitiative befugte Bundesregierung (Art. 76 Abs. 1 GG) zum Abschluß einer normvermeidenden oder -vorbereitenden Absprache auch ohne die Zustimmung des Parlaments berechtigt ist. Das wird in der Literatur . . . mit der Begründung bejaht, daß das Parlament durch eine solche Absprache nicht präjudiziert werde und sein Gesetzgebungsrecht unberührt bleibe.27 Im Ergebnis dürfte dem zuzustimmen sein. Soweit sich ,normvermeidende‘ Absprachen auf ein formelles Gesetz beziehen, verzichtet die Bundesregierung nämlich (politisch) auf die Ausübung ihres Initiativrechts nach Art. 76 Abs. 1 GG und schafft damit eine ,Geschäftsgrundlage‘ für das weitere Verhalten der Beteiligten. Das gilt grundsätzlich auch für ,normvorbereitende‘ Absprachen, und zwar nicht nur dann, wenn sie sich auf den Erlaß einer Rechtsverordnung beziehen, sondern auch, wenn sie – wie im hier interessierenden Kontext – auf den Erlaß eines förmlichen Gesetzes zielen. Zwar kann die Bundesregierung den Bundestag rechtlich nicht präjudizieren. Angesichts der parteienstaatlichen Überformung des grundgesetzlichen Institutionengefüges besteht jedoch eine Vermutung dafür, daß die von einer parlamentarischen Mehrheit getragene Bundesregierung ihr Gesetzgebungsprogramm im Parlament auch durchzusetzen vermag. Eine normvorbereitende Absprache, die eine entsprechende Erwartung zum Gegenstand hat, kann deshalb durchaus ,Geschäftsgrundlage‘ für das weitere Verhalten der Beteiligten sein.“
In der Tat ist mit einer solchen Argumentation dem kooperativen Staat nicht beizukommen. Unser eigentlicher Kronzeuge aber soll Veit Mehde sein, der in seinem Beitrag über „Kooperatives Regierungshandeln“28 das Phänomen konsensualer Rechtserzeugung einer gründlichen Prüfung unterzieht, alles auch irgendwie bedenklich findet, aber zu dem Ergebnis kommt, daß es für ein verfassungsrechtliches Verdikt nicht reiche. Wenn man den Untertitel seines Beitrages – „Verfassungsrechtslehre vor der Herausforderung konsensorientierter Politikmodelle“ – beantworten müßte, so wäre die Antwort eindeutig: die Herausforderung wurde nicht bestanden und konnte so auch nicht bestanden werden. Aber lassen wir den Autor selbst zu Worte kommen. Nachdem er die konsensuale Rechtserzeugung und Normvermeidung anhand der folgenden verfassungsrechtlichen Kriterien untersucht hat, Verfassungsorgantreue Demokratieprinzip (Rolle des Parlaments, Wesentlichkeitstheorie, Öffentlichkeit und Transparenz) Rechtsstaatsprinzip Gleichheitssatz
26 27 28
Huber, (Fn. 25), S. 251. M. Kloepfer, Umweltrecht, 2. Aufl. 1998, § 5 Rn. 215. AöR 127 (2002), S. 655 ff.
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zieht er gewissermaßen mit einem „verfassungsrechtlichen Schulterzucken“ das folgende Resümee29: „Alle hier genannten Problembereiche sind solche, die ernst genommen werden müssen, die im Einzelfall sogar nahelegen können, die Praxis insgesamt als verfassungsrechtlich bedenklich zu bezeichnen. Schon das kooperative Verwaltungshandeln konfligiert mit den klassischen Vorstellungen von den Besonderheiten des Staates als Träger legitimer hoheitlicher Gewalt. Dennoch haben die hier durchgeführten Prüfungen keine Möglichkeit aufgezeigt, den entscheidenden Schritt weiter zu gehen, nämlich von der Formulierung noch so schwerwiegender Bedenken hin zu einer klaren Aussage über eine Verfassungswidrigkeit der bislang bekannten Phänomene.“
Schließlich – und insoweit hat er sicher recht – könne nicht jede Abweichung vom Idealbild gleich den Vorwurf der Verfassungswidrigkeit begründen30: „Jede Analyse des kooperativen Regierungshandelns agiert letztlich in einer rechtlichpolitischen Grauzone, in der Juristen zwar Abweichungen von einem Idealbild feststellen und womöglich bedauern können. Justiziable Konsequenzen – das hat die Untersuchung gezeigt – folgen aber nicht aus der Abweichung von Idealvorstellungen, sondern nur aus der Überschreitung verfassungsrechtlicher Spielräume. Ein solcher Schluß kann hier nicht gezogen werden.“
Es erscheint uns gänzlich unverzichtbar zu sein, das Schlußwort des Beitrages von Mehde zu zitieren, weil es erstens mit der Beschwörung des Wahlvolkes als Richter an die Herdegensche Beschwörungsformel der politischen Kultur erinnert31 – was auch auf eine Abdankung des Verfassungsrechts hinausläuft –, weil es zweitens anzudeuten scheint, daß wir nach strukturellen Gründen für diese mangelnde Maßstäblichkeit des Verfassungsrechts suchen müssen (dazu sogleich) und weil es drittens und zu Recht anmahnt, daß es einer Theorie des kooperativen Staatshandelns bedarf (auch dazu sogleich), um mit dem Phänomen des kooperativen Regierungshandelns angemessen umgehen zu können; es lautet32: „Die unbeeinflußte politische Entscheidung gibt es nicht, und es kann sie in Anbetracht ihres untrennbaren Bezugs zu individuellen wie kollektiven Interessen auch gar nicht geben. Das Grundgesetz, das eine pluralistische Demokratie konstituiert, errichtet keine generelle Barriere gegen jedwede Tendenz zum kooperativen Regierungshandeln. Damit verlagert sich die Diskussion vom ,Ob‘ hin zum ,Wie‘ der Beeinflussung. Vor dem Hintergrund aller hier geführten Diskussionen und angesichts der vorliegenden Befunde kann es dabei nicht mehr um die Herstellung der völligen Übereinstimmung von tatsächlichen und rechtlich vorgesehenen Strukturen gehen. Entscheidend ist vielmehr die Gewährleistung einer dem Gemeinwohl verpflichteten Politikgestaltung auch unter den Bedingungen des faktischen Aufweichens der Unterscheidung von Staat und Gesellschaft. Da sich die verfassungsrechtlichen Bedenken nicht zur Feststellung einer Verfassungswidrigkeit konkretisiert haben, bleibt als einziger Richter das Wahlvolk, das die Verantwortlichkeit für die 29 30 31 32
Mehde, (Fn. 28), S. 677. Mehde, (Fn. 28), S. 678. Herdegen, (Fn. 24), S. 32. Mehde, (Fn. 28), S. 682.
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Entscheidungen ,der Politik‘ einfordern und daraus die entsprechenden Konsequenzen ziehen kann. Die Ironie dieser Feststellung wird offenbar, wenn man sich vor Augen führt, daß die Akteure aus dem politischen Bereich mit ihrer konsensualen Ausrichtung gerade auf die Verbesserung eigener Wiederwahlchancen zielen. In Anbetracht dieser Befunde bleibt als ungelöste Aufgabe das, was Ernst-Hasso Ritter schon 1979 eingefordert hat – die Entwicklung einer ,Verfassungstheorie des kooperativen Staates‘33.“
III. Zu den strukturellen Gründen für die Maßstabslosigkeit des Verfassungsrechts Angesichts der nahezu durchgehenden Hilflosigkeit der staatsrechtlichen Literatur34 bei dem Versuch, das Phänomen des kooperativen Staates, insbesondere des kooperativen Regierungs- und Verwaltungshandelns mittels der überkommenen verfassungsrechtlichen Maßstäbe in den Griff zu bekommen, wird der Verdacht immer stärker, daß dies mit der mangelnden Wirkkraft und Steuerungsmacht der Institution der Verfassung im kooperativen Staat zu tun haben muß. Daß es mit der Steuerungskraft der Verfassung im kooperativen Staat nicht zum Besten steht, ist in der Tat die zentrale These von Dieter Grimm35, die auf folgender einfacher Grundüberlegung beruht: während die Eigenart des kooperativen Staates – so könnten wir es ausdrücken – in der Verschränkung und Überlappung von öffentlichem und privatem Sektor besteht, ist die Abgrenzung von staatlicher und privater Sphäre das Charakteristikum und der vorausgesetzte Wirkungsmodus der Verfassung. Grimm selbst formuliert dies so36: „Die Rechtsbindung der Verfassung bezieht sich auf die Staatsgewalt. Private sind nicht Adressaten, sondern Nutznießer ihrer Regelungen. Insofern beruht die Verfassung auf der Abgrenzung zwischen staatlicher und privater Sphäre. Akteure oder Handlungsformen, die sich nicht auf diese Teilung festlegen lassen, stellen die Verfassung vor Probleme.“
Dies scheint uns eine zutreffende Problemdiagnose zu sein, die vor allem dadurch an Gewicht gewinnt, daß die Ursachen, die diesem Problembefund zugrunde liegen, nicht einfach, wenn überhaupt zu beseitigen sind: denn die oben angesprochene und von uns schon wiederholt traktierte Überschneidung von öffentlichem und privatem Sektor, von staatlicher und privater Sphäre37 hat ihren Grund in der Angewiesenheit des aufgabenintensiven Verwaltungsstaates auf die KooperationsRitter, (Fn. 2), S. 413. Dies gilt etwa auch für den Beitrag von M. Ruffert, Entformalisierung und Entparlamentarisierung politischer Entscheidungen als Gefährdungen der Verfassung?, DVBl. 2002, S. 1145 ff. 35 D. Grimm, Ursprung und Wandel der Verfassung, in: J. Isensee / P. Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. I, „Historische Grundlagen“, 3. Aufl. 2003, § 1, S. 3 ff. 36 Grimm (Fn. 35), S. 31, Rn. 73. 37 G. F. Schuppert, Die öffentliche Verwaltung im Kooperationsspektrum staatlicher und privater Aufgabenerfüllung: Zum Denken in Verantwortungsstufen, Die Verwaltung 31 (1998), S. 415 ff. 33 34
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bereitschaft der nicht-staatlichen Akteure38, ein Befund, der von Dieter Grimm prägnant mit den folgenden Worten zusammengefaßt worden ist39: „Die für den Konstitutionalismus konstitutive Grenze zwischen staatlicher und privater Sphäre wird weiter dadurch unterhöhlt, daß der Staat gerade bei der Erfüllung seiner wohlfahrtsstaatlichen Aufgaben zunehmend auf die Kooperation Privater angewiesen ist. Ordnungsgestaltung und Zukunftssicherung verweigern sich in großem Umfang dem spezifisch staatlichen Mittel von Befehl und Zwang. Teils ist der Einsatz imperativer Mittel faktisch unmöglich, weil sich die Regelungsgegenstände einer Anordnung entziehen. Forschungsergebnisse, Konjunkturaufschwünge, Mentalitätsänderungen lassen sich nicht befehlen. Teils ist er rechtlich unzulässig, weil Grundrechte die Entscheidungsfreiheit der gesellschaftlichen Akteure sichern. Investitionsgebote, Verpflichtungen zur Einstellung von Arbeitskräften, Konsumzwänge wären von der Verfassung nicht gedeckt. Teils ist er zwar möglich und zulässig, aber nicht opportun, weil dem Staat die erforderlichen Informationen für die Formulierung effektiver imperativer Steuerungsprogramme fehlen oder weil die Implementationskosten für imperatives Recht zu hoch sind.“
Wenn diese Überlegungen – und wir zweifeln daran nicht – richtig sind, dann hat die Steuerungsschwäche des Verfassungsrechts im kooperativen Staat letztendlich strukturelle Gründe. Ist das so und ist auch ein Aufbrechen dieser Strukturen nicht absehbar, so bleibt auch Grimm nur ein resignativer Unterton, der in der nachfolgend zitierten Passage unüberhörbar mitschwingt40: „Trotz der demokratischen und rechtsstaatlichen Einbußen, die die Verfassung durch die Verhandlungspraxis erleidet, erscheint es wenig aussichtsreich, diese kurzerhand zu unterbinden, weil sie strukturelle Ursachen hat, die gegen verfassungsrechtliche Verbote weitgehend immun sind. Andererseits reißt sie tiefe Breschen in die verfassungsrechtlichen Rationalitätsvorkehrungen der Rechtserzeugung. Diese haben ihren Grund weniger in mangelnder Verfassungsbereitschaft als in den wachsenden strukturellen Hindernissen für die Verwirklichung eines anspruchsvollen Verfassungsmodells. Selbst wenn man die Verhandlungsarrangements konstitutionalisierte, könnte man sie dadurch nicht um ihre Eigenart bringen, zu der vor allem die Informalität gehört. Vielmehr muß man sich daran gewöhnen, daß die Verfassung ihren normativen Anspruch nur noch in beschränktem Maß erfüllen kann, ohne daß Kompensationen für die Verluste in Sicht wären.“
Angesichts dieses strukturellen Dilemmas wird man nur weiterkommen, wenn man den Käfig eines dichotomischen Gegensatzes von Staat und Gesellschaft, Staat und Markt, staatlicher und privater Sphäre zu verlassen bereit ist und sich – ausgehend von dem Befund einer zunehmenden Verschränkung von öffentlichem und privatem Sektor – auf die Suche nach sektorenübergreifenden Denkansätzen und Konzepten macht.
38 Ausführlich dazu G. F. Schuppert, Die Erfüllung öffentlicher Aufgaben durch verselbständigte Verwaltungseinheiten, 1981. 39 Grimm, (Fn. 35), S. 33, Rn. 79. 40 Grimm, (Fn. 35), S. 36, Rn. 86.
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IV. Auf der Suche nach sektorenübergreifenden Denkansätzen und Konzepten Wenn wir es bei der zunehmenden Verschränkung von öffentlichem und privatem Sektor, insbesondere auch von Markt und Staat41, mit einem offenbar unumkehrbaren Megatrend des beginnenden 21. Jahrhunderts zu tun haben, so bedarf es der Entwicklung von Konzepten, die gerade nicht die strikte Trennung von öffentlichem und privatem Sektor zur Voraussetzung haben, sondern sich dadurch auszeichnen, daß sie den Befund einer zunehmenden Sektorenverschränkung zugrunde legen und von diesem Fundament aus argumentieren und theoretische Neuansätze zu entwickeln versuchen. Soweit wir sehen, gibt es vor allem die folgenden vier sektorübergreifenden Konzepte, mit denen wir uns auch schon jeweils an anderer Stelle beschäftigt haben42 und die daher hier nur holzschnittartig skizziert werden müssen:
1. Vier sektorübergreifende konzeptionelle Ansätze a) Das Konzept der Verantwortungsteilung Das nicht rechtsdogmatische Qualitäten beanspruchende, heuristische Konzept der Verantwortungsteilung43 geht von der Einsicht aus, daß im pluralistisch organisierten demokratischen Verfassungsstaat die Gemeinwohlverantwortung nicht als allein beim Staat liegend gedacht werden kann, sondern daß wir es mit einer Pluralität von staatlichen und nicht-staatlichen Gemeinwohlakteuren zu tun haben, deren „Tatbeiträge“ zum Gemeinwohl irgendwie aufeinander abgestimmt werden müssen. Als für die Rollenverteilung geeignetes Drehbuch kommt dabei das Konzept der Verantwortungsstufung bzw. Verantwortungsteilung in Betracht, ein Konzept – und darauf kommt es an dieser Stelle an –, das gerade nicht in getrennten Sphären von staatlich und privat denkt, sondern sektorenübergreifend das Zusam-
Aktuell dazu John Kay, The Truth about Markets, Oxford University Press, 2003. Zum Konzept der Verantwortungsteilung siehe Fn. 37, zum Konzept der Strukturierung von Public Private Partnership siehe „Grundzüge eines zu entwickelnden Verwaltungskooperationsrechts. Regelungsbedarf und Handlungsoptionen eines Rechtsrahmens für Public Private Partnership“. Rechts- und verwaltungswissenschaftliches Gutachten, erstellt im Auftrag des Bundesministeriums des Innern, Berlin Juni 2001, zum Konzept der regulierten Selbstregulierung „Das Konzept der regulierten Selbstregulierung als Bestandteil einer als Regelungswissenschaft verstandenen Rechtswissenschaft“, Die Verwaltung, Beiheft 4, 2001, S. 201 ff., sowie zum Konzept des Gewährleistungsstaates „Der moderne Staat als Gewährleistungsstaat“, in: Eckhard Schröter (Hrsg.), Empirische Policy- und Verwaltungsforschung, 2001, S. 399 ff. 43 Dazu H.-H. Trute, Verantwortungsteilung als Schlüsselbegriff eines sich verändernden Verhältnisses von öffentlichem und privatem Sektor, in: G. F. Schuppert (Hrsg.), Jenseits von Privatisierung und „schlankem“ Staat, 1999, S. 13 ff. 41 42
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menwirken von staatlichen und nicht-staatlichen Gemeinwohlakteuren organisieren will.44 b) Das Konzept der Strukturierung von Public Private Partnership Dieses Konzept geht von dem empirischen Befund einer zunehmenden Verbundproduktion öffentlicher Dienstleistungen durch die Kooperation der öffentlichen Verwaltung mit privaten Leistungsanbietern (vulgo: PPP) aus und versucht, dieses Feld praktizierter Verantwortungsteilung im Sinne einer möglichst klaren Zuordnung von Verantwortlichkeiten rechtlich zu strukturieren.45 Dieser – wie man es mit Martin Burgi formulieren kann46 – Strukturierungsauftrag des Rechts erscheint umso wichtiger, als der kooperierende Staat ein tendenziell distanzloser Staat ist, der der ständigen Versuchung ausgesetzt ist, für vielleicht kurzfristig vorteilhaft erscheinende Arrangements mit nicht-staatlichen Akteuren in the long run einen vielleicht doch zu hohen Gemeinwohlpreis zu zahlen. Auch dieses Konzept einer notwendigen Strukturierung von Kooperationsbeziehungen der Verwaltung mit Privaten im Sinne der Entwicklung eines Verwaltungskooperationsrechts ist also ebenfalls ein sektorenübergreifendes Konzept, das gerade auf eine rechtlich strukturierte Verzahnung von öffentlichem und privatem Sektor zielt.
c) Das Konzept der regulierten Selbstregulierung Auch beim Konzept der regulierten Selbstregulierung geht es um die Zuordnung von Gemeinwohlbeiträgen staatlicher und nicht-staatlicher Akteure, aber diesmal nicht auf dem Gebiet der kooperativen Erbringung gemeinwohlorientierter Dienstleistungen, sondern auf dem Gebiet der Regulierung, und zwar im Sinne eines ausbalancierten Verhältnisses von staatlicher Steuerung und gesellschaftlicher Selbstregulierung.47 In der breit geführten Steuerungsdiskussion hat ein Skalierungsmodell von Regulierungstypen48 mit den Endpunkten staatlich und privat weit44 Dazu A. Voßkuhle, Gesetzgeberische Regelungsstrategien der Verantwortungsteilung zwischen öffentlichem und privatem Sektor, in: Schuppert, (Fn. 43), S. 47 ff. 45 Schuppert, Grundzüge (Fn. 42). 46 M. Burgi, Privat vorbereitete Verwaltungsentscheidungen und staatliche Strukturschaffungspflicht. Verwaltungsverfahrensrecht im Kooperationsspektrum zwischen Staat und Gesellschaft, Die Verwaltung 33 (2000), S. 183 ff. 47 Siehe dazu die Referate von M. Schmidt-Preuß / U. Di Fabio, Verwaltung und Verwaltungsrecht zwischen gesellschaftlicher Selbstregulierung und staatlicher Steuerung, VVDStRL 56 (1997), S. 160 ff., 235 ff. 48 W. Hoffmann-Riem, Öffentliches Recht und Privatrecht als wechselseitige Auffangordnungen – Systematisierung und Entwicklungsperspektiven, in: derselbe / E. Schmidt-Aßmann (Hrsg.), Öffentliches Recht und Privatrecht als wechselseitige Auffangordnungen, 1996, S. 261 ff.
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gehend Anerkennung gefunden, dessen „spannendster Typ“ die staatlich regulierte Selbstregulierung ist, die von Wolfgang Hoffmann-Riem wie folgt charakterisiert worden ist49:
Vier Grundtypen der Regulierung
„Die Übergänge sind fließend zu dem dritten Typ, in dem das Vertrauen auf Selbstregulierung – und zwar unter Einschluß privatautonomer Zielsetzung – im Vordergrund steht und der Staat keine Erfüllungsverantwortung übernimmt oder sie zumindest zurückstellt. Er schafft aber einen besonderen regulativen Rahmen für die Selbstregulierung. Durch diesen wird der Möglichkeitsraum beengt: Der Rahmen strukturiert die verfügbaren Optionen vor, beläßt aber Spielraum bei der Optionenkonkretisierung und -wahl. [. . .] Zur Kategorie regulierter Selbstregulierung gehören auch Konstruktionen, bei denen eine privatautonome Regelung möglich ist, aber mit Erwartungen konfrontiert wird, deren Nichterfüllung den staatlichen Akteur in die Arena beordert. Ein bekanntes Beispiel ist § 14 AbfG, der zunächst auf die private Verantwortungsübernahme setzt, aber neben der Möglichkeit appellartiger Zielvorgaben vor allem ein staatliches Auffangnetz – dokumentiert in der Ermächtigung zum Erlaß einer Verordnung nach Abs. 2 Satz 3 – bereithält, dessen potentielle Existenz Vorwirkungen entfalten soll. Es vermittelt nämlich Drohmacht zur Aktivierung der Bereitschaft zur privaten Verantwortungsübernahme. In ähnlicher Weise arbeitet die staatliche Förderung von Selbstbeschränkungsabkommen der beteiligten Wirtschaftskreise, wenn bei deren Scheitern staatliche Regulierung droht. Die im Umwelt-, insbesondere Abfallrecht aktuell verfolgten Bemühungen, Umweltlasten und Entsorgungsrisiken durch Kreislaufkonzepte auf die Verursacher zurückzuverlagern, bauen ebenfalls auf einen regulierenden Rahmen, innerhalb dessen vorrangig, aber nicht notwendig, auf privatautonomes Handeln gesetzt wird.“
49
Hoffmann-Riem, (Fn. 48), S. 264.
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d) Das Konzept des Gewährleistungsstaates Auch und gerade das Konzept des Gewährleistungsstaates, dessen Karriere als beeindruckend bezeichnet werden muß50, ist ein sektorenübergreifendes Konzept: es bläst nicht zum Rückzug des Staates51 im Sinne einer Überlassung von immer mehr Aufgaben an private, nicht weiter regulierte Anbieter, sondern geht mit der zunehmenden Einbeziehung Privater in die öffentliche Aufgabenerfüllung offensiv um, indem es die Vorteile nicht-staatlicher Aufgabenwahrnehmung mit der fortbestehenden staatlichen Gemeinwohlverantwortung zu verbinden sucht. Der Gewährleistungsstaat baut auf Gemeinwohlbeiträge Privater, ja er will – wie Claudio Franzius seine Absicht der Zusammenführung von staatlichem und privatem Sektor apostrophiert hat – der Staat der Zivilgesellschaft sein52: „Der ,Gewährleistungsstaat‘ scheint ein Begriff zu sein, der in Deutschland gute Aussichten hat, Karriere zu machen. Eng mit der Vorstellung des ,aktivierenden‘ Staates verbunden, wird auf eine ,Verantwortungsteilung‘ zwischen Staat und Bürger gesetzt. Ziel ist es, privates Engagement für das Gemeinwohl zu nutzen und zu mehren. Denn öffentliche Aufgaben – das ist eine Binsenweisheit – sind nicht immer Staatsaufgaben. Sie können und sollen auch durch den Bürger erfüllt werden. Modern ist so gesehen ein Staat, der auf die Aktivierung privater Kräfte setzt und die öffentliche Aufgabenerfüllung durch die Bereitstellung geeigneter Regelungsstrukturen ermöglicht. Der Gewährleistungsstaat will der Staat der Zivilgesellschaft sein.“
Das rechtliche Instrumentarium, dessen der Gewährleistungsstaat bedarf, um private Leistungs- bzw. Regulierungsbeiträge und staatliche Gewährleistungsverantwortung miteinander auszubalancieren und dessen dogmatische Bausteine noch der weiteren Bearbeitung bedürfen, kann man mit Andreas Voßkuhle als Gewährleistungsverwaltungsrecht53 oder mit Johannes Masing als Regulierungsverwaltungsrecht54 bezeichnen, Rechtsgebiete jedenfalls, die rechtlich auszubuchstabieren versuchen, was Gewährleistung im lebensweltlichen Alltag des Verwaltungsstaates eigentlich konkret bedeutet. Nach diesem Blick auf vier miteinander zusammenhängende sektorenübergreifende Konzepte öffentlicher Aufgabenerfüllung gilt es zum Schluß, diese Überlegungen für unser Thema der kooperativen Rechtsetzung fruchtbar zu machen.
50 Eindrücklich dazu A. Voßkuhle, Beteiligung Privater an der Wahrnehmung öffentlicher Aufgaben und staatliche Verantwortung, VVDStRL 62, (2002), S. 266 ff. 51 Dazu G. F. Schuppert, Rückzug des Staates? Zur Rolle des Staates zwischen Legitimationskrise und politischer Neubestimmung, DÖV 1995, S. 761 ff. 52 C. Franzius, Der „Gewährleistungsstaat“ – ein neues Paradigma der Staatstheorie?, Vortrag vom 20. November 2002 (Manuskript), S. 1. 53 Voßkuhle, (Fn. 50), S. 266 ff. 54 J. Masing, Grundstrukturen eines Regulierungsverwaltungsrechts, Die Verwaltung 36, 2003, S. 1 ff.
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2. Rechtsetzung im Gewährleistungsstaat Das Leitbild des Gewährleistungsstaates, das in der Regel in Verbindung mit der Erfüllung öffentlicher Aufgaben diskutiert wird – der Staat erfüllt nicht alle gemeinwohlrelevanten Aufgaben selbst, sondern gewährleistet „nur“ noch, daß die Erfüllung der Aufgaben durch nicht-staatliche Akteure gewissen Standards genügt –, kann und muß auch auf seine Konsequenzen für den Bereich der Rechtsetzung befragt werden.55 Wenn wir dabei den Satz „Der Staat erfüllt nicht alle Aufgaben selbst, gewährleistet aber die Gemeinwohlverträglichkeit der Aufgabenerfüllung durch Dritte“ auf den Bereich der Rechtsetzung übertragen, so lautete das Ergebnis „Der Staat setzt nicht alles Recht selbst, gewährleistet aber die Gemeinwohlverträglichkeit der Rechtsetzung durch Dritte“.56 Genau dies ist auch das Ergebnis, zu dem Georg Müller in seinem jüngst erschienenen Beitrag über „Rechtsetzung im Gewährleistungsstaat“ gelangt, wobei er wie folgt argumentiert57: „Allerdings reichen die staatlichen Regelungskapazitäten angesichts der Globalisierung oder Internationalisierung der Komplexität der zu erfassenden Materie und des Tempos ihrer Veränderungen immer weniger aus. Der Staat muß sich deshalb in gewissen Gebieten darauf beschränken, die Ziele, Voraussetzungen und Schranken für eine Regulierung durch gesellschaftliche Organisationen festzulegen. Er gewährleistet mit anderen Worten, daß die Privaten innerhalb des von ihm gesetzten Rahmens diejenigen Normen erlassen, die notwendig sind, um eine bestimmte gesellschaftliche Entwicklung zu stützen, zu verzögern oder zu korrigieren. Der Gewährleistungsstaat setzt nicht alles Recht selbst. Er veranlaßt oder fördert die Regulierung bestimmter Bereiche durch Private, vor allem durch Wirtschaftsverbände, Fachvereinigungen und ähnliche Organisationen. Diese Selbstregulierung steuert der Staat in unterschiedlicher Form und Intensität. Häufig überträgt das Gesetz den Privaten die Aufgabe oder räumt ihnen die Befugnis ein, bestimmte Bereiche zu normieren, behält aber die Genehmigung durch den Staat vor. Das Gesetz kann auch die Ziele und Schranken der Selbstregulierung festlegen oder vorsehen, daß unter gewissen Voraussetzungen die von Privaten aufgestellten Regelungen als verbindlich erklärt werden. Gelegentlich ,droht‘ der Staat mit dem Erlaß bestimmter Vorschriften, sofern es nicht zur gewünschten Selbstregulierung kommt. Eine ausreichende Selbstregulierung ist Voraussetzung für die Erteilung gewisser Bewilligungen.“
Mit allen diesen Überlegungen ist aber nur derjenige Kooperationsbereich erfaßt, in dem der Staat durch rechtliche Strukturvorgaben eine miteinander verschränkte Rechtserzeugung staatlicher und nicht-staatlicher Normproduzenten ermöglicht, nicht aber der Bereich derjenigen kooperativen Rechtsetzung, wie sie uns in den Fällen paktierter Gesetzgebung oder paktierten Normvermeidung entgegentritt. Auch insoweit aber bedarf es des Nachdenkens darüber, ob man sich Erste Überlegungen dazu bei Schuppert, Konzept (Fn. 42), S. 201 ff. Vgl. auch Schuppert, Konzept (Fn. 42), S. 239: „Vom Erfordernis staatlicher Selbstentscheidung zum Erfordernis staatlicher Verantwortung für gemeinwohlverträgliche Entscheidungen Dritter“. 57 Georg Müller, Rechtsetzung im Gewährleistungsstaat, in: M.-E. Geis / D. Lorenz (Hrsg.), Staat – Kirche – Verwaltung, FS Hartmut Maurer, 2001, S. 227 ff., 234 f. 55 56
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Verfahren oder organisatorische Arrangements vorstellen kann, die auch angesichts solcher Rechtsetzungskooperation gewisse Mindeststandards von Rechtsstaatlichkeit und Rationalität zu bewahren suchen, ohne dabei in eine Flucht vor der unbequemen Wirklichkeit zu gesetzgebungswissenschaftlich so gern empfohlenen utopischen Idealvorstellungen58 Zuflucht zu nehmen. In welche Richtung solche Überlegungen gehen könnten, haben wir in unserem Gutachten über Gute Gesetzgebung“ anzudeuten versucht und dabei folgende Überlegungen angestellt.59 Das erste zentrale Bedenken gegen paktierte Rechtsetzung besteht darin, daß das Parlament angesichts schon vereinbarter Gesetzesinhalte zunehmend in eine, wenn auch nicht rechtliche, so doch faktische Ratifikationslage gerät: „Die Auswirkungen treffen vor allem die zentrale Rechtsetzungsinstanz, das Parlament. An den Verhandlungen ist es nicht beteiligt. Sie werden auf staatlicher Seite stets von der Regierung geführt. Geht aus den Verhandlungen ein Gesetzentwurf hervor, kann dieser zwar allein durch Parlamentsbeschluß Rechtsgeltung erlangen. Das Parlament befindet sich aber in einer Ratifikationssituation, die derjenigen bei der Beschlußfassung über völkerrechtliche Verträge ähnelt. Es kann das Verhandlungsergebnis nur annehmen oder ablehnen, nicht umgestalten. Anders als bei völkerrechtlichen Verträgen ist sein Handlungsspielraum hier zwar nur faktisch, nicht rechtlich eingeschränkt. Die Einschränkung wirkt aber nicht weniger gebieterisch, weil jeder ändernde Eingriff das Gesamtergebnis auf Spiel setzen würde. Wird in den Verhandlungen ein Regelungsverzicht vereinbart, so kommt das Parlament gar nicht ins Spiel. Zwar kann ein Regelungsverzicht der Regierung es nicht daran hindern, von sich aus die Gesetzgebungsinitiative zu ergreifen. Doch müßte dann die Mehrheit die von ihr getragene Regierung desavouieren, was kaum zu erwarten ist.“60
Wenn dieser Befund – woran wir nicht zweifeln – richtig ist, dann müssen daraus auch die entsprechenden Konsequenzen für die vom Bundesministerium der Justiz bei jedem Gesetz vorzunehmende Rechtsprüfung61 gezogen werden: die in der Gemeinsamen Geschäftsordnung der Bundesministerien für die Prüfung völkerrechtlicher Verträge vorgesehenen längeren Prüfungsfristen müssen wegen gleichgelagerter Ratifikationslage auch für paktierte Gesetze gelten. Ein weiteres Bedenken bezieht sich auf den Typus der normvertretenden Absprachen. Verhandlungen zwischen dem Staat und nicht-staatlichen Akteuren führen häufig nicht nur zu einem einseitigen Regelungsverzicht des Staates, sondern zu normvertretenden Absprachen mit genau bestimmten Zielvorgaben (z. B. Reduktion von CO2-Ausstoß), mit Regelungen über bestimmte Kontrollmechanismen, mit einer Bestimmung über die Laufzeit und manchmal auch über bestimmte Vgl. stellvertretend A. Burghart, Die Pflicht zum guten Gesetz, Berlin 1996. Schuppert, (Fn. 1), S. 122 ff. 60 D. Grimm, Bedingungen demokratischer Rechtsetzung, in: L. Wingert / K. Günter (Hrsg.), Die Öffentlichkeit der Vernunft und die Vernunft der Öffentlichkeit, FS Jürgen Habermas, 2001, S. 489 ff., 503. 61 Vgl. dazu Bundesministerium der Justiz (Hrsg.), Handbuch der Rechtsförmlichkeit, 2. Aufl. 1999. 58 59
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Sanktionen bei Nichteinhaltung der eingegangenen Verpflichtungen. Mit anderen Worten: solche Vereinbarungen – die man daher auch besser als normvertretende und nicht als normvermeidende Absprachen bezeichnen sollte – substituieren gesetzliche oder Verordnungsregeln, sie fungieren de facto als Rechtsnormen. Der beste Beleg dafür ist, daß solche normvertretenden Absprachen bisweilen – wie geschildert – im Bundesanzeiger oder im Ministerialblatt veröffentlicht werden. Wenn eine solche Substitutions-Rechtsetzung von der Rechtsprüfung durch das Bundesministerium der Justiz gänzlich ausgeblendet würde, so würde dies nicht nur eine Unvollständigkeit der Rechtsprüfung bedeuten, sondern darüber hinaus die ohnehin schon nicht unbeträchtlichen rechtsstaatlichen Kosten normvertretender Absprachen deutlich erhöhen. In seinem schon zitierten Beitrag über „Bedingungen demokratischer Gesetzgebung“ hat Dieter Grimm eine Art rechtsstaatlicher Verlustliste informaler / kooperativer Rechtsetzung aufgemacht und insbesondere zu bedenken gegeben, daß die mit dem Durchlaufen des verfassungsrechtlich ausgestalteten Gesetzgebungsverfahrens intendierten Rationalitätsgewinne auf der Strecke bleiben könnten62: „Dagegen ist die rechtsstaatliche Seite rationaler Gesetzgebung außer Betracht geblieben. Für die Angemessenheit des gesetzlichen Interessenausgleichs ist die richterliche Normenkontrolle zunehmend wichtig geworden. Angesichts der erwähnten Defizite der Parteiendemokratie trägt sie heute wesentlich zur Legitimation des Rechts bei. Ausgehandeltes Recht ist darauf in verstärktem Maß angewiesen. Bleiben die ausgehandelten Normen dagegen im Bereich des Informellen, hat die richterliche Normenkontrolle keinen Gegenstand. Selbst für die Einhaltung der Zusagen gibt es dann nur noch politische, keine rechtlichen Sanktionen. Wird der Vereinbarungsgehalt nicht öffentlich bekannt, ist sogar die Feststellung erschwert, ob sich die private Seite daran hält oder nicht.“
Ausgehandeltes Recht umgeht also die in das normale“ Gesetzgebungsverfahren eingebauten Rationalitätsanschübe wie eine Gesetzesbegründung, eine öffentliche Gesetzesdiskussion, eine Behandlung in den Ausschüssen und vieles anderes mehr. Umso mehr sollte jede Chance ergriffen werden, daß in die Verhandlungen der Regierung oder bestimmter Ressorts diejenige Stelle angehört wird, die im „normalen“ Gesetzgebungsverfahren die Qualitätsstandards rechtsstaatlicher Rechtsetzung zur Geltung bringt. Daraus ergibt sich u. E. zwingend, daß die Rechtsprüfung an ausgehandelter Gesetzgebung in angemessener Form zu beteiligen ist. Die Richtigkeit dieses Ergebnisses wird durch das Beispiel des ausgehandelten Atomausstiegs bestätigt. Wäre der Atomausstieg – wie ursprünglich offenbar beabsichtigt – nicht in Form eines Gesetzes, sondern eines öffentlich-rechtlichen Vertrages bewerkstelligt worden, so wäre ein zentrales Vorhaben der Regierungspolitik mit weitreichenden politischen und rechtlichen Folgen ohne die Rationalitätsfilter des Gesetzgebungsverfahrens und damit auch ohne Rechtsprüfung umgesetzt worden. Ersetzt also in diesem Falle die Rechtsetzungsform des Vertrages die Rechtsetzungsform des Gesetzes, so muß sich die Rechtsprüfung – wie eine akzes62
Grimm, (Fn. 60), S. 504.
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sorische Hypothek an einem verkauften Grundstück – auf den Akt substitutiver Rechtsetzung erstrecken. Die Überlegungen schaffen die Probleme kooperativer Rechtserzeugung zwar nicht aus der Welt, aber zeigen vielleicht eine Richtung an, in die man weiter voranschreiten sollte.
Phantomjagd Die Grundrechts-Drittwirkung in der neueren Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Von Jürgen Schwabe
I. Um es vorweg zu nehmen: Übermäßig viel wird nicht zu berichten sein. Woran liegt das? Wurde ein zu enges Thema anvisiert? Indessen füllt bekanntlich die Grundrechts-Drittwirkung eine kleine Extra-Bibliothek, war erst vor kurzem Gegenstand der umfänglichen Habilitationsschrift von M. Ruffert. Ist mit der Konzentration auf die „neuere“ Rechtsprechung des BVerfG ein zeitlich zu knapper, zu wenig ergiebiger Abschnitt ausgewählt worden? Nein, unter „neuerer“ Rechtsprechung habe ich in großzügiger Bemessung die Bände 50 ff. verstanden. Das ist eine willkürliche Zäsur. Die Rechtsprechung bis Band 37 habe ich früher analysiert1, und zwischen Band 38 und Band 49 findet sich mitnichten eine Fülle bemerkenswerter Erkenntnisse. Deshalb liegt die relative Kürze dieses Beitrags darin, dass es in Wahrheit eine spezielle Drittwirkung der Grundrechte nicht gibt und sich folglich das BVerfG mit diesem fiktiven Gegenstand kaum beschäftigt – was höchst erfreulich ist. Die Ungreifbarkeit der Drittwirkung in der Rechtsprechung ist selbstverständlich nicht dadurch zu erklären, dass das BVerfG sich fast nur mit der Grundrechtskonformität des öffentlichen und des Strafrechts zu befassen hatte. Vielmehr hat die verfassungsrechtliche Prüfung von Zivilrecht eher zugenommen. Indessen handelt es sich hier um eine Prüfung wie jede andere auch, es geht um Grundrechtswirkung, nicht um eine gesonderte Drittwirkung.2 Das ist schon seit Jahrzehnten augenfällig, auch wenn es viele Anhänger der h. L. kunstvoll verdrängen. Ein gutes Beispiel ist der Puffreisschokolade-Fall BVerfGE 53, 135 aus dem Jahre 1980. Er betraf eine Verfassungsbeschwerde gegen ein auf § 1 UWG gestütztes zivilgerichtliches Unterlassungsurteil, mit dem der Vertrieb von Weihnachtsmännern und Osterhasen aus Puffreis mit Schokoladenüberzug verboten wurde; beides war nach Lebensmittelrecht unzulässig. Zufällig war dieser Rechtstreit ein zivilrechtlicher, deshalb nach herkömmlicher KlassifiAÖR 100, S. 442. Nach Abschluß des Manuskripts erschien die Habilitationsschrift von Ralf Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte, 2003, die auf S. 229 – 288 die Drittwirkungsrechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts gründlichst analysiert. 1 2
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zierung ein Drittwirkungsfall. Es gab auch die Möglichkeit, den Beschwerdeführer mit einem Bußgeld zu belegen oder mit einer behördlichen Unterlassungsverfügung. Wenn letztere ein ganz klassischer und unproblematischer Fall der Grundrechtsgeltung und -maßstäblichkeit wäre, ist unerfindlich und noch nie begründet worden, weshalb die richterliche statt behördliche Untersagung diese Grundrechtsgeltung auch nur ansatzweise in Frage stellen könnte. Das hat seinen Grund darin, dass die Primärnorm, d. h. das (in der Kakao-VO niedergelegte) Verbot diesbezüglicher Produkte angegriffen werden muss und es absolut gleichgültig ist, mit welcher Sekundärnorm sie durchgesetzt wird, nämlich mit der Ermächtigung von Hoheitsträgern zu einem Verbot oder einer Sanktion oder aber mit der Verbotsbefugnis eines Zivilrichters auf einen (Klage genannten) Antrag Privater. Deswegen war es völlig zutreffend, dass sich in der Entscheidung des BVerfG zum Stichwort Drittwirkung keine Silbe findet. Die Urteilsgründe könnten deshalb mit minimalen, sachlich ganz unwesentlichen Änderungen auch gelten, wenn der Beschwerdeführer wegen des Verkaufs von Schoko-Puffreis-Artikeln mit einem behördlichen Verbot oder mit einem Bußgeld belegt worden wäre. Von einer Beanstandung dieser Verfahrensweise durch Vertreter der h. L., der Rüge fehlender Drittwirkungserwägungen, hat man bezeichnenderweise nie etwas gehört. Gleich instruktiv war das vom Bundesverfassungsgericht zweimal zu beurteilende Werbeverbot zu Lasten von Lohnsteuerhilfevereinen. Selbstverständlich ist allein dieses Verbot, die Primärnorm, an den Grundrechten zu messen. Nicht nur nebensächlich, sondern völlig unerheblich ist, ob das Verbot – im Bereich der Sekundärnormen – durch einen Bußgeldbescheid durchgesetzt wird (Fall BVerfGE 85, 97) oder durch ein zivilgerichtliches Unterlassungsurteil, bei dessen Prüfung BVerfGE 84, 372 richtigerweise keine Silbe auf das Scheinproblem Drittwirkung verwendet hat. Was bei diesen vorgenannten Entscheidungen zutraf, war übrigens bei dem LüthUrteil kein bisschen anders. Dass Lüth sich gegen ein Verbot des staatlichen Richters wandte und nicht gegen eine behördliche Verfügung oder Sanktion, war völlig belanglos. Ich habe mehrfach und erstmals vor Jahrzehnten im Schrifttum um eine Erklärung zu der einfachen Frage gebeten, weshalb eine Primärnorm bei Durchsetzung durch einen Verwaltungsakt oder einer hoheitlichen Sanktion unbestritten der normalen Grundrechtswirkung unterliegt, aber etwas grundlegend anderes gilt, sobald ein Hoheitsträger in seiner Eigenschaft als Zivilrichter für die Beachtung der Norm bemüht wird. Im Schrifttum ist nur eine einzige und ganz hilflose Stellungnahme erschienen. Das ist ein eigenartiger wissenschaftlicher Diskurs, dem auch durch briefliche Anfragen nicht aufzuhelfen war, denn Antworten blieben fast immer aus. Dass die Rechtsprechung des BVerfG für die h. L. einer besonderen Grundrechts-Drittwirkung ziemlich unergiebig ist, zeigt sich auch darin, dass in keiner der zweibändigen Festschriften für das BVerG diesem Problem ein auch nur kurzer Beitrag gewidmet wurde.
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II. Die relative Bedeutungslosigkeit der Grundrechts-Drittwirkung spiegelt sich in den Sachverzeichnissen der amtlichen Sammlung. Drittwirkung kommt dort praktisch kaum vor. Wenn man beispielsweise die zweite Hälfte der Entscheidungssammlung zum Maßstab nimmt, trifft man in den Verzeichnissen zu den Bänden 50 bis 105 dreimal auf das Stichwort Drittwirkung3, ein weiteres Mal findet man es als Untergruppe bei „Grundrechte“4. Die anderen einschlägigen Entscheidungen lassen sich zuweilen über die Stichworte „Privatrecht“ oder „Grundrechte“, „Einfluss auf bürgerliches Recht / Privatrecht“ ausfindig machen5. Vielfach gelingt aber auch das nicht. Im letzten Zehnbändeverzeichnis wird man der thematisch einschlägigen Entscheidungen in Band 93, 352; 94,1; 96, 56; 97, 169 und 391 und 99, 185, über keines der erwähnten Stichworte habhaft. Für den Zeitraum davor gilt gleiches im Hinblick auf BVerfGE 53, 135; 65, 297; 66, 116; 68, 226; 70, 115; 74, 257; 78, 128; 84, 372; 85, 1; 86, 1; 86, 122. Aus jüngster Zeit ist die Benetton-Entscheidung in Band 102, 347 zu nennen. Am aufschlussreichsten und am ergiebigsten müssten jene vier Entscheidungen sein, die wenigstens unter Drittwirkung firmieren. 1. BVerfGE 52, 131 betraf zwar einen Zivilprozess, es ging aber nicht eigentlich um ein Drittwirkungsproblem. Der Beschwerdeführer wehrte sich gegen ein Urteil, das ihm einen Schadensersatzanspruch gegen einen Arzt verwehrte. Erörtert wurden jedoch vorwiegend grundrechtliche Maßstäbe für das Zivilprozessrecht, insbesondere die Beweislast. So gibt es denn – zu Recht – in den Darlegungen der das Urteil tragenden vier Richter keine Erörterung zur Drittwirkung, ebenso wenig in dem Minderheitsvotum der drei unterlegenen Richter auf S. 171 f. Dort findet sich nur die – durchaus zutreffende – Feststellung, dass die Einwilligungstatbestände als Generalklauseln (i. w. S.) besonders empfänglich für grundrechtliche Anforderungen seien. „Dabei geht es um die Einwirkung von Verfassungsrecht auf die Feststellung, den Inhalt und die Auslegung des einfachen Rechts; dies bedeutet nicht eine Drittwirkung in dem Sinne, dass sich schon aus verfassungsrechtlichen Normen selbst Rechte, Pflichten oder selbständige Rechtsfolgen in bürgerlichrechtlichen Verhältnissen zwischen privaten Einzelnen (wie z. B. kraft der Art. 9 Abs. 3 Satz 2, 48 Abs. 3 Satz 2 GG) ergäben.“ (S. 173). Das ist so richtig wie für unser Thema irrelevant. 2. Ganz entsprechendes gilt für BVerfGE 57, 235 / 245. Dort wird nur beiläufig die dem Art. 9 Abs. 3 Satz 2 GG „unbestritten zukommende Drittwirkung“ erwähnt, aber nicht akzentuiert, dass der zu entscheidende Fall die Drittwirkung betrifft. Hinsichtlich BVerfGE 52, 173; 57, 235 und 89, 13. Hinsichtlich BVerfGE 73, 261 (269). 5 Das gilt für BVerfGE 54, 148; 61, 1; 62, 230; 81, 242; 89, 214; 90, 27; 95, 28; 97, 169; 98, 365; 103, 89. 3 4
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3. In BVerfGE 89, 1 wehrte sich ein Mieter gegen ein seines Erachtens grundrechtsverletzendes Räumungsurteil. Das Bundesverfassungsgericht hat ihm den Schutz des Art. 14 GG zugesprochen. Dieser zu Recht vielfach angegriffene Standpunkt ist hier nicht zu diskutieren. Das Gericht hat dann ausgeführt: „Ein Eigentumsschutz des Mieters dient dabei der Abwehr solcher Regelungen, die das Bestandsinteresse des Mieters gänzlich missachten oder unverhältnismäßig beschränken. Die Eigentumsgarantie bleibt also – hier wie auch sonst – staatsgerichtet.“ (S. 8). Das ist völlig richtig. Die Grundrechte richten sich nicht gegen Private, sondern gegen Hoheitsgewalt. Aber Hoheitsgewalt sind eben auch jene (vorwiegend zivilrechtlichen) Normen, die einen Privaten zu Eingriffen gegenüber anderen Privaten berechtigen. Anschließend, bei der Prüfung anhand von Art. 13 GG, hat das Gericht zutreffend dessen Schutzbereich dahingehend eingeengt, dass er nicht gegen Kündigung und Räumung wirkt, wohl aber beispielsweise gegen verbotene Eigenmacht. „Die dagegen um Hilfe angegangenen Gerichte haben bei der Auslegung und Anwendung der einschlägigen zivil- und prozessrechtlichen Bestimmungen des einfachen Rechts Bedeutung und Tragweite des Grundrechts aus 13 Abs. 1 GG zu beachten. Eine mittelbare Drittwirkung von Art. 13 Abs. 1 GG kommt darüber hinaus bei der inhaltlichen Kontrolle bestehender Mietverträge in Betracht, etwa bei der Prüfung von Abreden, die dem Vermieter ein jederzeitiges Betretungsrecht einräumen (§ 138 Abs. 1 BGB).“ (S. 12). Hier könnte man zwar „mittelbare“ und „Dritt-“ streichen, aber sonst ist zu dieser Selbstverständlichkeit nichts anzumerken. Spezifische Drittwirkungsprobleme sind weit und breit außer Sicht. 4. Die einzige Entscheidung – aus gut 22.000 Seiten! – mit substantiellen Ausführungen zur Drittwirkung ist BVerfGE 73, 261. Der Beschwerdeführer wehrte sich dagegen, dass ihm die Arbeitsgerichte eine Zahlung an einen Arbeitnehmer auferlegt hatten. Der anspruchsbegründende Sozialplan, eine Betriebsvereinbarung, gebe dergleichen nicht her, dürfe insbesondere nicht als dynamische Verweisung auf einen Tarifvertrag angesehen werden. a) Der 2. Senat führt (auf S. 268) aus, Sozialpläne hätten nicht den Charakter von Akten öffentlicher Gewalt.“ Ein solcher Charakter kommt ihnen ebenso wie anderen privatrechtlichen Vereinbarungen auch dann nicht zu, wenn im Streitfall ein Richter – als Organ der öffentlichen Gewalt – sie interpretiert und anwendet.“ Schwer vorstellbar, gegen wessen Auffassung diese Feststellung gerichtet sein könnte. Oder sollte es weitergehend die Vorstellung geben, dass beispielsweise die von einem Richter interpretierte und „angewendete“ Kündigungserklärung eines Arbeitgebers oder eines Mieters den Çharakter eines Aktes hoheitlicher Gewalt“ hat, gar ein Verwaltungsakt minderen Grades ist? In welche Richtung wird hier argumentiert? Aber diese selbstverständlich nicht hoheitlichen Akte auf dem Feld der Privatautonomie bedürfen schon deshalb nicht der zauberhaften Verwandlung in grundrechtsgebundene Hoheitsakte, weil sie dem sich beschwert fühlenden Grundrechts-
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träger ganz gleichgültig sein können. Wer seine Berufsfreiheit dergestalt nutzen will, dass er sofort nach Beendigung seines Arbeitsverhältnisses dem bisherigen Arbeitgeber Konkurrenz macht, muss sich allein durch ein von ihm unterzeichnetes Karenzversprechen überhaupt nicht beeinträchtigt fühlen, jedenfalls nicht rechtlich, sondern bestenfalls moralisch. Was soll ihn denn ein autonomer Befehl eines Privaten schrecken? Überhaupt nicht, sofern er der faktisch Stärkere ist, und nur ein wenig bei umgekehrtem Stärkeverhältnis. Zur Räson kommt er allein dadurch, dass der private Gegenpart sagt: „Ich verlange die Befolgung dieses Rechtsbefehls (auf Unterlassung), und bei Ungehorsam wird auf meinen Antrag der Zivilrichter den Befehl erneuern und gegebenenfalls mit Hoheitszwang durchsetzen.“ Dabei ist schon der normative Befehl jenes Moment, das als hoheitlicher Eingriff die Grundrechtsgeltung auslöst, der Richterspruch ist demgegenüber zweitrangig. Gleichwohl versucht der 2. Senat dessen Rolle herunterzuspielen.“ Wird der Richter in einen arbeitsrechtlichen Rechtsstreit mit Sozialplänen befasst, tritt er als streitentscheidende Instanz zwischen den Parteien auf, die allein Geltung und Gehalt des zwischen den Parteien Vereinbarten zu ermitteln und anhand dessen den konkreten Rechtsstreit zu entscheiden hat.“ Was soll damit gesagt sein? Wenn „Entscheidung“ so zu verstehen wäre, dass der Richter sich quasi gutachterlich oder wie ein Schiedsmann zu dem privatautonom erlassenen Verhaltensgebot äußert, könnte man seine Grundrechtsbindung leugnen. Aber dabei würde nicht nur die Fiktion eines nur privat gesetzten Eingriffs zugrundegelegt, während der Private in Wahrheit einen staatlich-normativen Rechtsbefehl vorträgt, es würde natürlich auch die Rolle des Richterspruchs gänzlich verkannt. Das vom 2. Senat apostrophierte Entscheiden äußert sich in einem hoheitlichen Befehl zum Tun oder Unterlassen. Und selbst wenn man der m. E. absurden Vorstellung einer privatautonom geschaffenen Verbindlichkeit, eines ausschließlich von einem Privaten herrührenden Eingriffs anhängen wollte, wäre der Nachweis erforderlich, dass Art. 1 Abs. 3 GG nicht gilt, wenn ein privater (und als solcher grundrechtsungebundener) Befehl durch richterlichen Hoheitsakt bestätigt und anschließend staatlich vollstreckt wird. Dieses Nachweises glaubt man sich vielfach enthoben durch die wohlfeile Zitierung der von Doehring6 stammenden Sentenz, dass „ein Gericht die Grundrechte zu beachten habe, soweit sie gelten; nicht etwa gelten sie, weil ein Gericht entscheidet.“ Das ist mit Art. 1 Abs. 3 GG unvereinbar. Man wüsste von den Befürwortern dieser Formel auch gar zu gerne, ob sie bei einer gerichtlichen Vollstreckbarkeitserklärung ausländischer Urteile die Grundrechtsgeltung bejahen oder, wie eigentlich naheliegend, tatsächlich verneinen (und sich hinsichtlich des Ergebnisses damit trösten, dass der ordre public die Funktion der Grundrechte übernimmt). b) Nun wird freilich vom Bundesverfassungsgericht die Richtertätigkeit nicht völlig negiert, schließlich werden ja schon bei der Zulassung der Verfassungsbeschwerden ausnahmslos die richterlichen Entscheidungen als die zu überprüfen6
Staatsrecht, 3. Aufl. 1984, S. 209.
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den Hoheitsakte angesehen. Jedoch soll der Zivilrichter „nicht unmittelbar“ an die Grundrechte gebunden sein, „wohl aber insoweit . . . , als das GG in seinem Grundrechtsabschnitt zugleich Elemente objektiver Ordnung aufgerichtet hat, die als verfassungsrechtliche Grundentscheidung für alle Bereiche des Rechts Geltung haben, mithin auch das Privatrecht beeinflussen (vgl. BVerfGE 7, 198 / 205; st. Rspr.).“ Das besagt schlicht und einfach, dass – unbezweifelbar – auch der Zivilgesetzgeber gemäß Art. 1 Abs. 3 GG grundrechtsgebunden ist und der Zivilrichter dieses zu beachten, also das Privatrecht grundrechtskonform zu interpretieren hat und grundrechtsverletzendes Zivilrecht nicht anwenden darf. Wieso das eine mittelbare Grundrechtsbindung ist, weiß vermutlich auch der 2. Senat nicht zu erklären. Der Begründungsleerlauf zeigt sich auch beim Blick auf folgende Sentenz: Es „wirkt der Rechtsgehalt der Grundrechte über das Medium der das einzelne Rechtsgebiet unmittelbar beherrschenden Vorschriften, insbesondere der Generalklauseln und sonstigen auslegungsfähigen und auslegungsbedürftigen Begriffe, die im Sinne dieses Rechtsgehalts ausgelegt werden müssen, auf dieses Rechtsgebiet ein.“ (S. 269) Ja gewiss doch! Aber diese so richtige wie banale Feststellung ist allgemein gültig und trifft für die Grundrechtsgeltung im Strafrecht wie im Gewerberecht oder im Privatrecht zu. Der 2. Senat will aber, indem er den zitierten Satz mit „Hier“ beginnen lässt, weissmachen, dass dies eine Besonderheit der „Beeinflussung“ des Privatrechts durch die „Elemente objektiver Ordnung“ im Grundrechtsabschnitt sei, eine Eigenart der „sogenannten Ausstrahlungs- oder mittelbaren Drittwirkung der Grundrechte“. Als ob in dem eingangs analysierten Fall BVerfGE 53, 135 gegenüber einer behördlichen Untersagung die Grundrechte ganz normal als Abwehrrechte wirksam wären und gegenüber einer richterlichen Verfügung ganz anders, nämlich über ihre Ausstrahlungswirkung als Elemente objektiver Ordnung7 – und zwar mit völlig identischem Ergebnis! Das grenzt ans Groteske. Hier wird dem Publikum zwar nicht vorgegaukelt, der nackte Kaiser trage prächtige Kleider, wohl aber, sein Purpur-Wams verfärbe sich grün, sobald er den Saal wechselt. c) Das geschieht nicht etwa nur in der hier analysierten Entscheidung, sondern fast allenthalben, indem man statt mit „Hier . . .“ mit „Im Privatrechtsverkehr . . .“ beginnt. Es gibt nur wenige Ausnahmen. In BVerfGE 85, 1 / 13 heißt es: „Es ist Aufgabe der ordentlichen Gerichte, die einschlägigen Bestimmungen auszulegen und anzuwenden. Bei ihrer Entscheidung haben sie jedoch den Einfluss der Grundrechte auf die Vorschriften des Zivilrechts und des Strafrechts (!) Rechnung zu tragen (vgl. BVerfGE, 7, 198 / 208; st. Rspr.)“. Der Rückverweis auf die Lüth-Entscheidung geht fehl. Dort ging es um „das Verhältnis der Grundrechte zur Privatrechtsordnung“. Eine weitere erfreuliche Ausnahme ist die zutreffende neutrale Formulierung in BVerfGE 89, 214 / 229: „Das GG enthält in seinem Grundrechtsabschnitt verfassungsrechtliche Grundentscheidungen für alle Bereiche des Rechts. Diese Grund7 Dazu auch meine Anmerkung zur Handelsvertreter-Entscheidung in Bd. 81, 242, in DVBl. 1990, 477, in Auseinandersetzung mit Klaus Stern.
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entscheidungen entfalten sich durch das Medium derjenigen Vorschriften, die das jeweilige Rechtsgebiet unmittelbar beherrschen, und haben vor allem auch „Bedeutung bei der Interpretation zivilrechtlicher Generalklauseln (vgl. BVerfGE 7, 198 / 205 f.; 42, 143 / 148).“ Aber auch diese Entscheidung setzt sich wenig später Missverständnissen aus. Denn im Kontext könnte die Annahme nahe liegen, die folgenden Sätze seien spezifisch für die Ausgestaltung der Privatautonomie: „. . . ist der Gesetzgeber bei der (gebotenen) Ausgestaltung an die objektiv-rechtlichen Vorgaben der Grundrechte gebunden. Er muss der Selbstbestimmung des Einzelnen im Rechtsleben einen angemessenen Betätigungsraum eröffnen.“ Das gilt natürlich (ungeachtet des fragwürdigen Adjektivs „objektiv-rechtlichen“) allenthalben. Ebenso verhält es sich bei der kurz darauf folgenden Wendung: „Bei der Ausgestaltung der Privatrechtsordnung stellt sich dem Gesetzgeber ein Problem praktischer Konkordanz .“ (S. 232). Ja gewiss, aber nicht nur hier, sondern stets. „Berührt eine arbeitsgerichtliche Entscheidung die Koalitionsfreiheit, so müssen die Gerichte der Bedeutung dieses Grundrechts bei der Auslegung und Anwendung des Privatrechts Rechnung tragen (vgl. BVerfGE 7, 198 / 206 f.).“8 Der Satz gilt jedoch unverändert, sobald man die Wortbestandteile „arbeits-“ und „Privat-“ streicht. „Im Zivilrecht obliegt es den Gerichten, den Schutz der Grundrechte des Einzelnen durch Auslegung und Anwendung des Rechts zu gewähren und im Einzelfall zu konkretisieren.“9 Sicherlich, aber sollte daraus ein ausländischer Magister-Student schließen, im Steuer-, Straf-, Sozial- oder Polizeirecht gelte etwas anderes? d) Zurück zu BVerfGE 73, 261. Die Entscheidung ist insofern für viele andere repräsentativ, als sie eine Sonderstellung der Drittwirkungsfälle bei der Überprüfungsbefugnis des Gerichts suggeriert. Unmittelbar nach dem obigen Zitat zu den angeblichen Eigenarten des sogenannten Ausstrahlungs- oder mittelbaren Drittwirkung der Grundrechte fährt der 2. Senat auf S. 269 fort: „Dabei überprüft das BVerfG die Auslegung und Anwendung der Vorschriften des Privatrechts in ständiger Rechtsprechung nur daraufhin, ob die ordentlichen Gerichte bzw. Arbeitsgerichte die Ausstrahlungswirkung der Grundrechte hinreichend beachtet oder ob sie ihren Entscheidungen eine unrichtige Auffassung von der Reichweite und Wirkkraft der Grundrechte zugrunde gelegt haben (vgl. z. B. 7, 198 / 207; 34, 269 / 280; 35, 202 / 219; 42, 163 / 168; 61, 1 / 6; st. Rspr.).“ In der Lüth-Endscheidung hatte es geheißen: „Es ist nicht Sache des Verfassungsgerichts, Urteile des Zivilrichters in vollem Umfang auf Rechtsfehler zu überprüfen.“ Dagegen ist nicht das geringste einzuwenden, solange nicht der Eindruck erweckt wird, es gelte in Bezug auf den Zivilrichter etwas anderes als hinsichtlich des Straf-, Verwaltungs-, Finanz- oder Sozialrichters. Es ist ja völlig unbestritten, dass das BVerfG in keinem Gerichtszweig eine Superrevisionsinstanz sein kann. Mit der Grundrechtsgeltung im Zivilrecht speziell hat das anerkanntermaßen nichts zu tun. 8 BVerfGE 93, 352 (360); ganz ähnlich BVerfGE 95, 28 (37) und BVerfGE 102, 347 (362). 9 So die Pressemitteilung zu BVerfGE 103, 89 (100).
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Indessen wird in Drittwirkungsfällen regelmäßig und weit häufiger als in anderen Fällen die beschränkte Nachprüfungskompetenz des Verfassungsgerichts mit solchem Nachdruck betont, dass leicht der Eindruck entstehen kann, es gehe hier um eine Besonderheit der Drittwirkungsfälle. Das Mantra „Keine Superrevisionsinstanz“ wird zuweilen reflexartig auch einem Fall zugeordnet, wo sich dieses Problem überhaupt nicht stellt, etwa in der Handelsvertreter-Entscheidung in Band 81, 242 / 25310. Viel zu selten wird das Zivilrecht dem übrigen Recht gleichgestellt. „Das (Zivil-)Urteil des Oberlandesgerichts unterliegt einer intensiven verfassungsrechtlichen Prüfung. Diese kommt nicht nur bei strafgerichtlicher Ahndung eines dem Schutz des Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG unterliegenden Verhaltens wegen des darin liegenden nachhaltigen Eingriffs in Betracht. Ein solcher Eingriff ist vielmehr auch bei zivilgerichtlichen Entscheidungen anzunehmen, wenn diese geeignet sind, über den konkreten Fall hinaus präventive Wirkung zu entfalten, das heißt in künftigen Fällen die Bereitschaft mindern können, von dem betroffenen Grundrecht Gebrauch zu machen (vgl. BVerfGE 54, 129 [139]; 83, 130 [145 f.]).“11 In BVerfGE 94, 1 / 9 heißt es: „Es ist nicht Sache des Verfassungsgerichts, den jeweiligen Rechtsstreit, der trotz des grundrechtlichen Einflusses seine Eigenart als Zivil- oder Strafverfahren nicht verliert, selbst zu entscheiden.“ Aber ausgerechnet diese zutreffende Formulierung wird vom selben (dem 1.) Senat wenig später in BVerfGE 95, 28 / 37 desavouiert: Es reiche die Kontrollbefugnis des BVerfG „gegenüber den Zivilgerichten . . . nicht weiter als der Einfluss der Grundrechte auf das Privatrecht (vgl. BVerfGE 94, 1 / 9 f.). Da der Rechtsstreit ungeachtet des grundrechtlichen Einflusses ein privatrechtlicher bleibt, prüft es nur nach, ob die wertsetzende Bedeutung des betroffenen Grundrechts bei der Auslegung und Anwendung des einfachen Rechts ausreichend beachtet worden ist.“ Der Rückverweis auf BVerfGE 94, 1 / 9 ist in diesem Zusammenhang schlicht gedankenlos. Denn in dieser Entscheidung mit dem Leitsatz „Zur verfassungsrechtlichen Prüfung der Bedeutung einer Äußerung durch die Fachgerichte“ ging es um die grundrechtsfreundliche Interpretation mehrdeutiger Äußerungen, was ersichtlich in exakt gleicher Weise die Straf- und die Zivilgerichte betrifft. Diese Entscheidung auf den Bereich „Einfluss der Grundrechte auf das Privatrecht“ zu fokussieren, ist durch und durch irreführend. Einzuräumen ist nur, dass man bei Verweisungen schlimmeres gewohnt ist.
Vgl. dazu meine Ausführungen in DVBl. 1990, 477 unter 3. BVerfGE 86, 1 (10): Der Wenn-Satz betrifft die Intensität der Nachprüfung, nicht das ob überhaupt. Der Verweis auf BVerfGE 54 ist völlig unergiebig, der auf BVerfGE 83 wenig aufschlussreich. 10 11
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III. Nach dem Befund, dass von den nur vier mit dem Drittwirkungs-Etikett versehenen Entscheidungen allein die BVerfGE 73, 261 sich dem Problem näher widmet, könnte man auf ergänzende Darlegungen in den übrigen, nicht speziell etikettierten Entscheidungen hoffen. Indes vergeblich. Etliche Entscheidungen versuchen, sich ein von sonstigen Grundrechtsfällen abweichendes Profil durch einen formelhaften Verweis auf die beschränkte Nachprüfungsbefugnis des Gerichts zu geben. Das ist, wie dargelegt, verfehlt. Wenn man diese routinemäßige Beigabe als unerheblich ausblendet, dann zeichnen sich einige12 Fälle, in denen es um die Grundrechtsgeltung im Zivilrecht geht, fast nur noch durch die oben zitierten nebelhaften Wendungen zur Wirksamkeit des Verfassungsrechts als objektive Ordnung etc. aus. Sobald man dieses entbehrliche Lametta abschmückt, verschwinden alle Unterschiede zwischen der Grundrechtsgeltung im öffentlichen und im Zivilrecht. Das muss auch so sein, weil die allein beschwerenden Primärnormen, die Imperative, sich der Polarität von öffentlichem und privatem Recht entziehen und keiner Gruppe zuzuordnen sind. Auch gegen diese vor Jahrzehnten getroffene Feststellung ist mir nirgends ein Widerspruch begegnet. In der 600 Seiten- Habilschrift von Ruffert fehlt schon ein Stichwort „Primärnorm“. So ist es denn kein Zufall, dass in der Mehrzahl der einschlägigen Entscheidungen13 der Konfrontation von Grundrechten und Zivilrecht dieselbe Bedeutung zugemessen wird wie in BVerfGE 53, 153, nämlich gar keine. Konsequenterweise wird die Drittwirkungsproblematik auch in zahlreichen Kammerbeschlüssen mit keiner Silbe erwähnt. So ist beispielsweise der Ersten Kammer des Ersten Senats die Drittwirkung regelmäßig ganz gleichgültig14, eine treffende und vorbildliche Einstellung.
IV. Es ist noch auf zwei angebliche Eigenarten der Drittwirkungsfälle einzugehen, die in einigen wenigen Entscheidungen auftauchen.
12 In BVerfGE 54, 148 (151); 62, 230 (242); 61, 1 (6); 85, 1 (13) und 94, 1 (9) finden sich nur kurze Ausführungen zur Super-Revision. 13 Beispielsweise BVerfGE 66, 116; 68, 226; 70, 115; 74, 257; 79, 256; 84, 372; 86, 1; 86, 122; 96, 56. 14 NJW 1989, 1789; NJW 1991, 2626; NJW 1993, 1252; AfP 1993, 563; DtZ 1994, 67; NJW 2000, 1859; NJW 2001, 3403; NJW 2002, 1187 und 3767; NJW 2003, 277 und 2229; NJW 2004, 277. Erwähnung der Drittwirkung aber jüngst in NJW 2003, 125. Vgl. ferner die Dritte Kammer des Ersten Senats in NJW 1992, 815 und die Zweite Kammer des Ersten Senats in NJW 2002, 3531; NJW 2003, 1307 und 2816 und 2818 (hingegen Bezugnahme auf die Lüth-Entscheidung auf S. 2815).
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1. Wenn die – nicht als öffentlich- oder privatrechtlich zu qualifizierenden – Primärnormen stets der Grundrechtsgeltung unterfallen, so ist auch stets der grundrechtlich fundierte Vorbehalt des Gesetzes zu beachten. Ganz zutreffend wird das in BVerfGE 57, 220 / 247 für selbstverständlich gehalten, desgleichen (stillschweigend) in BVerfGE 65, 297 sowie in der Kammerentscheidung DtZ 1994, 67. Demgegenüber behauptet der 1. Senat in BVerfGE 84, 212 / 226 unter Ignorierung der vorstehend erstgenannten Entscheidung, der Vorbehalt des Gesetzes gelte nur bei „Eingriffen in die grundrechtliche Freiheitssphäre“, nicht jedoch „im Verhältnis gleichgeordneter Grundrechtsträger“, konkret: im Arbeitskampfrecht15. Wogegen würde dann die zulässige Verfassungsbeschwerde gerichtet? „Das angegriffene Urteil greift . . . in die Koalitionsfreiheit der Bf. ein“ (S. 223, ebenso S. 226). Also ist , verblüffend genug, das „in die Koalitionfreiheit eingreifende Urteil“ kein „Eingriff in die grundrechtliche Freiheitssphäre“. 2. Gelegentlich wird die Schutzpflicht aktiviert, zu der sich das Schrifttum vielfach in Sachen Drittwirkung flüchtet. a) In BVerfGE 97, 169 / 175 f. wurde anlässlich der verfassungsrechtlichen Prüfung von Kündigungsschutzbestimmungen festgestellt, Art. 12 Abs. 1 GG gewähre keinen unmittelbaren Schutz gegen den Verlust des Arbeitsplatzes aufgrund privater Disposition. Das ist richtig, weil Art. 12 Abs. 1 GG als Abwehrrecht keinen Anspruch auf Erschaffung oder Bewahrung einer Berufstätigkeit erbringt. Dann kommt nur noch eine dem Staat obliegende Schutzpflicht in Betracht, „der die geltenden Kündigungsvorschriften Rechnung tragen“. Das ist gut vertretbar. b) Hingegen hat in BVerfGE 99, 185 / 194, der Helnwein-Entscheidung, der Beschwerdeführer ein Urteil angegriffen, das ihm Unterlassungsansprüche gegen – nach seinem Vortrag – unwahre und sein öffentliches Ansehen beeinträchtigende Behauptungen versagte. Das Zivilgericht hatte über § 193 StGB analog dem Interesse der Beklagten den Vorrang gegenüber dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht des Klägers eingeräumt. Also war den Beklagten ein Recht zur Beeinträchtigung der Persönlichkeitssphäre zugesprochen und dem Kläger eine Duldungspflicht auferlegt worden. Diese Eingriffsbefugnis würde niemand im Geltungsbereich negatorischer Grundrechte entziehen, wenn sie einer Behörde zugute käme. Dass diesmal Private begünstigt werden, ist ganz unerheblich. So hat es auch noch BVerfGE 54, 148 in einem ganz ähnlichen Fall (Eppler) im Jahre 1980 gesehen und eine ganz normale Grundrechtsprüfung vorgenommen. Seitdem ist es aber in Mode gekommen, für fast alles und jedes auch die staatliche Grundrechtsschutzpflicht zu bemühen. Deshalb heißt es jetzt, 18 Jahre später: „Der grundrechtliche Schutz gegenüber nachteiligen Behauptungen wirkt freilich nicht unmittelbar gegenüber Dritten. Auch das allgemeine Persönlichkeitsrecht entfaltet direkte Wirkung nur gegenüber dem Staat. Dieser ist aber grundrechtlich gehalten, den Einzelnen vor Persönlich15 Kurz bestätigt vom selben Senat in BVerfGE 88, 103 (116). Gegen das Bundesverfassungsgericht R. Schwarze, JuS 1994, 653 / 659; V. Rieble, EzA, Art. 9 GG Arbeitskampf, Nr. 97 unter V 1a, S. 32 f.; Pieroth / Aubel, JZ 2003, 507; R. Poscher (Fn. 2), S. 324.
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keitsgefährdungen durch Dritte zu schützen (vgl. BVerfGE 73, 118 (201); 97, 125 (146)). Soweit die Gerichte Normen anwenden, die diesem Schutz dienen, haben sie die grundrechtlichen Maßgaben zu beachten. Verfehlen sie sie, so liegt darin nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nicht nur eine Verletzung objektiven Verfassungsrechts, sondern auch ein Verstoß gegen die subjektiven Grundrechte des Betroffenen (vgl. BVerfGE 7, 198 (206 f.)).“ (S . 194)16 Diese falsche Perspektive gewinnt nur, wer sich ein Auge zuklebt und mit dem anderen starr in eine Richtung blickt: Unser Rechtssystem schützt jeden gegen Verletzungen seines Persönlichkeitsrechts durch andere Private mittels eines zivilrechtlichen Unterlassungsanspruchs. Dieser endet dort, wo Beeinträchtigungen hinzunehmen sind, der Betroffene im Sinne von § 1004 Abs. 2 BGB zur Duldung verpflichtet, mithin der Handelnde zur Beeinträchtigung berechtigt ist. Zwangsläufig wenden die Gerichte bei Ermittlung der Grenze zwischen Verbot und Berechtigung nicht nur Normen an, die dem Persönlichkeitsschutz dienen, sondern an der Grenzlinie auch solche, die Eingriffe in die Persönlichkeitssphäre erlauben. Wenn man, was allein richtig ist, auf die Eingriffsermächtigung abstellt, gelangt man zwanglos zum Grundrecht als status negativus. Wenn man stattdessen nur auf die andere Seite, nur auf den Umfang des Unterlassungsanspruchs blickt, wird man fälschlich zu der Frage verleitet, ob der Gesetzgeber diesen Anspruch nicht zu knapp bemessen hat und dadurch seiner Schutzpflicht nicht nachgekommen ist. Infolge dessen müsste ein Grundrechtsträger gegen ein Feststellungsurteil, das die Berechtigung seines Gegners zur Verbreitung bestimmter Behauptungen über ihn feststellt und für rechtens erklärt, mit der Behauptung angehen, dass Zivilgericht verstoße damit gegen die staatliche Schutzpflicht, statt richtigerweise, es greife rechtswidrig in sein Grundrecht ein. Bei staatlichen Informationen unter Beeinträchtigung des Persönlichkeitsbereichs kommt ja auch – bislang jedenfalls – niemand auf die Idee, dagegen nur die staatlichen Schutzpflichten zu wenden17. c) Hingegen war es in BVerfGE 103, 89 (nachteiliger Ehevertrag) angezeigt, mit der grundrechtlichen Schutzpflicht zu operieren. Ein abwehrrechtlich zu erfassender staatlicher Eingriff war hier nicht offensichtlich.
V. Der Berichtszeitraum unterscheidet sich von der davor liegenden Zeit durch eine zunehmende Anzahl von Privatvertragsfällen. Unerklärlicherweise tauchte der erste (echte18) Vertragsfall nicht früher als 1985 in BVerfGE 70, 115 auf. Die weiteren
16 Beide Verweise betreffen Sonderfälle, nämlich die Pflicht des Gesetzgebers, Gegendarstellungsansprüche zu schaffen. 17 Vgl. auch J. Schwabe, Grundrechtliche begründete Pflichten des Staates zum Schutz gegen staatliche Bau- und Anlagengenehmigungen. Oder: Schuldet der Staat aktiven Schutz gegen sich selbst?, NVwZ 1983, 523.
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einschlägigen Entscheidungen finden sich in Band 73, 261; 81, 242; 89, 214; 90, 27; 93, 252 und 103, 89. Im Schrifttum19 versucht man sich zuweilen – zu Unrecht – an einer scharfen Zäsur zwischen vertraglichem und anderem Zivilrecht. Beim Bundesverfassungsgericht gibt es keine Tendenz dieser Art.
18 Atypisch waren BVerfGE 65, 196 und 297; vgl. auch meine Anmerkung zu BVerfGE 81, 242 (Fn. 6). 19 Markant etwa J. Pietzcker, FS Günter Dürig, 1990, S. 345 ff. – J. Ipsen, Staatsrecht II, 6. Aufl., 2003, Rn. 57 ff., erweckt sogar den Eindruck, die Grundrechs-Drittwirkung betreffe nur das Vertragsrecht.
Staatsleistungen an jüdische Religionsgemeinschaften Von Hermann Weber
I. Einleitung Der am 27. Januar 2003 von Bundeskanzler Gerhard Schröder für die Bundesregierung, von Paul Spiegel, Charlotte Knobloch und Michel Friedman (Präsident bzw. Vizepräsidenten des Zentralrats der Juden in Deutschland) für den Zentralrat unterschriebene, inzwischen von den Gesetzgebungsorganen des Bundes ratifizierte und im Bundesgesetzblatt publizierte Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Zentralrat der Juden in Deutschland – Körperschaft des öffentlichen Rechts1 – lenkt den Blick mit Nachdruck auf ein bereits seit vielen Jahren existierendes Phänomen, das erstaunlicherweise bis heute weder in der staatskirchenrechtlichen (bzw. – gerade im hier fraglichen Zusammenhang besser – religionsrechtlichen) noch in der finanzverfassungsrechtlichen Diskussion größere Aufmerksamkeit gefunden hat2: die Staatsleistungen an die jüdischen Religionsgemeinschaften. Im Folgenden wird zunächst ein kurzer Blick auf die Wiedererstehung und die staatliche Unterstützung jüdischer Gemeinden in Deutschland nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs geworfen (II). Anschließend folgt ein Überblick über die Staatsverträge der Länder mit den jüdischen Religionsgemeinschaften (III) und den Inhalt des bereits erwähnten Vertrags des Bundes mit dem Zentralrat der Juden (IV), bevor die rechtlichen Probleme allgemein der Neubegründung regelmäßiger Finanzierungspflichten des Staats gegenüber einer (hier: der jüdischen) Religionsgemeinschaft und speziell der Begründung solcher Finanzierungspflichten durch den Bund (V) erörtert werden. Ein letzter Abschnitt (VI) widmet sich der Frage der Verteilung der Staatsleistungen unter den verschiedenen jüdischen Religions1 Gesetz zu dem Vertrag vom 27. Januar 2003 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Zentralrat der Juden in Deutschland – Körperschaft des öffentlichen Recht – vom 10. August 2003, BGBl. I, S. 1507. Vgl. zu dem Gesetz und zu dem mit ihm in staatliches Recht umgesetzten Vertrag die – allerdings sehr knappe – Begründung des Vertrags durch die Bundesregierung, BT-Dr. 15 / 879, S. 13 f. 2 Der Aufsatz von A. v. Campenhausen, Rechtsprobleme der Grundrechtsförderung jüdischer Gemeinden durch staatliche Leistungen, in: Festschrift für Wolfgang Rüfner zum 70. Geburtstag, 2003, S. 67 ff., ist erst nach Abschluss des Manuskripts des vorliegenden Beitrags erschienen und konnte deswegen nur noch in den Fußnoten knapp berücksichtigt werden.
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gemeinschaften – einer Frage, die bereits die Gerichte bis hin zum BVerwG beschäftigt hat (und noch beschäftigt)3 und die durch den erwähnten Vertrag des Bundes zusätzliche Aktualität gewonnen hat. II. Wiederbegründung und finanzielle Unterstützung jüdischer Gemeinden in Deutschland nach 1945 1. Wiederbegründung der jüdischen Gemeinden Die jüdischen Synagogengemeinden hatten in fast allen deutschen Ländern bereits vor 1933 den Status von Körperschaften des öffentlichen Rechts4. Durch Gesetz vom 28. Juli 1938 wurden ihnen die Körperschaftsrechte entzogen und sie gleichzeitig in den Status rechtsfähiger Vereine des Bürgerlichen Rechts überführt (wobei die Eintragung ins Vereinsregister nachzuholen war)5. Nach heutiger Auffassung dürfte kaum mehr Streit darüber bestehen, dass dies Gesetz und die mit ihm verbundene Überführung der jüdischen Gemeinden in den Status bürgerlichrechtlicher Vereine „im Zusammenhang mit der vom deutschen Staat seit 1933 planmäßig betriebenen Verfolgung und Vernichtung der Juden steht“ und daher – ohne Rücksicht auf die Beantwortung der Frage, ob eine Entziehung des verfassungsrechtlichen Status von Religionsgemeinschaften als Körperschaften des öffentlichen Rechts durch actus contrarius überhaupt möglich ist – als „eine in das Gewand des Rechts gekleidete Willkürmaßnahme von Anfang an nichtig war“6. Das bedeutet, dass die jüdischen Gemeinden, soweit sie bei Erlass des genannten Gesetzes Körperschaften des öffentlichen Rechts waren, diesen Status niemals verloren haben und deshalb nach 1945 ohne weiteres wieder als solche hätten behandelt werden müssen7. Zwingende Folge hiervon ist freilich nicht, dass auch den nach 1945 neu entstandenen jüdischen Gemeinschaften ohne weiteres der Körperschaftsstatus zuzuerkennen war: Voraussetzung hierfür wäre vielmehr gewesen, dass die neu entstandenen Gemeinden rechtlich identisch mit den alten Gemeinden 3 Vgl. das mit dem Urteil des BVerwG vom 28. 2. 2002, BVerwGE 116, 86 = NVwZ 2002, 987 m. Anm. M Germann, DVBl. 2002, S. 988, und H. Maurer, JZ 2002, S. 1104, nur vorläufig abgeschlossene Verfahren um die Verteilung der Staatsleistung in Sachsen-Anhalt. 4 J. Lehmann, Die kleinen Religionsgesellschaften des öffentlichen Rechts im Staatskirchenrecht, 1959, S. 32; für Preußen allerdings zweifelnd A. Vulpius, Verträge mit der Jüdischen Gemeinschaft in den neuen Ländern, NVwZ 1996, S. 759 (762 Fn. 44), unter Berufung auf Birnbaum, Staat und Synagoge 1918 – 1938, 1981. 5 Gesetz über die Rechtsverhältnisse der jüdischen Kultusvereinigungen vom 28. März 1938 (RGBl I, 338); vgl. dazu G. Held, Die kleinen öffentlich-rechtlichen Religionsgemeinschaften im Staatskirchenrecht der Bundesrepublik, 1974, S. 41 m. Fn. 4. 6 BVerwGE 105, 255 (263) = NJW 1998, 253 (255) – Adass Jisroel – unter Berufung auf BVerfGE 23, 98 (106 f.) = NJW 1968, 1036 Nr. 2 L; ebenso bereits die Vorinstanzen (VG Berlin, NVwZ 1995, 513 [514]; OVG Berlin, NVwZ 1997, 396 [396]). 7 In diesem Sinne besonders eingehend VG Berlin, NVwZ 1995, 513 [514]) – Adass Jisroel; sachlich übereinstimmend auch das BVerwG und das OVG Berlin im selben Verfahren (Fn. 6).
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waren8. Dies wurde insbesondere von der Alliierten Hohen Kommission bestritten, da die damit verbundene Rechtsnachfolge der neu entstandenen in die Rechte der früheren Synagogengemeinden die alleinige Sachbefugnis der neuen Gemeinden für die Geltendmachung rückerstattungsrechtlicher und entschädigungsrechtlicher Wiedergutmachungsansprüche – und damit in der Sicht der Hohen Kommission eine Benachteiligung der aus Deutschland emigrierten jüdischen Staatsbürger – zur Folge gehabt hätte9. Wohl im Hinblick hierauf, aber auch im Interesse der Rechtsklarheit hat die Praxis in der Frühzeit der Bundesrepublik – bei Unterschieden im einzelnen – die neu entstandenen Gemeinden überwiegend als rechtliche Neugründungen angesehen10 und sich damit für den Weg einer Neuanerkennung dieser Gemeinden (durch Gesetz oder Einzelakt) entschieden11. Im Gebiet der ehemaligen DDR „sind“ nach § 2 Nr. 3 des – als Bestandteil des Einigungsvertrages verabschiedeten, nach dessen Inkrafttreten in den neuen Bundesländern als Landesrecht fortgeltenden – Kirchensteuergesetzes der DDR12 „die Jüdischen Kultusgemeinden“ Körperschaften des öffentlichen Rechts. Damit kommt allen bei Inkrafttreten des Gesetzes auf dem Gebiet der ehemaligen DDR existierenden jüdischen Kultusgemeinden der Status von Körperschaften des öffentlichen Rechts zu13; ob es sich dabei um die (bloß deklaratorische) Bestätigung eines niemals untergegangenen oder aber die (konstitutive) Neubegründung eines in der DDR-Zeit erloschenen Status handelt, ist in der Literatur nicht abschließend geklärt14.
8 Vgl. hierzu eingehend J.-B. Mennicken, Einige Probleme der Gesetzgebung über die jüdischen Kultusgemeinden in den Bundesländern, DVBl. 1966, S. 15 (15 f.). 9 Zu einer entsprechenden Intervention der Hohen Alliierten Kommission im Gesetzgebungsverfahren zu dem Gesetz über die jüdischen Kultusgemeinden im Lande NordheinWestfalen vom 18. Dezember 1951 (GV 1952, S. 2) vgl. Mennicken (Fn. 8), S. 15 Fußn. 10. 10 Mennicken (Fn. 8), S. 15. Ausdrücklich anders das Gesetz über die jüdischen Kultusgemeinden in Rheinland-Pfalz vom 19. Januar 1950 (GVBl S. 13), das in § 4 Abs. 1 die Auflösung der (damit als fortbestehend unterstellten) früheren jüdischen Kultusgemeinden und gleichzeitig in § 4 Abs. 2 den Übergang der Rechte und Pflichten dieser Gemeinden auf die neuen Kultusgemeinden anordnet (vgl. auch dazu Mennicken, a. a. O.). 11 Vgl. den Überblick bei Mennicken (Fn. 8), S. 16 ff. m. Nachw.; speziell zur Praxis in Hessen vgl. noch Erwin Stein, Mahnung zu Toleranz und Markstein für einen Neubeginn, in: Dokumentation zum Staatsvertrag zwischen dem Land Hessen und dem Landesverband der Jüdischen Gemeinden in Hessen, o. J. (1986?), S. 11 (18 ff.). 12 Gesetz zur Regelung des Kirchensteuerwesens Anl. II, Kap. IV, Abschn. I Nr. 5 zum Einigungsvertrag vom 31. August 1990, BGBl. II, 889 (1194), abgedr. mit Erläuterungen in: K. Stern / B. Schmidt-Bleibtreu, Einigungsvertrag und Wahlvertrag (Verträge und Rechtsakte zur Deutschen Einheit Band 2), 1990, S. 949 ff. 13 Zur Frage, ob die Körperschaftsrechte auch einer nach der Wiedervereinigung von einer öffentlichrechtlichen Kultusgemeinde abgespaltenen Gemeinde (hier: der reformjüdisch orientierten Synagogengemeinde zu Halle) zukommen, vgl. (verneinend) VG Halle, nicht rechtskräftiges Urt. v. 22. November 2001 – 3 A 1794 / 97 (gleichzeitig zur Neuverleihung der Körperschaftsrechte an eine solche Gemeinde). 14 Vgl. dazu Vulpius (Fn. 4), S. 762 m. Fußn. 43, 44.
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2. Freiwillige Finanzleistungen des Staates und Leistungen auf allgemein-gesetzlicher Grundlage Schon in der Weimarer Zeit haben die jüdischen Gemeinden jedenfalls in Preußen „erbittert um die Zusage von Staatsleistungen gekämpft“15 und sich hierzu um vertragliche Vereinbarungen mit dem Land parallel zu dem Landeskonkordat mit dem Heiligen Stuhl und zu dem Vertrag mit den Evangelischen Landeskirchen bemüht. Im Ergebnis haben diese Bemühungen nur zu einem Teilerfolg – der Zusage der jährlichen Einstellung einer finanziellen Zuwendung in den Landeshaushalt, freilich nicht als Gegenstand einer das Land bindenden vertraglichen Vereinbarung – geführt16. Nach 1945 haben Bund und Länder zunächst an die frühere Handhabung angeknüpft und Zuwendungen an die Jüdischen Gemeinschaften für deren allgemeine Tätigkeit auf freiwilliger Basis in die staatlichen Haushalte eingestellt. So hat etwa das Land Hessen von 1945 bis 1986 ununterbrochen ohne besondere vertragliche oder rechtliche Grundlage im Rahmen der jährlichen Haushaltsansätze freiwillige Zuschüsse an den Landesverband Jüdischer Gemeinden in Hessen gewährt17; eine entsprechende Praxis bestand – wie sich schon aus den Bezugnahmen in den späteren vertraglichen Regelungen ergibt – in allen anderen Bundesländern. Parallel dazu hat der Zentralrat der Juden in Deutschland – so die Bundesregierung in der Begründung zu dem erwähnten Staatsvertrag vom 27. Januar 2003 – „seit Jahrzehnten finanzielle Leistungen des Bundes im Wege einer jährlichen (zu ergänzen: freiwilligen) Zuwendung“ erhalten18. Daneben standen seit jeher – neben Leistungen, die aufgrund allgemein geltender gesetzlicher Regelungen (wie den Landesgesetzen über eine staatliche Ersatzschulfinanzierung) gewährt werden – zusätzliche zweckbestimmte Finanzleistungen des Staates zugunsten der jüdischen Gemeinschaft: Zu nennen sind hier als Beispiele im Bereich der Länder die Erstattung der Kosten für die Gestellung von Religionslehrern19, im Bereich des Bundes die freiwillige Förderung von Einrichtungen des Zentralrats der Juden (Hochschule für Jüdische Studien, Zentralarchiv zur Erforschung der Geschichte der Juden in Deutschland, beide in Heidelberg)20 Vulpius (Fn. 4), S. 760. Vgl. zum Ganzen die Darstellung bei Vulpius (Fn. 4), S. 760 unter Verweis auf Birnbaum (Fn. 4), S. 102 ff., 155 ff. 17 Erwin Stein (Fn. 11), S. 12. 18 Vgl. die Vertragsbegründung (Fn. 1), S. 13 (zu Art. 2 des Vertrages). 19 Vgl. hierzu die ausdrückliche Feststellung in der Begründung zum Vertrag zwischen dem Land Hessen und dem Landesverband der jüdischen Gemeinden in Hessen vom 1. Dezember 1986, LT-Dr. 11 / 6916, abgedruckt bei J. Listl, Die Konkordate und Kirchenverträge in der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, S. 862 ff. / 863 zu Art. 4), nach der diese Leistungen zu den „auf gesetzlicher Grundlage gewährten Leistungen“ gehören, die nach Art. 4 neben der allgemeinen Staatsleistung weiterbezahlt werden. 20 Vgl. dazu Art. 5 des Vertrags zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Zentralrat der Juden in Deutschland (Fn. 1), nach dem diese Leistungen auch in Zukunft auf freiwilliger Basis weitergewährt werden; zur Hochschule für Jüdische Studien vgl. noch E.-L. 15 16
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und übergreifend die Leistungen des Bundes und der Länder für die Pflege verwaister jüdischer Friedhöfe, die auf einer Verwaltungsvereinbarung des Bundes mit den Ländern vom 21. Juni 1957 beruhen, der nach der Wiedervereinigung auch die neuen Bundesländer beigetreten sind21. Zu erwähnen ist schließlich noch die Anschubfinanzierung des Bundes für das Abraham-Geiger-Kolleg in Potsdam, eine im Sommer 1999 gegründete, durch Kooperationsvertrag mit der Universität Potsdam verbundene liberale, nicht dem Zentralrat der Juden in Deutschland zuzurechnende Ausbildungsstätte für Rabbinerinnen und Rabbiner22.
III. Die Länderverträge mit den jüdischen Religionsgemeinschaften Neue Versuche der jüdischen Religionsgemeinschaften, die staatlichen Finanzleistungen auf eine vertragliche Basis zu stellen und damit auf Dauer zu sichern, setzen erst relativ spät ein: So hat die jüdische Gemeinschaft in Hessen erst Mitte der 80er Jahre „darauf gedrängt“, dass die (bis dahin auf freiwilliger Grundlage gewährten) Zuwendungen des Landes „künftig vertraglich abgesichert werden, zumal mit den beiden christlichen Religionsgemeinschaften entsprechende Verträge bestehen“23.
1. Verwaltungsvereinbarungen als erster Schritt Mit einem ersten Teilerfolg wurden solche Bemühungen schon relativ früh in Niedersachsen gekrönt: Am 20. Juni 1960 wurde in einem (vom Landtag nicht Solte, Die Organisationsstruktur der übrigen als öffentliche Körperschaften verfassten Religionsgemeinschaften und ihre Stellung im Staatskirchenrecht, in: J. Listl / D. Pirson (Hrsg.), HdbStKirchR, Bd. I, S. 417 (434 m. Fn. 66) unter Hinweis darauf, dass diese Hochschule nicht nur vom Bund, sondern auch von den Ländern gefördert wird. 21 Absprache zwischen dem Bund und den Ländern betreffend die Durchführung der Betreuung verwaister jüdischer Friedhöfe vom 21. Juni 1957, abgedr. u. a. in SächsABl 1993, S. 884. 22 Vgl. hierzu H.-P. Katlewski, Jüngere Entwicklungen im deutschsprachigen Raum, in: M. Klöcker / U. Tworuschka (Hrsg.), Handbuch der Religionen. Kirchen und andere Glaubensgemeinschaften in Deutschland, Loseblattausgabe, Stand 2003, Artikel „III. Judentum“, Abschnitt III 7, S. 21 f.- A. v. Campenhausen, Gutachtliche Stellungnahme zur Einbeziehung der Union progressiver Juden in den Staatsvertrags mit dem Zentralrat der Juden vom 26. Februar 2003 (unveröff. Ms.), S. 8, betont zu Recht, dass es sich bei dieser Anschubfinanzierung um eine den Zuwendungen an den Zentralrat zur Förderung der Hochschule für Jüdische Studien und des Zentralarchivs für die Erforschung der Deutsch-Jüdischen Geschichte entsprechende Gewährleistung gem. § 23 BHO handelt, die der Bund unabhängig von der in Art. 2 des Staatsvertrags vereinbarten Staatsleistung gewährt. 23 So das Vorblatt zur Kabinettsvorlage des Hessischen Kultusministers vom 21. Oktober 1986 betreffend „Abschluß eines Staatsvertrages mit dem Landesverband der Jüdischen Gemeinden in Hessen – KdöR“, Az. M 4 – 041 / 60.
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ratifizierten und seinerzeit auch nicht amtlich publizierten24) Verwaltungsvertrag zwischen dem Land Niedersachsen (vertreten durch den Niedersächsischen Kultusminister) und dem Landesverband der Jüdischen Gemeinden von Niedersachsen (damals noch einem eingetragenen Verein) dem Landesverband die Gewährung eines jährlichen Zuschusses des Landes „zur Bestreitung der Verwaltung und der kulturellen Bedürfnisse des Landesverbandes“ zugesichert. Der nur zwei Paragraphen umfassende Vertrag enthielt aber noch keine Gleitklausel und stand zudem unter dem Vorbehalt zweijährlicher Kündigung mit einer Einjahresfrist (§ 2 des Vertrages). Eine sehr viel umfangreichere Verwaltungsvereinbarung, die inhaltlich bereits einem umfassenden Staatsvertrag (parallel zu den Konkordaten und Kirchenverträgen mit der Katholischen bzw. Evangelischen Kirche) entsprach25 und neben anderen, in solchen Verträgen üblicherweise enthaltenen Regelungen auch die Vereinbarung regelmäßiger staatlicher Zuschüsse (diesmal mit Gleitklausel und ohne Kündigungsvorbehalt) enthielt, folgte am 8. Januar 1971 in Berlin26.
2. Die Staatsverträge der Länder Der endgültige Durchbruch kam erst mit dem Abschluss formaler, von den jeweiligen Landtagen ratifizierter Staatsverträge der Länder mit den jüdischen Gemeinden27. Hier lassen sich drei Etappen unterscheiden: Vorreiter waren in den 80er Jahren wiederum das Land Niedersachsen und wenig später das Land Hessen. Es folgten in einer zweiten Etappe bis zur Mitte der 90er Jahre Verträge in Nordrhein-Westfalen und Berlin sowie – ausgelöst nicht zuletzt durch die gleichzeitigen 24 Amtlich publiziert wurde der Vertrag erst als Anlage zur Begründung des Gesetzes zu dem (späteren) Vertrag zwischen dem Land Niedersachsen und dem Landesverband der Jüdischen Gemeinden von Niedersachsen – Körperschaft des öffentlichen Rechts vom 28. Juni 1983, LT-Dr. 10 / 1661, S. 9 (vgl. die Wiedergabe bei J. Listl, Die Konkordate und Kirchenverträge in der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, 1987, S. 186 ff. [191]). 25 Die Vereinbarung stand auch konkret in (zeitlicher und inhaltlicher) Parallele zu ähnlichen Vereinbarungen („abschließenden Protokollen“) des Landes Berlin mit der beiden großen Kirchen vom 22. Juli 1971 (abgedruckt mit späteren Änderungen bei J. Listl, Bd. I [Fn. 19], S. 625 ff. bzw. 676 ff.). Die Form „abschließender Protokolle“ für die – inhaltlich einer abschließenden staatsvertraglichen Regelung entsprechenden, das Verhältnis des Landes zu diesen Kirchen wegen Fehlens neuer Staatskirchenverträge in Berlin (vgl. dazu H. Weber, Neue Staatskirchenverträge mit der Katholischen Kirche in den neuen Bundesländern, in: Festschrift für Martin Heckel zum 70. Geburtstag, 1999, S. 463 ff. [465 m. Fn. 9]) bis heute bestimmenden – Übereinkünfte wurde „mit Rücksicht auf die damalige staats- und völkerrechtliche Sonderlage Berlins“ gewählt (A. Hollerbach, Der vertragsrechtlichen Grundlagen des Staatskirchenrechts, in: Listl / Pirson, Bd. I [Fn. 20], S. 253 [261 f.]; vgl. ferner R. Herzog, Die Berliner Vereinbarung zwischen Staat und Kirchen, ZevKR 16 [1971], S. 268 ff. [276 ff.]). 26 Die Vereinbarung ist (mit späteren Änderungen) abgedruckt bei J. Listl (Fn. 19), Bd. I, S. 712 ff. 27 Überblick über die Verträge in den alten und neuen Bundesländern nach dem Stand von 1996 bei Vulpius (Fn. 4), S. 761 ff.
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Vertragsverhandlungen und Vertragsabschlüsse mit den christlichen Kirchen28 – in allen neuen Bundesländern29 (mit Ausnahme von Brandenburg, wo auch die Verhandlungen mit der Katholischen Kirche über einen Kirchenvertrag ins Stocken geraten sind30). In einer dritten Etappe sind dann auch in fast allen noch „vertragsfreien“ alten Ländern Verträge mit den jüdischen Religionsgemeinschaften abgeschlossen worden. Ohne Vertrag mit der jüdischen Gemeinschaft sind außer Brandenburg heute nur noch die Länder Baden-Württemberg und Hamburg, die auch keine umfassenden Verträge mit den christlichen Kirchen abgeschlossen haben31. Im Einzelnen bestehen danach heute folgende Verträge: Bayern: Vertrag zwischen dem Freistaat Bayern und dem Landesverband der Israelitischen Kultusgemeinden in Bayern vom 14. August 1997, Bekanntmachung vom 24. Januar 1998, GVBl. S. 30. Berlin: Staatsvertrag über die Beziehungen des Landes Berlin zur jüdischen Gemeinde zu Berlin vom 19. November 1993, Gesetz vom 8. Februar 1994, GVBl. S. 6732. Bremen: Vertrag zwischen der Freien Hansestadt Bremen und der Jüdischen Gemeinde im Lande Bremen vom 11. Oktober 2001, Gesetz vom 18. Dezember 2001, GVBl. S. 473. So auch Vulpius (Fn. 4), S. 762. Zu dieser Gruppe von Verträgen mit der jüdischen Religionsgemeinschaft vgl. zusammenfassend H.-U. Anke, Die Neubestimmung des Staats-Kirche-Verhältnisses in den neuen Ländern durch Staatskirchenverträge, 2000, S. 20 f. 30 Vgl. dazu H. Weber (Fn. 25), S. 463 ff. (465 Fn. 8) (auch zu den Vertragsverhandlungen des Landes Brandenburg mit der Jüdischen Gemeinde). – Nach Abschluss des Manuskripts des vorliegenden Beitrags ist am 12. November 2003 in Potsdam von Ministerpräsident Matthias Platzeck und dem Apostolischen Nuntius Giovanni Layolo ein umfassender Staatsvertrag zwischen dem heiligen Stuhl und dem Land Brandenburg unterzeichnet worden (LT-Dr. 3 / 6879); das Ratifikationsverfahren war bei Drucklegung noch nicht abgeschlossen. Ein Vertrag mit den jüdischen Gemeinden soll bald folgen (vgl. Das Parlament Nr. 47 vom 17. November 2003). 31 Als umfassende Verträge zwischen Staat und Kirchen gelten in Baden-Württemberg allerdings die aus der Weimarer Zeit stammenden Konkordate bzw. Kirchenverträge der früheren Länder Baden und (für den Landesteil Hohenzollern) Preußen fort (vgl. A. Hollerbach, Verträge zwischen Staat und Kirche in der Bundesrepublik Deutschland, 1965, S. 61, 64). In Hamburg ist der Versuch des Abschlusses eines Staatskirchenvertrags mit der Nordelbischen Evangelisch-Lutherischen Kirche im Frühjahr 2003 zunächst gescheitert (vgl. Evangelischer Pressedienst Nord, Meldung vom 26. April 2003; Hamburger Abendblatt vom 30. April 2003); mit der Katholischen Kirche besteht nur der – gemeinsam mit den Ländern Mecklenburg-Vorpommern und Schleswig-Holstein abgeschlossene – Vertrag mit dem Heiligen Stuhl über die Errichtung des Erzbistums und der Kirchenprovinz Hamburg vom 22. September 1994 (GVBl I 1995, S. 31). Zu diesem Vertrag und zu seiner Geltung in Hamburg im Hinblick auf die Tatsache, dass er dort – anders als in Mecklenburg-Vorpommern und SchleswigHolstein – nicht durch ein Parlamentsgesetz (in Hamburg: der Bürgerschaft) in die innerstaatliche Rechtsordnung eingefügt worden ist, vgl. Ch. Halm, Die Errichtung des Erzbistums und der Kirchenprovinz Hamburg durch Vertrag vom 22. September 1994, 2000; ders., Zur Geltung des Vertrages zwischen dem Heiligen Stuhl und der Freien und Hansestadt Hamburg, dem Land Mecklenburg-Vorpommern und dem Land Schleswig-Holstein über die Errichtung des Erzbistums und der Kirchenprovinz Hamburg vom 22. September 1994, Kirche und Recht (KuR) 1998, S. 235 ff. = 120, S. 39 ff. 32 Der Vertrag ersetzt die oben bei Fn. 26 erwähnte frühere Verwaltungsvereinbarung. 28 29
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Hessen: Vertrag zwischen dem Land Hessen und dem Landesverband der Jüdischen Gemeinden in Hessen – Körperschaft des öffentlichen Rechts – vom 11. November 1986, Gesetz vom 1. Dezember 1986, GVBl. I, S. 395. Mecklenburg-Vorpommern: Vertrag zwischen dem Land Mecklenburg-Vorpommern und dem Landesverband der Jüdischen Gemeinden in Mecklenburg-Vorpommern vom 14. Juni 1996, Gesetz vom 5. Oktober 1996, GVBl. S. 556. Niedersachsen: Vertrag zwischen dem Land Niedersachsen und dem Landesverband der Jüdischen Gemeinden von Niedersachsen – Körperschaft des öffentlichen Rechts – vom 28. Juni 1983, Gesetz vom 4. Januar 1984, GVBl. S. 2, geändert durch Verträge vom 21. Dezember 1989 (Gesetz vom 23. April 1990, GVBl. S. 99), vom 15. Juli 1999 (Gesetz vom 6. Oktober 1999, GVBl. S. 363) und vom 16. Mai 2002 (Gesetz vom 24. September 2002, GVBl. S. 393). Nordrhein-Westfalen: Vertrag zwischen dem Land Nordrhein-Westfalen und dem Landesverband der Jüdischen Gemeinden von Nordrhein, Körperschaft des öffentlichen Rechts, dem Landesverband der Jüdischen Kultusgemeinden von Westfalen, Körperschaft des öffentlichen Rechts, und der Synagogengemeinde Köln, Körperschaft des öffentlichen Rechts vom 1. Dezember 1992 (Gesetz vom 8. Juni 1993, GVBl. S. 314), geändert durch Verträge vom 18. Februar 1997 (Gesetz vom 15. April 1997, GVBl. S. 74) und vom 25. April 2001 (Gesetz vom 3. Juli 2002, GVBl. S. 457). Rheinland-Pfalz: Vertrag zwischen dem Land Rheinland-Pfalz und dem Landesverband der Jüdischen Gemeinden von Rheinland-Pfalz vom 3. Dezember 1999 (Gesetz vom 8. März 2000, GVBl. S. 96). Saarland: Vertrag zwischen dem Saarland und der Synagogengemeinde Saar – Körperschaft des öffentlichen Rechts – vom 14. November 2001 (Gesetz vom 6. Februar 2002, ABl. S. 526). Sachsen: Vertrag des Freistaats Sachsen mit dem Landesverband der Jüdischen Gemeinden vom 7. Juni 1994 (Gesetz vom 8. Juli 1994, GVBl. S. 1346). Sachsen-Anhalt: Vertrag des Landes Sachsen-Anhalt mit der Jüdischen Gemeinschaft in Sachsen-Anhalt vom 23. März 1994 (Gesetz vom 5. Juli 1994, GVBl. S. 794)33. Schleswig-Holstein: Vertrag zwischen der Jüdischen Gemeinde in Hamburg und dem Land Schleswig Holstein über die Förderung jüdischen Lebens in Schleswig-Holstein vom 29. Januar 1998 (Gesetz vom 12. März 1998, GVBl. S. 153)34. Thüringen: Vertrag zwischen dem Freistaat Thüringen und der Jüdischen Landesgemeinde Thüringen vom 1. November 1993 (Gesetz vom 7. Dezember 1993, GVBl. S. 758), geändert durch Vertrag vom 18. Februar 1999 (Gesetz vom 16. April 1999, GVBl. S. 252).
33 Vgl. zu diesem Vertrag ausführlich A. Vulpius, Der Vertrag des Landes Sachsen-Anhalt mit der Jüdischen Gemeinde in Sachsen-Anhalt, KuR 1998, S. 221 ff. (= 120, S. 25 ff.). 34 Der Vertrag ist am 22. Dezember 2003 durch das Kultusministerium Schleswig-Holstein wegen Auseinandersetzungen mit dem Vertragspartner, der Jüdischen Gemeinde in Hamburg, über eine Beteiligung des (progressiven) Landesverbands der Jüdischen Gemeinden von Schleswig-Holstein gekündigt worden; der Abschluss eines neuen, diese Frage regelnden Vertrags ist in absehbarer Zeit zu erwarten (vgl. die Pressemitteilung des Landesverbands vom 24. Dezember 2003).
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3. Struktur und Inhalt der Länderverträge Während sich der niedersächsische Vertrag von 1983 – wie die erwähnte, ihm vorausgegangene Verwaltungsvereinbarung – auch in seiner heutigen Fassung noch auf die Zusage und nähere Regelung regelmäßiger Finanzzuwendungen des Landes beschränkt, enthalten der hessische Vertrag von 1986 und der Vertrag des Freistaats Thüringen von 1993 darüber hinausgehend in Parallele zu den Konkordaten und Kirchenverträgen mit den beiden großen Kirchen – jeweils in Art. 5 und 6) – bereits die Zusage regelmäßiger Begegnungen zwischen dem Land und dem Landesverband Jüdischer Gemeinden und die traditionelle Freundschaftsklausel. Allen anderen Verträgen ist gemeinsam, dass sie neben den für die jüdischen Vertragspartner auf lange wichtigsten Vertragsbestimmungen (den Vereinbarungen über die Staatsleistungen und die sonstigen finanziellen Zuschüsse des Staates) zahlreiche weitere Regelungen treffen, wie sie üblicherweise auch in den Staatskirchenverträgen enthalten sind (und damit zumindest in Richtung auf eine „Vollregelung“ des Verhältnisses zu den jeweils in Frage stehenden jüdischen Gemeinschaften35 gehen). Genannt seien hier als Beispiele nur die Vereinbarungen über die Gewährleistung jüdischer Glaubenfreiheit36 sowie des Selbstbestimmungsrechts (bzw. der Eigenständigkeit) der jüdischen Religionsgemeinschaften 37, über religiöse Feiertage38 und über die seelsorgerische Betreuung der Mitglieder der jüdischen Gemeinden in öffentlichen Einrichtungen39, ferner Bestimmungen über den jüdischen Religionsunterricht an staatlichen Schulen40, über jüdische Bildungs- und Sozialeinrichtungen 41, über Fragen des Denkmalschutzes42, über Rundfunksendezeiten für jüdische religiöse Sendungen43, über die Mitsprache jüdischer Organisationen bei der Um- und Neugestaltung von Gedenkstätten für die Opfer der NS-Verfolgung44 und die Repräsentanz von Vertretern der jüdischen Ge35 So der Ausdruck in der Begründung zum Vertrag des Landes Sachsen-Anhalt, LT-Dr. 1 / 3629, S. 16; vgl. im selben Sinne auch Vulpius (Fn. 4), S. 762. 36 Berlin: Art. 1; Bremen: Art. 1; Mecklenburg-Vorpommern: Art. 1 Abs. 1; Sachsen: Art. 1; Sachsen-Anhalt: Art. 1 Abs. 1; Schleswig-Holstein: Art. 1. 37 Mecklenburg-Vorpommern: Art. 1 Abs. 2; Sachsen-Anhalt: Art. 1 Abs. 2. 38 Berlin: Art. 2; Bremen: Art. 2; Mecklenburg-Vorpommern: Art. 2; Nordrhein-Westfalen: Art. 7; Saarland: Art. 3; Sachsen, Art. 3; Sachsen-Anhalt Art. 4; Schleswig-Holstein: Art. 2. 39 Berlin: Art. 3. 40 Bayern: Art. 2. 41 Berlin: Art. 4 (Ersatzschulen); Bremen: Art. 4 (Sozialeinrichtungen); Mecklenburg-Vorpommern: Art. 8 Abs. 1, 2 (Bildungs- und Sozialeinrichtungen); Nordrhein-Westfalen: Art. 8 (Einrichtungen der Erwachsenenbildung); Sachsen-Anhalt: Art. 8 (Schulen in jüdischer Trägerschaft). 42 Berlin: Art. 5; Mecklenburg-Vorpommern: Art. 7; Sachsen: Art. 5; Sachsen-Anhalt: Art. 7. 43 Nordrhein-Westfalen: Art. 9; Sachsen-Anhalt: Art. 12. 44 Mecklenburg-Vorpommern: Art. 6; Sachsen-Anhalt: Art. 2 Abs. 3.
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meinschaften in gesellschaftlichen Gremien45 sowie – gerade für die jüdischen Gemeinden besonders wichtig – über die Betreuung verwaister, die Unterhaltung, die Erweiterung und den Schutz bestehender und die Anlage neuer jüdischer Friedhöfe46. Darüber hinaus finden sich auch in ihnen – wie in den Kirchenverträgen und wie bereits im hessischen Vertrag mit der jüdischen Religionsgemeinschaft – Bestimmungen über regelmäßige Begegnungen zwischen Vertretern des Staates und der jüdischen Vertragspartner47, eine zum Teil gegenseitige48, zum Teil auf die staatliche Seite beschränkte49 Pflicht zur Beteiligung des Vertragspartners vor der Regelung von Angelegenheiten von gemeinsamem Interesse (etwa Gesetzgebungsvorhaben) und die übliche Freundschaftsklausel, d. h. die Zusage, Meinungsverschiedenheiten über die Vertragsauslegung auf freundschaftliche Weise zu beseitigen50; zum Teil werden alle oder einige dieser Zusagen auch in einer einzigen Vertragsbestimmung zusammengefasst51. Die umfassendsten Gewährleistungen enthält auch heute noch der Vertrag des Landes Sachsen-Anhalt von 1994, in dem das Land über die bereits erwähnten Garantien hinaus noch staatlichen Schutz für die Einrichtungen der jüdischen Gemeinschaft und Förderung des Erhalts historischer Stätten (Art. 3), besondere Rücksichtnahme auf Belange der Jüdischen Gemeinschaft bei der Anwendung enteignungsrechtlicher Vorschriften (Art. 5), Unterstützung bei der Durchführung jüdischer Kulturtage (Art. 11 Abs. 1), bei der Erforschung der jüdischen Geschichte und der Aufarbeitung des deutsch-jüdischen Erbes (Art. 11 Abs. 2) sowie Einsatz (auch) des Staates für die dauerhafte Erhaltung der (als einziger Synagogenbau ihrer Art in Deutschland erhaltenen) Synagoge in Gröbzig (Art. 10) zusagt. Darüber hinaus enthält dieser Vertrag als einziger – wiederum in Parallele zu den meisBremen: Art. 5. Bremen: Art. 3; Mecklenburg-Vorpommern: Art. 5; Nordrhein-Westfalen: Art. 5; Sachsen: Art. 2; Sachsen-Anhalt: Art. 6; Schleswig-Holstein: Art. 3. 47 Bremen: Art. 8 Abs. 1; Mecklenburg-Vorpommern: Art. 3 Abs. 1; Nordrhein-Westfalen: Art. 10; Rheinland-Pfalz: Art. 5 Satz 1; Saarland: Art. 4 Satz 2; Sachsen: Art. 6 Satz 1; Sachsen-Anhalt: Art. 2 Abs. 1; Schleswig-Holstein: Art. 7 Abs. 1; Thüringen: Art. 5 Satz 1. 48 Bayern: Art. 4 Satz 1; Bremen: Art. 8 Abs. 2; Rheinland-Pfalz: Art. 5 Satz 2; Saarland: Art. 4 Satz 3; Sachsen: Art. 6 Satz 2; Schleswig-Holstein, Art. 7 Abs. 2; Thüringen: Art. 5 Satz 2. 49 Mecklenburg-Vorpommern: Art. 3 Abs. 2; Sachsen-Anhalt: Art. 2 Abs. 2 50 Bayern: Art. 4; Bremen: Art. 10; Mecklenburg-Vorpommern: Art. 4; Nordrhein-Westfalen Art. 11 Abs. 1; Rheinland-Pfalz: Art. 6; Saarland: Art. 4 Satz 4; Sachsen: Art. 7; Sachsen-Anhalt: Art. 16; Schleswig-Holstein: Art. 10; Thüringen: Art. 6. 51 So Bayern: Art. 4 Satz 2, wo die Ausräumung von Meinungsverschiedenheiten auf freundschaftliche Weise anders als bei der traditionellen Freundschaftsklausel nicht auf die Auslegung und Anwendung des Vertrags beschränkt wird und Berlin: Art. 11 Abs. 1 Satz 1, 3 („Das Land Berlin und die Jüdische Gemeinde Berlin schließen diese Vereinbarung in dem Bewußtsein freundschaftlichen Zusammenwirkens im partnerschaftlichen Geiste. . . . Berlin und die Jüdische Gemeinde stimmen darin überein, daß die beiderseitigen Beziehungen – hierzu gehört auch die Ausführung des Staatsvertrages – in freundschaftlichem Geiste gestaltet werden.“). 45 46
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ten Staatskirchenverträgen – eine Paritätsklausel (Art. 15): Nach ihr werden die „Vertragsparteien“ dann, wenn „das Land in Verträgen mit anderen vergleichbaren Religionsgemeinschaften über diesen Vertrag hinausgehende Rechte und Leistungen gewähren“ sollte, „gemeinsam prüfen, ob wegen des Grundsatzes der Parität Änderungen dieses Vertrages notwendig sind“52. Abschließend sei noch erwähnt, dass einige der Verträge mit den jüdischen Religionsgemeinschaften anders als die Staatskirchenverträge ausdrückliche Kündigungsklauseln enthalten oder aber auf eine bestimmte Laufzeit (mit automatischer Verlängerung bei nicht fristgemäßer Kündigung) beschränkt sind53.
4. Im Besonderen: Die Regelungen der Länderverträge über staatliche Finanzleistungen Wie bereits dargestellt, bildeten den Ausgangspunkt staatsvertraglicher Regelungen der Länder mit der jüdischen Gemeinschaft reine Finanzierungsverträge (Niedersachsen), zum Teil (Hessen und später Thüringen) ergänzt um Bestimmungen über regelmäßige Beziehungen und um die Freundschaftsklausel54. Aber auch in den Ländern, in denen die Vertragspartner umfangreichere Regelungen (bis hin – wie in Sachsen-Anhalt – zu einer kodifikatorischen Erfassung des Verhältnisses von Staat und jüdischer Religionsgemeinschaft) getroffen haben, bleibt die in allen Verträgen enthaltene Zusage staatlicher Finanzzuwendungen die für die jüdischen Partner wichtigste Vertragsregelung55.
52 Deutlich einschränkend zu dieser Regelung die Vertragsbegründung (Fn. 35), S. 23, nach der die Anwendung des Art. 15 „immer voraussetzt, daß es sich bei den zum Vergleich herangezogenen Religionsgemeinschaften, an deren weitergehende Rechte der vorliegende Vertrag möglicherweise angeglichen werden soll, immer nur um wirklich vergleichbare handeln kann und damit auch nur vergleichbare Tatbestände für die vorgesehene gemeinsame Prüfung herangezogen werden können“. 53 Bayern: Art. 5; Rheinland-Pfalz: Art. 7; Saarland: Art. 5; Schleswig-Holstein: Art. 8 (durchweg erstmalige Kündigung nach fünf Jahren mit automatischer Verlängerung bei nicht fristgemäßer Kündigung um drei (Schleswig-Holstein) bzw. fünf Jahre (Bayern, RheinlandPfalz, Saarland); ferner Niedersachsen: § 3 (jederzeitige Kündigung mit einer Frist von zwei Jahren schriftlich zum Ende des Kalenderjahres). – Als erstes Land hat das Land SchleswigHolstein im Jahre 2003 von seiner vertraglich vereinbarten Kündigungsmöglichkeit Gebrauch gemacht (vgl. oben Fn. 34). 54 Vgl. oben unter III 3 und Vulpius (Fn. 4), S. 761. 55 So auch Vulpius (Fn. 4), S. 763 f. mit Überblick über die einschlägigen Regelungen der damals bereits bestehenden Staatsverträge; zu den Bestimmungen der Verträge der neuen Bundesländer über Staatsleistungen ferner Anke (Fn. 29), S. 305 ff.; A. v. Campenhausen (Fn. 2), S. 67 ff.
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a) Staatsleistung und sonstige Finanzzuwendungen der Länder Die einschlägigen Regelungen weisen fast durchweg ähnliche Strukturen auf: Zugesagt wird in der Regel eine der Höhe nach bestimmte jährliche Zuwendung, die unterschiedlich – als „Landesleistung“, „Staatsleistung“ oder „Gesamtzuschuß“ – bezeichnet wird56. Fast alle Verträge enthalten eine Zweckbestimmung, nach der die staatlichen Zuschüsse in der Regel (bei Unterschieden im Einzelnen) für die religiösen und kulturellen (gelegentlich – so die Regelung im Saarland – auch für die sozialen) Bedürfnisse der jüdischen Vertragspartner57 und meist auch für deren Verwaltung58 bestimmt sind; Schleswig-Holstein nennt zusätzlich die soziale Integration von jüdischen Emigranten aus der ehemaligen Sowjetunion (Art. 4 Abs. 1). Nach der Berliner Regelung werden die jährlichen Zuschüsse der Jüdischen Gemeinde allgemein „zum Ausgleich des nicht gedeckten Ausgabebedarfs ihrer Wirtschaftspläne“ gewährt (Art. 6 Abs. 1). Auf jede Zweckbindung verzichtet nur – „vielleicht etwas voreilig“59 – die Regelung in Sachsen-Anhalt (Art. 13 Abs. 1). Einige Verträge enthalten für die Staatsleistung ausdrückliche, meist an die Besoldung der Beamten gekoppelte) Gleitklauseln60, andere begnügen sich mit einem Vorbehalt späterer Verhandlungen über eine Vertragsanpassung61. Nahezu allen Verträgen gemeinsam sind Vorschriften, nach denen die Staatsleistung an die Stelle bisher gewährter freiwilliger Zuwendungen tritt62 und zusätz56 Bayern: Art. 1 Abs. 1 („Staatsleistung“); Berlin: Art. 6 Abs. 2 („Jährlicher Zuschuß“); Bremen: Art. 6 Abs. 1 („Landesleistung“); Hessen : Art. 1 Abs. 1 („Landesleistung“, Art. 2); Mecklenburg-Vorpommern: Art. 10 („Jährlicher Gesamtzuschuß“); Niedersachsen: § 1 Satz 1 („Landesleistung“, § 1 Abs. 2); Nordrhein-Westfalen: Art. 1 Abs. 1 („Landesleistung“, Art. 1 Abs. 3, 4); Rheinland-Pfalz: Art. 1 („Landesleistung“, Art. 2 Abs. 2); Saarland: Art. 1 Abs. 1 („Staatliche Leistungen“); Sachsen: Art. 4 („finanzielle Leistung“); Sachsen-Anhalt: Art. 13 Abs. 1, 2 („Staatsleistung“); Schleswig-Holstein, Art. 4 Abs. 1 („Landesleistung“); Thüringen: Art. 1 Abs. 1 („Landesleistung“, Art. 2). – A. v. Campenhausen (Fn. 2), S. 70, weist zu Recht darauf hin, dass der unterschiedlichen Bezeichnung der Leistungen keine rechtliche Bedeutung zukommt; sie „sind auf Vertrag beruhende Leistungen, auf die der jeweilige jüdische Partner einen Anspruch hat“. 57 So die in Fn. 56 zitierten Regelungen in den Ländern Bayern, Bremen, Hessen, Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, Saarland Sachsen, Schleswig-Holstein, Thüringen. 58 So ausdrücklich die Regelungen in Hessen, Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, Sachsen und Thüringen. 59 Vulpius (Fn. 4), S. 763. 60 Bayern: Art. 1 Abs. 3; Berlin: Art. 6 Abs. 3; Hessen: Art. 1 Abs. 3; Niedersachsen: § 1 Abs. 1 Satz 2; Nordrhein-Westfalen: Art. 1 Abs. 3; Saarland: Art. 1 Abs. 3; Sachsen-Anhalt: Art. 13 Abs. 3; Thüringen: Art. 1 Abs. 3; etwas abweichend Schleswig-Holstein: Art. 4 Abs. 1 Satz 2 (jährliche Erhöhung um einen im Vertrag geregelten Festbetrag). 61 Bremen: Art. 7; Sachsen: Schlußprot. zu Art. 4 Abs. 1; vgl. im Übrigen auch die oben erwähnten Kündigungsklauseln in den Ländern Rheinland-Pfalz, Saarland und SchleswigHolstein. 62 Bayern: Art. 1 Abs. 2 Satz 1; Hessen: Art. 1 Abs. 2; Mecklenburg-Vorpommern: Art. 10 Abs. 1 Satz 2; Nordrhein-Westfalen: Art. 1 Abs. 2; Schleswig-Holstein: Art. 4 Abs. 2; Thüringen: Art. 1 Abs. 2.
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liche Forderungen seitens der jüdischen Vertragspartner an den Staat nicht herangetragen werden63. Besonders entgegenkommend ist auch hier wieder die Regelung in Sachsen-Anhalt, nach der weitere freiwillige Leistungen des Landes durch die Staatsleistung „nicht ausgeschlossen“ sind (Satz 2 des Schlussprotokolls zu Art. 13). Ausdrücklich vorbehalten bleiben aufgrund besonderer gesetzlicher Grundlage gewährte Leistungen64, zu denen mehrere Verträge ausdrücklich auch die nach der erwähnten Bund-Länder-Vereinbarung65 geleisteten Zahlungen für verwaiste jüdische Friedhöfe rechnen66. In einigen Verträgen finden sich darüber hinaus Klarstellungen, nach denen den Jüdischen Gemeinden neben dem Staatszuschuss „Zuwendungen für Aktivitäten“ gewährt werden, „für die in gleicher Weise auch andere Maßnahmeträger Zuwendungen erhalten“67. Weitere Länder gewähren über die allgemeine Staatsleistung hinaus noch besondere Zuwendungen (so Berlin [Art. 10], Nordhein-Westfalen [Art. 6] und Schleswig-Holstein [Art. 5] für Baumaßnahmen an Kultus- und Gemeindegebäuden, Nordrhein-Westfalen für Sicherheitsmaßnahmen an jüdischen Einrichtungen [Schlussprotokoll zu Art. 6] und Schleswig Holstein für die Unterstützung NS-verfolgter Mitglieder [Art. 6 Abs. 2]). Besonders umfangreich ist aufgrund der örtlichen Umstände der Katalog solcher zusätzlicher Zuwendungen in Berlin: Zu nennen sind hier neben den bereits erwähnten Zuschüssen für Baumaßnahmen die staatlichen Zuschüsse zum Pensionsfonds der Jüdischen Gemeinschaft (Art. 7) sowie die Zuwendungen für die Jüdischen Kulturtage, für die Jüdische Volkshochschule und für die Stiftung „Neue Synagoge Berlin – Centrum Judaicum“ (Art. 9 Abs. 1, 2, 6); bei anderen Zuwendungen – etwa für den jüdischen Religionsunterricht (Art. 8) und für gemeindeeigene Friedhöfe (Art. 9 Abs. 3) – handelt es sich um Leistungen, die allgemein (also parallel auch anderen Trägern derartiger Maßnahmen oder Einrichtungen) gewährt werden.
63 Bayern: Art. 3 Satz 1; Bremen: Art. 6 Abs. 3 Unterabs. 2 Halbs. 1; Rheinland-Pfalz: Art. 4 Abs. 1 Satz 1; Saarland: Art. 2 Satz 1; Sachsen: Art. 4 Abs. 2 Halbs. 1; Thüringen: Art. 4 Satz 1. 64 Bayern: Art. 3 Satz 2; Bremen: Art. 6 Abs. 3 Unterabs. 2 Halbs. 2; Hessen: Art. 4; Rheinland-Pfalz: Art. 4 Satz 2; Saarland: Art. 2 Satz 2; Sachsen: Art. 4 Abs. 2 Halbs. 2; Thüringen: Art. 4 Satz 2. 65 Vgl. oben Fn. 21. 66 Bayern: Art. 3 Satz 3; Hessen: keine ausdrückliche Regelung im Vertragstext, aber Klarstellung in der Vertragsbegründung zu Art. 4 (abgedr. bei J. Listl, Bd. I [Fn. 19], S. 862 / 863); Rheinland-Pfalz: Art. 4 Satz 2; Saarland: Art. 2 Satz 3; Sachsen: Art. 2 Abs. 3; Thüringen: Art. 4 Satz 3; die Pflicht zur Zuschussgewährung für verwaiste jüdische Friedhöfe nach dieser Vereinbarung wird auch bestätigt in Mecklenburg-Vorpommern: Art. 5 Abs. 3; Nordrhein-Westfalen: Art. 4; Schleswig-Holstein: Art. 3 Abs. 2. 67 Berlin: Art. 9 Abs. 4; ähnlich – begrenzt auf die Zwecke der Jüdischen Gemeinde „als Wohlfahrtsverband“ – Schleswig-Holstein: Art. 6 Abs. 1.
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b) Adressaten und Verteilung der Staatsleistung Begünstigte der Staatsleistung sind durchweg die vertragsschließenden Landesverbände bzw. Synagogengemeinden68. Soweit Vertragspartner die Landesverbände sind, obliegt diesen die Verteilung der Mittel an die einzelnen israelitischen Kultusgemeinden. Die meisten Verträge bestimmen hierzu nur, dass diese Gemeinden „ungeachtet ihrer Zugehörigkeit zum Landesverband“ an der Staatsleistung zu beteiligen sind69; unmittelbare Ansprüche von Gemeinden gegenüber dem Staat werden in der Regel ausdrücklich ausgeschlossen70. Etwas konkreter ist die Formulierung im Vertrag des Landes Sachsen-Anhalt, nach der die Staatsleistung „ausschließlich für die jüdische Gemeinde in Sachsen-Anhalt“ bestimmt ist und „die Zuschüsse für neu entstehende Gemeinden mit umfasst“ (Schlussprotokoll zu Art. 13 Abs. 1). Im Gegensatz hierzu gibt die Regelung in Schleswig-Holstein dem Land für den Fall des Entstehens neuer jüdischer Gemeinden ein Sonderkündigungsrecht für den Vertrag (Art. 8 Abs. 2). Detailliertere Regelungen zur Mittelverteilung finden sich in Mecklenburg-Vorpommern (Art. 12 Abs. 3 Satz 1) und Rheinland-Pfalz (Art. 3 Satz 3): Beide Regelungen stimmen darin überein, dass dem Landesverband nicht angehörende bzw. neu entstehende Gemeinden an der finanziellen Förderung nur dann zu beteiligen sind, wenn sie die Anerkennung als Körperschaft des öffentlichen Rechts beanspruchen können bzw. (so ausdrücklich nur Mecklenburg-Vorpommern) als solche bereits anerkannt sind. Der rheinlandpfälzische Vertrag stellt darüber hinaus klar, dass solche Gemeinden nur dann gefördert werden, „wenn ihre Aufgaben und ihre Tätigkeit den jüdischen Religionsgesetzen entsprechen“; nach der Regelung in Mecklenburg-Vorpommern entscheidet, wenn „eine Einigung über die Höhe der finanziellen Leistungen“ an eine solche Gemeinde zwischen der Gemeinde und dem Landesverband „nicht erzielt werden kann . . . , der Zentralrat der Juden als Schiedsrichter, soweit es sich um Gemeinden handelt, die dem Zentralrat angeschlossen sind“ (Art. 12 Abs. 3 Satz 68 Landesverbände: Bayern: Art. 1 Abs. 2 Satz 1; Hessen: Art. 1 Abs. 1; Mecklenburg-Vorpommern: Art. 10 Abs. 1; Niedersachsen: § 1 Abs. 1 Satz 1; Rheinland-Pfalz: Art. 2 Abs. 1 Satz 1; Sachsen: Art. 4 Abs. 1; Sachsen-Anhalt: Art. 13 Abs. 1; Thüringen: Art. 1 Abs. 1 („Landesgemeinde“); Einzelgemeinden: Berlin: Art. 6 Abs. 1 (Jüdische Gemeinde Berlin); Bremen: Art. 6 Abs. 1 (Jüdische Gemeinde im Lande Bremen); Saarland: Art. 1 Abs. 1 (Synagogegemeinde Saar); Schleswig-Holstein: Art. 4 Abs. 1 (Jüdische Gemeinde Hamburg); Vertragspartner und Begünstigte der Landesleistung in Nordrhein-Westfalen sind sowohl die beiden Landesverbände Nordrhein und Westfalen als auch die Synagogen-Gemeinde Köln (Art. 2 Abs. 3). 69 Bayern: Art. 1 Abs. 2 Satz 2; Hessen: Art. 3 Abs. 1; Mecklenburg-Vorpommern: Art. 12 Abs. 3 Satz 1; Niedersachsen: § 1 Abs. 2 Satz 1; Nordrhein-Westfalen: Art. 3 Halbs. 1; Rheinland-Pfalz: Art. 3 Abs. 1 Satz 1; Sachsen-Anhalt: Schlussprotokoll zu Art. 13 Abs. 1 (Satz 1); Thüringen: Art. 3 Abs. 1; kein solcher Vorbehalt in Sachsen: Schlussprotokoll zu Art. 4 (Satz 2): Verteilung durch den Landesverband „nach den Regeln seiner Satzung“. 70 Bayern: Art. 1 Abs. 2 Satz 4; Hessen: Art. 3 Abs. 2; Nordrhein-Westfalen: Art. 3 Halbs. 2; Rheinland-Pfalz: Art. 3 Satz 2; Thüringen: Art. 3 Abs. 2; ähnlich Sachsen: Schlussprotokoll zu Art. 4 (Satz 2): „Ansprüche einzelner Gemeinden sind abgegolten“.
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2). Eine ausdrückliche Verpflichtung des Landesverbands zu Leistungen an einen konkret bereits im Vertrag benannten Dritten enthält nur die Regelung in Niedersachsen (§ 2 Abs. 2 Satz 3): Nach ihr verpflichtet sich der jüdische Vertragspartner, der Landesverband der jüdischen Gemeinden von Niedersachsen – Körperschaft des öffentlichen Rechts, dem (konfessionell anders – progressiv – ausgerichteten) Landesverband der Israelitischen Kultusgemeinden e.V. „vorbehaltlich einer einvernehmlichen anderen Aufteilung unter den beiden Verbänden“ einen im Vertrag konkret bestimmten Teilbetrag der Staatsleistung weiterzugeben.
c) Verwendungskontrolle Finanzielle Unregelmäßigkeiten bei der Verwaltung der Staatsmittel im Bereich des Landesverbands der Jüdischen Gemeinden in Sachsen-Anhalt und der ihm angeschlossenen Gemeinden71 haben in jüngster Zeit die Frage nach einer Verwendungskontrolle für die Staatsleistungen aktuell werden lassen. Die Staatsverträge stimmen insoweit ohne Ausnahme darin überein, dass eine Prüfung der Mittelverwendung durch die Landesrechnungshöfe nicht vorgesehen ist72. Eine Reihe von Verträgen enthält keinerlei Regelungen über eine Mittelkontrolle73; andere begnügen sich mit der Feststellung, dass die jüdischen Vertragspartner dem Land gegenüber die Verantwortung für eine zweckentsprechende Verwendung der Landesleistung tragen74. Sachsen-Anhalt verzichtet ausdrücklich auf eine Prüfung der Mittelverwendung durch staatliche Stellen, sofern die Jahresrechnung durch eine unabhängige Prüfungseinrichtung geprüft wird (Schlussprotokoll zu Art. 13 Abs. 4). Weiter gehen nur Berlin und Sachsen, nach deren Regelungen der Nachweis über die Mittelverwendung „durch eine von einem vereidigten Wirtschaftsprüfer geprüfte Rechnung“ nachzuweisen (Berlin, Art. 6 Abs. 4, Art. 7 Abs. 2, Art. 8 Abs. 3) bzw. die „zweckentsprechende Verwendung“ der Zahlungen „durch einen unabhängigen Wirtschaftsprüfer zu bestätigen“ ist (Sachsen, Schlussprotokoll zu Art. 4 [Satz 1]). Nach der Regelung im Saarland verpflichtet sich die Synagogengemeinde, „auf Anforderung über die Verwendung der Mittel Rechnung zu legen“ (Art. 1 Abs. 5).
71 Vgl. dazu etwa die Berichte in Magdeburger Volksstimme vom 22. März 2003 und Jüdische Allgemeine Wochenzeitung vom 10. April 2003. 72 Allgemein zur staatlichen Rechnungsprüfung im kirchlichen Bereich A. v. Campenhausen, Staatskirchenrecht, 3. Aufl. (1996), § 36 m. w. Nachw. 73 So die Verträge in Bayern, Hessen, Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen, Schleswig-Holstein und Thüringen. 74 Bremen: Art. 6 Abs. 2 Satz 2; Nordrhein-Westfalen: Art. 2 Abs. 3 Satz 2; RheinlandPfalz: Art. 2 Abs. 1 Satz 2.
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IV. Der Vertrag des Bundes mit dem Zentralrat der Juden Den Länderverträgen ist mit dem Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Zentralrat der Juden in Deutschland aus dem Jahre 200375 nunmehr erstmals eine vertragliche Regelung auf Bundesebene gefolgt. Der Vertrag wird eingeleitet mit der Vereinbarung einer „kontinuierliche(n) und partnerschaftliche(n) Zusammenarbeit“ der Bundesregierung und des Zentralrats „in den Bereichen, die die gemeinsamen Interessen berühren und in der Zuständigkeit der Bundesregierung liegen“ (Art. 1 Satz 1), und abgeschlossen mit der üblichen Freundschaftsklausel, nach der „die Vertragsschließenden . . . etwa in Zukunft auftauchende Meinungsverschiedenheiten über die Auslegung dieses Vertrags in freundschaftlicher Weise beseitigen werden“ (Art. 8). Wichtig ist in diesem Zusammenhang die ausdrückliche Feststellung des Vertrags, nach der der Zentralrat nach seinem Selbstverständnis für alle Richtungen innerhalb des Judentums offen ist (Art. 1 Satz 1); auf sie wird noch einmal zurückzukommen sein. Im übrigen beschränkt sich der Vertrag auf eine reine Finanzierungsregelung: Die Bundesregierung erklärt ihren Willen, „zur Erhaltung und Pflege des deutschjüdischen Kulturlebens, zum Aufbau einer jüdischen Gemeinschaft und zu den integrationspolitischen und sozialen Aufgaben“ beizutragen (Art. 1 Satz 2), und verpflichtet sich, den Zentralrat der Juden mit diesen Zielen („dazu“) „bei der Erfüllung seiner überregionalen Aufgaben sowie den Kosten seiner Verwaltung“ finanziell zu unterstützen (Art. 1 Satz 3). Zu den genannten Zwecken zahlt die Bundesrepublik Deutschland dem Zentralrat beginnend mit dem Haushaltsjahr 2003 eine jährliche Staatsleistung in Höhe von derzeit 3.000.000 A (Art. 2 Abs. 1). Regelungen über die Verteilung der Staatsleistungen innerhalb der jüdischen Gemeinschaft enthält der Vertrag nicht. Die Vertragsschließenden verpflichten sich, sich nach Ablauf von jeweils fünf Jahren über eine Anpassung der Leistung zu verständigen (Art. 2 Abs. 2 Satz 1); zwischen ihnen besteht Übereinstimmung darüber, dass „die Entwicklung der Zahl der vom Zentralrat repräsentierten Mitglieder ein wichtiges Kriterium bei der Bemessung der Leistungsanpassung darstellt“ (Art. 2 Abs. 2 Satz 2). Unabhängig davon enthält Art. 7 eine weitere Regelung zur Vertragsanpassung: Danach sind sich die „Vertragsschließenden bewusst, dass die Festlegung der finanziellen Leistungen dieses Vertrages auf der Grundlage der derzeitigen Verhältnisse erfolgt“ (Art. 7 Satz 1); bei „einer wesentlichen Veränderung der Verhältnisse“ werden sie sich „um eine angemessene Anpassung bemühen“ (Art. 7 Satz 2). Die Leistung wird 2003 in einer Summe, ab 2004 in jeweils vier Vierteljahresraten ausbezahlt (Art. 3). In Parallele zu den erwähnten Länderregelungen in Berlin und Sachsen enthält der Vertrag eine präzise Vereinbarung über die Prüfung der Verwendung der Staatsmittel: Danach weist der Zentralrat „die Verwendung der Zahlung jährlich durch eine von einem unabhängigen vereidigten Wirtschaftsprüfer geprüfte Rechnung nach“. Die „Rechnung und der Bericht des Wirtschaftsprüfers sind der Bundesregierung vor75
Vgl. oben bei und in Fn. 1.
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zulegen“ (Art. 4). In der Vertragsbegründung der Bundesregierung wird ausdrücklich darauf hingewiesen, dass „auch das Ergebnis der Prüfung der Jahresrechnungen und der Berichte der Wirtschaftsprüfer“ eine zur Vertragsanpassung nach Art. 7 des Vertrags berechtigende „wesentliche Veränderung der Verhältnisse“ begründen kann76. Art. 5 des Vertrags stellt klar, dass der Bund über die Staatsleistung hinaus auch künftig77 auf freiwilliger Basis die Hochschule für Jüdische Studien und das Zentralarchiv zur Erforschung der Geschichte der Juden in Deutschland durch jährlich festzulegende Zuwendungen im Sinne des Bundeshaushaltsrechts fördern wird (Art. 5 Abs. 1 – 4). Weitere finanzielle Leistungen des Bundes werden durch Art. 6 Abs. 1 ausgeschlossen. Auf „besonderer Grundlage mögliche oder bestehende Leistungen an die jüdische Gemeinde“ bleiben freilich unberührt (Art. 6 Abs. 2) ; der Vertrag nennt hier ausdrücklich die staatlichen Leistungen für die Integration jüdischer Zuwanderer aus den GUS-Staaten und für die Pflege verwaister jüdischer Friedhöfe nach der bereits erwähnten Bund-Länder-Vereinbarung von 195778.
V. Zulässigkeit der Staatsleistungen Die Staatsleistungen an die jüdischen Religionsgemeinschaften sind – wie Staatsleistungen an Religionsgemeinschaften schlechthin – verfassungsrechtlich nicht unproblematisch: Bedenken ergeben sich zum einen im Hinblick auf das verfassungsrechtliche Ablösungsgebot für solche Leistungen (Art. 140 GG i. V. mit Art. 138 Abs. 1 WRV), zum anderen – was speziell Staatsleistungen des Bundes betrifft – im Hinblick auf die bundesstaatliche Kompetenzordnung.
1. Verstoß gegen das Ablösungsgebot? Gemäß Art. 140 GG i. V. mit Art. 138 Abs. 1 WRV werden die „auf Gesetz, Vertrag oder besonderen Rechtstiteln beruhenden Staatsleistungen an die Religionsgesellschaften . . . durch die Landesgesetzgebung abgelöst“ (Art. 138 Abs. 1 Satz 1); die „Grundsätze hierfür stellt das Reich auf“ (Art. 138 Abs. 1 Satz 2). Das hier geregelte Ablösungsgebot ist lex specialis gegenüber der Garantie des Kirchenguts in Art. 138 Abs. 2 WRV: Anders als das dort uneingeschränkt gewährleistete übrige Kirchenvermögen sollen die in Art. 138 Abs. 1 geregelten Staatsleistungen „abgelöst“ werden79. Art. 138 Abs. 1 WRV war von Anfang an eine „zwiespältige Verfassungsentscheidung“: Auf der einen Seite enthält die Vorschrift das VerBegründung zum Vertrag (BT-Dr. 15 / 879), zu Art. 7 (S. 14). Zur bisherigen Förderung vgl. oben unter II 2. 78 Vgl. oben bei und in Fn. 21. 79 Isensee, Staatsleistungen an die Kirchen und Religionsgemeinschaften, in: J. Listl / D. Pirson, Bd. I (Fn. 20), S. 1009 ff. (1025). 76 77
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fassungsgebot an den Landesgesetzgeber zur Ablösung der Staatsleistungen; Ziel des Verfassungsgebers ist insofern eine Entflechtung der vermögensrechtlichen Beziehungen zwischen Staat und Kirche und damit auf Dauer eine „Institutsliquidation“ der traditionellen Staatsleistungen80. Auf der anderen Seite schützt die Vorschrift aber auch die Religionsgesellschaften gegen eine entschädigungslose Beseitigung der Staatsleistungen, weil nicht deren „Aufhebung“, sondern „Ablösung“ angeordnet wird; unter Ablösung ist – in der Literatur unbestritten – die „Aufhebung der Staatsleistungen gegen Entschädigung“ zu verstehen81. Damit wird von Verfassungs wegen ein ersatzloser Wegfall der Staatsleistungen ausgeschlossen und gleichzeitig gewährleistet, dass „bis zum Zeitpunkt der Ablösung der vorkonstitutionelle Besitzstand nicht angetastet wird“82. Einen weiteren Schutz der Religionsgesellschaften bewirkt die bereits zitierte Regelung in Art. 138 Abs. 1 Satz 2 WRV, nach der die Ablösung der Staatsleistungen durch die Länder nach „Grundsätzen“ zu erfolgen hat, die das Reich (heute: der Bund) aufzustellen hat. Solange eine Regelung dieser Grundsätze durch Reichs- (heute: Bundes-)Gesetz nicht erfolgt ist, ist die Gesetzgebungskompetenz der Länder suspendiert. Ein solches Reichs- (bzw. Bundes-)Gesetz ist niemals ergangen und aller Voraussicht nach auch für die Zukunft nicht zu erwarten83. Im Ergebnis also „schirmt der Reformimperativ“ – nach einer Formulierung von Isensee – „den Status quo ab. Der Veränderungsauftrag erweist sich als Vehikel einer Veränderungssperre. Der Ablösungsbefehl . . . schafft eine Bestandsgarantie auf Widerruf zugunsten der geschichtlich gewordenen Staatsleistungen“84. Welche Folgerungen sich aus alledem für die Neubegründung von Staatsleistungen an Religionsgemeinschaften ergeben, ist in der Literatur bis heute nicht abschließend geklärt. Unstreitig ist nur, dass das Ablösungsgebot nur Staatsleistungen im engeren Sinne, also ohne Gegenleistung erbrachte finanzielle Dauerverpflichtungen des Staates gegenüber Religionsgemeinschaften (in der Regel auf unbegrenzte Zeit) erfasst und damit weder einmalige (oder auch wiederholte), auf freiwilliger Entscheidung des Haushaltsgesetzgebers beruhende staatliche Leistungen noch die Teilnahme der Religionsgemeinschaften an allgemeinen Kultur- und Sozialsubventionen betrifft. Der Zulässigkeit (und damit auch der Neubegründung) So H.-J. Brauns, Staatsleistungen an die Kirchen und ihre Ablösung, 1970, S. 100 f. Vgl. etwa A. v. Campenhausen, in: v. Mangoldt / Klein / Starck, GG, Bd. III, 4. Aufl. 2001, Art. 138 WRV Rdnr. 15; D. Ehlers, in: M. Sachs (Hrsg.), GG, 2. Aufl. 1999, Art. 140 GG / Art. 138 WRV, Rdnr. 4; Th. Maunz, in: Maunz / Dürig, GG, Stand 2001, Art. 140 GG / Art. 138 WRV, Rdnr. 2; B. Jeand’Heur / St. Korioth, Grundzüge des Staatskirchenrechts, 2000, Rdnr. 350. 82 Isensee (Fn. 79), S. 1016. 83 Zum Ganzen Isensee (Fn. 79), S. 1039 ff.; H. Weber, Verfassungsunmittelbare Gewährleistung der Gerichtsgebührenfreiheit der Kirchen, JuS 1997, S. 113 ff. (116). 84 Isensee (Fn. 79), S. 1017; kritisch zu diesem Ergebnis H. A. Wolff, Ablösung der Staatsleistungen an die Kirche, ZRP 2003, 12 ff. (14), der sich für eine „Überprüfung dieser Normkonkretisierung“ einsetzt (wobei ihm der „interpretatorische Weg, mit dessen Hilfe der Wille der Verfassung umgesetzt wird“, zweitrangig erscheint). 80 81
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solcher staatlicher Leistungen steht Art. 138 Abs. 1 WRV deshalb nach allgemeiner Auffassung nicht entgegen85. Weitgehende Übereinstimmung besteht darüber hinaus darin, dass das Ablösungsgebot auch einvernehmliche Pauschalierungen der Staatsleistungen – insbesondere ihre Zusammenfassung in einem Gesamtzuschuss86 – nicht ausschließt, wie sie mit dem Ziel der Vereinfachung staatlichkirchlicher Finanzbeziehungen in vielen Staatskirchenverträgen der Nachkriegszeit, vor allem in den Staatskirchenverträgen der neuen Bundesländer vorgesehen sind87. Für die Zulässigkeit einer solchen „Bündelung und Bereinigung existierender Leistungspflichten“88 spricht nicht zuletzt das ihr zugrunde liegende Bemühen um „Entflechtung der vermögensrechtlichen und finanziellen Beziehungen“ von Staat und Kirche, das ganz in der Zielrichtung des Ablösungsgebots liegt89. Bei den Finanzzuwendungen, die den jüdischen Gemeinschaften in den geschilderten Staatsverträgen als „Gesamtzuschuss“, „Landesleistung“ oder „Staatsleistung“ zugesichert werden, handelt es sich weder um eine Pauschalierung diesen Gemeinschaften zustehender älterer Ansprüche noch um die Teilhabe an allgemein gewährten Kultur- oder Sozialsubventionen. Jedenfalls dann, wenn die Verträge – wie die meisten Länderverträge90 und der Vertrag des Bundes – keine Kündigungsklausel enthalten (und damit zeitlich unbegrenzte Dauerverpflichtungen des Staates begründen), kann auch von (wiederholten) freiwilligen Leistungen nicht die Rede sein91. Zumindest insoweit handelt es sich also um die Verpflichtung zu Staatsleistungen im engeren Sinne der oben gegebenen Definition. Ob eine solche Verpflichtung mit dem Ablösungsgebot in Art. 138 Abs. 1 WRV vereinbar ist, ist 85 So auch die Stimmen in der Literatur, die aus Art. 138 Abs. WRV eine „Institutsliquidation“ der traditionellen Staatsleistungen (und damit ein Verbot der Neubegründung solcher Staatsleistungen) ableiten; vgl. etwa Brauns (Fn. 80), S. 102 ff.; M. Morlok, in: H. Dreier (Hrsg.), GG, Bd. III, 2000, Art. 140 GG / Art. 138 WRV, Rdnr. 22; H. Weber, Die rechtliche Stellung der christlichen Kirchen im modernen demokratischen Staat, ZevKR 36 (1991), S. 253 ff. (262). 86 So etwa Anke (Fn. 29), S. 82 f.; Morlok (Fn. 85), Rdnr. 22; H. Weber (Fn. 83), S. 116 Fn. 37. 87 Überblick über die einschlägigen Regelungen in den Staatskirchenverträgen der neuen Bundesländer bei Anke (Fn. 29), S. 296 ff., und C. Fuchs, Das Staatskirchenrecht in den neuen Bundesländern, 1999, S. 158 ff. 88 Morlok (Fn. 85), Rdnr. 22. 89 So auch Anke (Fn. 29), S. 297, unter zusätzlichem Hinweis auf den verfassungsrechtlichen Trennungsgrundsatz; Bedenken dagegen bei Th. P. Wehdeking, Die Kirchengutsgarantien und die Bestimmungen über Leistungen der öffentlichen Hand an die Religionsgemeinschaften im Verfassungsrecht des Bundes und der Länder, 1971, S. 122 ff. mit umfassenden Nachweisen der älteren Literatur. 90 Zu Ausnahmen vgl. oben bei und in Fn. 53. 91 Dass die Zuwendungen nach manchen Vertragsbegründungen „auf einer freiwilligen Leistung des Staates“ beruhen (vgl. Anke [Fn. 29], S. 306 m. Fn. 456), kann hieran nichts ändern: Maßgeblich für den Begriff der Staatsleistung in Art. 138 Abs. 1 WRV ist die rechtliche Verpflichtung zu Dauerleistungen, nicht dagegen die Frage, ob diese Verpflichtung freiwillig oder nicht eingegangen worden ist.
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in der Literatur bis heute streitig geblieben: Während Art. 138 Abs. 1 WRV nach herrschender Meinung einer Neubegründung von Staatsleistungen nicht im Wege steht92, entnehmen ihm andere mit gutem Grund eine prinzipielle Absage der Verfassung an das Institut der traditionellen Staatsleistungen („Institutsliquidation“) und damit auch eine Sperrklausel gegenüber der Neubegründung solcher Leistungen93. Vom Standpunkt der herrschenden Meinung aus ist die Neubegründung einer Pflicht zu Staatsleistungen gegenüber der jüdischen Religionsgemeinschaft kein Problem94. Aber auch dann, wenn man – der Mindermeinung folgend – Art. 138 Abs. 1 WRV im Grundsatz als Sperrklausel gegenüber neuen Staatsleistungen versteht, darf gerade im hier fraglichen Zusammenhang der Umschlag des Veränderungsauftrags des Art. 138 Abs. 1 WRV in eine „faktische wie rechtliche Garantie“95 der älteren Staatsleistungen nicht übersehen werden. Folge dieses Funktionswandels ist die Absicherung des Instituts der Staatsleistungen auf unabsehbare Zeit, eine Absicherung freilich, die de facto nur dem begrenzten Kreis der bei Inkrafttreten der Weimarer Reichsverfassung durch solche Leistungen begünstigten Religionsgemeinschaften (insbesondere den großen Kirchen) zugute kommt und damit – wenn die Neubegründung solcher Staatsleistungen auch im Falle begründeter Ausnahmen ausgeschlossen wäre – zu einer einseitigen Privilegierung gerade dieser Religionsgemeinschaften führen müsste. Eine Auslegung des Art. 138 Abs. 1 WRV, nach der eine Neubegründung von Staatsleistungen an Religionsgemeinschaften ohne besondere Rechtfertigungsgründe ausscheidet, ist damit nicht ausgeschlossen. Paritätsgesichtspunkte machen aber die Frage unausweichlich, ob zugunsten anderer Religionsgemeinschaften jedenfalls bis zu der (wohl auf den St. Nimmerleinstag verschobenen) Ablösung der Staatsleistungen an die großen Kirchen zumindest dann Verpflichtungen zu ähnlichen Staatsleistungen begründet werden dürfen (oder gar begründet werden müssen), wenn solche Religionsgemeinschaften sich auf neu (also nach Inkrafttreten der Ablösungsregelung der Weimarer Reichs92 So etwa v. Campenhausen (Fn. 81), Rdnr. 19; Clement, Politische Dimension und Praxis der staatlichen Förderung der Kirche, Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche Bd. 28, 1994, S. 41 ff. (47); Ehlers (Fn. 81), Rdnr. 5; Isensee (Fn. 79), S. 1058, Jeand’Heur / Korioth, Rdnrn. 344, 347; H. de Wall, Die Fortwirkung der Säkularisation im heutigen Staatskirchenrecht, in: Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche Bd. 38, 2004, noch nicht erschienen (Ms. S. 18); mit deutlicheren Einschränkungen auch Anke (Fn. 29), S. 305 ff., jeweils m. Nachw. 93 So insbesondere Brauns (Fn. 80), S. 102 f.; M. Droege, Staatsleistungen an Religionsgemeinschaften im säkularen Kultur- und Sozialstaat, Diss. Bielefeld 2002, noch nicht veröff. (Ms. S. 228 ff.); Morlok (Fn. 85), Rdnr. 22; U. K. Preuß, in: AK-GG, Bd. III, 2001, Art. 140 Rdnr. 63; H. Weber (Fn. 84), S. 262; zurückhaltend auch M. Stolleis, Staatskirchenrecht, in: H. Meyer / M. Stolleis, (Hrsg.), Staats- und Verwaltungsrecht in Hessen, 2. Aufl. 1986, S. 458 ff. (475) (der Abschnitt ist in den späteren Auflagen des Buchs nicht mehr enthalten). 94 Ohne weiteres bejahend deshalb A. v. Campenhausen (Fn. 22), S. 9. 95 G. Robbers, Förderung der Kirchen durch den Staat, in: Listl / Pirson Bd. I (Fn. 79), S. 867 ff. (874).
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verfassung) eingetretene Sachverhalte berufen können, die denen entsprechen, die historisch die (nach Art. 138 Abs. 1 abzulösenden) Staatsleistungen gegenüber den Kirchen begründet haben. Solche Gesichtspunkte sind bei der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland die Zerstörung der jüdischen Einrichtungen und die Zerschlagung allen jüdischen Lebens einschließlich der jüdischen Gemeinden in der Zeit der Nazidiktatur und damit massive Schädigungen durch die staatliche Gewalt96, die in ihrer Intensität weit über die – den Großteil der Staatsleistungen an die großen Kirchen rechtfertigenden97 – Säkularisationen von Kirchengut in Reformation, Westfälischem Frieden, Josephinischen Reformen und Reichsdeputationshauptschluss hinausgegangen sind98. Als Ersatzleistung für diese Eingriffe99 erscheint die Übernahme auch zeitlich nicht begrenzter neuer Dauerverpflichtungen des Staates zu finanziellen Leistungen gegenüber der jüdischen Gemeinschaft zum Wiederaufbau und zur Aufrechterhaltung jüdischen Gemeindelebens in Deutschland gegenüber einem prinzipiell als Verbot der Begründung neuer Staatsleistungen verstandenen Art. 138 Abs. 1 WRV als verfassungsrechtlich zulässige (wenn nicht sogar gebotene) Ausnahme100. Folge eines solchen Verständnisses ist freilich, dass auch solche neu begründete Leistungen Staatsleistungen i. S. des Art. 138 Abs. 1 WRV bleiben (und deshalb im Falle einer endgültigen Ablösung aller Staatsleistungen mit diesen abzulösen sind101).
2. Bundeskompetenz für die Förderung von Religionsgemeinschaften? Anders als die Weimarer Reichsverfassung, die in Art. 10 Nr. 1 eine Kompetenz des Reichs zur Grundsatzgesetzgebung für die „Rechte und Pflichten der Religionsgesellschaften“ vorgesehen hatte, kennt das Grundgesetz keine Gesetzgebungskompetenz des Bundes für das Verhältnis von Staat und Religionsgemeinschaften. Clement (Fn. 92), S. 46 f.; Anke (Fn. 29), S. 306. Isensee (Fn. 89), S. 1010 ff.; speziell zur Säkularisation durch den Reichsdeputationshauptschluss de Wall (Fn. 90), S. 10 ff. 98 Zu den hier bestehenden Parallelen auch Isensee (Fn. 89), dessen Charakterisierung der Eingriffe als „Säkularisation diesseits des staatskirchenrechtlichen ,Normaljahres’ 1919“ allerdings eher verharmlosend erscheint. 99 Zum Charakter der Staatsleistungen als „staatliche Ersatzleistungen im weitesten Sinne“ s. Isensee (Fn. 89), S. 1010. 100 Im Ergebnis ebenso, aber in der Begründung abweichend Preuß (Fn. 93), nach dem die vertraglich vereinbarten Leistungen an jüdische Gemeinschaften als „Wiedergutmachung von Schäden, die durch das nationalsozialistische Regime angerichtet worden sind“, ihre Rechtfertigung in Art. 74 Abs. 1 Nr. 9 GG finden (und deswegen „nicht im Kontext des Art. 138 Abs. 1 WRV“ stehen); ähnlich W. Weiß, Gleichheit oder Privilegien? – Zur Stellung öffentlich-rechtlicher Religionsgemeinschaften, KritV 83 (2000), 104 ff. (135). 101 Die h. M. beschränkt das Ablösungsgebot demgegenüber auf altrechtliche (vorkonstitutionelle) Titel, so etwa Anke (Fn. 29), S. 308; Ehlers (Fn. 81); Isensee (Fn. 79), S. 1059. 96 97
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Sofern sich im Einzelfall nichts anderes aus Art. 73 ff. GG oder sonstigen speziellen Bestimmungen ergibt, steht die Gesetzgebungskompetenz für das Staatskirchenrecht (und damit die Vertragsschließungsgewalt gegenüber Religionsgemeinschaften) deshalb nach Art. 70 Abs. 1 GG ausschließlich den Ländern zu, die bei dieser Gesetzgebung freilich ihrerseits an die staatskirchenrechtlichen Vorgaben des Grundgesetzes gebunden sind102. Eine Bundesgesetzgebung zu Materien des Staatskirchenrechts (und damit auch ein Bundesvertrag mit Religionsgemeinschaften) kommt deshalb nur dann in Betracht, wenn die einschlägigen Regelungen (wie die Regelungen über die Militärseelsorge) Bestandteil (oder Annex103) einer bundesrechtlichen Gesetzgebungskompetenz (hier der ausschließlichen Gesetzgebungskompetenz des Bundes für die Verteidigung, Art. 73 Nr. 1 GG) sind, oder aber im konkreten Fall ausnahmsweise eine (ungeschriebene) Bundeskompetenz kraft Natur der Sache begründet werden kann. Auf eine solche ungeschriebene Kompetenz beruft sich die Regierungsbegründung für den Vertrag des Bundes mit dem Zentralrat der Juden: Nach ihr besteht „unbeschadet der grundsätzlichen Zuständigkeit der Länder für das Staatskirchenrecht (Art. 30 GG) . . . unter dem Gesichtspunkt der gesamtstaatlichen Repräsentation eine Bundeszuständigkeit aus der Natur der Sache zur Förderung zentraler Einrichtungen nichtstaatlicher Organisationen, die für das Bundesgebiet als Ganzes von Bedeutung sind und ihrer Art nach nicht durch ein Land wirksam gefördert werden können, zumal hier einer gesamtstaatlichen Verantwortung Rechnung getragen wird“104. Diese Ausführungen nehmen offensichtlich Bezug auf das Urteil des BVerfG zum früheren Jugendwohlfahrtsgesetz aus dem Jahre 1967, in dem das Gericht die in § 25 Abs. 1 JWG vorgesehene finanzielle Förderung von Bestrebungen auf dem Gebiet der Jugendhilfe durch den Bund auch bei Fehlen einer ausdrücklich geregelten Verwaltungskompetenz kraft Natur der Sache für zulässig gehalten hat, soweit es sich um Bestrebungen handelt, die „der Aufgabe nach eindeutig überregionalen Charakter haben“; als Beispiele hierfür nennt das Gericht zentrale Einrichtungen, „deren Wirkungsbereich sich auf das Bundesgebiet als Ganzes erstreckt“ sowie gesamtdeutsche und internationale Aufgaben105. Der dem Urteil aus dem Jahre 1967 zugrunde liegende Sachverhalt weicht von der hier fraglichen Fallgestaltung freilich dadurch ab, dass in § 25 Abs. 1 JWG im Gegensatz zu Art. 2 des Vertrags mit dem Zentralrat der Juden keine rechtliche Verpflichtung, sondern nur eine Ermächtigung des Bundes zur Gewährung von Fördergeldern geregelt war; die Frage nach einer Kompetenz kraft Natur der Sache stellte sich damit 1967 auf der Ebene der Verwaltungs- (nicht der Gesetzgebungs-)Kompetenz und wird vom 102 Vgl. zum Ganzen zusammenfassend etwa v. Campenhausen (Fn. 81), Art. 140 GG Rdnrn. 41, 42; P. Badura, Staatskirchenrecht als Gegenstand des Verfassungsrechts, in: Listl / Pirson (Fn. 20), Bd. I, S. 211 ff. (249 f.). 103 Zur Begründung solcher „Kompetenzen kraft Annexes“ vgl. R. Stettner, in: H. Dreier (Hrsg.), GG, Bd. II, 1998, Art. 70 Rdnrn. 64 ff. m. Nachw. 104 BT-Dr. 15 / 879, S. 13 unter „I. Allgemeines“. 105 BVerfGE 22, 180 (217) = NJW 1967, 1795 (1799); Hervorhebung im Original.
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BVerfG folgerichtig auf der Basis der Art. 30, 83 ff. (und nicht des hier einschlägigen Art. 70 Abs. 1) GG entschieden. Im Ergebnis bestehen jedoch kaum Zweifel, dass die Feststellungen des Gerichts zu Verwaltungskompetenzen des Bundes kraft Natur der Sache parallel auf den Bereich der Gesetzgebungskompetenzen übertragen werden können106 und dass sie – ihre Richtigkeit unterstellt – wohl auch eine Förderkompetenz des Bundes zugunsten des – eindeutig als überregionale Einrichtung einzustufenden – Zentralrats der Juden kraft Natur der Sache begründen. Dem Urteil des BVerfG ist allerdings zu Recht vorgehalten worden, dass es bei Bejahung der Kompetenz kraft Natur der Sache – die nach ständiger Rechtsprechung des BVerfG die Feststellung voraussetzt, dass die gefundene Lösung „begriffsnotwendig“, d. h. „unter Ausschluß anderer Möglichkeiten sachgerechter Lösungen zwingend“ gefordert ist107 – die Möglichkeit einer Kooperation der Länder als mögliche Alternative für eine Bundeszuständigkeit überhaupt nicht erwogen hat108. Nicht zuletzt die Tatsache, dass die zitierte Argumentation der Bundesregierung zur Bundeszuständigkeit für den hier fraglichen Vertrag mit dem Zentralrat der Juden auf Verträge mit Zentraleinrichtungen anderer Religionsgemeinschaften (etwa der EKD oder der Katholischen Bischofskonferenz) ohne weiteres übertragbar erscheint (und damit die Gefahr in sich trägt, die gesamte grundgesetzliche Kompetenzordnung für das Staatskirchenrecht mit ihrer eindeutigen Präponderanz zugunsten der Länder zu unterlaufen), begründet Zweifel, ob mit dem Bundesvertrag wirklich ein zukunftsträchtiger (und verfassungskonformer) Weg eingeschlagen worden ist oder ob derartige Vereinbarungen nicht zumindest in Zukunft besser gemeinsamer Initiative der Länder überlassen bleiben sollten109.
VI. Verteilung der Staatsleistungen Ein Problem, das in der Diskussion um den Staatsvertrag des Bundes mit dem Zentralrat der Juden in Deutschland eine besondere Rolle gespielt hat, soll abschließend wenigstens kurz angesprochen werden: die Frage der Beteiligung aller Richtungen des Judentums an der vom Bund zugesicherten Staatsleistung. Faktischer Hintergrund ist die in den letzten Jahren erfolgte Renaissance des progressiven Judentums in Deutschland: Wie das Christentum ist auch das Judentum kein monolithischer Block, sondern zerfällt in Strömungen unterschiedliSo in der Sache auch Stettner (Fn. 103), Rdnrn. 57 f. BVerfGE 22, 180 (217) = NJW 1967, 1795 (1799) unter Berufung auf BVerfGE 11, 89 (99); vgl. im selben Sinne noch BVerfGE 12, 205 (251) = NJW 1961, 547 (550), und zum Ganzen die Darstellung bei Stettner, aa0. 108 Stettner (Fn. 103), Rdnr. 58, unter Hinweis auf die abweichende Handhabung in BVerfGE 12, 205 (252) = NJW 1961, 547 (550). 109 Ähnliche Bedenken gegenüber Förderungen der Berliner Kultur durch den Bund bei E. Uppenbrink, Finanzverfassungsrechtliche Fragen der Stiftung Preußische Schlösser und Gärten Berlin-Brandenburg, LKV 2004, 109 ff. 106 107
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cher konfessioneller Ausrichtung. Dabei können im Wesentlichen drei unterschiedliche Glaubensrichtungen unterschieden werden: die Orthodoxie in unterschiedlichen Schattierungen, das konservative Judentum und das reformierte oder liberale Judentum (Oberbegriff für reformierte, liberale, progressive und so genannte rekonstruktivistische Strömungen). Der strikt dezentrale Aufbau des Judentums von den weithin autonomen Synagogengemeinden her hat zur Folge, dass diese Strömungen anders als im Christentum nicht in klar strukturierten Konfessionsgemeinschaften, sondern nur in sehr viel loseren überregionalen Dachverbänden organisiert sind110. In Deutschland, in dem die weltweite Strömung des progressiven Judentums entstanden ist und in dem sie vor dem Zweiten Weltkrieg eine dominante Stellung im Judentum erlangt hatte, hat die personelle Zusammensetzung der Einheitsgemeinden nach dem Krieg dazu geführt, dass diese sich ganz überwiegend zu einheitlich orthodox bestimmten Gemeinden entwickelt haben111. Der Zentralrat der Juden in Deutschland, nach seiner Satzung die „Spitzenorganisation der Jüdischen Gemeinden in Deutschland“, ist von dieser Entwicklung nicht unberührt geblieben und hat bis in die neueste Zeit hinein im Wesentlichen als orthodox geführte Organisation agiert. Erst in neuerer Zeit sind auch in Deutschland wieder progressive Gemeinden entstanden112. Sie sind derzeit ausnahmslos in der Form bürgerlichrechtlicher Vereine organisiert und seit 1997 in der „Union progressiver Juden in Deutschland, Österreich und der Schweiz“ (heute: „Union progressiver Juden in Deutschland“) zusammengeschlossen; auf Landesebene existieren daneben der bereits erwähnte „Landesverband Israelitischer Kultusgemeinden in Niedersachsen e. V.“ und der „Landesverband der Jüdischen Gemeinden von Schleswig-Holstein“113. Das für die Zukunft wohl wichtigste und am meisten ambitionierte Projekt der Union ist das oben bereits erwähnte Abraham-Geiger-Kolleg in Potsdam114. Dem Zentralrat der Juden in Deutschland gehören gegenwärtig weder die „Union progressiver Juden in Deutschland“ noch ihr zugehörige Einzelgemeinden an. Gespräche hinter verschlossenen Türen über eine engere Zusammenarbeit und andere informelle Kontakte zwischen Zentralrat und Union haben bis heute noch keine greifbaren Ergebnisse erbracht. Versuche der „Union progressiver Juden“, zumindest als ausdrücklich Mitbegünstigte der dem Zentralrat zugesagten Staatsleistung in den Staatsvertrag mit dem Bund einbezogen zu werden, sind ohne Erfolg geblieben115. Wie bereits erwähnt, erklärt der Zentralrat aber in § 1 Satz 1 des Vertrags, dass er „nach seinem 110 Vgl. zum Ganzen die Darstellung bei H.-J. Loth, in: Klöcker / Tworuschka (Fn. 22), Abschnitt III (Judentum), unter III 5.1, S. 1 ff. 111 H.-J. Loth (Fn. 109), unter 6.3, S. 3 f. 112 Vgl. dazu ausführlich die Darstellung bei H.-P. Katlewski (Fn. 22), unter 7.2, S. 8 ff., passim. 113 Vgl. oben III 4 b am Ende. 114 Vgl. zu Niedersachsen oben bei und in Fn. 22, zu Schleswig-Holstein oben in Fn. 34. 115 v. Campenhausen (Fn. 22), S. 6.
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Selbstverständnis für alle Richtungen des Judentums offen ist“ (Hervorhebung nicht im Original). Mit dieser Erklärung ist nach der Vertragsbegründung der Bundesregierung die „Erwartung verbunden, dass die vereinbarten Leistungen der gesamten jüdischen Gemeinschaft zugute kommen“116; dass zu dieser Gemeinschaft jedenfalls nach Auffassung des staatlichen Vertragspartners auch die progressiven Strömungen des Judentums und die ihr zuzurechnenden Organisationen zählen, ergibt sich mit aller Klarheit aus dem Grußwort von Bundesinnenminister Schily auf der Feier des 75jährigen Bestehens der „World Union for Progressive Judaism“ am 10. Juli 2003 in Berlin, in dem die zitierte Erwartung der Bundesregierung vor einem progressiven Auditorium ausdrücklich noch einmal bestätigt worden ist117. Wie Axel v. Campenhausen in seinem Gutachten für die „Union progressiver Juden in Deutschland“ zutreffend dargelegt hat, ist die Zusage einer exklusiven (d. h. zusätzliche Förderungen anderer jüdischer Gemeinden und Verbände ausschließenden) Staatsleistung an den Zentralrat, wie sie in dem Vertrag vorgesehen ist, auch nur bei einer solchen Vertragsauslegung mit dem Grundgesetz vereinbar118. Paralleles gilt – was hier nicht mehr im Einzelnen dargelegt werden kann – für die Regelungen der Länderverträge, die den jeweiligen Vertragspartnern in gleicher Weise in dem genannten Sinne exklusive Staatsleistungen zusichern. Folgerichtig sehen die einschlägigen Vertragsbestimmungen denn auch regelmäßig vor, dass die staatlichen Leistungen allen jüdischen Gemeinden bzw. der „gesamten jüdischen Gemeinschaft“ ohne Rücksicht auf ihre Zugehörigkeit zu dem jeweiligen Vertragspartner zugute kommen sollen119. Wie das BVerwG in einem Verfahren, in dem es um die Beteiligung einer progressiven Gemeinde an der Staatsleistung in Sachsen-Anhalt geht, zutreffend festgestellt hat, ist als „jüdische Gemeinde“ i. S. dieser Vertragsregelungen jede jüdische Vereinigung anzusehen, „die sich selbst als jüdische Gemeinde versteht und unbeschadet der jeweiligen Art ihres Glaubensverständnisses innerhalb des Judentums Aufnahme und Anerkennung als Jüdische Gemeinde gefunden hat“120; ob das der Fall ist oder nicht, unterliegt nach der zutreffenden Auffassung des BVerwG uneingeschränkt der Nachprüfung durch die staatlichen Gerichte121. 116 BT-Dr. 15 / 879, S. 13 (Begründung zu Art. 1; Hervorhebung nicht im Original). Diese Erwartung ist im Gesetzgebungsverfahren durch den Parlamentarischen Staatssekretär im Bundesministerium des Innern Fritz Rudolf Körper noch einmal ausdrücklich hervorgehoben worden (Plenarprotokoll 15 / 49, S. 4118 D). 117 Pressemitteilung des Bundesministeriums des Innern Nr. 131 vom 10. Juli 2003; vgl. dazu auch die Presseberichte in FAZ vom 11. Juli und Tagesspiegel vom 12. Juli 2003. 118 v. Campenhausen (Fn. 22), S. 5 ff., 9 ff. 119 Vgl. dazu die Darstellung oben bei Fn. 69 sowie v. Campenhausen (Fn. 22), S. 5. 120 BVerwGE 116, 86 (91) = NVwZ 2002, 987 (988); zustimmend A. v. Campenhausen (Fn. 2), S. 721 ff. 121 BVerwGE 116, 86 (88 ff.) = NVwZ 2002, 987 (987 f.); auch insoweit zustimmend A. v. Campenhausen (Fn. 2), S. 72 f.
II. Wirtschaft
Zulässigkeit und Grenzen der Ausfuhrförderung Von Dirk Ehlers Wie seine Veröffentlichungen belegen, gehört das Wirtschaftsrecht neben dem Steuerrecht zu den bevorzugten Interessengebieten Peter Selmers. Ein besonders wichtiges Gebiet des Wirtschaftsrechts stellt das im akademischen Unterricht leider viel zu selten behandelte Außenwirtschaftsrecht dar. Die Bundesrepublik Deutschland ist ein klassisches Exportland und wie kaum ein anderes Land mit der Weltwirtschaft verflochten1. Die wirtschaftliche Kraft des Landes und damit zugleich das Wohlergehen der Bevölkerung beruhen ganz wesentlich auf den kontinuierlich zu verzeichnenden Exportüberschüssen2. Der Export von Gütern und Dienstleistungen macht in Deutschland rund ein Drittel des deutschen Bruttoinlandprodukts aus3. Ein Drittel der Arbeitsplätze sollen vom Export abhängen4. Auch in Zeiten, in denen ein Wirtschaftswachstum ausgeblieben oder die wirtschaftliche Entwicklung gar rückläufig gewesen ist, war es bisher der Exportwirtschaft zu verdanken, dass Schlimmeres verhütet werden konnte. Da in einer Zeit der Globalisierung und Europäisierung die grenzüberschreitenden wirtschaftlichen Aktivitäten weiterhin zunehmen, kommt den außenwirtschaftsrechtlichen Vorgaben besondere Bedeutung zu. Im Mittelpunkt des Außenwirtschaftsrechts stehen die völkerrechtlichen, gemeinschaftsrechtlichen, grundgesetzlichen und einfachgesetzlichen Gewährleistungen der Freiheit des Wirtschaftsverkehrs5 und die der Freiheit zugeordneten Beschränkungsmöglichkeiten. Weniger Aufmerksamkeit pflegt der Ausfuhrförderung 1 Deutschland ist nach den USA und vor Japan der zweitgrößte Exporteur der Welt. Nach WTO-Angaben betrug der Wert der Ausfuhren im Jahre 2002 612 Mrd. US-$ (USA: 694 Mrd. US-$; Japan: 416 Mrd. US-$). 2 1997: 59,548 Mrd. A; 1998: 64,919 Mrd. A; 1999: 65,211 Mrd. A; 2000: 59,138 Mrd. A; 2001: 87,060 Mrd. A. Quelle: Statistisches Bundesamt, Statistisches Jahrbuch 2002 für die Bundesrepublik Deutschland, S. 264. 3 Vgl. Böhmer, in: Ehlers / Wolffgang / Pünder (Hrsg.), Rechtsfragen der Ausfuhrförderung, 2003, S. 141. 4 Kruse, in: Ehlers / Wolffgang / Pünder (Fn. 3), S. 85. 5 Vgl. allgemein dazu (insbes. zu den Grundrechtsgarantien) Epping, Die Außenwirtschaftsrechtsfreiheit, 1998, S. 10 ff., 560 ff., 596 ff.; zu Art. 1 VO (EWG) Nr. 2603 / 69 Ehlers / Pünder, in: GH II, Krenzler, E 15 Rn. 24 ff.; zu § 1 Abs. 1 S. 1 AWG Simonsen, in: Wolffgang / Simonsen (Hrsg.), AWG, 2002, § 1, Rn. 1 ff.
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geschenkt zu werden. Dass es sich hierbei indessen nicht um ein Gebiet handelt, das vernachlässigt werden kann, zeigt schon der Blick auf einige Zahlen. So ermächtigt § 10 des Gesetzes über die Feststellung des Bundeshaushaltsplans für das Haushaltsjahr 20026 das Bundesministerium der Finanzen zur Übernahme von Bürgschaften, Garantien und sonstigen Gewährleistungen im Zusammenhang mit förderungswürdigen Ausfuhren in Höhe von 117,6 Mrd. A. Für die Gewährleistung anderer außenwirtschaftsrechtlicher Förderungsmaßnahmen wie Kredittransaktionen oder Kapitalausfuhren ist ein zusätzlicher Ermächtigungsrahmen von 40 Mrd. A vorgesehen. Hinzu kommt schließlich ein Betrag von 1,74 Mrd. A, der zur Absicherung von Krediten zur Mitfinanzierung entwicklungspolitisch förderungswürdiger Vorhaben der bilateralen finanziellen Zusammenarbeit eingesetzt werden kann. Insgesamt ergibt sich somit ein Betrag von nahezu 160 Mrd. A. Neben dem Staat tritt auch die Europäische Gemeinschaft – auf dem Gebiet des Agrarrechts – als bedeutender Ausfuhrförderer in Erscheinung, mögen die dafür eingesetzten Mittel auch von 10,2 Mrd. A im Jahre 1992 auf 3,4 Mrd. A im Jahre 2001 zurückgegangen sein7. Die aufgewendeten Beträge machen deutlich, dass die Wirtschaftstreibenden ohne die Fördermaßnahmen des Staates und der Europäischen Gemeinschaft anders dastünden, als dies heute der Fall ist. Nicht wenige Wirtschaftsunternehmen sind auf eine Ausfuhrförderung angewiesen und müssten bei Ausbleiben einer solchen Förderung ihre Tätigkeit einstellen. Dies lässt es angezeigt erscheinen, dem Ausfuhrförderungsrecht stärkere Aufmerksamkeit zu widmen. Begrifflich sollen hier unter Ausfuhrförderung alle Leistungen aus öffentlichen Mitteln verstanden werden, die wenigstens zum Teil ohne marktmäßige Gegenleistung gewährt werden und der Förderung der Außenwirtschaft dienen. Von dieser Definition werden nicht nur begünstigende Maßnahmen erfasst, die an bestimmte Unternehmen adressiert sind, sondern auch Aktivitäten allgemeiner Art, welche für die Ausfuhr ein günstiges Umfeld schaffen (wie etwa die Einrichtung von Außenhandelskammern und von Wirtschaftsabteilungen in den Botschaften). Die Ausfuhr kann den Transfer von Waren, Dienstleistungen oder Kapital betreffen. Hier wird nur der Warenverkehr in Betracht gezogen. Es steht grundsätzlich im Belieben der Staaten bzw. supranationalen Gemeinschaften, Vergünstigungen zu gewähren. Ausfuhrförderungen haben aber in der Regel den Charakter von Subventionen (bzw. Beihilfen). Als solche sind sie geeignet, den freien Handel zwischen den Staaten zu beeinträchtigen und den Wettbewerb zu verfälschen. Dies ist nicht wünschenswert und kann jedenfalls nicht uneingeschränkt hingenommen werden. Daneben können weitere Gesichtspunkte (z. B. ökologischer, sozialer oder entwicklungspolitischer Art) der Gewährung von Subventionen entgegenstehen. Daher setzt insbesondere das internationale Recht in Gestalt des Völkerrechts der Ausfuhrförderung deutliche Grenzen. Weitere Normierungen treffen das Europäische Gemeinschaftsrecht und das nationale Recht. 6 7
BGBl. 2001 I, S. 3964. Die Zahlen beruhen auf Angaben des Europäischen Rechnungshofes.
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Es ist im Rahmen eines kurzen Beitrags nicht möglich, den damit aufgeworfenen zahlreichen Rechtsfragen im Detail nachzugehen. Soweit sich die – ohnehin spärliche – Literatur mit ihnen beschäftigt, wird der Blick zumeist nur auf den jeweiligen Rechtskreis, nicht aber auf das Zusammenspiel der unterschiedlichen Rechtsebenen geworfen. Im Folgenden soll daher versucht werden, einen Überblick über das für Ausfuhrförderungen geltende Regelungsgeflecht und die grundsätzliche Stoßrichtung der Regelungen zu geben. Ergänzend können einige aktuelle Rechtsfragen zur Sprache gebracht werden.
I. Vorgaben des Völkerrechts Im Zentrum der einschlägigen völkerrechtlichen Regelungen steht das Welthandelsrecht (1.). Daneben kann aber auch das sonstige Völkerrecht Bedeutung erlangen (2.). 1. Grenzziehungen des WTO-Rechts Das Allgemeine Zoll- und Handelsabkommen 1994 (GATT 1994) der Welthandelsorganisation spricht das Thema der Ausfuhrsubvention an mehreren Stellen an. So erlaubt Art. VI:3 GATT 1994 den Mitgliedern der Welthandelsorganisation unter bestimmten Voraussetzungen, gegen die durch Subventionen hervorgerufenen Wettbewerbsverzerrungen mit Ausgleichszöllen vorzugehen. Allgemeine Regelungen trifft Art. XVI GATT 1994. Danach erkennen die Vertragsparteien an, dass die Gewährung einer Subvention bei der Ausfuhr einer Ware durch eine Vertragspartei für andere einführende oder ausführende Vertragsparteien nachteilige Auswirkungen haben, unbillige Störungen ihrer normalen Handelsinteressen hervorrufen und die Erreichung der Ziele des Abkommens behindern kann. Daran knüpfen z. B. gewisse Notifizierungspflichten und das Verbot einer Gewährung von Subventionen an, die den Verkauf der Waren zwecks Ausfuhr zu einem Preis ermöglicht, der unter dem vergleichbaren Inlandspreis liegt. Schließlich ist eine Ausfuhrförderung durch Staatshandelsunternehmen zwar nicht unzulässig, jedoch sind diese Unternehmen an die Vorgaben des Art. XVII GATT 1994 und damit an das Diskriminierungsverbot, und das heißt zugleich an den Meistbegünstigungsgrundsatz8 gebunden. Vor allem aber werden die welthandelsrechtlichen Ausfuhrförderungsregelungen durch zwei mulilaterale – und damit für alle WTOMitglieder verbindliche9 – Übereinkommen geprägt: das Übereinkommen über Subventionen und Ausgleichsmaßnahmen (Agreement on Subsidies and Countervailing Measures, SCM) und das Übereinkommen über die Landwirtschaft (Agreement on Agriculture, AoA). 8 9
Vgl. Tietje, in: Ehlers / Wolffgang / Pünder (Fn. 3), S. 14 f. Art. II:2 WTO-Ü.
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a) Übereinkommen über Subvention und Ausgleichsmaßnahmen Das Subventionsübereinkommen enthält eine Definition der Subvention (Art. 1) und unterscheidet zwischen verbotenen (Art. 3) und anfechtbaren (Art. 5) Subventionen, während die ursprünglich vorgesehene Kategorie der nicht anfechtbaren Subventionen (Art. 8) mangels einer Verlängerung der Geltungsdauer der Bestimmungen (Art. 31) entfallen ist. Für die Entwicklungsländer gelten Sonderregeln (Art. 27). Zu den verbotenen Subventionen gehören Subventionsmaßnahmen, die von einer „Ausfuhrleistung“ abhängig sind (Art. 3.1. lit. a). Anhang I des Übereinkommens enthält eine umfassende, aber nicht abschließende Auflistung der als Ausfuhrsubvention geltenden Sachverhalte. Miterfasst werden z. B. Steuervergünstigungen für Exportgeschäfte (Art. 1.1. lit. a 1.ii, lit. e-h Anhang I). Als unzulässige Exportsubventionen sind auch die US-amerikanischen Steuervergünstigungen von sog. „Foreign Sales Corporations“ angesehen worden10. Besondere Bedeutung kommt (nicht nur in Deutschland) der Behandlung der Ausfuhrkreditbürgschaften und –versicherungen sowie der Ausfuhrkredite zu. Die genannten Bürgschaften und Versicherungen sind nur dann verboten, wenn sie zu Prämiensätzen gewährt werden, die nicht ausreichen, um langfristig die Betriebskosten und –verluste der Programme zu decken (lit. j Anhang I)11. Ein unzulässiger Ausfuhrkredit setzt voraus, dass der Kreditempfänger auf dem Gebiet der Ausfuhrkreditbedingungen (verglichen mit der allgemeinen Situation auf dem Kreditmarkt) „einen wesentlichen Vorteil“ erlangt (lit. k Anhang I). Zudem gilt jeder Exportkredit, der in Übereinstimmung mit dem OECD-Übereinkommen über Leitlinien für öffentlich unterstützte Exportkredite vergeben wird, als zugelassene Subvention12. Kommt eine Vertragsverletzung in Betracht, können die betroffenen Mitgliedstaaten nicht nur vor den Gremien der Welthandelsorganisation Abhilfe verlangen (Art. 4.7.), sondern auch Ausgleichsmaßnahmen (in Gestalt der Erhebung von Ausgleichszöllen) ergreifen (Art. 10 ff.), um die schädigenden Auswirkungen der subventionierten Importe zu beschränken13. In dem Streit über die Steuervergünstigungen der Foreign Sales Corporations wurde entschieden, dass die Europäische Gemeinschaft berechtigt ist, Handelszugeständnisse gegenüber den USA im Wert von 4,043 Mrd. US-$ auszusetzen14. 10 Vgl. United States Tax Treatment for „Foreign Sales Corporations“, WT / DS108 / AB / R; DS108 / AB / RW. 11 Ob diese Voraussetzungen in Deutschland gegeben sind, ist sehr zweifelhaft. Die von der HERMES Kreditversicherungs-AG für den Bund durchgeführten Ausfuhrgewährleistungen haben in den Jahren 1982 bis 1998 zu einem negativen Ergebnis für den Bundeshaushalt geführt. Erst seit 1998 werden positive finanzielle Jahresergebnisse erreicht. 12 Der OECD-Konsensus ist z. B. in dem Sammelwerk von Scheibe / Moltrecht / Kuhn, Garantien & Bürgschaften, 2003, Teil 16, abgedruckt und kommentiert worden. 13 Allerdings darf nach Fn. 34 des SCM den Auswirkungen einer bestimmten Subvention auf dem Binnenmarkt des Einfuhrmitgliedes nicht gleichzeitig mit beiden Maßnahmen begegnet werden, sondern entweder nur mit einer Abhilfemaßnahme oder der Erhebung eines Ausgleichzolls.
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Noch nicht endgültig geklärt ist, welche Abhilfemaßnahmen nach einem Verstoß gegen das Subventionsübereinkommen zu treffen sind. Nach Art. 4.7. SCM (vgl. auch die davon abweichenden Art. 7.8. und 9.4.) muss die nach Art. 3 SCM verbotene Subvention unverzüglich „zurückgenommen werden“ (withdraw the subsidy). Im Australischen Autolederfall hat ein Panel entschieden, dass darunter nicht eine zukunftsbezogene Abhilfemaßnahme, sondern die vollständige Rückforderung des Geleisteten zu verstehen sei15. Dies ist auf einer Sitzung des Dispute Settlement Body16 sowie in der Literatur17 auf erhebliche Kritik gestoßen, jedoch mit dem Wortlaut der einschlägigen Bestimmung und vor allem mit Sinn und Zweck vereinbar (weil ansonsten Verstöße gegen das Verbot des Art. 3, die bereits vor der Entscheidung der Streitbeilegungsgremien begangen wurden, folgenlos wären). Ferner stellt die Vorschrift des Art. 4.7. gem. Art. 1 Abs. 2 Dispute Settlement Understanding (DSU) i. V. m. Anhang 2 eine lex specialis gegenüber Art. 19 Abs. 1 der DSU dar, der nach herrschender Auffassung nur das zukünftige WTO-konforme Verhalten der Parteien verlangt. Allerdings kann einer Rückforderung u. U. der Zeitablauf (Verjährung, Rechtsmissbrauch, Estoppel-Doktrin) oder die Entreicherung des Empfängers entgegenstehen.
b) Landwirtschaftsübereinkommen Als besonders sensibler Bereich gilt der Handel mit Agrarprodukten, weil der Protektionismus in diesem Bereich so stark wie wohl in keinem anderen Wirtschaftszweig verbreitet ist. Nach langem Ringen ist im Rahmen der Uruguay-Runde ein Übereinkommen über die Landwirtschaft (AoA) verabschiedet worden, das nicht nur den Marktzugang (Art. 4 ff.) und den Abbau der internen Stützungsmaßnahmen (Art. 6 ff.) regelt, sondern im Teil V (Art. 8 ff.) allgemeine Verpflichtungen bezüglich des Ausfuhrwettbewerbs enthält, die durch die Bezugnahme auf die in Listen abgegebenen Versprechungen konkretisiert worden sind (vgl. Art. 3). Anders als für gewerbliche und industrielle Waren gelten für die landwirtschaftlichen Grunderzeugnisse bis zum Jahre 2004 (Art. 1 lit. f) Sonderregelungen (Art. 13 lit. c ii). Ausfuhrsubventionen sind danach nicht grundsätzlich verboten. Im Wesentlichen haben sich die WTO-Mitglieder nur darauf verständigt, die landwirtschaftlichen Exportsubventionen zu verringern sowie auf die Neueinführung von Subventionen und Kompensationsleistungen zu verzichten. Die EntwicklungsUnited States Tax Treatment For „Foreign Sales Corporations“, WT / DS108 / ARB. Australia – Subsidies Provided to Producers and Exporters of Automotive Leather, WT / DS126 / RW. 16 WT / DSB / M75. 17 Vgl. z. B. Pitschas, in: Prieß / Berrisch (Hrsg.), WTO-Handbuch, 2003, B.I.12., Rn. 104 ff.; zust. dagegen Tietje (Fn. 8), S. 37 f.; vgl. auch Hermann, in: Weiß / Hermann, Welthandelsrecht, 2003, § 14, Rn. 699; ausf. demnächst Hübschen, Rückforderung WTOrechtswidriger Subventionen, 2004. 14 15
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länder und am wenigsten entwickelten Länder genießen eine besondere und differenzierte Behandlung (Art. 9 Abs. 4, 16). Im Einzelnen gilt Folgendes: Nach der Definition des Art. 1 lit. e sind unter Ausfuhrsubventionen im landwirtschaftlichen Bereich Subventionen zu verstehen, die von der Ausfuhrleistung abhängig sind. Hiervon ist auszugehen, wenn die Bewilligung der Subvention an die Ausfuhr landwirtschaftlicher Erzeugnisse (oder Erzeugnisgruppen) geknüpft ist, um die Ausfuhr zu fördern. Das Landwirtschaftsübereinkommen unterscheidet die Ausfuhrsubventionen von den internen Stützungsmaßnahmen. Da interne Stützungsmaßnahmen einen „spill over“-Effekt haben und den Export begünstigen können, hat der Appellate Body im kanadischen Milchfall die in die sog. „amber box“ fallenden internen Maßnahmen auch an den für die Ausfuhrsubventionen geltenden Regelungen gemessen18. Dies ist aus wirtschaftlicher Sicht sinnvoll, wegen der ausdrücklichen Unterscheidung von internen und externen Maßnahmen im AoA rechtlich aber nicht zweifelsfrei19. Nach Art. 8 verpflichtet sich jedes Mitglied, keine Ausfuhrsubvention zu gewähren, die nicht mit dem Landwirtschaftsübereinkommen und mit den in der Liste dieses Mitglieds aufgeführten Verpflichtungen in Einklang stehen. Gem. Art. 9 unterliegen die in Abs. 1 aufgeführten, ein landwirtschaftliches Erzeugnis oder eine Erzeugnisgruppe betreffenden Subventionen (die sich überschneiden können20) einer Senkungsverpflichtung, wobei sich diese auf die Haushaltsausgaben oder Ausfuhrmengen beziehen kann (Abs. 2 lit. a der Vorschrift). Die Senkungsverpflichtungen sind im Durchführungszeitraum degressiv auszugestalten (Art. 9 Abs. 2 lit. b iv). Der geltende Durchführungszeitraum endete 2001 (Art. 1 lit.f). Doch lässt sich den Art. 13 und 20 eine Stillhalteverpflichtung entnehmen (d. h. die Verpflichtung, das erreichte Niveau der Ausfuhrsubvention nicht ansteigen zu lassen)21. Wird die im gesamten Durchführungszeitraum geltende Senkungsverpflichtung nicht unterlaufen, darf die jährliche Verpflichtung nach Maßgabe des Art. 9 Abs. 2 lit. b überschritten werden. Für die nicht von Art. 9 Abs. 1 erfassten Ausfuhrsubventionen gilt ein Umgehungsverbot (Art. 10 Abs. 1) bzw. eine Bindung an die „international vereinbarte(n) Disziplinen“ (Art. 10 Abs. 2). Die Beweislast für die Einhaltung der Senkungsverpflichtung obliegt dem WTO-Mitglied (Art. 10 Abs. 3). Bestimmte Ausfuhrsubventionen sind per se verboten (Art. 3 Abs. 3). Ausfuhrsubventionen für verarbeitete landwirtschaftliche Erzeugnisse dürfen nicht höher sein, als die zulässigen Subventionen für die landwirtschaftlichen Erzeugnisse selbst (Art. 11). Um die Einhaltung der Verpflichtungen überprüfen zu können, besteht eine Notifikationspflicht (Art. 18 Abs. 2). Da die allgemeinen Regeln des GATT 1994 und des Subventionsübereinkommens 18 WT / DS 103 / AB / RW, WT / DS 113 / AB / RW, Rn. 90 f.; zur Abgrenzung von „green box“, „blue box“ und „amber box“ Maßnahmen vgl. Stoll / Schorkopf, WTO-Welthandelsordnung und Welthandelsrecht, 2002, Rn. 395 ff. 19 Krit. Pitschas, in: Ehlers / Wolffgang / Pünder (Fn. 3), S. 172. 20 WT / DS 103 / R, WT / DS 113 / R, Rn. 7.35. 21 Vgl. Pitschas (Fn. 19), S. 166; Prieß / Pitschas, in: Prieß / Berrisch (Fn. 17), B I.2., Rn. 120 ff.
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grundsätzlich auch im Agrarbereich anwendbar bleiben (Art. 21 Abs. 1), können u. U. selbst die mit dem Landwirtschaftsübereinkommen übereinstimmenden Ausfuhrförderungen mit Ausgleichszöllen belegt oder vor den WTO-Streitbeilegungsgremien angegriffen werden. Deshalb verpflichtet die „peace clause“ des Art. 13 lit. c die Mitglieder dazu, angemessene Zurückhaltung zu üben bzw. von der Einleitung eines Streitbeilegungsverfahrens abzusehen22. Diese Verpflichtung dürfte auch nach Ablauf der Dauer der „peace clause“ fortbestehen, um die den WTOMitgliedern in Art. 20 aufgegebene Fortsetzung des Reformprozesses nicht zu stören. Die 4. WTO-Ministerkonferenz in Doha hat sich für eine wesentliche Senkung der Ausfuhrsubventionen im landwirtschaftlichen Bereich ausgesprochen, die letztlich in einem vollständigen Abbau dieser Subventionen münden soll. Die Verhandlungen sollen bis zum 1. Januar 2005 abgeschlossen sein. Ob es wirklich zu substanziellen Veränderungen kommen wird, ist derzeit nicht abzusehen23. In jedem Fall wird die Behandlung der Agrarsubventionen ein Gradmesser für die Beantwortung der Frage sein, wie es die WTO mit der weiteren Liberalisierung des Welthandels hält. 2. Grenzziehungen des sonstigen Völkerrechts Das WTO-Recht soll die internationalen Wirtschaftsbeziehungen ordnen. Die Regelung des Handelsverkehrs wirkt sich jedoch nicht nur auf das Welthandelsrecht, sondern auch auf andere Rechtsbereiche aus. Im Mittelpunkt der derzeitigen Globalisierungsdebatte steht deshalb die Frage, wie sich das Welthandelsrecht mit der internationalen Gesundheitsschutz-, Umweltschutz-, Arbeitsschutz-, Menschenrechts-, Entwicklungs- und Friedenspolitik vereinbaren lässt. Den damit aufgeworfenen vielfältigen Fragen24 kann und braucht in diesem Zusammenhang indessen nicht weiter nachgegangen zu werden, weil es hier nicht um die Zulässigkeit von Handelsbeschränkungen zum Schutz der genannten Rechtsgüter, sondern um die Zulässigkeit von Ausfuhrförderungen geht. Jedenfalls insoweit kollidiert das WTO-Recht aber nicht mit den sonstigen völkerrechtlichen Regimen. Steht es Ausfuhrsubventionen nicht entgegen, heißt dies nicht im Umkehrschluss, dass die Subventionen generell erlaubt sind oder gar gewährt werden müssen. Vielmehr beurteilt sich die Zulässigkeit von Ausfuhrmaßnahmen nach der Gesamtheit der die Staaten verpflichtenden Rechtssätze. Dementsprechend müssen die WTO-Mitglieder bei der Ausfuhrförderung neben dem WTO-Recht auch die sonstigen völkerrechtlichen Bindungen beachten. Ist es den Staaten aufgrund eines Embargos z. B. 22 Vgl. dazu Mögele in: Dauses (Hrsg.), Handbuch des EU-Wirtschaftsrecht, Bd. 1, Agrarrecht, G, Rn. 49, 52. 23 Näher zu den bisher unterbreiteten Vorschlägen Pitschas (Fn. 19), S. 192 ff.; Prieß / Pitschas (Fn. 21), Rn. 124 ff. 24 Vgl. statt vieler aus neuerer Zeit Neumann, Die Koordination des WTO-Rechts mit anderen völkerrechtlichen Ordnungen, Konflikte des materiellen Rechts und Konkurrenzen der Streitbeilegung, 2001.
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untersagt, Waffen zu exportieren, dürfen solche Exporte „erst recht“ nicht gefördert werden.
II. Vorgaben des Europäischen Gemeinschaftsrechts 1. Übernahme des Völker- insbesondere des WTO-Rechts Schließt die Europäische Gemeinschaft (im Rahmen ihrer Zuständigkeit) völkerrechtliche Abkommen, sind diese gem. Art. 300 Abs. 7 EGV für die Organe der Gemeinschaft und für die Mitgliedstaaten verbindlich. Dies bedeutet, dass die völkerrechtlichen Abkommen integrierende Bestandteile der EG-Rechtsordnung werden25. Normhierarchisch sind sie zwischen dem EG-Primärrecht und dem EGSekundärrecht anzusiedeln. Somit bilden sie Maßstabsnormen für das EG-Sekundärrecht und nehmen zugleich am Vorrang des Europäischen Gemeinschaftsrechts gegenüber dem nationalen Recht teil. Hieraus ist gefolgert worden, dass die Abkommen i. d. S. unmittelbar anwendbar sind, so dass sich die Einzelnen und die Mitgliedstaaten vor den (nationalen oder gemeinschaftsrechtlichen) Gerichten – sowie den Behörden – hierauf berufen können26. Im Hinblick auf das GATT- bzw. WTO-Recht hat der Europäische Gerichtshof aber einen anderen Weg eingeschlagen27. Obwohl die Europäischen Gemeinschaften Mitglieder der WTO sind (Art. XI:1 WTO-Ü) und die hier in Rede stehenden GATT-Verpflichtungen gem. Art. 133 EGV in die ausschließliche Zuständigkeit der EG fallen, also anders als das GATS- und TRIPS-Übereinkommen nicht zu den sog. gemischten Abkommen zählen28, soll das WTO-Recht weder Prüfungsmaßstab für das EG-Sekundärrecht noch unmittelbar anwendbar sein. Begründet wird diese Ansicht damit, dass das WTO-Recht eine unmittelbare Anwendung nicht vorsehe und auch in den Rechtsordnungen der wichtigsten Handelsstaaten nicht zugrunde gelegt werde (so dass es an einer Reziprozität fehlen würde). Die gefestigte Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes ist politisch nachvollziehbar, in Anbetracht der Regeln des Art. 300 Abs. 7 EGV rechtlich aber nur schwer zu begründen29. Entfalten die Subventionsbestimmungen des GATT und der dem GATT zugeordneten Übereinkommen auch keine unmittelbaren Wirkungen, heißt dies umgekehrt nicht, dass sie überhaupt keine Wirkungen zeitigen. So ist das Gemeinschaftsrecht (und das nationale Recht) nach der Rechtssprechung des Europäischen Gerichtshofs WTO-konform auszulegen30. Auch ist eine Berufung auf das WTOVgl. EuGH, Slg. 1974, 460, Rn. 5 (Haegeman). Grundlegend EuGH, Slg. 1982, 3662, Rn. 11 u. 13 (Kupferberg). 27 Grundlegend EuGH, Slg. 1999, I-8425 (Portugal / Rat). 28 Grundlegend EuGH, Slg. 1994, I-5276, Rn. 35 ff. (Gutachten 1 / 94). 29 Näher zum Ganzen (statt vieler) Royla, EuR 2001, 495 ff.; Schmalenbach, in: Callies / Ruffert (Hrsg.), Kommentar zu EU-Vertrag und EG-Vertrag, 2. Aufl. 2002, Art. 300, Rn. 51 ff.; Prieß / Berrisch, in: dies. (Fn. 17), C.II.1, Rn. 20 ff. 25 26
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Recht zulässig, wenn das EG-Sekundärrecht hierauf verweist31 oder das WTORecht umsetzen soll32. Darüber hinaus bleibt die Europäische Gemeinschaft völkerrechtlich verpflichtet, die sie bindenden Entscheidungen des Dispute Settlement Body innerhalb der Gemeinschaft umzusetzen, soweit dies mit dem EG-Primärrecht vereinbar ist. Verlangen die Streitbeilegungsgremien von der Europäischen Gemeinschaft oder einem Mitgliedstaat der Gemeinschaft auf der Grundlage des Art. 4.7. SCM die Einstellung und Rückabwicklung eines Ausfuhrförderungsprogramms, ergibt sich aus Art. 133 Abs. 1 EGV die Kompetenz der Europäischen Gemeinschaft, die notwendigen Maßnahmen zu treffen. Handelt es sich um Gemeinschaftsbeihilfen, so ergibt sich die Gemeinschaftskompetenz hingegen vorrangig aus dem jeweiligen Primär- und Sekundärrecht – ggf. in Verbindung mit den Vorschriften des allgemeinen europäischen Verwaltungsrechts –, welches die Vergabe der jeweiligen Subventionen regelt. Eine Rückforderung bereits geleisteter Subventionen ist entgegen der WTO-Verpflichtung allerdings dann nicht möglich, wenn ihr der allgemeine Rechtsgrundsatz des Vertrauensschutzes entgegensteht33.
2. Förderung der Ausfuhr in andere Mitgliedsstaaten Gem. Art. 3 lit. g EGV zielt das Europäische Gemeinschaftsrecht auf ein System ab, das den Wettbewerb innerhalb des Binnenmarkts (Art. 14 EGV) vor Verfälschungen schützt. Daher sind Beihilfen gem. Art. 87 f. EGV grundsätzlich mit dem Gemeinsamen Markt unvereinbar. Staatliche Ausfuhrförderungen, welche bestimmte Unternehmen oder Produktionszweige begünstigen, fallen regelmäßig unter den Beihilfebegriff des Art. 87 Abs. 1 EGV. Gem. Art. 1 lit. b VO (EG) Nr. 96 / 2001 gelten für die „Beihilfen für exportbezogene Tätigkeiten“ auch nicht die De-minimis-Regelungen des Art. 2 Abs. 2, wonach Beihilfen von nicht mehr als 100.000,00 A, bezogen auf einen Zeitraum von drei Jahren, von der Anwendung des Art. 87 Abs. 1 EGV ausgenommen sind. Prinzipiell sind Exportbeihilfen auch nicht mit dem Gemeinsamen Markt vereinbar (Art. 87 II EGV) oder genehmigungsfähig (Art. 87 Abs. 3 EGV)34. Etwas anderes hat die EG-Kommission für Zuschüsse der französischen Regierung zur Förderung der Ausfuhr von Büchern in kleinen Kontingenten angenommen, mit der sichergestellt werden sollte, dass auch selten nachgefragte Werke im nichtfranzösischsprachigen Ausland erhältlich sind35. 30 Vgl. z. B. EuGH, Slg. 1998, I-3603, Rn. 28 (Hermès International); EuGH, Slg. 2000, I-11307, Rn. 47 (Christian Dior). 31 EuGH, Slg. 1989, 1781, Rn. 22 (Fediol III). 32 EuGH, Slg. 1991, I.2069, Rn. 31 (Nakajima). 33 Näher dazu demn. Hübschen (Fn. 17). 34 Vgl. EG-Kommission, 7. Bericht über die Entwicklung der Wettbewerbspolitik, 1977, Tz. 242. 35 Die Entscheidungen der Kommission sind zwar vom EuG aufgehoben worden (Slg. 1995, II-2501; Slg. 2002, II, 1179). Doch hat sich das EuG nicht mit der Frage der Genehmi-
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3. Förderung der Ausfuhr in Staaten, mit denen ein besonderes Abkommen geschlossen wurde Die Europäische Gemeinschaft hat zahlreiche internationale Abkommen mit dem Ziel abgeschlossen, die innergemeinschaftlichen Wettbewerbsregeln und damit auch die Beihilfebestimmungen auf die Handelsbeziehungen mit Drittstaaten zu erstrecken. Zu nennen sind das EWR-Abkommen, die sog. Europaabkommen36, die Euro-mediterranen-Abkommen sowie das Assoziationsabkommen mit der Türkei37. Diese enthalten Bestimmungen, die dem Art. 87 EGV entsprechen (z. B. Art. 81 EWR-AbK), und gehören somit zum gem. Art. 300 Abs. 7 EGV sowohl für die Gemeinschaft als auch für die Mitgliedsstaaten verbindlichen acquis communautaire. 4. Förderung der Ausfuhr in Drittstaaten a) Schranken des Außenhandelsrechts aa) Bedeutung der Art. 132, 133 EGV Nach Art. 132 EGV sind die Systeme der von den Mitgliedstaaten für die Ausfuhr nach dritten Ländern gewährten Beihilfen schrittweise zu vereinheitlichen, soweit dies erforderlich ist, um eine Verfälschung des Wettbewerbs zwischen den Unternehmen der Gemeinschaft zu vermeiden. Gleichzeit unterfällt die Ausfuhrförderung aber auch der gemeinsamen Handelspolitik (Ausfuhrpolitik) i. S. d. Art. 133 EGV, so dass der Rat Maßnahmen nach dieser Vorschrift treffen kann. Tatsächlich sind bisher nahezu alle einschlägigen Regelungen auf der Grundlage dieser Bestimmung erlassen wurden. Ein Grund hierfür mag sein, dass die Vorschrift des Art. 133 EGV nicht nur den Erlass von Richtlinien, sondern auch von Verordnungen und Entscheidungen erlaubt. Insgesamt gesehen ist aber auch von Art. 133 EGV in diesem Zusammenhang nur zögerlich Gebrauch gemacht worden. Inhaltlich hat sich die Gemeinschaft zumeist darauf beschränkt, die völkerrechtlichen Abkommen in ihr gemeinschaftliches Recht umzusetzen (II.1.). bb) Übernahme des OECD-Arrangements Da die Ausfuhrförderung zu einem erheblichen Teil über die Vergabe von Exportkrediten erfolgt, hat die OECD erstmals im Jahre 1978 ein „Arrangement on gungsfähigkeit auseinandergesetzt. Vgl. Müller-Ibold, in: Ehlers / Wolffgang / Pünder (Fn. 3), S. 48. 36 Die Europaabkommen wurden zumeist mit den osteuropäischen Staaten abgeschlossen. Diese Abkommen werden hinfällig, wenn die Staaten der Europäischen Gemeinschaft beitreten. 37 Zu den Fundstellen vgl. Müller-Ibold (Fn. 35), S. 50 ff.
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Guidelines for Officially Supported Export Credits“ (Übereinkommen über Leitlinien für öffentlich unterstützte Exportkredite) verabschiedet, das später reformiert und um Sonderregeln für Flugzeuge, Kernkraftwerke, konventionelle Kraftwerke und Schiffe (die sog. Sektorenabkommen) ergänzt worden ist38. Das Übereinkommen enthält u. a. Bestimmungen über die Mindestanzahlungen, maximale Laufzeiten, Mindestzinssätze, Finanzierungen der sog. Lokalen Kosten sowie Verfahrensregeln (insbesondere Notifikationen). Teilnehmer an dem Übereinkommen, das sich selbst als „Gentlemen’s Agreement“ bezeichnet39, sind auch die Europäische Gemeinschaft und Mitgliedsstaaten der Europäischen Gemeinschaft40. Auch wenn es sich bei dem Übereinkommen um keinen Rechtsakt der OECD handelt, sind die Vereinbarungen durch Entscheidung des Rates41 übernommen und damit für die Mitgliedsstaaten für verbindlich erklärt worden. Ähnlich wie die WTO-Regelungen sollen jedoch auch die OECD-Bestimmungen nicht unmittelbar anwendbar sein, so dass sich ein Konkurrent vor den Gerichten nicht auf sie berufen kann42. Wie ausgeführt wurde (I.1.a)), gelten Exportkredite auf der Basis des OECD-Übereinkommens nicht als Ausfuhrkredite i. S. d. WTO-Übereinkommens über Subventionen und Ausgleichsmaßnahmen. Die Wirksamkeit des Übereinkommens wird unterschiedlich eingeschätzt43. Auch auf der OECD-Ebene findet eine Diskussion darüber statt, ob neben wirtschaftlichen weitere Kriterien bei der Vergabe staatlicher Exportkredite Berücksichtigung finden sollen. So sind z. B. politische Empfehlungen über Çommon Approaches on Environment and Officially Supported Export Credits“, eine Konvention zur Bekämpfung der Bestechung ausländischer Amtsträger im internationalen Geschäftsverkehr sowie ein „Statement of Principles“ (in dem sich die Mitgliedstaaten der OECD verpflichten, für Exporte in hochverschuldete arme Länder keine Exportkredite gewähren, mit denen der Export unproduktiver Güter oder Projekte gefördert wird) verabschiedet worden, auf die sich die Teilnehmer teilweise bereits verständigt haben. cc) Autonome Maßnahmen Auf der Grundlage des Art. 133 EGV hat die Europäische Gemeinschaft eine Reihe von Regelungen getroffen, bei denen es sich allerdings zumeist nicht um inhaltlich neuartige Normierungen, sondern um die Umsetzung völkerrechtlicher 38 Die jetzt gültige Regelung des Übereinkommens trat zum 1. 4. 1999 in Kraft. Zu den Fundstellen (auch der Sektorenabkommen) vgl. Scheibe / Moltrecht / Kuhn (Fn. 12). 39 Vgl. die Einleitung des Übereinkommens. 40 Vgl. Kap. I.1.a). 41 Vgl. z. B. Nr. 97 / 530 / EG v. 24. 6. 1997, ABl Nr. L. 216 / 77; Nr. 2001 / 76 / EG v. 22. 12. 2000, ABl Nr. L. 32 / 1. 42 Vgl. Müller-Ibold, in: Lenz (Hrsg.), EGV, 2. Aufl. 1999, Art. 132, Rn. 8; Müller-Huschke, in: Schwarze (Hrsg.), EGV, 2000, Art. 132, Rn. 13. 43 Kritisch z. B. Reuter, Außenwirtschafts- und Exportkontrollrecht Deutschland / Europäische Union, 1995, Rn. 250.; a.A. Müller-Huschke (Fn. 42).
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Abkommen handelt. Zu erwähnen ist namentlich die Richtlinie 98 / 29 / EG des Rates vom 07. Mai 199844 zur Harmonisierung der wichtigsten Bestimmungen über die Exportkreditversicherung zur Deckung mittel- und langfristiger Geschäfte. Exportkreditversicherungen sind im Außenhandel deshalb besonders wichtig, weil geschätzt wird, dass ein Viertel bis zwei Fünftel der Gemeinschaftsexporte von der Bereitstellung einer Exportkreditversicherung abhängig sind45.
b) Schranken des Beihilferechts Ausfuhrförderungen können nicht nur den Handel mit Drittstaaten, sondern ebenso zwischen den Mitgliedstaaten beeinträchtigen. So kann eine Exportförderung zu einer besseren Auslastung und zu Kostenvorteilen führen, die sich auch auf dem Binnenmarkt ausnutzen lassen. Daher geht der Europäische Gerichtshof davon aus, dass die Art. 87 ff. EGV neben den Art. 132 f. EGV anwendbar sind. Bereits ein 10%ger innergemeinschaftlicher Lieferanteil soll ausreichen, um die Maßnahmen dem Beihilferecht zu unterstellen46. Dementsprechend nutzt die Gemeinschaft zunehmend das Beihilferecht, um die Förderung der Ausfuhr an Drittstaaten zu begrenzen. Neben vereinzelten Verordnungen (wie der sowohl auf Art. 89 als auch auf Art. 132 EGV gestützten VO [EG] Nr. 1540 / 98 des Rates zur Neuregelung der Beihilfen für den Schiffbau) und Entscheidungen (wie der Entscheidung vom 5. März 2003 zur Beihilfe C94 / 01 ex NN 55 / 201 – Gewährung von Zuwendungen zur Unterstützung des Absatzes und Exports von Produkten aus Mecklenburg-Vorpommern) ist insbesondere das Instrument der Mitteilung zu erwähnen, mit der die EG-Kommission in der Form von soft law die Relevanz des Beihilferechts erläutert. So hat die EG-Kommission 1997 in dieser Form die Mitgliedstaaten aufgefordert, den staatlichen Kreditversicherern die kurzfristige Versicherung marktfähiger Risiken zu untersagen, um Wettbewerbsverfälschungen zu Lasten privater Exportkreditversicherungen zu verhindern47. Mit Wirkung ab dem 1. Januar 2002 ist diese Mitteilung modifiziert worden. Insbesondere wurde die Definition marktfähiger Risiken erweitert48. Als marktfähig gelten nunmehr wirtschaftliche „und politische“ Risiken öffentlicher und nicht öffentlicher Schuldner in den Kernländern der OECD mit einem Risikohorizont von weniger als zwei Jahren. Die zunehmende Aktivierung des Beihilferechts hat erhebliche Konsequenzen (z. B. weil im Wesentlichen die Zuständigkeiten bei der EG-Kommission liegen und Beihilfen notifiziert werden müssen). Es stellt sich auch die Frage, ob die Mandatierung eines privaten Unternehmens, das für den Staat die AusfuhrfördeABl 1998 Nr. L 148 / 22. Vgl. Bourgeois, in: v. d. Gröben / Thiesing / Ehlermann (Hrsg.), EU- / EG-Vertrag, 5. Aufl. 1997, Art. 112, Rn. 14. 46 Grundlegend EuGH, Slg. 1990, I-959, Rn. 32, 35 ff. (Tubemeuse). 47 ABl 1997 Nr. C 281 / 4. 48 Vgl. ABl 2001 Nr. C 217 / 2. 44 45
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rungsgeschäfte abwickelt (daneben aber sonstige Versicherungsgeschäfte durchführt und sich daher in einem Wettbewerb befindet), dem Beihilfe- und Vergaberecht unterfällt49. Trotz des Umstandes, dass die Europäische Gemeinschaft zahlreiche Rechtsakte erlassen hat, kann bisher von einer harmonisierten Ausfuhrförderung der Mitgliedstaaten keine Rede sein.
c) Beschränkungen der Agrarausfuhrförderung Wie schon auf der WTO-Ebene (I. 1. b)) gelten für die Agrarausfuhrförderungen auch von Gemeinschafts wegen weitgehende Besonderheiten, weil die Wettbewerbsprinzipien insoweit nicht bzw. nur eingeschränkt zum Zuge kommen (vgl. Art. 32 ff. EGV). So gestatten die europäischen Marktordnungen im weiten Umfange die Zahlungen von Ausfuhrerstattungen für den Export landwirtschaftlicher Erzeugnisse in Drittländer50. Ausfuhrerstattungen lassen sich als Ausgleichszahlungen definieren, die aus dem Gemeinschaftshaushalt durch die Mitgliedstaaten an die Ausführer bestimmter Agrarerzeugnisse oder verarbeiteter Agrarerzeugnisse gezahlt werden. Die Mitgliedstaaten erhalten die von ihnen geleisteten Erstattungen nach Abschluss des sog. Rechnungsabschlussverfahrens aus dem Europäischen Ausrichtungs- und Garantiefonds für die Landwirtschaft ersetzt. Ziel der Ausfuhrerstattung ist es, für die landwirtschaftlichen Erzeugnisse die Differenz zwischen dem hohen Preis in der Gemeinschaft und dem niedrigen Weltmarktpreis auszugleichen und damit sowohl die Erzeugung im Binnenmarkt als auch den Absatz in Drittländer zu ermöglichen und zu fördern. Entgegen einer verbreiteten Ansicht sind Ausfuhrerstattungen nicht lediglich „essentials“ des Agrarmarkts oder durchlaufende Rechnungsposten des Ausführers, die dieser an den Landwirt weiterreicht, sondern Subventionen, die den Export erst ermöglichen.51 Die für Ausfuhrerstattungen maßgeblichen Rechtsgrundlagen finden sich vor allem in der VO (EG) Nr. 800 / 1999 der Kommission (Ausfuhrerstattungsverordnung). Im Einzelnen stellen sich zahlreiche Fragen, die letztverbindlich von den Finanzgerichten und dem Europäischen Gerichtshof zu entscheiden sind52. An den Empfänger der Ausfuhrerstattungen werden hohe Anforderungen gestellt. U. a. wird von ihm die Kenntnis aller einschlägigen Rechtsvorschriften erwartet. Hat der Ausführer eine ihm nicht zustehende Ausfuhrerstattung erlangt, sind gem. Art. 51 der VO (EG) Nr. 800 / 1999 Sanktionen zu verhängen, selbst wenn dem Ausführer kein Schuld49 Kritisch zum „Mandatarmonopol“ aus der Sicht der Privatwirtschaft Osinski, in: Ehlers / Wolffgang / Pünder (Fn. 3), S. 17 ff. 50 Vgl. statt vieler Korte / van Rijn, in: v. d. Gröben / Thiesing / Ehlermann (Fn. 45) Art. 40, Rn. 93; Mögele, Die Behandlung fehlerhafter Ausgaben im Finanzierungssystem der gemeinsamen Agrarpolitik, 1997, S. 35 f. 51 Vgl. statt vieler Pieper, Die Rückforderung von Ausfuhrerstattungen und Vertrauensschutz, 2003, S. 19 ff. 52 Vgl. zu wichtigsten aktuellen Streitfragen Rüsken und Schrömbges, in: Ehlers / Wolffgang / Pünder (Fn. 3), S. 199 ff., 229 ff.
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vorwurf gemacht werden kann. Der Europäische Gerichtshof hat die Sanktionsregelung gebilligt, weil sie keinen Strafcharakter habe und sich der Ausführer dem Rechtsregime des Ausfuhrerstattungsrechts unterworfen habe53. Da es gerade auf dem Gebiet des Ausfuhrerstattungsrechts häufig zu Unregelmäßigkeiten und Betrügereien kommt, ist für die Europäische Gemeinschaft ein Europäisches Amt für Betrugsbekämpfung (OLAF) auf der Grundlage des Art. 280 EGV durch Beschluss der Kommission54 errichtet und mit weitreichenden internen und externen Untersuchungsbefugnissen ausgestattet55 worden. Um das Europäische Agrarrecht mit dem WTO-Reformprozess in diesem Bereich kompatibel zu machen, haben die Landwirtschaftsminister der Europäischen Gemeinschaft im Juli 2003 die Neuausrichtung der Agrarpolitik beschlossen, in deren Mittelpunkt eine teilweise Entkopplung der Direktzahlungen von der Produktion steht. Welche Auswirkungen sich daraus für die Ausfuhrsubvention ergeben, lässt sich derzeit nicht absehen. In jedem Falle wird die weitere Entwicklung der Agrarausfuhrförderungsmaßnahmen maßgeblich von der künftigen Gestaltung des WTO-Übereinkommens über die Landwirtschaft abhängen.
III. Vorgaben des nationalen Rechts 1. Bindung an das Völkerrecht und das Gemeinschaftsrecht Soweit Völkerrecht (i. S. d. Transformationslehre) in innerstaatliches Recht umgewandelt oder (i. S. d. Vollzugslehre) durch innerstaatlichen Rechtsakt für anwendbar erklärt worden ist, gilt es nicht nur völkerrechtlich, sondern auch nach staatlichem Recht. Daneben entfaltet das Europäische Gemeinschaftsrecht in der staatlichen Rechtsordnung unmittelbare Geltung. Die hier in Rede stehenden primärrechtlichen Bestimmungen sowie die auf ihrer Grundlage ergangenen Verordnungen und Entscheidungen der EG-Organe sind im staatlichen Rechtskreis unmittelbar anwendbar. Im Konfliktsfall geht das vorrangig geltende Gemeinschaftsrecht dem auch innerstaatlich geltenden, aber nur mit einfachem Gesetzesrang ausgestatteten Völkerrecht vor.
Vgl. EuGH, Slg. 2002, I-6482. Zum Vorlagebeschluss vgl. BFH, ZfZ 2000, 269. ABl 1999, Nr. C 21 / 10. 55 Vgl. VO (EG) Nr. 1073 / 99; VO (EG) Nr. 1074 / 99. Näher dazu Mager, ZEuS 2000, 177 ff.; Kuhl / Spitzer, EuR 2000, 671 ff. 53 54
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2. Rechtsfragen der Übernahme von Ausfuhrgewährleistungen a) Geltung des Gesetzesvorbehalts für die Übernahme von Ausfuhrgewährleistungen Soweit Ausfuhren in Deutschland staatlicherseits gefördert werden, geschieht dies i. d. R. durch die Übernahme von Bürgschaften, Garantien oder sonstigen Gewährleistungen. Gem. Art. 115 Abs. 1 Satz 1 GG bedürfen die Übernahmen, die zu Ausgaben in künftigen Rechnungsjahren führen können, eine der Höhe nach bestimmten oder bestimmbaren Ermächtigung durch Bundesgesetz. Das Nähere wird durch Bundesgesetz geregelt (Art. 115 Abs. 1 Satz 3 GG). Die h. M. geht davon aus, dass eine Regelung durch Haushaltsgesetz (i. V. m. dem Haushaltsplan) ausreichend ist56. Inhaltlich sind Bestimmungen über den zulässigen Verwendungszweck, die betragsmäßigen Grenzen und die organisatorische Verantwortlichkeit vonnöten (wie dies in der Praxis auch geschieht57). Auch aus dem allgemeinen Gesetzesvorbehalt sollen sich nach der Rechtsprechung keine weitergehenden Anforderungen für die Subventionsverwaltung ergeben, weil es sich um Leistungsund (jedenfalls grundsätzlich) nicht um Eingriffsverwaltung handelt58. Ein nicht unerheblicher Teil der Literatur sieht dies bekanntlich anders und verlangt für die Subventionsverwaltung aus rechtsstaatlichen und demokratischen Gründen auch außerhalb des Bereichs von Grundrechtseingriffen grundsätzlich eine Befugnisnorm59. Die Praxis hat es bei den haushaltsrechtlichen Vorgaben bewenden lassen und alles weitere durch die wiederholt aktualisierten, als Verwaltungsvorschriften zu qualifizierenden60 Richtlinien für die Übernahme von Ausfuhrgewährleistungen (vom 30. Dezember 1983) bestimmt61.
b) Entscheidungszuständigkeiten Gem. 3.1 der genannten Richtlinien entscheidet der Bundesminister für Wirtschaft und Technologie über eine Übernahme von Ausfuhrgewährleistungen mit Einwilligung des Bundesministeriums der Finanzen sowie im Einvernehmen mit dem Auswärtigen Amt und dem Bundesministerium für Wirtschaftliche Zusam56 Vgl. Heun, in: Dreier (Hrsg.), GG, Bd. III, 2000, Art. 115, Rn. 15, 31 m. w. Nachw.; Scheibe, in: Ehlers / Wolffgang / Pünder (Fn. 3), S. 102 ff. 57 Vgl. z. B. die §§ 10, 16 HG 2001 (BGBl. I, S. 3964). 58 Vgl. die Nachw. bei Ossenbühl, in: Erichsen / Ehlers (Hrsg.), Allgemeines Verwaltungsrecht, 12. Aufl. 2002, § 9, Rn. 16. 59 Näher zum Problem Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, 14. Aufl. 2002, § 6, Rn. 14. 60 Vgl. v. Kageneck, Hermes-Deckung, 1991, S. 21. 61 Für diese Richtlinien vgl. Greuter / Kuhn, Garantien & Bürgschaften der Bundesrepublik Deutschland zur Förderung der Ausfuhr, 2001, I, Rn. 23 ff. m. Anlage 3; Gramlich, in: Hohmann / John, Ausfuhrrecht, 2002, Teil 6, Rn. 1 ff.; Scheibe / Moltrecht / Kuhn (Fn. 12), Teil 1, Rn. 77 ff. m. Anlage 2 u. 3.
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menarbeit und Entwicklung in dem Interministeriellen Ausschuss für Ausfuhrgarantien und Ausfuhrbürgschaften. Dem Ausschuss gehören weitere Personen (z. B. die vom Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie auf Zeit berufenen Vertreter der Ausfuhrwirtschaft und des Bankgewerbes) an. Die Mitwirkung an öffentlich-rechtlichen Entscheidungen wäre nur auf der Grundlage einer Beleihung zulässig, für die es an einer gesetzlichen Grundlage fehlt. Daher darf der Interministerielle Ausschuss in seiner Gesamtheit nur vorbereitend tätig werden. Abweichend von den Richtlinien wird nach dem Haushaltsgesetz (z. B. § 10 Abs. 1 HG 2001) der Bundesminister der Finanzen ermächtigt, Bürgschaften, Garantien oder sonstige Gewährleistungen zu übernehmen. Doch dürfte dies eine andere Zuständigkeitsverteilung nicht ausschließen62. Gemäß § 39 Abs. 2 BHO ist aber zumindest eine Einwilligung des Bundesministers der Finanzen erforderlich. Wird der Übernahmeverwaltungsakt (III 2 c)) ohne die erforderliche Einwilligung erlassen, dürfte er rechtswidrig sein, weil die Bundeshaushaltsordnung nicht nur das Staatsinnenrecht betrifft63. Werden die Mitwirkungsrechte der anderen Ministerien verletzt, hat dies keine außenrechtliche Bedeutung, weil die Mitwirkung nicht gesetzlich vorgesehen ist, sondern sich nur aus den (internen) Verwaltungsvorschriften ergibt.
c) Zweistufige Verfahrenspraxis Die Übernahme der Ausfuhrgewährleistung erfolgt zweistufig. Nach 4.3 der Richtlinien wird über den Antrag auf Übernahme im positiven Falle durch endgültige Deckungszusage entschieden. Die Zusage stellt einen Verwaltungsakt dar. Aufgrund der Deckungszusage schließt der Bund vertreten durch den Bundesminister für Wirtschaft und Verkehr, dieser vertreten durch die Mandatare HERMES Kreditversicherungs-AG (Federführer) und PwC Deutsche Revision Aktiengesellschaft Wirtschaftsprüfungsgesellschaft, einen die Einhaltung der Deckung regelnden Gewährleistungsvertrag, der dem Privatrecht zugerechnet wird64. In der Praxis fallen beide Akte zusammen, da dem Antragsteller die endgültige Deckungszusage und die Annahme des Gewährleistungsvertrages regelmäßig zeitgleich zugehen. Anders als früher bedarf es heute keiner Beurkundung des Vertrages durch die Bundesschuldenverwaltung mehr65. Zweistufige Rechtskonstruktionen stoßen auf Kritik, weil sich beide Stufen nur schwer voneinander abgrenzen lassen und es möglich ist, das Handeln auch nur dem öffentlichen Recht oder dem (Verwaltungs-) Privatrecht zu unterstellen66. Doch hat der Bundesgerichtshof dem Ebenso Scheibe (Fn. 56), S. 108 ff. A. A. Scheibe (Fn. 56), S. 109 ff.; vgl. aber auch Greuter, Die staatliche Exportgliedversicherung, 6. Aufl. 2000, S. 39; Masberg, in: Hohmann / John (Fn. 61), Teil 6, Rn. 81. 64 Zur Anwendbarkeit des Vergaberechts vgl. II. 4. b). 65 Näher dazu Scheibe (Fn. 56), S. 121 ff. 66 Vgl. Ehlers, VerwArch 74 (1983), 112 (117). 62 63
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Bund ausdrücklich das Recht zugestanden, die Abwicklung von Ausfuhrgeschäften (neben der öffentlich-rechtlichen Übernahme) privatrechtlich zu regeln67. Wie immer bei zweistufigen Rechtskonstruktionen bereitet die Zuordnung des Verwaltungsaktes und des privatrechtlichen Vertrages Probleme. Insbesondere stellt sich die Frage, auf welcher Stufe auf spätere Veränderungen (wie dem sog. Deckungseingriff des Bundes68) zu reagieren ist. Teilweise wird die Ansicht vertreten, dass sich der Übernahmeverwaltungsakt nach Zustandekommen des Gewährleistungsvertrages erledigt, so dass eine spätere Rücknahme oder ein Widerruf ausscheidet, wohl aber der Gewährleistungsvertrag nach den vertraglichen Grundsätzen noch angepasst oder aufgehoben werden kann69.
d) Kriterien für die Übernahme der Ausfuhrförderung Die Übernahme einer Ausfuhrgewährleistung setzt u. a. die Förderungswürdigkeit des Ausfuhrgeschäftes (oder ein besonderes staatliches Interesse der Bundesrepublik) und die risikomäßige Vertretbarkeit voraus (Nr. 2.1, 2.2 der Richtlinien). Bei der Beurteilung der Förderungswürdigkeit ist wiederum zu entscheiden, welche Bedeutung z. B. den ökologischen, sozialen und menschenrechtlichen Gesichtspunkten zukommen soll.
e) Anspruch auf Übernahme Antragsteller haben keinen Anspruch auf Übernahme von Ausfuhrgewährleistungen70, sondern auf ermessensfehlerfreie Entscheidung. Eine Selbstbindung der Verwaltung i. S. e. Ermessensreduzierung auf Null dürfte – auch wegen der von den Richtlinien akzeptierten, auf die Umstände des Falles abstellenden weiten Entscheidungs- und Wertungsspielräume – selten in Betracht kommen. Für den Rechtsschutz bedeutet dies, dass mit einer verwaltungsgerichtlichen Verpflichtungsklage i. d. R. grundsätzlich allenfalls eine Neubescheidung erlangt werden kann. Ob es möglich ist, einen Anspruch auf fehlerfreie Ausübung des Ermessens durch Erlass einer Regelungsanordnung gem. § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO durchzusetzen, um auf diese Weise eine interimistische Befriedung zu erreichen, ist umstritten. Die überwiegende Rechtsprechung verneint dies, weil im Eilverfahren nicht zugesprochen werden dürfe, was im Hauptsacheverfahren nicht erreichbar ist. Auch wenn man dieser Ansicht nicht folgt71, wird ein Exporteur mit einer vorläufigen Deckungszusage bei den Banken wenig bewirken können. BGH, NJW 1997, 328, m. Anm. Mankowski, WiB 1997, 277. Vgl. 5.25 der Richtlinien. 69 Vgl. Scheibe (Fn. 56), S. 125. A. A. etwa v. Kageneck (Fn. 60), S. 129; Gramlich (Fn. 61), Teil 6, Rn. 106 f. 70 Vgl. auch 1.3 der Richtlinien. 67 68
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Dirk Ehlers
3. Rechtsfragen der Ausfuhrförderung landwirtschaftlicher Erzeugnisse Welche Ausgaben für die Ausfuhrförderung landwirtschaftlicher Erzeugnisse getätigt werden dürfen, richtet sich nach dem Europäischen Gemeinschaftsrecht. Für das nationale Recht verbleiben nahezu keine Spielräume. Ist das nationale Recht neben dem europäischen heranzuziehen, muss es im Lichte des letzteren angewendet und ausgelegt werden. So regelt Art. 52 VO (EG) Nr. 800 / 99 nur die Rückforderung zu Unrecht gezahlter Ausfuhrerstattungen, nicht die Rücknahme der Erstattungsbescheide. Diese erfolgt in Deutschland auf der Grundlage der nationalen Vorschrift des § 10 Abs. 1 MOG72. Die Vorschrift verweist auf die Vertrauensschutzbestimmungen des § 48 Abs. 2 bis 4 VwVfG. Doch weichen diese Bestimmungen von der vorrangig geltenden, eine abschließende Regelung darstellenden und einen Vertrauensschutz höchstens im Falle von Behördenfehlern gewährenden Regelung des Art. 52 Abs. 4 VO (EG) Nr. 800 / 99 ab. Da die Anwendung des nationalen Rechts die Verwirklichung des Gemeinschaftsrechts nicht praktisch unmöglich machen darf73, sind die genannten verwaltungsverfahrensgesetzlichen Bestimmungen im Kollisionsfall teils nicht anwendbar (z. B. kennt die VO längere Fristen als § 48 Abs. 4 VwVfG), teils müssen sie völlig anders ausgelegt werden als im deutschen Recht (um die normengeschützten Interessen der Gemeinschaft zu sichern). Abweichendes gilt nur, wenn man davon ausgeht, dass die Vertrauensschutzregelungen der VO (EG) Nr. 800 / 99 dem Primärrecht der Europäischen Gemeinschaft (in Gestalt weitererreichender allgemeiner Rechtsgrundsätze) widersprechen.
71 Vgl. umfassend zum Streitstand Schoch, in: ders. / Schmidt-Aßmann / Pietzner, VwGO, § 123, Rn. 158 ff. (1996); siehe auch Happ, in: Eyermann, VwGO, 11. Aufl. 2000, § 123 Rn. 66. 72 Vgl. BGBl. 1995 I, S. 1148; geändert durch Gesetz v. 2. 5. 1999, BGBl. I, S. 656. 73 St. Rspr. des EuGH, z. B. Slg. 1983, 2633, Rn. 22 f.; ferner Streinz, Europarecht, 5. Aufl. 2001, Rn. 483 ff.
Das deutsche Börsenrecht vor dem Forum des Gemeinschaftsrechts Von Volker Emmerich und Jochen Hoffmann
I. Einleitung Die deutschen Börsen besitzen nach dem Börsengesetz1 eine eigenartige juristische Zwitterstellung. Denn sie sind einerseits – jedenfalls nach ganz überwiegender, hier nicht weiter zu diskutierender Meinung – teilrechtsfähige Anstalten des öffentlichen Rechts, die von dem jeweiligen Börsenträger unterschieden werden müssen, wofür in der Tat die Organisation der Börsen (s. die §§ 9, 12 BörsenG), ihre Behördeneigenschaft (§ 13 Abs. 6 BörsenG), ihre hoheitlichen Aufgaben sowie insbesondere ihre Satzungsautonomie nach Maßgabe der wichtigen §§ 13 und 14 BörsenG sprechen2. Auf der anderen Seite stehen sie aber in privater Trägerschaft – bei der Frankfurter Wertpapierbörse (FWB) in der Trägerschaft der Deutschen Börse AG – und erbringen auf Märkten in Konkurrenz mit anderen Börsen und Handelssystemen wirtschaftlich werthafte Leistungen gegen Entgelt, so dass außer Frage steht, dass sie auch Unternehmensqualität im Sinne des Kartellrechts besitzen.3 Der deutsche Gesetzgeber hat die gebotenen Konsequenzen aus dieser eigenartigen Doppelnatur der Börsen als öffentlich-rechtliche Anstalten mit Behördeneigenschaft und als öffentliche Unternehmen in der bisher wenig beachteten Vorschrift des § 6 Abs. 1 Satz 1 BörsenG gezogen, nach der die Börsenaufsichtsbehörde darauf hinzuwirken hat, dass die Vorschriften des GWB von den Börsen eingehalten werden. Satz 2 der Vorschrift fügt hinzu, dass dies insbesondere für den Zugang zu Handels-, Informations- und Abwicklungssystemen und sonstigen börsenbezogenen Dienstleistungseinrichtungen sowie deren Nutzung gilt. Ergänzend bestimmt noch § 6 Abs. 2 Satz 1 BörsenG, dass die Zuständigkeit der KartellbeIdF des 4. Finanzmarktförderungsgesetzes v. 21. 6. 2002, BGBl. I S. 2010. Ebenso VGH Kassel NJW-RR 1997, S. 110; Kümpel, Bank- und Kapitalmarktrecht, 2. Aufl. (2000), Tz. 17.117 ff. (S. 1987 ff.); J. Mues, Die Börse als Unternehmen, 1999, S. 67, 72 ff.; Götz von Olenhusen, Börsen und Kartellrecht, 1983, S. 54 ff.; Schwark, BörsenG, 2. Aufl. (1994), § 1 Rn. 16 ff.; Schäfer / Peterhoff, WpHG / BörsG, § 1 BörsG Rn. 31 ff. 3 Beck, WM 1998, 598 m. w. N.; ferner implizit Immenga / Mestmäcker, GWB, 3. Aufl. 2001, § 2 Abs. 2 Rn. 16; Schwark, BörsG, 2. Aufl. 1994, § 4 Rn. 20; Götz von Olenhusen (Fn. 2), S. 92 ff.; Mues, Die Börse (Fn. 2), S. 31 ff., 177. 1 2
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Volker Emmerich und Jochen Hoffmann
hörden unberührt bleibt, dies wohl ein Hinweis auf § 130 Abs. 1 GWB, nach dem das GWB auch auf Unternehmen Anwendung findet, die ganz oder teilweise im Eigentum der öffentlichen Hand stehen oder die von ihr verwaltet oder betrieben werden. Für das deutsche Recht hat sich aus diesem Nebeneinander des § 6 BörsenG und des § 130 Abs. 1 Satz 1 GWB die Frage ergeben, ob § 6 BörsenG nur den § 130 GWB wiederholt, so dass er im Grunde überflüssig ist – so die ganz h.M. – , oder ob ihm eine eigenständige und damit über § 130 GWB hinausgehende Bedeutung zukommt, die dann nur, wenn man die in § 6 Abs. 1 Satz 2 BörsenG aufgelisteten, in besonderem Maße der Kartellaufsicht überantworteten Materien ins Auge fasst, darin bestehen kann, bei den Börsen auch die Satzungen der Börsen (ausnahmsweise) der Kontrolle anhand des GWB zu unterwerfen. Diese Frage dürfte, wie an anderer Stelle gezeigt, in der Tat zu bejahen sein4. Neben dem deutschen Kartellrecht steht jedoch, dieses in wachsendem Maße verdrängend, das europäische Kartellrecht, wodurch mit Bezug auf die Börsen letztlich dieselben Fragen wie im deutschen Kartellrecht aufgeworfen werden. In der Tat steht schon seit langem fest, dass die Börsen als öffentliche Unternehmen grundsätzlich auch den Wettbewerbsregeln des EGV (Art. 81, 82 und 86) unterliegen. Die Gemeinschaftsorgane sind hiervon bereits in einer Vielzahl von Entscheidungen ausgegangen, in denen es meistens um Klauseln in den Regelwerken von Börsen ging, durch die bestimmten Unternehmen der Marktzutritt erschwert wurde5. Unweigerlich kommen damit in Deutschland auch die Börsenordnungen der §§ 13 und 14 BörsenG in das Visier des Gemeinschaftsrechts (Art. 81, 82 und 86 EGV). Die Qualifikation der Börsen- und Gebührenordnungen als Satzungen und damit als Gesetze im materiellen Sinne (§§ 13 Abs. 1 und 14 BörsenG) scheint jedoch auf den ersten Blick ihrer Kontrolle anhand der Wettbewerbsregeln nahezu unüberwindliche Hindernisse in den Weg zu stellen, da sich jedenfalls die Art. 81 und 82 EGV eindeutig nur auf privatrechtliche Vorgänge wie Vereinbarungen oder Unternehmensbeschlüsse beziehen6. Daraus ergibt sich als erstes die Frage, ob die Börsenordnungen trotz ihrer Eigenschaft als Satzungen von Anstalten des öffentlichen Rechts unter bestimmten Voraussetzungen doch an den Wettbewerbsregeln des EGV gemessen werden können, wobei nicht nur an Art. 82 EGV zu denken ist, sondern auch an Art. 81 EGV, etwa bei Absprachen der Börsen über die Börsenordnungen (unter II). Die Problematik der Vereinbarkeit des deutschen Börsenrechts mit dem Gemeinschaftsrecht erschöpft sich aber nicht in dieser Frage nach der Vereinbarkeit der S. Emmerich / J.Hoffmann, in: FS Schmitt-Glaeser, 2003, S. 527. S. mit Nachw. Emmerich, in: Immenga / Mestmäcker, EG-Wettbewerbsrecht Bd. I, 1997, Art. 85 Abs. 1 Rn. B 25; Beck, WM 2000, S. 597; Mues (Fn. 2), S. 177; Götz v. Olenhusen (Fn. 2), S. 111. 6 S. zum folgenden schon ausführlich J. Mues (Fn. 2), S. 137 ff.. 4 5
Das deutsche Börsenrecht vor dem Forum des Gemeinschaftsrechts
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Börsen- und Gebührenordnungen mit den Wettbewerbsregeln des EGV, sondern weist noch zahlreiche andere Facetten auf. Ganz im Vordergrund des Interesses steht dabei die Frage, ob die monopolistische Struktur der deutschen Börsenmärkte mit der marktwirtschaftlichen Ordnung der Europäischen Union vereinbar ist. Auch dieser Fragen soll daher weiter unten nachgegangen werden (u. III).
II. Börsenordnungen und Wettbewerbsregeln 1. Praxis des Gerichtshofes Der Umstand, dass sich die Art. 81 und 82 EGV ihrem Wortlaut nach deutlich nur gegen privatrechtliche Rechtsakte von Unternehmen wenden (Paradigmata: Vereinbarungen und Beschlüsse von Unternehmensvereinigungen) hat die Gemeinschaftsorgane nicht daran gehindert, in einer Vielzahl von Entscheidungen unter wechselnden Voraussetzungen aufgrund der Wettbewerbsregeln auch gegen funktionell gleichstehende, öffentlich-rechtliche Rechtsakte vorzugehen. Am Anfang der einschlägigen Praxis des EuGH stand dabei das bekannte „British Telecommunications (BT)“-Urteil vom 20. März. 19857. Das vorläufige Ende der Entscheidungsreihe wird dagegen durch die Urteile vom 19. Februar 2002 in den Fällen „Arduino“ und „Wouters“ markiert8. Die genannten Urteile zeigen, dass der Gerichtshof in den hier interessierenden Fällen als erstes durchweg die Frage prüft, ob die Normsetzung im betreffenden Fall überhaupt „unternehmerischen Charakter“ hat oder ob sie zu den Tätigkeiten des betreffenden Verwaltungsträgers ohne wirtschaftlichen, sondern eben mit hoheitlichem oder doch staatlich-verwaltendem Charakter gehören, so dass sie schon deshalb der Reichweite der Wettbewerbsregeln entzogen sind. Der Gerichtshof hat diesen Punkt in den letzten Jahren vor allem in seiner Rechtsprechung zu den Sozialversicherungsträgern betont, weil er sich so die Möglichkeit eröffnet hat, in den zentralen Aufgabenbereichen der Sozialversicherungsträger die Kontrolldichte des Gemeinschaftsrechts zu reduzieren, um die betreffenden Bereiche (wieder) den Mitgliedstaaten zu überlassen. Nur so erklärt es sich letztlich, dass der Gerichtshof wiederholt den wirtschaftlichen Charakter jedenfalls solcher Tätigkeiten der Sozialversicherungsträger verneint hat, bei denen der soziale oder fürsorgerische Zweck aufgrund des Solidarprinzips deutlich im Vordergrund steht9. Slg. 1985, S. 880. Slg. 2002, I-1561 = EuZW 2002, S. 179 = NJW 2002, S. 882 „Arduino“; Slg. 2002, I-1653 = EuZW 2002, S. 172 = NJW 2002, S. 877 „Wouters“.; vgl. zu diesen Urteilen die Besprechungen von Sosnitza, EWS 2002, S. 460 ff.; Römermann / Wellige, BB 2002, S. 633 ff. 9 S. EuGH Slg. 1993, III-637 = NJW 1993, S. 2597 „Poucet“; Slg. 1995, I-4022 (4028 f.) = EuZW 1996, S. 277 „Fed. Française des Soc. dÀssurance“; Slg. 1999, I-5863 (5886 ff. Tz. 78 ff.) = ZIP 2000, S. 34 „Albany“; Slg. 1999, I-6029 (6053 ff. Tz. 78 ff.) = EuZW 2000, S. 174 „Brentjens“; Slg. 1999, I-6125 (6147 ff. Tz. 68 ff.) „Drijvende Bokken“; Slg. 2002, I-717 (730 ff.) = EuZW 2002, S. 146 „INAIL“. 7 8
20*
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Ebenso eingestuft werden aber auch sonstige genuin staatliche oder hoheitliche Aufgaben wie die Flugsicherung oder die Überwachung von Umweltverschmutzungen, selbst wenn sie im Einzelfall in staatlichem Auftrag von internationalen Organisationen oder privaten Gesellschaften durchgeführt werden10. Folgerichtig hat der Gerichtshof zuletzt noch in dem Urteil „Wouters“, das die wettbewerbsbeschränkende Satzung einer Anwaltskammer, also einer öffentlich-rechtlichen Organisation betraf, als erstes die Frage aufgeworfen, ob die Kammer bei Erlass der fraglichen Satzung als Unternehmensvereinigung (s. Art. 81 Abs. 1 EGV) oder als Organ der öffentlichen Verwaltung tätig wurde11. Nicht anders war der Gerichtshof aber auch schon in dem ersten einschlägigen Urteil, dem BT-Urteil vom 20. März 1985, vorgegangen, in dem er die Frage zu beantworten hatte, ob eine Rechtsverordnung, die ein nationales Monopolunternehmen, in diesem Fall das britische Fernsprechmonopol (BT), in Ausübung eigener, auf Gesetz beruhender Rechtssetzungsbefugnisse erlassen hatte, gegen das Missbrauchsverbot des Art. 82 EGV verstoßen kann12. Von BT war dagegen eingewandt worden, Rechtsverordnungen fielen schon ihrem Wortlaut nach nicht unter die Wettbewerbsregeln; ihr Erlass könnte daher höchstens die Grundlage für einen Verstoß des Mitgliedstaates selbst gegen Art. 86 EGV (= ex-Art. 90) sein. Der Gerichtshof wies diese Sichtweise zurück und prüfte zunächst den Zusammenhang zwischen den fraglichen Normen, den Benutzungsverordnungen von BT, und deren unternehmerischer Tätigkeit. Er stellte fest, dass die Benutzungsverordnungen dieselben Funktionen erfüllten wie Vertragsbedingungen, da sie lediglich die Bedingungen und Gebühren für die Erbringung der Leistungen von BT regelten, und dass sie ferner aufgrund der eigenen Normsetzungsbefugnis von BT ohne Beeinflussung durch die Behörden des Mitgliedstaates (UK) erlassen worden seien. Der Gerichtshof schloss daraus, dass die Benutzungsverordnungen einen integralen Bestandteil der Geschäftstätigkeit von BT bildeten, so dass ihr Erlass an den Wettbewerbsregeln gemessen werden könne.13 Wendet man diese Grundsätze auf die deutschen Börsen an, so erscheint es naheliegend, den Erlass von Börsen- und Gebührenordnungen durch die Börsen gleichfalls der Kontrolle an Hand der Wettbewerbsregeln zu unterwerfen, da diese Satzungen Fragen die Organisation des Börsengeschehens und die Bedingungen der Inanspruchnahme von Börsenleistungen betreffen. Insoweit sind sie durchaus mit den Benutzungsverordnungen eines Telefonunternehmens vergleichbar, die Gegenstand des BT-Urteils waren. Denn in einer grundsätzlich möglichen, privat10 EuGH Slg. 1994, I-55 (62 ff.) = EuZW 1994, S. 248 „Eurocontrol“; Slg. 1997, I-1580 (1587 f. Tz. 16 ff.) = EuZW 1997, S. 312 „SEPG“; s. im Einzelnen Emmerich (Fn. 5), Art. 85 Abs. 1 Rn. A 30 f.; ders., in: Dauses, Handbuch des EU-Wirtschaftsrechts, 2001, H I § 1 Rn. 62 f.; ders., Kartellrecht, 9. Aufl. (2001), S. 386. 11 Slg. 2002, I-1653 (1678 Tz. 56 ff.); vgl. auch das Urt. „Arduino“, Slg. 2002, I-1561 (1572 ff. Tz. 36 ff.). 12 Slg. 1985, S. 880 13 Slg. 1985, S. 880 (S. 885 f. Tz. 16 – 20).
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rechtlichen Börsenorganisation wären genau dies die Bereiche, die durch privatrechtliche Bestimmungen, insbesondere also Geschäftsbedingungen des Börsenunternehmens, zu regeln wären.14 Im Sinne des BT-Urteils entsprechen mit anderen Worten die Börsen- und Gebührenordnungen funktional den Vertragsbedingungen eines privatrechtlichen Börsenunternehmens; sie bilden daher einen integralen Bestandteil der Geschäftstätigkeit der Börsen und sind deshalb jedenfalls ein möglicher Gegenstand einer Kontrolle anhand der Wettbewerbsregeln. Die Prüfung darf indessen nicht schon an diesem Punkt abbrechen, da der Gerichtshof als nächstes durchweg prüft, wieweit tatsächlich der staatliche Einfluss auf die Normsetzung in dem betreffenden Fall reicht. Je größer dieser Einfluss ist, desto weniger ist er offenkundig zur unmittelbaren Anwendung der Wettbewerbsregeln auf die Normsetzung bereit, so dass sich dann immer nur von Fall zu Fall die weitere Frage stellen kann, ob hier nicht wenigstens Raum für die (ersatzweise) Anwendung des Art. 86 EGV (= ex-Art. 90) auf den hinter dem betreffenden Unternehmen stehenden Mitgliedstaat ist. Der Gerichtshof betont in diesem Zusammenhang neuerdings besonders den Grundsatz der „institutionellen Selbständigkeit der Mitgliedstaaten“ 15. Für eine Anwendung der Wettbewerbsregeln ist danach kein Raum mehr, wenn „ein Mitgliedstaat bei der Übertragung von Rechtssetzungsbefugnissen an einen Berufsverband Kriterien des Allgemeininteresses und wesentliche Grundsätze fest(legt), die bei der Satzungsbefugnis zu beachten sind, und die Letztentscheidungsbefugnis (behält)16.“ Den Mitgliedstaaten steht, anders gewendet, im Rahmen ihrer nationalen Souveränität die Entscheidung über die organisatorische Ausgestaltung der Ausübung ihrer Hoheitsrechte zu. Dazu gehört auch das Recht, die Normsetzung auf Unternehmen oder Unternehmensvereinigungen zu übertragen. Entscheidend ist, ob aufgrund der Ausgestaltung des Normsetzungsverfahrens ein ausreichender staatlicher Einfluss auf den Regelungsinhalt gewahrt bleibt. Für die Anwendung der Wettbewerbsregeln ist folglich nur Raum, wenn sich der Staat nicht darauf beschränkt, sich im Rahmen seiner eigenen Rechtsetzung der Sachkunde und Sachnähe eines Unternehmens zu bedienen, sondern er darüber hinaus diesem Unternehmen den Erlass der Normen in eigener Verantwortung überlässt. Genau in diesem Sinne betonte der Gerichtshof bereits in dem BT-Urteil, dass „der Gesetzgeber des Vereinigten Königreichs in keiner Weise den Inhalt der Normen vorgegeben hat, der von BT frei festgelegt wurde.“17 Anders ist die Rechtslage dagegen nach dem Urteil „Wouters“ zu beurteilen, wenn der Mitgliedstaat „Kriterien des Allgemeininteresses und wesentliche Grundsätze festlegt, die bei der Satzungsgebung zu beachten sind“, und sich die „Letztentscheidungsbefugnis“ 14 Ausführlich zu einer möglichen privatrechtlichen Börsenorganisation Mues, Die Börse als Unternehmen, S. 161 ff. 15 S. Slg. 2002, I-1653 (1681 Tz. 67 f.) „Wouters“. 16 So wörtlich EuGH (vorige Fn), Tz. 68. 17 Slg. 1985, S. 880 (885 Tz. 19).
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vorbehält.18 Beide Kriterien wurden in dem Urteil „Arduino“ vom selben Tag weiter präzisiert, in dem der Gerichtshof darauf abstellte, ob – bei einer Gebührenfestsetzung durch einen Berufsverband – dessen Mitglieder als unabhängige Sachverständige angesehen werden können, die gesetzlich verpflichtet sind, „auch das Interesse der Allgemeinheit und das Interesse der Unternehmen anderer Sektoren oder derjenigen, die die betreffenden Dienstleistungen in Anspruch nehmen, zu berücksichtigen“.19 Der Gerichtshof prüft in diesem Zusammenhang ferner, ob die Regelung auch ohne staatliche Genehmigung bereits Bindungswirkung entfaltet. Tritt die Bindung an die Regelung erst mit der Genehmigung ein, so dass bis dahin die vorherige Regelung weiterhin anzuwenden ist, und kann der Staat dadurch Einfluss auf die Normsetzung nehmen, so fehlt es offenbar im Regelfall in seinen Augen an einem Verzicht auf die vor allem für die Abgrenzung maßgebliche Letztentscheidungsbefugnis des Mitgliedstaates.20 Besteht dagegen nur die Möglichkeit eines aufsichtsrechtlichen Eingreifens des Staates, treten die Normen gegebenenfalls aber auch ohne staatlichen Akt in Kraft, so scheint dies den Anforderungen an die staatliche Letztentscheidungsbefugnis nicht zu genügen, wie aus dem Urteil „Wouters“ geschlossen werden kann.21
2. Folgerungen für die Börsenordnungen Legt man die geschilderten Kriterien einer Überprüfung der §§ 13 und 14 BörsenG zugrunde, so bedarf es zunächst einer Trennung zwischen dem Erlass der eigentlichen Börsenordnungen und dem der Gebührenordnungen, da sich in beiden Fällen sowohl die Ermächtigungsnormen als auch das bei dem Normerlass zu beobachtende Verfahren in wichtigen Punkten unterscheiden: Die Börsenordnungen werden vom Börsenrat aufgrund der Ermächtigung in § 13 Abs. 1 BörsenG erlassen. Nach § 13 Abs. 2 Satz 1 BörsenG sollen die Börsenordnungen „sicherstellen, dass die Börse die ihr obliegenden Aufgaben erfüllen kann und dabei den Interessen des Publikums und des Handels gerecht wird.“ Dieser Bestimmung wird man eine gesetzliche Vorgabe entnehmen können, bei der Wahrnehmung der Satzungsermächtigung nicht nur die Interessen der Börse, sondern auch das Allgemeininteresse an der Funktionsfähigkeit der Börse als Kapitalmarkt zu verfolgen. Daraus könnte zu schließen sein, dass jedenfalls bei dem Erlass von Börsenordnungen nach § 13 BörsenG die Anforderungen erfüllt sind, die der Gerichtshof für die Annahme einer staatlichen Rechtsetzung betont. Trotz des Wortlauts des § 13 Abs. 2 Satz 1 BörsenG („soll“) wird man ferner davon ausgehen 18 19 20 21
Slg. 2002, I-1653 (1681 Tz. 68 f.). Slg. 2002, I-1561 (1572 Tz. 37). Slg. 2002, I-1561 (1573 Tz. 41). Slg. 2002, I-1653 (1661 Tz. 12); s. dazu Sosnitza, EWS 2002, S. 465.
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können, dass die Vorschrift nicht nur einen Programmsatz, sondern eine Verpflichtung im Sinne der Rechtsprechung des Gerichtshofs darstellt, da es die Funktion der Norm ist, die Reichweite der Satzungsermächtigung abzugrenzen.22 Eine Regelung, die sich außerhalb des von § 13 Abs. 2 Satz 2 BörsenG gesteckten Rahmens bewegt, wäre daher wohl nicht mehr von der Satzungsermächtigung gedeckt. Auch hinsichtlich der Letztentscheidungsbefugnis des Staates scheint § 13 Abs. 5 BörsenG die von den Urteilen „Wouters“ und „Arduino“ aufgestellten Voraussetzungen für das Vorliegen einer mittelbaren staatlichen Gesetzgebung zu erfüllen, die der Reichweite der Wettbewerbsregeln entzogen ist. Denn nach § 13 Abs. 5 Satz 1 BörsenG ist die Genehmigung der Börsenordnung Wirksamkeitsvoraussetzung23. Bevor die Genehmigung erteilt ist, bleibt es daher beim vorherigen Rechtszustand; eine Genehmigungsfiktion fehlt. Die Regelung ist daher mit der Situation vergleichbar, die dem Urteil „Arduino“ zugrundelag. Anders als in diesem Fall hat die Börsenaufsicht nach § 13 Abs. 5 Satz 2 BörsenG sogar noch das zusätzliche Recht, die Aufnahme bestimmter Vorschriften in die Börsenordnung zu verlangen24. Dies alles legt unbestreitbar zunächst den Schluss nahe, dass bei dem Erlass von Börsenordnungen die Letztentscheidungsbefugnis beim Staat verbleibt, so dass sich die Börsenordnungen als staatliche Regelung darstellten, die nicht anhand der Wettbewerbsregeln des EGV zu beurteilen sind. Anders ist die Rechtslage dagegen schon auf den ersten Blick hinsichtlich der Gebührenordnungen der Börse zu beurteilen. § 14 BörsenG enthält keine dem § 13 Abs. 2 Satz 1 BörsenG vergleichbare Verpflichtung, bei der Gebührenfestsetzung Allgemeininteressen oder die Interessen von Handelsteilnehmern und Publikum zu wahren. Das Regelungsermessen wird lediglich durch das allgemeine Äquivalenzprinzip eingeschränkt, das ein angemessenes Verhältnis zwischen der hoheitlichen Leistung und der erhobenen Gebühr verlangt.25 Das Ermessen bezüglich der Ausgestaltung der Gebührentatbestände und der Höhe der einzelnen Gebühren wird dadurch aber kaum begrenzt, da das Prinzip keine verbindlichen Vorgaben enthält, welche Interessen nach welchen Kriterien bei der Gebührenfestsetzung zu berücksichtigen sind.26 § 14 Abs. 2 Satz 2 BörsenG enthält ferner eine Genehmigungsfiktion, so dass es keiner (aktiven) Genehmigung des Staates als Voraussetzung der Wirksamkeit bedarf; vielmehr besteht eine bloße staatliche Eingriffsbefugnis. Die Letztentscheidungsbefugnis liegt daher hier eindeutig bei der Börse selbst, nicht beim Staat. Die Gebührenordnungen stellen sich aus diesen Gründen von vornherein nicht als dem Staat zurechenbare Regelungen dar, Schäfer / Peterhoff (Fn. 2), § 4 BörsenG Rn. 2; ähnlich Schwark (Fn. 3), § 4 Rn. 9. Kümpel (Fn. 2), Rn. 17.104; Schwark (Fn. 3), § 4 Rn. 5; Schäfer / Peterhoff (Fn. 2), § 4 BörsenG Rn. 15. 24 Dazu näher Schwark (Fn. 3), § 4 Rn. 6; Schäfer / Peterhoff (Fn. 2), § 4 BörsenG Rn. 16. 25 Schäfer / Peterhoff (Fn. 2), § 5 BörsenG Rn. 1; Schwark (Fn. 3), § 5 Rn. 5; Götz v. Olenhusen (Fn. 2), S. 138 f. 26 Näher Götz v. Olenhusen (Fn. 2), S. 138. 22 23
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sondern unterliegen als integraler Bestandteil der Geschäftspolitik der Börsen den Wettbewerbsregeln. Trotz der unterschiedlichen gesetzlichen Vergaben für die Börsen- und die Gebührenordnungen in den §§ 13 und 14 BörsenG überrascht das Ergebnis und weckt Zweifel an der Sachgerechtigkeit der bisher zugrunde gelegten Abgrenzungskriterien. Eine nähere Analyse vor allem des Urteils „Wouters“ zeigt denn auch alsbald, dass hinter den einschlägigen Ausführungen des Gerichtshofs letztlich das Bestreben steht, den von der Bundesregierung in diesem Fall so nachdrücklich betonten Souveränitätsvorbehalt nicht etwa, wie es zunächst den Anschein hat, im Widerspruch zu der bisherigen Praxis in vollem Umfang hinzunehmen, sondern im Gegenteil sachgerecht einzugrenzen. Die Bundesregierung hatte in erster Linie geltend gemacht, es sei nach wie vor allein Sache der Mitgliedstaaten, darüber zu entscheiden, wie sie die Ausübung ihrer Hoheitsrechte organisatorisch ausgestalten; dazu gehöre auch die Entscheidung eines Mitgliedstaates, der Vertreterversammlung einer berufsständischen Vertretung die Befugnis zum Erlass von Satzungen zu übertragen27. Darauf antwortete der Gerichtshof, man müsse zwei Fälle unterscheiden, wenn man prüfe, in welchem Umfang die Wettbewerbsregeln auf Satzungen öffentlich-rechtlicher Einrichtungen angewandt werden können. Der eine Fall sei dadurch gekennzeichnet, dass der betreffende Mitgliedstaat bei der Übertragung von Rechtssetzungsbefugnissen (selbst) Kriterien des Allgemeininteresses und wesentliche Grundsätze festlege, die bei der Satzungsbefugnis zu beachten sind, so dass er die Letztentscheidungsbefugnis behalte28. Nur dann sei kein Raum für die unmittelbare Anwendung der Wettbewerbsregeln. Anders sei dagegen zu entscheiden, wenn die von dem Berufsverband erlassenen Regeln „allein diesem zuzurechnen“ sind; dann bleibe es bei der Anwendbarkeit den Wettbewerbsregeln und insbesondere des Art. 81 EGV29. Zieht man in diesem Zusammenhang ergänzend das auf derselben Linie liegende Urteil Arduino hinzu30, so wird man wohl den Gerichtshof nicht falsch verstehen, wenn man im vorliegenden Zusammenhang das Gewicht auf die vom Gerichtshof immer wieder betonte Letztentscheidungsbefugnis des Staates legt und Ausnahmen von der Bindung öffentlich-rechtlicher Einrichtungen beim Erlass wettbewerbsregelnder Satzungen oder Verordnungen an die Wettbewerbsregeln nur dann anerkennt, wenn die sachliche Entscheidung im Ergebnis bei dem Mitgliedstaat selbst liegt, während die betreffende öffentliche Einrichtung im Grunde nur Vorschläge macht, denen der Staat folgen kann oder auch nicht. In der Tat ist es (nur) unter dieser Voraussetzung berechtigt, von der unmittelbaren Anwendung der Wettbewerbsregeln (Art. 81 und 82 EGV) abzusehen und statt dessen auf den schwierigen Art. 86 EGV (= ex-Art. 90) zu rekurrieren. 27 28 29 30
S. Slg. 2002, I-1653 (1678 Tz. 54 f.). Urt. Wouters, Slg. 2002, I-1653 (1681 Tz. 68). Slg. 2002, I-1653 (1681 Tz. 69). Slg. 2002, I-1561 (1572 ff. Tz. 37 ff.).
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Die hier befürwortete Sicht der Dinge entspricht genau den schon in dem BT-Urteil von 1985 angedeuteten Kriterien. Denn (auch) nach diesem Urteil soll es prinzipiell darauf ankommen, ob es sich bei dem Norminhalt um eine freie Entscheidung des Unternehmens selbst handelt oder ob dieser vom Staat zumindest grundsätzlich vorgegeben wurde. Es lässt sich durchaus die Auffassung vertreten, dass die vom Gerichtshof in dem Urteil „Wouters“ formulierten Kriterien letztlich als Konkretisierung dieses (zutreffenden) Gedankens gemeint waren. Es bleibt zudem zu beachten, dass die unterschiedliche Ausgestaltung des staatlichen Genehmigungsverfahrens in den §§ 13 und 14 BörsenG keinen qualitativen Unterschied der Aufsicht begründet, der letztlich alleine eine unterschiedliche Zurechnung der Normen rechtfertigen könnte. Der staatliche Einfluss auf die Börsenordnungen erscheint tatsächlich nicht größer oder kleiner als der auf die Gebührenordnungen. Für das deutsche Recht ist daraus, wie bereits angedeutet, der Schluss zu ziehen, dass der Erlass von Börsenordnungen ebenso wie der von Gebührenordnungen anhand des GWB zu kontrollieren ist (§ 6 Abs. 1 BörsenG). Für das Gemeinschaftsrecht folgt dasselbe aus der „Staatsferne“ dieser Satzungen, wenn man die Wettbewerbsregeln (Art. 81 und 82 EGV) im Lichte der Rechtsprechung des Gerichtshofs liest. Der Schutz der Börsenteilnehmer kann dadurch nur verstärkt werden. Für das Börsenrecht folgt daraus, dass bei zutreffendem Verständnis der vom Gerichtshof aufgestellten Abgrenzungskriterien der Erlass der Börsenordnungen ebenso wie der der Gebührenordnungen an den Wettbewerbsregeln zu messen ist, weil die sachliche Entscheidung über die inhaltliche Ausgestaltung der Vorschriften im Ergebnis vom Börsenrat selbst und nicht vom Staat getroffen wird. Eine Ausnahme ist lediglich anzuerkennen, soweit eine Vorschrift auf ausdrückliches Verlangen der Börsenaufsichtsbehörde nach § 13 Abs. 5 Satz 2 BörsenG in die Börsenordnung aufgenommen wurde. III. Börsenmonopole und Gemeinschaftsrecht Zu den schwierigsten Fragen des Gemeinschaftsrechts gehört das Problem, welche Grenzen der EGV den Dienstleistungsmonopolen der Mitgliedstaaten zieht. Der Gerichtshof hat sich diesem Problem bekanntlich aus unterschiedlichen Richtungen genähert und auf diese Weise mittlerweile eine ganze Reihe substantieller Kriterien entwickelt, anhand derer die Zulässigkeit mitgliedstaatlicher Dienstleistungsmonopole überprüft werden kann31. Bevor darauf jedoch näher eingegangen werden kann, ist zunächst die Frage zu klären, ob mit Bezug auf die deutschen Börsen überhaupt von einem Dienstleistungsmonopol die Rede sein kann. Die Frage ist deshalb zweifelhaft, weil seit dem Jahre 2003 durch die §§ 59 und 60 BörsenG auch „börsenähnliche Einrichtungen“ privater Träger in Konkurrenz zu den 31 Wegen der Einzelheiten s. Emmerich, in: Dauses, Handvbuch des EU-Wirtschaftsrechts (Loseblatt), H II Rn. 36 – 83; ders., in: Beiträge zum Wohnungseigentum und zum Mietrecht, 2. FS Seuß, 1997, S. 109 ff.
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staatlichen Börsen zugelassen sind, worunter man in erster Linie Handelssysteme von Banken zu verstehen hat.32 1. Dienstleistungsmonopol? a) Bis zur Zulassung börsenähnlicher Einrichtungen durch die §§ 59 und 60 BörsenG konnte mit Bezug auf die Börsen in Deutschland ohne Bedenken von einem Dienstleistungsmonopol gesprochen werden. Zwar gab es schon immer mehrere Börsen, neben der alles überragenden Frankfurter Wertpapierbörse mit einem Marktanteil von 85% z. B. noch kleinere Börsen in Bremen, Hamburg, Stuttgart und München. Aber alle diese Börsen waren und sind Anstalten des öffentlichen Rechts und damit Teil desselben einen Mitgliedstaates Bundesrepublik Deutschland und damit aus Sicht des Gemeinschaftsrechts, das auf die staatsrechtliche Gliederung der Mitgliedstaaten keine Rücksicht nimmt, allenfalls organisatorisch verselbständigte Teile des einen staatlichen Unternehmens „Börse“33. Dass dies so ist, zeigt schon die einfache Überlegung, dass die gegebene Börsenorganisation das Erbringen von Börsenleistungen im Inland durch ausländische Konkurrenten genauso ausschließt, wie es bei Errichtung eines einzigen Monopolunternehmens der Fall wäre. Die Mitgliedstaaten können sich der Reichweite der Wettbewerbsregeln nicht dadurch entziehen, dass sie ihre wirtschaftliche Tätigkeit auf unterschiedliche Hoheitsträger aufteilen und ihr damit auf den ersten Blick den Charakter eines (allemal problematischen) Monopols nehmen. Dagegen kann auch nicht eingewandt werden, dass es privaten Unternehmen an sich schon immer möglich war, als Börsenträger wirtschaftlicher Börsenbetreiber zu werden. Denn diese Möglichkeit ist einmal rein theoretisch, da kein Anspruch auf Erteilung einer Börsengenehmigung besteht. Der private Börsenträger hat zum anderen gar keinen Einfluss auf die unternehmerischen Entscheidungen der Börsenorgane, insbesondere auf die Gestaltung der Dienstleistungen, Preise oder anderer Wettbewerbsparameter. Eine derart auf die Übernahme wirtschaftlicher Risiken und Chancen beschränkte Rolle des privaten Unternehmens stellt das grundsätzliche öffentliche Börsenmonopol aber offenkundig nicht in Frage. Im Ergebnis umfasste damit das Monopol die gesamte Börsentätigkeit im materiellen Sinne, worunter man in der Regel die organisierte Zusammenführung von Angebot und Nachfrage mit dem Ziel der Herbeiführung standardisierter Geschäftsabschlüsse unter kaufmännischen Handelsteilnehmern auf der Grundlage einer geregelten und transparenten Preisbildung unter Feststellung der dadurch zustande gekommenen Börsenpreise versteht.34 32 Zu den Erscheinungsformen und Voraussetzungen börsenähnlicher Einrichtungen vgl. ausführlich Spindler, WM 2002, S. 1325 ff. 33 Vgl. in diesem Sinne für die Gesetzgebung EuGH Slg. 1991, I-6001 (6008 Tz. 24); 2003, I-732 (742) = EuZW 2003, S. 186 (188 Tz. 27). 34 Schäfer / Peterhoff (Fn. 2), § 1 BörsenG Rn. 19; Schwark (Fn. 3), § 1 Rn. 5; Hdb des Kapitalanlagerechts / Franke, 2. Aufl., § 2 Rn. 9; vgl. ferner Kümpel (Fn. 2), Tz. 17.29 ff.
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Mit Inkrafttreten des § 59 BörsenG in der Fassung des 4. Finanzmarktförderungsgesetzes hat sich die Rechtslage jedoch geändert. Die Vorschrift regelt den Betrieb „börsenähnlicher Einrichtungen“ durch (privatrechtliche) Kreditinstitute und gleichstehende Unternehmen. Unter einer „börsenähnlichen Einrichtung“ ist dabei nichts anderes als eine elektronische Börse im materiellen Sinne zu verstehen35. Nach dem Willen des Gesetzgebers36 ermöglicht diese Vorschrift daher den privatrechtlichen Betrieb von Börsen im materiellen Sinne, da sie ein Wahlrecht zwischen der Genehmigung als Börse und der Beaufsichtigung als „börsenähnlicher Einrichtung“ begründet, freilich, um es zu wiederholen, allein für Kreditinstitute und gleichstehende Unternehmen und damit keineswegs für jedermann. Die Vorschrift hebt damit in beschränktem Umfang das Verbot mit Erlaubnisvorbehalt des § 1 Abs. 1 BörsenG für institutsbetriebene elektronische Börsen auf, schränkt den Zwang zur öffentlich-rechtlichen Organisation der Börse ein und beseitigt (nur) insoweit in der Tat das oben festgestellte Dienstleistungsmonopol. Einschränkungen enthalten aber nach wie vor insbesondere das Erfordernis eines „elektronischen“ Handelssystems sowie das der Institutseigenschaft des Betreibers. Das Dienstleistungsmonopol besteht dagegen fort, soweit Börsen betroffen sind, bei denen der Handel nicht ausschließlich in elektronischer Form abläuft. Das Monopol erfasst somit weiterhin den Parketthandel sowie Einrichtungen, die sowohl einen Parketthandel als auch ein angeschlossenes elektronisches System betreiben. Obendrein genießt nach wie vor ein bestimmtes, zudem besonders wichtiges Börsensegment in rechtlicher Hinsicht eine Sonderstellung. Es handelt sich dabei insbesondere um die „geregelten Märkte“ der Wertpapierdienstleistungsrichtlinie von 199337 bzw. um die „organisierten Märkte“ des § 2 Abs. 5 WpHG. Diese Eigenschaft können die Märkte der „börsenähnlichen Einrichtungen“ nicht erlangen, da dafür Voraussetzung wäre, dass Funktionsbedingungen, Zugangsbedingungen für Marktteilnehmer und Zulassungsbedingungen zur Notierung „durch Bestimmungen festgelegt sind, die von den zuständigen Behörden erlassen oder genehmigt wurden“ (Art. 1 Nr. 13 der Wertpapierdienstleistungsrichtlinie). Die genannten Voraussetzungen können jedoch „börsenähnlichen Einrichtungen“ nicht erfüllen, da in den §§ 59 und 60 BörsenG keine Befugnis der Börsenaufsichtsbehörde zum Erlass oder zur Genehmigung von Regelwerken börsenähnlicher Einrichtungen vorgesehen ist. Die „geregelten Märkte“ genießen nun aber im Rahmen der Wertpapierdienstleistungsrichtlinie eine Sonderstellung. Zu nennen sind insbesondere die Möglichkeit der Mitgliedstaaten, die Ausführung bestimmter Geschäfte über „geregelte Märkte“ vorzuschreiben (Art. 14 Abs. 3 a. a. O.), sowie das Zugangsrecht für Wertpapierunternehmen aus anderen Mitgliedstaaten (Art. 15 a. a. O.). 35 Reuschle / Fleckner, BKR 2002, S. 624; Balzer, JbJgZivilRWiss. 2002, S. 110 f.; Spindler, WM 2002, S. 1333. 36 Vgl. BT-Drucks. 14 / 8601, S. 16; Mülbert, JZ 2002, S. 829; Balzer, JbJgZivilRWiss. 2002, S. 111; Reuschle / Fleckner, BKR 2002, S. 625; a.A. allein Spindler, WM 2002, S. 1333. 37 Richtlinie 93 / 22 / EWG, ABl 1993 Nr. L 141 / 27.
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An „börsenähnlichen Einrichtungen“ findet ferner keine „amtliche Notierung“ im Sinne der Wertpapierzulassungsrichtlinie von 200138 statt, so dass die Koordinierung und die gegenseitigen Anerkennungspflichten dieser Richtlinie gleichfalls weiterhin allein die öffentlich-rechtlichen Börsen betreffen. Die strengen Voraussetzungen dieser Richtlinie sorgen zudem dafür, dass mit der amtlichen Notierung europaweit bekannte und anerkannte Qualitätsanforderungen verbunden sind, die von Emittenten durch die Notierung dokumentiert werden können. Da durch die Notierung die Zulassung zu entsprechenden Auslandsmärkten erleichtert wird, kann zumindest aus Sicht der Emittenten die Notierung bei einer „börsenähnlichen Einrichtung“ die amtliche Notierung nicht ersetzen. Daraus folgt, dass gerade in Hinblick auf die durch das europäische Recht vorgegebene Segmentierung der Handelsmärkte das Dienstleistungsmonopol seine Bedeutung behalten hat. Eine elektronische Handelsplattform kann zwar heute auch durch Private betrieben werden (§ 59 BörsenG). Der Zugang zu den intensiv staatlich regulierten und beaufsichtigten Handelssegmenten setzt aber weiterhin die Errichtung der Börse als Anstalt des öffentlichen Rechts voraus. Nur diese Segmente erfüllen zudem durch die staatliche Aufsicht die Qualitätsanforderungen vieler, zumal internationaler Anleger, da eine Börse nur so dokumentieren kann, dass die Regeln und Abläufe höchsten Standards entsprechen und die Aufrechterhaltung dieser Anforderungen durch laufende Überwachung staatlicher Stellen gewährleistet wird. 2. Zulässigkeit des Dienstleistungsmonopols a) Besteht somit das Dienstleistungsmonopol für Börsen, wenn auch eingeschränkt, fort, so stellt sich zugleich die weitere Frage nach den Zulässigkeitsgrenzen für ein derartiges Dienstleistungsmonopol aufgrund des EGV. Natürlich kann hier nicht die ganze ausgedehnte Rechtsprechung des EuGH zu Dienstleistungsmonopolen rekapituliert werden39. Es soll vielmehr lediglich auf einige sich aus dieser Praxis ergebende Kriterien für die Zulässigkeit von Dienstleistungsmonopolen hingewiesen werden, um deutlich zu machen, dass die in Deutschland seit jeher übliche öffentlich-rechtliche Organisation der Börsen keineswegs so unproblematisch und selbstverständlich ist wie bisher vielfach angenommen. Der Gerichtshof ist bislang in der Regel zwar von der grundsätzlichen Zulässigkeit von Dienstleistungsmonopolen ausgegangen, kontrolliert ihre Verhaltensweisen aber streng anhand des Missbrauchsverbots des Art. 82 EGV, da Dienstleistungsmonopole in aller Regel über eine beherrschende Stellung in einem wesentlichen Teil des Gemeinsamen Markts verfügen. Daraus können sich auch ZulässigRichtlinie 2001 / 34 / EG, ABl 2001 Nr. L 184 / 1. Nachw. s. o. Fn. 31 sowie zuletzt EuGH Slg. 2000, I-3777 (3795 ff.) „Sydhavnens Sten & Grus“; 2000, I-6497 (6533 f.) „Pavlov“; Slg. 2001, I-4142 (4160 ff.) „TNT Traco“ = EuZW 2001, S. 408; Slg. 2001, I-8137 (8151 ff.) „Glöckner“. 38 39
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keitsschranken ergeben, dies dann, wenn die Mitgliedstaaten durch ihre Gesetzgebung das Monopolunternehmen in eine Lage versetzen, in der missbräuchliche Verhaltensweisen des Monopols nahe liegen, wobei insbesondere an Diskriminierungen zwischen Handelspartnern sowie an die grundlose Ausdehnung des Monopols auf Nachbarmärkte zu denken ist40. Ansatzpunkt für den Gerichtshof ist dann in der Regel Art. 86 EGV (= ex-Art. 90) in Verbindung mit dem Missbrauchsverbot des Art. 82 EGV. Das deutsche Börsenmonopol ist folglich als erstes unter diesem Gesichtspunkt auf seine Zulässigkeit zu überprüfen (u. 2b). Daneben finden sich freilich in der Rechtsprechung des EuGH auch noch andere Ansätze zur Kontrolle mitgliedstaatlicher Dienstleistungsmonopole auf ihre Vereinbarkeit mit dem EGV. Hervorzuheben sind der Ansatz bei den Grundfreiheiten des Vertrages (u. 2c) sowie allein bei Art. 86 EGV (Stichwort: Corbeau-Doktrin, u. 2d). b) Eine Kontrolle der Börsenordnungen an Hand der Art. 82 und 86 EGV gewinnt vor allem dann Bedeutung, wenn man – entgegen der hier vertretenen Auffassung (o. II 2) – die Börsenordnungen zum Bereich der staatlichen Gesetzgebung rechnet und deshalb dem unmittelbaren Zugriff der Wettbewerbsregeln entzieht. Enthält die Börsenordnung einer marktbeherrschenden Börse Vorschriften, die als unternehmerische Entscheidungen einen Missbrauch begründeten, so führt dies dann zwingend (wenigstens) zu einem Verstoß des Mietgliedstaats selbst gegen Art. 86 EGV. Das zeigt folgende Überlegung: Die Börse ist als Verwaltungsträger verpflichtet, die Entscheidungen der betreffenden Börsenordnung zu vollziehen. Sobald sie also ihre Tätigkeit aufgrund der Börsenordnung aufnimmt, kann sie die missbräuchliche Verhaltensweise nicht mehr vermeiden, woraus dann nach dem Gesagten der Verstoß des Mitgliedstaats gegen Art. 86 EGV folgt, da die missbräuchliche Ausnutzung der marktbeherrschenden Stellung eines öffentlichen Unternehmens unter dieser Voraussetzung bereits durch die Gesetzgebung vorgeschrieben und dadurch unvermeidbar gemacht wird.41 Die Anwendung der Wettbewerbsregeln in Verbindung mit Art. 86 Abs. 1 EGV unterwirft die Börsenorgane somit auch dann bei der Ausgestaltung der Börsenordnungen den Wettbewerbsregeln, wenn man sie als staatliche Normsetzung behandelt. Der Unterschied zu der hier (s. o. I 2) befürworteten direkten Anwendung der Wettbewerbsregeln besteht darin, dass bei Anwendung des Art. 86 Abs. 1 EGV der Verstoß nicht dem Unternehmen selbst, also der Börse, sondern dem Mitgliedstaat zugerechnet wird. Konsequenz daraus ist, dass die Kommission „lediglich“ Maßnahmen nach Art. 86 Abs. 3 EGV ergreifen, nicht aber Sanktionen gegen das Börsenunternehmen verhängen kann. c) Noch nicht beantwortet ist damit die Frage nach der Zulässigkeit des Dienstleistungsmonopols selbst.42 Dabei ist zu berücksichtigen, dass Dienstleistungs40 S. mit Nachw. Emmerich, in: 2. FS Seuß, S. 109 (115 ff.); ders. (Fn. 31), H II Rn. 69 ff. m. Nachw. 41 Zur Ausnahmevorschrift des Art. 86 Abs. 2 EGV siehe unten 2d. 42 Hierzu ausführlich Mues (Fn. 2), S. 143 ff.
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monopole die vermutlich stärkste Beschränkung der Vertragsfreiheiten darstellen, die überhaupt denkbar ist, da durch das Monopol sämtliche in- und ausländischen Unternehmen von dem Monopolmarkt ausgesperrt werden. Den Gerichtshof hat dies dazu veranlasst, in einer Reihe von Urteilen aus den Vertragsfreiheiten substantielle Schranken für Dienstleistungsmonopole – jenseits der immer nur im Einzelfall eingreifenden Art. 82 und 86 EGV – zu entwickeln. In erster Linie, aber nicht ausschließlich setzt er dafür bei der Dienstleistungsfreiheit an. Dies zu betonen, ist deshalb so wichtig, weil im vorliegenden Fall in erster Linie nicht die Dienstleistungsfreiheit, sondern die Niederlassungsfreiheit betroffen ist, da das BörsenG nur die Errichtung einer Börse im Inland regelt, nicht dagegen die Erbringung von Börsenleistungen im Wege des grenzüberschreitenden Dienstleistungsverkehrs. Dies ergibt sich bereits aus § 37m WpHG, der für EG-ausländische Börsen bei Schaffung technischer Möglichkeiten, vom Inland aus unmittelbar am Handel teilzunehmen, lediglich eine Anzeigepflicht vorsieht.43 Die Inanspruchnahme ausländischer Börsen durch Inländer wird daher nicht beschränkt, sondern lediglich die unter die Niederlassungsfreiheit fallende Errichtung einer Börse im Inland.44 Hieraus ergibt sich, dass die Maßstäbe für die Zulässigkeit des öffentlichen Börsenmonopols in Deutschland letztlich wohl den Art. 42 ff. EGV zu entnehmen sind.45 Da die Ausnahmen der Art. 45, 46 EGV hier nicht einschlägig sind46, bedarf es der Prüfung, ob die Beschränkung nach allgemeinen Grundsätzen gerechtfertigt ist. Dafür wäre Voraussetzung, dass zwingende Gründe des Allgemeinwohls für die Beschränkung vorliegen, weiter ihre diskriminierungsfreie Anwendung sowie die Geeignetheit und Erforderlichkeit der Maßnahme.47 Zwar ist die Schaffung effizienter und vertrauenswürdiger Kapitalmarktstrukturen, die insbesondere eine ausreichende staatliche Aufsicht über die Börsen erfordert48, durchaus als ein zwingender Grund des Allgemeinwohls anzuerkennen. Dafür ist der Ausschluss privater Börsen aber weder geeignet noch erforderlich, da die staatliche Aufsicht durch die Börsenaufsichtsbehörde neben die öffentlich43 Vgl. auch das grenzüberschreitende Zugangsrecht auf Märkte, bei denen für den Handel keine „physische Anwesenheit“ erforderlich ist, nach Art. 15 Abs. 4 der Richtlinie 93 / 22 / EWG. 44 Die Erbringung von Dienstleistungen durch vorübergehende Tätigkeit in Deutschland (im Sinne von Art. 50 Abs. 3 EGV) spielt bezüglich des Börsenwesens keine Rolle. 45 Ebenso Mues (Fn. 2), S. 143 ff. 46 Insbesondere eine Rechtfertigung nach Art. 45 EGV scheidet aus, da die Ausübung der heute der Börse verliehenen hoheitlichen Befugnisse sich in einer privatrechtlichen Börsenorganisation unproblematisch von der unternehmerischen Tätigkeit trennen läßt; s. hierzu ausführlich Mues (Fn. 2), S. 144 ff. 47 EuGH Slg. 1993, I-1689 (1697, Tz. 32) „Kraus“; Slg. 1995, I-4186 (4197 f., Tz. 37) „Gebhard“; Slg. 1999, I-1484 (1495, Tz. 34) Çentros“. 48 Zu den von der IOSCO formulierten Anforderungen an die Börsenregulierung vgl. IOSCO, Objectives and Principles of Securities Regulation, 2002, Principles 26 bis 30, S. 39 ff.
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rechtliche Organisation tritt, diese also ergänzt und nicht etwa mit ihr identisch ist. Daraus folgt, dass die öffentlich-rechtliche Organisation die staatliche Aufsicht von vornherein nicht ersetzen kann, nach der Konzeption des BörsenG auch gar nicht ersetzen soll und somit in Hinblick auf das Ziel der Schaffung hinreichender Aufsichtsstrukturen ungeeignet ist. Auf jeden Fall fehlt es aber an der Erforderlichkeit des Eingriffs, da die Erfahrungen im Ausland zeigen, dass private Börsenorganisationen effizienten und vertrauenswürdigen Kapitalmarktstrukturen nicht entgegenstehen, sofern eine staatliche Regulierung und Beaufsichtigung ihrer Tätigkeit erfolgt. Das beliebte Argument, durch die Beschränkung des Zugangs zu dem Börsenmarkt solle eine Zersplitterung der Märkte verhindert und dadurch eine hinreichende Liquidität des Handels sichergestellt werden, vermag eine vollständige Monopolisierung des Börsenhandels gleichfalls nicht zu rechtfertigen. Auch insoweit ist die öffentlich-rechtliche Börsenorganisation ungeeignet, da sie gerade nicht der Schaffung eines einheitlichen Handels an nur einer Börse dient. Jedenfalls fehlt es insoweit ebenfalls an der Erforderlichkeit des Eingriffs, weil angesichts der Größe des deutschen Kapitalmarkts die hinreichende Liquidität des Handels nicht durch die Zulassung einer Anzahl miteinander konkurrierender Börsen in Frage gestellt wird.49 Zwingende Gründe des Gemeinwohls kommen somit zwar durchaus für die Rechtfertigung von Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit für Börsenunternehmen in Betracht. Ein vollständiger Ausschluss privater Börsen ist aber nicht als geeignet und erforderlich anzusehen. Die Richtigkeit dieses Ergebnisses wird dadurch bestätigt, dass in vielen anderen Ländern eine private Organisation des Börsenwesens existiert, ohne dass die Effizienz dieser Kapitalmärkte dadurch in Frage gestellt würde.50 Vorbehaltlich des Eingreifens der Ausnahmevorschrift des Art. 86 Abs. 2 EGV51 bedeutet dies, dass die deutsche öffentlich-rechtliche Börsenorganisation als Verstoß gegen Art. 86 Abs. 1 EGV in Verbindung mit der Niederlassungsfreiheit (Art. 42 EGV) anzusehen ist. d) Über die Grundfreiheiten hinaus hat der Gerichtshof zumindest in einem Fall für die Prüfung der Zulässigkeit eines Dienstleistungsmonopols allein auf Art. 86 EGV zurückgegriffen und dessen Rechtmäßigkeit anhand der Ausnahme des Art. 86 Abs. 2 EGV gemessen (sog. Corbeau-Doktrin).52 Nach diesem Ansatz dürfen die Mitgliedstaaten Ausschließlichkeitsrechte nur Dienstleistungsunternehmen im Sinne von Art. 86 Abs. 2 EGV gewähren, und auch nur, soweit der Ausschluss Im Ergebnis wie hier Mues (Fn. 2), S. 146 ff. Vgl. dazu die rechtsvergleichenden Beiträge in Hopt / Rudolph / Baum, Börsenreform, 1997, S. 593 ff. Das Modell einer privatrechtlichen, auf dem Wettbewerbsprinzip beruhenden Börsenorganisation für Deutschland entwerfen Hopt / Baum, ebenda, S. 287 ff.; sowie Mues (Fn. 2), S. 161 ff. 51 Dazu sogleich 2d). 52 EuGH, Slg. 1993, I-2563 (2568, Tz. 12 ff.) Çorbeau“. 49 50
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des Wettbewerbs erforderlich ist, „um die Erfüllung der den Unternehmen . . . übertragenen besonderen Aufgabe sicherzustellen.“ 53 Art. 86 Abs. 2 EGV wird so zum alleinigen Zulässigkeitsmaßstab für Dienstleistungsmonopole.54 Legt man diesen Maßstab an die deutsche öffentlich-rechtliche Börsenorganisation an, so wird deutlich, dass die Voraussetzungen der Anwendung des Art. 86 Abs. 2 EGV nicht gegeben sind, da die Aufgabenerfüllung, wie gezeigt, durch die Zulassung privater Börsen nicht gefährdet wird. Zwar mag der Börsenbetrieb als Dienstleistung von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse anzusehen sein. Für die Rechtfertigung des Monopols müsste jedoch der Ausschluß privater Börsen geradezu erforderlich sein, um die Erfüllung der Aufgabe der öffentlich-rechtlichen Börsen sicherzustellen. Die Bereitstellung effizienter und vertrauenswürdiger Kapitalmarktstrukturen durch diese Börsen müsste also durch die private Konkurrenz i.S. des Art. 86 Abs. 2 Satz 1 EGV „rechtlich oder tatsächlich (geradezu) verhindert“ werden. Auch insoweit versagen die bereits angesprochenen Argumente der Liquidität der Finanzmärkte und der Schaffung hinreichender Aufsichtsstrukturen. Es sind hier keine anderen Maßstäbe als im Rahmen der Niederlassungsfreiheit anzulegen. Weder setzt ein hinreichend liquider Markt einen vollständigen Ausschluß privater Konkurrenten voraus, noch steht die privatrechtliche Börsenorganisation einer effektiven Beaufsichtigung durch die Börsenaufsichtsbehörden entgegen. Von einer Verhinderung der Aufgabenerfüllung der Börse i.S. des Art. 86 Abs. 2 Satz 1 EGV kann daher keine Rede sein. IV. Schluss Das Börsenrecht ist ein schönes Beispiel dafür, in welchem Ausmaß das Gemeinschaftsrecht bisher weithin als unantastbar angesehene Strukturen der Mitgliedstaaten aufzubrechen geeignet ist. Das europäische Primärrecht verlangt nicht nur die Beachtung der Wettbewerbsregeln bei der Normsetzung der Börsen – gänzlich unabhängig von ihrer öffentlich-rechtlichen Ausgestaltung –, sondern auch die Beseitigung des seit über einem Jahrhundert verfestigten, öffentlichen Börsenmonopols in Deutschland. Es ist an der Zeit, dass die Kommission nunmehr (endlich), das Primärrecht gegen den (sicher zu erwartenden) Widerstand der Bundesrepublik Deutschland und der Lobby der Deutschen Börse AG, die die Monopolrente der derzeitigen Struktur im wesentlichen vereinnahmt, durch Maßnahmen nach Art. 86 Abs. 3 EGV durchsetzt und so auch im Bereich des Börsenwesens der Niederlassungsfreiheit zur vollen Wirksamkeit verhilft. Modelle für eine privatrechtliche Umgestaltung des deutschen Börsenrechts liegen bereit55. Ihre Umset53 EuGH (vorige N), Tz. 14; s. Emmerich, FS Seuß, S. 119; Emmerich, Handbuch (Fn. 31), Rn. 78 ff.. 54 Emmerich, Handbuch (Fn. 31), H. II. Rn. 80. 55 Nachw. o. Fn. 50.
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zung ist – wie gezeigt – keine bloße wirtschaftspolitische Entscheidung, sondern eine zwingende Vorgabe des Gemeinschaftsrechts. Es bleibt dabei: Der EGV ist das größte Deregulierungsprojekt der Geschichte (sofern man denn bereit ist, ihn anzuwenden).
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Kapitalmarktrechtliche Transparenzpflicht und Marktmissbrauchsverbot nach dem Vierten Finanzmarktförderungsgesetz im Spannungsfeld von Markt- und Anlegerschutz Von Bernd Fahrholz
I. Vorbemerkung Das Vierte Finanzmarktförderungsgesetz (im Folgenden: 4. FMFG)1 ist der jüngste Baustein in einer ganzen Reihe von Finanzmarktförderungsgesetzen2 der 90er Jahre des vergangenen Jahrhunderts, mit denen sich eine Entwicklung weg von rechtsform- und institutionenbezogenen Regelungsperspektiven und hin zu einem eigenständigen Kapitalmarktrecht vollzog3. Es ist zum einen als gesetzgeberische Reaktionsoffensive, nicht zuletzt auf die zu Tage getretenen Missstände, insbesondere während der Kapitalmarktentwicklungen zum Ende der 90er Jahre, zu verstehen4. Zum anderen nimmt es vom gedanklichen Ansatz her bestimmte Regelungen der EU-Marktmissbrauchsrichtlinie 5 vorweg. 1 Gesetz zur Fortentwicklung des Finanzplatzes Deutschland (4. Finanzmarktförderungsgesetz); BGBl I, 2002, 2010 ff.; in Kraft getreten am 1. 7. 2002. 2 Das Gesetz zur Verbesserung der Rahmenbedingungen der Finanzmärkte (Finanzmarktförderungsgesetz) vom 22. 2. 1990, BGBl I, 266 ff., konzentrierte sich auf das Recht der Investmentgesellschaften bzw. die Erweiterung ihrer Anlagemöglichkeiten sowie auf die Abschaffung der Gesellschafts- und der Börsenumsatzsteuer. Das 2. Finanzmarktförderungsgesetz vom 26. 7. 1994, BGBl I, 1749 ff., hatte seinen Schwerpunkt in der Reform der Wertpapieraufsicht und dem Verbot des Insiderhandels durch Schaffung des WpHG, das Gesetz zur weiteren Fortentwicklung des Finanzplatzes Deutschland (3. Finanzmarktförderungsgesetz) vom 24. 3. 1998, BGBl I, 529 ff., in der Harmonisierung der Mitteilungspflichten des WpHG und des AktG sowie in der erweiterten wertpapierhandelsrechtlichen Aufsicht durch das Bundesaufsichtsamt für den Wertpapierhandel (jetzt Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht – BaFin). 3 H.-D. Assmann / U. H. Schneider, Wertpapierhandelsgesetz, 2. Aufl. 1999, Einl. Rn. 1: Das VerkProspG und das WpHG sind die „Keimzelle“ des kodifikatorisch sich verselbstständigenden Kapitalmarktrechts. Vgl. auch M. Weber, NJW 2003, 18, 19 („Großbaustelle Kapitalmarktrecht“). 4 Vgl. H. Fleischer, NJW 2002, 2977, 2977; C. P. Claussen, BB 2002, 105, mit Handlungsvorschlägen gegen die Vertrauenskrise am Neuen Markt; plakativ auch M. Weber, NJW 2003, 18, 19. Das 4. FMFG greift ebenfalls Reformvorschläge aus dem von der Bundes-
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Bernd Fahrholz
Das 4. FMFG soll seinen Beitrag leisten, den Finanzplatz Deutschland in seiner Leistungsfähigkeit zu stärken und seine internationale Wettbewerbsfähigkeit sicherzustellen6. Mit dieser fast schlagwortartigen Begründung ist nicht anderes umschrieben als das Schutzgut selbst: die ordnungspolitisch abgesicherte Funktionsfähigkeit des deutschen Kapitalmarktes7. An einem effizienten deutschen Kapitalmarkt8 besteht insofern ein öffentliches Interesse, als er in unserer marktwirtschaftlich orientierten Volkswirtschaft seine wirtschaftspolitisch erwünschte Allokationsfunktion des benötigten Investitionskapitals bestmöglich erfüllen soll9. Um diese Funktionsfähigkeit zu sichern, sind einerseits seine rechtlichen Rahmenbedingungen ständig anzupassen an den raschen Strukturwandel an den deutschen und internationalen Kapitalmärkten, der seine Ursache in der Entwicklung der Informations- und Kommunikationstechnik, der zunehmenden Integration des europäischen Finanzmarktes10 und der rechtstatsächlichen Entwicklung einer stärkeren Verlagerung der Unternehmensfinanzierung weg von der traditionellen Kreditfinanzierung durch Banken und hin zu Kapitalmarktfinanzierungen durch Wertpapieremissionen. Gerade letztere Entwicklung geht einher mit einer zunehmenden Nutzung der Aktie als Vermögensanlage weiter Bevölkerungskreise11. So stieg die Zahl der Aktionäre in Deutschland von rd. 3,9 Mio. im Jahr 1997 auf über 6,2 Mio. im Jahr 2000, um sich Ende des 1. Halbjahres 2002 mit rd. 4,7 Mio. auf einem ähnlichen Niveau wie 1998 zu stabilisieren12. Auch wenn zu Beginn des neuen regierung in Auftrag gegebenen Gutachten zur Reform des Finanzplatzes Deutschland auf, das K.-D. Hopt / B. Rudolph / H. Baum, Börsenreform, 1997, S. 1 ff., erstattet haben. 5 Richtlinie 2003 / 6 / EG des Europäischen Parlaments und des Rates über Insider-Geschäfte und Marktmanipulationen (Marktmissbrauch) vom 28. Januar 2003 (Marktmissbrauchsrichtlinie), im Internet abrufbar unter http: // register.consilium.eu.int / pdf / de / 03 / st03 / st03602de03.pdf. 6 BT-Drucks. 14 / 8017, S. 1, 62. 7 BT-Drucks. 12 / 6679, S. 1 zum 2. Finanzmarktförderungsgesetz; siehe H.-D. Assmann / U.H. Schneider, WpHG, 1. Aufl., Vorwort S. V. 8 S. Kümpel / C. Ott, Kapitalmarktrecht, Stand 2001, A. Grundlagen, 1. KapitalmarktrechtEinführung, Rn. 8.179; Beschlussempfehlung und Bericht d. Finanzausschusses des Dt. Bundestages, BT-Drucks. 12 / 7918, S. 102 zum 2. FMFG. 9 Begr. RegE, BT-Drucks. 14 / 8017, S. 62; Allg. zur Allokationsfunktion S. Kümpel / C. Ott, Kapitalmarktrecht, Stand 2001, A. Grundlagen, 1. Kapitalmarktrecht-Einführung, Rn. 8.180. 10 Siehe den Finanzaktionsplan der EU für Finanzdienstleistungen, abrufbar im Internet unter http: //www.europa.eu.int/comm/internal_market/en/finances/actionplan/index.htm. 11 BT-Drucks. 14 / 8017, S. 62; M. Weber, NJW 2003, 18, 19; S. Kümpel, Bank- und Kapitalmarktrecht, 2. Auflage 2000, Rdz. 8.3.; zur Ausgestaltung des Zehn-Punkte-Programms der Bundesregierung, Börsenzeitung 25. 2. 2003, S. 3 „Berlin will für mehr Transparenz an den Kapitalmärkten sorgen“, das in ihrem Finanzmarktförderplan 2006 enthalten ist, abrufbar im Internet unter http: // www.bundesfinanzministerium.de / Investment-und-Vermoegen / Investment-und-Vermoegen-.374.17030 / Artikel / .htm. 12 Vgl. Umfragen Infratest für Deutsches Aktieninstitut e.V. (DAI), DAI-Factbook, Stand Nov. 2002; abrufbar im Internet unter www.dai.de.
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Jahrtausends die Situation an den Kapitalmärkten für eine Bereitschaft insbesondere in Aktien zu investieren nicht besonders förderlich ist, ist davon auszugehen, dass sich dieser Trend langfristig wieder einstellen wird13, insbesondere mit Blick auf die private Vermögensbildung und die vermehrte Notwendigkeit des Aufbaus einer privaten Altersversorgung. Andererseits ist für die Funktionsfähigkeit des Kapitalmarktes ebenso unerlässlich ein angemessener Schutz des Anlegers14 und seines individuellen Vertrauens in die Ordnungsmäßigkeit des Marktes, der in der Informationstransparenz, der Chancengleichheit der Marktteilnehmer und der Fairness des Handelsprozesses seinen Ausdruck findet. In dieses Spannungsfeld zwischen Institutionsschutz (Schutz der Funktionsfähigkeit des Kapitalmarktes als Institution) und Individualschutz des Anlegers15 kodifizierte das 4. FMFG im Wertpapierhandelsgesetz (WpHG) neue Verhaltensnormen. Sie sollen die Transparenz auf den Wertpapiermärkten erhöhen (§ 15a WpHG) und die Marktintegrität über durchsetzbare Verbote der Kurs- und Marktpreismanipulation (§ 20a WpHG) und des Missbrauchs von Ad-hoc-Mitteilungen (§§ 15, 37b, c WpHG) gewährleisten. Ihr Focus ist damit der Zirkulations- oder Sekundärmarkt, ihr Zweck, die Bildung eines „richtigen, wahren“ Marktpreises zu fördern. Die nachfolgenden Darlegungen sollen am Beispiel dieser Vorschriften aufzeigen, ob, wie und in welchem Umfang sie den Individualschutz des Anlegers begründen oder verstärken. Hierbei soll auch auf mögliche Schutzdefizite und Fortentwicklungsmöglichkeiten des Anlegerindividualschutzes eingegangen werden. Gerade beim Anlegerindividualschutz stellt sich insbesondere die Frage seiner inhärenten Begrenzung, nicht zuletzt auch aus Praktikabilitätsgründen.
II. Anlegerschutz durch Neuregelungen zur Markttransparenz und Marktintegrität 1. Ad-hoc-Publizität (§ 15 WpHG) Unter den Neuregelungen zur Markttransparenz dienen die Änderungen bei den bereits mit dem 2. Finanzmarktförderungsgesetz eingeführten Ad-hoc-Publizitätspflichten16 des § 15 WpHG der Tatbestandskonkretisierung und sind daher eher unspektakulär. Siehe dazu Monatsbericht der Deutschen Bundesbank, März 2003, S. 29 ff. BT-Drucks. 14 / 8017, S. 62. 15 Siehe dazu T. Barnert, WM 2002, 1473, 1473; so auch schon R. Preusche, in: T. Heidel, Aktienrecht, 1. Aufl., 2003, Kap. 21, Rn. 3 (S. 2694). 16 Grundlegend Bundesaufsichtsamt für den Wertpapierhandel / Deutsche Börse, Insiderhandelsverbote und Ad-hoc-Publizität nach dem Wertpapierhandelsgesetz, 2. Aufl. 1998. Diese Veröffentlichungspflichten ergänzen die handels- und kapitalmarktrechtliche Regelpublizität. 13 14
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Im Wesentlichen ist zu begrüßen, dass in Ad-hoc-Veröffentlichungen nur im Geschäftsverkehr übliche und untereinander vergleichsfähige Kennzahlen zu verwenden17 sind, ermöglichen sie dem Anleger einen Vergleich mit den zuletzt genutzten Kennzahlen und verhindern sie zugleich, dass Emittenten durch den Wechsel der benutzten Kennzahlen oder die Schaffung „eigener Kreativkennzahlen“ negative Unternehmensentwicklungen verschleiern. Da sich Markttransparenz auch in ihr Gegenteil verkehren kann, wenn Emittenten Ad-hoc-Mitteilungen zu Selbstdarstellungs- und zu Marketingzwecken missbrauchen, was schließlich zu Zeiten des Neuen Marktes und des Börsenbooms Ende der 90er Jahre zu einer wahren Flut von Ad-hoc-Mitteilungen geführt hat18, wurde jetzt folgerichtig das Verbot überflüssiger Ad-hoc-Mitteilungen in das Gesetz19 eingeführt. Des weiteren besteht nunmehr bei veröffentlichten unwahren Tatsachen die Pflicht zur unverzüglichen Veröffentlichung ihrer Berichtigung20. Wesentlich bedeutsamere Neuregelungen sind dagegen die eigenständigen Anspruchsgrundlagen für Schadensersatz gemäß §§ 37 b, c WpHG, auf die später eingegangen wird.
2. Mitteilungs- und Veröffentlichungspflicht sog. Directors’ Dealings (§ 15a WpHG) a) Anwendungsbereich Mit der Regelung in § 15a WpHG ist erstmals eine Pflicht in Deutschland21 gesetzlich normiert worden, sog. Directors’ Dealings publik zu machen22. Danach 17 § 15 Abs. 1 S. 2 WpHG konkretisiert durch Schreiben der BaFin vom 26. 11. 2002, abrufbar im Internet unter www.bafin.de. 18 G. Dreyling, Die Bank 2002, 16, 18; Die Anzahl der Ad-hoc-Mitteilungen stieg von 1995 bis 2000 von (gerundet) 1000 auf 5700 und ging 2001 geringfügig auf 5400 zurück, Jahresberichte BAWe 1995, S. 21; 2000, S. 27; 2001, S. 31. 19 § 15 Abs. 1 Satz 3 WpHG. 20 § 15 Abs. 1 Satz 4 WpHG. 21 Der Transparenzgedanke ist nicht neu: Eine entsprechende Verpflichtung sah bereits – offensichtlich in Anlegung an amerikanische und englische Vorbilder (rechtsvgl. dazu H. Fleischer, NJW 2002, 1217, 1221 u. 1222) – das Regelwerk für den Neuen Markt an der Frankfurter Wertpapierbörse in Ziff. 7.2 der Zulassungsbedingungen vor (abrufbar im Internet unter www.deutsche-börse.com). Die Regierungskommission Çorporate Governance“ beschränkte sich dagegen angesichts des seinerzeit schon weit gediehenen 4. FMFG auf eine ähnlich lautende Regelung in Ziff. 6.6 des Deutschen Corporate Governance Kodex (abrufbar im Internet unter www.corporate-governance-code.de) und ergänzte lediglich um eine Berichtspflicht im Anhang zum Konzernabschluß. 22 Die Vorschrift vermittelt grundsätzlich einen angemessenen Ausgleich zwischen den Interessen der Organmitglieder und dem Kapitalmarkt. Die Organmitglieder sollen – im Interesse einer vom Gesetzgeber (BT-Drucks. 14 / 8017, S. 87 f.) gewünschten Identifikation mit dem „eigenen Unternehmen“ – dessen Wertpapiere auch selbst halten können und dabei in
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haben Vorstands- und Aufsichtsratsmitglieder etc. eines Unternehmens, dessen Wertpapiere zum inländischen Börsenhandel zugelassen sind, sowie deren Ehegatten und Verwandte ersten Grades, dem Emittenten und der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (i.F. BaFin) Transaktionen in Wertpapieren des Emittenten sowie in darauf basierenden Derivaten unverzüglich mitzuteilen23. Der Emittent hat diese Mitteilung unter seiner eigenen Internet-Adresse (Regelfall) oder in einem überregionalen Börsenpflichtblatt zu veröffentlichen und die BaFin hierüber zu informieren24. Hinter der Meldepflicht nach § 15a WpHG steht die Überlegung, dass Verwaltungsmitglieder wie Vorstand und Aufsichtsrat das Unternehmen, dem sie angehören, viel besser kennen als ein Außenstehender. Deshalb kommt ihren Transaktionen in Wertpapieren des „eigenen“ Unternehmens eine „gewisse Indikatorwirkung“ zu25, vor allem dann, wenn Organmitglieder durch Verkauf ihres Aktienengagements beim „eigenen“ Unternehmen aussteigen, was am Neuen Markt nicht selten vorkam26. Dass es sich mit der Indikatorwirkung tatsächlich so verhält, belegt eine Untersuchung des Deutschen Aktieninstitutes e.V.27. Im Beobachtungszeitraum vom März bis August 2001 schnitten Aktien von Unternehmen des Neuen Marktes, deren Vorstände oder Aufsichtsräte Aktien verkauft hatten, in 85% der Fälle anschließend schlechter als der Marktdurchschnitt ab. Insofern ist es grundsätzlich von großer Bedeutung für den Kapitalmarkt, Kenntnis über solche Wertpapiertransaktionen zu erhalten, da sie Anhaltspunkte für die Einschätzung der künftigen Geschäftsaussichten durch die Unternehmensleitung selbst geben, damit die Markttransparenz erhöhen, und, bedingt durch den systemimmanenten Wissensvorsprung von Vorstand und Aufsichtsrat, zugleich potentiellen Insiderihrer Dispositionsfreiheit nicht eingeschränkt sein. Dem Interesse des Kapitalmarktes an einer möglichst weitgehenden Transparenz dieser Geschäfte kommt die Meldepflicht entgegen. 23 Eine generelle Offenlegung des Aktienbesitzes von Organmitgliedern ist damit nicht verbunden. So aber jetzt der Vorschlag der Bundesregierung im Rahmen ihres im Finanzmarktförderplan 2006 enthaltenen 10-Punkte-Programms, siehe Fn. 11. § 28 Abs. 2 Nr. 4 BörsZulVO regelt nur die Aufnahme der Gesamtzahl der von den Verwaltungsmitgliedern gehaltenen Aktien des Emittenten; §§ 21 ff. WpHG sind parallel anwendbar, aber nur einschlägig beim Erreichen, Unter- oder Überschreiten bestimmter Meldeschwellen des Stimmrechtsanteils; Vorschriften für besondere Mitteilungspflichten von Finanzdienstleistungsunternehmen gem. § 33 Abs. 1 Nr. 2, 3 WpHG und § 25a Abs. 1 Nr. 2 KWG sollen hier nicht interessieren. 24 Die anfängliche Kritik (so V. Posegga, BKR 2002, 697, 697; L. Weiler / O. Tollkühn, DB 2002, 1923, 1926; S. Hutter / M. Leppert, NZG 2002, 649, 657), dass eine zentrale Informationsplattform vom Gesetz nicht vorgesehen sei, ist praktisch hinfällig, seitdem das BaFin auf seiner homepage sämtliche Directors’ Dealings-Mitteilungen vorhält. 25 Begr. RegE, BT-Drucks. 14 / 8017, S. 87. 26 Dies führte zu einer entsprechenden Normierung im Regelwerk Neuer Markt, siehe Fn. 21. 27 Stellungnahme zum Entwurf eines Gesetzes zur weiteren Förderung des Finanzplatzes Deutschland vom 22. 2. 2002, im Internet unter www.dai.de; mit ähnlichem Ergebnis Untersuchungen in den USA: siehe H. Fleischer, NJW 2002, 1217, 1220.
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geschäften dieser Verwaltungsmitglieder entgegenwirken können (Vorbeugungsfunktion)28. Nicht zufällig steht deshalb § 15a WpHG rechtssystematisch im Abschnitt über das Insiderrecht. Dabei geht die Vorschrift über dessen Anwendungsbereich hinaus. Da es allein auf die meldepflichtige Wertpapiertransaktion ankommt, erfasst sie auch die „Insiderfälle“, in denen die Kenntnis des Organmitglieds von einer Tatsache noch nicht relevant, d. h. iSd. § 13 Abs. 1 WpHG für die Kursbeeinflussung der Insiderpapiere erheblich ist29.
b) Regelungsfragen beim Tatbestand Das 4. FMFG erstreckt die Meldepflicht über die vom Gesetz als Primärinsider30 angesehenen Organmitglieder hinaus auch auf deren nahe Angehörige und Verwandte ersten Grades. Dies soll Umgehungen verhindern, wenn das Organmitglied relevante meldepflichtige Wertpapiergeschäfte über die Depots naher Angehöriger durchführt. Auffällig ist, dass eine Regelung zu dem auch naheliegenden Fall fehlt, dass ein Organmitglied ein relevantes Wertpapiergeschäft über eine von ihm beherrschte Gesellschaft durchführt. Eine entsprechende Zurechnungsvorschrift wie bei der Mitteilungs- und Veröffentlichungspflicht von Stimmrechtsanteilen an börsennotierten Gesellschaften gibt es nicht31. Die Meldepflicht des § 15a WpHG bezieht sich auf Wertpapiere von Emittenten, die zum inländischen Börsenhandel zugelassen sind. Damit sind die Wertpapiere im Freiverkehr ausgeschlossen, da sie nicht förmlich zum Börsenhandel zugelassen werden32. Zum Anwendungsbereich des Insiderrechts nach § 12 Abs. 1 Nr. 1 WpHG steht dies in einem Wertungswiderspruch. Die Reichweite des Anlegerschutzes bleibt hier insoweit hinter der des Insiderrechts zurück. Die mitteilungspflichtigen Wertpapiertransaktionen beziehen sich auf Aktien des Emittenten oder auf von deren Börsenpreis abhängige Finanzinstrumente oder Rechte. Erfasst sind damit Wandelanleihen33, Optionsscheine, Call- und Put-OptioBT-Drucks. 14 / 8017, S. 63. So schon H. Fleischer, ZIP 2002, 1217, 1220. 30 Begr. RegE, BT-Drucks. 14 / 8017, S. 87. Detailfragen ergeben sich z. B. hinsichtlich der Forderung nach einer „Initiativmeldepflicht“ bei der Bestellung zum Vorstand, so H. Fleischer, ZIP 2002, 1217, 1226. Diese Forderung ist aber abzulehnen, da § 15a WpHG schon von seinem Wortlaut her nur Wertpapiertransaktionen zum Meldegegenstand macht, nicht aber den Aktienbestand eines neuen Organmitglieds. Bedenkenswert dagegen der rechtspolitische Vorschlag von H. Fleischer, ebenda, S. 1225, eine nachwirkende Meldepflicht ausgeschiedener Verwaltungsmitglieder zumindest für einen gewissen Übergangszeitraum vorzusehen. 31 § 22 Abs. 1 WpHG. Eine Tatbestandserweiterung in diese Richtung fordern auch L. Weiler / O. Tollkühn, DB 2002, 1923; S. Hutter / M. Leppert, NZG 2002, 649, 656. 32 § 57 Abs. 1 BörsG. 33 Den Anwendungsbereich dabei weiter differenzierend Rdschr. 17 / 2002 der BaFin vom 5. 9. 2002 unter „Mitteilungspflichtige Geschäfte“, abrufbar im Internet unter www.bafin.de. 28 29
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nen auf Aktien sowie Optionen, die auf Barausgleich gerichtet sind34. Geschäften in Schuldverschreibungen hat der Gesetzgeber dagegen keinen hohen Aussagewert über die Einschätzung der Unternehmensentwicklung durch das Organmitglied beigemessen35. Auslösendes Ereignis für die Meldepflicht36 ist der Erwerb oder die Veräußerung. Dass es hierbei nur auf den Zeitpunkt des Abschlusses des zugrundeliegenden Rechtsgeschäfts und nicht auf den späteren Zeitpunkt des dinglichen Rechtserwerbs ankommen kann, lässt sich aus der Ratio des Gesetzes ermitteln. Da sich ein Insider typischerweise gerade mit dem Abschluss des Verpflichtungsgeschäfts den Vorteil seines Handelns verschafft, das Gesetz aber eben potenziellen Insidergeschäften von Verwaltungsmitgliedern entgegenwirken will, kann nur der Zeitpunkt der schuldrechtlichen Begründung eines Übertragungsanspruchs maßgebend sein, weil ihm die erwähnte Indikatorwirkung für den Anleger im Hinblick auf die Gleichheit seines Informationsstandes zukommt37. Die Meldepflicht entfällt, wenn der Wertpapiererwerb auf arbeitsvertraglicher Grundlage oder als Vergütungsbestandteil erfolgt, in der Praxis also beim Erwerb von Belegschaftsaktien oder von Aktienoptionen durch Vorstandsmitglieder. Fragen wirft die Optionsausübung auf, also wenn das Vorstandsmitglied seine optierten Aktien erhält und diese anschließend verkauft. Der Finanzausschuss38 und ihm folgend die BaFin39 sehen die Optionsausübung als meldepflichtig an. Dagegen sprechen aber gewichtige Gründe. Zum einen handelt es sich regelmäßig um einen Vergütungsbestandteil, der als einheitlicher Vorgang nicht in die Einräumung eines befristeten oder bedingten Angebots zum Aktienerwerb und dessen spätere Annahme (Optionsausübung) zerlegbar ist. Zum anderen würde eine Meldepflicht der Gesetzesratio zuwider laufen. Dem Kapitalmarkt würde das falsche Signal gegeben, das Vorstandsmitglied übe seine Option aus und verkaufe die „bezogenen“ Aktien, weil es die geschäftlichen Aussichten „seines“ Unternehmens negativ einschätzt, während in Wirklichkeit die Optionsausübung einzig davon abhängt, dass sie sich für das Vorstandsmitglied wirtschaftlich rentiert, d. h. dass sie „im Geld“ 34 Bericht des Finanzausschusses, BT-Drucks. 14 / 8601, S. 19; zu weiteren Anwendungsfragen bzgl. Wertpapieren siehe U.H. Schneider, BB 2002, 1817, 1818 (Aktienanleihe), H. J. Letzel, BKR 2002, 862, 866 (REPO-Geschäft). 35 Bericht des Finanzausschusses, BT-Drucks. 14 / 8601, S. 18. 36 Ausnahmetatbestände bestehen in Gestalt einer Bagatell-Meldegrenze, wenn binnen 30 Tagen nicht mehr Wertpapiergeschäfte als im Gegenwert von 25.000 Euro getätigt werden. Auf das Für und Wider einer solchen Regelung soll hier nicht weiter eingegangen werden, da sich ohnehin Änderungsbedarf durch die umzusetzende EU-Marktmissbrauchsrichtlinie (Fn. 5) abzeichnet, die eine solche Beschränkung nicht vorsieht. Dazu im Einzelnen H. Fleischer, ZIP 2002, 1217, 1227. 37 Ebenso U. H. Schneider, BB 2002, 1817, 1818, der zutreffend auf Parallelen bei den Meldepflichten nach §§ 21 ff. WpHG hinweist; so auch BaFin, Rdschr. 17 / 2002 vom 5. 9. 2002 (Fn. 33); dagegen H. Fleischer, ZIP 2002, 1217, 1226, ohne Begründung. 38 Bericht des Finanzausschusses, BT-Drucks. 14 / 8601, S. 19. 39 Rdschr. 17 / 2002 der BaFin vom 5. 9. 2002, siehe Fn. 33.
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ist. Entsprechendes muss dann auch für die Aktienoptionsvariante mit Barausgleich gelten40. Dies führt zur weiteren Überlegung, in welchen Fällen ein Anleger ebenso wenig informationsbedürftig ist, wie etwa bei Transaktionen unter Ehegatten oder Verwandten41, die häufig aus steuerlichen oder persönlichen Beweggründen erfolgen, oder auch bei Schenkungen oder Erbschaften42. Hier vermittelt die Veröffentlichung dieser Transaktionen beim Anleger ebenfalls ein falsches Signal. De lege ferenda wären für solche Fälle zumindest Befreiungsmöglichkeiten von der Veröffentlichungspflicht durch die BaFin wünschenswert43.
3. Verbot der Kurs- und Marktpreismanipulation (§ 20a WpHG) a) Anwendungsbereich Durch das 4. FMFG wurde die bisherige Regelung der Kurs- und Marktpreismanipulation aus dem Börsengesetz (§ 88 a.F.) herausgenommen und modifiziert in das WpHG (§ 20a) eingeführt44. Wie in der Vorgängerregelung unterscheidet der Verbotstatbestand zwischen informations- und handelsgestützten45 Manipulationen und zeigt auf der Rechtsfolgenseite zugleich ein jetzt abgestuftes Sanktionssystem: Danach begeht eine Ordnungswidrigkeit, wer unrichtige Angaben über bewertungserhebliche Umstände eines Vermögenswertes macht oder solche entgegen einer rechtlichen Verpflichtung verschweigt, wenn diese Angaben oder ihr Verschweigen geeignet sind, auf den Börsen- oder Marktpreis dieses Vermögenswertes im Inland, in einem EU-Mitgliedstaat etc. einzuwirken. Ebenso verboten sind handelsgestützte Manipulationen durch „sonstige Täuschungshandlungen“46. Ein Verstoß gegen diese Verbote ist grundsätzlich eine Ordnungswidrigkeit, die in einer zweiten Sanktionsstufe zur Straftat wird, wenn der Manipulator tatsächlich auf den Dazu ausführlich schon U. H. Schneider, BB 2002, 1817, 1820 f. Vgl. Stellungnahme des ZKA zum DiskE des 4. FMFG, Anh. S. 21, im Internet abrufbar unter www. bdb.de; ebenso S. Hutter / M. Lepper, NZG 2002, 649, 657. 42 H. Fleischer, ZIP 2002, 1217, 1227; anders dagegen BaFin, Rdschr. 17 / 2002 vom 5. 9. 2002, a. a. O. (Fn. 33). 43 U.H. Schneider, BB 2002, 1817, 1819 bietet als Lösung zwar zutreffend eine teleologische Reduktion der Meldepflicht auf kapitalmarktrechtlich relevante entgeltliche Wertpapiergeschäfte an. Im Hinblick auf den idR. juristisch nicht vorgebildeten Normadressaten verdient jedoch eine klare gesetzliche Regelung den Vorzug. 44 Dies ist offensichtlich Teil der kapitalmarktrechtlichen Systematisierungsbestrebungen, das Markttransaktionsrecht im WpHG und das Marktorganisationsrecht im BörsG anzusiedeln; in das System passt die auf die BaFin übertragene Überwachungszuständigkeit. B. Rudolph, BB 2002, 1036, 1040. 45 Bei diesen Manipulationen werden die Handelsinformationen verfälscht, z. B. der sich aus den Wertpapierumsätzen ergebende Liquiditätseindruck. 46 § 20a Abs. 2 WpHG. 40 41
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Börsen- oder Marktpreis eines Vermögenswertes eingewirkt hat47. Der BaFin obliegt es, die Einhaltung der Verbotsvorschriften zu überwachen (§ 20 b WpHG). Allen Tatbestandsvarianten gemein ist das Ziel, einen künstlichen Preis zu schaffen, der bei einem unbeeinflussten Zusammentreffen von Angebot und Nachfrage so nicht zustande kommen würde, d. h. zugleich als Tatbestandsvoraussetzung, dass die Manipulation zur Einwirkung auf den Börsen- und Marktpreis geeignet sein muss48. Der Gesetzgeber sah wegen der mangelnden Regelungseffizienz der Vorgängervorschrift Handlungsbedarf49: Die alte Regelung im Börsengesetz50 war nach einhelliger Meinung „totes Recht“51 aus einer ganzen Reihe von Gründen. Im objektiven Tatbestand bestand über die typischen Manipulationsmittel der unrichtigen Angaben über bewertungserhebliche Umstände hinaus stets das Kernproblem in der rechtssicheren Abgrenzung zwischen „normalem Handelsgeschehen durch cleveres Ausnutzen von sich bietenden Marktchancen“ und unerlaubter Manipulation, worauf unten52 noch einzugehen sein wird. Des weiteren forderte die in Rede stehende Regelung im Börsengesetz für alle drei Tathandlungsvarianten im subjektiven Tatbestand die Absicht des Manipulators zur Preisbeeinflussung53, was in der Praxis kaum nachweisbar war54. Hinzu kam ein ungenügendes Aufsichtsinstrumentarium: Es fehlte schlicht die Überwachung der Einhaltung dieser Verbote durch eine Aufsichtsbehörde mit entsprechenden Ermittlungsbefugnissen55. Auch wenn für die Strafverfolgung die Staatsanwaltschaft zuständig war, standen etwaigen Ermittlungen rein tatsächliche Hindernisse entgegen. Durch Kursmanipulation geschädigte Anleger hatten im Regelfall keine zivilrechtlichen Schadensersatzansprüche gegen einen Manipulator, weil § 88 BörsG a.F. nicht als Schutzgesetz im Sinne des § 823 Abs. 2 BGB angesehen wurde56. Infolgedessen bestand für sie § 38 Abs. 1 Nr. 4 WpHG. Hierin verdeutlicht sich das überindividuelle Schutzgut der Zuverlässigkeit und Wahrheit der Preisbildung als Voraussetzung für die Funktionsfähigkeit organisierter Märkte. 49 BT-Drucks. 14 / 8017, S. 64; das Bundesaufsichtsamt für den Wertpapierhandel (BAWe, jetzt BaFin) brachte im Jahr 2000 20 Fälle mit Verdachtsmomenten auf Kursmanipulation der Staatsanwaltschaft zur Kenntnis, im Jahr 2001 waren es noch 3 Fälle: Jahresberichte BAWe 2000, S. 24 u. 2001, S. 27, abrufbar im Internet unter www.bafin.de. 50 § 88 BörsG a.F. 51 M. Weber, NJW 2003, 18, 20; U. Lenzen, ZBB 2002, 279, 280, auch zur Historie; K. Altenhain, BB 2002, 1874, 1874; H. Fleischer, NJW 2002, 2977, 2978 „rechtspraktisch wirkungslos“. 52 In Bezug auf § 20a WpHG siehe II. 3. b). 53 Der Wille des Manipulators musste darauf gerichtet sein, mit seinem Verhalten den Preis zu beeinflussen; U. Lenzen, ZBB 2002, 279, 281. 54 U. Lenzen, Unerlaubte Eingriffe in die Börsenkursbildung, 2000, S. 3, 9; K. Altenhain, BB 2002, 1874, 1875. 55 K.-D. Hopt / B. Rudolph / H. Baum (Fn. 4), 1997, S. 440. 56 LG Augsburg (Infomatec II), WM 2001, 1944 ff., aufgehoben durch OLG München (Infomatec II) ZIP 2002, 1989 ff.; siehe dazu ausführlich unten III. 3. 47 48
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kein besonderer Anreiz zur Anzeige bei der Staatsanwaltschaft, weil sie deren Ermittlungsergebnisse nicht für ihre Schadensersatzzwecke nutzen konnten57. Vor diesem Hintergrund ist es nicht verwunderlich, dass eine Rechtsprechung zur alten Norm im Börsengesetz nicht feststellbar ist. b) Regelungsfragen beim Tatbestand Der sachliche Anwendungsbereich erstreckt sich auf die im Gesetz normierten Vermögenswerte, also Wertpapiere, Geldmarktinstrumente, Derivate, Rechte auf Zeichnung58, ausländische Zahlungsmittel und Waren, die zum Börsenhandel an einer Inlandsbörse oder einem organisierten Markt in einem EU-Mitgliedsstaat etc. zugelassen oder in den hiesigen Freiverkehr einbezogen sein müssen59. Auf den „Ort“ der Manipulationshandlung kommt es nicht an. Das bedeutet, dass eine Manipulationshandlung auch dann verboten ist, wenn ein Geschäft über einen Vermögenswert außerhalb der Börse60 getätigt wird, solange der Vermögenswert iSd. obigen Definition börsenzugelassen ist. Dieser Gedanke berücksichtigt bereits entsprechende Vorgaben in Art. 9 Abs. 1 der EU-Marktmissbrauchsrichtlinie und spiegelt die Überlegung wider, dass auch außerbörsliche Manipulationshandlungen die Funktionsfähigkeit der Kapitalmärkte beeinträchtigen können61. Tathandlung der gesetzlichen Neubestimmung62 ist die unrichtige Angabe bewertungserheblicher Umstände63, ebenso deren Verschweigen im Falle einer rechtlichen Offenlegungspflicht. Damit wird jede Ad-hoc-Mitteilung potenziell vom Anwendungsbereich der Neuregelung erfasst. Denkbar sind weitere Offenlegungspflichten aufgrund börsenrechtlicher Bestimmungen über die Erstellung von Börsenzulassungsprospekten und Unternehmensberichten64, aufgrund bestimmter Zulassungsfolgepflichten65 des Emittenten zugelassener Wertpapiere, aufgrund der Offenlegung von Directors’ Dealings nach § 15a WpHG, aufgrund der MitteiU. Lenzen, ZBB 2002, 279, 280. Damit sind die in § 88 BörsG a.F. genannten Bezugsrechte im Rahmen von Kapitalerhöhungen erfasst; D. Ziouvas, ZGR 2003, 113, 119. 59 § 20a Abs. 1 S. 2 WpHG. § 88 BörsG a.F. erfasste dagegen auch noch den sog. „grauen Kapitalmarkt“ („Anteile, die eine Beteiligung am Ergebnis eines Unternehmens gewähren sollen“). 60 Wichtige außerbörsliche Handelsplattformen sind Proprietary Trading Systems oder Alternative Trading System der proprietären Handelssysteme und der Interbankenhandel des Telefonverkehrs; D. Ziouvas, ZGR 2003, 113, 124. 61 Begr. RegE, BT-Drucks. 14 / 8017, 64, 89. 62 § 20a Abs. 1 Nr. 1 WpHG. 63 Typischer Fall ist das bisher als Insiderhandel verbotene sog. „scalping“, bei dem der Manipulator einen Vermögenswert kauft, ihn anschließend anderen zum Kauf empfiehlt, um ihn dann bei steigendem Kurs mit Gewinn wieder zu verkaufen. Siehe LG Stuttgart, ZIP 2003, 259 ff.; LG Frankfurt / Main, DStR 2000, 393. 64 §§ 30, 32 BörsG iVm. § 13 ff. BörsZulVO. 65 Z. B. §§ 39 Abs. 1 Nr. 3, 40 Abs. 1 BörsG. 57 58
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lungs- und Veröffentlichungspflicht von Stimmrechtsanteilen an börsennotierten Gesellschaften66, aber auch wegen Pflichten zur Veröffentlichung des Kontrollerwerbs eines Übernehmers gemäß den Bestimmungen des Wertpapiererwerbs- und Übernahmegesetzes67 oder zur Veröffentlichung seiner Entscheidung, ein Übernahmeangebot abzugeben68. Die Angaben müssen des weiteren bewertungserheblich sein. Was hierunter zu verstehen ist, ist unklar69. Angesichts der Schwierigkeit, mit einer präzisen Formulierung alle als sanktionswürdig erkannten Fallkonstellationen zu erfassen, hat der Gesetzgeber das Bundesministerium der Finanzen bzw. die BaFin ermächtigt, den Tatbestand im Wege einer Rechtsverordnung auszufüllen, nicht zuletzt auch, um so später schnell auf neue Manipulationstechniken reagieren zu können. Das Problem ist damit aber wohl nur verlagert. Die Verordnungsermächtigung wirft nicht nur verfassungsrechtliche Zweifelsfragen im Hinblick auf den Bestimmtheitsgrundsatz des Art. 103 Abs. 2 GG auf70, sondern daraus folgend auch rein praktische Fragen für die Normadressaten: Wenn bedacht wird, mit welch extrem kurzen Reaktionszeiten die Marktteilnehmer im Handel auf vielschichtigste Entscheidungsparameter oftmals reagieren müssen, fragt es sich, wie der Verordnungsgeber solche Sachverhalte mit „befolgungsfähigen Vorschriften“ in den Griff zu bekommen versuchen wird. Die Kurs- und Marktpreismanipulation aufgrund einer „sonstigen Täuschungshandlung“ (Abs. 1 Nr. 2) soll der Vielzahl der Manipulationstechniken, dem Einfallsreichtum der Manipulatoren, aber auch neuen Investorentrends, Marktentwicklungen bzw. -modellen ausreichend Rechnung tragen können. Wie schon bei der Bewertungserheblichkeit zeigt sich auch hier das gleiche Dilemma der Unbestimmtheit, dem der Gesetzgeber ebenfalls mit einer Verordnungskompetenz beizukommen versucht. Noch deutlicher wird dies bei der Verordnungsermächtigung für sog. „Safe Harbour-Regelungen“71, mit denen zur Vermeidung einer dauerhaf§§ 21 ff. WpHG. § 35 WpÜG. 68 § 10 WpÜG. Z. B. auch Angaben im Prospekt gemäß § 16 Abs. 1 Nr. 9 BörsZulVO betr. vom Emittenten ausgehende oder ihn betreffende Übernahmeangebote oder gemäß § 19 Abs. 2 Nr. 5 BörsZulVO betr. Beteiligungen am Emittenten ab 5 % der Stimmmrechte. 69 Überlegungen zur Begriffsausfüllung finden sich bei U. Sorgenfrei, wistra 2002, 321, 323; K. Altenhain, BB 2002, 1874, 1877 in Anlehnung an § 263 StGB legt den Begriff so aus, dass durch Täuschungshandlungen der Manipulator eine Situation schafft, die auf Grund bestimmter Umstände nicht bewertungserheblich sind, den Marktteilnehmern aber in Unkenntnis dessen den Eindruck ihrer Bewertungserheblichkeit verschafft. U. Sorgenfrei, wistra 2002, 321, 324, lehnt einen Rückgriff auf § 15 WpHG ab, weil sich dort die „Erheblichkeit“ auf die Beeinflussung des Börsenpreises bezieht, in § 20a WpHG dagegen auf das eigenständige Tatbestandsmerkmal der Bewertung des Vermögenswertes. 70 Hierauf soll nicht weiter eingegangen werden: Siehe dazu U. Lenzen, ZBB 2002, 279, 286; K. Moosmayer, wistra 2002, 161, 167 ff. 71 Die Gesetzesbegründung, BT-Drucks. 14 / 8017, S. 90, nennt als wichtigsten Anwendungsbereich insb. die Kursstabilisierung nach einer Wertpapieremission; Gleiches wird auch 66 67
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ten Beeinträchtigung des Marktgeschehens die Marktteilnehmer mit „erlaubten Handlungen“, insbesondere bei Kurspflegemaßnahmen nach einer Aktienemission, konkrete Leitlinien und damit Rechtssicherheit erhalten sollen. In allen drei Fällen bleibt abzuwarten, wie der Verordnungsgeber den jeweiligen Tatbestand konkretisieren wird. Grundsätzlich zu begrüßen ist das Erfordernis einer Preiseinwirkungsabsicht bei der „sonstigen Täuschungshandlung“, denn nur durch ein solches subjektives Merkmal lassen sich überhaupt manipulative Geschäfte von erlaubtem Handelsgeschehen abgrenzen72, das als Konsequenz eines offenen und freien Marktes73 schon ab einem gewissen Handelsvolumen ebenso die Preisbildung beeinflussen kann. Inwieweit die Frage der Preisbeeinflussungsabsicht bei der Konkretisierung von Art. 1 Ziff. 2 der EU-Marktmissbrauchsrichtlinie 74 im Rahmen des Komitologie-Verfahrens eine Ausgestaltung erfährt, weil eine Marktmanipulation danach nicht vorliegen soll, wenn der Handelnde legitime Gründe für sein Handeln vorweisen kann, lässt sich noch nicht absehen. Das bedeutet aber zugleich, dass die Abgrenzung der Manipulation vom Handelsgeschehen mit dem „alten Nachweisproblem“ der alten börsengesetzlichen Regelung des § 88 BörsG a.F. im subjektiven Bereich erkauft wird, das in § 20a WpHG fortlebt75. Wahrscheinlich lässt sich dieser Konflikt zwischen einer befriedigenden Abgrenzung verwerflichen Manipulationsverhaltens aufgrund subjektiver Elemente auf der einen Seite und der Nachweisprobleme subjektiver Absichtselemente für den Anleger auf der anderen wegen der Komplexität des Marktgeschehens nie zufriedenstellend lösen. Ansätze einer Typisierung verbotener sonstiger Täuschungshandlungen finden sich in der Gesetzesbegründung, die wiederum Typisierungen der EU-Marktmissbrauchsrichtlinie aufgreift76. Bei „wash sales“ signalisiert der Manipulator einen aktiven und liquiden Markt, indem er gleichzeitig Kauf- und Verkaufsorders für denselben Vermögenswert und im Wesentlichen zum gleichen Preis und im gleichen Volumen gibt, während in Wirklichkeit kein Eigentumswechsel des Vermögenswertes stattfindet. Im Unterfür den Aktienrückkauf gelten: so EU-Marktmissbrauchsrichtlinie (Fn. 5), Ziff. 33 der Allg. Begründung. 72 U. Lenzen, ZBB 2002, 279, 284; A. Möller, WM 2002, 309, 313. 73 U. Lenzen (Fn. 54), S. 12. 74 In der verabschiedeten Fassung vom 28. 1. 2003 (Fn. 5). 75 Kritisch D. Ziouvas, ZGR 2003, 113, 142; U. Sorgenfrei, wistra 2002, 321, 329. 76 BT-Drucks. 14 / 8017, 89 und Bericht des Finanzausschusses, BT-Drucks. 14 / 8601, 190. Die verabschiedete EU-Marktmissbrauchsrichtlinie (Fn. 5) sieht jetzt nur noch 3 Falltypen in Art. 1, 2c vor, während der Entwurf vom 30. 5. 2001, abrufbar im Internet unter http: // europa.eu.int / eur-lex / de / com / pdf / 2001 / de_501pc0281.pdf in seinem Anhang, Abschnitt B, noch eine Aufstellung von Fallbeispielen enthielt. Diese sind im Rahmen des Komitologie-Verfahrens durch die EU-Kommission ebenfalls zu konkretisieren.
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schied dazu erteilen bei „improper matched orders“ zwei Vertragspartner, bei çircular trading“77 mehrere Vertragspartner absprachegemäß jeweils gleichzeitig derartige Kauf- und Verkaufsaufträge, so dass zwar das rechtliche, nicht aber das wirtschaftliche Eigentum an den Vermögenswerten wechselt78. Manipulationstatbestand ist auch die Herbeiführung einer Marktenge, wenn sich jemand bei dem einem Derivat zugrundeliegenden (Basis-) Vermögenswert die Kontrolle über die Nachfrageseite verschafft und zur Preismanipulation des Derivats oder des Basiswertes ausnutzt (çornering“)79. Bei zeitorientierten Manipulationsmethoden, wie bei einem „making the close“80 versucht der Manipulator durch gezielte Orders z. B. bei Börsenschluss die Schlussnotierung des Vermögenswertes zu beeinflussen. Ein weiteres Nachweisproblem besteht bei der Kursmanipulation als Straftat, ob es durch die Manipulationshandlung tatsächlich zu einer Preiseinwirkung kam. Das setzt voraus, dass der unbeeinflusste, durch echtes Angebot und Nachfrage zustande gekommene Preis ermittelt werden kann und die Manipulationshandlung auch kausal für die tatsächliche Einwirkung auf eben diesen Preis war81. Dies in der Praxis mit hinreichender Sicherheit zu bestimmen, dürfte schwierig sein angesichts der polykausalen Handlungszusammenhänge, die jeder Börsenpreisbildung zugrunde liegen.
U. Lenzen (Fn. 54), S. 11. „Painting the tape“ und „advancing the bid“ sind Varianten der eben beschriebenen Manipulationstechniken. Bei „painting the tape“ erwecken Kauftransaktionen an der Börse, die auf einer öffentlichen Kursanzeigetafel erscheinen, den Eindruck einer regen Handelstätigkeit bzw. Preisaktivität, während gleichzeitig Verkaufstransaktionen außerbörslich stattfinden. Bei „advancing the bid“ nutzt der Manipulator durch Verknappung des Vermögenswertes oder durch eine maßgebende Kontrolle der Angebotsseite den eintretenden Mangel dazu aus, den Preis des Vermögenswertes hochzutreiben. Dazu A. Möller, WM 2002, 309, 314, und U. Lenzen (Fn. 54), S. 11. 79 D. Ziouvas, ZGR 2003, 113, 134; U. Lenzen (Fn. 54), S. 19 mit einem Beispiel in Deutschland betr. die Emission eines sog. Länder-Jumbos, FAZ v.12. 5. 1998. 80 Zu denken ist etwa an die Telekom-Emission II im Jahr 1999: Der Emissionspreis war an den Schlusskurs eines bestimmten Tages gekoppelt. Am Ende dieses Börsentages haben offenbar einige Marktteilnehmer konzentriert Telekom-Aktien verkauft, und so deren Schlusskurs und damit auch den Emissionspreis massiv gedrückt. Bezugszeitpunkte können ebenso der Jahresultimo, der Kassakurs eines Finanzinstrumentes als vereinbarter Referenzkurs für die Bestimmung des Wertes einer Transaktion / eines Derivatkontraktes oder der relevante Zeitpunkt für die Bedingung eines „knock-out-Kriteriums“ bei Optionen sein; siehe dazu U. Sorgenfrei, wistra 2002, 321, 328; D. Ziouvas, ZGR 2003, 113, 134. 81 Kritisch auch U. Sorgenfrei, wistra 2002, 321, 330; D. Ziouvas, ZGR 2003, 113, 140, der die Vorschrift deshalb zur Bedeutungslosigkeit verurteilt sieht; ähnlich S. Tripmaker, wistra 2002, 288, 292. 77 78
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4. Zwischenergebnis Als Zwischenergebnis lässt sich folgendes festhalten: Die Neuregelung zur Mitteilung und Veröffentlichung von Directors’ Dealings leistet einen erheblichen Beitrag zur Erhöhung der Transparenzstandards auf dem deutschen Kapitalmarkt und zur Angleichung an entsprechende internationale Marktstandards82. Nach anfänglichen Unzulänglichkeiten bei der Normbefolgung83 bedarf es noch der Beseitigung handwerklicher Schwächen und einer weiter verbesserten Konkretisierung des Tatbestandes seitens des Gesetzgebers. Auch das neu eingeführte Kurs- und Marktpreismanipulationsverbot (§ 20a WpHG) ist grundsätzlich geeignet, die Marktintegrität durch Redlichkeit bei der Preisbildung gewährleisten zu helfen und das Vertrauen der Anleger in einen ordnungsgemäßen Markt zu fördern. Da die EU-Marktmissbrauchsrichtlinie das Kursund Marktpreismanipulationsverbot ebenfalls auf unbestimmten Tatbestandsmerkmalen aufbaut, sind die Durchführungsvorschriften im Rahmen des sog. Komitologie-Verfahrens durch die EU-Kommission gemäß Art. 17 Abs. 2 der Richtlinie abzuwarten, die möglicherweise den nationalen Umsetzungsspielraum einschränken und Änderungsbedarf im deutschen Recht auslösen werden. Ob angesichts der weitreichenden Konkretisierungsbedürftigkeit die ausstehenden Rechtsverordnungen den Tatbestand der Neuregelung handhabbar präzisieren, lässt sich aus heutiger Sicht noch nicht absehen. Ob deshalb der Bestimmung § 20a WpHG größere praktische Bedeutung zukommen wird84 und die Norm dann tatsächlich als „Meilenstein“ gegenüber der Vorgängerregelung gelten kann85, wird letztlich die Praxis zeigen müssen. Gleichwohl erscheinen die Vorschriften prinzipiell geeignet, die Markttransparenz und die Marktintegrität zu verbessern. Ungeachtet ihrer objektiven Eignung zum Schutz der Funktionsfähigkeit des Kapitalmarkts stellt sich die Frage nach ihrer tatsächlichen Durchsetzbarkeit und damit letztlich nach ihrer Regelungseffizienz im Hinblick auf einen individuellen Anlegerschutz. Zwar sind Verstöße gegen die §§ 15, 15a und 20a WpHG grundsätzlich als Ordnungswidrigkeiten mit Bußgeld bzw. im Falle des § 20a WpHG auch mit Strafe § 15a WpHG. Siehe H. Fleischer, NJW 2002, 2977, 2978. Siehe Untersuchung des Deutschen Aktieninstitutes e.V., Directors’ Dealings, 1. Aufl. 2002, S. 42 (abrufbar im Internet unter www.dai.de), welche die BaFin zum entspr. Rdschr. 17 / 2002 vom 5. 9. 2002 veranlasste (Fn. 33). 84 Ähnlicher Ansicht ZKA-Stellungnahme vom 13. 2. 2002, abrufbar im Internet unter www.bdb.de; M. Weber, NJW 2003, 18, 20; B. Rudolph, BB 2002, 1036, 1040; U. Sorgenfrei, wistra 2002, 321, 331; A. Möller, WM 2002, 309, 317; kritischer D. Ziouvas, ZGR 2003, 113, 140, 145 f. „Tatbestandsfassung unausgereift“ u. „Vorschrift bleibt symbolisch“; K. Altenhain, BB 2002, 1874, 1879 „Tatbestandsfassung missglückt“; S. Tripmaker, wistra 2002, 288, 292; K. Moosmayer, wistra 2002, 161, 170. 85 So H. Fleischer, NJW 2002, 2977, 2978. 82 83
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bewehrt, abgesehen von dem Reputationsverlust, der dem Meldepflichtigen / Manipulator bzw. dem Unternehmen droht, dem er angehört. Gleichwohl wäre über den so erzeugten „Normbefolgungsdruck“86 hinaus eine Präventionswirkung größer, gäbe es zusätzlich eine zivilrechtliche Schadensersatzhaftung bei Verstößen. Diese würde zu einem individuellen Anlegerschutz verhelfen und derartige Merkwürdigkeiten verhindern, dass ein Manipulator wegen Kursbetruges bestraft wird, gleichwohl aber aufgrund seiner Tathandlung geschädigte Anleger auf ihren Vermögensverlusten „sitzen bleiben“87. Dass solche Fälle deren Rechtsgefühl beeinträchtigen dürften und nicht gerade das Anlegervertrauen stärken, liegt nahe.
III. Anlegerschutz als Individual- oder Kollektivschutz? 1. Schadensersatzpflicht bei fehlerhafter oder fehlender Ad-hoc-Publizität (§§ 37b, c iVm. § 15 WpHG) Der Gesetzgeber hat erstmals eigenständige Anspruchsgrundlagen für Anleger geschaffen, die im Vertrauen auf die Einhaltung der Veröffentlichungspflichten eines Emittenten bei ihren Wertpapiergeschäften einen Schaden erlitten haben, weil sie entweder „zu teuer“ gekauft oder „zu billig“ verkauft haben (§§ 37b, c iVm. § 15 WpHG). Grund der Neuregelung ist die gesetzgeberische Erkenntnis88, dass einerseits das Publizitätsverhalten von Emittenten teilweise zu wünschen übrig lässt und andererseits der Anleger im Falle fehlender, verspäteter oder unwahrer Ad-hoc-Mitteilungen bislang unzureichend geschützt war89 und keinen Schadensausgleich erlangen konnte, weil das WpHG bisher weder eine einschlägige unmittelbare Haftung vorsah noch in den meisten Fällen eine mittelbare deliktsrechtliche90.
86 So auch L. Weiler / O. Tollkühn, DB 2002, 1923, 1927 zu Directors’ Dealings, die höhere Bußgelder bzw. ein Ruhen der Rechte aus den erworbenen Aktien analog § 28 WpHG vorschlagen. 87 Siehe FAZ 14. 2. 2003 „Kein Ersatz trotz Haftstrafe“; zum Fall „EM.TV“ siehe FAZ 10. 4. 2003, S. 25 und 16. 4. 2002, S. 23; zu Çomroad“: FAZ 23. 11. 2002, S. 16 u. S. 40 und Handelsblatt 25. 11. 2002, S. 40; zu „Biodata“ LG Kassel, DB 2002, 2151 f.; zu „Infomatec“ OLG München, ZIP 2002, 1989 f. und FAZ 9. 4. 2003, S. 16. 88 BT-Drucks. 14 / 8017, 93. 89 Bislang konnten bei einer Verletzung der Pflichten aus § 15 WpHG selten genug Bußgelder verhängt werden, so im Jahr 2001 lediglich in 3 Fällen in Höhe von bis zu 400.000 DM Bußgeld, Jahresbericht BAWe 2001, S. 34, abrufbar im Internet unter www.bafin.de. 90 Siehe OLG München (Infomatec II), ZIP 2002, 1989 ff.; a.A. die Vorinstanz LG Augsburg, ZIP 2001, 1881; BVerfG, ZIP 2002, 1986 ff. Wegen § 15 Abs. 6 WpHG a.F. waren Schadensersatzansprüche nur für die selten einschlägigen Fälle des § 823 Abs. 2 BGB iVm. §§ 263, 264a StGB oder über § 826 BGB mit zusätzlich häufig unüberwindlichen Beweisproblemen denkbar; siehe dazu H. Fleischer, NJW 2002, 2977, 2979.
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a) Tatbestandsvarianten Zu unterscheiden sind vier Fallkonstellationen: Anspruchsberechtigt ist nach § 37b WpHG, wer nach der unterlassenen Veröffentlichung einer Ad-hoc-Mitteilung Wertpapiere erworben hat und im Zeitpunkt des Bekanntwerdens der Tatsache noch deren Eigentümer ist (bei negativer Tatsache) oder wer vor Eintritt der Tatsache Wertpapiere erworben hat und diese nach dem Unterlassen der Veröffentlichung veräußert hat (bei positiver Tatsache). Nach § 37c WpHG ist schadensersatzberechtigt, wer nach der Veröffentlichung der unwahren Ad-hoc-Mitteilung im Vertrauen auf deren Richtigkeit Wertpapiere erworben hat und noch Eigentümer bei dem Bekanntwerden der Unrichtigkeit ist (bei positiven unwahren Angaben)91 oder vor der Veröffentlichung Wertpapiere erworben hat und vor dem Bekanntwerden der Unrichtigkeit bereits veräußert hat (bei negativen unwahren Angaben). Nicht erfasst sind dagegen Fälle, dass Anleger aufgrund einer unwahren Ad-hocMitteilung davon abgehalten wurden, ihre Wertpapiere zu verkaufen92. Da die neuen Schadensersatzansprüche in ihren Voraussetzungen mit § 15 WpHG tatbestandlich identisch sind, soll hier auf eine nähere Untersuchung der dabei bestehenden zum Teil äußerst schwierigen Auslegungsfragen verzichtet werden93. Vielmehr sollen sich die Ausführungen auf die neue Rechtsfolgenseite fokussieren und hier insbesondere Fragen zur Kausalität und zur Schadensberechnung herausstellen. Zwischen der pflichtwidrig unterlassenen oder unwahren Ad-hoc-Mitteilung und dem Wertpapiergeschäft des Anlegers muss ein Kausalzusammenhang bestehen, für den der Anleger den häufig schwer zu führenden Beweis antreten muss94. Anders als bei der Prospekthaftung (§ 45 Abs. 2 Nr. 1 BörsG) kommt dem Anleger nach dem klaren Gesetzeswortlaut hier keine Beweislastumkehr zu Hilfe95. Ebenso 91 Siehe den Fall Infomatec („Großauftrag“) LG München, ZIP 2001, 1814 ff.; OLG München (Infomatec II), ZIP 2002, 1989 ff. 92 Diese Regelungslücke lässt sich nur damit erklären, dass der Gesetzgeber nicht beabsichtigte, jeden im Zusammenhang mit der Veröffentlichung potenziell kursbeeinflussender Tatsachen denkbaren Schaden zu ersetzen, DiskE des Bundesministeriums der Finanzen vom 3. 9. 2001, S. 232 (unveröffentlicht); ebenso H. Fleischer, BB 2002, 1869, 1870. 93 Siehe hierzu die für Auslegungsfragen einschlägige Literatur: H. D. Assmann / U. H. Schneider (Fn. 3), § 15 WpHG, Rn. 28 ff.; S. Geibel, in: F.A. Schäfer u. a., Wertpapierhandelsgesetz / Börsengesetz / Verkaufsprospektgesetz, 1998, § 15 WpHG, Rn. 17 ff.; z. B. zur Frage, wann bei mehrstufigen Entscheidungsprozessen eine Tatsache vorliegt, wann eine Mitteilung unverzüglich oder wann die Eignung zur erheblichen Kursbeeinflussung gegeben ist. 94 In der Regel wird ein Kleinanleger nie die Ad-hoc-Mitteilungen eines Emittenten verfolgen und darauf seine Anlageentscheidungen stützen. 95 Ebenso S. Rützel, AG 2003, 69, 79 „beredtes Schweigen des Gesetzgebers“; O. Rieckers, BB 2002, 1213, 1219. Literaturmeinungen versuchen dagegen mittels der zur Prospekthaftung entwickelten Figur der „Anlagestimmung“ Beweiserleichterungen zu schaffen, T. Möllers / F. Leisch, BKR 2002, 1071, 1077; M.-C. Rössner / J. Bolkart, ZIP 2002, 1471, 1476. Dieser Gedanke hilft einerseits nicht bei unterlassenen Ad-hoc-Mitteilungen weiter, da hier gerade keine Anlagestimmung entsteht. Andererseits hätte der Gesetzgeber eine
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muss der Anleger in den Fällen des § 37b WpHG beweisen, dass der Emittent seiner Veröffentlichungspflicht nicht unverzüglich nachgekommen ist, was, weil sich in der Sphäre des Emittenten abspielend, ebenfalls schwer beweisbar sein dürfte. Dabei hilft auch nicht die im übrigen begrüßenswerte Beweislastumkehr hinsichtlich des Verschuldens (§ 37b Abs. 2 WpHG).
b) Schadensberechnung Regelungen zu den Modalitäten der Schadensberechnung trifft das Gesetz nicht. Der Anleger ist so zu stellen, als hätte der Emittent seine Publizitätspflichten ordnungsgemäß erfüllt96. Zwei Alternativen sind denkbar: Nach dem Grundsatz der Naturalrestitution97, könnte der Anleger Erstattung des Kaufpreises für die Wertpapiere gegen deren Übertragung auf den Emittenten verlangen98. Dagegen sieht eine vordringende Auffassung im Schrifttum99 nur einen Schaden in Höhe der Differenz zwischen dem tatsächlichen Transaktionspreis des Anlegers und dem Börsenpreis als ersatzfähig an, der sich bei pflichtgemäßem Publizitätsverhalten gebildet hätte. Für letztere Ansicht sprechen die überzeugenderen Argumente: Naturalrestitution macht für den Fall wenig Sinn, dass der Anleger die Wertpapiere „zu billig“ verkauft hat. § 71 AktG sieht keinen Erwerb eigener Aktien zum Zwecke der Erfüllung von Schadensersatzansprüchen durch den Emittenten vor100. Auch der Zweck der Publizitätspflichten nach § 15 WpHG spricht dafür: Mit der Ad-hoc-Publizität soll die für die Funktionsfähigkeit des Kapitalmarktes wichtige Transparenz hergestellt werden, indem den Anlegern die für ihre fundierten Transaktionsentscheidungen nötigen Informationen zur Verfügung stehen. Ersatzfähig kann deshalb nur ein Schaden sein, der auf solchen Informationsdefiziten beruht. Andernfalls würde auch das allgemeine Markt- und Kursrisiko101 vom Anleger auf den Emittenten abgewälzt. Für diese Ansicht spricht nicht zuletzt auch die begrifflich eher auf einen Differenzschadensersatz hindeutende Beweislastumkehr / Beweiserleichterung regeln können, wenn er sich bei §§ 37 b, c WpHG ohnehin schon stark am Regelungsgehalt der §§ 44, 45 BörsG orientiert hat. Abl. OLG München (Infomatec), ZIP 2002, 1727, 1728 mit der Begründung, nicht jede Ad-hoc-Mitteilung schaffe eine Anlagestimmung; a.A. G. Maier-Reimer / A. Webering, WM 2002, 1857, 1860, die ein Kausalitätserfordernis generell verneinen. 96 Begr. RegE, BT-Drucks. 14 / 8017, S. 93. 97 § 249 BGB. Entsprechend § 44 Abs. 1 BörsG bei der Prospekthaftung. 98 So T. Möllers / F. Leisch, WM 2001, 1648, 1656; LG Augsburg, BB 2001, 2130 ff. 99 J. Reichert / M.-P. Weller, ZRP 2002, 50, 55; S. Rützel, AG 2003, 69, 76; S. Hutter / M. Leppert, NZG 2002, 649, 655; H. Fleischer, BB 2002, 1869, 1872; A. Fuchs / M. Dühn, BKR 2002, 1063, 1069. A.A. T. Möllers / F. Leisch, BKR 2002, 1071, 1076 und M.-C. Rössner / J. Bolkart, ZIP 2002, 1471, 1475, die dem Anleger die Wahlmöglichkeit zwischen beiden Ersatzvarianten zubilligen. 100 U. Hüffer, AktG, 5. Aufl. 2002, § 71, Rn. 7 ff., 19g. 101 Ebenso H. Fleischer, BB 2002, 1869, 1871. 22*
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Gesetzesbegründung102, wonach Anleger ihre Papiere „zu teuer“ gekauft oder „zu billig“ verkauft haben. Ist deshalb der Kursdifferenzschaden zu ersetzen, stellt sich die schwierige Frage nach den Zeitpunkten für die Bestimmung der relevanten Kurse103. Schwierigkeiten ergeben sich auch bei der Ermittlung des hypothetischen „richtigen“ Kurses104, denn dazu muss nicht nur die unterlassene Ad-hoc-Mitteilung berücksichtigt, sondern auch eine Vielzahl sonstiger kursbeeinflussender Faktoren aus dem tatsächlichen Kurs „herausgerechnet“ werden105. Ein weiterer Kritikpunkt der Literatur an der Neuregelung ist die Beschränkung auf die Haftung des Emittenten selbst, so dass sich Schadensersatzzahlungen zu Lasten aller Aktionäre auswirken oder möglicherweise wegen Insolvenz des Emittenten wirtschaftlich wertlos sind. Diesen Kritikpunkt greift der Finanzmarktförderplan 2006 mit der aktuellen Diskussion über eine Außenhaftung der Vorstandsmitglieder eines Emittenten auf, weil die Herstellung der Ad-hoc-Publizität zum Kernbereich der Leitungsfunktion des Vorstands gehöre, der unmittelbare Sanktionsdruck die Einhaltung der Publizitätspflichten fördere und dem Anleger eine zweite Haftungsmasse zur Verfügung stehe106. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die begrüßenswerte Schaffung eigenständiger Anspruchsgrundlagen bei Verletzung der Publizitätspflichten des § 15 WpHG dem Anleger überhaupt eine Anspruchsgrundlage für den Ersatz seines individuellen Schadens an die Hand gibt. Wegen der Vielzahl an Auslegungsfragen und Schwierigkeiten in der Tatbestandsanwendung, insbesondere hinsichtlich der Darlegung der haftungsbegründenden Kausalität und der Ermittlung des Vermögensschadens, bleibt allerdings abzuwarten, ob die Neuregelungen in §§ 37b, c WpHG dem Anleger in der Praxis wesentliche Erleichterungen bringen werden107.
BT-Drucks. 14 / 8017, S. 93. Siehe hierzu T. Baums, ZHR 167 (2003), S. 139, 187. Bei der unterlassenen Ad-hocMitteilung stellt sich das Bestimmungsproblem der „Unverzüglichkeit der Mitteilung“. Für eine Beschränkung auf einen gewissen Zeitraum K. Großmann / T. Nikoleyczik, DB 2002, 2031, 2035. 104 Bei der Kursermittlung ist von der Theorie informationseffizienter Kapitalmärkte auszugehen, wonach der Markt neue Informationen umgehend verarbeitet. Zu dem für die Berechnung benötigten Capital Asset Pricing Model siehe H. Fleischer, BB 2002, 1869, 1873 m. w. N. 105 S. Hutter / M. Leppert, NZG 2002, 649, 655. 106 Zum Finanzmarktförderplan 2006 der Bundesregierung, siehe Fn. 11, Eckpunktepapier vom 5. 3. 2003, S. 6. Siehe dazu auch unten IV. und S. Hutter / M. Leppert, NZG 2002, 649, 654; M.-C. Rössner / J. Bolkart, ZIP 2002, 1471, 1476; T. Baums, ZHR 166 (2002), 375, 380. 107 Ebenso H. Fleischer, NJW 2002, 2977, 2978 ff. und ders. BB 2002, 1869, 1869; S. Rützel, AG 2003, 69, 79; M. Weber, NJW 2003, 18, 21; S. Hutter / M. Leppert, NZG 2002, 649, 654. 102 103
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2. Schadensersatzpflicht qua Schutzgesetzfunktion des § 15a WpHG? Im Falle eines Verstoßes gegen § 15a WpHG lässt sich ein eigenständiger Schadensersatzanspruch wie bei der fehlerhaften Ad-hoc-Publizität nicht erkennen108. Als Anspruchsgrundlage im Deliktsrecht kann nur die Verletzung einer Schutznorm in Betracht kommen109. Ein Schutzgesetz liegt vor, wenn die Norm, und sei es auch neben dem Schutz der Allgemeinheit, gerade dazu dienen soll, den Einzelnen oder einzelne Personenkreise gegen die Verletzung eines Rechtsgutes zu schützen. Entscheidend für die Qualifikation als Schutzgesetz ist die Beurteilung, ob es dem Gesetzgeber gerade auf die Erzielung individualschützender Wirkungen ankam oder ob er diese lediglich als reflexartig verwirklichte Folge hinnahm110. Der Individualschutz muss also beabsichtigt, nicht nur objektiv bewirkt sein, und zwar im Hinblick auf das betroffene Rechtsgut111, hier das Vermögen des Anlegers. Die neue Regelung bietet selbst keinerlei Anhaltspunkte für Individualschutz. Die rechtssystematische Stellung im Abschnitt „Insiderrecht“ und der Hinweis in der Gesetzesbegründung, mit der Meldepflicht „Insidergeschäften entgegenzuwirken“112 sowie eine Gleichstellung der Anleger hinsichtlich ihrer Informationsbasis für Anlageentscheidungen zu gewährleisten, verdeutlichen zwar das Ziel einer Gleichbehandlung der Anleger. Es ergeben sich aber keine Erkenntnisse in Bezug auf die Frage, ob der Schutz der Anleger nur als Gesamtheit oder – zumindest auch – der des einzelnen Anlegers beabsichtigt war113. Vielmehr steht letzterer Interpretation die Gesetzesbegründung an anderer Stelle entgegen, wonach die Kenntnis der Geschäfte von Organmitgliedern „für den Markt“ von großer Bedeutung und das Gesetzesziel sei, „den Anlegerschutz zu stärken, indem die Transparenz auf den Wertpapiermärkten erhöht wird“114. Der Regelung in § 15a WpHG kommt 108 §§ 37b, c WpHG gelten nur für die Fälle falscher oder unterlassener Ad-hoc-Mitteilungen und richten sich nur gegen den Emittenten. 109 § 823 Abs. 2 BGB. Staudinger / Hager, Komm. z. BGB, 13. Bearb. 1999, § 823, Rn. G 4. Dabei muss nach Ansicht des BGH die Schaffung eines individuellen Schadensersatzanspruches sinnvoll und im Rahmen des haftungsrechtlichen Gesamtanspruches tragbar sein, BGHZ 66, 388, 390 f. § 823 Abs. 1 BGB scheidet für den Ersatz reiner Vermögensschäden aus, Palandt / Thomas, BGB, 61. Aufl. 2002, § 823, Rn. 31. 110 Palandt / Thomas (Fn. 109), Rn. 141; BGH ZIP 1991, 1597, 1598; Staudinger / Hager (Fn. 109), Rn. G 19. 111 Staudinger / Hager (Fn. 109), Rn. G 26 m. zahlr. Rspr.nachw. 112 BT-Drucks. 14 / 8017, S. 63. 113 Auch § 14 WpHG ist kein Schutzgesetz iSd. § 823 Abs. 2 BGB: AG München, WM 2002, 594, 596. 114 Keinen Erkenntniszuwachs bringt auch die unmittelbare Nähe zu § 15 Abs. 6 WpHG und die Tatsache, dass der Gesetzgeber in § 15a WpHG keine dem § 15 Abs. 6 WpHG entsprechende Vorschrift geschaffen hat. Eben so wenig führt ein Vergleich mit den Meldepflichten der § 21 ff. WpHG weiter, da § 21 WpHG kein Schutzgesetz im Sinne des § 823 Abs. 2 BGB ist. Ebenso P. Opitz in F.A. Schäfer u. a. (Fn. 93), § 21 WpHG, Rn. 42; H. Fleischer, ZIP 2002, 1217, 1229; U. Hüffer, AktG, § 22 Anh., Rn. 1 mit dem Hinweis, dass in den
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mithin individualschützende Qualifikation nicht zu; sie schützt ausschließlich den Kapitalmarkt als Institution.
3. Schadensersatzpflicht qua Schutzgesetzfunktion des § 20a WpHG? Vorab sei angemerkt, dass der Sonderfall einer Kurs- und Marktpreismanipulation im Zusammenhang mit einer Ad-hoc-Mitteilung vom Gesetzgeber durch die neue Schadensersatzregelung in §§ 37b, c WpHG abgedeckt ist115. In den anderen Fällen des Abs. 1 und bei der Tatvariante „sonstige Täuschungshandlung“ des Abs. 2 fokussiert sich die Frage nach Schadensersatz dagegen auf § 823 Abs. 2 BGB iVm. § 20a WpHG116. Gibt es bei § 15a WpHG so gut wie keine Meinungsbildung zur Frage der Schutzgesetzeigenschaft, ist es bei § 20a WpHG genau umgekehrt. Allerdings entzündete sich die Diskussion überwiegend noch an der Vorgängervorschrift im Börsengesetz117 im Zusammenhang mit unrichtigen Ad-hoc-Mitteilungen. Große Aufmerksamkeit zog dabei ein Urteil des Gesetzesmaterialien zu § 21 WpHG sich nur ein Hinweis auf die angestrebte Markttransparenz durch Information der Marktteilnehmer und Anleger ergibt (Begr. RegE, BT-Drucks. 12 / 6679, S. 35 u. 52). Anlass, die gewonnenen Erkenntnisse wieder in Zweifel zu ziehen, bietet auch die EU-Marktmissbrauchsrichtlinie nicht, die den deutschen Gesetzesvorstoß nachbildet und deren Text sich in Art. 6 (4) keine Hinweise auf eine individualschützende Wirkung entnehmen lassen. Gleichwohl bleibt die Konkretisierung der abstrakten Vorgaben der EU-Marktmissbrauchsrichtlinie durch die Kommission und die anschließende Umsetzung in deutsches Recht abzuwarten. 115 Folgerichtig ist in einem solchen Fall eine Haftung nach § 823 Abs. 2 BGB wegen § 15 Abs. 6 WpHG ausgeschlossen. 116 Ein Anspruch nach § 823 Abs. 1 BGB scheidet wegen des reinen Vermögensschadens des Anlegers aus. § 823 Abs. 2 BGB iVm. § 400 Abs. 1 Nr. 1 AktG dürfte als Anspruchsgrundlage ebenfalls regelmäßig ausscheiden. § 400 AktG ist zwar als Schutzgesetz allgemein anerkannt, nur werden die gegenwärtigen Aktionäre, Arbeitnehmer und Gläubiger der Gesellschaft geschützt; K. Bernsmann in: T. Heidel (Fn. 15), § 400 AktG, Rn. 1; außerdem muss sich die Schadenshandlung auf eine unrichtige Darstellung des Vermögensstandes der Gesellschaft beziehen, was regelmäßig nicht der Fall sein wird. Ebenfalls in der Regel nicht einschlägig wird eine Ersatzpflicht nach § 823 Abs. 2 BGB iVm. den Schutzgesetzen § 263 oder § 264a StGB sein. Die Anwendbarkeit wird wegen der bei beiden Betrugstatbeständen geforderten sog. Stoffgleichheit regelmäßig scheitern, weil die Schädigung des Anlegers und die vom Manipulator angestrebte Bereicherung bei einem über die Börse getätigten Wertpapiergeschäft nicht auf derselben Verfügung beruhen kann. § 264a StGB setzt darüber hinaus beim Vertrieb von Wertpapieren unrichtige Angaben über den Vermögensstand in einem Prospekt, in Darstellungen oder Übersichten voraus, was tatbestandlich in den seltensten Fällen vorliegen dürfte. Grundsätzlich bei allen Arten von Kursmanipulation in Betracht zu ziehen ist § 826 BGB. Die praktische Relevanz dieser Haftungsnorm dürfte aber gering sein, weil dem geschädigten Anleger der in vielen Fällen schwierige Nachweis des – zumindest bedingten – Vorsatzes in Bezug auf die Sittenwidrigkeit des Handelns sowie auf seinen individuellen Schaden obliegt, Palandt / Thomas (Fn. 109), § 826, Rn. 11. 117 § 88 BörsG a.F.
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LG Augsburg (Infomatec II)118 auf sich, das einem Anleger Ersatz seiner Kursverluste nach § 823 Abs. 2 BGB iVm. § 88 BörsG a.F. zusprach, weil er im Vertrauen auf eine – wie sich später herausstellte, falsche – Ad-hoc-Mitteilung Aktien der Infomatec AG erworben hatte. Das LG Augsburg begründete seine Ansicht eines Schutzgesetzes damit, dass der Normzweck des § 88 BörsG a. F. die „Bewahrung der Zuverlässigkeit und Wahrheit bei der Preisbildung an Börsen und Märkten“ sei. Mittelbar wirke sich der Schutz des Börsenverkehrs auch zu Gunsten des einzelnen Kapitalanlegers aus. Die in Rede stehende Vorschrift im Börsengesetz solle auch dazu dienen, das Vermögen des einzelnen Kapitalanlegers vor möglichen Schäden durch unredliche Beeinflussung der Börsenpreisbildung zu schützen. Das Urteil des LG Augsburg hatte jedoch keinen Bestand119. Es ist festzustellen, dass die Rechtsprechung120 und h. L.121 auch weiterhin eine Schutzgesetzeigenschaft der alten Regelung im Börsengesetz bzw. jetzt der neuen im WpHG ablehnen. Allerdings mehren sich in der Literatur Stimmen, die den Gedanken des Anlegerschutzes in der Gesetzesbegründung zum 4. FMFG mehr herausgestellt sehen122 als früher zum § 88 BörsG a.F. und deshalb zu einem anderen Verständnis des Schutzzwecks der neuen Norm kommen123 oder kommen wollen124. Die kritischen Literaturstimmen verbindet, dass sie ein im öffentlichen Interesse bestehendes allgemeines Schutzgut, die Funktionsfähigkeit des Kapitalmarktes, wovon die Zuverlässigkeit und Wahrheit der Preisbildung eben ein Teil ist125, verneinen oder es nur als gleichwertiges Schutzgut neben einem individuellen Vermögensschutz des Anlegers ansehen126. LG Augsburg (Infomatec II), WM 2001, 1944 ff. Aufgehoben durch Urteil des OLG München (Infomatec II), ZIP 2002, 1989 ff. 120 OLG München (Infomatec II), ZIP 2002, 1989 ff.; LG München I (Infomatec I), ZIP 2001, 1814; LG Augsburg, WM 2002, 592; AG München, WM 2002, 594; BVerfG in einem Beschluss, ZIP 2002, 1986. 121 R. Fischer zu Cramburg, in: T. Heidel (Fn. 15), § 20a WpHG, Rn. 15; T. Barnert, WM 2002, 1473, 1481, 1483 mit ausführl. Begr.; S. Rützel, AG 2003, 69, 79; O. Rieckers, BB 2002, 1213, 1215; G. Maier-Reimer / A. Webering, WM 2002, 1857, 1864; J. Reichert / M.-P. Weller, ZRP 2002, 49, 53. Offen H. Fleischer, NJW 2002, 2977, 2979; S. Hutter / M. Leppert, NZG 2002, 649, 651 mit Fn. 28. 122 Zweifelhaft, da schon im 2. Finanzmarktförderungsgesetz der Anlegerschutz besonders betont war, BT-Drucks. 12 / 6679, S. 1 ff. 123 K. Altenhain, BB 2002, 1874, 1875; A. Fuchs / M. Dühn, BKR 2002, 1063, 1065 f.; D. Ziouvas, ZGR 2003, 113, 143; T. Möllers / F. Leisch, ZIP 2002, 1995, 1996; die Argumente abwägend, aber offen bleibend U. Sorgenfrei, wistra 2002, 321, 322. S. Tripmaker, wistra 2002, 288, 290 f., der Anlegerschutz mit Anlegervermögensschutz gleichsetzt. 124 Offenbleibend U. Lenzen, FB 2001, 603, 606 u. 608; dies., ZBB 2002, 284 begründet mit der ansonsten bestehenden Regelungslücke, weil nicht unter §§ 37b, c WpHG fallende Manipulationstatbestände anderweitig nicht erfasst würden. Ebenso D. Ziouvas, ZGR 2003, 113, 143. 125 K. Altenhain, BB 2002, 1874, 1875 re.Sp. („Der Absicherung eines solchen Schutzgutes bedürfe es nicht“); T. Möllers / F. Leisch, ZIP 2002, 1995, 1997, li.Sp. 126 D. Ziouvas, ZGR 2003, 113, 143; J. Rodewald / M. Siems, BB 2001, 2437, 2439. 118 119
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Unstreitig ist, dass es im § 88 BörsG a.F. der seinerzeitigen Gesetzesbegründung nach in erster Linie um die im öffentlichen Interesse liegende „Zuverlässigkeit und Wahrheit bei der Preisbildung und damit erst mittelbar auch um den Schutz des Kapitalanlegers“127 ging. In diesem Spannungsfeld zwischen dem auf die Allgemeinheit ausgerichteten Schutzzweck und einem objektiv eintretenden Individualschutz bei Befolgen der Norm zieht der BGH die Grenze über den Gedanken des Rechtsreflexes. Nur wenn der Individualschutz im Aufgabenbereich der Norm liegt, stellt sie ein Schutzgesetz dar. Das ist bei § 88 BörsG a.F. aber gerade nicht der Fall, weil diese individualschützende Funktion seinerzeit im Zuge des 2. WiKG128 aus dieser Vorschrift in den neueingeführten Straftatbestand des Kapitalanlagebetruges verlagert wurde129. Von der Entstehungsgeschichte und der Gesetzesbegründung her spricht alles für einen reinen Rechtsreflex. Zwar ist den kritischen Stimmen in der Literatur zuzugeben, dass eine Verletzung der Zuverlässigkeit und Wahrheit der Preisbildung zwangsläufig stets auch eine Verletzung individueller Vermögensgüter bedeutet. Anders ausgedrückt, die Verletzung eines vom Gesetzgeber gewollten Kollektivschutzes des Anlegerpublikums stellt sich stets als die Summe der Verletzungen des individuellen Schutzes von Anlegern dar130. Das sagt hingegen noch nichts darüber aus, dass sich der Gesetzgeber bewusst dafür entschieden hat, die Interessen eines jeden Einzelnen gezielt zu schützen. Der Gesetzesbegründung zur Nachfolgevorschrift in § 20a WpHG lässt sich kein Indiz für eine individuelle Schutzgesetzwirkung entnehmen131. Der sachliche Schutzbereich ist unverändert die Zuverlässigkeit und Wahrheit der Börsen- und Marktpreisbildung132. Im allgemeinen Teil der Gesetzesbegründung ist lediglich vom Ziel die Rede, den Anlegerschutz zu stärken, indem die rechtlichen Voraussetzungen für eine wirksame Durchsetzung des Verbots der Kurs- und Marktpreismanipulation geschaffen werden133. Ob hier der Begriff Anlegerschutz im Sinne von Kollektiv- oder Individualschutz gemeint ist, lässt sich nicht bestimmen. Deutlicher wird die Art des Anlegerschutzes dagegen an anderer Stelle134, wonach der Begr. RegE. 2. WiKG, BT-Drucks. 10 / 318, S. 46. Siehe Fn. 125. 129 § 264a StGB. Siehe BVerfG, ZIP 2002, 1986, 1988 m. w. N. 130 T. Möllers / F. Leisch, ZIP 2002, 1995, 1997 spricht von den „zwei Seiten einer Medaille“, bei der der Schutz der Vermögensinteressen der Kapitalanleger die Rückseite der Medaille sei, deren Vorderseite die Preisbildungswahrheit ist. J. Rodewald / M. Siems, BB 2001, 2437, 2439 sprechen von „kommunizierenden Röhren“, A. Fuchs / M. Dühn, BKR 2002, 1063, 1065 von „untrennbar funktionaler Wechselwirkung“. 131 BT-Drucks. 14 / 8017, S. 64. Das bemängelt auch H. Fleischer, NJW 2002, 2977, 2979, der es geradezu als „Unterlassungssünde“ ansieht, dass sich der Gesetzgeber jeder Äußerung zur anlegerschützenden Zielrichtung des § 20a WpHG enthalten hat. 132 Bericht Finanzausschuss, BT-Drucks. 14 / 8601, S. 20 li.Sp. 133 BT-Drucks. 14 / 8017, S. 62. 134 Bericht des Finanzausschusses, BT-Drucks. 14 / 8601, S. 9, li.Sp. 127 128
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Anleger zukünftig als Verbraucher eine eigene Rechtsposition am Kapitalmarkt habe, weil er durch die Änderungen der Prospekthaftung und der Regelungen zur Adhoc-Publizität bei falschen Informationen Schadensersatz verlangen könne. Das zeigt zweierlei: Zum einen, dass der Gesetzgeber den Anlegerschutz in Form eines Individualschutzes sehr wohl ausbauen wollte, zum anderen aber aus dem Hinweis auf die Ad-hoc-Publizität folgend, dass dies offensichtlich nur dort und – insofern liegt der Umkehrschluss nahe – nicht auch bei anderen Neuregelungen gewollt war. Stattdessen ist gleich an mehreren Stellen der Gesetzesbegründung als Gesetzesziel die (abstrakte) Funktionsfähigkeit der Wertpapiermärkte genannt135. Ebenso wenig wie schon zum Komplex Directors’ Dealings lässt sich der EUMarktmissbrauchsrichtlinie 136 zum Verbotstatbestand der Kurs- und Marktpreismanipulation ein Gebot entnehmen, die Vorschrift künftig auch als deliktsrechtliches Schutzgesetz auszugestalten. In § 20a WpHG lässt sich ein Schutz des individuellen Anlegervermögens nur als Rechtsreflex ausmachen, der für die Annahme eines Schutzgesetzes nicht ausreicht. IV. Rechtspolitischer Ausblick 1. Ausgangslage Die Neuregelungen zur Markttransparenz und Marktintegrität können bei allen Schwierigkeiten im Detail (Unbestimmtheiten im Tatbestand, Beweisschwierigkeiten) objektiv ihren Beitrag leisten, die Funktionsfähigkeit des Kapitalmarktes sichern zu helfen. Sie bieten gleichwohl Anlass zur Diskussion darüber, ob sich ihr Zweck in dem abstrakten, wenig konturierten Schutz der Funktionsfähigkeit des Kapitalmarktes erschöpfen kann. Es geht im Grunde genommen um das Begriffsverständnis „Funktionsfähigkeit des Kapitalmarktes“, entweder im Sinne eines übergeordneten Selbstzwecks oder im Sinne einer Gesamtmenge schützenswerter Faktoren für einen funktionierenden Markt; davon ist der individuelle Anlegerschutz ein wesentlicher Teil. Ist individuelles Vertrauen eines Anlegers in die Ordnungsmäßigkeit des Marktes nicht möglich, ist es wenig wahrscheinlich, dass sich Vertrauen des gesamten Anlegerpublikums einstellt. Individuelles Vertrauen kann 135 Die Formulierung findet sich an 3 Textstellen: BT-Drucks. 14 / 8017, S. 89 re.Sp.. Irritierend und von R. Preusche in T. Heidel (Fn. 15), Kap. 21, Rn. 3 zu Recht aufgegriffen ist die Verwendung des Begriffes „geschützte Vermögenswerte“, die auf den ersten Blick auf einen beabsichtigten Anlegerschutz hindeuten. Aus dem Zusammenhang mit dem vorherigen Textabsatz mit den Erläuterungen zu § 20a Abs. 1 S. 2 WpHG, auf welche Art von Vermögenswerten sich die Manipulationshandlungen beziehen müssen, ergibt sich jedoch, dass der Gesetzgeber mit diesem Begriff nur eine unscharfe Formulierung für von § 20a WpHG „erfasste Vermögenswerte“ verwendete. 136 Vgl. Fn. 5; in Kraft getreten Januar 2003 und umzusetzen in deutsches Recht binnen 18 Monaten.
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sich aber besonders dann bilden, wenn der Anleger darauf vertrauen kann, dass wirtschaftlicher Nachteil auch dann nicht droht, wenn Dritte die Marktspielregeln nicht einhalten. So belegen neueste wissenschaftliche Untersuchungen, dass Länder mit einem effektiven Anlegerschutz auch besser entwickelte Märkte aufweisen137. Selbstverständlich bleibt es dem Gesetzgeber überlassen, ob und bejahendenfalls wie er ein bestimmtes Rechtsgut schützen will. Dies kann einmal geschehen mit Mitteln des Ordnungswidrigkeiten- bzw. Strafrechts. So wäre die Effizienz vorhandener strafrechtlicher Sanktionen für Kapitalmarktdelikte, insbesondere bei dem in Rede stehenden Verbot der Kurs- und Marktpreismanipulation und bei der Offenlegung von Directors’ Dealings, bereits durch eine einfache Verwaltungsmaßnahme zu verbessern, nämlich durch die Bildung einer Schwerpunktstaatsanwaltschaft. Damit würde schon allein aufgrund der Bündelung kapitalmarktbezogener Sachkompetenz die Verfolgung einschlägiger Verstöße erleichtert138. Zum anderen kommen auch zivilrechtliche Mittel in Betracht. Für den individuellen kapitalmarktrechtlichen Anlegerschutz könnten eigenständige Schadensersatzansprüche bei Verstößen gegen die Offenlegung von Directors’ Dealings und gegen das Kurs- und Marktpreismanipulationsverbot139 in Betracht kommen, wie sie die gesetzliche Neuregelung zur Ad-hoc-Publizität jetzt vorsieht. Patentlösungen für solche Haftungserweiterungen kann es dabei freilich nicht geben.
2. Directors’ Dealings So erscheint es in den Fällen der Directors’ Dealings (§ 15a WpHG) fraglich, ob sich eine direkte Schadenshaftung empfiehlt, wenn ein Organmitglied sein Geschäft in Aktien des „eigenen“ Unternehmens nicht offen legt, Anlegern damit eine Information für ihre Transaktionsentscheidungen fehlt und sie deshalb die Aktien womöglich zu teuer kaufen oder zu billig verkaufen. Noch augenfälliger erscheint diese Frage, wenn sich ein naher Angehöriger des Organmitglieds unabhängig von diesem und aus eigenem Entschluss so verhielte und sich hierdurch einer Vielzahl von Schadensersatzansprüchen gegenübersähe. Eine Schadenshaftung in diesen Fällen erscheint zu weitgehend und damit unverhältnismäßig. Im rechtssystematischen Vergleich würde eine solche Haftung wertungsmäßig zum einen nicht zu den Fällen von Insidervergehen passen, im weiteren auch nicht zu den Fällen mangeln137
H. Fleischer, in: Gutachten F für den 64. DJT, 2002, S. 100 ff., ders., NJW 2002, 2977,
2979. Siehe oben II. 3. a) zu den bisherigen Erfahrungen bei § 88 BörsG a.F. Schadensersatzansprüche in Fällen des § 20a WpHG fordern T. Barnert, WM 2002, 1473, 1483; T. Baums, Bericht der Regierungskommission Corporate Governance, 2001, Rn. 261 – 262 und H. Fleischer, in: Gutachten F für den 64. DJT, 2002, S. 100, 121; Schutzgemeinschaft der Kleinaktionäre, Pressekonferenz am 30. 7. 2002, S. 3, abrufbar im Internet unter www.sdk.org; soweit ersichtlich fordert nur H. Fleischer, ZIP 2002, 1217, 1229 bei einem Verstoß gegen § 15a WpHG eine Kompensationsmöglichkeit im Rahmen einer generellen Informationshaftung für Falschdarstellungen gegenüber dem Kapitalmarkt. 138 139
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der Beachtung von Mitteilungspflichten über Stimmrechtsanteile an börsennotierten Gesellschaften (§§ 21 ff. WpHG), da in beiden Fällen das Gesetz eine eigenständige Schadenshaftung nicht vorsieht. Schließlich kommt dem Umstand, dass eine Information aus der privaten Sphäre eines Organmitglieds nicht veröffentlicht wird, eine andere Qualität zu, als dies bei einer nicht veröffentlichten oder falschen Information eines Unternehmens der Fall ist, die für dessen Börsenbewertung erheblich ist. Es kann mithin bei der bußgeldbewehrten Sanktion bleiben. Eine ganz andere und hier nicht zu vertiefende Frage ist es, ob nicht mit anderen Mitteln der Druck zur Befolgung der Offenlegungspflicht erhöht werden könnte, etwa dadurch, dass bei Verstößen die Gewinne herauszugeben sind oder dadurch, dass die Stimmrechte aus den Aktien ruhen140.
3. Kurs- und Marktpreismanipulation Anders stellt sich die Situation bei dem Verbot der Kurs- und Marktpreismanipulation (§ 20a WpHG) dar. Hier erscheint es vom Grundsatz her gerechtfertigt, denjenigen, der durch unrichtige Angaben über bewertungserhebliche Umstände eines Vermögenswertes, deren Verschweigen trotz Offenlegungspflicht oder in sonstiger Weise „täuscht“, über die Bußgeld- bzw. Strafbewehrung hinaus auch für die durch ihn verursachten Vermögensschäden von Anlegern haften zu lassen141. Das würde jedenfalls für Vorsatz gelten. Ob dies darüber hinaus auch in den Fällen grober Fahrlässigkeit greifen sollte, ist angesichts der schwierigen Abgrenzung der Fahrlässigkeitsgrade voneinander tendenziell eher zu verneinen, kann hier aber nicht weiter vertieft werden. Im folgenden soll der in der Praxis wichtige Sonderfall erörtert werden, in dem die Manipulation in der Veröffentlichung einer falschen gesellschaftsbezogenen Information142 durch ein Unternehmen besteht, insbesondere einer Ad-hoc-Mitteilung, für die das Unternehmen selbst bereits direkt haftet (§§ 37b, c WpHG). Hier stellt sich die Frage, ob neben dem Unternehmen auch noch derjenige (mit seinem Privatvermögen) haften soll, der eine solche Veröffentlichung veranlasst hat143, mithin also insbesondere Organmitglieder des Unternehmens. In Richtung dieser Fragestellung geht die im Rahmen des Finanzmarktförderplans 2006144 von der 140 Zu derartigen Vorschlägen T. Baums, ZHR 166 (2002), 375, 379; L. Weiler / O. Tollkühn, DB 2002, 1923, 1927; S. Hutter / M. Leppert, NZG 2002, 649, 657. 141 Siehe Fn. 137 u. 139; vgl. sec. 9(e) Securities Exchange Act, Einzelheiten dazu bei Hazen, The Law of Securities Regulation, 3d ed. (1996), S. 702 – 704. 142 Siehe dazu II. 3. b). 143 Auf diesen Zurechnungsgesichtspunkt weist zutreffend T. Baums, ZHR 167 (2003), 139, 172 f. hin. Eine persönliche Außenhaftung kann – anders als bei der des Unternehmens – nicht in Betracht kommen aufgrund einer bloßen Zurechnung des Fehlverhaltens von Mitarbeitern. 144 Siehe Fn. 11.
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Bundesregierung und der Mehrheit von Rechtswissenschaftlern145 geforderte unmittelbare Außenhaftung von Organmitgliedern, und zwar im Zusammenhang mit einer gleichzeitigen Ausdehnung des Anwendungsbereichs der direkten Anspruchsgrundlagen (§§ 37b, c WpHG) über Ad-hoc-Mitteilungen hinaus auf sonstige mündliche Äußerungen gegenüber dem Kapitalmarkt. Hier gilt es, das Für und Wider einer solchen Haftungsausweitung sorgfältig abzuwägen und Augenmaß zu bewahren. Gewiss hält eine persönliche Außenhaftung zu einer sorgfältigen Informationspolitik an und hat damit Präventivfunktion. Und selbstverständlich kann sie Anlegern eine – ggf. auch in Kombination mit einer Directors & Officers Versicherung (D&O Versicherung) – ausreichende Kompensationsmöglichkeit bieten. Schließlich ist sie auch Teil des Standards entwickelter Kapitalmärkte146. Gleichwohl begegnet eine pauschale, zusätzliche Organaußenhaftung in diesen besonders gelagerten Fällen Bedenken. Nach dem bewährten Prinzip der Organinnenhaftung haften die Organmitglieder (§ 93 AktG) für alle dem Unternehmen schuldhaft zugefügten Schäden, also auch für die von ihnen verursachten Schadensersatzpflichten Dritten gegenüber. Bei einer unmittelbaren Organhaftung würde dagegen die Gefahr einer Kommerzialisierung von Schadensersatzprozessen bestehen147. Organmitglieder würden mit einer Vielzahl von Klagen überzogen, mit denen sie sich beschäftigen müssten. Dies könnte zu Lasten der vollen Konzentration auf ihre eigentlichen Geschäftsführungsaufgaben gehen. Durch die Publizität solcher Prozesse würde ein öffentlicher Druck erzeugt, bei dem die Gefahr nicht ausgeschlossen ist, dass Vergleiche abgeschlossen werden, die auch auf sachfremden Erwägungen beruhen. Hinzu käme die Gefahr, dass sich gerade qualifizierte Personen bei dem Risiko einer unübersehbaren Haftung mit dem Privatvermögen für die Übernahme von Aufsichtsratsmandaten nicht mehr zur Verfügung stellen. Problematisch erscheint auch eine Haftungserstreckung auf jedwede sonstige mündliche Äußerung von Organen gegenüber dem Kapitalmarkt. Mündliche Äußerungen werden notwendigerweise einen vereinfachten und verkürzten Erklärungsinhalt haben und unterliegen nicht den gleichen Sorgfalts- und Kontrollmechanismen wie etwa ein Emissionsprospekt. Noch problematischer erscheint in diesem Zusammenhang die Forderung148, dass schon bei grober Fahrlässigkeit die persönliche Haftung eingreifen soll. Zwar entspricht dieses Verschuldensmaß demjenigen, das die neue Schadensersatzpflicht bei der Ad-hoc-Publizität (§ 37b, c WpHG) vorsieht, unterliegt aber den gleichen Bedenken wie dort: Da die Abgrenzung der groben von der einfachen Fahrlässig145 Beschluss des 64. DJT, ZIP 2002, 1782, 1782; H. Fleischer, in: Gutachten F für den 64. DJT, 2002, S. 100 ff.; so zuletzt T. Baums, ZHR 167 (2003), 139, 175. 146 H. Fleischer, ZRP 2002, 532, 532; siehe Fn. 145. 147 Siehe für diesbezügliche Erfahrungen in den USA: Diskussionsbericht zu den Referaten Wittkowski, Baums und Schuster, ZHR 167 (2003), 217, 218. 148 So zuletzt T. Baums, ZHR 167 (2003), 139, 190, 192.
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keit im konkreten Einzelfall erhebliche Unsicherheiten birgt und damit zusätzliches Potential bietet, dass Managementkapazitäten in nicht geringem Maße durch (außer-) gerichtliche Auseinandersetzungen gebunden werden, empfiehlt es sich, das Verschulden auf Vorsatz zu beschränken. Aus Anlegersicht ist allerdings ein rechtspolitisches Bedürfnis nach einer persönlichen Organhaftung nicht von der Hand zu weisen, wenn der Anleger infolge Vermögensverfalls oder Insolvenz des Unternehmens eine Schadenskompensation nicht erlangen kann; dies war oft genug bei Unternehmen des Neuen Marktes der Fall149. Für diese Fälle bietet sich die Außenhaftung des Organmitglieds als subsidiäre Ausfallhaftung an, wenn das Unternehmen geschädigten Anlegern ihren Schaden nicht ersetzen kann150.
149 Siehe Nachweise zu Infomatec, Met@box, Biodata bei T. Baums, ZHR 167 (2003), 139, 141. 150 Hier lässt sich zudem an eine Haftungshöchstgrenze in Kombination mit einer D&O-Versicherung denken.
Zulässigkeit einer Universaldienstleistungsabgabe im Regulierungsrecht Untersucht am Beispiel des Telekommunikations- und Postrechts Von Hubertus Gersdorf
I. Einleitung Die Frage nach der (finanz-)verfassungsrechtlichen Zulässigkeit einer Universaldienstleistungsabgabe im Telekommunikations- und Postsektor ist nur scheinbar spezifischer Natur. Bei Lichte betrachtet betrifft sie ein Fundamentalproblem des Verfassungsstaates: ob nämlich nach der Überführung eines vormals staatsmonopolistisch strukturierten Wirtschaftsfeldes in eine marktwirtschaftliche Wettbewerbsordnung die betroffenen privaten Unternehmen zur Finanzierung derjenigen Dienstleistungen herangezogen werden können, welche die freien Marktkräfte nicht generieren, die gleichwohl aber im Interesse der Befriedigung elementarer Grundbedürfnisse der Bevölkerung als unverzichtbar erscheinen. Sind im Fall der Liberalisierung die Gemeinwohllasten ausschließlich durch den (Steuer-)Staat zu tragen? Oder können alternativ auch die – von der (materiellen) Privatisierung begünstigten – Privaten zur Finanzierung der für die Grundversorgung der Bevölkerung erforderlichen Dienstleistungen herangezogen werden?1 Protagonisten einer Liberalisierung könnten geneigt sein, sich auf ein klares „Nein“ festzulegen. Sie sollten indes bedenken, dass sie einen Pyrrhussieg auf dem Weg zur Privatisierung riskierten: Angesichts der notorischen Finanzknappheit der öffentlichen Haushalte dürfte die im ordnungspolitischen Wettstreit eingesetzte Kampfformel „Privatisierung der Gewinne, Sozialisierung der Verluste“ nicht nur bei Privatisierungsgegnern auf Gehör stoßen. Ob und unter welchen Voraussetzungen Private bei der Liberalisierung einzelner Dienstleistungsfelder zur Finanzierung von Gemeinwohlaufgaben verpflichtet werden können, erweist sich als ein typisches Problem des gesamten Privatisierungsfolgenrechts. Naturgemäß stellte sich diese Frage zu Zeiten öffentlicher (Dienstleistungs-)Monopole nicht. Monopole wurden (unter anderem) unter Hinweis auf die Gefahr einer „Rosinenpickerei“ durch Private legitimiert2. Es entsprach der Vgl. C. Gramm, Privatisierung und notwendige Staatsaufgaben, 2001, S. 145. Vgl. hierzu zuletzt C. Blankart, Universaldienst und Liberalisierung: Die föderale Dimension – Konsequenzen für das neue TKG –, TKMR Tagungsband zur Veranstaltung „Das neue TKG“ am 5. Dezember 2002, 13, 14. 1 2
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landläufig vertretenen Auffassung, dass nur Monopole die (sozialstaatlich) intendierten Ziele einer flächendeckenden Versorgung der Bevölkerung zu (möglichst) gleichen Bedingungen sicherstellen könnten. Monopole sollten die Quersubventionierung innerhalb eines Dienstleistungssektors ermöglichen. Darüber hinaus wurde aber auch ein Kostenausgleich zwischen verschiedenen Dienstleistungsbereichen vorgenommen. So wurden etwa die milliardenschweren Investitionen für den Aufbau des breitbandigen Fernsehkabelnetzes Anfang der 80ziger Jahre zum Teil unter Verwendung der Telefonüberschüsse finanziert. Ein solcher innerbetrieblicher Kostenausgleich wurde überwiegend, vor allem von der Rechtsprechung, für zulässig gehalten3. Ob der das Gebührenrecht prägende Äquivalenzgrundsatz eine solche Pauschalierung zulässt oder aber eine spezifische Betrachtung der einzelnen Dienstleistungssektoren erfordert, sei hier dahingestellt. Die Monopolsituation führte zu den bekannten Fehlallokationen: Unter den Bedingungen des Monopols ließen sich – im Gegensatz zu einem funktionsfähigen Wettbewerb – keine Vergleichsmaßstäbe für die Berechnung des angemessenen Werts der Leistungen bestimmen. Daher orientierte man sich im Wesentlichen an dem tatsächlich anfallenden Kostenaufwand4, ohne hierbei den Maßstab der effizienten Leistungsbereitstellung anzuwenden. Weiter wurden durch die Möglichkeit einer innerbetrieblichen Quersubventionierung die tatsächlichen Kosten unwirtschaftlicher Dienste verschleiert. Auf diese Weise konnte man dem an sich notwendigen Diskurs über die Gemeinwohlverträglichkeit einer solchen chronisch defizitären Leistungsbereitstellung aus dem Weg gehen. An die Stelle dieses „internen Ausgleichs“ zu Monopolzeiten ist nach der Liberalisierung der „externe Ausgleich“ zwischen den einzelnen privaten (Dienstleistungs-)Unternehmen getreten. Aus dem Aufkommen der von den betreffenden Marktteilnehmern erhobenen Universaldienstleistungsabgabe wird dasjenige Unternehmen finanziert, das im Wege eines öffentlichen Ausschreibungsverfahrens den Zuschlag für die Erbringung der Universaldienstleistung erhält. Hierbei ergeben sich jedoch im Vergleich zum vormaligen Zustand erhebliche Effizienzvorteile: Zum einen muss eine öffentliche Erörterung darüber geführt werden, welche Leistungen man zur Befriedigung der Grundbedürfnisse der Bevölkerung für unverzichtbar hält und infolgedessen zum Universaldienst deklariert. Und zum anderen lässt sich der tatsächliche Wert der zu erbringenden Universaldienstleistung durch das Ausschreibungsverfahren hinreichend verlässlich ermitteln. Die Finanzierung des Universaldienstes über Abgabenerhebung bei den Marktteilnehmern erscheint prima facie als logische Fortführung des Privatisierungskon3 Vgl. BVerfGE 16, 147 (175); 28, 66 (87); gegen die Zulässigkeit der Quersubventionierung im Bereich der vormaligen Deutschen Bundespost vgl. R. Wendt, Die Gebühr als Lenkungsmittel, 1974, S. 121 f., 156; ebenso M. Elicker, Die Abgabe nach § 16 des neuen Postgesetzes als verfassungswidrige Sonderabgabe, Archiv PT 1998, 201, 220. 4 Vgl. H. H. Rupp, Verfassungsrechtliche Aspekte der Postgebühren und des Wettbewerbs der Deutschen Bundespost mit den Kreditinstituten, 1971, S. 22.
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zepts5. Gleichwohl werden im Schrifttum erhebliche verfassungsrechtliche Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit dieser Finanzierungsform vorgebracht. Die nach dem Telekommunikations- und Postgesetz vorgesehene Universaldienstleistungsabgabe wird von dem überwiegenden Teil der Literatur als verfassungswidrige Sonderabgabe qualifiziert6. Dabei fällt auf, dass die Diskussion im Wesentlichen auf die Frage zentriert ist, ob die Universaldienstleistungsabgabe nach dem Telekommunikations- und Postgesetz die Zulässigkeitsvoraussetzungen erfüllt, die das Bundesverfassungsgericht für (Finanzierungs-)Sonderabgaben aufgestellt hat. Hierbei wird jedoch übersehen, dass die Universaldienstleistungsabgabe auf einem anderen Belastungsgrund beruht, der diese Abgabe von der Steuer hinreichend deutlich unterscheidet. Die Untersuchung erfolgt in mehreren Schritten. Zunächst wird die einfachgesetzliche Ausgestaltung der Universaldienstleistungsabgabe als Teil des Universaldienstleistungsregimes unter Einbeziehung der verfassungsrechtlichen Grundlagen dargestellt (dazu unter II.) Sodann wird der Fokus auf die Frage nach der (finanz-)verfassungsrechtlichen Zulässigkeit der Universaldienstleistungsabgabe gelenkt. Hierbei wird sich zeigen, dass sich dieser Abgabetypus den tradierten Kategorien zulässiger nichtsteuerlicher Abgaben nicht zuordnen lässt. Vielmehr gilt es dogmatisches Neuland zu betreten, um die Universaldienstleistungsabgabe (finanz-)verfassungsrechtlich legitimieren zu können. Die Ausführungen werden 5 Siehe auch T. v. Danwitz, Die Universaldienstfinanzierungsabgaben im Telekommunikationsgesetz und Postgesetz als verfassungswidrige Sonderabgaben, NVwZ 2000, 615. 6 W. Bosch, in: H.-H. Trute / W. Spoerr / W. Bosch: Telekommunikationsgesetz mit FTEG, Berlin, New York 2001, § 21 Rn. 2; K. Cannivé, Infrastrukturgewährleistung in der Telekommunikation zwischen Staat und Markt. Eine verfassungsrechtliche Analyse des Universaldienstkonzepts im TKG, 2001, 187 ff.; M. Elicker, Archiv PT 1998 (N 3), 201, 207 ff.; insbesondere 211 ff.; T. v. Danwitz, NVwZ 2000 (N 5), 615, 616 ff.; M. Herdegen, in: P. Badura / T. v. Danwitz / M. Herdegen / J. Sedemund / K. Stern (Hrsg.), Beck’scher PostG-Kommentar, 2000, Verfassungsrechtliche Grundlagen Rn. 39 ff.; M. A. Pohl, Universaldienst in der Telekommunikation. Zur Verfassungsmäßigkeit der Universaldienstabgabe, 1998, S. 147 ff., insbesondere S. 220 f.; R. Schütz, in: W. Büchner / J. Ehmer / M. Geppert / B. Kerkhoff / H.-J. Piepenbrock / R. Schütz / F. Schuster (Hrsg.): Beck’scher TKG-Kommentar, 2. Auflage, 2000, § 21 TKG Rn. 5 f.; ders. / M. Cornils, Universaldienst und Telekommunikation, DVBl. 1997, 1146, 1153 ff.; K. Windthorst, Der Universaldienst im Bereich der Telekommunikation. Eine öffentlichrechtliche Betrachtung unter Einbezug des amerikanischen Rechts, 2000, S. 478 ff.; die (finanz-)verfassungsrechtliche Zulässigkeit der Universaldienstleistungsabgabe wird bejaht von L. Gramlich, Rechtliche Möglichkeiten der Finanzierung von Infrastrukturleistungen im Post- und Telekommunikationsbereich durch die Einrichtung eines Infrastrukturfonds, Archiv PT 1995, 189, 204 f., 213; J. Heimlich, Die Abgabenpflichten des Telekommunikationsgesetzes, NVwZ 1998, 122, 123 ff.; J. Lege, Wer soll die Grundversorgung mit Post und Telefon bezahlen? – Zur Verfassungsmäßigkeit der Universaldienstabgaben –, DÖV 2001, 969, 975 ff.; G. Manssen, Das Telekommunikationsgesetz (TKG) als Herausforderung für die Verfassungs- und Verwaltungsrechtsdogmatik, Archiv PT 1998, 236, 238 f.; M. Ruffert, Regulierung im System des Verwaltungsrechts, AöR 124 (1999), S. 237, 273 f.; H. Gersdorf, Errichtung eines Vermittlungsdienstes für hörbehinderte Menschen, TKMR 2003, 85, 101 f.; die Frage offen lassend J. Scherer, Das neue Telekommunikationsgesetz, NJW 1996, 2953, 2958 f.
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deutlich machen, dass es sich bei der Universaldienstleistungsabgabe um eine zulässige Abgabeform handelt (dazu unter III.). Dieses Ergebnis ist für das gesamte Privatisierungsfolgenrecht und damit auch für die weiteren Regulierungsfelder – diesseits des Telekommunikations- und Postbereichs – von zentraler Bedeutung (dazu unter IV.).
II. Verfassungsrechtliche Grundlagen und einfachgesetzliche Ausgestaltung des Universaldienstleistungsregimes Die Verfassung bekennt sich zu einer freien Wettbewerbsordnung in den Telekommunikations- und Postmärkten (vgl. Art. 87 f Abs. 2 Satz 1 GG). Dem Staat ist die Erbringung telekommunikativer und postalischer Dienstleistungen von Verfassungs wegen versagt. Er hat lediglich Garantiefunktionen zu erfüllen: zum einen für die Hervorbringung und Gewährleistung eines funktionsfähigen Wettbewerbs in den Telekommunikations- und Postmärkten (vgl. Art. 87 f Abs. 2 Satz 1 GG) und zum anderen für die Sicherstellung einer Art Grundversorgung in den liberalisierten Dienstleistungsmärkten (vgl. Art. 87 f Abs. 1 GG). Die Gewährleistung des Universaldienstes ist das (notwendige) Korrelat der Liberalisierung der Telekommunikations- und Postmärkte. Beide Strukturprinzipien, also die Liberalisierung der Telekommunikations- und Postmärkte einerseits und die Sicherstellung von Universaldienstleistungen andererseits, sind die tragenden Säulen des Telekommunikations- und Postverfassungsrechts7. Die Verfassung geht davon aus, dass dieser Universaldienst grundsätzlich durch und im Wettbewerb erbracht wird8. Generiert hingegen das freie Spiel der Kräfte nicht das, was zur unerlässlichen Grundversorgung der Bevölkerung mit telekommunikativen und postalischen Dienstleistungen erforderlich ist, drängt die Garantiefunktion des Staates auf Verwirklichung. Der Staat darf diese Universaldienstleistungen nicht erbringen (Art. 87 f Abs. 2 Satz 1 GG)9. Vielmehr ist dies Aufgabe der privaten (Dienstleistungs-)Unternehmen. Das Universaldienstleistungsregime bietet dem Staat, genauer: der Regulierungsbehörde für Telekommunikation und Post, die rechtliche Handhabe für die Sicherstellung der Universaldienstleistungen durch die betreffenden privaten Unternehmen. Der Gesetzgeber hat den aus Art. 87 f Abs. 1 GG folgenden Direktiven mit der Regelung des Universaldienstes im Telekommunikations- (§§ 17 ff. TKG) und Postgesetz (§§ 11 ff. PostG) entsprochen. Er geht davon aus, dass die – nach Art. 87 f. Abs. 1 GG erforderliche und zu gewährleistende – Grundversorgung 7 Statt vieler H. Gersdorf, in: H. Mangoldt / F. Klein / C. Starck (Hrsg.): Bonner Grundgesetz, Kommentar, Band 3, 4. Auflage, 2001, Art. 87 f Rn. 20 f. 8 M. Herdegen, in: Beck’scher Post-Kommentar (N 6), VerfGrdl Rn. 23 f.; H. Gersdorf, in: H. v. Mangoldt / F. Klein / C. Starck, GG III (N 7), Art. 87 f Rn. 53. 9 BVerfG, 2 BvF 6 / 98 vom 15. 7. 2003, Absatz-Nr. 50; H. Gersdorf, in: H. v. Mangoldt / F. Klein / C. Starck, GG III (N 7), Art. 87 f Rn. 51.
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prinzipiell auf wettbewerblicher Grundlage hinreichend erbracht wird10. Nur für den Fall, dass der Wettbewerb eine solche Versorgung nicht sicherzustellen in der Lage ist, ordnet das Gesetz ein komplexes, gestuftes System der Universaldienstleistungs- und Geldleistungspflichten an: Sofern die Universaldienstleistung nicht ausreichend und angemessen erbracht wird oder zu besorgen ist, dass eine solche Versorgung nicht gewährleistet sein wird, ist jeder Lizenznehmer11 verpflichtet, dazu beizutragen, dass die Universaldienstleistung erbracht wird12. Diese Verpflichtung bezieht sich im Telekommunikationsbereich nur auf die Lizenznehmer, die einen Anteil von mindestens vier Prozent des Gesamtumsatzes des Marktes im Geltungsbereich des Gesetzes auf sich vereinen oder auf dem räumlich relevanten Markt über eine marktbeherrschende Stellung verfügen13; und im Postbereich nur auf die Lizenznehmer, deren im lizenzierten Bereich erzielter Umsatz im vorangegangen Kalenderjahr mehr als 500.000 A betragen hat14. Mit dieser gesetzlichen Universaldienstleistungspflicht soll nach der Amtlichen Begründung der – nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts – für die Erhebung von Sonderabgaben erforderliche „Verantwortungszusammenhang“ hergestellt werden15. Gleichwohl kann nicht davon die Rede sein, dass die gesetzlichen Bestimmungen die betreffenden Lizenznehmer bereits unmittelbar zur Erbringung der entsprechenden Universaldienstleistung verpflichten. Vielmehr bedürfen Inhalt, Umfang, Entstehungszeitpunkt sowie Adressatenkreis der Universaldienstleistungspflicht regelmäßig noch der weiteren Konkretisierung16. Aus diesem Grunde ist bestimmt, 10 Begründung des Gesetzentwurfes der Bundesregierung für ein Telekommunikationsgesetz (BR-Drs. 80 / 96, S. 41) und für ein Postgesetz (BT-Drs. 13 / 774, S. 22); statt aller J. Scherer, NJW 1996 (N 6), 2953, 2959. 11 Im Telekommunikationssektor beschränkt sich diese Verpflichtung auf Lizenznehmer, die auf dem sachlich relevanten Markt der betreffenden Telekommunikationsdienstleistung tätig sind (§ 18 Abs. 1 Satz 1 TKG). Demgegenüber wird im Gesetzentwurf der Bundesregierung für ein neues Telekommunikationsgesetz (TKG-E, BT-Drs. 15 / 2316, S. 1) – wegen des Wegfalls der prinzipiellen Lizenzierungspflicht (vgl. § 6 TKG-E) – nicht mehr an die Lizenznehmereigenschaft angeknüpft; vielmehr ist jeder Anbieter, der auf dem jeweiligen sachlich relevanten Markt der Telekommunikationsdienstleistung tätig ist und einen Anteil von mindestens vier Prozent des Gesamtumsatzes des Marktes im Geltungsbereich des Gesetzes auf sich vereint oder auf dem räumlich relevanten Markt über eine marktbeherrschende Stellung verfügt, verpflichtet, dazu beizutragen, dass die Universaldienstleistung erbracht werden kann (§ 78 TKG-E). 12 §§ 18 f. TKG (§ 78 TKG-E [N 11]), §§ 12 – 14 PostG. 13 § 18 Abs. 1 Satz 1 TKG. 14 § 12 Abs. 1 PostG. 15 Begründung zu § 17 Abs. 1 TKG-Regierungsentwurf (BR-Drs. 80 / 96, S. 41); in der Begründung zu § 18 PostG-Regierungsentwurf fehlt es hingegen an einer entsprechenden Erläuterung (vgl. BT-Drs. 13 / 774, S. 22). 16 Zutreffend J. Scherer, NJW 1996 (N 6), 2953, 2959; siehe auch K. Cannivé, Infrastrukturgewährleistung in der Telekommunikation zwischen Staat und Markt (N 6), S. 205; M. Elicker, Archiv PT 1998 (N 3), 201, 209.
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dass die Beitragspflicht der betreffenden Unternehmen nur nach Maßgabe weiterer gesetzlicher Regelungen, die insbesondere eine Konkretisierung der Universaldienstpflichten durch die Regulierungsbehörde für Telekommunikation und Post vorsehen, gilt17. Diese Regelungen führen im Regelfall dazu, dass Universaldienstpflichten nicht in natura zu erbringen sind18. Vielmehr schulden die Unternehmen – abgesehen von demjenigen Unternehmen, das im Wege eines Ausschreibungsverfahrens den Zuschlag für die Erbringung der Universaldienstleistung erhält – prinzipiell ausschließlich eine Abgabe; ihre Beitragspflicht ist regelmäßig keine Natural-, sondern eine Geldleistungspflicht19: Das förmliche Verfahren zur Auferlegung von Universaldienstleistungs- bzw. Abgabenpflichten beginnt mit einer im Amtsblatt zu veröffentlichenden „Feststellung“ der Regulierungsbehörde für Telekommunikation und Post, dass eine Universaldienstleistung auf dem bestimmten sachlich und räumlich relevanten Markt nicht ausreichend erbracht wird oder die Besorgnis einer entsprechenden Unterversorgung besteht20. Sofern sich nicht innerhalb eines Monats ein Unternehmen bereit erklärt, die betreffende Universaldienstleistung (ohne entsprechenden finanziellen Ausgleich) zu erbringen21, kann die Regulierungsbehörde einem oder mehreren marktbeherrschenden Unternehmen die Erbringung der Universaldienstleistung auferlegen22. Hiervon besteht indes eine maßgebliche Ausnahme. Macht ein Anbieter glaubhaft, dass die entsprechende Universaldienstleistung nur defizitär erbracht werden und er infolgedessen einen Ausgleich verlangen kann, hat die Regulierungsbehörde die Universaldienstleistung auszuschreiben und an denjenigen Bewerber zu vergeben, der sich im Hinblick auf die Erbringung der Universaldienstleistung als fachkundig erweist und hierfür den geringsten finanziellen Ausgleich verlangt23. Der finanzielle Ausgleich für die Erbringung der Universaldienstleistung wird aus § 18 Abs. 1 Satz 2 TKG (§ 73 Satz 2 TKG-E [N 11]), § 12 Abs. 1 PostG. Zutreffend T. v. Danwitz, NVwZ 2000 (N 5), 615. 19 Dies wird nunmehr in der Begründung (S. 85) des § 78 TKG-E [N 11] in bemerkenswert deutlicher Weise zum Ausdruck gebracht: „Der Beitrag besteht in einer Geldleistung, durch die das Defizit des dienstleistenden Unternehmens anteilig ausgeglichen wird“. Hierzu stehen die nachfolgenden Ausführungen indes in unauflösbarem Widerspruch: „Aus finanzverfassungsrechtlichen Gründen ist es notwendig, den betroffenen Unternehmen eine allgemeine Verpflichtung aufzuerlegen, zum Universaldienst beizutragen, die erst später zu einer Abgabenpflicht konkretisiert wird.“ 20 § 19 Abs. 1 Satz 1 TKG (§ 79 Abs. 1 Satz 1 TKG-E [N 11]), § 13 Abs. 1 Satz 1 PostG. 21 § 19 Abs. 1 Satz 2 TKG (§ 79 Abs. 1 Satz 2 TKG-E [N 11]), § 13 Abs. 1 Satz 2 PostG. 22 § 19 Abs. 2 TKG (§ 79 Abs. 2 TKG-E [N 11]), § 13 Abs. 2 PostG. 23 § 14 Abs. 1 Satz 1 PostG. Nach § 19 Abs. 5 TKG steht die Entscheidung über eine Ausschreibung der Universaldienstleistung hingegen im Ermessen der Regulierungsbehörde („kann“). Da jedoch das Ausschreibungsverfahren der Ermittlung der kostengünstigsten Form der Erbringung der Universaldienstleistung im Sinne des Art. 8 Universaldienstrichtlinie (Richtlinie 2002 / 22 / EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 7. März 2002 über den Universaldienst und Nutzerrechte bei elektronischen Kommunikationsnetzen und -diensten, ABl. L 108 vom 24. 04. 2002, S. 51) dient, drängt sich im Lichte einer gebotenen richtlinienkonformen Auslegung eine entsprechende Ermessensreduzierung des § 19 Abs. 5 17 18
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einem Universaldienstleistungsfonds finanziert, zu dem sämtliche Lizenznehmer – unter Einbeziehung des mit der Erbringung der Universaldienstleistung betrauten Unternehmens24 – einen Beitrag zu leisten haben, sofern sie eine bestimmte Umsatzstärke erreichen25. Die Höhe der von den einzelnen Unternehmen zu entrichtenden Universaldienstleistungsabgabe richtet sich nach dem Verhältnis seines Umsatzes zu der Summe des Umsatzes aller Verpflichteten26. Resümee: Der Gesetzgeber sucht seiner aus Art. 87 f Abs. 1 GG folgenden Gewährleistungsfunktion dadurch zu entsprechen, dass er die betreffenden auf den Telekommunikations- und Postmärkten tätigen Unternehmen verpflichtet, einen Beitrag zur Gewährleistung der Universaldienstleistungen auf diesen Märkten zu leisten. Diese Beitragspflicht besteht regelmäßig nicht in der Erbringung der Universaldienstleistung als solcher. Vielmehr wird die zu erbringende Universaldienstleistung im Wege eines Ausschreibungsverfahrens auf dasjenige (fachkundige) Unternehmen übertragen, das den geringsten finanziellen Ausgleich verlangt. Das mit der Erbringung der Universaldienstleistung betraute Unternehmen erhält hierfür einen finanziellen Ausgleich. Hierzu haben sämtliche Unternehmen durch die Entrichtung einer Universaldienstleistungsabgabe, die sich nach der Umsatzstärke der Unternehmen bestimmt, beizutragen. Die Beitragspflicht besteht regelmäßig nicht in einer Natural-, sondern in einer Geldleistungspflicht. Während zu Monopolzeiten defizitäre (Universal-)Dienstleistungen durch innerbetriebliche Quersubventionierung (interner Ausgleich) finanziert wurden, ist nach der Liberalisierung der Telekommunikations- und Postmärkte ein externer Ausgleich zwischen den betreffenden privaten Unternehmen vorgesehen.
III. (Finanz-)Verfassungsrechtliche Beurteilung der Universaldienstleistungsabgabe Die grundgesetzliche Finanzverfassung ist ein Eckpfeiler der bundesstaatlichen Ordnung27. Sie soll sicherstellen, dass Bund und Länder am Gesamtertrag der Volkswirtschaft sachgerecht beteiligt werden. Gesamtstaat und Gliedstaaten müssen im Rahmen der verfügbaren Gesamteinnahmen über die zur Wahrnehmung ihrer Aufgaben erforderlichen Finanzmittel verfügen28. Die Finanzverfassung entTKG auf. In § 74 Abs. 3 TKG-E (N 11) ist nunmehr ebenfalls eine „Ist-Bestimmung“ zugunsten des Ausschreibungsverfahrens vorgesehen (zu dem gemeinschaftsrechtlichen Hintergrund dieser geplanten Regelung siehe die Begründung des § 74 TKG-E, S. 86). 24 Str., wie hier J. Lege, DÖV 2001 (N 6), 969, 970; R. Schütz / M. Cornils, DVBl. 1997 (N 6), 1146, 1152 f. 25 § 21 Abs. 1 Satz 1 TKG, § 16 Abs. 1 Satz 1 PostG; § 81 Abs. 1 Satz 1 TKG-E (N 11) knüpft für die Abgabepflicht nicht mehr an die (entfallende, vgl. N 11) Lizenznehmer-, sondern an die Unternehmereigenschaft an. 26 § 21 Abs. 1 Satz 2 TKG (§ 81 Abs. 1 Satz 2 TKG-E [N 11]), § 16 Abs. 1 Satz 2 PostG. 27 Vgl. zuletzt BVerfG, NVwZ 2003, 715, 716; BVerfG, 2 BvL 1 / 99 vom 17. 07. 2003, Absatz-Nr. 117.
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hält ein ausdifferenziertes System der bundesstaatlichen Verteilung der Gesetzgebungs-, Ertrags- und Verwaltungskompetenzen. Abgesehen von den Zöllen und Finanzmonopolen regelt es nur das Finanzierungsinstrument der Steuer. Aus diesem Grunde ist es problematisch, wenn Bund und Länder unter Berufung auf ihre Sachgesetzgebungskompetenzen nichtsteuerliche Abgaben erheben. Das Bundesverfassungsgericht weist in ständiger Rechtsprechung darauf hin, dass der Gesetzgeber durch die Auferlegung nichtsteuerlicher Abgaben von drei grundlegenden Prinzipien der grundgesetzlichen Finanzverfassung abweicht29: Er gefährdet die Finanzverfassung mit ihrer bundesstaatlichen Verteilung der Gesetzgebungs-, Ertrags- und Verwaltungskompetenzen. Er beschneidet das Budgetrecht des Parlaments und berührt damit auch die an den Staatshaushalt anknüpfenden Regelungen des Finanzausgleichs, der Stabilitätspolitik, der Verschuldensgrenze, der Rechnungslegung sowie der Rechnungsprüfung. Und schließlich stellt er die Belastungsgleichheit in Frage, wenn er zur Finanzierung der Gemeinlasten die Bürger, die regelmäßig zugleich steuerpflichtig sind, durch weitere Abgaben heranzieht. In dem Zentrum des Bemühens um die Bestimmung der Zulässigkeitsvoraussetzungen für die Erhebung nichtsteuerlicher Abgaben steht seit jeher der Versuch, Kriterien für die Abgrenzung der nichtsteuerlichen Abgaben zur Steuer zu gewinnen, die „voraussetzungslos“ auferlegt und geschuldet wird30. Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner umfangreichen Rechtsprechung einzelne Kategorien nichtsteuerlicher Abgaben entwickelt, welche die verfassungsrechtlich geschuldete hinreichende Unterscheidbarkeit zur Steuer und damit auch zur Finanzverfassung erkennen lassen. Die Diskussion über die (finanz-)verfassungsrechtliche Zulässigkeit der Universaldienstleistungsabgabe im Telekommunikations- und Postrecht krankt daran, dass man die von dem Bundesverfassungsgericht herausgebildete Formentypik gleichsam als schablonenhaftes Prüfungsmuster versteht. In Ermangelung der Einschlägigkeit einer besonderen Fallgruppe zulässiger nichtsteuerlicher Abgaben greift man auf die Kategorie der Sonderabgabe zurück und prüft die Universaldienstleistungsabgabe am Maßstab der hierfür bestehenden strengen Rechtmäßigkeitsvoraussetzungen. Hierbei wird indes übersehen, dass das Bundesverfassungsgericht keinesfalls für sich in Anspruch genommen hat, einen abschließenden Kanon zulässiger nichtsteuerlicher Abgaben zu bilden. Vielmehr weist es in ständiger Rechtsprechung darauf hin, dass das Grundgesetz neben der Steuer auch die Erhebung nichtsteuerlicher Abgaben verschiedener Art zulasse31. Daher 28 Vgl. BVerfGE 55, 274 (300); 78, 249 (266); 93, 319 (342); 105, 185 (194); BVerfG, NVwZ 2003, 715, 716; BVerfG, 2 BvL 1 / 99 vom 17. 07. 2003, Absatz-Nr. 117. 29 Vgl. BVerfGE 93, 319 (342); 101, 141 (147); BVerfG, NVwZ 2003, 715, 716; BVerfG, 2 BvL 1 / 99 vom 17. Juli 2003, Absatz-Nr. 118. 30 P. Selmer, Sonderabfallabgaben und Verfassungsrecht. Ein Beitrag zum Umweltschutz durch Sonderabgaben und Steuern, 1996, S. 35; siehe zuletzt deutlich BVerfG, 2 BvL 1 / 99 vom 17. 07. 2003, Absatz-Nr. 122 f. 31 Vgl. BVerfGE 93, 319 (342); BVerfG, NVwZ 2003, 715, 716; BVerfG, 2 BvL 1 / 99 vom 17. 07. 2003, Absatz-Nr. 117.
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erscheint es unerlässlich, die tragenden Gründe für die von dem höchsten deutschen Gericht entwickelten Ausnahmetatbestände näher in den Blick zu nehmen. Im Folgenden wird der Frage nach der finanzverfassungsrechtlichen Zulässigkeit der Universaldienstleistungsabgabe im Telekommunikations- und Postrecht näher nachgegangen. Dabei wird das Augenmerk zunächst auf die Abgrenzung zur Steuer, zu den Vorzugslasten und den sonstigen von dem Bundesverfassungsgericht anerkannten Fallgruppen nichtsteuerlicher Abgaben gerichtet. Hierin darf sich die Prüfung indes nicht erschöpfen. Die Ausführungen werden zeigen, dass die Universaldienstleistungsabgabe in konsequenter Fortschreibung der Karlsruher Judikatur als eine weitere Erscheinungsform zulässiger nichtsteuerlicher Abgaben zu qualifizieren ist. Als Kompensationsabgabe für eine an sich zulässige Indienstnahme Privater weist sie die notwendige Distanz zur Steuer auf.
1. Universaldienstleistungsabgabe als Steuer oder Vorzugslast? Keiner weitergehenden Begründung bedarf die Feststellung, dass die finanzverfassungsrechtliche Legitimation der Universaldienstleistungsabgaben nach dem Telekommunikations- und Postrecht nicht aus Art. 105 GG folgt. Die Universaldienstleistungsabgabe ist keine Steuer (im verfassungsrechtlichen Sinne)32. Dies folgt indes nicht bereits daraus, dass der Gesetzgeber offenbar von einem sonderabgabenrechtlichen Charakter der Universaldienstleistungsabgabe ausgeht33. Der Etikettierung durch den Gesetzgeber kommt keine typuszuweisende Kraft zu; maßgeblich ist allein der materielle Gehalt der Abgabe, das heißt ihr eigentlicher Regelungsgehalt34. Fraglich ist, ob die Ausgliederung des Abgabenaufkommens der Universaldienstleistungsabgabe aus dem Staatshaushalt für sich genommen eine Steuer ausschließt35; das Bundesverfassungsgericht hat sich zu dieser grundsätzlichen Frage bislang uneinheitlich geäußert36. Diese Frage bedarf hier indes keiner 32 Vgl. statt aller K. Cannivé, Infrastrukturgewährleistung in der Telekommunikation zwischen Staat und Markt (N 6), S. 195 f.; M. Elicker, Archiv PT 1998 (N 3), 201, 205; T. v. Danwitz, NVwZ 2000 (N 5), 615, 616; J. Heimlich, NVwZ 1998 (N 6), 122, 123; J. Lege, DÖV 2001 (N 6), 969, 971; K. Windthorst, Der Universaldienst im Bereich der Telekommunikation (N 6), S. 478; unscharf H.-P. Schwintowski, Ordnung und Wettbewerb auf den Telekommunikationsmärkten, CR 1997, 630, 633: „verdeckte Steuer“. 33 Begründung zu § 17 Abs. 1 TKG-Regierungsentwurf (BR-Drs. 80 / 96, S. 41). 34 Siehe hierzu BVerfGE 7, 244 (252); 49, 343 (353); 55, 274 (304 f.); 67, 256 (276); 92, 91 (114); BVerfG, 2 BvL 1 / 99 vom 17. 07. 2003, Absatz-Nr. 113; P. Selmer, Sonderabfallabgaben und Verfassungsrecht (N 30), S. 24 f.; ders. / C. Brodersen / G. Nicolaysen, Straßenbenutzungsabgaben für den Schwerverkehr – Verfassungs- und europarechtliche Probleme, 1989 , S. 49; H. D. Jarass, DÖV 1989, 1013 (1017). 35 So M. Elicker, Archiv PT 1998 (N 3), 201, 205; J. Heimlich, NVwZ 1998 (N 6), 122, 123; J. Lege, DÖV 2001 (N 6), 969, 971; ebenso (wohl) T. v. Danwitz, NVwZ 2000 (N 5), 615, 616: „schwerlich möglich“. 36 Vgl. einerseits BVerfGE 55, 274 (305); 67, 256 (276); 92, 91 (114); andererseits BVerfGE 101, 141 (148); unentschieden BVerfG, 2 BvL 1 / 99 vom 17. 07. 2003, Absatz-Nr. 112.
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Entscheidung, weil die Universaldienstleistungsabgabe aus anderen Rechtsgründen bereits nicht als Steuer qualifiziert werden kann. Denn im Gegensatz zu Steuern dient die Universaldienstleistungsabgabe nicht der Erzielung von Einnahmen für den allgemeinen Finanzbedarf eines Gemeinwesens37. Vielmehr hat der Gesetzgeber den für die Erbringung der jeweiligen Universaldienstleistung erforderlichen Finanzbedarf als Sonderlast ausgewiesen und der besonderen Finanzierungsverantwortung der betreffenden auf den Telekommunikations- und Postmärkten tätigen Unternehmen zugeordnet38. Die Abgabepflicht wird an den Kostenaufwand für eine konkrete, gesetzlich bestimmte Aufgabe gebunden: die Erbringung der entsprechenden Universaldienstleistung. Die Abgabe wird nur dann erhoben, wenn tatsächlich eine Unterversorgung eintritt und ein zum Universaldienst verpflichtetes Unternehmen einen Anspruch auf Ausgleich des Defizits glaubhaft machen kann. Verknüpft der Gesetzgeber eine Abgabepflicht dem Grunde und der Höhe nach mit dem Anfall bestimmter Kosten für die Erledigung einer besonderen Aufgabe, so nimmt er eine besondere Finanzierungsverantwortung der Gruppe der Abgabepflichtigen in Anspruch. Dies lässt sich nur als Auferlegung einer nichtsteuerlichen Abgabe rechtfertigen39. Eben so wenig kann die Universaldienstleistungsabgabe als Vorzugslast (Gebühr, Betrag) qualifiziert und auf diese Weise (finanz-)verfassungsrechtlich legitimiert werden40. Denn die Universaldienstleistungsabgabe wird nicht aus Anlass einer individuell zurechenbaren Leistung erhoben. Ihr korrespondiert kein durch ein öffentlich-rechtliches Gemeinwesen gewährter Vorteil41. Darüber hinaus ist zu berücksichtigen, dass die Erbringung des Universaldienstes keine Leistung des Staates, sondern die Leistung eines privatwirtschaftlich organisierten Unternehmens ist (vgl. Art. 87 f Abs. 2 Satz 1 GG). Es ermangelt einer Leistung des Staates, die durch eine Vorzugslast abgegolten werden könnte42.
37 Vgl. BVerfGE 82, 159 (178); 91, 186 (201); BVerfG, 2 BvL 1 / 99 vom 17. 07. 2003, Absatz-Nr. 110. 38 Begründung zu § 17 Abs. 1 TKG-Regierungsentwurf (BR-Drs. 80 / 96, S. 41). 39 So ausdrücklich BVerfG, 2 BvL 1 / 99 vom 17. 07. 2003, Absatz-Nr. 111. 40 Vgl. statt aller K. Cannivé, Infrastrukturgewährleistung in der Telekommunikation zwischen Staat und Markt (N 6), S. 193 f.; M. Elicker, Archiv PT 1998 (N 3), 201, 206 f.; T. v. Danwitz, NVwZ 2000 (N 5), 615, 616; J. Lege, DÖV 2001 (N 6), 969, 971; K. Windthorst, Der Universaldienst im Bereich der Telekommunikation (N 6), S. 478 f. 41 Vgl. zum Begriff der Gebühr BVerfGE 50, 217 (226); 97, 332 (345); BVerfG, NVwZ 2003, 715. 42 Siehe K. Cannivé, Infrastrukturgewährleistung in der Telekommunikation zwischen Staat und Markt (N 6), S. 193; M. A. Pohl, Universaldienst in der Telekommunikation (N 6), S. 93.
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2. Universaldienstleistungsabgabe als Abschöpfungsabgabe? Neben diesen klassischen Vorzugslasten hat das Bundesverfassungsgericht auch solchen nichtsteuerlichen Abgaben Verfassungskonformität bescheinigt, die sich zwar nicht in das tradierte Bild der Gebühr und des Beitrags einordnen lassen, aber gleichwohl eine den Vorzugslasten vergleichbare Ausgleichsfunktion erfüllen und deshalb eben so wenig wie diese durchgreifende (finanz-)verfassungsrechtliche Probleme aufwerfen. Für diese Abgabenkategorie ist die Abschöpfung der durch die Gegenleistung der öffentlichen Hand vermittelten Vorteile typusprägend43. Unerheblich für die verfassungsrechtliche Rechtfertigung ist hingegen, ob dieser Vorteilsausgleich durch die synallagmatische Verknüpfung von Leistung und Gegenleistung erreicht wird, wie dies bei den klassischen Vorzugslasten der Fall ist; letztlich unbeachtlich ist auch, ob die Begründung dieses Vorteils auf einem entsprechenden Verwaltungsaufwand der öffentlichen Hand beruht, solange und soweit der Vorteil durch die Nutzung eines der Allgemeinheit zustehenden Gutes begründet ist. Als Anknüpfungspunkt für diesen erforderlichen – abzuschöpfenden – Sondervorteil könnten die Privilegien in Betracht kommen, die der Deutschen Bundespost als Vorgängerin der Deutschen Telekom AG und der Deutschen Post AG zu Monopolzeiten eingeräumt waren. Zu nennen wären etwa die Ausschließlichkeitsrechte, welche die Deutsche Bundespost vor Konkurrenz schützten. Auch wurde das Sondervermögen Deutsche Bundespost mit beträchtlichem öffentlichen Aufwand finanziert. Gleichwohl lässt sich die Universaldienstleistungsabgabe nicht auf diese Weise verfassungsrechtlich legitimieren. Denn die Universaldienstleistungsabgabe wird nicht nur von den Nachfolgeunternehmen der Deutschen Bundespost, sondern von sämtlichen Lizenznehmern, die auf den Telekommunikations- und Postmärkten tätig sind, erhoben44. Der Gesetzgeber hat mit der Universaldienstleistungsabgabe erkennbar nicht die Privilegien der vormaligen Deutschen Bundespost ausgleichen wollen45. Auch kann man in der Erteilung der nach Telekommunikations- und Postrecht notwendigen Lizenz nicht die Gewährung eines Sondervorteils erblicken. Zunächst ist daran zu erinnern, dass im Telekommunikationsrecht zwischen der Lizenzerteilung einerseits (§ 6 TKG) und der Entscheidung über die Zuteilung (knapper) Frequenzen (§ 47 TKG)46 andererseits strikt unterschieden wird (vgl. § 8 Abs. 5 TKG)47. Die nach einfachem Recht bestehende Lizenzpflicht ist eine ZulassungsVgl. BVerfGE 78, 249 (267 f.); 93, 319 (346 f.). Vgl. oben nach N 23. 45 Zutreffend K. Cannivé, Infrastrukturgewährleistung in der Telekommunikation zwischen Staat und Markt (N 6), S. 203 f. 46 Allenfalls könnte die frequenztechnische Zuteilungsentscheidung den Anknüpfungspunkt für eine Abschöpfungsabgabe bilden. Diese Frage kann hier indes auf sich beruhen, weil die Universaldienstleistungsabgabe im Telekommunikationsrecht nicht an die Frequenzzuteilungs-, sondern an die Lizenzierungsentscheidung anknüpft. 43 44
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schranke. Die Lizenz eröffnet keine wirtschaftlichen Freiheiten, die nach der Verfassung nicht bereits bestünden. Art. 87 f Abs. 2 Satz 1, Art. 12 und Art. 14 GG gewähren die Befugnis zur wirtschaftlichen Betätigung auf den Telekommunikations- und Postmärkten. Durch die Lizenzerteilung wird lediglich verbrieft, dass gegen die Ausübung der verfassungsrechtlich verbürgten Freiheiten keine Einwände bestehen. Die Einräumung eines – durch eine Ausgleichsabgabe abzuschöpfenden – Sondervorteils ist damit nicht verbunden. Aus diesem Grund kann man in der Öffnung der Telekommunikations- und Postmärkte auch keinen Sondervorteil erblicken, der im Fall der Unterversorgung der Bevölkerung mit Universaldienstleistungen abgeschöpft werden könnte48. Eine solche Argumentation verkennt die Strukturprinzipien der Verfassungsreform aus dem Jahre 1994, auf deren Grundlage die Telekommunikations- und Postmärkte liberalisiert wurden: Die Vorschrift des Art. 87 f GG beruht auf einer Trennung zwischen Hoheitsaufgaben des Bundes einerseits (Art. 87 f Abs. 1 und Abs. 2 Satz 2 GG) und privatwirtschaftlichen, also unternehmerischen Telekommunikationsund Postdienstleistungen andererseits (Art. 87 f Abs. 2 Satz 1 GG). Während die Infrastruktursicherung im Bereich der Telekommunikation als hoheitliche, dem Gemeinwohl verpflichtete Aufgabe des Bundes definiert wird (Art. 87 f Abs. 1 und Abs. 2 Satz 2 GG), wird das Erbringen von Post- und Telekommunikationsdienstleistungen als „privatwirtschaftliche Tätigkeit“ verstanden. Wörtlich heißt es hierzu in der Begründung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung: „Das Angebot der Dienstleistungen ist in Zukunft ausschließlich private Tätigkeit, deren Wahrnehmung als Verwaltungsaufgabe in öffentlich-rechtlicher oder privatrechtlicher Organisationsform ausgeschlossen wird.“49 Mit der Bezeichnung „als privatwirtschaftliche Tätigkeit“ ist nicht „ähnlich wie“ gemeint; vielmehr wird hiermit in verfassungsverbindlicher Form der Zweck der auf den Telekommunikations- und Postmärkten tätigen Unternehmen umschrieben50. Privatwirtschaftliche Ziele stehen im Gegensatz zu den auf umfassende Gemeinwohlhervorbringung gerichteten gemeinwirtschaftlichen Unternehmenszielen. Wirtschaftlichkeit erfasst Gemeinwirtschaftlichkeit gerade nicht51. Erforderlich ist eine an kaufmännischen Leitprinzipien orientierte Unternehmenspolitik der Nachfolgeunternehmen und der ande47 Nach der Novellierung des TKG wird die Lizenzpflicht regelmäßig entfallen, vgl. hierzu N 11. 48 A.A. J. Lege, DÖV 2001 (N 6), 969, 977 f.; wie hier – wenngleich mit anderer Begründung – K. Cannivé, Infrastrukturgewährleistung in der Telekommunikation zwischen Staat und Markt (N 6), S. 204. 49 BT-Drs. 12 / 7269, S. 4; Hervorhebung vom Verf.; siehe auch BVerfG, 2 BvF 6 / 98 vom 15. 7. 2003, Absatz-Nr. 50. 50 P. Lerche, in: T. Maunz / G. Dürig (Hrsg.): Kommentar zum Grundgesetz, 42. Lieferung, München 2003, Art. 87 f Rn. 34, 54; K. Windthorst, Der Universaldienst im Bereich der Telekommunikation (N 6), S. 199; H. Gersdorf, in: H. v. Mangoldt / F. Klein / C. Starck, GG III (N 7), Art. 87 f Rn. 71. 51 P. Lerche, in: T. Maunz / G. Dürig (Hrsg.): GG (N 50), Art. 87 f Rn. 34; H. Gersdorf, in: H. v. Mangoldt / F. Klein / C. Starck, GG III (N 7), Art. 87 f Rn. 71.
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ren privaten Anbieter. Die von den einzelnen Unternehmen zu erbringenden Dienstleistungen werden als Wirtschaftsgut verstanden, durch dessen Angebot am Markt Gewinne erzielt werden sollen. Dies bedeutet nach außen eine Orientierung am Wettbewerb mit anderen Anbietern und nach innen eine Ausrichtung der Unternehmensziele auf eine Optimierung des Unternehmensgewinnes. Post- und Telekommunikationsdienstleistungen werden als ein Wirtschaftsgut wie jedes andere verstanden, das in den freien Wettbewerb überführt wird und mit dessen Hilfe Gewinne erzielt werden sollen52. Kurzum: Dem durch Art. 87 f Abs. 2 Satz 1 GG ausgeformten Telekommunikations- und Postverfassungsrecht liegt ein deutliches Bekenntnis zugunsten der Kommerzialisierung der Erbringung von Telekommunikations- und Postdienstleistungen zugrunde. Die Wirtschaftlichkeit ist das diese Dienstleistungsbereiche kennzeichnende Strukturgesetz. Das bedeutet freilich nicht, dass für die auf den Telekommunikations- und Postmärkten tätigen Unternehmen nicht auch bestimmte Bindungen und Pflichten vorgesehen werden können. Solche Verpflichtungen bleiben jedoch externe Determinanten eines von außen an die Unternehmen herangetragenen Wirtschaftsverwaltungsrechts. Sie sind nicht bereits in der Entscheidungsrationalität der Unternehmen, die ihre Unternehmenspolitik an kaufmännischen Gesichtspunkten zu orientieren haben53, selbst angelegt54. Vielmehr beschränken derartige Bindungen die durch Art. 87 f Abs. 2 Satz 1, Art. 12, Art. 14 GG gewährleistete wirtschaftliche Bewegungsfreiheit der Unternehmen. Sie sind nur unter strikter Wahrung des rechtsstaatlichen Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit zulässig. Die auf den Telekommunikations- und Postmärkten tätigen Unternehmen sind demnach wie die in anderen Wirtschaftsfeldern agierenden Unternehmen zu behandeln. Ihre wirtschaftliche Betätigung beruht nicht auf der Einräumung eines unter dem Gesichtspunkt des allgemeinen Gleichheitssatzes rechtfertigungsbedürftigen und damit grundsätzlich abschöpfungsfähigen Privilegs. Die betreffenden Unternehmen nutzen nicht knappe natürliche Ressourcen, die Güter der Allgemeinheit sind. Sie nehmen schlicht ihre grundrechtlich verbürgten Freiheiten wahr. Die Ausübung grundrechtlicher Freiheiten ist kein Sondervorteil, sondern Grundlage unseres Verfassungsstaates. Eben so wenig wie andere Gewerbetreibende genießen die betreffenden Telekommunikations- und Postunternehmen Sonderrechte, die Anknüpfungspunkt für die Erhebung einer Abschöpfungsabgabe sein könnten.
52 P. Lerche, in: T. Maunz / G. Dürig (Hrsg.): GG (N 50), Art. 87 f Rn. 54; K. Windthorst, Der Universaldienst im Bereich der Telekommunikation (N 6), S. 199; H. Gersdorf, in: H. v. Mangoldt / F. Klein / C. Starck, GG III (N 7), Art. 87 f Rn. 71. 53 Diese verfassungsrechtliche Grundentscheidung findet bei J. Lege, DÖV 2001 (N 6), 969, zu wenig Beachtung: „Verantwortung von Privaten . . . für die Erbringung von wesentlichen Infrastrukturleistungen“ (S. 976), „Verantwortungsbereich der privaten Wirtschaft“ (S. 977). 54 H. Gersdorf, in: H. v. Mangoldt / F. Klein / C. Starck, GG III (N 7), Art. 87 f Rn. 88.
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3. Universaldienstleistungsabgabe als Lenkungs- und Ausgleichsabgabe? Lenkungsabgaben zielen darauf ab, den Abgabepflichtigen zu einem bestimmten Verhalten zu bewegen55. Sie sind nicht auf die Erzielung eines Finanzaufkommens gerichtet; vielmehr sollen sie den Einzelnen zu einem bestimmten Verhalten veranlassen. Dieses Regelungsziel sucht der Gesetzgeber dadurch zu erreichen, dass er denjenigen, der den „Verhaltensbefehl“ nicht befolgt, finanziell belastet. Idealtypisch erreicht die Lenkungsabgabe ihr Ziel bei einem Nullaufkommen56. Natural- und Geldleistungspflicht stehen hierbei in einem besonderen Verhältnis zueinander. Die Drohung mit der Erhebung einer Abgabe soll den Einzelnen zum Tragen der Naturallast „antreiben“. Die Geldleistungspflicht ist damit funktional auf die Erfüllung der Naturaldienstpflicht gerichtet. Dieses Stufenverhältnis lässt die Naturalleistungspflicht als Primär- und die Geldleistungspflicht als Sekundärpflicht erscheinen („play or pay“). Dementsprechend muss sich der Einzelne durch Erbringung der Leistung der monetären Verpflichtung entziehen können57. An einer solchen Koppelung im Sinne einer primär zu erfüllenden Naturalleistungspflicht und einer nur sekundär zu erbringenden Geldleistungspflicht fehlt es indes bei der Universaldienstleistungsabgabe58. Das Universaldienstregime sieht vor, dass im Fall der Unterversorgung jeder Lizenznehmer verpflichtet ist, einen Beitrag zur Gewährleistung der betreffenden Universaldienstleistung zu leisten59. Diese Beitragspflicht besteht regelmäßig nicht in einer Natural-, sondern in einer Geldleistungspflicht60. Zwar kann die Regulierungsbehörde einem oder mehreren marktbeherrschenden Unternehmen die Erbringung der Universaldienstleistung auferlegen61. Diese Möglichkeit besteht indes dann nicht, wenn die entsprechende Universaldienstleistung nur defizitär erbracht werden kann. In diesem Fall ist die zu erbringende Universaldienstleistung im Wege des Ausschreibungsverfahrens zu vergeben. Die Beitragspflicht der betreffenden Unternehmen erschöpft sich dann Vgl. BVerfGE 57, 139 (169); 67, 256 (277). P. Kirchhof, Staatliche Einnahmen, in: J. Isensee / P. Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Band IV, Finanzverfassung – Bundesstaatliche Ordnung, 1989, § 88 Rn. 245. 57 P. Badura, Unternehmenswirtschaftlichkeit und Infrastrukturgewährleistung im Bereich des Postwesens – Ausgleichsfonds, Exklusivlizenz und offener Netzzugang bei Universaldienstleistungen –, Archiv PT 1997, 277, 286 f.; K. Cannivé, Infrastrukturgewährleistung in der Telekommunikation zwischen Staat und Markt (N 6), S. 205; M. Elicker, Archiv PT 1998 (N 3), 201, 210; L. Gramlich, Archiv PT 1995 (N 6), 189, 206 f., 209 f. 58 Ebenso K. Cannivé, Infrastrukturgewährleistung in der Telekommunikation zwischen Staat und Markt (N 6), S. 205; M. Elicker, Archiv PT 1998 (N 3), 201, 209; siehe auch T. v. Danwitz, NVwZ 2000 (N 5), 615, 618 f. 59 §§ 18 f. TKG (§ 78 TKG-E [N 11]), §§ 12 – 14 PostG). 60 Siehe hierzu im Einzelnen bereits oben bei und nach N 10; siehe auch die Ausführungen in N 19. 61 § 19 Abs. 2 TKG (§ 79 Abs. 2 TKG-E [N 11]), § 13 Abs. 2 PostG. 55 56
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in der Entrichtung der Universaldienstleistungsabgabe, aus deren Aufkommen die Erbringung der Universaldienstleistung finanziert wird. Die Ausgestaltung des Universaldienstleistungsregimes führt also dazu, dass Universaldienstpflichten im Regelfall nicht in natura zu erbringen sind. Vielmehr schulden die Unternehmen – abgesehen von demjenigen Unternehmen, das im Wege eines Ausschreibungsverfahrens den Zuschlag für die Erbringung der Universaldienstleistung erhält – prinzipiell ausschließlich eine Abgabe; ihre Beitragspflicht ist regelmäßig keine Natural-, sondern eine Geldleistungspflicht. Die betreffenden Unternehmen haben nicht die Wahlfreiheit zwischen „play or pay“. Die Universaldienstleistungsabgabe soll die Unternehmen nicht zur Erbringung der Universaldienstleistung „antreiben“. Sie erfüllt keine Lenkungsfunktion, sondern dient der Finanzierung der Sicherstellung des Universaldienstes. Hiergegen kann nicht eingewandt werden, dass es jedem Unternehmen unbenommen bleibt, die betreffende Universaldienstleistung freiwillig ohne jeden finanziellen Ausgleich zu erbringen62, um auf diese Weise der Heranziehung durch eine Abgabe zu entgehen. Denn in diesem Fall müsste das Unternehmen die Kosten für den Universaldienst nicht nur anteilig, sondern zur Gänze tragen. Die Möglichkeit einer freiwilligen Erbringung der jeweiligen Universaldienstleistung ist aus Gründen der Lastengleichheit keine verfassungsrechtlich legitime Alternative zur finanziellen Beitragspflicht63. Auch lässt sich die Universaldienstleistungsabgabe nicht als Ausgleichsabgabe64 bzw. Ersatzgeld qualifizieren65. Es kann hier die Frage auf sich beruhen, ob die Ausgleichsabgabe eine eigenständige Bedeutung gegenüber der Lenkungsabgabe hat; auch der Lenkungsabgabe ist eine Ausgleichsfunktion inhärent, weil sie zugleich der Kompensation einer primär zu erfüllenden Naturalleistungspflicht dient66. Denn Ausgleichsabgaben zielen auf die Korrektur einer staatlich veranlassten Belastungsungleichheit der Bürger. Ausgleichsabgaben sollen regelmäßig die materielle Gleichheit innerhalb eines bestimmten Lebensbereiches wiederherstellen, indem sie eine durch staatliche Intervention bewirkte Belastungsungleichheit kompensieren. Eine Ausgleichsabgabe setzt das Bestehen einer belastenden Rechtspflicht voraus, die aus tatsächlichen Gründen nur ungleich realisiert werden kann und aus diesem Grunde kompensiert werden soll67.
62 Vgl. § 19 Abs. 1 Satz 2 TKG (§ 79 Abs. 1 Satz 2 TKG-E [N 11]), § 13 Abs. 1 Satz 2 PostG. 63 Zutreffend M. Elicker, Archiv PT 1998 (N 3), 201, 209. 64 Begründung zu § 18 PostG-Regierungsentwurf (vgl. BT-Drs. 13 / 774, S. 24): „Ausgleichsabgabe“. 65 Ebenso K. Cannivé, Infrastrukturgewährleistung in der Telekommunikation zwischen Staat und Markt (N 6), S. 206; T. v. Danwitz, NVwZ 2000 (N 5), 615, 618 f.; M. Elicker, Archiv PT 1998 (N 3), 201, 209. 66 BVerfGE 57, 139 (167); 67, 256 (277); 92, 91 (117). 67 P. Kirchhof, Verfassungsrechtliche Beurteilung der Abwasserabgabe, 1983, S. 25.
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Die Universaldienstleistungsabgabe erfüllt zweifelsfrei eine gewisse Ausgleichsfunktion, weil sämtliche (lizenzpflichtigen) Unternehmen – nach Maßgabe der jeweiligen Umsätze – zur Finanzierung des Universaldienstes herangezogen werden. Sie soll jedoch nicht eine staatlich veranlasste Belastungsungleichheit korrigieren. Denn die Universaldienstleistungsabgabe dient der Finanzierung der im Wege des Ausschreibungsverfahrens zu vergebenden Universaldienstleistung. Selbst wenn man die im Wege des Ausschreibungsverfahrens übertragene Aufgabe der Erbringung einer Universaldienstleistung als öffentliche Last qualifizieren sollte, träfe diese Pflicht nur das Unternehmen, das den Zuschlag erhalten hat. Für die übrigen Unternehmen besteht hingegen keine Rechtspflicht zur Erbringung des Universaldienstes. Es fehlt demnach an einer staatlich verursachten Belastungsungleichheit, die durch ein Ersatzgeld kompensiert werden könnte. Dem tradierten Muster der Ausgleichsabgabe entspricht die Universaldienstleistungsabgabe daher nicht. Das bedeutet allerdings nicht, dass sich die Universaldienstleistungsabgabe überhaupt nicht mit dem Ausgleichsgedanken rechtfertigen ließe; dies soll im Folgenden gezeigt werden. 4. Universaldienstleistungsabgabe als Kompensationsabgabe für die Verschonung vor einer an sich zulässigen Indienstnahme Privater Die bisherige finanzverfassungsrechtliche Überprüfung hat ergeben, dass die Universaldienstleistungsabgabe nicht als Steuer, Vorzugslast, Abschöpfungs-, Lenkungs- oder Ausgleichsabgabe qualifiziert werden kann. Damit scheint die finanzverfassungsrechtliche Zulässigkeit der Universaldienstleistungsabgabe von der Frage abhängig zu sein, ob diese Abgabeform die strengen Zulässigkeitsvoraussetzungen erfüllt, die das Bundesverfassungsgericht für die Erhebung von Sonderabgaben zu Finanzierungszwecken aufgestellt hat68. Wer den Pfad der Qualifizierung der Universaldienstleistungsabgabe als Sonderabgabe zu Finanzierungszwecken erst einmal betritt, wird um das Verdikt der Verfassungswidrigkeit dieser Abgabe wohl kaum herum kommen. Zwar lassen sich die (Zulässigkeits-)Hürden des Bestehens einer „homogenen Gruppe“ und das Vorliegen einer „spezifischen Sachnähe“ dieser Gruppe zu dem Verwendungszweck des Abgabeaufkommens noch nehmen69. Doch bereitet es erhebliche Probleme, die „gruppennützige Verwendung“ des Abgabeaufkommens zu begründen. Hierfür ist erforderlich, dass das Aufkommen unmittelbar oder mittelbar überwiegend im Interesse der Gruppe der Abgabepflichtigen verwendet wird70. Unschädlich ist, wenn daneben auch andere Gruppen oder die Allgemeinheit gewisse Vorteile aus der Abgabenverwendung haben71. Die Zweifel an dem Vorliegen dieser Zulässigkeitsvoraussetzung beruhen So die einhellige Meinung des Schrifttums, vgl. die Nachweise in N 6. Zu diesen Erfordernissen vgl. BVerfGE 55, 274 (305); 67, 265 (276); 82, 159 (180); 92, 91 (120); BVerfG, 2 BvL 1 / 99 vom 17. 07. 2003, Absatz-Nr. 139. 70 Vgl. BVerfGE 55, 274 (307); 82, 159 (180); BVerfG, 2 BvL 1 / 99 vom 17. 07. 2003, Absatz-Nr. 153. 68 69
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darauf, dass die Universaldienstleistungsabgabe ebenso wie das gesamte Universaldienstregime auf die Verwirklichung des Normziels des Art. 87 f Abs. 1 GG zielt. Art. 87 f Abs. 1 GG dient erkennbar dem gesamtstaatlichen Interesse an der Gewährleistung einer hinreichenden Versorgung der Bevölkerung mit elementaren telekommunikativen und postalischen Dienstleistungen. Diese staatliche Gewährleistungspflicht ist gleichsam das sozialstaatliche Korrektiv72 für die verfassungsrechtliche Entscheidung zugunsten der Liberalisierung und Kommerzialisierung beider Wirtschaftszweige. Das in der Sinnmitte des Universaldienstes stehende Schutzgut ist „so allgemein wie das Interesse am täglichen Brot“73. Die Gewährleistung des Unversaldienstes im Bereich der Telekommunikation und des Postwesens stellt ein Allgemeininteresse „par excellence“74 dar; sie dient nicht dem spezifischen Interesse der mit der Universaldienstleistungsabgabe belasteten Telekommunikationsund Postunternehmen75. Doch der Schein trügt. Das verfassungsrechtliche Schicksal der Universaldienstleistungsabgabe ist nicht an die Frage geknüpft, ob diese Abgabe den strengen Voraussetzungen für die Erhebung von Sonderabgaben mit Finanzierungsfunktion genügt. Das Bundesverfassungsgericht hat stets betont, dass das Grundgesetz keinen abschließenden Kanon zulässiger nichtsteuerlicher Abgaben vorsehe. Vielmehr lasse die Verfassung neben der Steuer prinzipiell auch die Erhebung nichtsteuerlicher Abgaben verschiedener Art zu76. Für die verfassungsrechtliche Zulässigkeit nichtsteuerlicher Abgaben kommt es allein darauf an, dass sich diese von der Steuer hinreichend unterscheiden lassen und dass sie deshalb mit der Schutz- und Begrenzungsfunktion der Steuerverfassung nicht in Konflikt geraten77. DementspreVgl. BVerfGE 55, 274 (307); BVerfG, 2 BvL 1 / 99 vom 17. 07. 2003, Absatz-Nr. 153. Zur Bedeutung des Art. 87 f Abs. 1 GG als Konkretisierung des grundgesetzlichen Sozialstaatsprinzips vgl. die Begründung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung zu Art. 87 f GG (BT-Drs. 12 / 7269, S. 5); aus dem Schrifttum statt vieler M. Eifert, Grundversorgung mit Telekommunikationsdienstleistungen im Gewährleistungsstaat, 1998, S. 182; M. Fehling, Mitbenutzungsrechte Dritter bei Schienenwegen, Energieversorgungs- und Telekommunikationsleistungen vor dem Hintergrund staatlicher Infrastrukturverantwortung, AöR 121 (1996), 59, 78; M. Herdegen, in: Beck’scher Post-Kommentar (N 6), VerfGrdl Rn. 27; H. Gersdorf, in: H. v. Mangoldt / F. Klein / C. Starck, GG III (N 7), Art. 87 f Rn. 41. 73 BVerfGE 91, 186 (206). 74 R. Schütz / M. Cornils, DVBl. 1997 (N 6), 1146, 1154. 75 K. Cannivé, Infrastrukturgewährleistung in der Telekommunikation zwischen Staat und Markt (N 6), S. 225 ff.; T. v. Danwitz, NVwZ 2000 (N 5), 615, 621 f.; M. Elicker, Archiv PT 1998 (N 3), 201, 231; Pohl, Universaldienst in der Telekommunikation (N 6), S. 168 f.; R. Schütz, in: W. Büchner / J. Ehmer / M. Geppert / B. Kerkhoff / H.-J. Piepenbrock / R. Schütz / F. Schuster (Hrsg.): Beck’scher TKG-Kommentar (N 6), § 21 TKG Rn. 7a; R. Schütz / M. Cornils, DVBl. 1997 (N 6), 1146, 1154; K. Windthorst, Der Universaldienst im Bereich der Telekommunikation (N 6), S. 482. 76 Vgl. BVerfGE 93, 319 (342); BVerfG, NVwZ 2003, 715, 716; BVerfG, 2 BvL 1 / 99 vom 17. 07. 2003, Absatz-Nr. 117. 77 P. Selmer, Sonderabfallabgaben und Verfassungsrecht (N 30), S. 35; siehe zuletzt deutlich BVerfG, 2 BvL 1 / 99 vom 17. 07. 2003, Absatz-Nr. 122 f. 71 72
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chend begegnen die Vorzugslasten wegen der ihnen immanenten Ausgleichsfunktion keinen (finanz-)verfassungsrechtlichen Bedenken, wenngleich ihre konkrete gesetzliche Ausgestaltung mit der Schutz- und Begrenzungsfunktion der Finanzverfassung kollidieren kann78. Vorzugslasten können als Annex aus der Gesetzgebungskompetenz für die jeweilige Sachmaterie erhoben werden79. Auch die Lenkungs- und Ausgleichsabgaben sind in dem jeweiligen (Sachgesetzgebungs-) Kompetenztitel hinreichend verwurzelt und weisen gegenüber der Steuer unterscheidungskräftige Merkmale auf. Denn sie sollen den Abgabepflichtigen zur Erfüllung einer – auf die jeweilige Sachkompetenz gestützten – öffentlich-rechtlichen (Primär-)Pflicht „antreiben“ bzw. dem Ausgleich der Belastung dienen, die sich aus dieser primär zu erfüllenden Pflicht ergibt. Die Geldleistungspflicht steht also nicht beziehungslos neben der Naturalleistungspflicht. Vielmehr besteht zwischen der Natural- und Geldleistungspflicht ein enger (bei der Lenkungsabgabe: funktionaler80) Zusammenhang. Die Naturallast ist die Primär- und die Geldleistungslast die Sekundärpflicht. Kraft dieses (funktionalen) Zusammenhangs lässt sich die Auferlegung sowohl der Primär- als auch der Sekundärpflicht auf die jeweilige Sachgesetzgebungskompetenz stützen. Wie gezeigt, ist die Universaldienstleistungsabgabe im Telekommunikationsund Postrecht nicht als Lenkungs- oder Ausgleichsabgabe zu qualifizieren, weil es im Universaldienstleistungsregime an einer (hinreichend bestimmten) Verpflichtung zur Erbringung des betreffenden Universaldienstes fehlt. Es mangelt an der Auferlegung einer Naturallast (Primärpflicht), die den Anknüpfungspunkt für Lenkungs- und Ausgleichsabgaben (Sekundärpflicht) bildet. Damit stellt sich die Frage, ob sich der die Lenkungs- und Ausgleichsabgaben prägende Kompensationsgedanke nicht finanzverfassungsrechtlich auch dann fruchtbar machen lässt, wenn es – wie im Universaldienstleistungsregime – an der Begründung einer solchen Naturallast fehlt. Natural- und Geldleistungspflichten sind zwar prinzipiell austauschbar. Hieraus folgt aber nicht, dass der Gesetzgeber zwischen beiden Belastungsformen beliebig wählen darf. Vielmehr muss dem Abgabeschuldner grundsätzlich die Möglichkeit eröffnet werden, seiner Geldleistungspflicht durch Erbringung der Naturalleistungspflicht zu entgehen. Allerdings sind auch Ausnahmekonstellationen denkbar, in denen der Gesetzgeber von der Auferlegung einer solchen Naturallast absehen darf (hierzu insgesamt unter a). Die Universaldienstleistungsabgabe betrifft eine solche Ausnahmekonstellation. Sie ist eine Kompensationsabgabe für eine an sich zulässige Indienstnahme der betreffenden TelekommunikaBVerfG, NVwZ 2003, 715, 716 m. w. N. F. Kirchhof, Die Höhe der Gebühr. Grundlagen der Gebührenbemessung, 1981, S. 132; P. Kirchhof, in: J. Isensee / P. Kirchhof (Hrsg.), HStR IV (N 56), § 88 Rn. 210, 220; P. Selmer, Sonderabfallabgaben und Verfassungsrecht (N 30), S. 29; ders. / C. Brodersen / G. Nicolaysen, Straßenbenutzungsabgaben für den Schwerverkehr (N 34); D. Wilke, Gebührenrecht und Grundgesetz, 1973, S. 161 ff. 80 Bei der Lenkungsabgabe hat die Geldleistungspflicht eine „dienende Funktion“ gegenüber der primär zu erbringenden Naturalleistung. 78 79
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tions- und Postunternehmen zur Erfüllung der öffentlichen Universaldienstleistungsaufgabe (dazu unter b). a) Grundlegung Sonderlasten können durch die Auferlegung sowohl von Natural- als auch von Geldleistungspflichten begründet werden. Unter dem Gesichtspunkt des aus dem allgemeinen Gleichheitssatz folgenden Prinzips der Lastengleichheit bedürfen beide Fällen der Sonderlasten gleichermaßen der besonderen Rechtfertigung. Auf diesen Zusammenhang hat der Jubilar bereits frühzeitig hingewiesen81. Wegen der prinzipiellen Austauschbarkeit der Lastenverteilung durch Natural- oder Geldleistungspflichten bedarf es einer einheitlichen verfassungsrechtlichen Bewertung beider Formen der Sonderlasten. Entsprechende Ansätze für eine solche systemübergreifende Anwendung des allgemeinen Gleichheitssatzes auf beide Fälle der Sonderlasten finden sich in der Judikatur des Bundesverfassungsgerichts. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ergeben sich die verfassungsrechtlichen Grenzen für die Indienstnahme Privater zur Erfüllung staatlicher oder öffentlicher Aufgaben82 (Naturalleistungspflicht) aus dem Übermaßverbot und dem allgemeinen Gleichheitssatz83. Den in Anspruch genommenen Unternehmen dürfen keine schlechthin „unternehmensfremden Aufgaben“ übertragen werden, die keinen sachlichen Bezug zum typischen Tätigkeitskreis des Unternehmens aufweisen84. Teilweise verlangt das Gericht, dass die zur Erfüllung öffentlicher Aufgaben herangezogenen Unternehmen „eine besondere Sach- und Verantwortungsnähe“85 zu der jeweiligen übertragenen Aufgabe aufweisen müssten. Weiter betont das Gericht, dass sich aus der Verfassung keine generelle Verpflichtung zur Entschädigung des betroffenen Unternehmens herleiten lasse. Ob eine solche Verpflichtung bestehe, sei im konkreten Fall im Lichte des Grundsatzes der Verhält nismäßigkeit zu beurteilen86. Für die Auferlegung von Geldleistungspflichten ergibt sich eine vergleichbare Situation: Das Kriterium der „spezifischen Sachnähe“ 81 P. Selmer, Steuerinterventionismus und Verfassungsrecht, 1972, S. 370 f. m. w. N.; ders., Möglichkeiten und Grenzen staatlicher Eingriffe zur Sicherung der Energieversorgung, in: V. Emmerich / R. Lukes (Hrsg.), Die Sicherheit der Energieversorgung – Ist sie gegenwärtig gefährdet und durch welche Reformmaßnahmen wird sie gesichert?, 1974, S. 5, 21 f.; ebenso M. Elicker, Archiv PT 1998 (N 3), 201, 212; ders., Der Grundsatz der Lastengleichheit als Schranke der Sonderabgaben, Inpflichtnahmen und Dienstleistungspflichten, NVwZ 2003, 304, 306; F. Ossenbühl, Die Erfüllung von Verwaltungsaufgaben durch Private, VVDStRL 29 (1971), 137, 184; H.-J. Papier, in: T. Maunz / G. Dürig (Hrsg.): Kommentar zum Grundgesetz, 42. Lieferung, München 2003, Art. 14 Rn. 350. 82 Zu dieser Kategorie zuletzt M. Heintzen, Beteiligung Privater an öffentlichen Aufgaben und staatliche Verantwortung, VVDStRL 62 (2003), 220, 255 f. 83 BVerfGE 30, 292 (310 ff.); stRspr., vgl. weiter BVerfGE 74, 102 (120); 95, 173 (187). 84 BVerfGE 30, 292 (324). 85 BVerfGE 95, 173 (187). 86 BVerfGE 30, 292 (310).
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der abgabepflichtigen Gruppe zu der zu finanzierenden Aufgabe87 konkretisiert ebenfalls die aus dem allgemeinen Gleichheitssatz folgende Direktive88, 89. Das bedeutet nicht, dass der Gesetzgeber zwischen beiden Belastungsformen beliebig wählen darf. Vielmehr folgt aus dem Erforderlichkeitsgrundsatz als Bestandteil des Verhältnismäßigkeitsprinzips, dass dem Einzelnen regelmäßig eine Wahlmöglichkeit zwischen den Kosten der Erbringung der Naturalleistung und der Abgabe einzuräumen ist. Er muss seiner Geldleistungspflicht entgehen können, indem er seiner primär zu erfüllenden öffentlich-rechtlichen Naturalleistungspflicht nachkommt90. Oftmals stehen der Begründung einer Naturalpflicht indes Zweckoder Rechtmäßigkeitsgründe entgegen. Dies ist etwa der Fall, wenn die (vollumfängliche) Übertragung einer Naturallast zu ungleich höheren Kosten führte. Der Verzicht auf die Begründung einer Naturallast stellt sich dann als Konkretisierung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes dar. Die Universaldienstleistungsabgabe legt hierfür ein besonderes Zeugnis ab91. In diesem Fall sollen durch die Abgabe die Vorteile kompensiert werden, die dem Einzelnen durch Verschonung vor der Indienstnahme zur Erfüllung staatlicher oder öffentlicher Aufgaben entstanden sind. Wenn eine Indienstnahme Privater zu Zwecken der Erfüllung einer öffentlichen Aufgabe (Primärpflicht) – gegebenenfalls flankiert durch die Erhebung einer Lenkungs- oder Ausgleichsabgabe (Sekundärpflicht) – prinzipiell zulässig wäre, so kann die isolierte Auferlegung einer Geldleistungspflicht nicht gegen die (Finanz-)Verfassung verstoßen, sofern der Gesetzgeber auf die Auferlegung einer Naturalleistungspflicht aus verfassungsrechtlich hinreichend legitimierenden Gründen verzichtet. Kraft der Kompensationsfunktion ist dieser Abgabetypus in der jeweiligen Sachgesetzgebungskompetenz ebenso tief verwurzelt wie die Auferlegung einer entsprechenden Naturalleistungspflicht. Die Abgabe unterscheidet sich deutlich von der Steuer, weil sie nicht „voraussetzungslos“, sondern nur als Ausgleich für die Verschonung vor einer an sich zulässigen Indienstnahme erhoben wird. Es müssten also prinzipiell die Vorausset87 BVerfGE 55, 274 (305); 67, 265 (276); 82, 159 (180); 92, 91 (120); BVerfG, 2 BvL 1 / 99 vom 17. 07. 2003, Absatz-Nr. 139. 88 Vgl. H.-J. Papier, in: T. Maunz / G. Dürig (Hrsg.): GG (N 81), Art. 14 Rn. 350; siehe auch M. Elicker, Archiv PT 1998 (N 3), 201, 212, ders., NVwZ 2003 (N 81), 304, 306. 89 Die für parafiskalische Sonderabgaben geltende weitere Zulässigkeitsvoraussetzung der „gruppennützigen Verwendung“ des Abgabenaufkommens (vgl. BVerfGE 55, 274 (307); 82, 159 (180); BVerfG, 2 BvL 1 / 99 vom 17. 07. 2003, Absatz-Nr. 153) kommt hingegen bei der hier in Rede stehenden Abgabeform nicht zum Tragen. Dieses Erfordernis soll in erster Linie die hinreichende Unterscheidbarkeit der Sonderabgabe zur Steuer gewährleisten; Steuern werden „voraussetzungslos“ und ohne Notwendigkeit einer „gruppennützigen Verwendung“ des Abgabenaufkommens erhoben. Die hinreichende Distanz zur Steuer ist bei Abgaben gegeben, die sich als Kompensationsabgaben für die Verschonung vor einer an sich zulässigen Indienstnahme Privater darstellen (vgl. hierzu sogleich). 90 Vgl. P. Kirchhof, in: J. Isensee / P. Kirchhof (Hrsg.), HStR IV (N 56), § 88 Rn. 247; M. Elicker, Archiv PT 1998 (N 3), 201, 212 f., ders., NVwZ 2003 (N 81), 304, 306. 91 Vgl. hierzu sogleich.
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zungen für eine zulässige Indienstnahme Privater vorliegen, um die Abgabe finanzverfassungsrechtlich zu legitimieren. Hinzu kommt, dass das Aufkommen einer solchen Kompensationsabgabe – der Ausgleichsfunktion entsprechend – ausschließlich zur Finanzierung solcher Aufgaben verwendet werden kann, die zugleich Gegenstand einer Indienstnahme sein könnten. Damit ist sichergestellt, dass das Aufkommen nicht zur Befriedigung des allgemeinen Finanzbedarfs des Staats eingesetzt wird. Damit ist dieser Abgabeform die notwendige Distanz zur Steuer inhärent.
b) Fazit: Universaldienstleistungsabgabe als zulässige Abgabeform Die vorstehenden Ausführungen haben die zwei Voraussetzungen für die finanzverfassungsrechtliche Zulässigkeit der nach Telekommunikations- und Postrecht erhobenen Universaldienstleistungsabgabe deutlich werden lassen: Zum einen muss die Indienstnahme der betreffenden Telekommunikations- und Postunternehmen zum Zwecke der Gewährleistung der Grundversorgung in den Bereichen der Telekommunikation und des Postwesens prinzipiell zulässig sein. Und zum anderen bedarf es der verfassungsrechtlichen Rechtfertigung dafür, dass der Gesetzgeber auf die Begründung einer Naturalpflicht verzichtet und die betreffenden Unternehmen ausschließlich durch eine Abgabe zur Finanzierung des Universaldienstes heranzieht. Zur ersten Voraussetzung: Gegen die Indienstnahme privater Telekommunikations- und Postunternehmen zur Erfüllung von öffentlichen (Universaldienstleistungs-)Aufgaben nach dem Telekommunikations- und Postgesetz bestehen grundsätzlich keine verfassungsrechtlichen Bedenken. Zwar ist eine solche Indienstnahme in der Entscheidungsrationalität der kommerziell ausgerichteten Unternehmen (vgl. Art. 87 f Abs. 2 Satz 1 GG) selbst nicht angelegt. Als externe Determinanten eines von außen an die Unternehmen herangetragenen Wirtschaftsverwaltungsrechts sind sie aber im Rahmen des verfassungsrechtlichen Übermaßverbotes und des Prinzips des Lastengleichheit zulässig. Bei der Gesamtwürdigung ist zu berücksichtigen, dass Universaldienstleistungen vom Staat selbst nicht erbracht werden dürfen (vgl. Art. 87 f Abs. 2 Satz 1 GG), so dass es zur Erledigung der Grundversorgungsaufgabe durch die privaten Telekommunikations- und Postunternehmen von Verfassungs wegen keine Alternative gibt92. Entscheidend ist, dass die in Betracht kommenden Universaldienstleistungen zu dem typischen Tätigkeitsfeld der Unternehmen zählen oder hierzu zumindest einen spezifischen Bezug aufweisen. Unter Zugrundelegung der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu den Grenzen der Indienstnahme Privater wäre deshalb gegen eine Verpflichtung der betreffenden Telekommunikations- und Postunternehmen zur Wahrnehmung von Grundversorgungsaufgaben von Verfassungs wegen an nichts zu erinnern. 92
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Vgl. bereits oben bei N 9.
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Auch lässt sich dem Grundgesetz kein Verfassungssatz des Inhalts entnehmen, dass die insoweit in Anspruch genommenen Unternehmen zwingend entschädigt werden müssten. Art. 87 f Abs. 1 GG schreibt nicht vor, dass die Kosten für die Erfüllung der Grundversorgungsaufgabe ausschließlich vom staatlichen Gemeinwesen, also vom Bund getragen werden müssen. Eine entschädigungslose Auferlegung von Universaldienstverpflichtungen an private Telekommunikationsunternehmen ist von Verfassungs wegen grundsätzlich möglich93. Zur zweiten Voraussetzung: Auch ist es von Verfassungs wegen nicht zu beanstanden, dass der Gesetzgeber auf die Begründung einer (hinreichend bestimmten) Naturalleistungspflicht verzichtet hat. Diesem Verzicht liegen Zweckmäßigkeitsund Effizienzerwägungen zugrunde. Vor allem aber soll hierdurch die Belastung der auf den Telekommunikations- und Postmärkten tätigen Unternehmen auf das zur Gewährleistung des Universaldienstes erforderliche Maß begrenzt werden: Die einseitige Belastung eines Unternehmens durch Übertragung der Universaldienstleistungsaufgabe muss aus Gründen der Lastengleichheit ausscheiden. Eine gleichzeitige Verpflichtung sämtlicher Unternehmer schösse über das Ziel hinaus. Im Regelfall reicht es aus, wenn die Universaldienstleistung nur einmal erbracht wird94. Deshalb verstieße es gegen das Übermaßverbot, jeden Einzelnen mit der betreffenden Naturalleistungspflicht zu belasten. Folgerichtig sieht das Universaldienstregime vor, dass sich die Beitragspflicht der betreffenden Unternehmen in einer rein finanziellen Last erschöpft. Die nur anteilige Heranziehung der Unternehmen zur Finanzierung des Universaldienstes führt zu einer vergleichsweise geringen Belastung und verhilft auf diese Weise dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zur Verwirklichung. Darüber hinaus ist das im Universaldienstregime vorgesehene Ausschreibungsverfahren in besonderer Weise geeignet, die tatsächlich erforderlichen Kosten für die Erbringung der betreffenden Universaldienstleistung zu ermitteln. Dies dient dem volkswirtschaftlichen Ziel eines möglichst effizienten Einsatzes der verfügbaren Ressourcen und der Belastungsbegrenzung der Abgabeschuldner95. Der Verzicht auf die Auferlegung einer Naturallast ist demnach eine dem verfassungsrechtlichen Übermaßverbot geschuldete Notwendigkeit. Diese Erkenntnis muss sich auch auf die finanzverfassungsrechtliche Würdigung der Universaldienstleistungsabgabe auswirken. Nochmals in pointierter Verdichtung: Wenn eine Indienstnahme Privater zu Zwecken der Erfüllung einer öffentlichen Aufgabe (Primärpflicht) – gegebenenfalls flankiert durch die Erhebung einer Lenkungs- oder Ausgleichsabgabe (Sekundärpflicht) – prinzipiell zulässig wäre, so kann die isoH. Gersdorf, TKMR 2003 (N 6), 85, 102. So machte es – um nur ein Beispiel zu nennen – keinen Sinn, alle betreffenden Telekommunikationsunternehmen zu verpflichten, jeweils einen eigenen Auskunftsdienst oder jeweils ein eigenes Teilnehmerverzeichnis („Telefonbuch“) herauszugeben. 95 Als Ausgleich können lediglich die Kosten der effizienten Leistungsbereitstellung verlangt werden, vgl. § 20 Abs. 1 Satz 1 TKG (§ 80 Abs. 4 Satz 2 TKG-E [N 11]), § 15 Abs. 1 Satz 1 PostG. 93 94
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lierte Auferlegung einer Geldleistungspflicht nicht gegen die (Finanz-)Verfassung verstoßen, sofern der Begründung einer Naturalleistungspflicht das Übermaßverbot entgegenstünde. Die Universaldienstleistungsabgabe zielt also auf eine Kompensation der Vorteile, welche die auf den Telekommunikations- und Postmärkten tätigen Unternehmen dadurch erlangen, dass sie mit der Erfüllung der öffentlichen Grundversorgungsaufgabe nicht belastet werden. Aufgrund dieser Kompensationsfunktion ist die Erhebung der Universaldienstleistungsabgabe in der betreffenden Sachgesetzgebungskompetenz (Art. 87 f Abs. 1 GG) ebenso tief verwurzelt wie die mögliche Verpflichtung zur Erbringung der Universaldienstleistung. Die Universaldienstleistungsabgabe wahrt die notwendige Distanz zur Steuer, weil sie nicht „voraussetzungslos“, sondern nur als Ausgleich für die Verschonung vor einer an sich zulässigen Indienstnahme erhoben wird. Hinzu kommt, dass das Aufkommen der Universaldienstleistungsabgabe lediglich der Finanzierung des Grundversorgungsauftrages im Sinne des Art. 87 f Abs. 1 GG dient. Damit ist ausgeschlossen, dass sich der Staat des Abgabenaufkommens zur Befriedigung seines allgemeinen Finanzbedarfs bedienen kann. Der Universaldienstleistungsabgabe ist die notwendige Distanz zur Steuer gleichsam wesenseigen96.
IV. Abschließende Bemerkungen Die nach dem Telekommunikations- und Postrecht erhobene Universaldienstleistungsabgabe hat vor der (Finanz-)Verfassung Bestand. Der abgaberechtliche Belastungsgrund stellt kein Spezifikum des Telekommunikations- und Postverfassungsrechts (vgl. Art. 87 f GG) dar. Der diesen Abgabetypus prägende Kompensationsgedanke lässt sich auch auf weitere Regulierungsfelder übertragen. Sofern sich der Staat – aus welchen Gründen auch immer – für die materielle Privatisierung und Liberalisierung bestimmter ehemals (staats-)monopolistisch strukturierter Wirtschaftsbereiche entscheidet, zwingt ihn das Verfassungsrecht nicht dazu, die im Fall eines Marktversagens zur Befriedigung der elementaren Grundbedürfnisse der Bevölkerung anfallenden Kosten selbst zu tragen. Es gibt keinen Verfassungssatz des Inhalts, dass allein der (Steuer-)Staat die Verluste in den entsprechenden defizitären Grundversorgungsbereichen liberalisierter Märke auszugleichen hat. Ihm bleibt es von Verfassungs wegen unbenommen, die auf den liberalisierten Märkten tätigen Unternehmen zur Finanzierung der unverzichtbaren Gemeinwohllasten heranzuziehen. Eine solche finanzielle Beitragspflicht ist Ausdruck der Sozialpflichtigkeit der betreffenden Unternehmen, also eines Prinzips, das als Fundamentalregel des Verfassungsstaates auch auf liberalisierten Märkten Gültigkeit beansprucht.
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H. Gersdorf, TKMR 2003 (N 6), 85, 102.
Zur Binnenstruktur der Unternehmensgruppe Von Heinrich Götz
I. Einleitung Die Bezeichnung „Unternehmensgruppe“ ist anders als der Konzern (§ 18 AktG) oder die verbundenen Unternehmen (§ 15 AktG) kein Rechtsbegriff mit einem feststehenden definitorischen Inhalt. Für die Zwecke dieses Beitrags werden als Unternehmensgruppe neben dem herrschenden Unternehmen in der Rechtsform der Aktiengesellschaft alle von diesem abhängigen Unternehmen angesehen, gleichgültig, ob zugleich eine Konzernbeziehung besteht oder nicht. Welche Funktionen obliegen dem Vorstand der herrschenden Aktiengesellschaft gegenüber seinem Unternehmen in Bezug auf die von diesem abhängigen Gesellschaften, auch wenn diese nicht in eine einheitliche Leitung durch die Obergesellschaft einbezogen sind? Unter welchen Voraussetzungen besteht eine Verpflichtung zur Begründung einer einheitlichen Leitung, und welcher zusätzliche Pflichtenkatalog erwächst daraus für den Vorstand der Obergesellschaft? Diesen Fragen widmet sich die vorliegende Untersuchung. II. Das abhängige Unternehmen als Gegenstand der Geschäftsführung des Vorstands des herrschenden Unternehmens 1. Die Unternehmenskontrolle Obwohl der Wortlaut des § 76 Abs. 1 AktG, welcher den Vorstand verpflichtet, die Gesellschaft unter eigener Verantwortung zu leiten, die mögliche Existenz einer Unternehmensgruppe ignoriert, ist es allgemein anerkannt, dass sich der Inhalt der Leitungsaufgabe des Vorstands erweitert, wenn abhängige Unternehmen vorhanden sind1. Der Anteilsbesitz des herrschenden Unternehmens an den abhängigen Gesellschaften ist Bestandteil seines Vermögens. Da es dem Vorstand obliegt, für den Bestand und eine dauerhafte Rentabilität seines Unternehmens und damit einhergehend für einen wirtschaftlich sinnvollen Einsatz der vorhandenen Ressourcen zu sorgen, gehört zu seinem Pflichtenkreis auch die Wahrnehmung von Lei1 Götz, AG 1995, 337, 339 f.; Hüffer, AktG, 5 . Aufl. (2002), § 76 Rn. 17a; Löbbe, Unternehmenskontrolle im Konzern, 2003, S. 75.
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tungsfunktionen in Bezug auf die abhängigen Unternehmen. Allerdings reduziert sich die Leitungsaufgabe des Vorstands hinsichtlich solcher abhängiger Unternehmen, die nicht den Status einer Konzerngesellschaft im aktienrechtlichen Sinne haben, auf die Wahrnehmung der Unternehmenskontrolle2 und die Bestellung der Gesellschaftsorgane. Die übrigen Leitungsfunktionen des Vorstands, nämlich die – konzerneinheitliche – Unternehmensplanung und Unternehmenskoordination3, sind erst dann gefordert, wenn ein Konzernverhältnis begründet ist. Es handelt sich also um eine abgestufte Leitungspflicht des Vorstands, die im übrigen nur im Verhältnis zu seinem Unternehmen, nicht aber gegenüber den abhängigen Gesellschaften besteht. Dass der Vorstand des herrschenden Unternehmens auch zur Kontrolle der Geschäftsführung nicht konzernierter abhängiger Gesellschaften verpflichtet ist, wird durch § 90 Abs. 1 S. 2. AktG, der durch das Transparenz- und Publizitätsgesetz vom 19. 07. 02 eingefügt wurde, bestätigt. Danach hat ein Mutterunternehmen in seinem Bericht über die beabsichtigte Geschäftspolitik und andere grundsätzliche Fragen der Unternehmensplanung, über die Rentabilität, den Gang der Geschäfte sowie über Geschäfte, die für die Rentabilität oder Liquidität der Gesellschaft von besonderer Bedeutung sein können, auch die Tochterunternehmen (§ 290 HGB) einzubeziehen. Tochterunternehmen sind gemäß § 290 Abs. 2 HGB auch solche Gesellschaften, die nicht zwangsläufig unter der einheitlichen Leitung des Mutterunternehmens stehen, d. h. keine Konzernunternehmen im aktenrechtlichen Sinne sind. Es hätte nahegelegen, dass der Gesetzgeber mit der Erstreckung der Berichtspflicht des Vorstands an den Aufsichtsrat auf Tochterunternehmen gleichzeitig auch entsprechende Informationsrechte des Vorstands gegenüber den Tochtergesellschaften dekretiert haben würde, wie sie in § 294 Abs. 3 S. 2 HGB für die Aufstellung des Konzernabschlusses und den Konzernlagebericht oder in § 51 a GmbHG vorgesehen sind. Soweit nämlich abhängige Unternehmen Aktiengesellschaften sind und weder ein Beherrschungsvertrag noch eine Eingliederung vorliegt, gibt es keine dahingehende Auskunftspflicht des Vorstands des Tochterunternehmens gegenüber dem Vorstand der Muttergesellschaft4. Damit stellt sich die Frage, ob die Informationsbeschaffung auf dem Wege über die Vertreter des herrschenden Unternehmens im Aufsichtsrat der abhängigen Aktiengesellschaft erfolgen kann. Aufsichtsratsmitglieder dürfen neben der in § 90 Abs. 1 AktG vorgesehenen Berichterstattung des Vorstands gemäß § 90 Abs. 3 AktG weitere Berichte anfordern. Allerdings unterliegen sie der Verschwiegenheitspflicht nach den Emmerich / Habersack, Aktien- und GmbH-Konzernrecht, 2. Aufl. (2001), § 311 Rn. 87. Vgl. dazu Hüffer (Fn. 1), § 76 Rn. 8; Mertens, KölnerKomm. z. AktG, 2. Aufl. (1996), § 76 Rn. 5; Semler, Leitung und Überwachung der Aktiengesellschaft, 2. Aufl. (1996), S. 10. 4 Hoffmann-Becking, ZHR 159 (1995), 325, 327; Lutter, lnformation und Vertraulichkeit im Aufsichtsrat, 2. Aufl. (1994), S. 49 ff.; Mertens (Fn. 3), § 90 Rn. 20. A. A. Semler (Fn. 3), S. 178 ff., Kropff, MünchKomm. z. AktG, 2000, § 311 Rn. 299, und Löbbe (Fn. 1), S. 161. 2 3
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§§ 116, 93 Abs. 1 S. 2 AktG, die grundsätzlich auch gegenüber dem herrschenden Unternehmen besteht5. Eine Weitergabe vertraulicher Informationen durch Aufsichtsratsmitglieder an das herrschende Unternehmen lässt sich auch nicht mit Hinweis auf § 311 AktG rechtfertigen. Diese den Außenseiterschutz regelnde Vorschrift, welche auch für solche abhängige Aktiengesellschaften gilt, zu denen keine Konzernbeziehung besteht6, setzt nämlich voraus, dass das herrschende Unternehmen die abhängige Gesellschaft zur Preisgabe von Geschäfts- oder Betriebsgeheimnissen veranlasst. Nur dann kommt ein Nachteilsausgleich in Betracht. Adressat der Veranlassung muss nicht zwingend der Vorstand der abhängigen Gesellschaft sein; es können auch deren Angestellte sein, nicht jedoch solche Personen, die, wie die Aufsichtsratsmitglieder, nicht dem Weisungsrecht des Vorstands unterworfen sind. Sonst könnte dieser nicht sicherstellen, dass mit Nachteilen verbundene Einflussnahmen des herrschenden Unternehmens im Abhängigkeitsbericht erwähnt und von diesem ausgeglichen werden. Unabhängig von der Kontrolle, die die Aufsichtsgremien der abhängigen Gesellschaften ausüben, hat der Vorstand des herrschenden Unternehmens seinerseits die für eine wirksame Überwachung durch ihn und für die Berichterstattung gegenüber seinem Aufsichtsrat gemäß § 90 AktG erforderlichen Daten und sonstigen Informationen direkt beim Geschäftsführungsorgan der abhängigen Gesellschaft anzufordern. Die Unternehmenskontrolle ist eine Leitungsfunktion, die in der Gesamtverantwortung des Vorstands liegt und als solche nicht delegierbar ist7. Deshalb müssen auch alle Vorstandsmitglieder des herrschenden Unternehmens Zugang zu den relevanten Informationen über die abhängigen Unternehmen haben, was, wie bereits ausgeführt, durch deren Aufsichtsratsmitglieder nicht erfolgen kann. Obwohl der Vorstand der abhängigen Gesellschaft außerhalb des Anwendungsbereichs des § 294 Abs. 3 S. 2 HGB nicht verpflichtet ist, dem herrschenden Unternehmen Berichte zu erstatten, wird er im Regelfall entsprechenden Ansinnen Folge leisten, soweit damit keine Nachteile verbunden sind. Da das herrschende Unternehmen maßgeblich die (Nicht-) Wiederbestellung und die Abberufung der Geschäftsführung der Tochtergesellschaften sowie deren Vergütung beeinflussen kann, verfügt es über ein ausreichendes Einwirkungsinstrumentarium. Zwar kann bei der Weitergabe sensibler Informationen an das herrschende Unternehmen von einem stillschweigenden Vertrag über die vertrauliche Behandlung derselben ausgegangen werden; trotzdem empfiehlt sich zu Beweiszwecken der ausdrückliche Abschluss einer dahingehenden Rahmenvereinbarung. 5 Götz, ZGR 1998, 524, 535 f.; Löbbe (Fn. 1), S. 122; Schmidt-Aßmann / Ulmer, BB 1988, Beilage 13, S. 5. A. A. zumindest dann, wenn ein Konzernverhältnis besteht, Mertens (Fn. 3), § 116 Rn. 39, und -teilweise – Kropff (Fn. 4), § 311 Rn. 301. 6 Hüffer (Fn. 1), § 311 Rn. 2; Kropff (Fn. 4), § 311 Rn. 6. 7 Götz, AG 1995, 337, 338 f.; Hüffer (Fn. 1), § 77 Rn. 18; Martens, FS Fleck, 1988, S. 191, 196 ff.; Mertens (Fn. 3) § 77 Rn. 18.
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Zur sachgerechten Wahrnehmung seiner Kontrollaufgabe benötigt der Vorstand des herrschenden Unternehmens eine laufende Berichterstattung durch die abhängigen Unternehmen, die sich insbesondere auf deren Umsätze, Auftragseingänge, Betriebsergebnisse, Investitionen und die Entwicklung der Liquidität bezieht. Letztere hat einen nicht zu unterschätzenden Stellenwert, weil, wie die einschlägigen Beispiele der jüngeren Vergangenheit lehren, Liquiditätsengpässe verheerende Folgen haben können. Ferner ist vorzusehen, dass das herrschende Unternehmen die Unternehmenspläne der abhängigen Gesellschaften erhält, welche die beabsichtigte Geschäftspolitik aufzeigen und eine Voraussetzung für die regelmäßig durchzuführenden Soll / Istvergleiche sind. Schließlich benötigt der Vorstand des herrschenden Unternehmens unverzügliche Informationen über wichtige außerplanmäßige Vorgänge bei abhängigen Gesellschaften, um überprüfen zu können, ob sach- und zeitgerechte Reaktionen erfolgen, und um seiner eigenen Berichtspflicht nach § 90 Abs. 1 S. 3 AktG nachzukommen. Soweit der Vorstand der abhängigen Gesellschaft dem herrschenden Unternehmen berichtet, unterliegt er nicht der Pflicht zur Nachauskunft nach § 131 Abs. 4 AktG8. Die herrschende Lehre will die Befreiung von der Nachauskunftspflicht nur bei Bestehen einer zumindest faktischen Konzernbeziehung, nicht aber bei bloßer Abhängigkeit gelten lassen9. Die Überlagerung der Aktionärseigenschaft des Auskunftsempfängers durch das Beherrschungsverhältnis der §§ 311 ff. AktG besteht sowohl bei Konzernunternehmen als auch bei bloßer Abhängigkeit, weshalb die von der herrschenden Lehre vorgenommene Differenzierung nicht zutreffend ist. Dabei ist zu berücksichtigen, dass auch vom nicht konzernierten abhängigen Unternehmen an die herrschende Gesellschaft gegebene Informationen überwiegend der Erfüllung von deren Berichtspflicht gegenüber dem Aufsichtsrat nach § 90 Abs. 1 AktG und der Wahrnehmung ihrer Unternehmenskontrollaufgabe dienen, was sie ebenfalls vom einfachen Aktionär unterscheidet.
2. Zustimmungsvorbehalte Ein besonders wirksames Instrumentarium zur Überwachung der Geschäftsführung sind Zustimmungsvorbehalte, weil sie eine präventive Kontrolle geschäftlicher Transaktionen ermöglichen. Bisher lag es in dem Ermessen der Hauptversammlung und des Aufsichtsrats, zu entscheiden, ob bestimmte Arten von Geschäften nur mit dessen Zustimmung abgeschlossen werden dürfen. Nicht zuletzt aufgrund evidenter Überwachungsdefizite des Aufsichtsrats bei verschiedenen Unternehmenskrisen und -zusammenbrüchen in der jüngeren Vergangenheit ist durch das Transparenz- und Publizitätsgesetz in § 111 Abs. 4 S. 1 AktG die Pflicht der 8 Vgl. des näheren Götz, ZGR 1998, 524, 527 f.; Löbbe (Fn. 1), S. 128; Werner, AG 1967, 122, 123; wohl auch Decher, ZHR 158 (1994), 473, 484. 9 Hüffer (Fn. 1), § 131 Rn. 18; Kropff (Fn. 4), § 311 Rn. 7; Zöllner, KölnerKomm. z. AktG, 1973, § 131 Rn. 67.
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Hauptversammlung und / oder des Aufsichtsrats begründet worden, einen Zustimmungskatalog vorzusehen. Während der Gesetzgeber davon abgesehen hat, zu bestimmen, nach welchen Grundsätzen Zustimmungsvorbehalte festzulegen sind, heißt es unter 3.3. des Deutschen Corporate Governance Code vom 26. 02. 02, dass solche Entscheidungen oder Maßnahmen, die die Vermögens-, Finanz- oder Ertragslage des Unternehmens grundlegend verändern, der Zustimmung des Aufsichtsrats unterworfen werden sollen. Da die Ertragsaussichten der Gesellschaft und ihre Risikoexposition nicht nur durch Geschäfte, die sie selbst vornimmt, sondern auch durch solche von ihr abhängiger Unternehmen – gleichgültig, ob sie unter der einheitlichen Leitung der herrschenden Gesellschaft stehen oder nicht – grundlegend verändert werden können, ist mangels gegenteiliger Anhaltspunkte davon auszugehen, dass Zustimmungsvorbehalte auch die entsprechenden Geschäfte abhängiger Gesellschaften erfassen10. Damit obliegt es dem Vorstand des herrschenden Unternehmen, Vorkehrungen zu treffen, dass beabsichtigte Geschäfte abhängiger Unternehmen, die unter den Zustimmungskatalog fallen, ihm von deren Geschäftsführungsorgan so rechtzeitig notifiziert werden, dass er nach eigener Prüfung seinen Aufsichtsrat gegebenenfalls um Zustimmung bitten kann. Zusätzlich kommt die Schaffung eines gleichartigen Zustimmungskatalogs durch den Aufsichtsrat der abhängigen Gesellschaft in Betracht. Damit wird den Repräsentanten des herrschenden Unternehmens im Aufsichtsrat der Tochtergesellschaft im Regelfall die Gelegenheit gegeben, das betreffende Geschäft erst nach Vorliegen der Zustimmung des Aufsichtsrats ihres Unternehmens wirksam werden zu lassen11. Allerdings dürfen sie die Zustimmung zu einem Geschäft grundsätzlich nur dann verweigern, wenn dies im Interesse des abhängigen Unternehmens liegt. Eine Ausnahme von dem Prinzip der vorrangigen Bindung des Aufsichtsrats der abhängigen Gesellschaft an die Interessen derselben kommt in Betracht, sofern ein Nachteilsausgleich möglich und beabsichtigt ist12.
3. Nicht delegierbare Kontrollaufgabe und Haftung bei Überwachungsdefiziten Die vorstehenden Ausführungen haben gezeigt, dass die Nichteinbeziehung abhängiger Unternehmen in einen Konzern zwar deren Geschäftsführung die volle Möglichkeit belässt, ihre Gesellschaft in eigener Verantwortung zu leiten. Dies ent10 Götz, NZG 2002, 599, 603. So auch jedenfalls für Konzernunternehmen Hoffmann- Becking, Mch. Hdb. GesR IV, 2. Aufl. (1999), § 29 Rn. 40; Hüffer (Fn. 1), § 111 Rn. 16; Kropff (Fn. 4), § 311 Rn. 296; Mertens (Fn. 3), § 111 Rdnrn. 77 f. (nur für Zustimmungsvorbehalte, die in der Satzung verankert sind). 11 So auch jedenfalls bei Vorliegen eines faktischen Konzernverhältnisses Kropff (Fn. 4), § 311 Rn. 297. 12 Kropff (Fn. 4), § 311 Rn. 293.
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bindet aber nicht den Vorstand des herrschenden Unternehmens von der Wahrnehmung seiner Überwachungsaufgabe, die je nach Ausmaß des in der Beteiligungsgesellschaft gebundenen Vermögens des herrschenden Unternehmens und nach ihrem Risikoprofil eine größere Kontrolldichte erforderlich machen kann. Diese Funktion darf nicht allein dem Aufsichtsrat der abhängigen Gesellschaft überlassen bleiben, wie es bei einer nicht einer Unternehmensgruppe angehörenden Gesellschaft der Fall wäre, weil auf diese Weise nicht der Gesamtverantwortung des Vorstands der herrschenden Gesellschaft in der Ausübung seiner Kontrollaufgabe entsprochen werden kann. Die Aktionäre der herrschenden Gesellschaft haben ihre Einlagen an diese und nicht an das von ihr abhängige Unternehmen geleistet. Deren Vorstand hat die als solche nicht delegierbare Pflicht zur Kontrolle derjenigen, die innerhalb dieser Gesellschaft oder in Beteilungsgesellschaften mit diesem Kapital wirtschaften. Im Gegensatz zu den Geschäftsführungsentscheidungen, bei denen es häufig mehrere Handlungsalternativen gibt, hat der Vorstand bei der Wahrnehmung seiner Überwachungsfunktion nur insoweit einen – relativ kleinen – Ermessensspielraum, als es um den Einsatz der in Erwägung zu ziehenden Kontrollmechanismen geht. Bei der Beantwortung der Frage, ob überhaupt eine Unternehmenskontrolle stattzufinden hat, gibt es grundsätzlich kein Ermessen13. Demzufolge greift bei Überwachungsdefiziten die Haftung nach § 93 AktG Platz, ohne dass der vom BGH in seiner ARAG-Entscheidung in Parallele zu der US-amerikanischen business judgement rule dem Vorstand zugebilligte breite unternehmerische Handlungsspielraum von diesem entlastend reklamiert werden könnte14.
4. Besteht eine allgemeine Konzernleitungspflicht? Die Frage, ob aus dem herrschenden Einfluss, der gegenüber einem anderen Unternehmen ausgeübt werden kann, per se eine Konzernleitungspflicht erwächst, ist in der Literatur umstritten. Hommelhoff tritt für eine umfassende Konzernleitungspflicht ein. Die in § 76 AktG verankerte Leitungsaufgabe zwinge den Konzernvorstand, auch die in Tochtergesellschaften investierten Ressourcen planmäßig und koordiniert mit den Mitteln des herrschenden Unternehmens einzusetzen und das Konzerngeschehen bis in alle Einzelheiten der Tochteraktivitäten zu leiten15. Eine allgemeine Konzernleitungspflicht, wenngleich mit abgestuften Intensitätsgraden, wird auch von anderen Autoren bejaht16. lndem Hüffer den Vorstand der herrKindler, ZHR 162 (1998), 101, 109 ff.; Semler, FS Peter Ulmer, 2003, S. 627, 629. BGH, NJW 1997, 1926, 1927 f. 15 Hommelhoff, Die Konzernleitungspflicht, 1982, S. 65 ff., 419 ff. 16 Krieger, Mch. Hdb. GesR IV, 2. Aufl. (1999), § 69 Rn. 21; Martens, FS Heinsius, 1991, S. 523, 531; ScheffIer, DB 1985, 2005; Semler (Fn. 3), S. 158, 163 ff.; ders., MünchKomm. z. AktG, 2003, Vorbem. § 76 Rn. 143. Mertens (Fn. 3) geht einerseits von einer Konzernleitungsverantwortung des Vorstands eines herrschenden Unternehmens aus; andererseits 13 14
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schenden Aktiengesellschaft nach seinem Ermessen entscheiden lassen will, ob und gegebenenfalls wie er abhängige Unternehmen in seine Leitung nimmt oder in relativer Selbständigkeit arbeiten lässt, scheint er eine allgemeine Konzernleitungspflicht abzulehnen17. Mit Koppensteiner ist zwar davon auszugehen, dass der Vorstand eines herrschenden Unternehmens abhängige Unternehmen grundsätzlich nicht als bloße Kapitalanlagen verwalten darf, sondern seine Beteiligungsbetreuung unternehmerisch auszurichten hat. Damit ist aber nicht zwangsläufig eine Konzernbildung verbunden18. Diese resultiert weder aus der bereits behandelten Verpflichtung zur laufenden Kontrolle der Geschäftsführung der abhängigen Gesellschaften19, noch aus dem Bemühen, Synergiepotentiale in der Unternehmensgruppe zu identifizieren, und den Tochterunternehmen – ohne rechtliche oder faktische Weisung – anheimzugeben, davon Gebrauch zu machen, soweit dem nicht eine auf das Gesamtinteresse der verbundenen Unternehmen ausgerichtete Zielkonzeption zugrunde liegt20. Dann erst wäre die Schwelle zur Konzernierung überschritten. Zur Konzernleitung verpflichtet ist der Vorstand der Muttergesellschaft, wenn ein Beherrschungsvertrag abgeschlossen ist oder eine Eingliederung nach den §§ 319 ff. AktG vorliegt. In diesen Fällen besteht eine Pflicht zum Ausgleich eines Jahresfehlbetrages nach den §§ 302 Abs. 1, 324 Abs. 3 AktG sowie eine Haftung für Verbindlichkeiten der eingegliederten Gesellschaft nach § 322 AktG. Wenn durch die Geschäftsführung von abhängigen Gesellschaften der Jahresabschluss des herrschenden Unternehmens direkt – negativ – beeinflusst werden kann, darf es nicht als zulässig angesehen werden, dass der Vorstand des herrschenden Unternehmens seine (Konzern-)Leitungsaufgabe nicht wahrnimmt21. Je nach konkreter betont er, dass es keine unbedingte Verpflichtung des herrschenden Unternehmens gibt, das abhängige Unternehmen seiner Leitung zu unterstellen. 17 Hüffer (Fn. 1), § 76 Rn. 17; ähnlich Kort, Großkomm. z. AktG, 4. Aufl. (2003), § 76 Rn. 139. Zu Unrecht beruft sich Hüffer zur Unterstützung seiner Auffassung auf Martens (Fn. 16), S. 531, denn dieser führt dort aus, dass der Konzernvorstand nicht nur das Recht und die Pflicht habe, die Konzern-Holding als selbständiges Unternehmen zu leiten, sondern vor allem das Recht und die Pflicht, den Gesamtkonzern zu leiten. Zwar könne der Konzernvorstand grundsätzlich frei entscheiden, ob der Konzern zentralistisch oder dezentral organisiert werden solle; aber unabhängig von dieser Grundsatzentscheidung obliege ihm die Pflicht, die Richtlinien der Konzernpolitik zu formulieren, die Gesamtstrategie des Konzerns zu entwickeln sowie eine allgemeine Konzernkontrolle auszuüben. 18 Koppensteiner, KölnerKomm. z. AktG, 2. Aufl. (1987), Vorbem. § 291 Rn. 30; ders., KölnerKomm. z. AktG, 2. Aufl. (1988), § 18 Rdnrn. 12 ff; Löbbe (Fn. 1), S. 90. 19 So auch Semler, MünchKomm. z. AktG (Fn. 16), Vorbem. § 76 Rn. 141. 20 Siehe zu letzterem Hüffer (Fn. 1), § 18 Rn. 11; Koppensteiner (Fn. 18) § 18 Rn. 18. 21 So im Ergebnis auch die in Fn. 16 Genannten sowie Löbbe (Fn. 1), S. 85. Ähnlich Altmeppen, MünchKomm. z. AktG, 2000, § 308 Rdnrn. 53 f., und Rieger, FS Peltzer, 2001, S. 339, 346. A.A. wohI Hüffer (Fn. 1), § 76 Rn. 17 a, und Kort (Fn. 17), § 76 Rn. 144, der ausführt, dass sich das herrschende Unternehmen selbst im Vertragskonzern auf eine Mitwirkung bei der sachgerechten Auswahl der die abhängige Gesellschaft kontrollierenden und leitenden Personen beschränken könne.
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Fallgestaltung vermag diese Leitungsfunktion mehr oder weniger stringent ausgeübt zu werden, um etwa einem erfolgreichen Vorstand der Tochtergesellschaft einen ausreichenden Freiraum zu belassen. Ähnliches gilt übrigens auch im Verhältnis zum Leiter einer rechtlich nicht selbständigen Unternehmenssparte. Außerdem muss sich die Konzernleitung nicht zwingend in der Erteilung von Weisungen ausdrücken22. Es gibt auch moderatere Formen von Führung, soweit der Adressat sachdienlich reagiert. Aber einerseits mit dem Abschluss von Beherrschungsverträgen und Eingliederungen die rechtlichen Voraussetzungen für eine wirtschaftliche Einheit zwischen Mutter- und Tochtergesellschaft zu schaffen und andererseits von einer auf das Gesamtinteresse der verbundenen Unternehmen ausgerichteten Zielkonzeption und ihrer Umsetzung abzusehen, ist mit den Sorgfaltspflichten eines Vorstandes nicht vereinbar. Sowohl durch Abschluss eines Beherrschungsvertrages wie auch bei dem in die Struktur der abhängigen Gesellschaft noch stärker eingreifenden FaII der Eingliederung wird die Leitung der Tochterunternehmen der Muttergesellschaft unterstellt (vgl. die ausdrückliche Erwähnung in § 291 Abs. 1 AktG). Diese von der Hauptversammlung (vgl. §§ 293 Abs. 1, 319 AktG) beschlossenen Maßnahmen der Konzernorganisation bedürfen ihres entsprechenden Vollzugs. Die Unterstellung der Tochtergesellschaften unter die einheitliche Leitung der Konzernobergesellschaft nur als Option zu interpretieren, würde nach alledem zu kurz greifen.
III. Die Organisation der Unternehmensgruppe als Leitungsaufgabe des Vorstands des herrschenden Unternehmens 1. Das Spektrum der Organisationsmodelle Zu den vorrangigen Leitungsaufgaben des Vorstands eines herrschenden Unternehmens gehört die Schaffung einer leistungsfähigen Organisation seines Unternehmens als auch seiner Unternehmensgruppe. Hierfür ist ihm ein weites Handlungsermessen eingeräumt. Er kann für sein Unternehmen eine funktionale oder eine divisionale (Sparten-)Gliederung oder auch eine Kombination von Elementen beider Organisationsformen bestimmen23. Neuerdings hat auch das Modell organexterner Führungsgremien (Executive Committee) bei deutschen Unternehmen Eingang gefunden24. Soweit es um die Gliederung der Unternehmensgruppe geht, vermag der Vorstand grundsätzlich zwischen dem lockeren Verbund abhängiger Gesellschaften und verschiedenen Formen der Konzernierung – faktischer Konzern, VertragskonA. A. wohI Hüffer (Fn. 1), § 76 Rn. 17a. Kort (Fn. 17), § 76 Rdnrn. 154 f.; Mertens (Fn. 3), § 76 Rn. 19; Schwark, ZHR142 (1978), 203, 216 ff. 24 So bei der Deutschen Bank, vgl. dazu Jürgen Götz, ZGR 2003, 1, 9 ff. 22 23
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zern und Eingliederung – wählen. Dabei steht es ihm frei, für die einzelnen der Unternehmensgruppe angehörenden Gesellschaften unterschiedliche Verbundformen zu schaffen. lm Rahmen einer bestehenden Konzernverfassung gibt es außerdem die Alternative zentraler und dezentraler Leitungsstrukturen25.
2. Grenzen des Organisationsermessens Der Vorstand des herrschenden Unternehmens darf solange von einer einheitlichen Leitung der von ihm abhängigen Gesellschaften und damit von einer Konzernbildung absehen, wie er durch Einsatz anderer Mittel seiner Aufgabe der unternehmerischen Betreuung des Beteiligungsbesitzes zu genügen vermag. Dabei geht es, wie bereits erwähnt, insbesondere um die laufende Kontrolle der Effizienz der Geschäftsführung der abhängigen Unternehmen auf der Basis einer regelmäßigen strukturierten Informationsversorgung – Plan- und lstdaten-, der Reaktionen auf größere negative Planabweichungen und um die Nutzung bedeutsamer in der Unternehmensgruppe angelegter Synergiepotentiale. Lassen sich auch durch Einsatz personeller Maßnahmen – notfalls Austausch von Organmitgliedern – keine ausreichende Unternehmenskontrolle und keine Beseitigung von sonstigen Geschäftsführungsdefiziten erreichen, dann ist der Abschluss eines Beherrschungsvertrages angesagt, wenn nicht die nachteiligen Konsequenzen desselben – Verlustübernahmepflicht nach § 302 AktG, angemessener Ausgleich gemäß § 304 AktG und Abfindung nach § 305 AktG – im konkreten Fall gegenüber den Vorteilen der Unterstellung der Leitung des abhängigen Unternehmens unter die des herrschenden Unternehmens überwiegen26. Die weniger einschneidende Form der Konzernierung – der faktische Konzern mit Nachteilsausgleich gemäß § 311 AktG und Abhängigkeitsbericht nach § 312 AktG – würde im Zweifel nicht weiterführend sein, weil er eine kooperationswillige Geschäftsführung der Tochtergesellschaft voraussetzte. Je erfolgreicher die Leitungsorgane abhängiger Unternehmen ihre Geschäftsführungsaufgabe wahrnehmen, desto weniger besteht eine rechtlich gebotene Veranlassung zur Konzernbildung, auch wenn mögliche Verbundvorteile nicht genutzt werden. Dabei ist zu berücksichtigen, dass vertraglich begründete Weisungsrechte durchaus die unternehmerische Kreativität und Initiative der Organe der Tochtergesellschaften beeinträchtigen können. Nicht hinnehmbar ist es jedoch, dass auch große offensichtliche Synergieeffekte ungenutzt bleiben, was dann vorkommen kann, wenn sie sich nicht auf alle involvierten Gesellschaften gleichermaßen positiv auswirken. Hier erwächst für das herrschende Unternehmen eine Koordinierungsaufgabe, die möglicherweise ohne Abschluss von Beherrschungsverträgen nicht zu bewältigen ist. Zu denken ist dabei an die Zusammenlegung gleichartiger Produktionen verschiedener Gesellschaften derselben Unternehmensgruppe zwecks Erreichung einer günstigeren ökonomischen Betriebsgröße, 25 26
Reuter, DB 1999, 2250, 2251. Löbbe (Fn. 1), S. 85. Ähnlich Kropff (Fn. 4), § 311 Rn. 273.
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an die Begründung unternehmensgruppeninterner Liefer- und Bezugspflichten, wenn durch diese per saldo der Absatz und / oder die Versorgung wesentlich wirtschaftlicher gestaltet werden können, an die Einrichtung von einheitlichen Servicefunktionen oder an steuerliche Optimierungen auch unter Nutzung von Vorteilen aus der Globalisierung. Der Vorstand der herrschenden Gesellschaft kann zwar den Geschäftsführungen der von ihr abhängigen Unternehmen große Freiräume bei der Erfüllung ihrer operativen Aufgaben belassen; die Beschränkung auf deren Kontrolle ist aber dann nicht ausreichend, wenn der wirtschaftliche Erfolg der Unternehmensgruppe und damit besonders der der herrschenden Gesellschaft durch die Nutzung bedeutender Verbundvorteile wesentlich steigerbar ist. In diesen Fällen wird ohnehin im Regelfall eine Konzernbildung stattfinden. Ziel dieser Ausführungen ist es nur, deutlich zu machen, dass eine solche Organisationsmaßnahme nicht im freien Ermessen des Vorstands steht, sondern sich bei Vorliegen der entsprechenden Voraussetzungen zu einer Pflicht verdichten kann, deren Verletzung die Schadensersatzsanktion des § 93 AktG auszulösen vermag. Ein von Verantwortungsbewusstsein getragenes, auf sorgfältiger Ermittlung der Entscheidungsgrundlagen beruhendes unternehmerisches Handeln des Vorstands des herrschenden Unternehmens muss berücksichtigen, dass auch die in abhängigen Unternehmen gebundenen Mittel seiner Aktionäre in effizienter Weise zum Gesamterfolg der Unternehmensgruppe beizutragen haben. Stellt er in Wahrnehmung seiner Kontrollaufgabe substantielle Effizienzdefizite fest, die nur durch die Schaffung einer einheitlichen Leitung und der damit verbundenen Koordinationsfunktion zu beseitigen sind, und halten sich demgegenüber etwaige mit einer Konzernbildung verbundene Nachteile in einem vertretbaren Rahmen, dann kann eine deutliche Überschreitung des unternehmerischen Ermessensspielraums in Betracht kommen, wenn er untätig bleibt27.
IV. Der Inhalt der Konzernleitungspflicht Soweit sich die in § 76 Abs. 1 AktG festgelegte Leitungspflicht auf den Konzern erstreckt, muss der Vorstand des Mutterunternehmens neben der Sicherstellung der Besetzung der Organe der Tochtergesellschaften mit Persönlichkeiten von adäquater Fach- und Führungskompetenz insbesondere die Konzernplanung, die Konzernkontrolle und die Konzernkoordination wahrnehmen28.
27 Vgl. zu dem bei Geschäftsführungsentscheidungen, unter die auch Maßnahmen bzw. die Unterlassung von Maßnahmen zur sachgerechten Organisation der Leitungsstrukturen fallen, bestehenden unternehmerischen Handlungsspielraum und seinen Grenzen BGH, NJW 1997, 1926, 1928 (ARAG-Entscheidung); Götz, NJW 1997, 3275, 3276; Hopt, Großkomm . z. AktG; 4. Aufl. (1999), § 93 Rdnrn. 81 ff.; Horn, ZIP 1997, 1120, 1133 f.; Hüffer (Fn. 1), § 93 Rn. 13a. 28 Vgl des näheren Götz, ZGR 1998, 524, 530 ff.; Semler (Fn. 3), S. 184 ff.
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Die Konzernplanung enthält in ihrem strategischen Teil die längerfristigen Zielsetzungen des Konzerns und in ihrem operativen Teil die Plandaten, die sich aus dem Vollzug der strategischen Ziele für die einzelnen Konzernunternehmen ergeben. Die Konzernplanung erfolgt im Zusammenwirken des Vorstands der Muttergesellschaft mit den Leitungsorganen der übrigen Konzernunternehmen. Sie ist eine unverzichtbare Grundlage für die Konzernkontrolle, die der Gesamtverantwortung des Vorstands der Konzernobergesellschaft unterliegt und die diesen zum Eingreifen zwingt, wenn bei wesentlichen negativen Abweichungen von den Planzahlen die zuständige Geschäftsführung der Tochtergesellschaft nicht die erforderlichen Maßnahmen vornimmt. Zu seiner Unterstützung hat sich dieser eines Beteiligungs-Controlling zu bedienen, welches für die zeitnahe und systematisierte Beschaffung aller relevanten (Konzern-) Unternehmensdaten und deren überwachungsgerechte Aufbereitung zuständig ist. lm Zusammenhang mit der Konzernkontrolle ist auch zu prüfen, ob das von § 91 Abs. 2 AktG geforderte Überwachungssystem zur frühzeitigen Erkennung den Fortbestand der Gesellschaft gefährdender Entwicklungen bei den einzelnen Konzernunternehmen vorhanden ist29. Die Unternehmenskoordination hat insbesondere die Organisation der geschäftlichen Aktivitäten der einzelnen Konzernunternehmen mit dem Ziel zum Gegenstand, in der Unternehmensgruppe bestehende Verbundpotentiale zu realisieren. Häufig steht der Finanzsektor bei der Unternehmenskoordination im Vordergrund der Überlegungen, z. B. die Einrichtung eines zentralen Cash- und Devisenmanagements.
V. Zusammenfassung Die in § 76 Abs. 1 AktG festgelegte Leitungsaufgabe des Vorstands eines herrschenden Unternehmens erstreckt sich auch hinsichtlich solcher abhängiger Unternehmen, die nicht den Status von Konzerngesellschaften haben, auf die Kontrolle von deren Geschäftsführung. Unabhängig von der Überwachung, die die Aufsichtsgremien der abhängigen Gesellschaften ausüben, hat der Vorstand des herrschenden Unternehmens seinerseits die für eine wirksame Unternehmenskontrolle durch ihn notwendigen Daten und sonstigen Informationen direkt beim Geschäftsführungsorgan der abhängigen Gesellschaft anzufordern. Hinsichtlich der vom Vorstand des abhängigen Unternehmens der herrschenden Gesellschaft erteilten Informationen besteht für ihn keine Pflicht zur Nachauskunft nach § 131 Abs. 4 AktG. Soweit die Satzung oder der Aufsichtsrat der Muttergesellschaft bestimmte Geschäfte von seiner Zustimmung abhängig gemacht hat, erstreckt sich der Zustim29 Zum Frühwarnsystem vgl. Götz, NJW-Sonderheft für Hermann Weber, 2001, S. 21 f.; Hüffer (Fn. 1), § 91 Rdnrn. 4 ff., Altmeppen (Fn. 21), § 308 Rn. 53.
25 FS Selmer
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mungsvorbehalt im Zweifel auch auf die entsprechenden Geschäfte abhängiger Unternehmen. Der Vorstand der herrschenden Gesellschaft muss seinen Einfluss dahingehend geltend machen, dass die abhängigen Unternehmen diese Geschäfte erst ausführen, wenn er und sein Aufsichtsrat ihre Zustimmung erteilt haben. Die Organisation der Unternehmensgruppe ist eine Leitungsaufgabe des Vorstands des herrschenden Unternehmens. Er entscheidet nach seinem Ermessen, ob er abhängige Unternehmen seiner Leitung unterstellen will. Dieses Organisationsermessen kann sich im Einzelfall zu einer Konzernbildungspflicht verdichten, wenn auf andere Weise gravierende Geschäftsführungsdefizite abhängiger Gesellschaften nicht zu beseitigen oder wesentliche Verbundvorteile nicht zu verwirklichen sind. Eine Konzernleitungspflicht besteht nur bei Vorliegen eines Beherrschungsvertrages oder einer Eingliederung. Durch sie wird die ohnehin bestehende Unternehmenskontrollaufgabe um die Pflicht zur Konzernplanung und Konzernkoordination ergänzt.
Die Harmonisierungsgesetzgebung der Republik Zypern in den Bereichen Gesellschaftsrecht und „Intellectual Property“1 Von Constantin Iliopoulos
I. Einführung Als der Verfasser Anfang 2000 den sog. „Expertenvertrag“ mit der Republik Zypern unterzeichnete, aufgrund dessen er die Verpflichtung übernahm, Gesetzesentwürfe vorzulegen, infolge derer das Recht des zypriotischen Staates an das gemeinschaftliche Gesellschaftsrecht sowie an das gemeinschaftliche Recht des industriellen und kommerziellen Eigentums und des Urheberrechts („Intellectual Property“) angepasst werden sollte, stand es lediglich fest, dass eine wichtige Aufgabe innerhalb eines bestimmten Zeitraums zu bewältigen war. Das emotionale Element, das die rein juristische Arbeit dabei begleitete (das gilt sowohl für den Verfasser als auch für die zypriotischen Mitarbeiter der zuständigen Behörde), trug zwar zu einem hervorragenden Arbeitsklima bei, machte jedoch die Herausforderung nicht kleiner2. Die Aufgabe bestand in der Umsetzung von fünf Richtlinien aus dem Bereich des Geistigen Eigentums, einer Richtlinie über Topographien, einer Richtlinie über Muster und Modelle und einer Richtlinie über biotechnologische Erfindungen3 sowie fünf Richtlinien aus dem Gesellschaftsrecht ins nationale 1 Vorliegender Beitrag ist eine erweiterte Fassung des Vortrages des Verfassers bei der Tagung der Deutsch-Griechischen Juristenvereinigung am 16. und 17. Mai 2003 in Hamburg, die unter dem Thema „Die Ost-Erweiterung unter besonderer Berücksichtigung des Beitritts der Republik Zypern“ lief. Er ist Herrn Prof. Dr. Peter Selmer gewidmet, der auch als Mitglied der Vereinigung und in mehrfachen hochinteressanten Gesprächen mit dem Verfasser in Hamburg und Athen ein besonderes Interesse für die europäische Integration, die sog. Osterweiterung sowie die spezifischen Aspekte des Beitritts der Republik Zypern zeigte. 2 Mein Dank für intensive wissenschaftliche Gespräche gilt der Gruppe der zypriotischen Juristen, die die Harmonisierungsgesetzgebung bei den Beratungen in Nikosia aus zypriotischer Sicht mitbetreut haben. Dies waren Frau Lyda Koursoumba, Frau Stallo Papaioannou, Herr Dr. Constantinos Lykourgos, Frau Mary-Anne Markou-Stavrinidou-, Frau Viky Christoforou, Frau Stela Christodoulidou-Mesiou, Herr Christos Nikolaou und Frau Rebeca Menelaou. Mein besonderer Dank gilt schließlich meinem Athener Kollegen, Herrn Rechtsanwalt Dimitrios Manglaras, LLM Chicago, der mich bei dem ganzen Projekt besonders unterstützt hat. 3 Die vorgenannten acht Richtlinien werden zusammen als „Intellectual Property“ bezeichnet.
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Recht. Insgesamt waren es dreizehn Richtlinien, die durch sieben Gesetze ins nationale Recht umgewandelt werden sollten4. Die Unterzeichnung des Beitrittsvertrages am 14. April 2003 in Athen unter der Akropolis bedeutet für Zypern und die übrigen neun Beitrittsstaaten 5 das Ende eines langen Weges und gleichzeitig den Anfang einer neuen Epoche, die die wichtigste Herausforderung sowohl für alle diese Staaten als auch für die Europäischen Union an der Schwelle des 21. Jahrhunderts darstellt6. Für Zypern bietet dieses Ereignis darüber hinaus die Chance zur Lösung des internen politischen Problems zwischen den beiden Gemeinden der Insel, der griechisch-zypriotischen und der türkisch-zypriotischen. Die Darstellung des politischen Problems von Zypern sowie der letzten Entwicklungen auf diesem Bereich, insbesondere die Darstellung des sog. Anan-Plans (genannt nach dem Generalsekretär der UNO), würde jedoch den Rahmen dieser Arbeit sprengen. Die vorliegende Arbeit gliedert sich in sechs Abschnitte. Das sind, neben der Einführung (I), die Rechtsordnung der Republik Zypern (II), die Zuständigkeiten in Zypern in Bezug auf die Harmonisierungsgesetzgebung (III), das zu übernehmende Gemeinschaftsrecht in den Bereichen Gesellschaftsrecht und „Intellectual Property“ und die entsprechende Harmonisierungsgesetzgebung (IV), die Methode und die Probleme der Harmonisierung auf diesen beiden Gebieten (V) und schließlich das Ergebnis und die Aussichten Zyperns in der erweiterten Europäischen Union (VI). II. Die Rechtsordnung der Republik Zypern: Entstehung, Einflüsse, einige Merkmale Die Rechtsordnung der Republik Zypern entstand mit der Gründung der Republik im Jahre 1960, als das Vereinigte Königreich die Kolonie der britischen Krone in die Unabhängigkeit entließ (britisches Gesetz und Vertrag zur Gründung der Republik Zypern). Der Gründung dieses unabhängigen Staates liegen die sog. Züricher- und Londoner-Verträge zwischen dem Vereinigten Königreich, Griechenland und der Türkei zugrunde, die auch die politische Basis für diese Gründung darstellen. Gemäß der zypriotischen Verfassung von 1960 ist die Republik Zypern eine präsidiale Republik westlicher Prägung, d. h. ein demokratischer Staat mit rechtsstaatlichen Prinzipien, Gewaltenteilung und Grundrechtsschutz. Föderale Elemente sind auch vorhanden. Der Präsident der Republik, der nach allgemeinen Wahlen alle Dazu näheres unten. Das sind Polen, Ungarn, die Tschechische Republik, die Slowakische Republik, Slowenien, Estland, Lettland, Litauen und Malta. 6 Vgl. auch G. Verheugen, in http: // europa.eu.int / comm / enlargement / docs / pdf /, S. 1. Verheugen, der das für die Erweiterung zuständige Mitglied der Kommission ist, spricht von einer historischen Gelegenheit. 4 5
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fünf Jahre aus der Mitte der griechischen Mehrheit (82% der Gesamtbevölkerung) gewählt wird, benennt die sieben griechisch-zypriotischen Kabinettsmitglieder, der Vizepräsident, der aus der Mitte der türkisch-zypriotischen Minderheit (18% der Gesamtbevölkerung) gewählt wird, benennt die drei türkisch-zypriotischen Mitglieder der Regierung. Das Parlament („House of Representatives“), bestehend aus einer Kammer, ist zuständig für die Gesetzgebung. Es besteht aus 70% griechisch-zypriotischer und 30% türkisch-zypriotischer Abgeordneten. Die Gerichte sind unabhängig. Nach britischem Muster sind die «County Courts» sowohl für Zivil- als auch für Straf- und Verwaltungssachen zuständig. Ihre Entscheidungen werden vor dem Obersten Gericht („High Court“) angefochten. Ursprünglich bestand auch ein Verfassungsgericht. Später wurden Verfassungsgericht und Oberstes Gericht zu einem Gericht fusioniert. Es besitzt die Zuständigkeiten beider Gerichte. Trotz britischen Einflusses verfügt die Republik Zypern über eine geschriebene Verfassung mit Grundrechtskatalog. Sie wurde von Prof. Dr. Forsthoff entworfen. In Zypern besteht eine Normenhierarchie (Verfassung, völkerrechtliche Verträge, Gesetze, vom Kabinett erlassene Verordnungen) und eine Verfassungsgerichtsbarkeit. Die Akte der Verwaltung werden auch auf ihre Gesetzesmäßigkeit kontrolliert. Zypern ist Signatarstaat der EMRK. Nach dem sog. türkisch-zypriotischen Aufstand im Jahre 1964, nach dem die Repräsentanten der türkisch-zypriotischen Minderheit sich aus den Institutionen zurückzogen, an denen sie beteiligt waren, werden die Verfassungsartikel über die Mitwirkung der türkisch-zypriotischen Gemeinde faktisch nicht angewandt. So werden ihre Kabinettsressorts (3) von Griechisch-Zyprioten begleitet. Im Gegensatz dazu bleiben ihre Sitze im Parlament (24) unbesetzt. Was das Gesetzesrecht angeht, sind das Zivil- und das Strafrecht (einbezogen ZPO und StPO) nach britischem, das Verwaltungsrecht nach griechischem (und damit nach französischem und deutschem) Muster entstanden. Bei der Auslegung dieses Rechts spielt die Frage, wo die zypriotischen Juristen ausgebildet wurden, im Vereinigten Königreich oder in Griechenland (über eine Juristische Fakultät verfügt die Universität Nicosia bisher nicht), eine nicht untergeordnete Rolle.
III. Die Zuständigkeiten in Bezug auf die Harmonisierungsgesetzgebung (Attorney General / Law Office of the Republic / Abteilung EU, Parlament) Nachdem die EU offiziell beschloss, Beitrittsverhandlungen mit der Republik Zypern aufzunehmen (1997), ist die Aufgabe sowohl der Verhandlungen als auch der Koordinierung der Harmonisierungsgesetzgebung der verschiedenen Ministerien einer Gruppe von Politikern und Experten unter dem früheren Präsidenten der Republik Georgios Vassiliou übertragen worden. In Bezug auf die Harmonisierung der Gesetzgebung standen Herrn Vassiliou das sog. Planungsbüro sowie der Attor-
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ney General zur Seite. Der Attorney General erfüllt nach britischem Muster die Aufgaben des Rechtsberaters des Staates (Law Office of the Republic) sowie des Staatsanwaltes7. Ihm untersteht ein Verwaltungsapparat, der ihn in diesen beiden Bereichen unterstützt. Die Abteilung „Europäische Union“ des Law Office of the Republic wurde vom Attorney General mit der Aufgabe der Kontrolle aller Harmonisierungsgesetze, die die Ministerien ausarbeiten sollten, betraut. In der Praxis entwarf oft das Law Office selbst diese Gesetzestexte. Ein Teil der entsprechenden Arbeiten konnten von dem Personal der Abteilung (das sind ausgewählte qualifizierte Juristen) bewältigt werden, ein anderer Teil musste aus Zeitgründen an sog. Experten vergeben werden. Die Gesetzesentwürfe wurden sowohl nach internen Beratungen innerhalb des Regierungsapparats als auch, je nach Lage, nach Beratungen mit interessierten organisierten Kreisen (Verbänden der Industrie, des Handels, des Gewerbes, der Landwirte, der freien Berufe usw.) vorbereitet und dem Parlament vorgelegt. Letzeres nahm sie in einem Schnellverfahren an, nachdem aber im Vorfeld den Abgeordneten Ziel und Inhalt des Gesetzes erläutert wurden.
IV. Das zu übernehmende Gemeinschaftsrecht in den Bereichen Gesellschaftsrecht und „Intellectual Property“ 1. Das gemeinschaftliche Gesellschaftsrecht Das zu übernehmende gemeinschaftliche Gesellschaftsrecht bestand in der 2. Gesellschaftsrechts-Richtlinie (Gründung der AG und Erhaltung und Änderung ihres Kapitals), der 3. Gesellschaftsrechts-Richtlinie (Fusion von AG), der 6. Gesellschaftsrechts-Richtlinie (Spaltung von AG), der 4. und 7. GesellschaftsrechtsRichtlinie (Bilanzrecht) sowie der 11. Gesellschaftsrechts-Richtlinie (Publizität von Zweigniederlassungen). Die 1. Gesellschaftsrechts-Richtlinie (Publizität von Kapitalgesellschaften) 8, die 12. Gesellschaftsrechts-Richtlinie (Einmann-GmbH)9 und die 8. Gesellschaftsrechts-Richtlinie (Prüfer)10 waren in nationales Recht bereits umgesetzt worden. Im Einzelnen: Diesen Posten besaß damals Herr Alexandros Markides. „Erste Richtlinie 68 / 151 / EWG des Rates vom 9. März 1968 zur Koordinierung der Schutzbestimmungen, die in den Mitgliedstaaten den Gesellschaften im Sinne des Art. 58 Abs. 2 des Vertrages im Interesse der Gesellschafter sowie Dritter vorgeschrieben sind, um diese Bestimmungen gleichwertig zu gestalten“ (Sie betrifft die Publizität von Gesellschaften und die Haftung von Gesellschaften für Handlungen oder Unterlassungen der Gesellschaftsorgane), ABl 1968, L 65 / 8. 9 „Zwölfte Richtlinie 89 / 667 / EWG des Rates vom 21. Dezember 1989 auf dem Gebiet des Gesellschaftsrechts betreffend Gesellschaften mit beschränkter Haftung mit einem einzigen Gesellschafter“, ABl 1989, L 395 / 40. 10 „Achte Richtlinie 84 / 253 / EWG des Rates vom 10. April 1984 aufgrund von Art. 54 Absatz 3 Buchstabe g) des Vertrages über die Zulassung der mit der Pflichtprüfung der 7 8
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a) Zweite Gesellschaftsrechts-Richtlinie (Gründung der AG und Erhaltung und Änderung ihres Kapitals) Die „Zweite Richtlinie 77 / 91 / EWG des Rates vom 13. Dezember 1976 zur Koordinierung der Schutzbestimmungen, die in den Mitgliedstaaten den Gesellschaften im Sinne des Art. 58 Absatz 2 des Vertrages im Interesse der Gesellschafter sowie Dritter für die Gründung der Aktiengesellschaft sowie für die Erhaltung und Änderung ihres Kapitals vorgeschrieben sind, um diese Bestimmungen gleichwertig zu gestalten“ (nachfolgend „die zweite Richtlinie“)11 ist erlassen worden, um Gesellschaftern und Dritten (Gläubigern) in Bezug auf die Gründung der AG sowie die Erhaltung und Änderung ihres Kapitals gleichwertigen Schutz zu gewähren12. So muss z.B die Satzung (oder der Errichtungsakt) der AG jedem Interessierten die Möglichkeit bieten, die wesentlichen Merkmale der Gesellschaft (etwa Firma, Rechtsform, Gegenstand, Dauer, Vertreter, Sitz, Nennbetrag der gezeichneten Aktien) und insbesondere die genaue Zusammensetzung des Gesellschaftskapitals13 zu kennen. Damit das Kapital als Sicherheit für die Gläubiger erhalten bleibt, wird ferner untersagt, dass das Kapital durch nicht geschuldete Ausschüttungen an die Aktionäre verringert wird, und wird die Möglichkeit einer AG, eigene Aktien zu erwerben, begrenzt14. Schließlich müssen bei Kapitalerhöhungen und Kapitalherabsetzungen entsprechend die Prinzipien der Gleichbehandlung der Aktionäre, die sich in denselben Verhältnissen befinden15, und des Schutzes der Gläubiger vor Forderungen, die bereits vor der Entscheidung über die Herabsetzung bestanden16, beachtet werden. Da das zypriotische Recht der Kapitalgesellschaften in Anlehnung an das britische Vorbild („public company“, „private company“) eines der am weitesten entwickelten Rechtsgebiete ist, musste durch das Gesetz 70(I) / 200317 nur ein Teil der Rechnungslegungssunterlagen beauftragten Personen“, ABl 1984, L 126 / 20; ABl 1989, L 44 / 40. 11 ABl 1977, L 26 / 1. Durch die „Richtlinie 92 / 101 / EWG des Rates vom 23. November 1992 zur Änderung der Richtlinie 77 / 91 / EWG über die Gründung der Aktiengesellschaft sowie die Erhaltung und Änderung ihres Kapitals“ (ABl 1992, L 347 / 64) ergänzt. Die Richtlinie 92 / 101 dehnt die Beschränkungen hinsichtlich der Möglichkeit einer AG, eigene Aktien zu erwerben, auf AGs aus, bei denen die andere AG über die Mehrheit der Stimmen verfügt oder auf die sie einen beherrschenden Einfluss ausüben kann. 12 2. Richtlinie, 2. Erwägungsgrund (Nummerierung durch Verfasser). 13 2. Richtlinie, Art. 2, 3. 14 2. Richtlinie, Art. 15, 16, Art. 19,20,21; vgl. auch Art. 24 (Inpfandnahme eigener Aktien). 15 2. Richtlinie, Art. 42. 16 2. Richtlinie, Art. 32 Abs. 1. 17 Imselben Gesetz werden die Materien der 3., 6. und 11. Gesellschaftsrechts-Richtlinie geregelt. Die in den Art. 19 – 24 der 2. Richtlinie enthaltenen Regelungen waren bereits durch Gesetz Nr. 135 (I) / 2000 in die zypriotische Rechtsordnung eingeführt, das die 1. Gesellschaftsrechts-Richtlinie ins nationale Recht umgesetzt hat.
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Regelungen der Richtlinie eingeführt werden, so z. B. die Vorschriften über Mindesthöhe des Kapitals (25.000 Euro)18, über Verbot der Ausgabe von Aktien einer „public company“ unter dem Nennbetrag19, über Mindesthöhe der Einlagen auf ausgegebene Aktien (25% des Nennbetrages der Aktien),20 über gesonderte Abstimmung in der Hauptversammlung bei unterschiedlichen Gattungen von Aktien im Falle einer Kapitalerhöhung oder einer -herabsetzung21, über Gleichbehandlung von Aktien derselben Gattung22 sowie über die für die Gesellschaft bindende Kraft der Verpflichtungen, die durch die Gründer im Gründungsstadium übernommen worden sind (vorläufig keine Bindung, aber nach der Gründung Bindung kraft Gesetzes)23.
b) Dritte und sechste Richtlinie (Fusion und Spaltung) Die „Dritte Richtlinie 78 / 855 / EWG des Rates vom 9. Oktober 1978 gemäß Artikel 54 Absatz 3 Buchstabe g) des Vertrages betreffend die Verschmelzung von Aktiengesellschaften“ (nachfolgend „die dritte Richtlinie“)24 sieht zum einen die Verpflichtung zur Einfürung der Institution der Verschmelzung (Fusion) für jene Mitgliedstaaten vor, die diese nicht kennen25. Zum anderen führt sie Regelungen zum einheitlichen Schutz von Aktionären der sich fusionierenden Gesellschaften ein (sie werden angemessen und so objektiv wie möglich informiert)26, von Gläubigern, einschließlich der Inhaber von Schuldverschreibungen (so dass sie keinen Schaden erleiden)27, sowie von Dritten (die Publizität, die die erste Gesellschaftsrechts-Richtlinie einführt, wird auf die Maßnahmen der Fusion ausgedehnt, so dass auch Dritte ausreichend informiert werden)28. In Bezug auf den Schutz der Arbeitnehmer bei einer Fusion (Wahrung ihrer Ansprüche) wird auf die Richtlinie 77 / 187 / EWG29 verwiesen30. 2. Richtlinie, Art. 6. 2. Richtlinie, Art. 8. 20 2. Richtlinie, Art. 9; vgl. auch Art. 26 (bei Kapitalerhöhung). 21 2. Richtlinie, Art. 25 Abs. 3, Art. 31; vgl. auch Art. 38. 22 2. Richtlinie, Art. 42. 23 2. Richtlinie, Art. 4, Abs. 1. Diese Frage war durch die Richtlinie dem Ermessen der Mitgliedstaaten überlassen worden. 24 ABl 1978, L 295 / 36. 25 3. Richtlinie, 2. Erwägungsgrund (Nummerierung durch Verfasser), Art. 2; eine Definition der zwei Arten der Fusion (Fusion durch Aufnahme einer oder mehrerer Gesellschaften, Fusion durch Gründung einer neuen Gesellschaft) enthält die 3. Richtlinie in den Art. 3 und 4. 26 3. Richtlinie, 3. Erwägungsgrund (Nummerierung durch Verfasser), Art. 5 – 11. 27 3. Richtlinie, 5. Erwägungsgrund (Nummerierung durch Verfasser), Art. 13 – 16. 28 3. Richtlinie, 6. Erwägungsgrund (Nummerierung durch Verfasser), Art. 18. 29 Richtlinie 77 / 187 / EWG des Rates vom 14. 2. 1977 über den Schutz der Arbeitnehmer beim Betriebsübergang, ABl 1977, L 61 / 26; es versteht sich, dass der Verweis als ein Ver18 19
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Die „Sechste Richtlinie 82 / 891 / EWG des Rates vom 17. Dezember 1982 gemäß Artikel 54 Absatz 3 Buchstabe g) des Vertrages betreffend die Spaltung von Aktiengesellschaften“ (nachfolgend „die sechste Richtlinie“)31 führt wegen der Verwandschaft der Spaltung mit der Fusion und der damit zusammenhängenden Gefahr der Umgehung der durch die dritte Richtlinie eingeräumten Garantien einen entsprechenden Schutz für dieselben Personen im Fall der Spaltung ein32. Durch Gesetz 70(I) / 200333 sind diese Garantien in Zypern eingeführt worden. Die Institutionen der Fusion und der Spaltung werden diesbezüglich einheitlich unter dem Oberbegriff „Umstrukturierung“ geregelt. Die wichtigsten neuen Regelungen sind jene über den gemeinsam von den Vorstandsmitgliedern beider Gesellschaften entworfenen Umstrukturierungsplan, der Mindestangaben enthalten muss34, über die detaillierte schriftliche Stellungnahme der Vorstandsmitglieder beider Gesellschaften, die dem Plan beigefügt sein soll35, die schriftliche Stellungnahme-Bewertung des Planes durch unabhängige Experten36, über das Kontrollrecht der Gesellschafter und ihr Recht zum Erhalt von Kopien des Planes37, über die Annahme des Planes durch die Hauptversammlung der Gesellschafter beider Gesellschaften38, über den Schutz der Gläubiger39 und der Inhaber von Schuldverschreibungen40, über die Bewilligung durch das Gericht41 und über die zivil- und strafrechtliche Haftung der Vorstandsmitglieder und der unabhängigen Experten42.
weis auf die jeweils geltende Fassung dieser Richtlinie gilt, vgl. die Folgerichtlinie 98 / 50 / EG des Rates vom 29. 6. 1998, ABl 1998, L 201 / 88; s. diesbezüglich Constantin Iliopoulos, Der Schutz der Arbeitnehmer beim Betriebsübergang, Athen, Komotini, 2000 (in griechischer Sprache). 30 3. Richtlinie, 4. Erwägungsgrund (Nummerierung durch Verfasser), Art. 12. 31 ABl 1982 L 378 / 47. 32 6. Richtlinie, 4. Erwägungsgrund (Nummerierung durch Verfasser); eine Definition der zwei Arten der Spaltung (Spaltung durch Übernahme oder durch Gründung neuer Gesellschaften) enthält die 6. Richtlinie in den Art. 2 und 21. 33 In demselben Gesetz werden, wie bereits gesagt, die Materien der 2. sowie der 11. Gesellschafterechts-Richtlinie geregelt. 34 3. Richtlinie, Art. 5 Abs. 1, 6. Richtlinie, Art. 3 Abs. 1. 35 3. Richtlinie, Art. 9, 6. Richtlinie, Art. 7 Abs. 1, 2. 36 3. Richtlinie, Art. 10 Abs. 2, 6. Richtlinie, Art. 8. 37 3. Richtlinie, Art. 11, 6. Richtlinie, Art. 9. 38 3. Richtlinie, Art. 7, 6. Richtlinie, Art. 5 Abs. 1, Art. 22 Abs. 3. 39 3. Richtlinie, Art. 13, 6. Richtlinie, Art. 12 Abs. 1, 2. 40 3. Richtlinie, Art. 14, 6. Richtlinie, Art. 12 Abs. 5. 41 6. Richtlinie, Art. 23 Abs. 1. 42 3. Richtlinie, Art. 20,21, 6. Richtlinie, Art. 18.
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c) Vierte und siebte Gesellschaftsrechts-Richtlinie (Bilanzrecht) Die „Vierte Richtlinie 78 / 660 / EWG des Rates vom 25. Juli 1978 gemäß Artikel 54 Absatz 3 Buchstabe g) des Vertrages über den Jahresabschluss von Gesellschaften bestimmter Rechtsformen“ (nachfolgend „die vierte Richtlinie“)43 führt zum Zwecke des Schutzes der Gesellschafter und Dritter eine Koordinierung der einzelstaatlichen Vorschriften über die Gliederung und den Inhalt des Jahresabschlusses und des Lageberichts sowie über die Bewertungsmethode und die Offenlegung dieser Unterlagen, insbesondere bei der AG und der GmbH, ein. Die „Siebte Richtlinie 83 / 349 / EWG des Rates vom 13. Juni 1983 gemäß Artikel 54 Absatz 3 Buchstabe g) des Vertrages über den konsolidierten Abschluss“ (nachfolgend „die siebte Richtlinie“)44 führt den konsolidierten Jahresabschluss für Konzerne ein, um die Gesellschafter der einem Konzern angehörenden Gesellschaften und Dritte dadurch zu schützen, dass ihnen Informationen über die finanziellen Verhältnisse des Konzerns zur Kenntnis gebracht werden. Ein Gesetzesentwurf, der vom Kabinett bereits angenommen wurde und bald vom Parlament zu erlassen ist, sieht vor, dass in Zypern für die „public companies“ (sie entsprechen den AGs) und die größeren „private companies“ (sie entsprechen den GmbHs) nicht ein der beiden durch die Richtlinie vorgesehenen Bilanzierungssysteme (zwei Arten von Gliederung für die Aufstellung der Bilanz)45 bzw. eine oder mehrere der in der 4. Richtlinie46 aufgeführten Gliederungen für die Aufstellung der Gewinn- und Verlustrechnung, sondern die „International Accounting Standards“ (IAS) eingeführt werden47. Entsprechend werden in Bezug auf die Kontrolle der Bilanzen durch unabhängige Experten die „International Standards on Auditing“ eingeführt (die 4. und 7. Richtlinie sehen keine weitgehende zwingende Harmonisierung vor). Unabhängig von der Annahme der IAS, ist das zypriotische Recht zum Teil auch an die 4. bzw. die 7. Richtlinie dadurch angepasst worden, als Regelungen über den Mindestinhalt der Aufstellung des Jahresabschlusses, insbesondere bei Konzernen48, über Aufstellung der Bilanz nach dem Prinzip des „wahren und fairen“ Bildes49 und über Offenlegung des Jahresabschlusses zusammen mit der Stellungnahme der Prüfer50 angenommen wurden. ABl 1978, L 222 / 11. ABl 1983, L 193 / 1. 45 4. Richtlinie, Art. 9,10. 46 4. Richtlinie Art. 23 bis 26. 47 Gesetzesentwurf Art. 3; die „International Accounting Standards“ (IAS), die „International Financial Reporting Standards“ (IFRS) und andere damit zusammenhängende Dokumente werden durch den „International Accounting Standards Board“ (IASB) erstellt. 48 4. Richtlinie, Art. 2 49 4. Richtlinie, Art. 2 Abs. 2 bis 5. 50 4. Richtlinie, Art. 48,49, 7. Richtlinie, Art. 36. 43 44
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Durch ein zweites zu erlassendes Gesetz wird das Bilanzrecht der Personengesellschaften (OHGs und KGs) analog geregelt. Der entsprechende Gesetzesentwurf ist vom Kabinett bereits angenommen worden. d) Elfte Gesellschaftsrechts-Richtlinie (Offenlegung von Zweigniederlassungen) Die „Elfte Richtlinie 89 / 666 / EWG des Rates vom 21. Dezember 1989 über die Offenlegung von Zweigniederlassungen, die in einem Mitgliedstaat von Gesellschaften bestimmter Rechtsformen errichtet wurden, die dem Recht eines anderen Staates unterliegen“ (nachfolgend „die elfte Richtlinie“)51, ist erlassen worden, um die ungleiche Behandlung von Tochtergesellschaften und Zweigniederlassungen in Bezug auf Publizitätsverpflichtungen aufzuheben. Während Tochtergesellschaften von Kapitalgesellschaften Publizitätsverpflichtungen allgemein durch die 1. Richtlinie, speziell in Bezug auf Rechnungslegung durch die 4. und die 7. Richtlinie, auferlegt werden, unterliegen Zweigniederlassungen von Kapitalgesellschaften nicht solchen Verpflichtungen. Dies führt im Hinblick auf den Schutz von Gesellschaftern und Dritten zu Unterschieden zwischen den Gesellschaften, welche sich in anderen Mitgliedstaaten durch die Errichtung von Zweigniederlassungen betätigen, und den Gesellschaften, die dies durch die Gründung von Tochtergesellchaften tun52. Durch das Gesetz 70(I) / 200353 sind jene Regelungen übernommen worden, die im zypriotischen Recht nicht vorhanden waren, so z. B. die Regelungen über Offenlegung bestimmter Angaben, wie Firma, Rechtsform, Anschrift, Register, Tätigkeit, Bestellung, Ausscheiden und Personalien der Vertreter54, über Offenlegung bei mehreren Zweigniederlassungen55 sowie über Mindestangaben bei Geschäftsbriefen und Bestellscheinen56. 2. Das gemeinschaftliche Recht des „Intellectual Property“ Das zu übernehmende Gemeinschaftsrecht hinsichtlich des „Intellectual Property“ bestand in fünf Richtlinien aus dem Bereich des geistigen Eigentums, einer Richtlinie über Topographien, einer Richtlinie über Muster und Modelle und einer Richtlinie über biotechnologische Erfindungen. Im Einzelnen: ABl 1989, L 395 / 36. 11. Richtlinie, 3., 4. Erwägungsgrund (Nummerierung durch Verfasser). 53 Imselben Gesetz werden, wie bereits gesagt, die Materien der 2., 3., 6. und 11. Gesellschaftsrechts- Richtlinie geregelt. 54 11. Richtlinie, Art. 2 Abs. 1 Buchstaben a), b), c), d), f) und Art. 7 Abs. 1 i.V.m. Art. 8, Art. 2 Abs. 1 Buchstabe e) und Art. 8 Buchstabe h). 55 11. Richtlinie, Art. 5. 56 11. Richtlinie, Art. 6,10. 51 52
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a) Das geistige Eigentum Hierher gehören die Richtlinie über Computerprogramme, die Richtlinie zum Vermietrecht und Verleihrecht sowie zu den sog. verwandten Schutzrechten, die Richtlinie über Satellitenrundfunk und Kabelweiterverbreitung, die Richtlinie über Datenbanken und schließlich die Richtlinie zur Schutzdauer des Urheberrechts und verwandter Schutzrechte. Im Einzelnen: aa) Die Richtlinie über Computerprogramme Die „Richtlinie 92 / 250 / EWG des Rates vom 14. Mai 1991 über den Rechtsschutz von Computerprogrammen“ (nachfolgend „die Richtlinie 92 / 250“)57 ist erlassen worden, um einen eindeutigen und einheitlichen Rechtsschutz von Computerprogrammen in allen Mitgliedstaaten einzuführen. Er ist gemäß der RichtlinieBegründung deswegen notwendig gewesen, weil die Entwicklung dieser Programme, die für die industrielle Entwicklung der Gemeinschaft von grundlegender Bedeutung sind, Investitionen erheblicher menschlicher, technischer und finanzieller Mittel erfordert, sie auf der anderen Seite aber mit sehr niedrigen Kosten kopiert werden können58. Dahinter steckt die Besorgnis darüber, dass wegen des Prinzips des freien Warenverkehrs der Export von kopierten Computerprogrammen aus einem Mitgliedstaat, in dem das Kopieren nicht verboten ist, in einem anderen Mitgliedstaat, nicht verhindert werden kann. Dies könnte aber zu einem unlauteren Wettbewerb führen, dessen Ergebnis ein schwerwiegender Schaden der Unternehmen wäre, die Investitionen zur Entwicklung von Computerprogrammen getätigt haben. Die Berufung auf Art. 100a EWGV als Rechtsgrundlage für das Tätigwerden der Gemeinschaft deutet daraufhin, dass sich die zwischen den Mitgliedstaaten bestehenden Unterschiede in Bezug auf den Rechtsschutz auf das Funktionieren des Gemeinsamen Marktes auswirken würden. Um das geeignete Schutzniveau zu erreichen, sieht die Richtlinie vor, dass Computerprogramme urheberrechtlich als Werke der Literatur (im Sinne der Berner Übereinkunft zum Schutze von Werken der Literatur und der Kunst) geschützt werden59. Die Richtlinie bestimmt ferner, wer geschützt wird (Rechtsinhaber)60 sowie was geschützt wird (Schutzgegenstand)61, worin genau die AusschließlichABl 1991, L 122 / 42. Richtlinie 91 / 250, 1., 2. und 3. Erwägungsgrund (Nummerierung durch Verfasser). 59 Richtlinie 91 / 250, Art. 1, Abs. 1, 3. Zum Begriff Çomputerprogramm“ gehört auch das Entwurfsmaterial (Art. 1, Abs. 1). 60 „Der Urheber eines Computerprogramms ist die natürliche Person oder die Gruppe natürlicher Personen, die das Programm geschaffen hat, oder, soweit nach den Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten zulässig, die juristische Person, die nach diesen Rechtsvorschriften als Rechtsinhaber gilt“,Richtlinie 91 / 250, Art. 2, Abs. 1 (s. auch Art. 2, Abs. 2, 3, Art. 3). 61 Geschützt werden nur alle Ausdrucksformen von Computerprogrammen, nicht dagegen Ideen und Grundsätze, die irgendeinem Element eines Programms zugrundeliegen, Richtlinie 91 / 250, Art. 1, Abs. 2. 57 58
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keitsrechte der Rechtsinhaber bestehen, die diese geltend machen können, um bestimmte Handlungen zu erlauben oder zu verbieten62, die Ausnahmen von den zustimmungsbedürftigen Handlungen63, die Erschöpfung der Ausschließlichkeitsrechte64, sowie die Einführung von „geeigneten Maßnahmen“ gegen die Personen, die unerlaubte Handlungen gegen die Rechtsinhaber begehen (diese Maßnahmen werden dem Ermessen der Mitgliedstaaten überlassen)65. Die zypriotische Gesetzgebung über Geistiges Eigentum66 sah bereits vor, dass Computerprogramme als Werke der Literatur geschützt werden. Das Gesetz zur Änderung dieser Gesetzgebung (Gesetz 128(I) / 2002 vom 29. 7. 2002) übernahm daher nur jene Regelungen der Richtlinie, die im nationalen Recht nicht vorhanden waren, so etwa die Regelung über den Gegenstand des Rechtsschutzes (was genau geschützt wird), die zustimmungsbedürftigen Handlungen sowie die Ausnahmen davon. Die Erschöpfungsregelung wurde durch die Einführung eines allgemeinen Erschöpfungsgrundsatzes, der für alle Kategorien der Rechte des Geistigen Eigentums gilt, durch das vorgenannte Gesetz 128(I) / 2002 gedeckt. bb) Die Richtlinie zum Vermietrecht und Verleihrecht sowie zu den verwandten Schutzrechten Die „Richtlinie 92 / 100 / EWG des Rates vom 19. November 1992 zum Vermietrecht und Verleihrecht sowie zu bestimmten dem Urheberrecht verwandten Schutzrechten im Bereich des geistigen Eigentums“ (nachfolgend „die Richtlinie 92 / 100“)67 ist erlassen worden, um praktisch drei Ziele gleichzeitig zu erreichen. Das erste Ziel bestand darin, die zwischen den Mitgliedstaaten bestehenden Unterschiede hinsichtlich des Rechtsschutzes für urheberrechtlich geschützte Werke sowie für Gegenstände der sog. verwandten Schutzrechte in Bezug auf das Vermieten und Verleihen, die Ursache für Handelsschranken und Wettbewerbsverzerrungen sind, zu beseitigen68. Das zweite Ziel bestand in der Gewährung eines angemessenen Schutzes von Gegenständen der verwandten Schutzrechte69, das dritte in der 62 So sind zustimmungsbedürftige Handlungen a) die Vervielfältigung, b) die Übersetzung, Bearbeitung, das Arrangement und andere Umarbeitungen, c) jede Form der öffentlichen Verbreitung des originalen Computerprogramms oder von Kopien davon, einschließlich der Vermietung, Richtlinie 91 / 250, Art. 4. 63 Richtlinie 91 / 250, Art. 5, 6 („Dekompilierung“). 64 „Mit dem Erstverkauf einer Programmkopie in der Gemeinschaft durch den Rechtsinhaber oder mit seiner Zustimmung erschöpft sich in der Gemeinschaft das Recht auf die Verbreitung dieser Kopie; ausgenommen hiervon ist jedoch das Recht auf Kontrolle der Weitervermietung des Programms oder einer Kopie davon“, Richtlinie 91 / 250, Art. 4, Buchstabe c, Abs. 2. 65 Richtlinie 91 / 250, Art. 7 („besondere Schutzmaßnahmen“). 66 „Gesetze über Geistiges Eigentum und verwadte Rechte von 1976 bis 2001“ (Gesetze 59 / 1976, 63 / 1977, 18(I) / 1993, 54(I) / 1999, 12(I) / 2001). 67 ABl 1992, L 346 / 61. 68 Richtlinie 92 / 100, 1.– 3. Erwägungsgrund (Nummerierung durch Verfasser).
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Sicherstellung eines angemessenen Einkommens für die Urheber und die ausübenden Künstler als Grundlage für weiteres schöpferisches und künstlerisches Arbeiten70. Das erste Ziel sollte durch die Einführung eines Rechtsschutzes für bestimmte Gruppen von Rechtsinhabern in Bezug auf Vermieten und Verleihen durch die Mitgliedstaaten erreicht werden71, das zweite durch die Festlegung der Rechte der Aufzeichnung, Vervielfältigung, öffentlichen Sendung und Wiedergabe, sowie Verbreitung, die bestimmten Gruppen von Rechtsinhabern im Bereich der verwandten Schutzrechte zustehen72. Das dritte Ziel schließlich soll durch ein unverzichtbares Recht des Urhebers oder des ausübenden Künstlers auf angemessene Vergütung erreicht werden. Die Wahrnehmung dieses Anspruchs kann Verwertungsgesellschaften übertragen werden73. Im Bezug auf die Ausschließlichkeitsrechte wird schließlich die Erschöpfung dieser Rechte geregelt74 sowie den Mitgliedstaaten die Möglichkeit (keine Verpflichtung) eingeräumt, Beschränkungen für diese Rechte vorzusehen75. Das vorerwähnte zypriotische Gesetz 128(I) / 2002 zur Änderung des Gesetzes über Geistiges Eigentum führte in die nationale Rechtsordnung die verwandten Schutzrechte der ausübenden Künstler ein76. Die Rechte der Vermietung und des Verleihes sowie die von der Richtlinie ebenfalls geschützten Rechte der Herstellung von Tonträgern und Filmen und das Recht auf Sendung waren durch die alte GeRichtlinie 92 / 100, 5. Erwägungsgrund (Nummerierung durch Verfasser). Richtlinie 92 / 100, 7.– 8. Erwägungsgrund (Nummerierung durch Verfasser). 71 Richtlinie 92 / 100, 11. Erwägungsgrund (Nummerierung durch Verfasser), Art. 1, Abs. 1; Vermieten und Verleihen werden in der Richtlinie folgendermaßen definiert: „Vermietung bedeutet die zeitlich begrenzte Gebrauchsüberlassung zu unmittelbarem oder mittelbarem wirtschaftlichen oder kommerziellen Nutzen“, Art. 1, Abs. 2; „Verleihen bedeutet die zeitlich begrenzte Gebrauchsüberlassung, die nicht einem unmittelbaren oder mittelbaren wirtschaftlichen oder kommerziellen Nutzen dient und durch der Öffentlichkeit zugängliche Einrichtungen vorgenommen wird“, Art. 1, Abs. 3. 72 Richtlinie 92 / 100, 11. Erwägungsgrund (Nummerierung durch Verfasser), Art. 2, 6, 7, 8, 9. Als Rechtsinhaber werden a) der Urheber in Bezug auf sein Werk, b) der ausübende Künstler in Bezug auf Auszeichnungen seiner Darbietung, c) der Tonträgerhersteller in Bezug auf seine Tonträger, d) der Hersteller der erstmaligen Aufzeichnung eines Filmes in Bezug auf das Original und auf Vervielfältigunghsstücke seines Filmes (Art. 2, Abs. 1) und schließlich e) der Hauptregisseur eines Filmwerkes oder audiovisuellen Werkes (Art. 2, Abs. 2) bestimmt. 73 Richtlinie 92 / 100, 13. Erwägungsgrund (Nummerierung durch Verfasser), Art. 4. 74 Das Verbreitungsrecht in der Gemeinschaft hinsichtlich von Aufzeichnungen der Darbietungen der ausübenden Künstler, von Tonträgern, von der erstmaligen Aufzeichnung von Filmen in Bezug auf das Original und auf Vervielfältigungsstücke dieser Filme sowie schließlich von Aufzeichnungen der Sendungen von Sendeunternehmen erschöpft sich nur mit dem Erstverkauf des Gegenstandes in der Gemeinschaft durch den Rechtsinhaber oder mit seiner Zustimmung, Richtlinie 92 / 100, Art. 9 Abs. 1, 2; vgl. auch Art. 1 Abs. 4. 75 Richtlinie 92 / 100, Art. 10. 76 Art. 3 neue Fassung, neuer Art. 10C. 69 70
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setzgebung zum Schutz des Geistigen Eigentums bereits geschützt77. Die Erschöpfungsregelung wurde durch die Einführung durch das neue Gesetz 128(I) / 2002 eines allgemeinen Erschöpfungsgrundsatzes, der für alle Kategorien der Rechte des Geistigen Eigentums gilt, gedeckt. Beschränkungen für Ausschließlichkeitsrechte sind in der alten Gesetzgebung über Geistiges Eigentum bereits vorgesehen. cc) Die Richtlinie über Satellitenrundfunk und Kabelweiterverbreitung Die „Richtlinie 93 / 83 / EWG des Rates vom 27. September 1993 zur Koordinierung bestimmter urheber- und leistungsschutzrechtlicher Vorschriften betreffend Satellitenrundfunk und Kabelweiterverbreitung“ (nachfolgend „die Richtlinie 93 / 83“)78 ist erlassen worden, um die durch die Richtlinie 89 / 552 / EWG79 festgelegten rechtlichen Rahmenbedingungen für die Schaffung eines einheitlichen audiovisuellen Raumes in Bezug auf das Urheberrecht zu ergänzen80. Trotz des Erlasses der vorgenannten Richtlinie bestanden bei der grenzüberschreitenden Programmverbreitung über Sateliten sowie bei der Kabelweiterverbreitung von Programmen aus anderen Mitgliedstaaten weiterhin unterschiedliche nationale Urheberrechtsvorschriften sowie gewisse Rechtsunsicherheiten, wodurch die Rechtsinhaber der Gefahr ausgesetzt waren, dass ihre Werke ohne entsprechende Vergütung verwertet werden oder dass einzelne Inhaber ausschließlicher Rechte in verschiedenen Mitgliedstaaten die Verwertung ihrer Werke blockieren könnten81. Speziell in Bezug auf den Satellitenrundfunk bestand eine urheberrechtliche Ungleichbehandlung der öffentlichen Wiedergabe über Direktstrahl- und derjenigen über Fernmeldesatelliten, die dadurch beseitigt werden sollte, dass gemeinschaftlich einheitlich darauf abgestellt wurde, ob Werke und andere Schutzgegenstände öffentlich wiedergegeben werden, unabhängig davon, ob dies durch einen Direktstrahl- oder einen Fernmeldesatelliten geschieht82. Zu diesem Zweck wurde der Begriff „Satellit“ neu definiert (damit beide Typen darunter fallen)83. Darüberhinaus bestand eine wichtige Rechtsunsicherheit darin, ob die Sendung über Satelliten, deren Signale direkt empfangen werden können, nur die Rechte im Ausstrahlungsland oder aber kumulativ zugleich die Rechte in allen Empfangsländern berührt. Um die kumulative Anwendung von mehreren nationalen Urheberrechten auf einen einzigen Sendeakt zu verhindern, wurde die öffentliche Wiedergabe geschützter Werke über Satellit auf Gemeinschaftsebene definiert, wodurch gleich77 Siehe „Gesetze über Geistiges Eigentum und verwandte Rechte von 1976 bis 2001“, Art. 7, Abs. 1 (Vermietrecht, Verleih-), Art. 9 (Herstellung von Tonträgern und Filmen), Art. 10 (Recht auf Sendung). 78 ABl 1993, L 248 / 15. 79 ABl 1989, L 298 / 23. 80 Richtlinie 93 / 83, 4. und 12. Erwägungsgrund. 81 Richtlinie 93 / 83, 5. Erwägungsgrund. 82 Richtlinie 93 / 83, 6. und 13. Erwägungsgrund. 83 Richtlinie 93 / 83, Art. 1 Abs. 1.
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zeitig auch der Ort der öffentlichen Wiedergabe präzisiert wird (Grundsatz des Ursprunglandes)84. In Bezug auf die Kabelweiterverbreitung von Programmen aus anderen Mitgliedstaaten (sie wird in der Richtlinie definiert)85 wurde festgestellt, dass ein Kabelnetzbetreiber für jeden weiterverbreiteten Programmteil die Genehmigung sämtlicher Rechtsinhaber benötigt. Damit das reibungslose Funktionieren vertraglicher Vereinbarungen nicht durch den Einspruch von Außenseitern, die Rechte an einzelnen Programmteilen innehaben, in Frage gestellt werden kann, wurde durch die Einführung einer Verwertungsgesellschaftspflicht86 eine ausschließliche kollektive Ausübung des Verbotsrechts vorgesehen87. Zum Zwecke der Förderung der vertraglichen Vereinbarungen über die Genehmigung der Kabelweiterverbreitung wurde darüberhinaus die Pflicht der Beteiligten eingeführt, kollektive Vorschläge zu unterbreiten. Außerdem wurde vorgesehen, dass allen Beteiligten jederzeit die Anrufung unparteiischer Vermittler offenstehen, die Verhandlungshilfe leisten und Vorschläge unterbreiten können88. Das vorgenannte zypriotische Gesetz zur Änderung der Gesetzgebung über Geistiges Eigentum übernahm naturgemäß alle Defintionen der Richtlinie, sowie ihre wichtigsten Regelungen, weil sie im nationalen Recht nicht vorhanden waren. dd) Die Richtlinie über Datenbanken Die „Richtlinie 96 / 9 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. März 1996 über den rechtlichen Schutz von Datenbanken“ (nachfolgend „die Richtlinie 96 / 9“)89 ist erlassen worden, um einen einheitlichen Rechtsschutz von Datenbanken jeder Art (elektronischen und nicht elektronischen)90 in allen Mitgliedstaaten zu gewährleisten. Die zwischen den Mitgliedstaaten bestehenden Unterschiede insbesondere in Bezug auf Umfang und Bedingungen des Rechtsschutzes sind geeignet, den freien Verkehr von Waren und Dienstleistungen zu behindern91. Diese Harmonisierung ist darüber hinaus deswegen notwendig gewesen, weil der Aufbau von Datenbaken, die für die Entwicklung des Informationsmarktes in der Gemeinschaft von großer Bedeutung sind, Investitionen erheblicher menschlicher, techRichtlinie 93 / 83, 7. 14. und 18. Erwägungsgrund, Art. 1 Abs. 2. Richtlinie 93 / 83, Art. 1 Abs. 3. 86 Die Richtlinie enthält in ihrem Art. 1 Abs. 4 eine Definition der Verwertungsgesellschaft. 87 Richtlinie 93 / 83, 27. 28. und 29. Erwägungsgrund, Art. 9 Abs. 1,2, Art. 10. 88 Richtlinie 93 / 83, 30. 31 Erwägungsgrund, Art. 9 Abs. 1, 3, Art. 11. 89 ABl 1996, L 77 / 20. 90 Richtlinie 96 / 9, 14. Erwägungsgrund, Art. 1, Abs. 1. Als „Datenbank“ wird eine Sammlung von Werken, Daten oder anderen Elementen bezeichnet, die systematisch oder methodisch angeordnet und einzelnen mit elektronische Mitteln oder auf andere Weise zugänglich sind, Art. 1, Abs. 2; vgl. auch 13., 17. Erwägungsgrund. 91 Richtlinie 96 / 9, 4. Erwägungsgrund. 84 85
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nischer und finanzieller Mittel erfordert, während auf der anderen Seite die Datenbanken mit sehr niedrigen Kosten kopiert oder abgefragt werden können92. Es ist offensichtlich, dass die Behinderung eines katastrophalen unlauteren Wettbewerbs eines der Ziele auch dieser Harmonisierung gewesen ist. Geschützt werden zwei Arten von Datenbanken, jene, die Originalität aufweisen, und jene, die keine Originalität aufweisen, aber für deren Zustandekommen hohe Investitionen getätigt werden. Der ersten Kategorie, bei der der Urheber mit der Auswahl oder Anordnung des Inhalts der Datenbank eigene geistige Schöpfung vollbringt (Originalität), wird urheberrechtlicher Schutz gewährt. Er bezieht sich auf die Struktur der Datenbank und erstreckt sich nicht auf ihren Inhalt93. Der zweiten Kategorie wird ein Rechtsschutz gewährt, der von der Richtlinie selbst als „sui generis“ bezeichnet wird94. Er besteht darin, dass die Hersteller von Datenbanken in Bezug auf die widerrechtliche Aneignung der Ergebnisse der finanziellen und beruflichen Investitionen, die für die Beschaffung und das Sammeln des Inhalts getätigt wurden, in der Weise geschützt werden, dass die Gesamtheit oder wesentliche Teile einer Datenbank gegen bestimmte Handlungen eines Benutzers oder eines Konkurrenten („Entnahme“, „Weiterverwendung“) geschützt sind95. Im Rahmen der oben beschriebenen Grundregelungen bestimmt ferner die Richtlinie für beide Kategorien von Rechten, wer geschützt wird (Rechtsinhaber)96, worin genau die Ausschließlichkeitsrechte der Rechtsinhaber bestehen, die diese geltend machen können, um bestimmte Handlungen zu erlauben oder zu verbieten97, die Ausnahmen von den zustimmungsbedürftigen Handlungen98, die Erschöpfung der Ausschließlichkeitsrechte99, sowie die Einführung von „geeigneten Richtlinie 96 / 9, 7.-12. Erwägungsgründe. Richtlinie 96 / 9, 15., 16. Erwägungsgrund, Art. 3. 94 Richtlinie 96 / 9, Kapitel III „Schutzrecht sui generis“. 95 Richtlinie 96 / 9, 39., 40., 41. Erwägungsgrund, Art. 7, Abs. 1, 2. 96 Richtlinie 96 / 9, Art. 4, Abs. 1 („Der Urheber einer Datenbank ist die natürliche Person oder die Gruppe natürlicher Personen, die die Datenbank geschaffen hat, oder, soweit nach den Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten zulässig, die juristische Person, die nach diesen Rechtsvorschriften als Rechtsinhaber gilt“), s. auch Art. 4, Abs. 3 (von einer Gruppe natürlicher Personen geschaffene Datenbank); Art. 7, Abs. 1 (Hersteller einer Datenbank, bei der für die Beschaffung, die Überprüfung oder die Darstellung ihres Inhaltes eine in qualitativer oder quantitativer Hinsicht wesentliche Investition erforderlich ist). 97 Richtlinie 96 / 9, Art. 5 (zustimmungsbedürftige Handlungen sind a) die Verfielfältigung, b) die Übersetzung, die Bearbeitung, die Anordnung und jede andere Umgestaltung c) jede Form der öffentlichen Verbreitung der Datenbank oder eines ihrer Vervielfältigungsstücke), 7 Abs. 1 (das Recht, die Entnahme und / oder die Weiterverwendung der Gesamtheit oder eines in qualitativer oder quantitativer Hinsicht wesentlichen Teils des Inhalts der Datenbank zu untersagen), s. auch Art. 7, Abs. 2, 3, 4. 98 Richtlinie 96 / 9, Art. 6, Abs. 1 (s. auch Art. 7, Abs. 5), Art. 8, Abs. 1, Art. 9 (s. auch Art. 8, Abs. 2, 3, Art. 7, Abs. 5). 99 Richtlinie 96 / 9, Art. 5, Buchstabe c, Abs. 2, Art. 7, Abs. 2, Buchstabe b, Abs. 2. 92 93
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Sanktionen“ gegen die Personen, die die in der Richtlinie vorgesehenen Rechte verletzen (diese Sanktionen werden dem Ermessen der Mitgliedstaaten überlassen)100. Das vorerwähnte zypriotische Gesetz 128(I) / 2002 zur Änderung der Gesetzgebung über Geistiges Eigentum übernahm naturgemäß alle Definitionen der Richtlinie sowie alle Regelungen, mit Ausnahme jener über Sanktionen. Auf die Verletzungen der in der Richtlinie vorgesehenen Rechte werden die Sanktionen des Gesetzes über Geistiges Eigentum angewandt. Die Erschöpfungsregelungen der Richtlinie wurden durch die Einführung eines allgemeinen Erschöpfungsgrundsatzes, der für alle Kategorien der Rechte des Geistigen Eigentums gilt, durch das vorgenannte Gesetz gedeckt. ee) Die Richtlinie zur Schutzdauer des Urheberrechts und verwandter Schutzrechte Die „Richtlinie 93 / 98 / EWG des Rates vom 29. Oktober zur Harmonisierung der Schutzdauer des Urheberrechts und bestimmter verwandter Schutzrechte“ (nachfolgend „die Richtlinie 93 / 98“)101 ist erlassen worden, um in Bezug auf das Urheberrecht und die verwandten Schutzrechte dieselbe Schutzdauer für alle Mitgliedstaaten einzuführen. Die zwischen den Mitgliedstaaten bestehenden Unterschiede gingen auf die Tatsachen zurück, dass einerseits die Berner Übereinkunft zum Schutz von Werken der Literatur und Kunst (Berner Übereinkunft) und das Internationale Abkommen über den Schutz der ausübenden Künstler, der Hersteller von Tonträgern und der Sendeunternehmen (Rom-Abkommen) nur eine Mindestschutzdauer vorsehen und es damit den Vertragsstaaten überlassen, die betreffenden Rechte mit längerer Schutzdauer zu schützen. Einige Mitgliedstaaten hatten von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht. Andererseits waren andere Mitgliedstaaten dem Rom-Abkommen nicht beigetreten. Diese Unterschiede wären geeignet, den freien Verkehr von Waren und Dienstleistungen zu behindern und die Wettbewerbsbedingungen zu verfälschen102. Die von der Richtlinie festgelegte Schutzdauer umfasst damit für das Urheberrecht an Werken der Literatur und der Kunst (im Sinne des Art. 2 der Berner Übereinkuft) das Leben des Urhebers und 70 Jahre nach seinem Tod103. Dieselbe Schutzdauer gilt auch für Photographien, wenn sie individuelle Werke in dem Sinne darstellen, dass sie das Ergebnis der eigenen geistigen Schöpfung ihres Urhebers sind104. In Bezug auf ein Filmwerk oder ein audiovisuelles Werk erlischt die Richtlinie 96 / 9, Art. 12. ABl 1993, L 290 / 9. 102 Richtlinie 93 / 98, 1., 2. Erwägungsgrund. 103 Richtlinie 93 / 98, Art. 1. 104 Richtlinie 93 / 98, Art. 6, Abs. 1; die Mitgliedstaaten können den Schutz anderer Photographien vorsehen, Art. 6, Abs. 3. 100 101
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Schutzfrist 70 Jahre nach dem Tod des Längstlebenden der folgenden Personen: Hauptregisseur, Urheber des Drehbuches, Urheber der Dialoge, Komponist105. In Bezug auf die verwandten Schutzrechte erlöschen die Rechte der ausübenden Künstler 50 Jahre nach der Darbietung (oder der ersten Veröffentlichung oder ersten öffentlichen Wiedergabe der Darbietung)106, die Rechte der Hersteller von Tonträgern 50 Jahre nach der Aufzeichnung (oder der ersten Veröffentlichung oder ersten öffentlichen Wiedergabe der Aufzeichnung)107, die Rechte der Hersteller der erstmaligen Aufzeichnung eines Filmes 50 Jahre nach der Aufzeichnung (oder der ersten Veröffentlichung oder ersten öffentlichen Wiedergabe der Aufzeichnung)108, die Rechte der Sendeunternehmen 50 Jahre nach der Erstsendung, unabhängig davon, ob es sich dabei um drahtlose oder drahtgebundene, über Kabel oder durch Satelliten vermittelte Sendungen handelt109. Die Schutzdauer für zuvor nicht veröffentlichte Werke beträgt 25 Jahre ab dem Zeitpunkt, zu dem das Werk erstmals erlaubterweise veröffentlicht oder erlaubterweise öffentlich wiedegegeben worden ist110. Die Schutzfrist für kritische und wissenschaftliche Ausgaben von gemeinfrei gewordenen Werken (sollten solche Ausgaben von den Mitgliedstaaten geschützt werden) beträgt höchstens 30 Jahre ab dem Zeitpunkt der ersten erlaubten Veröffentlichung111. In Anlehnung an die Berner Übereinkunft und das Rom-Abkommen bestimmt die Richtlinie, dass die genannten Schutzfristen vom 1. Januar des Jahres an berechnet werden, das auf das für den Beginn der Frist maßgebende Ereignis folgt112. Die Richtlinie enthält schließlich Vorschriften über den Schutz im Verhältnis zu Drittländern, über Nichtberührung der nationalen Bestimmungen über Urheberpersönlichkeitsrechte, über die zeitliche Anwendbarkeit, über die Aufhebung der die Schutzdauer regelnden Vorschriften der Richtlinien 91 / 250 und 92 / 100 und über die Mitteilung an die Kommission durch die Mitgliedstaaten aller Gesetzesentwürfe zur Einführung neuer verwandter Schutzrechte113. Das vorerwähnte zypriotische Gesetz 128(I) / 2002 zur Änderung der Gesetzgebung über Geistiges Eigentum übernahm naturgemäß alle oben genannten Fristen, weil die entsprechenden Richtlinie-Vorschriften (Art. 1 – 4, 6) jus cogens sind und die diesbezüglichen Fristen in Zypern kürzer waren. Kritische und wissenschaftliche Ausgaben von gemeinfrei gewordenen Werken (Art. 7) werden in Zypern nicht geschützt. Der Schutzdauer von 70 Jahren für die Werke der Literatur 105 106 107 108 109 110 111 112 113
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Richtlinie 93 / 98, Art. 2. Richtlinie 93 / 98, Art. 3, Abs. 1. Richtlinie 93 / 98, Art. 3, Abs. 2. Richtlinie 93 / 98, Art. 3, Abs. 3. Richtlinie 93 / 98, Art. 3, Abs. 4. Richtlinie 93 / 98, Art. 4. Richtlinie 93 / 98, Art. 5. Richtlinie 93 / 98, Art. 8; vgl. auch 14. Erwägungsgrund. Richtlinie 93 / 98, Art. 7, 9, 10, 11, 12.
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und der Kunst sowie für die Photographien114 unterliegen auch die Datenbanken, die Originalität aufweisen. Für die Datenbanken, die keine Originalität aufweisen, gilt die 15jährige in der vorerwähnten Richtlinie 96 / 9 vorgesehene Schutzfrist115. Wegen ihres zwingenden Charakters sind auch die vorerwähnten Regelungen über die Berechnung der Fristen und über den Schutz im Verhältnis zu Drittländern übernommen worden. b) Die Richtlinie über Topographien Die „Richtlinie 87 / 54 / EWG des Rates vom 16. Dezember 1986 über den Rechtsschutz von Topographien von Halbleitererzeugnissen“ (nachfolgend „die Richtlinie 87 / 54“)116 ist erlassen worden, um einen möglichst einheitlichen Rechtsschutz von Topographien von Halbleitererzeugnissen117 in allen Mitgliedstaaten zu gewährleisten. Der Begründung der Richtlinie ist zu entnehmen, dass die Harmonisierung deswegen notwendig gewesen ist, weil die Entwicklung von Topographien, die für die industrielle Entwicklung der Gemeinschaft von grundsätzlicher Bedeutung sind, Investitionen erheblicher menschlicher, technischer und finanzieller Mittel erfordert, während auf der anderen Seite die Topographien mit sehr niedrigen Kosten kopiert werden können118. Dahinter steckt die Besorgnis darüber, dass wegen des Prinzips des freien Warenverkehrs der Export von kopierten Topographien aus einem Mitgliedstaat, in dem das Kopieren nicht verboten ist, in einem anderen Mitgliedstaat, nicht verhindert werden kann. Dies könnte aber zu einem unlauteren Wettbewerb führen, dessen Ergebnis ein schwerwiegender Schaden der Unternehmen wäre, die Investitionen zur Entwicklung von Topographien getätigt haben. Gemäß der Richtlinie-Begründung würden sich die zwischen den Mitgliedstaaten bestehenden Unterschiede in Bezug auf den Rechtsschutz (in einigen Mitgliedstaaten hat es sogar keinen eindeutigen Schutz durch bestehende Gesetze gegeben) auf das 114 Zypern hat Gebrauch vom Ermessensspielraum des Art. 6, Abs. 3 gemacht und dem urheberrechtlichen Schutz (und damit der Schutzdauer der 70 Jahre) nicht nur Photographien, die individuelle Werke darstellen, sondern „Photographien jeder Art“ unterworfen. 115 Art. 10. 116 ABl 1987, L 24 / 36. 117 Halbleitererzeugnis ist „die endgültige Form oder die Zwischenform eines Erzeugnisses, i) das aus einem Materialteil besteht, der eine Schicht aus halbleitendem Material enthält, und ii) mit einer oder mehreren Schichten aus leitendem, isolierendem oder halbleitendem Material versehen ist, wobei die Schichten nach einem vorab festgelegten dreidimensionalen Muster angeordnet sind, und iii) das ausschließlich oder neben anderen Funktionen eine elektronische Funktion übernehmen soll“,Richtlinie 87 / 54, Art. 1, Abs. 1, Buchstabe a); Topographie eines Halbleitererzeugnisses ist „eine Reihe in Verbindung stehender Bilder, unabhängig von der Art ihrer Fixierung oder Kodierung, i) die ein festgelegtes drei-dimensionales Muster der Schichten darstellen, aus denen ein Halbleitererzeugnis besteht, und ii) wobei die Bilder so miteinander in Verbindung stehen, das jedes Bild das Muster oder einen Teil des Musters einer Oberfläche des Halbleitererzeugnisses in einem beliebigen Fertigungsstadium aufweist“, Richtlinie 87 / 54, Art. 1, Abs. 1, Buchstabe b). 118 Richtlinie 87 / 54, 1., 2. Erwägungsgrund (Nummerierung durch Verfasser).
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Funktionieren des Gemeinsamen Marktes auswirken119. Ein Tätigwerden i.S. des Art. 95 EGV120 (damals Art. 100 EWGV)121 war damit notwendig. Die Harmonisierung hat sich auf vier grundsätzliche Fragen beschränkt, nämlich auf die Bestimmumng des Schutzgegenstandes122, der Rechtsinhaber123, der ausschließlichen Rechte der Rechtsinhaber, damit letztere bestimmten Handlungen oder Ausnahmen zustimmen oder sie verbieten124, sowie der Schutzdauer125. Weitere Fragen, wie z.B die Frage, ob die Eintragung oder Hinterlegung der Topographie eine Voraussetzung für den Rechtsschutz sein soll, sowie die Frage der Zwangslizenzen, ist dem Ermessensspielraum der Mitgliedstaaten überlassen worden126. Die Hauptfrage der Richtlinie, nämlich die Frage der Einführung eines Rechtsschutzsystems ist derart geregelt worden, dass auf der einen Seite den Mitgliedstaaten die Pflicht auferlegt wird, ein solches System einzuführen127, die Einzelheiten dieses Systems aber dem Ermessensspielraum der Mitgliedstaaten überlassen werden128. In Bezug schließlich auf die Frage der Ausdehnung des Schutzes auf außerhalb der Gemeinschaft ansässige Personen bestimmt die Richtlinie, dass die Mitgliedstaaten berechtigt werden, von sich aus tätig zu werden, sollte die Gemeinschaft nicht innerhalb einer bestimmten Frist tätig werden129. In Anwendung dieser Vorschrift ist in der Tat der Rechtsschutz durch Entscheidungen des Rates auf Personen aus den USA und bestimmten anderen Gebieten130, aus Kanada131, aus den Mitgliedstaaten der Welthandelsorganisation132 sowie auf Personen von der Isle of Man133 ausgedehnt worden. Richtlinie 87 / 54, 3. Erwägungsgrund (Nummerierung durch Verfasser). In der Fassung des Amsterdamer Vertrages (sowie des Nizza-Vertrages). 121 In der Fassung des Rom-Vertrages (1958), d. h. in der Fassung vor dem Inkrafttreten der Einheitlichen Europäischen Akte (1987). 122 Richtlinie 87 / 54, Art. 2, 7, Abs. 1, 2, Art. 8. 123 Richtlinie 87 / 54, Art. 3, Abs. 1 – 5, Art. 4. 124 Richtlinie 87 / 54, Art. 5. 125 Richtlinie 87 / 54, Art. 7, Abs. 3, 4. 126 Vgl. Richtlinie 87 / 54, 7., 8. Erwägungsgrund (Nummerierung durch Verfasser), Art. 4, 6. 127 Richtlinie 87 / 54, Art. 2, Abs. 1. 128 Dies ist eher dem Sinn der Richtlinie zu entnehmen. 129 Richtlinie 87 / 54, 6. Erwägungsgrund (Nummerierung durch Verfasser), Art. 3, Abs. 6 – 8. 130 „93 / 16 / EWG: Entscheidung des Rates vom 21. Dezember 1992 zur Ausdehnung des Rechtsschutzes der Topographien von Halbleitererzeugnissen auf Personen aus den Vereinigten Staaten von Amerika und aus bestimmten Gebieten“, ABl 1993, L 11 / 20. 131 „94 / 700 / EG: Entscheidung des Rates vom 24. Oktober 1994 zur Ausdehnung des Rechtsschutzes der Topographien von Halbleitererzeugnissen auf Personen aus Kanada“, ABl 1994, L 284 / 61. 132 „94 / 824 / EG: Entscheidung des Rates vom 22. Dezember 1994 zur Ausdehnung des Rechtsschutzes der Topographien von Halbleitererzeugnissen auf Personen aus einen Mitgliedstaat der Welthandelsorganisation“, ABl 1994, L 349 / 201. 119 120
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Die zypriotische Rechtsordnung ist an das Gemeinschaftsrecht durch die Einführung eines besonderen Gesetzes, des Gesetzes 5(I) / 2002, angepasst worden, womit ein Rechtsschutz für Topographien zum ersten Mal vorgesehen wurde. Dieses Gesetz übernahm naturgemäß alle Definitionen der Richtlinie sowie die vier vorgenannten zwingenden Regelungen und erstreckte den Rechtsschutz nicht nur auf Staatsangehörige (oder juristische Personen) der Europäischen Union, sondern auch auf die vorgenannten Personenkreise aus Drittstaaten. Zypern legte die Eintragung der Topographie in einem Topographieregister als Voraussetzung für die Einräumung der Eigenschaft des Rechtsinhabers an den Urheber fest134 und führte ein detailliertes Rechtsschutzsystem ein. Im Rahmen dieses Rechtsschutzsystems sind neben der Regelung über die Organisation des Topographieregisters135 auch Regelungen über Eintragungshindernisse und Nichtigkeitsgründe136, über Anerkennungsklage137, Unterlassungsklage138 und Strafen139 eingeführt. Schließlich wurden Regelungen über Zwangslizenzen zu Gunsten von Drittpersonen sowie des Fiskus eingeführt140.
c) Die Richtlinie über Muster und Modelle Die „Richtlinie 98 / 71 / EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Oktober 1998 über den rechtlichen Schutz von Mustern und Modellen“ (nachfolgend „die Richtlinie 98 / 71“)141 ist erlassen worden, um einen möglichst einheitlichen Rechtsschutz von Mustern und Modellen142 in allen Mitgliedstaaten zu ge133 „96 / 644 / EG: Entscheidung des Rates vom 11. November 1996 zur Ausdehnung des Rechtsschutzes der Topographien von Halbleitererzeugnissen auf Personen von der Isle of Man“, ABl 1996, L 293 / 18. 134 Gesetz 5(I) / 2002, Art. 4.; s. auch die Vorschriften über mehrere Urheber (Art. 5), über eine im Rahmen eines Arbeitsverhältnisses oder eines anderen Rechtsverhältnisses (etwa eines Werkvertrages) entstandene Topographie (Art. 6) sowie über Übertragung oder Erbe einer Topographie (Art. 8). 135 Gesetz 5(I) / 2002, Art. 10 – 13. 136 Gesetz 5(I) / 2002, Art. 18. 137 Gesetz 5(I) / 2002, Art. 17. 138 Gesetz 5(I) / 2002, Art. 19. 139 Gesetz 5(I) / 2002, Art. 20. 140 Gesetz 5(I) / 2002, Art. 9, Abs. 4, 5. 141 ABl 1998, L 289 / 28. 142 Muster und Modell (nachstehend „Muster“) ist „die Erscheinungsform eines ganzen Erzeugnisses oder eines Teiles davon, die sich insbesondere aus den Merkmalen der Linien, Konturen, Farben, der Gestalt, Oberflächenstruktur und / oder der Werkstoffe des Erzeugnisses selbst und / oder seiner Verzierung ergibt“, Richtlinie 98 / 71, Art. 1, Buchstabe a); Erzeugnis ist „jeder industrielle oder handwerkliche Gegenstand, einschließlich – unter anderem – von Einzelteilen, die zu einem komplexen Erzeugnis zusammengebaut werden sollen, Verpackung, Ausstattung, graphischen Symbolen und typographischen Schriftbildern; ein Computerprogramm gilt jedoch nicht als „Erzeugnis“, Richtlinie 98 / 71, Art. 1, Buchstabe b);
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währleisten. Gemäß der Begründung der Richtlinie ist die Harmonisierung deswegen notwendig gewesen, weil die zwischen den Mitgliedstaaten bestehenden Unterschiede in Bezug auf den Rechtsschutz von Mustern sich unmittelbar auf die Errichtung und das Funktionieren des Binnenmarktes mit Bezug auf Waren auswirken, bei denen Muster verwendet werden. Solche Unterschiede können zu einer Verzerrung des Wettbewerbs im Binnenmarkt führen143. Gemeint ist die Einschränkung des freien Warenverkehrs144. Ein Tätigwerden i.S. des Art. 95 Abs. 1 EGV145 (damals Art. 100a EWGV146) war damit notwendig. Die Harmonisierung ist keine totale Harmonisierung gewesen. Sie hat sich auf folgende grundsätzliche Fragen beschränkt: die Bestimmung des Anwendungsbereichs147, des Schutzgegenstandes und der Schutzvoraussetzungen148, des Rechtsinhabers149, der ausschließlichen Rechte der Rechtsinhaber, damit letztere bestimmten Handlungen oder Ausnahmen zustimmen oder sie verbieten150, der Erschöpfung151, der Schutzdauer152 sowie des Verhältnisses zu anderen Formen des Komplexes Erzeugnis ist „ein Erzeugnis aus mehreren Bauelementen, die sich ersetzen lassen, so dass das Erzeugnis auseinander- oder wieder zusammengebaut werden kann“, Richtlinie 98 / 71, Art. 1, Buchstabe c). 143 Richtlinie 98 / 71, 2. Erwägungsgrund. 144 Vgl. Richtlinie 98 / 71, 10. Erwägungsgrund. 145 In der Fassung des Amsterdamer Vertrages (sowie des Nizza-Vertrages). 146 In der Fassung der Einheitlichen Europäischen Akte (sowie des Maastricht-Vertrages). 147 Die Richtlinie gilt für a) die bei den Zentralbehörden für den gewerblichen Rechtsschutz der Mitgliedstaaten eingetragenen Rechte an Mustern, b) die beim Benelux-Musteramt eingetragenen Rechte an Mustern, c) die mit Wirkung für einen Mitgliedstaat international eingetragenen Rechte an Mustern, d) die Anmeldungen der unter den Buchstaben a), b) und c) genannten Rechte an Mustern, Richtlinie 98 / 71, Art. 2, Abs. 1. 148 Ein Muster wird durch ein Musterrecht geschützt, wenn es in einem Mitgliedstaat als Muster eingetragen ist, wobei ein Muster eintragungsfähig ist, wenn es neu ist und Eigenart hat, Richtlinie 98 / 71, Art. 3 Abs. 1 (vgl. auch 10. und 11. Erwägungsgrund), Art. 3 Abs. 2, s. auch Art. 3, Abs. 3, 4 (vgl. auch 12. Erwägungsgrund); ein Muster gilt als neu, wenn der Öffentlichkeit vor dem Tag der Anmeldung des Musters zur Eintragung kein identisches Muster zugänglich gemacht worden ist, Richtlinie 98 / 71, Art. 4; ein Muster hat Eigenart, wenn sich der Gesamteindruck, den es beim informierten Benutzer hervorruft, von dem Gesamteindruck unterscheidet, den ein anderes Muster bei diesem Benutzer hervorruft, das der Öffentlichkeit vor dem Tag seiner Anmeldung zur Eintragung zugänglich gemacht worden ist, Richtlinie 98 / 71, Art. 5 (vgl. auch 13. Erwägungsgrund); s. auch Art. 6 („Offenbarung“), Art. 7 („Durch ihre technische Funktion bedingte Muster und Muster von Verbindungselementen“, vgl. auch 14. Erwägungsgrund); der Umfang des Schutzes aus einem Recht an einem Muster erstreckt sich auf jedes Muster, das beim informierten Benutzer keinen anderen Gesamteindruck erweckt, Richtlinie 98 / 71, Art. 9 Abs. 1 (vgl. auch Abs. 2); es besteht kein Recht an einem Muster, das gegen die öffentliche Ordnung oder die gutten Sitten verstößt (Art. 8, vgl. auch 16. Erwägungsgrund). 149 Rechtsinhaber kann die Person werden, die (u. a.) das Muster in einem Mitgliedstaat eintragen lassen hat, Richtlinie 98 / 71, Art. 3 Abs. 1. 150 Richtlinie 98 / 71, Art. 12, 13. 151 Richtlinie 98 / 71, Art. 15.
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Schutzes153. Die Hauptfrage der Richtlinie, nämlich die Frage der Einführung eines Rechtsschutzsystems ist derart geregelt worden, dass auf der einen Seite den Mitgliedstaaten die Pflicht auferlegt wird, ein solches System einzuführen154, wobei die Frage der Eintragungshindernisse und der Nichtigkeitsgründe durch die Richtlinie selbst erschöpfend geregelt wird155, während auf der anderen Seite die übrigen Einzelheiten dieses Rechtsschutzsystems dem Ermessensspielraum der Mitgliedstaaten überlassen werden156. Die zypriotische Rechtsordnung ist an das Gemeinschaftsrecht durch die Einführung eines besonderen Gesetzes, des Gesetzes 4(I) / 2002 angepasst worden, womit ein Rechtsschutz für Muster und Modelle („Designs“) zum ersten Mal vorgesehen wurde. Dieses Gesetz übernahm naturgemäß alle Definitionen der Richtlinie sowie die vorgenannten zwingenden Regelungen über die Bestimmumng des Anwendungsbereichs, des Schutzgegenstandes und der Schutzvoraussetzungen, des Rechtsinhabers, der ausschließlichen Rechte der Rechtsinhaber, der Erschöpfung, der Schutzdauer sowie des Verhältnisses zu anderen Formen des Schutzes. Zu erwähnen ist, dass die Grundregelung der Richtlinie über die Frage, wer als Rechtsinhaber geschützt wird, durch Regelungen über Schaffung eines Musters durch mehrere Personen, über ein im Rahmen eines Arbeitsverhältnisses oder eines Auftragsvetrages (Werk-) entstehendes Muster, über Übertragung des Rechtes zur Eintragung eines Musters oder des Rechtes aus einem eingetragenen Muster sowie über Lizenzen und Zwangslizenzen ergänzt wurden157. Darüber hinaus führte Zypern ein detailliertes Rechtsschutzsystem ein und legte die Eintragung des Musters in einem Musterregister als Voraussetzung für die Einräumung der Eigenschaft des Rechtsinhabers fest158. Im Rahmen dieses Rechtsschutzsystems sind neben der zu übernehmenden Regelung über Eintragungshindernisse und Nichtigkeitsgründe auch Regelungen über die Organisation des Musterregisters, über Anerkennungsklage, Unterlassungsklage und Strafen eingeführt159.
152 Ein Muster wird für einen oder mehrere Zeiträume von fünf (5) Jahren, höchstens aber bis zu fünfundzwanzig (25) Jahre geschützt, Richtlinie 98 / 71, Art. 10. 153 Richtlinie 98 / 71, Art. 16, 17 (vgl. auch 7. und 8. Erwägungsgrund). 154 Richtlinie 87 / 54, Art. 2, Abs. 1. 155 Richtlinie 98 / 71, Art. 11 (vgl. auch 21. Erwägungsgrund). 156 Vgl. 5. und 6. Erwägungsgrund. 157 Gesetz 4(I) / 2002, Art. 8, 9, 11, 12. 158 Gesetz 4(I) / 2002, Art. 7. 159 Gesetz 4(I) / 2002, Art. 23, 13 – 17, 22, 24, 25.
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d) Die Richtlinie über biotechnologische Erfindungen Die „Richtlinie 98 / 44 / EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 6. Juli 1998 über den rechtlichen Schutz biotechnologischer Erfindungen“ (nachfolgend „die Richtlinie 98 / 44“)160 ist erlassen worden, um einen wirksamen und harmonisierten Rechtsschutz von biotechnologischen Erfindungen in allen Mitgliedstaaten zu erreichen, der wesentliche Voraussetzung für Investitionen auf dem Gebiet der Biotechnologie ist. Gemäß der Begründung der Richtlinie spielen Biotechnologie und Gentechnik eine immer wichtigere Rolle in den verschiedenen Industriezweigen der Gemeinschaft. Die erforderlichen Investitionen zur Forschung und Entwicklung sind hoch und risikoreich und können nur bei angemessenem Rechtsschutz rentabel sein161. Zwischen den Mitgliedstaaten bestanden Unterschiede in Bezug auf den Rechtsschutz von biotechnologischen Erfindungen, die zu Handelsschranken führen und so das Funktionieren des Binnenmarktes behindern könnten162. Gemeint ist damit, dass solche Unterschiede zur Verzerrung des Wettbewerbs und Einschränkung des freien Warenverkehrs im Binnenmarkt führen könnten. Ein Tätigwerden i.S. des Art. 95 Abs. 1 EGV163 (damals Art. 100a EWGV164) war damit notwendig. Der Richtlinie 98 / 44 liegt die Grundidee zugrunde, dass der Rechtsschutz biotechnologischer Erfindungen nicht die Einführung eines besonderen Gesetzes erfordert, das an die Stelle des nationalen Patentrechts tritt. Letzteres ist auch weiterhin die wesentliche Grundlage für diesen Rechtsschutz. Es muss allerdings in bestimmten Punkten angepasst oder ergänzt werden, damit der Entwicklung der Technologie, die biologisches Material165 benutzt, aber gleichwohl die Voraussetzungen für die Patentierbarkeit erfüllt, angemessen Rechnung getragen wird166. Dazu stellt das europäische Patentrecht (Münchener Übereinkommen) kein Hindernis dar167. Auf der anderen Seite berührt die Richtlinie nicht die Verpflichtungen der Mitgliedstaaten aus internationalen Übereinkommen, insbesondere aus dem TRIPS-Übereinkommen und dem Übereinkommen über die biologische Vielfalt168.
ABl 1998, L 213 / 13. Richtlinie 98 / 44, 1. – 3. Erwägungsgrund. 162 Richtlinie 98 / 44, 5. Erwägungsgrund; vgl. auch 6., 7. Erwägungsgrund. 163 In der Fassung des AmsterdamerVertrages (sowie des Nizza-Vertrages). 164 In der Fassung der Einheitlichen Europäischen Akte (sowie des Maastricht-Vertrages). 165 Als „biologisches Material“ wird ein Material definiert, das genetische Informationen enthält und sich selbst reproduzieren oder in einem biologischen System reproduziert werden kann, Richtlinie 98 / 44, Art. 2, Abs. 2. 166 Richtlinie 98 / 44, Kapitel I („Patentierbarkeit“), Art. 1, Abs. 1; s. auch ausdrücklich 8. Erwägungsgrund. 167 Richtlinie 98 / 44, 15. Erwägungsgrund. 168 Richtlinie 98 / 44, Art. 1, Abs. 2. 160 161
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Daher ist die Harmonisierung im Bereich der biotechnologischen Erfindungen keine totale Harmonisierung gewesen. Sie hat sich auf folgende grundsätzliche Fragen beschränkt: den Schutzgegenstand (Festlegung bestimmter Grundsätze für die Patentierbarkeit biologischen Materials)169, den Umfang des Patentschutzes biotechnologischer Erfindungen170, die Möglichkeit für die Mitgliedstaaten, zusätzlich zur schriftlichen Beschreibung einen Hinterlegungsmechanismus vorzusehen171 sowie die Möglichkeit der Erteilung einer nicht ausschließlichen Zwangslizenz bei Abhängigkeit zwischen Pflanzensorten und Erfindungen (und umgekehrt)172. Speziell in Bezug auf die Patentierbarkeit biologischen Materials sollte wegen der besonderen Bedeutung dieser Frage hervorgehoben werden, dass gemäß der Richtlinie Erfindungen, die neu sind, auf einer erfinderischen Tätigkeit beruhen und gewerblich anwendbar sind, auch dann patentiert werden können, wenn sie ein Erzeugnis, das aus biologischem Material besteht oder dieses enthält, oder ein Verfahren, mit dem biologisches Material hergestellt, bearbeitet oder verwendet wird, zum Gegenstand haben173. Auf der anderen Seite sind nicht patentierbar a) Pflanzensorten und Tierrassen sowie b) im wesentlichen biologische Verfahren zur Züchtung von Pflanzen oder Tieren174. Ferner können der menschliche Körper in den einzelnen Phasen seiner Entstehung und Entwicklung sowie die bloße Entdeckung eines seiner Bestandteile, einschließlich der Sequenz oder Teilsequenz eines Gens, keine patentierbaren Erfindungen darstellen175. Ein isolierter Bestandteil des menschlichen Körpers oder ein auf andere Weise durch ein technisches Verfahren gewonnener Bestandteil, einschließlich der Sequenz oder Teilsequenz eines Gens, kann jedoch eine patentierbare Erfindung sein, selbst wenn der Aufbau dieses Bestandteiles mit dem Aufbau eines natürlichen Bestandteiles identisch ist176. Schließlich sind von der Patentierbarkeit ausgenommen Erfindungen, deren gewerbliche Verwertung gegen die öffentliche Ordnung oder die guten Sitten verstoßen würde177. Speziell gelten als nicht patentierbar: a) Verfahren zum Klonen menschlicher Lebewesen, b) Verfahren zur Veränderung der genetischen Identität der Keimbahn des menschlichen Lebewesens, c) die Verwendung von menschlichen Embryonen zu industriellen oder kommerziellen Zwecken, d) Verfahren zur 169 Richtlinie 98 / 44, Art. 3 – 5; diese Grundsätze bezwecken im wesentlichen, den Unterschied zwischen Erfindungen und Entdeckungen hinsichtlich der Patentierbarkeit bestimmter Bestandteile menschlichen Ursprungs herauszuarbeiten, Richtlinie 98 / 44, 13. Erwägungsgrund. 170 Richtlinie 98 / 44, Art. 8 – 11; vgl. auch 13. Erwägungsgrund. 171 Richtlinie 98 / 44, Art. 13,14; vgl. auch 13. Erwägungsgrund. 172 Richtlinie 98 / 44, Art. 12; vgl. auch 13. Erwägungsgrund. 173 Richtlinie 98 / 44, Art. 3, Abs. 1; s. auch Art. 3, Abs. 2. 174 Richtlinie 98 / 44, Art. 4, Abs. 1; vgl. auch Art. 4, Abs. 2, 3. 175 Richtlinie 98 / 44, Art. 5, Abs. 1. 176 Richtlinie 98 / 44, Art. 5, Abs. 2; s. auch Art. 5, Abs. 3. 177 Richtlinie 98 / 44, Art. 6, Abs. 1.
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Veränderung der genetischen Identität von Tieren, die geeignet sind, Leiden dieser Tiere ohne wesentlichen medizinischen Nutzen für den Menschen oder das Tier zu verursachen, sowie die mit Hilfe solcher Verfahren erzeugten Tiere178. Durch den Erlass des Gesetzes 163(I) / 2002 ist das zypriotische Patentgesetz ergänzt und damit die zypriotische Rechtsordnung an das Gemeinschaftsrecht angepasst worden, womit ein Rechtsschutz für biotechnologische Erfindungen zum erstenmal vorgesehen wurde. Dieses Gesetz übernahm naturgemäß alle Definitionen der Richtlinie179 sowie alle vorgenannten zwingenden Regelungen. Das Rechtsschutzsystem des Patentgesetzes gilt damit auch für die biotechnologischen Erfindungen.
V. Die Methode und die Probleme der Harmonisierung – Erläuterung anhand des Beispiels von „Intellectual Property“ und Gesellschaftsrecht Die praktischen Probleme, mit denen der Verfasser konfrontiert war, drehten sich hauptsächlich um drei Punkte: die Sprache und die Terminologie, die Form der Gesetzgebung (Einzelgesetz oder Einfügung in ein vorhandenes Gesetz) und der Inhalt.
1. Die Sprache und die Terminologie Ginge es nach der zypriotischen Verfassung, sollten die Gesetze in den beiden offiziellen Sprachen der Republik, griechisch und türkisch, verfasst werden. Aufgrund der damaligen politischen Lage (die Lösung des sog. Zypernproblems war infolge der Gespräche zwischen den beiden Gemeinden der Insel noch nicht in Sicht) folgte man der damals noch herrschenden Praxis, wonach alle Gesetze zunächst nur auf griechisch verfasst wurden. Die türkische Fassung wurde auf einen späteren Zeitpunkt vertagt. Ein Gesetz auf griechisch für Zypern zu verfassen, erwies sich als viel schwieriger als gedacht. Nach interner Beratung wurde folgendes Schema beschlossen: zunächst wurde als Basis der Text der EU-Richtlinie in griechischer Sprache genommen. Da dieser Text nicht immer zufriedenstellend war, wurde er auf der Grundlage der in Griechenland selbst herrschenden juristischen Sprache sowie des Sprachgefühls des Verfassers verbessert. Grenzen dafür waren Termini technici, die sich in der griechisch-zypriotischen juristischen Sprache bereits durchgesetzt Richtlinie 98 / 44, Art. 6, Abs. 2. Die Richtlinie 98 / 44 enthält neben der vorgenannten Definition des „biologischen Materials“ auch eine Definition des „mikrobiologischen Verfahrens“, Art. 2, Abs. 1; vgl. auch Art. 2, Abs. 2, 3. 178 179
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hatten, insbesondere solche, die als Übersetzung von im britischen Recht vorhandenen Institutionen galten.
2. Selbständiges Gesetz oder Einfügung in das vorhandene Gesetz? Das nächste Problem war die Frage, ob ein selbständiges Gesetz verfasst werden, oder ob die neuen Regelungen in ein bereits vorhandenes Gesetz eingefügt werden sollten. Nach dem Gesichtspunkt, ob die zu übernehmende Regelung eine für Zypern völlig neue Materie darstellte und gleichzeitig eine gewisse Selbständigkeit aufwies, entschied man sich für ein selbständiges Gesetz. Dies war bei Topographien und bei Mustern und Modellen der Fall, die trotz gewisser Ähnlichkeiten zu den Patenten dem Patentrecht nicht einzuordnen sind. Biotechnologische Erfindungen sowie Fusion und Spaltung von Unternehmen wurden dagegen in das vorhandene Patentgesetz bzw. in das vorhandene Gesellschaftsgesetz (Gesetz über Kapitalgesellschaften) eingefügt. Entsprechend wurden die Regelungen über die Computerprogramme, die Datenbanken, die grenzüberschreitende Programmverbreitung über Sateliten oder Kabelfernsehen (Sendungen) und das Vermiet- und Verleihrecht urheberrechtlich geschützter Werke sowie schließlich die (dem Geistigen Eigentum) verwandten Schutzrechte wegen ihrer eindeutigen Zugehörigkeit zum geistigen Eigentum in das Gesetz über Geistiges Eigentum eingefügt.
3. Der Inhalt der nationalen Gesetzgebung Der genaue Inhalt, den die nationale Gesetzgebung haben sollte, entschied sich natürlich entsprechend dem Ermessensspielraum, den die gemeinschaftliche Regelung dem nationalen Gesetzgeber ließ.
a) EU-Richtlinie lässt keinen Ermessensspielraum War dieser Spielraum auf Null reduziert, wurde selbstverständlich die gemeinschaftliche Regelung nicht nur dem Sinn nach, sondern oft wortwörtlich übernommen. Letzteres war insbesondere bei Legaldefinitionen oder bei Fristen der Fall. So z. B. bei der Legaldefinition der Verschmelzung180 und der Spaltung181, des Vermiet- oder Verleihrechts urheberrechtlich geschützter Werke182, des Satelliten 180 181 182
3. Richtlinie Art. 3, 4; s. auch oben IV., 1., b). 6. Richtlinie, Art. 2, 21; s. auch a. a. O. Richtlinie 92 / 100, Art. 1, Abs. 2, 3; s. auch oben IV., 2., a), bb).
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in Bezug auf Sendungen183, der Datenbanken184, der Topographien185 oder der Muster und Modelle186. Die Dauer des Rechtsschutzes von Filmen erhöhte sich von 50 auf 70 Jahre187. b) EU-Richtlinie lässt Ermessensspielraum – Kriterien für die gewählte Lösung Interessant wurde es erst, wenn die gemeinschaftliche Regelung dem nationalen Gesetzgeber die Wahl zwischen mindestens zwei Lösungen ließ. Diese in der gemeinschaftlichen Rechtsordnung oft vorkommene Gesetzestechnik ist nichts anderes als Ausdruck dessen, was bereits Ende der 70er / Anfang der 80er Jahre als eine Form von differenzierter Integration bezeichnet wurde188. Sie verweist auf die Tatsache, dass die Mitgliedstaaten sich nicht auf eine Einheitsregelung einigen konnten oder sie die bereits vorhandenen nationalen Lösungen als gleichwertig ansahen189. Die Kriterien, wonach in den vorerwähnten Bereichen die eine oder andere Lösung gewählt wurde, waren die Förderung des Standortes Zypern, die Rechtssicherheit, das Gemeinwohl, die Durchsetzbarkeit der neuen Regelung sowie die Geeignetheit der Lösung in Bezug auf die nationale Rechtsordnung. Dieses letzte Kriterium kam oft dem Kriterium „verwandte Rechtsordnung“ gleich, wobei es sich praktisch um die Wahl zwischen der britischen, der irischen oder der griechischen Lösung handelte. Im Einzelnen: aa) Standort Zypern Um den unternehmerischen Geist zu fördern, hat man sich dazu entschlossen, dass Rechtsinhaber eines Musters oder Modells der Arbeitgeber des Schöpfers und nicht der Arbeitnehmer-Schöpfer bzw. der Auftraggeber und nicht der Auftragnehmer-Schöpfer sein soll190. In Bezug auf Topographien enthält die entsprechende Richtlinie eine Regelung, die günstiger für die Arbeitnehmer-Schöpfer ist. Dem Ermessen der Mitgliedstaaten wird überlassen, als Rechtsinhaber entweder den ArRichtlinie 93 / 83, Art. 1, Abs. 1; s. auch oben IV., 2., a), cc). Richtlinie 96 / 9, Art. 1, Abs. 2; s. auch oben IV., 2., a), dd). 185 Richtlinie 87 / 54, Art. 1, Abs. 1, Buchstabe b); s. auch oben IV., 2., b). 186 Richtlinie 98 / 71, Art. 1, Buchstabe a); s. auch oben IV., 2., c). 187 Richtlinie 93 / 98, Art. 2, Absatz 2, neuer Art. 5 Gesetz über Urheberrecht. 188 S. bereits E. Grabitz / C. Iliopoulos, Typologie der Differenzierungen und Ausnahmen im Gemeinschaftsrecht, in Grabitz (Hrsg.), Abgestufte Integration – Eine Alternative zum herkömmlichen Integrationskonzept?, 1984, Kehl am Rhein, Straßburg, S. 31 f. 189 A. a. O. 190 Gesetz 4(I) / 2002, Art. 9; die Richtlinie 98 / 71 regelt diese Materie nicht, was der Einräumung eines Ermessensspielraums an die Mitgliedstaaten gleichkommt. 183 184
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beitnehmer oder den Arbeitgeber (bzw. den Auftragnehmer-Schöpfer oder den Auftraggeber) zu bestimmen. Im letzten Fall allerdings unter der wichtigen Einschränkung, dass der Beschäftigungsvertrag (bzw. der Auftragsvertrag) nicht etwas anderes vorsieht191. Zypern hat die zweite Lösung gewählt. bb) Rechtssicherheit Rechtsinhaber einer Topographie ist derjenige, der die Topographie als erster in das entsprechende Register hat eintragen lassen, nicht derjenige, der diese Topographie in den Verkehr gebracht und wirtschaftlich ausgenutzt hat.192 cc) Gemeinwohl Die unerlaubte Vervielfältigung eines Musters oder Modells ist verboten. Eine Ausnahme bildet die Vervielfältigung zwecks Förderung der Lehre193. dd) Geeignetheit der Lösung in Bezug auf die nationale Rechtsordnung Beim einzuführenden Rechtsschutz in den Bereichen der Topographien bzw. der Muster oder Modelle galt es zwischen dem verwaltungsrechtlichen und dem zivilrechtlichen Weg zu wählen. Zypern hat sich entsprechend dem griechischen (und deutschen) Vorbild für den zweiten Weg entschieden, weil die entsprechenden Streitigkeiten auch nach zypriotischem Rechtsverständnis eher zivilrechtlicher Natur sind.194 ee) Durchsetzbarkeit der gemeinschaftlichen Regelung Die Richtlinien über Topographien und über Muster und Modelle verlangen, wie bereits gesagt, zur Durchsetzbarkeit des Gemeinschaftsrechts die Einführung eines Rechtschutzsystems, geben aber nicht vor, wie dieser Rechtschutz aussehen soll. Die Republik Zypern hat neben den Vorschriften über einen zivilrechtlichen Schutz auch strafrechtliche Vorschriften eingeführt, die geeignet sind, diese Durchsetzbarkeit zu sichern195.
Richtlinie 87 / 54, Art. 3, Abs. 2; Gesetz 5(I) / 2002, Art. 6 Abs. 1, 2. Richtlinie 87 / 54, Art. 7; vgl. auch 8. Erwägungsgrund; Gesetz 5(I) / 2002, Art. 4 Absatz 1 – 3. 193 Richtlinie 98 / 71, Art. 13, Gesetz 4(I) / 2002, Art. 19, Buchstabe c). 194 Richtlinie 87 / 54, Art. 4, Abs. 6, Gesetz 5(I) / 2002, Art. 17 f.; Richtlinie 98 / 71, 5. und 6. Erwägungsgrund, Gesetz 4(I) / 2002, Art. 20 f. 195 Gesetz 5(I) / 2002, Art. 20, Gesetz 4(I) / 2002, Art. 25. 191 192
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c) Änderung auf EU-Ebene in Aussicht: Zypern nimmt bereits jetzt die zukünftige Regelung an Dies war bei der 4. sowie bei der 7. Gesellschaftsrechts-Richtlinie der Fall. Diese Richtlinien sehen, wie bereits gesagt, zwei Möglichkeiten zur Bilanzierung vor (zwei Arten der Gliederung für die Aufstellung der Bilanz). Zypern hat eine dritte gewählt, die sog. „international accounting standards“196, die auf der Insel von einigen Firmen bereits praktiziert und zukünftig auch auf EU-Ebene eingeführt werden sollen. Die Kommission soll signalisiert haben, dass sie nicht dagegen ist.
VI. Ergebnis und Aussichten Alle diese Beispiele zeigen, dass die zypriotische Verwaltung und der zypriotische Gesetzgeber die Aufgabe der Harmonisierung des zypriotischen Rechts mit dem acquis communautaire mit Flexibilität bewältigt haben, um die von den Zyprioten selbst sowie von der Kommission gewünschte Effektivität zu erreichen und die sachlichen Voraussetzungen zum Beitritt zu erfüllen. In Anbetracht der Tatsache, dass der Beitrittsvertrag mit der Republik Zypern (sowie den übrigen neun Beitrittskandidaten) am 14. April 2003 in Athen unterzeichnet wurde, ohne dass das interne zypriotische Problem gelöst wurde, bleibt die Hoffnung, dass die Früchte aus dem Beitritt auch der türkisch-zypriotischen Minderheit zugute kommen werden. Das hängt praktisch von ihr und der Türkei ab. Die zypriotische Regierung, die griechische Regierung, die EU sowie die USA taten das Ihre, indem sie weiterhin alle den Plan des UN-Generalsekretärs Kofi Annan als die realistische Basis zur Lösung des Konflikts und seine Realisierung unterstützen.
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Gesetzesentwurf, Art. 3,9.
Schadensvermeidung – Risikobewältigung – Ressourcenbewirtschaftung Zum Verhältnis des Schutz-, des Vorsorgeund des Nachhaltigkeitsprinzips als Prinzipien des Umweltrechts Von Dietrich Murswiek
I. Schwierigkeiten mit der Verortung des Nachhaltigkeitsprinzips in der Systematik des Umweltrechts „Nachhaltigkeit“ ist zum politischen Modetopos geworden1. Dadurch hat das Wort an begrifflicher Schärfe nicht gewonnen. Es gilt zwar seit Rio2 als Grundbegriff der Umweltpolitik und ist in Deutschland in der Gesetzessprache längst etabliert3. Als rechtsgestaltendes Leitprinzip hat das Nachhaltigkeitsprinzip allerdings noch nicht die Anerkennung und praktische Bedeutung gefunden, die den anderen Kernprinzipien des Umweltrechts, insbesondere dem Vorsorgeprinzip zukommt. Dies wird man nicht allein mit der inhaltlichen Unbestimmtheit des Nachhaltigkeitsprinzips erklären können. Was „Vorsorge“ ist, vor allem: die rechtlich gebotene Vorsorge, dürfte nicht weniger schwierig zu konkretisieren sein. Die Wirkungskraft des Nachhaltigkeitsprinzips leidet jedoch zum einen daran, dass immer noch streitig ist, inwieweit das umweltpolitische Nachhaltigkeitsziel durch das ökonomische Ziel der „Entwicklung“, wie es im Topos der „nachhaltigen Entwicklung“ zum Ausdruck kommt, relativiert wird, ob also Ökologie gegen Ökonomie nach politischem Belieben abgewogen werden darf; zum anderen besteht Unklarheit darüber, welche Funktion das Nachhaltigkeitsprinzip im Verhältnis zu den „klassischen“ Prinzipien des Umweltrechts, vor allem im Verhältnis zum Vorsorgeprinzip, hat4 und ob es neben diesen Prinzipien überhaupt eine eigene Existenz1 Vgl. nur die „Nationale Nachhaltigkeitsstrategie“ der Bundesregierung („Perspektiven für Deutschland. Unsere Strategie für eine nachhaltige Entwicklung“, 2002) als eines von vielen amtlichen und privaten Papieren. 2 Konferenz der Vereinten Nationen für Umwelt und Entwicklung, Juni 1992, vgl. insb. die Erklärung von Rio zu Umwelt und Entwicklung (Rio-Deklaration). 3 Vgl. z. B. BNatSchG §§ 1 Nr. 2; 2 Abs. 1 Nr. 2, 4, 5, 6; 3 Abs. 2; 5 Abs. 4 – 6; 23; 26 Abs. 1 Nr. 1; 27 Abs. 1; 30 Abs. 1; 57 Abs. 1; ROG § 2 Abs. 1; BauGB § 1 Abs. 5; BWaldG §§ 1; 6 Abs. 3, 3; 11; 38; 41 Abs. 2; BBodSchG §§ 1; 17 Abs. 2; EEG § 1; WHG §§ 1a Abs. 1; 19g Abs. 5; 25b Abs. 2 Nr. 1 f.); 25d Abs. 3; UIG § 7 Abs. 1 Nr. 3.
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berechtigung hat. Zum ersten Problem begnüge ich mich hier mit einer These. Dem zweiten Problem ist dieser Beitrag gewidmet. Meine These lautet: Das Nachhaltigkeitsprinzip verlangt die dauerhafte, generationenübergreifende Sicherung der natürlichen Ressourcen – der öffentlichen Umweltgüter – als Lebensgrundlagen des Menschen; dies impliziert die Erhaltung (bzw. Wiederherstellung) ihrer dauerhaften Nutzbarkeit auch für künftige Generationen. Dieses Ziel steht nicht zur Disposition einer Politik der wirtschaftlichen und sozialen „Entwicklung“, zugunsten derer es relativiert werden könnte. Es gibt vielmehr den – der normativen Idee nach – unüberschreitbaren, unrelativierbaren Rahmen vor, innerhalb dessen die politische und soziale Entwicklung stattfinden sollen. Entwicklungspotentiale müssen also dadurch erhalten oder wiederhergestellt werden, dass der Abstand zwischen dem Rahmen – d. h. der äußersten Grenze noch zuträglicher Umweltbelastung – und der jeweils vorhandenen tatsächlichen Umweltbelastung so groß gehalten wird, dass noch hinreichender Spielraum für wirtschaftliche Expansion bleibt. Im Konzept der nachhaltigen Entwicklung (sustainable development) hat weder die ökonomisch-soziale Entwicklung die Oberhand über den Umweltschutz noch dominiert die Ökologie. Beides wird in der Weise harmonisiert, dass die Umweltgüter erhalten bleiben und „dennoch“ Entwicklungspotential bestehen bleibt. Dem liegt die Erkenntnis zugrunde, dass Entwicklung dauerhaft nur möglich ist, wenn sie nicht ihre eigenen Grundlagen zerstört5. Das so verstandene Nachhaltigkeitsprinzip ist in Deutschland als Bestandteil von Art. 20a GG geltendes Verfassungsrecht6. Wie verhält sich dieses Prinzip zu den herkömmlichen Prinzipien des Umweltrechts? Diese Frage ist vor allem in bezug auf das Vorsorgeprinzip thematisiert worden, welches wohl als dem Nachhaltigkeitsprinzip besonders ähnlich angesehen wird. Man hat das Problem aufgeworfen, ob nicht all das, was auf völkerrechtlicher Ebene mit „Nachhaltigkeit“ ausgedrückt werden soll, in Deutschland bereits Inhalt des Vorsorgeprinzips sei. Manche Autoren halten das Nachhaltigkeitsprinzip für weniger anspruchsvoll als das Vorsorgeprinzip7. Andere sehen es als thematisch enger an und betrachten Nachhaltigkeit als ressourcenspezifische Ausprägung des Vorsorgeprinzips8. Nach4 Vgl. E. Rehbinder, Ziele, Grundsätze, Strategien und Instrumente, in: Salzwedel u. a., Grundzüge des Umweltrechts, 2. Aufl. 1997, 04 Rn. 65; Rat von Sachverständigen für Umweltfragen, Umweltgutachten 1994, S. 48 (Tz. 12); R. Streinz, Auswirkungen des Rechts auf „Sustainable Development“ – Stütze oder Hemmschuh, Die Verwaltung 31 (1998), S. 449 (470 f.). 5 Diese Position ist, wie schon gesagt, nicht unstreitig. A.A. insb. die Vertreter des „DreiSäulen-Konzepts“, vgl. die Nachw. bei D. Murswiek, „Nachhaltigkeit“ – Probleme der Umsetzung eines umweltpolitischen Leitbildes, NuR 2002, S. 641 (642). Eine ausführliche Begründung meiner These beabsichtige ich an anderer Stelle zu geben; vorerst vgl. Murswiek, NuR 2002, S. 641 (643). 6 Vgl. D. Murswiek, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, 3. Aufl. 2003, Art. 20a Rn. 32, 37 f. 7 Z. B. W. Lang / H. Neuhold / K. Zemanek, Environmental Protection and International Law, 1991, S. 80. 8 Vgl. z. B. M. Kloepfer, Umweltrecht, 2. Aufl. 1998, § 4 Rn. 6, 24 m. Hinw. auf die Auffassung der Bundesregierung, BT-Drs. 10 / 6028, S. 7 und 11 / 7168, S. 26; M. Schröder,
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haltigkeit wird als Ergebnis guter Vorsorge angesehen9. Nachhaltigkeit ist danach als Teilaspekt im Vorsorgeprinzip enthalten. Umgekehrt wird auch formuliert, Vorsorge sei eine Modalität der Nachhaltigkeitspolitik10. Auch werden weitreichende Überschneidungen zwischen Nachhaltigkeitsprinzip und Vorsorgeprinzip konstatiert11, ohne dass die Überschneidungsbereiche von den sich nicht deckenden Inhalten stringent unterschieden werden konnten. Als eigenständiges Prinzip aber wird das Nachhaltigkeitsprinzip sich nur dann behaupten können, wenn es gelingt, einen eigenständigen, vom Vorsorgeprinzip unabhängigen Aussagegehalt herauszuarbeiten12. Ansätze dafür, einen eigenständigen Bedeutungsgehalt des Nachhaltigkeitsprinzips herauszuarbeiten, gibt es in der Literatur13. Allerdings beschränken sich diese Versuche, den Ort des Nachhaltigkeitsprinzips in der Systematik des Umweltrechts zu bestimmen, auf die Abgrenzung zum Vorsorgeprinzip. Die Nichtberücksichtigung des anderen „klassischen“ Umweltrechtsprinzips, des Gefahrenabwehrprinzips, führt dabei zu Unvollständigkeiten und perspektivischen Verzerrungen. Die Funktion des Nachhaltigkeitsprinzips im System des Umweltrechts lässt sich nur dann richtig bestimmen, wenn man es zu sämtlichen Prinzipien in Beziehung setzt, die die umweltpolitischen Aufgaben determinieren, und dazu gehört das Gefahrenabwehrprinzip (Schutzprinzip) ebenso wie das Vorsorgeprinzip. Diejenigen Prinzipien dagegen, die nicht die Aufgabe, sondern die Art und Weise der Aufgabenerfüllung determinieren (Modalprinzipien – das sind das Verursacherprinzip, das Kooperationsprinzip14 und das Integrationsprinzip des Art. 6 EGV15), verhalten sich gegenüber den das anzustrebende Niveau des Umweltschutzes determinierenden Prinzipien neutral. Sie können daher hier außer Betracht bleiben.
„Nachhaltigkeit“ als Ziel und Maßstab des deutschen Umweltrechts, WiVerw 1995, S. 65 (74 f.). 9 Vgl. Bender / Sparwasser / Engel, Umweltrecht, 4. Aufl. 2000, Kap. 1 Rn. 87. 10 E. Rehbinder, Das deutsche Umweltrecht auf dem Weg zur Nachhaltigkeit, NVwZ 2002, S. 657 (661). 11 Vgl. z. B. E. Rehbinder, Nachhaltigkeit als Prinzip des Umweltrechts: konzeptionelle Fragen, in: K.-P. Dolde (Hg.), Umweltrecht im Wandel, 2001, S. 721 (740); ders. (Fn. 4), Rn. 65. 12 Vgl. I. Appel, Zukunfts- und Entwicklungsvorsorge im demokratischen Rechtsstaat. Zum Wandel der Dogmatik des Öffentlichen Recht am Beispiel des Konzepts der nachhaltigen Entwicklung im Umweltrecht (im Erscheinen), § 9 B.II. 13 Vgl. insb. Rehbinder (Fn. 10), S. 660 f., im wesentlichen identisch mit ders. (Fn. 11), S. 740 ff.; Appel (Fn. 12). 14 Ob dieses im strengen begrifflichen Sinn als „Prinzip“ qualifiziert werden kann, ist streitig. Jedenfalls ist es m.E. kein Rechtsprinzip. Dazu ausführlich D. Murswiek, Das sogenannte Kooperationsprinzip – ein Prinzip des Umweltschutzes?, ZUR 2001, S. 7 ff. m. Nachw. 15 Dazu z.B Ch. Callies, Die neue Querschnittsklausel des Artikel 6 ex 3c EGV als Instrument zur Umsetzung des Grundsatzes der nachhaltigen Entwicklung, DVBl. 1998, S. 559 ff., insb. 564 ff. 27*
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Hebt man die das Umweltschutzniveau bestimmenden Prinzipien von den Modalprinzipien ab, so lassen sich erstere auch als Primär-, letztere als Sekundärprinzipien bezeichnen. Die Sekundärprinzipien existieren nicht selbständig, sondern nur im Hinblick auf die Verwirklichung der Primärprinzipien; sie haben jenen gegenüber eine dienende Funktion. Das Nachhaltigkeitsprinzip ist wie das Gefahrenabwehrprinzip und das Vorsorgeprinzip ein umweltrechtliches Primärprinzip.
II. Die Funktionen der umweltrechtlichen Primärprinzipien 1. Das Schadensvermeidungs- und Gefahrenabwehrprinzip (Schutzprinzip) Als Prinzipien des Umweltrechts werden in der Regel das Vorsorge-, das Verursacher- und das Kooperationsprinzip aufgezählt („Prinzipientrias“)16, daneben mitunter noch einige Nebenprinzipien, und neuerdings wird das Nachhaltigkeitsprinzip hinzugefügt. Das Schadensvermeidungsprinzip und das Gefahrenabwehrprinzip, zusammen auch als „Schutzprinzip“ bezeichnet17, fehlen meist in diesen Aufzählungen, obwohl ihre Existenz als Rechtsprinzipien unstreitig ist und obwohl ihre Bedeutung, gerade auch für den Umweltschutz, fundamental ist18. Sie werden aber von vielen Autoren als so selbstverständlich betrachtet, dass man ihre besondere Erwähnung als Umweltrechtsprinzipien für überflüssig hält19. Man geht davon aus, dass das Vorsorgeprinzip die Geltung dieser Prinzipien voraussetzt20. Das ist zweifellos richtig, denn Vorsorge setzt dort an, wo die Gefahrenabwehr aufhört. Schadensvermeidung und Gefahrenabwehr nicht in der Aufzählung der umweltrechtlichen Prinzipien zu nennen, lässt sich daher nur damit rechtfertigen, dass diese Prinzipien nicht spezifisch umweltrechtlich sind, sondern generelle Geltung für die gesamte Rechtsordnung haben. Zu einer systematischen Analyse des Umweltrechts gehören sie jedoch dazu. Das geltende deutsche Umweltrecht lässt sich auf die diese Rechtsmaterie strukturierenden Prinzipien hin nur dann systematisch analysieren, wenn man das Schadensvermeidungs- und Gefahrenabwehrprinzip ebenso wie das Vorsorgeprinzip und das Nachhaltigkeitsprinzip zu seinen Primärprinzipien rechnet. Denn zu großen Teilen muss das geltende Umweltrecht als Konkretisierung dieser Prinzipien verstanden werden. Diese Prinzipien lassen sich auch 16 So bereits der Umweltbericht der Bundesregierung von 1976, BT-Drs. 7 / 5684, S. 8 f. Vgl. auch die Festschreibung der drei genannten Prinzipien in Art. 34 I des Einigungsvertrages. 17 Vgl. z. B. Rehbinder (Fn. 4), Rn. 17; Bender / Sparwasser / Engel (Fn. 9), Kap. 1 Rn. 79. 18 Vgl. nur Rehbinder (Fn. 4), Rn. 18. 19 Vgl. z. B. Kloepfer (Fn. 8) § 4 Rn. 23; zur politischen Praxis vgl. Rehbinder (Fn. 4), Rn. 18. 20 R. Breuer, Umweltschutzrecht, in: Schmidt-Aßmann, Besonderes Verwaltungsrecht, 12. Auflage (2003), Rn. 7.
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nicht als Teilprinzipien des Vorsorgeprinzips verstehen, denn die Rechtsfolgen sind andere als bei der Vorsorge21. Richten wir den Blick zunächst nur auf das Schadensvermeidungsprinzip. Dieses Prinzip gibt der Umweltpolitik auf, dafür zu sorgen, keine Schäden an Rechtsgütern, insbesondere an individuellen Rechtsgütern, durch Umweltbeeinträchtigungen hervorgerufen werden22. Geschützt sind vor allem Leben und Gesundheit, aber auch andere individuelle Rechtsgüter wie das Sacheigentum sowie kollektive Rechtsgüter, etwa das Eigentum des Staates an Grundstücken und Bauwerken. Diese Rechtsgüter sind primär durch Beeinträchtigungsverbote zu schützen. Adressaten der Verbote sind die Verursacher von Umweltbeeinträchtigungen. Der allgemeine Rechtsgrundsatz „neminem laedere“, also die allgemeine Rechtspflicht, niemanden zu schädigen, wie sie etwa in § 823 Abs. 1 BGB vorausgesetzt wird, gilt auch für das Umweltrecht. Ein großer Teil des Umweltrechts besteht darin, diese allgemeine Rechtspflicht umweltspezifisch, insbesondere in bezug auf bestimmte Arten von Umweltbeeinträchtigungen, detaillierter auszugestalten. Denn wegen der Komplexität der Ursache-Wirkungs-Beziehungen bei durch Umweltbeeinträchtigungen verursachten Rechtsgutverletzungen reicht die allgemeine Generalklausel, wie sie zivilrechtlich gilt, zur Schadensvermeidung nicht aus. Die primäre Verpflichtung, die Verursachung von Schäden an Rechtsgütern durch Umweltbeeinträchtigungen zu vermeiden, ist auf einer sekundären Ebene effektiv durchzusetzen, z. B. durch die Möglichkeit gerichtlichen Rechtsschutzes, durch behördliche Überwachung, durch Auskunftspflichten, Informationsrechte usw., schließlich auch durch Beseitigung bereits eingetretener Schäden oder durch Schadensersatzansprüche. Soweit es um den Schutz grundrechtlich gewährleisteter Rechtsgüter geht, ist das Schadensvermeidungsprinzip in Form der grundrechtlichen Schutzpflichten verfassungsrechtlich verbürgt. Das Ziel, Schäden zu vermeiden – im Unterschied zur Reparatur bereits eingetretener Schäden – ist zukunftsgerichtet, präventiv. Seine Verwirklichung kann immer nur auf der Basis von Prognosen über mögliche Ursache-Wirkungs-Verläufe erfolgen. Jede Prognose aber ist notwendigerweise mit Unsicherheit behaftet. Präventiver Rechtsgüterschutz ist nur möglich, wenn er trotz Ungewissheit darüber stattfindet, ob der befürchtete Schaden tatsächlich eintreten würde. Eine hinreichende Schädigungswahrscheinlichkeit muss ausreichen. Wie groß diese seine muss, hängt vom Ausmaß des potentiellen Schadens ab. Die nach der „Je-destoFormel“ bestimmte „hinreichende Wahrscheinlichkeit“ bezeichnet man im deutschen Recht als „Gefahr“23. Das Schadensvermeidungsprinzip als präventives Prinzip ist notwendigerweise mit dem Prinzip der Gefahrenabwehr verbunden: Nicht nur Verhaltensweisen, die Dazu z. B. Rehbinder (Fn. 4), Rn. 20. Dies impliziert, dass bereits eingetretene Schäden, wenn möglich, beseitigt werden müssen, vgl. etwa Rehbinder (Fn. 4), Rn. 17. 23 Dazu näher D. Murswiek, Gefahr, in: HdUR I, 2. Aufl. 1994, Sp. 803 ff. 21 22
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mit Sicherheit, sondern auch Verhaltensweisen, die mit hinreichender Wahrscheinlichkeit zur Schädigung eines Rechtsguts führen, sind prinzipiell verboten. Die allgemeine Pflichtigkeit, die Verursachung von Gefahren zu unterlassen, muss mit geeigneten Mitteln effektiv durchgesetzt werden. Dieses Prinzip ist ebenfalls durch die grundrechtlichen Schutzpflichten verfassungsrechtlich verbürgt24. Es gilt wie das Schadensvermeidungsprinzip auch für das Umweltrecht und ist dort in vielen gesetzlichen Vorschriften ausgeformt und konkretisiert. Im Immissionsschutzrecht beispielsweise ist das Schutzgebot des § 5 Abs. 1 Nr. 1 BImSchG eine Ausformung des Schutzprinzips, verstanden als das Schadensvermeidungs- und das Gefahrenabwehrprinzip zusammenfassendes Prinzip. Das Schutzprinzip als rechtsgutbezogenes Prinzip gibt ein am effektiven Schutz der Rechtsgüter orientiertes Umweltschutzniveau vor. Welche Maßnahmen zum Zwecke des Rechtsgüterschutzes ergriffen werden müssen, ist von diesem Ziel her zu bestimmen. Als Maßnahmen der Gefahrenabwehr werden allerdings nur solche Maßnahmen angesehen, die sich gegen eine oder mehrere bestimmte Gefahrenquellen richten. Zwischen Gefahrenquelle – z. B. einer emittierenden Anlage – und der durch sie drohenden Schädigung eines oder mehrerer Rechtsgüter muss eine kausale Beziehung feststellbar sein. Effektiver Rechtsgüterschutz ist schon deshalb nicht immer durch Gefahrenabwehr möglich, weil sich in vielen Fällen – etwa bei Summierung vieler kleiner und für sich genommen unschädlicher Immissionsbeiträge – eine solche Kausalbeziehung zwischen einzelner Risikoquelle und gefährdetem Rechtsgut nicht nachweisen lässt. Maßnahmen, die der Begrenzung solcher Immissionsbeiträge dienen, werden der Vorsorge zugerechnet, auch wenn sie letztlich der Gewährleistung effektiven Rechtsgüterschutzes dienen. Vom Schutzprinzip umfasst ist demgegenüber die manchmal so genannte „Gefahrenvorsorge“, nämlich das präventive Verbot von Tätigkeiten, die, wenn sie vorgenommen würden, Gefahren verursachten. „Gefahrenabwehr“ ist nicht nur Abwehr bereits bestehender Gefahren, sondern auch Gefahrenprävention, z. B. durch die Rechtsfigur des Verbots mit Erlaubnisvorbehalt.
2. Das Vorsorgeprinzip Das Schutzprinzip ist auch für den Umweltschutz nach wie vor von fundamentaler Bedeutung. Es hat sich aber für den Schutz der Umwelt und der menschlichen Gesundheit aus folgenden Gründen als unzureichend erwiesen: 24 Wenn auch mit der Einschränkung, dass das Bundesverfassungsgericht von „erheblichen Gefährdungen“ spricht (BVerfGE 49, 89 [141] und z. B. 51, 324 [346 f.]; 66, 39 [58]); zur verfassungsrechtlichen Pflicht zum Schutz gegen Gefahren ausführlich D. Murswiek, Die staatliche Verantwortung für die Risiken der Technik, 1985, S. 127 ff.; ders., Umweltrecht und Grundgesetz, Die Verwaltung 33 (2000), S. 241 (249 ff.).
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Es ist nicht selten vorgekommen, dass Umweltbeeinträchtigungen, die man als unschädlich oder jedenfalls als ungefährlich angesehen hat, sich später als hochgradig schädlich für die menschliche Gesundheit oder für andere Rechtsgüter erwiesen. Risiken, deren Verwirklichung man im Zeitpunkt der Beurteilung auf der Basis des damaligen Kenntnisstandes als so unwahrscheinlich ansehen konnte, dass sie nicht als „Gefahren“ zu qualifizieren waren, haben später zu großen Schäden geführt. Umweltbeeinträchtigungen, die für sich genommen unschädlich bzw. ungefährlich sind, summieren sich mit anderen Immissionsbeiträgen. Synergismen und Coergismen verschiedener Schadstoffe in der Umwelt führen zu nicht vorhergesehenen schädlichen Wirkungen. Solche Summations- und Kombinationswirkungen werden durch Gefahrenabwehrmaßnahmen nur insoweit erfasst, als sie als Hintergrund (Vorbelastung, voraussehbare später hinzukommende Belastung) bei der Beurteilung einer konkreten Gefahrenquelle zu berücksichtigen sind. Das Schutzprinzip verhindert daher nicht, dass außerhalb des „Einwirkungsbereichs“ einer schadstoffemittierenden Anlage, in welchem diese eine erhebliche Erhöhung der Immissionsbelastung herbeiführt, durch Summierung vieler kleiner, auch mit der weiträumigen Luftströmung herangetragener Immissionsbeiträge Schäden entstehen. Auch die Akkumulation von Schadstoffen im Laufe der Zeit, insbesondere im Boden, wird durch Gefahrenabwehr nicht verhindert. Vorsorge dient insofern der Vorbeugung gegen die Entstehung solcher Gefahren, die man nicht mit den Mitteln der – gegen die individuellen Verursacher – gerichteten Gefahrenabwehr bewältigen kann. Das Schutzprinzip lässt es zu, dass die Umwelt bis an die unter dem Aspekt des Rechtsgüterschutzes gerade noch erträgliche Grenze – die „Gefahrenschwelle“ – mit Schadstoffen belastet wird. Wenn an dem nicht vorbelasteten Standort A die Genehmigung einer Industrieanlage beantragt wird und für den Umweltschadstoff X ein Immissionswert von 100g / m3 die Gefahrenschwelle markiert, dann ist die Anlage unter dem Aspekt des Schutzprinzips genehmigungsfähig, wenn sie innerhalb ihres Einwirkungsbereichs eine Immissionsbelastung von bis zu 100g / m3 des Schadstoffes X herbeiführt. Eine einzige Anlage dürfte, wenn allein das Schutzprinzip zur Anwendung käme, also die gesamte Umweltbelastungskapazität in Anspruch nehmen mit der Folge, dass weitere Anlagen dieser Art an diesem Standort nicht mehr genehmigt werden könnten oder dass es unmöglich wäre, den Charakter eines im Einwirkungsbereich gelegenen Gebietes als Erholungsgebiet zu erhalten.
Diese Schwächen des Schutzprinzips sollen durch das Vorsorgeprinzip, wie es in Deutschland in den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts entwickelt wurde, überwunden werden. Das Vorsorgeprinzip ergänzt also das Schutzprinzip.
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a) Risikovorsorge Unstreitig ist die Vorsorge zunächst als Risikovorsorge zu verstehen. Sie umfasst die „Risikovorsorge unterhalb der Gefahrenschwelle“. Das ist die Vorsorge gegen Risiken25, die als solche erkannt sind, die aber in Relation zum möglichen Schaden als so klein angesehen werden, dass sie nicht als Gefahren qualifiziert werden können. Während das Gefahrenabwehrprinzip die Unterlassung der Verursachung von Gefahren verlangt, kann das Vorsorgeprinzip nicht auf die Unterlassung der Verursachung jeglicher Risiken gerichtet sein. Da mit allen umweltrelevanten menschlichen Aktivitäten, insbesondere mit Warenproduktion und Verkehr, Risiken verbunden sind, ist die Vermeidung von Risiken praktisch nicht möglich. Das Vorsorgeprinzip ist daher nicht darauf gerichtet, Umweltrisiken auszuschließen, sondern sie so weit wie praktisch möglich zu vermindern. Risikominimierung nach dem Stand der Technik ist das zentrale Mittel der Vorsorgepolitik. Zur Risikovorsorge zählt nach wohl herrschender Meinung vor allem die Vorsorge gegen solche Umweltschadstoffe bzw. sonstige Risikoquellen, von denen nach dem Stand der wissenschaftlichen Erkenntnis noch nicht feststeht, ob sie gesundheitsschädlich sind bzw. ob sie sonstige Rechtsgüter zu schädigen geeignet sind. Wenn insoweit lediglich auf Tatsachen gestützte Vermutungen bestehen, aber ein Beweis für die Schädlichkeit noch nicht geführt worden ist – etwa wenn die Kanzerogenität einer Substanz im Tierversuch mit hohen Dosen nachgewiesen ist und daraus die Kanzerogenität kleinerer Dosen im Hinblick auf den Menschen nur hypothetisch abgeleitet wird – dann liegt nach verbreiteter Ansicht nur ein „Gefahrenverdacht“ und noch keine Gefahr vor, so dass hier das Gefahrenabwehrprinzip noch nicht greift26, wohl aber das Vorsorgeprinzip die Reduzierung des Risikos zumindest erlaubt. Notwendig ist Risikovorsorge schließlich dort, wo man tatsächliche Anhaltspunkte für die Schädlichkeit von Stoffen, Produkten oder Umweltbeeinträchtigungen hat, aber aufgrund der vorhandenen Erkenntnisse überhaupt noch nicht in der Lage ist, die Größe der Schädigungswahrscheinlichkeit einzuschätzen. Sinn der Risikovorsorge ist es also, zusammengefasst, die Ungewissheit zu bewältigen, die im Hinblick auf Ursache-Wirkungs-Beziehungen besteht und die durch das Schutzprinzip nicht ausreichend bewältigt werden kann. 25 Zum Begriff des Risikos Murswiek, Die staatliche Verantwortung (Fn. 24), S. 81 ff.; ders., Gefahr, in: HdUR I, 2. Aufl. 1994, Sp. 803. 26 M.E. ist dagegen auch ein „Gefahrenverdacht“ als Gefahr zu qualifizieren, wenn aufgrund der vorhandenen Erkenntnisse eine hinreichend große Schädigungswahrscheinlichkeit besteht. Dies gilt nicht nur für konkrete Gefahrenlagen, sondern auch für die hier in Rede stehende abstrakte Möglichkeit, dass ein bestimmter Stoff eine schädliche Wirkung, etwa auf die menschliche Gesundheit (im Unterschied zur Gesundheit eines bestimmten Menschen) hat, so dass man besser von einem „Gefährlichkeitsverdacht“ statt von einem „Gefahrenverdacht“ spricht. Entscheidend ist allein die Größe des Risikos, die sich aus der Relation von Schädigungswahrscheinlichkeit und Größe des potentiellen Schadens ergibt. Dazu näher Dietrich Murswiek, Die staatliche Verantwortung, S. 378 ff.
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Risikovorsorge wird in der Regel rechtsgutbezogen verstanden. Sie kann aber neben dem Rechtsgüterschutz auch dem Ressourcenschutz dienen, der Wahrung der Integrität von Umweltgütern (z. B. der Ozonschicht).
b) Ressourcenvorsorge In Bezug auf das Umweltvölkerrecht27 und das Umwelteuroparecht28 versteht man in Rechtsprechung29, Praxis30 und Literatur31 unter dem Vorsorgeprinzip überwiegend nur die Risikovorsorge32. Dies kommt schon in dem englischen Terminus „precautionary principle“ zum Ausdruck, der auch in völkerrechtlichen Verträgen verwendet wird, um das Ergreifen von Maßnahmen im Hinblick auf Risiken zu legitimieren, für welche Unsicherheit bezüglich der generellen Schädigungseignung besteht33. – Umstritten ist im Europarecht das Verhältnis zwischen dem Vorsorgeprinzip und dem in Art. 174 Abs. 2 Satz 2 EGV ebenfalls genannten Vorbeugeprinzip. Sofern beide Prinzipien nicht als inhaltsgleich angesehen werden34, soll 27 Vgl. Grundsatz 15 der Rio-Deklaration von 1992; Nachweise von Ausprägungen dieses Prinzips in völkerrechtlichen Verträgen bei Epiney / Scheyli, Strukturprinzipien des Umweltvölkerrechts, 1998, S. 105 f. 28 EGV Art. 174 Abs. 2 Satz 2. 29 Rechtsprechung zum Vorsorgeprinzip im Gemeinschaftsrecht: EuGH Rs. C-157 / 96, Slg. 1998, I – 2211 (2259), sowie Rs. C-180 / 96, Slg. 1998, I – 2265 (2298), am Beispiel potentieller Gefahren für die menschliche Gesundheit (BSE); zusammenfassend hierzu H.-W. Rengeling, Bedeutung und Anwendbarkeit des Vorsorgeprinzips im europäischen Umweltrecht, DVBl. 2000, S. 1473 (1475). 30 Vgl. die Mitteilung der Kommission KOM 2000 (1), S. 4 (Nr. 4) und 18, nach der ein Rückgriff auf das Vorsorgeprinzip voraussetzt, dass bei einem Phänomen, Produkt oder Verfahren mit dem Eintritt gefährlicher Folgen gerechnet werden muss und sich das Risiko durch eine wissenschaftliche Bewertung nicht mit hinreichender Sicherheit bestimmen lässt. – Zum wegweisenden Charakter dieser Mitteilung Rengeling (Fn. 29), S. 1473; kritisch im Hinblick auf die Nichtberücksichtigung der ressourcenökonomischen Funktion des Vorsorgeprinzips I. Appel, Europas Sorge um die Vorsorge, NVwZ 2001, 395 (397). 31 Vgl. zum Völkerrecht z. B. Epiney / Scheyli (Fn. 27), S. 89 ff., 103 ff., zusammenfassend 125 f.; D. Freestone, The Precautionary Principle, in: Churchill / Freestone (ed.), International Law and Global Climate Change, 1991, S. 21 ff.; J. Cameron / J. Abouchar, The Precautionary Principle: A Fundamental Principle of Law and Policy for the Protection of the Global Environment, Boston College International & Comparative Law Review XIV (1991), S. 1 (2); zum Europarecht z. B. J. Jahns-Böhm, in: Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar, 2000, Art. 174 EGV Rn. 19; A. Kiss / D. Shelton, Manual of European Environmental Law, Second edition 1997, S. 40. 32 Für die Einbeziehung auch der Ressourcenvorsorge (soweit sie dem Rechtsgüterschutz dient) dagegen z. B. Lübbe-Wolff (Fn. 39), S. 55 f.; Appel (Fn. 30); C. Callies, in: Callies / Ruffert (Hrsg.), Kommentar zu EG-Vertrag und EU-Vertrag, 2. Aufl. 2002, Art. 174 Rn. 29; Grabitz / Nettesheim, in: Grabitz / Hilf, Das Recht der Europäischen Union, Stand: Aug. 2002, Art. 130r EGV, Rn. 39 f. 33 Vgl. die Zusammenstellung der Quellen bei Epiney / Scheyli (Fn. 27), S. 105 f., und deren Analyse ebd., S. 109 ff.
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sich das Vorbeugeprinzip auf die Gefahrenabwehr, das Vorsorgeprinzip hingegen auf Risiken unterhalb der Gefahrenschwelle beziehen, so dass sich in ihrem Verhältnis die oben beschriebene Abgrenzung von Schutzprinzip und Vorsorgeprinzip widerspiegelt35. In Deutschland hat ein erheblicher Teil der Literatur das Vorsorgeprinzip von vornherein nicht auf die Risikovorsorge beschränkt, sondern es zugleich im Sinne einer Ressourcenvorsorge interpretiert36. Dabei lassen sich im Hinblick auf den Zweck der Vorsorge zwei Varianten unterscheiden: die Freiräume für künftige Nutzungen schaffende Vorsorge und die dem Rechtsgüterschutz dienende Vorsorge. aa) Ressourcenvorsorge als Umweltnutzungsvorsorge Wegweisend für das Verständnis von Vorsorge als Umweltnutzungsvorsorge ist die von Feldhaus für das Immissionsschutzrecht entwickelte „Freiraumthese“ gewesen37. Danach dient die Vorsorge auch dazu, Umweltbeeinträchtigungen über das vom Schutzprinzip gebotene Maß hinaus so weit wie möglich zu reduzieren, um Freiräume für andere künftige Umweltnutzungen zu schaffen38. Dabei ist vor allem an andere umweltbeeinträchtigende Nutzungen gedacht, also insbesondere an weitere Industrieansiedlung. In Betracht kommen aber auch beispielsweise Erholungszwecke. Insoweit hat das Vorsorgeprinzip eine Planungs- und Verteilungsfunktion: Es ermöglicht eine langfristige, vorsorgende Raumplanung im Hinblick auf Umweltnutzungen sowie eine gerechte Verteilung von Umweltnutzungsbefugnissen. Man kann sich fragen, warum die Schaffung von Freiräumen für umweltbelastende Nutzungen ein Prinzip des Umweltschutzes und des Umweltrechts sein soll34 So aber z. B. Grabitz / Nettesheim (Fn. 32), Rn. 37 f.: Dem Gemeinschaftsrecht sei die Unterscheidung zwischen Gefahrenabwehr und Risikovorsorge fremd; deshalb seien Vorbeuge- und Vorsorgeprinzip synonym zu verwenden und schlössen das Schutzprinzip mit ein; im Erg. ebenso J. Jahns-Böhm (Fn. 31), Rn. 18. – Zweifelhaft ist, ob sich diese Auffassung nach der Änderung infolge des Amsterdamer Vertrags, durch die dem Vorbeuge- das Vorsorgeprinzip explizit zur Seite gestellt wurde, noch halten lässt. – Ähnlich zum Konzeptionsunterschied zwischen nationalem und Gemeinschaftsrecht Rengeling (Fn. 29), S. 1477, 1479: Das Verständnis des Vorsorgeprinzips im primären Gemeinschaftsrecht weiche von jenem im deutschen Recht insofern ab, als die Vorsorge dort auf Situationen der Ungewissheit bezogen werde, hier jedoch die Unterscheidung zwischen Gefahrenabwehr und gefahrenunabhängiger Vorsorge geläufig sei, wie sie sich in § 5 I Nr. 1 und 2 BImSchG ablesen lasse. 35 Callies (Fn. 32), Art. 174 Rn. 28. 36 Bender / Sparwasser / Engel, Umweltrecht, 4. Auflage 2000, Kap. 1 Rn. 81, 85; C. Callies, Vorsorgeprinzip und Beweislastverteilung im Verwaltungsrecht, DVBl. 2001, S. 1725 (1727); Hoppe / Beckmann / Kauch, Umweltrecht, 2. Auflage 2000, § 1 Rn. 127; Rehbinder (Fn. 4), Rn. 30 f., 33 („multifunktionales Gebot“). Zur Unterscheidung nach Systemvarianten (planerisch – klassisch-gesetzlich) Breuer (Fn. 20), Rn. 8 f. 37 G. Feldhaus, Der Vorsorgegrundsatz des Bundes-Immissionsschutzgesetzes, DVBl. 1980, S. 133 ff., insb. 135. 38 Vgl. auch § 5 I, II 2 UGB-KomE.
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te, handelt es sich doch nicht um einen Zweck, der dem Umweltschutz dient, jedenfalls nicht unmittelbar. Mittelbar kommt dieser Zweck dem Umweltschutz sicherlich zugute, weil er bei ökonomischer Expansion den faktischen Druck vermindert, Umweltschutzvorschriften zu brechen bzw. gesetzlich abzumildern. Unmittelbar aber dient er nicht dem Umweltschutz, sondern der Verteilung von Umweltnutzungsbefugnissen. Eine dem Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) genügende Regelung dieser Verteilung ist von Verfassungs wegen geboten. Sie ist auch ein Gebot rationaler Ressourcenbewirtschaftung und ökonomischer Vernunft. Wäre die Freiraumfunktion nicht Bestandteil des Vorsorgeprinzips, dann wäre sie dennoch ein notwendiges Leitprinzip des Umweltrechts. Man hätte sie vielleicht als eigenständiges Prinzip formuliert, wenn das geltende Immissionsschutzrecht nicht die Emissionsminimierung nach dem Stand der Technik als Ausprägung des Vorsorgegebots (BImSchG § 5 Abs. 1 Nr. 2) formuliert und damit auch der Freiraumthese dort ihren interpretativen Ort gegeben hätte. bb) Ressourcenvorsorge als Mittel der Gefahrenabwehr und Risikovorsorge Ein Abstand zu den kritischen Belastungsgrenzen muss auch unter einem zweiten Aspekt eingehalten werden: Wie schon dargelegt, ist es nicht möglich, mit den Mitteln der Gefahrenabwehr sicherzustellen, dass ein Umweltgut (z. B. die Luft in einer bestimmten Region) nicht durch Summierung vieler für sich genommen ungefährlicher Immissionsbeiträge in einen Zustand gerät, in dem es eine Gefahr für Rechtsgüter bildet. Vor allem die Risiken, die von der im Zeitverlauf erfolgenden Akkumulation von Schadstoffen drohen, können mit dem Instrumentarium der Gefahrenabwehr nicht bekämpft werden. Sie erfordern, wie Lübbe-Wolff zutreffend formuliert hat, ein vorausschauendes Umsteuern, das darauf zielt, die Anreicherungstendenz zu arretieren, bevor die Entwicklung an einem Punkt angelangt ist, an dem man nur noch die Wahl zwischen ökologischem und ökonomischem Kollaps hat39. Ein solches Umsteuern ist nur möglich, wenn ein hinreichender Sicherheitsabstand zu den kritischen Belastungsgrenzen eingehalten wird, welcher der Politik die Möglichkeit gibt, Anpassungsprozesse – die nicht von heute auf morgen wirksam werden können – einzuleiten und so zu verhindern, dass die Grenze des ökologisch Verträglichen nicht überschritten wird. Unter diesem Aspekt ist Vorsorge zunächst Gefahrenabwehr mit anderen Mitteln40. Sie ist es aber keineswegs ausschließlich. Es geht ja um Sicherheitsabstände 39 G. Lübbe-Wolff, Präventiver Umweltschutz – Auftrag und Grenzen des Vorsorgeprinzips im deutschen und europäischen Recht, in: Bizer / Koch (Hg.), Sicherheit, Vielfalt, Solidarität, 1998, S. 47 (58). 40 Vgl. Lübbe-Wolff (Fn. 39), S. 51 ff. m. w. N. – Die Autorin vertritt die These, Vorsorge ziele auf Gefahrenabwehr mit anderen Mitteln, allerdings für das Vorsorgeprinzip insgesamt. Sollte damit gemeint sein, dass es bei Gefahrenabwehr und Risikovorsorge gleichermaßen um effektiven Rechtsgüterschutz geht und dass sie sich insofern nur in den Mitteln unter-
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zur kritischen Belastungsgrenze. Diese kann – etwa als Immissionsgrenzwert – zwar in Konkretisierung der „Gefahrenschwelle“ festgelegt worden sein, sie kann jedoch auch unter Berücksichtigung von Gesichtspunkten der Risikovorsorge definiert worden sein. Ressourcenvorsorge zur Herstellung von Sicherheitsabständen zu kritischen Belastungsgrenzen steht nicht isoliert neben der Risikovorsorge, sondern muss dort, wo Risikovorsorge zur Anwendung kommt, mit ihr kombiniert werden. Sie ist in der Tat ein Mittel, nicht ein selbständiges Ziel: Ein Mittel zur Erreichung von Zielen, die Gefahrenabwehrziele, aber auch Risikovorsorgeziele sein können und die z. B. konkretisiert werden durch Immissionsgrenzwerte, welche Gefahrenabwehrstandards oder Vorsorgestandards sein können. Wie groß der Sicherheitsabstand zur jeweiligen kritischen Belastungsgrenze sein muss, lässt sich nicht abstrakt sagen, sondern hängt von den konkreten Umständen der Belastungssituation und den Möglichkeiten politischer Steuerung der Belastungsfaktoren ab. Bei der Bestimmung des Sicherheitsabstands ist zu berücksichtigen, dass es in der Regel nicht nur im Hinblick auf die stoffbezogenen UrsacheWirkungs-Beziehungen Ungewissheit zu bewältigen gibt, sondern auch im Hinblick darauf, ob Maßnahmen der Emissionsbegrenzung und andere Maßnahmen, die der Einhaltung des Sicherheitsabstands dienen, in ausreichendem Maße greifen. Eine Umweltpolitik, die der Einhaltung der Belastungsgrenzen und der ihnen vorgelagerten Sicherheitsabstände dient, ist daher auch Risikomanagement. Deshalb ist es eine naheliegende Vorsorgepolitik, einen Sicherheitsabstand festzulegen, der auf der Basis der vorhandenen Erkenntnisse ausreicht, Summations- und Akkumulationsprobleme dauerhaft zu bewältigen, zusätzlich aber nach Maßgabe des ökonomisch und technisch Machbaren eine weitergehende Reduzierung der Risiken anzustreben.
3. Das Nachhaltigkeitsprinzip Das Nachhaltigkeitsprinzip ist ein Umweltnutzungsprinzip. Sein Zweck besteht in der langfristigen, generationenübergreifenden Erhaltung der Existenz und der Nutzbarkeit der natürlichen Ressourcen. Die Existenz der Umweltgüter soll gerade um der dauerhaften Nutzbarkeit für den Menschen gesichert werden. Das Nachhaltigkeitsprinzip reagiert auf die Erkenntnis, dass der Mensch einerseits auf Nutzung der Umweltgüter angewiesen ist, andererseits durch Umweltnutzung diese Güter so schädigen kann, dass sie später nicht mehr nutzbar sind. Es geht also darum, die scheiden, wäre das richtig. Wenn man als anzustrebendes Ziel die Integrität der Rechtsgüter festlegt, sind die unterschiedlichen Sicherheitsstandards der Gefahrenabwehr und der Risikovorsorge nur Mittel zur Erreichung dieses Ziels. Diese Betrachtungsweise ist aber eher irreführend. Risikovorsorge dient dazu, ein im Vergleich zur Gefahrenabwehr anspruchsvolleres Sicherheitsniveau zu schaffen. Dies lässt sich besser als Zielkonkretisierung denn als Einsatz besonderer Mittel verstehen; von Mitteln sollte man reden, wenn es um Maßnahmen geht, mit Hilfe derer ein bestimmtes Sicherheitsniveau erreicht werden soll. – Im übrigen ist Vorsorge, wie im Text gezeigt, nicht ausschließlich rechtsgutbezogene Risikovorsorge.
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Nutzung der natürlichen Ressourcen so zu begrenzen, dass ihre dauerhafte Nutzbarkeit erhalten bleibt41. Man kann das Nachhaltigkeitsprinzip daher auch als Ressourcenbewirtschaftungsprinzip charakterisieren. Unter der Perspektive des Nachhaltigkeitsprinzips erscheint die Umweltproblematik als eine Problematik der Nutzung knapper Güter. Das Nachhaltigkeitsprinzip verlangt, die Knappheit dieser Güter anhand ökologischer Kriterien zu konkretisieren und die Nutzungsbefugnisse entsprechend zu beschränken. Dies impliziert, dass Verteilungsregeln für die Nutzungsbefugnisse geschaffen werden. Das Nachhaltigkeitsziel lässt sich in einige allgemeine Unterziele bzw. Handlungsgrundsätze aufgliedern, die auch als „Managementregeln“ bezeichnet werden42: 1. Die Abbaurate erneuerbarer Ressourcen soll auf Dauer die natürliche Wachstums- bzw. Regenerationsrate nicht überschreiten. 2. Der Eintrag von Stoffen und die Freisetzung von Energie in die Umwelt sollen auf Dauer die natürliche Aufnahme- bzw. Anpassungskapazität der Umwelt nicht überschreiten. 3. Nicht erneuerbare Ressourcen sollen nur in dem Maße verbraucht werden dürfen, in dem funktionsgleiche Substitute verfügbar sind bzw. geschaffen werden (können) (Substitutionsgrundsatz) und / oder / zumindest: Mit nicht erneuerbaren Ressourcen soll sparsam umgegangen werden (Sparsamkeitsgrundsatz / Grundsatz der Verbrauchsminimierung).43
41 Vgl. D. Murswiek, „Nachhaltigkeit“ – Probleme der rechtlichen Umsetzung eines umweltpolitischen Leitbildes, NuR 2002, S. 641. 42 Vgl. Die Industriegesellschaft gestalten. Abschlußbericht der Enquete-Kommission „Schutz des Menschen und der Umwelt“ des 12. Deutschen Bundestages, 1994, Rn. 31 f. – Die dort formulierten Managementregeln finden sich – mit Abwandlungen insb. hinsichtlich des Substitutionserfordernisses für nicht erneuerbare Ressourcen – in vielen späteren Berichten und Abhandlungen, vgl. z. B. Konzept Nachhaltigkeit. Vom Leitbild zur Umsetzung. Abschlußbericht der Enquete-Kommission „Schutz des Menschen und der Umwelt – Ziele und Rahmenbedingungen einer nachhaltig zukunftsverträglichen Entwicklung“ des 13. Deutschen Bundestages, 1988, 2.2.2. 43 Als vierte Managementregel hat die Enquete-Kommission (1994, Fn. 42) die folgende formuliert: Das Zeitmaß anthropogener Einträge bzw. Eingriffe in die Umwelt soll in einem ausgewogenen Verhältnis zum Zeitmaß der für das Reaktionsvermögen der Umwelt relevanten natürlichen Prozesse stehen. Das ist aber m.E. keine selbständige Regel; sie betont nur einen Aspekt, der in den Regeln Nr. 1. und 2. schon enthalten ist. – Eine fünfte, risikobezogene Managementregel, wie sie vom Sachverständigenrat für Umweltfragen (Umweltgutachten 1994, BT-Drs. 12 / 6995, S. 83) vorgeschlagen worden ist, lautet: Gefahren und unvertretbare Risiken für die menschliche Gesundheit und die Umwelt durch anthropogene Einwirkungen sind zu vermeiden. Diese Regel passt aber systematisch nicht zur Konkretisierung des Nachhaltigkeitsziels, sondern gehört auf die Ebene Art und Weise der Zielverwirklichung. Sie kann auf alle vier zuerst genannten Regeln bezogen werden.
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Im Hinblick auf den ersten und den zweiten Grundsatz verlangt die Umsetzung des Nachhaltigkeitsprinzips idealtypisch, zunächst die Grenzen der Belastbarkeit der Ressourcen zu bestimmen. Die Nachhaltigkeitsziele werden konkretisiert, indem für bestimmte Umweltgüter Belastungsgrenzen bestimmt werden, aus denen der Umfang der Nutzbarkeit abgeleitet wird. Die Bestimmung des Nutzungsumfangs – im Hinblick auf die Nutzung von Umweltgütern als Schadstoffdeponien also die Bestimmung des Belastungsvolumens – ist ein für die konkrete Umsetzung des Nachhaltigkeitsprinzips besonders wichtiger Schritt. Wenn in bezug auf ein bestimmtes – globales oder regionales – Umweltgut das maximal hinnehmbare Belastungsvolumen, beispielsweise für das globale Klima ausgedrückt in Tonnen CO2-Emissionen oder CO2-Äquivalente, feststeht, können die Nutzungsbefugnisse entsprechend begrenzt und verteilt werden. Aus dem Nachhaltigkeitsprinzip ergeben sich keine unmittelbaren Verhaltensregeln. Diese müssen vielmehr vom Gesetzgeber in Umsetzung des Prinzips auf der Basis von Kriterien erlassen werden, die sich nicht allein auf den Nachhaltigkeitsgedanken gründen lassen. Das Nachhaltigkeitsprinzip gibt mit dem Nutzungsbzw. Belastungsvolumen die Grenze der zulässigen Gesamtnutzungen bzw. der Gesamtmenge der Belastungen die Umweltgüter an. Was daraus für die Verhaltenspflichten der Individuen folgt, insbesondere für die Begrenzung der Umweltnutzungsrechte der Wirtschaftssubjekte, steht im Gestaltungsermessen der Umweltund Wirtschaftspolitik. Das Nachhaltigkeitsprinzip ist insofern ein Minimalprinzip: Es schützt die Umwelt, indem es ihre Nutzung begrenzt, aber es begrenzt die Nutzung im Ansatz nur bis zu den ökologischen Grenzen der Belastbarkeit. Das bedeutet allerdings nicht, dass das Nachhaltigkeitsprinzip Umweltbeeinträchtigungen bis zu den äußersten Grenzen der Belastbarkeit auch rechtlich zulässt. Unter drei Aspekten ermöglicht bzw. erzwingt das Nachhaltigkeitsprinzip einen über das dem heutigen Erkenntnisstand entsprechende ökologische Minimum hinausgehenden Umweltschutz: Erstens findet innerhalb der genannten Grenzen staatliche Ressourcenbewirtschaftung nach politischen Gesichtspunkten sowie auch nach – durch andere Zwecke bestimmten – rechtlichen Gesichtspunkten statt. Dazu gehört die Verteilungspolitik, die z. B. die internationale Verteilung von Umweltnutzungsbefugnissen zu berücksichtigen hat und die nicht zuletzt Verteilungsgerechtigkeit verwirklichen muss. Gerade indem das Nachhaltigkeitsprinzip die Grenzen des Belastungsvolumens ins Bewusstsein ruft, schafft es die Voraussetzungen für eine Politik, welche Freiräume für künftiges Wirtschaftswachstum, für zusätzliche mit Umweltbelastungen verbundene ökonomische Aktivitäten offenhält, also einen ausreichenden Abstand zur Grenze der Belastbarkeit wahrt, in welchem sich zusätzliche Nutzungen entfalten können. Je größer dieser Abstand bleibt, desto mehr Möglichkeiten hat die Wirtschaftspolitik, desto mehr Möglichkeiten hat die freie Entfaltung der privaten Wirtschaftssubjekte, und desto größer sind die Chancen, die Umweltnutzungsbefugnisse nach gerechten Kriterien zwischen den Wirtschaftssubjekten zu verteilen.
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Auch bietet das Nachhaltigkeitsprinzip als Minimalprinzip dem Gesetzgeber die Möglichkeit, Belastungsfreiräume z. B. für künftige Wohnsiedlungen, Naturschutzgebiete oder Erholungsräume zu planen. In jeder Hinsicht kann er die Umwelt weitergehend schützen als das Minimalprinzip es gebietet. Die Wahrnehmung solcher Möglichkeiten der Politik, einen Abstand zur Belastungsgrenze zu wahren, ist in gewissem Umfang durch das Nachhaltigkeitsprinzip sogar geboten. Denn die Erfahrung zeigt, dass die ökonomischen und ökologischen Verhältnisse nicht statisch sind. Das Nachhaltigkeitsprinzip gebietet die sehr langfristige Sicherung der Nutzungsfähigkeit der Umweltgüter, d. h. auch der Einhaltung der Belastungsgrenzen. Daraus folgt zwingend, dass man heute nicht mit ökonomischen Aktivitäten an die Belastungsgrenzen herangehen darf, wenn schon erkennbar ist, dass es künftig zu zusätzlichen Belastungen kommen wird, die sich nicht vermeiden lassen, oder die man nicht vermeiden will, weil man die Aktivitäten als solche wünscht. Darüber hinaus darf man den Zusammenhang mit dem Prinzip der „nachhaltigen Entwicklung“ nicht übersehen. Isoliert betrachtet, dient das Nachhaltigkeitsprinzip zwar allein der Sicherung der nachhaltigen Nutzbarkeit der natürlichen Ressourcen. Das Prinzip der „nachhaltigen Entwicklung“ betont jedoch das Bestreben, auch ökonomische Entwicklung sicherzustellen. Da diese immer nur im Rahmen der Belastungsgrenzen stattfinden darf, die vom Nachhaltigkeitsprinzip vorgegeben werden, lässt sich dynamische wirtschaftliche Entwicklung nur dadurch ermöglichen, dass genügende Abstände zu den kritischen Belastungsgrenzen – Belastungs-“Freiräume“ – eingehalten werden, innerhalb deren sich ökonomische Expansion entfalten kann. Je stärker die beabsichtigte Expansion und je größer die damit verbundene Umweltinanspruchnahme, desto größer müssen die betreffenden Freiräume sein, da die Expansion bei den durch das Nachhaltigkeitsprinzip markierten Grenzen an ihr Ende kommen muss. Eine Politik, die nicht allein die natürlichen Lebensgrundlagen erhalten, sondern darüber hinaus eine dynamische „nachhaltige Entwicklung“ ermöglichen will, kann nicht nur, sondern muss zwingend dafür sorgen, dass die erforderlichen Freiräume erhalten bleiben. Der zweite Gesichtspunkt, unter dem das Nachhaltigkeitsprinzip einen Umweltschutz notwendig macht, der über die mit den Belastungsgrenzen beschriebenen Minimalstandard hinausgeht, ergibt sich aus der Notwendigkeit, Umweltpolitik auf der Basis unzureichender Kenntnisse zu gestalten. Die Sicherung der langfristigen Nutzbarkeit der Umwelt setzt immer Prognosen voraus, die unvermeidlich mit Unsicherheit behaftet sind. Außerdem gibt es auch in bezug auf die Beurteilung der heutigen Situation Erkenntnisunsicherheit, insbesondere hinsichtlich der Schädlichkeit und Wirkungsweise von umweltbelastenden Stoffen. Dieser Unsicherheit muss durch Sicherheitsabstände zu den kritischen Belastungsgrenzen Rechnung getragen werden44. Anders ist eine effektive Sicherung nachhaltiger Umweltnut44
Vgl. etwa Rehbinder (Fn. 11), S. 742.
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zung gar nicht möglich. Das bedeutet: Das Nachhaltigkeitsprinzip gebietet nicht nur die Beachtung der dem heutigen Erkenntnisstand entsprechenden Belastungsgrenzen. Vielmehr muss die rechtliche Grenze der Belastbarkeit, aus der sich das zulässige Belastungs- und Nutzungsvolumen ergibt, von vornherein unter Einbeziehung der Prognoseunsicherheit und allgemein der Erkenntnisunsicherheit bestimmt werden. Mit anderen Worten: Der Minimalstandard, den das Nachhaltigkeitsprinzip postuliert, ist genau besehen nicht der Standard, der sich aus den Belastungsgrenzen ergibt, welche auf der Basis der heutigen Erkenntnislage und der heutigen Umweltsituation mit annähernder Gewissheit bestimmt werden können. Vielmehr handelt es sich um den – anspruchsvolleren – Standard, der sich aus den Belastungsgrenzen ergibt, welche unter Berücksichtigung der Erkenntnisunsicherheiten einen hinreichenden Abstand zu den vorgenannten Grenzen sicherstellen, welche nach heutiger Kenntnis zur Vermeidung von Schäden und zur dauerhaften Aufrechterhaltung der Nutzbarkeit der Umweltgüter eingehalten werden müssen45. Insofern lässt sich eine Parallele zum Schutzprinzip ziehen: Dieses schützt nicht nur vor mit annähernder Gewissheit eintretenden Schäden, sondern auch vor mit hinreichender Wahrscheinlichkeit eintretenden Schäden, vor Gefahren. Das Schutzprinzip dient in erster Linie der Prävention, nicht lediglich der Schadensreparatur. Prävention ist aber immer Handeln unter Ungewissheitsbedingungen. Effektive Prävention ist daher Schutz zumindest auch gegen Gefahren. Für die Sicherung der generationenübergreifend dauerhaften Nutzbarkeit der Umweltgüter lässt sich entsprechendes sagen. Es handelt sich um eine zukunftsgerichtete, präventive Aufgabe. Ihre effektive Wahrnehmung verlangt die Verarbeitung von Ungewissheit. Sie muss mit Risiken kalkulieren und wäre von vornherein zum Scheitern verurteilt, würde sie nur solche Umstände berücksichtigen, die mit annähernder Gewissheit bekannt sind. Deshalb könnte man sagen, auch das Nachhaltigkeitsprinzip verlangt nicht lediglich die Vermeidung mit – annähernder – Gewissheit eintretender Schäden, sondern die Vermeidung hinreichend wahrscheinlicher Schäden, also von Gefahren. Der Unterschied zum Schutzprinzip wäre, dass sich die Gefahren auf die Umweltgüter und auf ihre Nutzbarkeit beziehen, während sie sich beim Schutzprinzip auf individuelle und gemeinschaftliche Rechtsgüter beziehen. Dennoch wäre es problematisch, das Nachhaltigkeitsziel als ein Gefahrenabwehrziel zu bezeichnen. Denn der Begriff der Gefahr passt hier nicht recht. Es handelt sich um einen Rechtsbegriff, der in bezug auf konkrete Ursache-WirkungsBeziehungen konkretisiert und – auch gerichtlich – kontrolliert werden kann. Er ist auf den Schutz individueller Rechtsgüter zugeschnitten, eignet sich aber wenig zur Bewertung von langfristigen Risiken für großräumige oder gar globale Ressourcen. Die hier bestehenden Prognose- und sonstigen Erkenntnisunsicherheiten sind regelmäßig derart groß, dass eine gefahrenabwehrrechtliche Konkretisierung von 45
Vgl. Appel (Fn. 12), § 9 B.II.2.
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Verhaltenspflichten in der Tradition des deutschen Polizeirechts hier nicht möglich ist. Zwar mag es auch in bezug auf globale Umweltgüter klar erkennbare Gefahren geben. In der Regel haben wir es jedoch mit Umweltproblemen zu tun, über die wir zu wenig wissen, um beurteilen zu können, ob die Wahrscheinlichkeit – bezogen auf den möglichen Schaden – hinreichend groß ist, um eine Grenze zu bestimmen, die keinesfalls überschritten werden darf. Gerade weil wir das nicht hinreichend sicher wissen können und sogar mit der Möglichkeit rechnen müssen, dass die Risiken viel größer sind als wir annehmen, müssen wir handeln. Anders ist die effektive Sicherung der dauerhaften Nutzbarkeit der Umweltgüter als Lebensgrundlagen den Menschen nicht möglich. Außerdem lassen sich die einzelnen Umweltnutzungen, bezogen auf ein globales oder auch nur regionales Umweltgut, in der Regel nicht als „Gefahren“ qualifizieren. Dennoch müssen sie in das Verteilungsregime einbezogen werden, weil nur so sich die Einhaltung des Mindeststandards im oben beschriebenen Sinne sicherstellen lässt. Das Nachhaltigkeitsprinzip, so können wir resümieren, verlangt bei der Konkretisierung der Umweltnutzungs- und -belastungsgrenzen die Berücksichtigung der Erkenntnisunsicherheiten und d. h. einen ausreichenden Sicherheitsabstand zu dem, was wir heute als kritische Belastungsgrenzen erkennen können. Hinzu kommt drittens die zeitliche Dimension der Nachhaltigkeit: Die Umweltverträglichkeit von Umweltnutzungen ist nicht nur in bezug auf die heutige Lage, sondern auch langfristig-generationenübergreifend sicherzustellen. Überall, wo es zur Akkumulation von Schadstoffen kommt, muss ein Abstand zur kritischen Belastungsgrenze, zur „ökologischen Tragekapazität“ eingehalten werden, der groß genug ist, auch im Zeitverlauf eine Überschreitung dieser Grenze zu vermeiden46.
4. Zuordnung und Abgrenzung der Prinzipien a) Schadensvermeidung und Nachhaltigkeit aa) Unterschiedliche Schutzgüter Der Unterschied zwischen Schutzprinzip (Schadensvermeidungs- und Gefahrenabwehrprinzip) und Nachhaltigkeitsprinzip ist im Ansatz ein Unterschied der jeweils primären Schutzgüter. Das Schutzprinzip dient dem Schutz der individuellen Rechtsgüter sowie dem Schutz konkreter kollektiver Rechtsgüter, z. B. öffentlichen Eigentums oder individueller Umweltgüter, etwa dem Schutz von Tieren, Pflanzen oder von Ökosystemen. „Umweltmedien“ (Luft, Wasser, Boden) und überlokale, insbesondere globale, öffentliche Umweltgüter (z. B. Atmosphäre, Weltmeere, Regenwälder [im Unterschied zu einem konkreten Wald], Vorhandensein ausreichender Lebensräume für wildlebende Arten [im Unterschied zu einem 46
Vgl. Lübbe-Wolff (Fn. 39), S. 59.
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konkreten Lebensraum], die Artenvielfalt / genetische Vielfalt) werden durch das Schutzprinzip nicht als solche geschützt, sondern „nur“ als Mittel zur Schutz der konkreten Schutzgüter. Demgegenüber sind primäre Schutzgüter des Nachhaltigkeitsprinzips die öffentlichen Umweltgüter einschließlich der „Umweltmedien“ und der globalen Ressourcen. Diese werden als solche geschützt, allerdings nicht um ihrer selbst willen, sondern um sie als Lebensgrundlagen des Menschen zu sichern. Indirekt dient ihr Schutz also ebenfalls dem Schutz individueller Rechtsgüter. Plakativ lässt sich daher formulieren: Das Schutzprinzip dient dem Rechtsgüterschutz, vornehmlich dem Schutz individueller Rechtsgüter – das Nachhaltigkeitsprinzip dient dem Ressourcenschutz. Dem lässt sich nicht entgegenhalten, dass gesetzliche Schutzgebote, wie etwa § 5 I Nr. 1 BImSchG, nicht ausschließlich dem Rechtsgüterschutz dienen, sondern auch dem Ressourcenschutz. Soweit dies der Fall ist, konkretisiert ein solches gesetzliches Gebot nicht ausschließlich das Schutzprinzip, sondern dient zugleich der Umsetzung des Nachhaltigkeitsprinzips. Dennoch scheint eine randscharfe Abgrenzung beider Prinzipien anhand des genannten Kriteriums nicht möglich. Es kann sich insoweit nur um eine typologische Unterscheidung handeln. Denn das Schutzprinzip beschränkt sich ja nicht auf den Schutz individueller Rechtsgüter, und öffentliche Umweltgüter, also Umweltressourcen, können gesetzlich den Charakter von Rechtsgütern erhalten. Ein zusätzlicher Unterschied besteht darin, dass das Schutzprinzip nur konkrete Ursache-Wirkungs-Beziehungen zum Gegenstand hat. Seine Schutzgüter werden gegen bestimmte Umweltbeeinträchtigungen, also gegen individualisierbare Verursacher bzw. Gefahrenquellen geschützt. Es verarbeitet Summationswirkungen, Synergismen usw. nur insoweit, als diese zusammen mit einer individuellen Emissionsquelle, einem konkreten Verursacher, Schäden herbeiführen. Demgegenüber bezieht sich das Nachhaltigkeitsprinzip allein auf die Integrität der Umweltgüter und nicht auf konkrete Ursache-Wirkungs-Beziehungen. Es erfasst damit auch die Vermeidung von Schäden, die nicht durch konkrete Verursacher bzw. bestimmte Emissionsquellen verursacht oder mitverursacht werden. Es geht darum, die Umweltgüter auch im Hinblick auf für sich genommen unschädliche, sich aber, auch über die Zeit hinweg, summierende Belastungen in ihrer Integrität zu bewahren. bb) Lebensschutz und Lebensvoraussetzungsschutz Schutzprinzip und Nachhaltigkeitsprinzip überschneiden sich teilweise, soweit es um den Schutz individueller Rechtsgüter geht. Insoweit handelt es sich um unterschiedliche Konzepte, die von unterschiedlichen Ansätzen her zu teilweise deckungsgleichen Postulaten kommen. Die Vermeidung von Schäden, die individuellen Rechtsgütern durch Umweltbeeinträchtigungen drohen, dient regelmäßig zugleich der nachhaltigen Sicherung der Ressourcen und ist notwendiger Bestandteil einer auf ökologische Nachhaltigkeit gerichteten Politik.
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Das Nachhaltigkeitskonzept geht aber über den Schutz der Integrität individueller Rechtsgüter hinaus. Sein Ziel ist die Erhaltung der Umweltgüter als Lebensvoraussetzungen des Menschen. Das ist etwas anderes als Abwehr von Beeinträchtigungen. Das Schutzpflicht hat die Abwehr von Gesundheitsgefahren zum Gegenstand, die z. B. durch Luftschadstoffe drohen oder durch kontaminierte Nahrungsmittel, nicht hingegen die Erhaltung der Wälder als Sauerstoffspender, die Erhaltung der Fischbestände als Nahrungsquellen, die Erhaltung der Bodenfruchtbarkeit als Grundlage der Landwirtschaft, die Erhaltung der Artenvielfalt usw.. Auf diese Ziele bezieht sich hingegen das Nachhaltigkeitsprinzip. Das Nachhaltigkeitsprinzip ist die konzeptionelle Antwort auf die Erkenntnis der Angewiesenheit des menschlichen Lebens auf die – früher selbstverständlich vorhanden gewesene, heute prekär gewordene – Existenz natürlicher Umweltgüter, vor allem als Nahrungsquelle, aber auch als Rohstoffe für die Produktion oder als Schutzschirm gegen natürliche Gesundheitsgefahren (Ozonschicht im Hinblick auf UV-Strahlung). Idealtypisch kann man daher sagen: Das Schutzprinzip schützt die individuellen menschlichen Rechtsgüter, vor allem Leben und Gesundheit, vor Beeinträchtigungen. Das Nachhaltigkeitsprinzip schützt die natürlichen Voraussetzungen von Leben und Gesundheit und schützt daher die natürlichen Ressourcen als eigenständige Schutzgüter.47 Deshalb ist auch der schonende Umgang mit nichterneuerbaren Ressourcen, etwa Bodenschätzen, vom Nachhaltigkeitsprinzip umfasst, während dies vom Schutzprinzip überhaupt nicht thematisiert wird. Hinzu kommt, dass das Nachhaltigkeitsprinzip, indem es das maximale Volumen der Umweltbelastung markiert, den Rahmen für eine rationale, zukunftsbezogene Bewirtschaftung der Ressourcen herstellt und zugleich Direktiven für die Art und Weise dieser Bewirtschaftung liefert. Auch insoweit geht sein Gehalt weit über das Schutzprinzip hinaus. cc) Schutzperspektive und Nachhaltigkeitsperspektive Soweit das Nachhaltigkeitsprinzip dem Rechtsgüterschutz dient und sich mit dem Schutzprinzip überschneidet, gibt es einen wichtigen Unterschied in der Perspektive, aus der das jeweilige Prinzip das Problem beleuchtet: Während die Fragestellung des Schutzprinzips lautet: Was muss getan werden, um Schäden an Schutzgütern zu vermeiden?, lautet die Fragestellung des Nachhaltigkeitsprinzips: Wie muss die Umweltnutzung begrenzt werden, damit die dauerhafte Nutzbarkeit der Umwelt – als Lebensgrundlage des Menschen – erhalten bleibt? Damit ist selbstverständlich eine Nutzbarkeit gemeint, die mit den Bedingungen der menschlichen Gesundheit vereinbar ist. Die Güter, um die es geht, sind aber im Ausgangspunkt nur ökologisch knapp. Rein faktisch ist die Belastbarkeit von Luft 47 Zu dieser Unterscheidung bereits ausführlich D. Murswiek, Umweltschutz als Staatszweck, 1995, S. 40 ff.
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oder Wasser mit Schadstoffen praktisch unbegrenzt. Anders als bei der Ressourcennutzung im Sinne der Entnahme von Naturgütern (Holzeinschlag, Fischfang usw.) lässt sich die Grenze der nachhaltigen Nutzbarkeit bei der Ressourcennutzung im Sinne der Belastung mit Schadstoffen von vornherein nur unter dem Aspekt der menschlichen Gesundheit (und anderer durch die Schadstoffe gefährdeter Rechtsgüter) bestimmen. Insoweit also sind Schutzprinzip und Nachhaltigkeitsprinzip nur zwei verschiedene Perspektiven auf dasselbe Anliegen. Denn Erhaltung der Nutzbarkeit der Umwelt führt zugleich zur Wahrung der Integrität von Schutzgütern, während umgekehrt der effektive Schutz von Leben, Gesundheit und Eigentum der Menschen sowie der Tier- und Pflanzenwelt gegen Umweltbelastungen sich zugleich positiv für die nachhaltige Nutzbarkeit der Umwelt auswirkt. Die unterschiedliche Perspektive schärft das Bewusstsein für unterschiedliche Sachprobleme und zugleich für unterschiedliche Möglichkeiten umweltpolitischer Steuerung. Während Umwelt-Schutz zunächst abwehrend verstanden wird und aus dieser Perspektive Umweltbeeinträchtigungen prinzipiell unerwünscht sind, betont das Nachhaltigkeitsprinzip die Notwendigkeit der menschlichen Umweltnutzung, die immer auch mit gewissen Umweltbeeinträchtigungen verbunden ist, und richtet sich daher nicht prinzipiell gegen Umweltnutzungen, sondern auf die Herstellung von Rahmenbedingungen, unter denen Umweltnutzungen auf die Dauer umweltverträglich sind.
b) Schadensvermeidung und Vorsorge Die Unterschiede wurden oben bei der Erläuterung des Vorsorgeprinzips (II.2.) schon dargestellt. Das Schutzprinzip beschränkt sich auf Gefahrenabwehr. Das Vorsorgeprinzip ergänzt dies durch Risikovorsorge unterhalb der Gefahrenschwelle, durch Sicherheitsabstände zu kritischen Belastungsgrenzen und im Verständnis des deutschen Umweltrechts darüber hinaus durch die Schaffung von Freiräumen für anspruchsvolle Umweltnutzungen oder für ökonomische Expansion.
c) Nachhaltigkeit und Vorsorge Vergleicht man das Nachhaltigkeitsprinzip mit dem Vorsorgeprinzip48, so liegt es nahe, die verschiedenen Ausprägungen des Vorsorgeprinzips zu unterscheiden: – Risikovorsorge, – Ressourcenvorsorge als Mittel der Gefahrenabwehr und der Risikovorsorge, – Ressourcenvorsorge als Umweltnutzungsvorsorge.
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Zu diesem Thema z. B. Rehbinder (Fn. 11), S. 740 ff.; Appel (Fn. 12), § 9 B.II.
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aa) Risikovorsorge (1) Risikovorsorge als Rechtsgüterschutz Risikovorsorge als Rechtsgüterschutz ergänzt und verstärkt, wie oben gezeigt (II.2.a), das Schutzprinzip, indem sie Ungewissheiten beim Rechtsgüterschutz verarbeitet, denen im Rahmen der Gefahrenabwehr nicht hinreichend Rechnung getragen werden kann. Insofern ist das Vorsorgeprinzip ein Komplementärprinzip zum Schutzprinzip49. Und in dieser Hinsicht kann das Nachhaltigkeitsprinzip vom Vorsorgeprinzip daher nach denselben Gesichtspunkten unterschieden werden wie vom Schutzprinzip (II.4.a). (2) Risikovorsorge als Ressourcenschutz Risikovorsorge kann und muss aber auch ressourcenbezogen verstanden werden. Ebenso wie der Schutz von (Individual-)Rechtsgütern muss der Schutz der Umweltgüter, der Gegenstand des Nachhaltigkeitsprinzips ist, Ungewissheit verarbeiten, und zwar, wie oben dargelegt (II.3.), wegen der besonderen Komplexität eines gesamthaften ressourcenbezogenen Konzepts in ganz besonderem Maße. Unter dem Aspekt der risikobezogenen Ressourcenvorsorge überschneidet sich das Vorsorgeprinzip mit dem Nachhaltigkeitsprinzip, ohne mit diesem identisch zu sein. Das Nachhaltigkeitsprinzip verlangt, wie oben dargelegt (II.3.), auch risikobezogenen Ressourcenschutz. Vorsorge ist insofern ein notwendiges Mittel zur Erreichung des Nachhaltigkeitsziels. Während jedoch das Nachhaltigkeitsprinzip insoweit nur einen gewissen Sicherheitsabstand zur kritischen Belastungsgrenze verlangt, also einen Minimalschutz, der dem Standard der Gefahrenabwehr im Rahmen des Schutzprinzips vergleichbar ist, ist das Vorsorgeprinzip auf Optimierung der Risikovorsorge angelegt. Dabei bedeutet Optimierung nicht Maximierung, sondern das Anstreben eines unter Berücksichtigung sowohl der auf der Basis der vorhandenen Erkenntnisse gegebenen Risikogröße als auch der ökonomischen Aufwendungen und technischen Möglichkeiten zur Reduktion des Risikos bestmöglichen Sicherheitsniveaus. Dies impliziert regelmäßigen den Einsatz der best available technology, der Verwendung von Emissionsvermeidungs-, -verminderungsund Risikominimierungstechniken nach dem „Stand der Technik“. Das Vorsorgeprinzip als Optimierungsprinzip ist insoweit anspruchsvoller als das Nachhaltigkeitsprinzip, das keinen Optimalstandard, sondern eines Mindeststandard des Ressourcenschutzes formuliert. Dennoch wäre es falsch, das Vorsorgeprinzip generell als das anspruchsvollere Prinzip zu bezeichnen, neben dem das Nachhaltigkeitsprinzip überflüssig sei. Denn der Ansatz des Nachhaltigkeitsprinzips ist ein anderer. Das Nachhaltigkeitsprinzip definiert – zunächst sehr abstrakt und allgemein, aber angelegt auf ressourcenspezifische Konkretisierungen – Umweltschutzziele, die auf jeden Fall eingehalten werden müssen. Diese bilden zwar 49
Ebenso ausdrücklich Rehbinder (Fn. 4), Rn. 17.
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„nur“ einen Mindeststandard. Aber dieser kann – je nach Situation – sogar anspruchsvoller sein als der Optimalstandard des Vorsorgeprinzips. Denn die Optimierung des Vorsorgeprinzips ist immer relativ. Sie ist abhängig von den technischen und wirtschaftlichen Möglichkeiten. Bei wirtschaftlicher Expansion und geringen technischen oder ökonomischen Möglichkeiten der Emissions- und Risikoreduzierung kann das Vorsorgeprinzip unter Umständen nicht vermeiden, dass die kritischen Belastungsgrenzen überschritten werden, die sich einerseits aus dem Schutzprinzip, andererseits aus dem Nachhaltigkeitsprinzip ergeben. Das Verhältnis zwischen Nachhaltigkeitsprinzip und Vorsorgeprinzip kann daher unter dem Aspekt der ressourcenbezogenen Risikovorsorge analog zu dem Verhältnis zwischen Schutzprinzip und Vorsorgeprinzip bestimmt werden: Das Vorsorgeprinzip steht zum Nachhaltigkeitsprinzip nicht in einem Konkurrenz-, sondern in einem Komplementärverhältnis. Es ergänzt das Nachhaltigkeitsprinzip, soweit es über den von diesem Prinzip geforderten Mindeststandard hinaus die ressourcenbezogene Risikovorsorge optimiert, insbesondere indem es den Einsatz der besten verfügbaren Vermeidungs- und Verminderungstechnologien fordert. Weniger deutlich als im Verhältnis von Schutzprinzip und Vorsorgeprinzip lassen sich im Verhältnis von Nachhaltigkeitsprinzip und Vorsorgeprinzip Gefahrenabwehr und Risikovorsorge unterscheiden. Insofern gibt es hier größere Überschneidungsbereiche. bb) Ressourcenvorsorge als Mittel der Gefahrenabwehr und der Risikovorsorge Dem Nachhaltigkeitsprinzip geht es um den Schutz der Umweltgüter. Das Prinzip sagt nichts über die Mittel aus, die zu ihrem Schutz einzusetzen sind. Es wird sich dabei weitgehend um dieselben Mittel handeln, die auch zum – unmittelbaren – Rechtsgüterschutz durch Abwehr von Gefahren und Risiken eingesetzt werden. Wie oben gezeigt (II.2.b)bb), ist Ressourcenvorsorge auch ein Mittel der Gefahrenabwehr und Risikovorsorge, das eingesetzt wird, um die Einhaltung der kritischen Belastungsgrenze gegenüber Summations- und Akkumulationsproblemen sicherzustellen. Diese Funktion der Vorsorge – Freihaltung eines Sicherheitsabstands zu kritischen Belastungsgrenzen – ist auch ein notwendiger Bestandteil des Nachhaltigkeitsprinzips. Denn das Nachhaltigkeitsprinzip verlangt die Formulierung von Umweltqualitätszielen, die – soweit es um die Tragekapazität der Umweltressourcen für Schadstoffe geht – als kritische Belastungsgrenzen gefasst werden können. Die Problematik ist insofern nicht anders, als sie im Zusammenhang mit dem Vorsorgeprinzip dargestellt wurde. Soweit es um die Vermeidung von Gefahren für Umweltgüter geht, ist diese Funktion der Vorsorge ein notwendiges Mittel zur Erreichung der Nachhaltigkeitsziele, soweit es um die Optimierung des Schutzes über das Niveau der Gefahrenabwehr hinaus geht, eine Ergänzung.
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cc) Ressourcenvorsorge als Umweltnutzungsvorsorge Ressourcenvorsorge als Umweltnutzungsvorsorge sichert die Voraussetzungen für eine mittel- und langfristige Planungs- und Verteilungspolitik, ohne diese inhaltlich zu determinieren. Vorsorge schafft insoweit „Freiräume“, Abstände zur kritischen Belastungsgrenze, die nicht dem Schutz vor Risiken dienen, sondern der Verwirklichung von Planungszielen bzw. der Ermöglichung weiteren wirtschaftlichen Wachstums. Inhaltliche Maßstäbe für die gerechte Verteilung von Umweltnutzungsbefugnissen können sich innerstaatlich z. B. aus Art. 3 GG ergeben, völkerrechtlich aus dem Prinzip der souveränen Gleichheit der Staaten, aber vor allem auch aus speziellen völkerrechtlichen Verträgen wie z. B. hinsichtlich der Emission von Treibhausgasen aus dem Kyoto-Protokoll. Wie oben dargelegt (II.3.), werden diese Funktionen des Vorsorgeprinzips auch vom Nachhaltigkeitsprinzip erfüllt, jedenfalls wenn man es dynamisch als Prinzip der nachhaltigen Entwicklung versteht. Ergeben sich aus dem Nachhaltigkeitsprinzip die Grenzen der Belastbarkeit der Umweltgüter, so ergibt sich aus dem Prinzip der nachhaltigen Entwicklung zusätzlich, dass innerhalb der Belastungsgrenzen Raum bleiben muss für ökonomische Entwicklung und für sonstige politische Gestaltung, insbesondere für raumbezogene Planungen. Eine Politik, welche es zuließe, dass die ökologischen Belastbarkeitsgrenzen ausgeschöpft werden, müsste immobil werden. Der ökonomische Status quo müsste versteinern, wenn nicht – was das Nachhaltigkeitsprinzip ja ausschließt – die Lebensgrundlagen aufs Spiel gesetzt werden sollen. Das Prinzip der nachhaltigen Entwicklung erfordert also zwingend, Vorsorge im Sinne der Erhaltung oder Wiedergewinnung von „Freiräumen“ für ökonomische Entwicklung und planerische Gestaltung zu treffen. Man könnte deshalb sagen, dass die Ressourcenvorsorge als Freiraumvorsorge notwendiger Bestandteil des Prinzips der nachhaltigen Entwicklung ist. Das – isoliert betrachtete – Nachhaltigkeitsprinzip ermöglicht sie, das Prinzip der nachhaltigen Entwicklung erfordert sie.
5. Folgerungen für das Verständnis der Prinzipien Bleibt man bei der bisher in Deutschland üblichen Betrachtungsweise, so gibt es weite Überschneidungsbereiche zwischen Vorsorge- und Nachhaltigkeitsprinzip. Die ressourcenbezogene Risikovorsorge deckt sich mit den aus dem Nachhaltigkeitsprinzips folgenden Anforderungen teilweise, geht aber über sie hinaus. Die freiraumsichernden Funktionen des Vorsorgeprinzips und des Prinzips der nachhaltigen Entwicklung sind wohl im wesentlichen deckungsgleich, doch lassen sie sich für das Prinzip der nachhaltigen Entwicklung noch besser begründen. Und Ressourcenvorsorge als Mittel zur Sicherstellung der Einhaltung kritischer Belastungsgrenzen ist sowohl Bestandteil des Vorsorgeprinzips als auch des Nachhaltigkeitsprinzips.
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Ist das Nachhaltigkeitsprinzip also überflüssig? Nein, schon auf der Basis der bisherigen Betrachtungsweise hat es neben dem Vorsorgeprinzip eigenständige Bedeutung, neben dem Schutzprinzip, wie gezeigt, ohnehin: Es sichert die Umweltgüter als Lebensgrundlagen, also unabhängig von der Gefährdung von Rechtsgütern wie der menschlichen Gesundheit, sondern als Voraussetzungen für die Existenz des menschlichen Lebens und der menschlichen Gesundheit (sowie auch anderer Rechtsgüter). Es gewährleistet für die Umweltgüter einen Minimalschutz, der absolut eingehalten werden muss und nicht zur Disposition steht.50 Zugleich bestimmt es damit die ökologischen Grenzen, innerhalb derer sich ökonomische Aktivitäten und sonstige Umweltnutzungen entfalten können. Schon das isoliert betrachtete Nachhaltigkeitsprinzip ist ein Ressourcenbewirtschaftungsprinzip. Die Existenz der Umweltgüter als Lebensgrundlagen ist nicht von sich aus stabil. Es bedarf aktiver Ressourcenbewirtschaftungspolitik, um die nachhaltige Nutzbarkeit der Umweltgüter zu gewährleisten. Noch deutlicher ist dies im Kontext des dynamisierten Prinzips der nachhaltigen Entwicklung. Da der von Nachhaltigkeitsprinzip gezogene Rahmen möglicher Umweltnutzungen „starr“ ist, kann dynamische Entwicklung nur stattfinden, wenn innerhalb dieses Rahmens genügend Ressourcen zur Verfügung stehen. Aktives Ressourcenmanagement muss daher dafür sorgen, dass die Ressourcen durch alle ökonomischen und sonstigen Umweltnutzungen nur in einem solchen Maße in Anspruch genommen werden, dass immer noch genügend Raum für weitere Entwicklung bleibt. Dabei muss ökonomische Dynamik nicht immer Steigerung des Ressourcenverbrauchs implizieren. Es kann auch um Steigerung der Effizienz der Ressourcennutzungen sowie um effizientere bzw. gerechtere Verteilung der vorhandenen Nutzungsmöglichkeiten gehen. Thema des Nachhaltigkeitsprinzips ist also nicht nur die Begrenzung der zulässigen Umweltnutzungen, sondern auch eine aktive Ressourcenbewirtschaftungspolitik. Aus diesem Grunde halte ich es für sinnvoll, die als Umweltnutzungsvorsorge verstandene Ressourcenvorsorge nicht länger dem Vorsorgeprinzip, sondern künftig allein dem Nachhaltigkeitsprinzip bzw. dem Prinzip der nachhaltigen Entwicklung zuzuordnen. Das deutsche Verständnis des Vorsorgeprinzips auch im Sinne von Umweltnutzungsvorsorge (Freiraumvorsorge) war international ohnehin wohl singulär. In anderen Ländern sowie auf völkerrechtlicher Ebene wird das Vorsorgeprinzip allein im Sinne von Risikovorsorge verstanden. In Deutschland hatte man zutreffend erkannt, dass es neben der Risikovorsorge auch der Ressourcenvorsorge bedarf. Dafür gab es früher keinen besonderen Namen. Seit aber international und auch in Deutschland das Nachhaltigkeitsprinzip etabliert ist, liegt es näher, die Ressourcenvorsorge als Freiraumvorsorge diesem Prinzip zuzuordnen. 50 Das hört sich strenger an als es praktisch gehandhabt werden kann, denn die Bestimmung der kritischen Belastungsgrenzen ist im Hinblick auf Prognosespielräume und sonstige Erkenntnisdefizite erheblichen Wertungen zugänglich.
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Entsprechendes lässt sich für die Freihaltung von Sicherheitsabständen zu kritischen Belastungsgrenzen zwecks Bewältigung von Summations- und Akkumulationsproblemen sagen. Hier ist ja Vorsorge kein zielgebendes Prinzip, sondern Mittel zur Erreichung anderer Ziele. Es liegt daher näher, das Mittel dem Prinzip zuzuordnen, welches die Ziele formuliert und den Gebrauch der notwendigen Mittel impliziert. Das ist das Nachhaltigkeitsprinzip 51. Die langfristige Sicherung der Integrität der Umweltgüter als Lebensvoraussetzungen des Menschen impliziert – wie schon dargelegt – denknotwendig die Einhaltung ausreichender Sicherheitsabstände, damit Summations-, Latenz- oder Akkumulationsprobleme erfolgreich gemanagt werden können, ist also Bestandteil des Nachhaltigkeitsprinzips. Eine doppelte Abstützung dieser Aufgabe im Vorsorgeprinzip erscheint nach Etablierung des Nachhaltigkeitsprinzips nicht mehr als notwendig52.
III. Ergebnis Folgt man diesem Vorschlag, so lassen sich Schutzprinzip, Vorsorgeprinzip und Nachhaltigkeitsprinzip in systematisch klarer Weise zuordnen: Das Schutzprinzip dient dem Rechtsgüterschutz, das Nachhaltigkeitsprinzip dem Schutz der Umweltgüter, insbesondere als Lebensvoraussetzungen, und der Erhaltung ihrer dauerhaften, generationenübergreifenden Nutzbarkeit (Ressourcenschutz). Das Vorsorgeprinzip hat keinen eigenständigen Schutzgegenstand, sondern ergänzt sowohl das Schutzprinzip als auch das Nachhaltigkeitsprinzip durch Risikovorsorge – durch auf die Integrität (individueller) Rechtsgüter bezogene Risikovorsorge in Richtung auf das Schutzprinzip, durch ressourcenbezogene Risikovorsorge in Richtung auf das Nachhaltigkeitsprinzip53. Schutzprinzip und Nachhal51 Bei völliger Neukonstruktion der umweltrechtlichen Prinzipien wäre es systematisch auch möglich, diese Funktion dem Schutzprinzip zuzuordnen, da es sich ja um ein Mittel auch des Rechtsgüterschutzes handelt. Man müsste dann aber das Schutzprinzip aus seiner polizeirechtlichen Herkunft lösen und es als reines Zielprinzip (effektiver Rechtsgüterschutz) verstehen, das nicht zugleich durch bestimmte Mittel (Gefahrenabwehr gegen einem bestimmten potentiellen Schaden zurechenbare Gefahrenquellen) begrenzt ist. Dann wäre das Freihalten von Sicherheitsabständen als Mittel des Rechtsgüterschutzes dem Schutzprinzip, als Mittel des Ressourcenschutzes dem Nachhaltigkeitsprinzip zugeordnet; beides würde sich sehr weitgehend überschneiden; der umweltrechtliche Rechtsgüterschutz wäre vom Ressourcenschutz vollständig umfasst. Vorzugswürdig erschiene mir daher auch bei einem allein zielbestimmten Verständnis des Schutzprinzips die Zuordnung des Prinzips, Sicherheitsabstände zum Schutz von Rechtsgütern und Umweltgütern freizuhalten, zum Nachhaltigkeitsprinzip. Denn die Sicherheitsabstände dienen unmittelbar dem Ressourcenschutz und erst mittelbar dem Rechtsgüterschutz. 52 Ebenso W. Kahl, Der Nachhaltigkeitsgrundsatz im System der Prinzipien des Umweltrechts, in: Hartmut Bauer u. a. (Hg.), Umwelt, Wirtschaft und Recht, 2002, S. 111 (134 ff.). 53 Für nicht überzeugend halte ich die von Kahl (Fn. 52), S. 138 geäußerte Auffassung, das Vorsorgeprinzip befinde sich auf einer niedrigeren Abstraktionsstufe als das Nachhaltigkeitsprinzip und diene dessen Operationalisierung.
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tigkeitsprinzip sichern Minimalstandards, die nicht unterschritten werden dürfen. Das Vorsorgeprinzip optimiert den Schutz, insbesondere durch Minimierung von Risiken und Umweltbeeinträchtigungen. Und das Nachhaltigkeitsprinzip leitet dazu an, die Ressourcennutzung so zu steuern, dass langfristig Raum für eine dynamische wirtschaftliche Entwicklung bleibt und knappe Nutzungsbefugnisse gerecht verteilt werden können.
Verfassungsrechtliche Fragen der Auferlegung von „Beiträgen“ zu Kosten von hoheitlichen Verhütungs- oder Ausgleichsmaßnahmen nach § 4 Abs. 2 Nr. 3 WHG Von Andreas Neun
I. Einleitung Unternehmen, die zu Produktionszwecken in größerem Umfang auf die Entnahme von Grundwasser angewiesen sind, sehen sich auf der Grundlage des § 4 Abs. 2 Nr. 3 WHG1 zum Teil hohen – periodisch wiederkehrenden – behördlichen Forderungen2 nach Kosten-„Beiträgen“ ausgesetzt. Der Heranziehung zu solchen Kosten-„Beiträgen“ erfolgt teilweise, obwohl die Betroffenen wegen der Grundwasserentnahme bereits in erheblicher Höhe Abgaben auf der Grundlage von Landesrecht zahlen. Während die Verfassungsmäßigkeit dieser landesrechtlichen Grundwasserentnahmeentgelte (sog. „Wasserzinsen“) nach dem Beschluss des BVerfG vom 7. November 19953 und seiner Bekräftigung durch den Nichtannahmebeschluss vom 18. Dezember 20024 geklärt ist, wirft § 4 Abs. 2 Nr. 3 WHG noch eine Reihe von (finanz-) verfassungsrechtlichen Fragen auf, für deren Beantwortung auch die Schriften von Peter Selmer maßgebend sind.
1 Gesetz zur Ordnung des Wasserhaushalts (Wasserhaushaltsgesetz – WHG) in der Fassung der Bek. vom 19. 08. 2002 (BGBl. I S. 3245). 2 Für den Fall, dass Verhütungs- oder Ausgleichsmaßnahmen i. S. des § 4 Abs. 2 Nr. 3 WHG durch einen Wasserverband durchgeführt werden, sind die Unternehmen zu den Kosten nicht nach § 4 Abs. 2 Nr. 3 WHG, sondern durch Beiträge i. S. der §§ 28 ff. WVG heranzuziehen (M. Czychowski / M. Reinhardt, WHG, 8. Aufl. 2003, § 4 Rn. 108 m. w. N.), es sei denn, die Verbandssatzung enthält – etwa im Hinblick auf Nichtmitglieder – abweichende Regelungen. 3 2 BvR 413 / 88 und 1300 / 93, BVerfGE 93, 319 ff., zum Wassergesetz Baden-Württemberg (WG BW) und zum Hessischen Grundwasserabgabengesetz (HGruwAG). 4 2 BvR 591 / 95, NVwZ 2003, 467 ff., zum schleswig-holsteinischen Grundwasserabgabegesetz (GruWAG).
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II. Untersuchungsgegenstand Zunächst zu den Einzelheiten des Untersuchungsgegenstandes: § 4 Abs. 2 Nr. 3 WHG gestattet den Vollzugsbehörden – i.V.m. § 36 Abs. 1, 1. Alt. VwVfG – die Verknüpfung der wasserrechtlichen Erlaubnis oder Bewilligung mit einer Auflage, durch die einem „Unternehmer angemessene Beiträge zu den Kosten von Maßnahmen auferlegt werden, die eine Körperschaft des öffentlichen Rechts trifft oder treffen wird, um eine mit der Benutzung verbundene Beeinträchtigung des Wohls der Allgemeinheit zu verhüten oder auszugleichen.“
Eine solche Nebenbestimmung zur Erlaubnis oder Bewilligung kann gemäß § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1a WHG auch in Form einer nachträglichen Auflage ergehen. Nach § 6 Abs. 1 WHG sind die Erlaubnis bzw. die Bewilligung zu versagen, soweit von der beabsichtigten (Gewässer-)Benutzung eine Beeinträchtigung des Wohls der Allgemeinheit zu erwarten ist, die nicht durch Auflagen oder durch Maßnahmen einer Körperschaft des öffentlichen Rechts i. S. des § 4 Abs. 2 Nr. 3 WHG verhütet oder ausgeglichen wird.
III. Rechtliche Bewertung Verfassungsrechtlich klärungsbedürftig sind insbesondere die hinreichende rechtsstaatliche Bestimmtheit der Norm (s. u. 1.) und die Zulässigkeit einer Doppelbelastung von Grundwasserentnehmern durch kumulative Geldleistungspflichten nach Landes- und Bundesrecht (s. u. 2.).
1. (Un-)Bestimmtheit der Norm? a) Vorbemerkung: Begriffs- und Rechtmäßigkeitsanforderungen an „öffentliche Abgaben“ Von dem begrifflichen Vorliegen einer öffentlichen Abgabe hängen nicht nur die aufschiebenden Wirkungen von verwaltungsprozessrechtlichen Rechtsbehelfen (Widerspruch und Anfechtungsklage) gegen die „Abgaben“-Bescheide ab (§ 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 VwGO) , sondern auch die verfassungsrechtlichen Anforderungen, denen der Gesetzgeber genügen muss. Das rechtsstaatliche Bestimmtheitsgebot stellt an „öffentliche Abgaben“ höhere Anforderungen als an sonstige öffentlich-rechtliche Geldleistungspflichten. Die sogenannten Geldleistungsauflagen5, zu denen auch § 4 Abs. 2 Nr. 3 WHG ermächtigt, geben konkreten Anlass, sich mit den notwendigen Begriffs- und 5
Allgemein zu solchen Geldleistungsauflagen J. Schachel, DVBl. 1980, 1038 ff.
„Beiträge“ zu Kosten von hoheitlichen Verhütungsmaßnahmen
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Rechtmäßigkeits-Merkmalen der „öffentlichen Abgabe“ auseinander zu setzen. Der Wortlaut des § 4 Abs. 2 Nr. 3 WHG, der zur Heranziehung des Inhabers einer wasserrechtlichen Erlaubnis oder Bewilligung zu „Beiträgen“6 ermächtigt, ist dabei anerkanntermaßen nicht entscheidend7. Die Rechtsnatur von Geldleistungsauflagen bedarf noch der höchstrichterlichen Klärung8. Sie wird davon abhängen, ob der Begriff der „öffentlichen Abgabe“ mit den Merkmalen, dass die Geldleistungspflicht einseitig hoheitlich auferlegt und dadurch eine Aufkommenswirkung zugunsten der öffentlichen Hand erreicht wird, hinreichend beschrieben ist9, oder ob als weiteres Begriffsmerkmal – nicht nur als Rechtmäßigkeitsvoraussetzung – die Auferlegung der Geldleistungspflicht nach einem allgemeinen Maßstab, d. h. nach einem durch allgemeine Merkmale bestimmten gesetzlichen Tatbestand, hinzutreten muss10. Dies ist umstritten. Peter Selmer hat sich insoweit jüngst – im Zusammenhang mit den Erlösen aus der Versteigerung von UMTS-Lizenzen – positioniert. „Öffentliche Abgaben“ im Rechtssinne lägen nur dann vor, wenn die Geldleistungen hoheitlich nach einem gesetzlich festgelegten Tatbestand von allen erhoben werden, die den Tatbestand erfüllen11. Von einem solchen engen „Abgaben“-Begriff wären Geldleistungspflichten, deren Auferlegung im behördlichen Ermessen steht, nicht erfasst. Im Folgenden soll der Frage nachgegangen werden, ob das Merkmal der „Tatbestandsmäßigkeit“ den spezifisch mit Geldleistungsauflagen verbundenen verwaltungsprozessrechtlichen und verfassungsrechtlichen Problemen gerecht wird.
6 Beiträge gehören wie Gebühren und Sonderabgaben zum anerkannten Katalog der (nicht-steuerlichen) öffentlichen Abgaben; vgl. zur Rechtsprechung des BVerfG insoweit nur P. Selmer / C. Brodersen, DVBl. 2000, 1153, 1154. 7 BVerfGE 7, 244, 252; 49, 434, 353; 55, 274, 304 f. – st. Rspr. 8 Sie ist vom BVerwG in seinem Beschluss vom 07. 09. 1979 – 4 C 58 / 76 und 59 / 76, BVerwGE 56, 281 ff., zu Kosten-„Beiträgen“ für (Straßen-) Entwässerungsmaßnahmen (und in seinen Beschlüssen vom 05. 08. 1987 – 4 B 159 und 160 / 87, Buchholz 445.4 § 4 WHG, Nr. 3 f. nicht thematisiert worden. 9 So etwa OVG Berlin, NVwZ 1987, 61, 62; H. D. Jarass, Nichtsteuerliche Abgaben und lenkende Steuern unter dem GG, 1999, S. 9; D. Birk, Steuerrecht, 2. Aufl. 1999, Rn. 107; ders., Steuerrecht I, 2. Aufl. 1994, S. 28 f. 10 Vgl. aus der Rechtsprechung – neben der noch gesondert zu betrachtenden Entscheidung des VGH Kassel, ZfW 1997, 109 – etwa VGH München, NVwZ 1987, 63, 64; OVG Münster, DVBl. 1993, 536; VG Bremen, NordÖR 2001, 504 (505), und aus dem Schrifttum nur H. W. Kruse, Lehrbuch des Steuerrechts I, 1991, S. 54; K. Vogel / H. Walter, in: BK zum GG, Art. 105, Rn. 132; E.-M. Gersch, in: F. Klein, AO, 7. Aufl. 2000, § 3 Rn. 7; H.-J. Papier, Die finanzrechtlichen Gesetzesvorbehalte und das grundgesetzliche Demokratieprinzip, 1973, S. 153 ff. 11 P. Selmer, NVwZ 2003, 1304, 1307 ff., zugleich eine Anmerkung zu BVerfG, Urteil vom 28. 03. 2002 – 2 BvG 1 / 01 und 2 / 01, BVerfGE 105, 185 ff.
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b) Geldleistungsauflagen und § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 VwGO Auch nach Auffassung des Hessischen VGH12 soll § 4 Abs. 2 Nr. 3 WHG keinen Abgabentatbestand begründen, sondern lediglich Ermächtigungsgrundlage für die Auferlegung einer „sonstigen öffentlich-rechtlichen Geldleistungspflicht“ sein. Es fehle an dem normativ nach generellen Maßstäben bestimmten Abgabentatbestand. Aus dem fehlenden Abgabencharakter folge verwaltungsprozessual wegen § 80 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 VwGO die aufschiebende Wirkung von Widersprüchen und Anfechtungsklagen gegen die „Beiträge“ nach § 4 Abs. 2 Nr. 3 WHG. Es überzeugt indes schon mit Blick auf § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 VwGO nicht unbedingt, einem „Beitrag“ gemäß § 4 Abs. 2 Nr. 3 WHG den Status der öffentlichen Abgabe zu verweigern. Gerechtfertigt wäre dies bei zutreffender teleologischer Auslegung des § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 VwGO nur dann, wenn kein Grund für die Zahlung der „Beiträge“ vor Bestandskraft der entsprechenden Bescheide ersichtlich wäre13. Der Zweck des § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 VwGO wird von der Rechtsprechung wie folgt skizziert: „Wenn der Gesetzgeber in § 80 Abs. 2 [Satz 1] Nr. 1 VwGO nicht allgemein von öffentlich rechtlichen Geldleistungen spricht, sondern dem engeren Begriff der öffentlichen Abgaben verwendet, können nur solche Zahlungen gemeint sein, auf deren unverzüglichen Eingang die Abgabengläubiger in gesteigertem Maße angewiesen sind“14,
weil sie nach materiellem Recht fest mit dem Eingang rechnen und daher für die Aufgabenerfüllung einplanen15. Eine derartige Bedeutung komme typischerweise den „klassischen“ Abgabenarten – den Steuern, Gebühren und Beiträgen – zu; die Besonderheit dieser Geldleistungen liegt darin, dass sie einen aktuellen Finanzierungsbedarf – in aller Regel wegen bereits entstandener Aufwendungen – abdecken sollen16. Nun macht aber schon der Wortlaut des § 4 Abs. 2 Nr. 3, 1. Alt. WHG deutlich, dass die kostenträchtigen Ausgleichs- und Verhütungsmaßnahmen bei Auferlegung der Geldleistungspflicht bereits getroffen, mithin die Aufwendungen der Körperschaft des öffentlichen Rechts bereits entstanden sein können. Der Kostenbeitrag des Schuldners soll diese entstandenen Aufwendungen abdecken. Weshalb es der öffentlich-rechtlichen Körperschaft in dieser Konstellation zugemutet werden kann, vor der Vollziehung der Geldleistungsauflage den Ausgang eines verwal12 VGH Kassel, Beschluss vom 09. 10. 1996, ZfW 1997, 109 ff. Die Antragstellerin hatte sich in dem Verfahren gemäß § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO gegen die Heranziehung zu Beiträgen für – bereits entstandene oder entstehende – Kosten für die Infiltration von aufbereitetem Rheinwasser im Wege einer nachträglichen Auflage gewandt. 13 Zu diesem Ergebnis kommen H. Thieme / O. Moufang, ZfW 1997, 73, 78. 14 VGH Kassel, Beschluss vom 09. 10. 1996, ZfW 1997, 109, 110 f.; OVG Münster, Beschluss vom 22. 01. 1985 – 11 B 2567 / 84, NVwZ 1987, 62, 63. 15 VGH Kassel, Beschluss vom 09. 10. 1996, ZfW 1997, 109, 111. 16 OVG Münster, Beschluss vom 22. 01. 1985 – 11 B 2567 / 84, NVwZ 1987, 62, 63.
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tungsgerichtlichen Hauptsacheverfahrens abzuwarten, ist schwer nachvollziehbar. Ein Unterschied zu den klassischen Abgabenarten ist insoweit nicht ersichtlich. Er kann auch nicht damit begründet werden, dass unternehmerische Geldleistungen auf der Grundlage von Auflagen gemäß § 4 Abs. 3 Nr. 2 WHG „außerordentliche, unvorhersehbare“ Einnahmen seien17. Dies mag vom Gesetzgeber ursprünglich so vorgesehen gewesen sein; spätestens mit der Ermöglichung auch nachträglicher Auflagen gemäß § 4 Abs. 3 Nr. 2 WHG (§ 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1a WHG) wird die Geldleistungsauflage jedoch in der Praxis als kontinuierliches, periodisch wiederkehrendes Instrument zur Deckung laufender Kosten eingesetzt. Letztlich bedarf dies jedoch für die Frage, ob § 4 Abs. 2 Nr. 3 WHG hinreichend bestimmt ist, keiner Entscheidung, da die Verfassung ihre Begriffe autonom ausformt.
c) Finanzverfassungsrechtlicher Begriff der „öffentlichen Abgabe“ Ob die Überlegungen des Hessischen VGH im Hinblick auf den verfassungsrechtlichen Begriff der „öffentlichen Abgabe“ tragfähig sind, ist fraglich. Die Bedeutsamkeit dieses verfassungsrechtlichen „Abgaben“-Begriffs wird durch den erwähnten Beschluss des Verwaltungsgerichtshofs sehr anschaulich: Seine weitere, für den Adressaten der Geldleistungsauflage (und Schuldner) zunächst verheißungsvolle Aussage zu § 4 Abs. 2 Nr. 3 WHG lautet: „Würde man . . . in dem ,Beitrag‘ i. S. des § 4 Abs. 2 Nr. 3 WHG eine öffentliche Abgabe sehen, wäre die Vorschrift wegen Verstoßes gegen den Bestimmtheitsgrundsatz verfassungswidrig“18.
Sodann folgt jedoch die Ernüchterung: „Nach dem Grundsatz der verfassungskonformen Auslegung, der gebietet, dass von mehreren, nach Wortlaut und Gesetzeszweck möglichen Normdeutungen, von denen die eine zu einem verfassungswidrigen, die andere zu einem verfassungsgemäßen Ergebnis führt, diejenige vorzuziehen ist, die mit dem Grundgesetz im Einklang steht, ist folglich diejenige Auslegung der Bestimmung des § 4 Abs. 2 Nr. 3 WHG vorzuziehen, wonach der ,Beitrag‘ keine öffentliche Abgabe, sondern eine andere öffentlich-rechtliche Geldleistungspflicht darstellt, die nicht den gleichen strengen Bestimmtheitsanforderungen wie die öffentlichen Abgaben unterliegt“19.
Dabei könnte das Gericht jedoch übersehen haben, dass es gerade die von ihm gewählte Auslegung ist, welche die Adressaten des § 4 Abs. 2 Nr. 3 WHG und der darauf gestützten Geldleistungsforderungen in einer nach dem rechtsstaatlichen VGH Kassel, Beschluss vom 09. 10. 1996 – 7 TG 1502 / 96, ZfW 1997, 109, 111. VGH Kassel, Beschluss vom 09. 10. 1996 – 7 TG 1502 / 96, ZfW 1997, 109, 110. 19 VGH Kassel, ebd.; ihm folgend etwa F. Hofmann, in: H. v. Lersner / K. Berendes, Handbuch des Deutschen Wasserrechts, Kommentierung zu § 4 WHG, Rn. 11; L. Knopp, in: F. Sieder / H. Zeitler / H. Dahme, WHG, § 4 Rn. 22. 17 18
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Bestimmtheitsgebot nicht mehr hinnehmbaren Weise belastet. Für den Schuldner der hoheitlich auferlegten (Kosten-)„Beiträge“ wird die vom VGH Kassel vorgenommene verfassungskonforme Auslegung nur schwer erträglich sein. Er wird gerade die vom Verwaltungsgerichtshof gewählte Norminterpretation als nicht verfassungskonform empfinden, sieht er sich doch durch § 4 Abs. 2 Nr. 3 WHG mit einer Vielzahl von unbestimmten Rechtsbegriffen konfrontiert und dadurch erheblichen Gefahren für die Transparenz und Verhältnismäßigkeit des Normvollzugs ausgesetzt. Hinzu kommt, dass die Entscheidung über die „Beitrags“-Schuld durch § 4 Abs. 2 WHG in das Ermessen der zuständigen Behörden gestellt ist („können . . . auferlegt werden“). Aus rechtsstaatlicher Perspektive sind tragfähige Gründe dafür, auch bei Geldleistungsauflagen (also etwa bei „Beiträgen“ nach § 4 Abs. 2 Nr. 3 WHG) von der fehlenden Tatbestandsmäßigkeit ohne Umschweife auf den Charakter als sonstige öffentlich-rechtliche Geldleistungspflicht zu schließen, nicht recht einzusehen. Zumindest die automatische – und dramatische20 – Herabsetzung der verfassungsrechtlichen Bestimmtheitsanforderungen vermag letztlich nicht zu überzeugen. Im Einzelnen: aa) Ähnlichkeit der Geldleistungsauflagen mit naturschutzrechtlichen Ausgleichsabgaben Die größten Ähnlichkeiten mit dem „Beitrag“ gemäß § 4 Abs. 2 Nr. 3 WHG weist der „Aufwendungsersatz“ auf21. Gemeint sind etwa landesgesetzlich vorgesehene Ersatzzahlungen für zugelassene, aber nicht anderweitig kompensierbare „Eingriffe in Natur und Landschaft“ nach § 19 Abs. 4 BNatSchG oder generell die Zahlung der Kosten für behördliche Ersatzvornahmen. Ein solcher Aufwendungs- oder Kostenersatz wird zwar im Schrifttum überwiegend als „sonstige Geldleistungspflicht“ (und damit nicht als Abgabe) qualifiziert22. Allerdings hat das BVerwG in einer – mit dem Beitrag nach § 4 Abs. 2 Nr. 3 WHG vergleichbaren – naturschutzrechtlichen Ausgleichsabgabe gemäß § 11 Abs. 3 Satz 4, Abs. 5 NatSchG BW (a. F.)23 eine – wenn auch spezifische – Sonderabgabe und damit eine Abgabe gesehen24. Gegenstand der Entscheidung war die 20 Der VGH Kassel war in eine nähere Prüfung der hinreichenden Bestimmtheit des § 4 Abs. 2 Nr. 3 WHG gar nicht mehr eingestiegen, nachdem er dem „Beitrag den Charakter als „öffentliche Abgabe“ abgesprochen hatte. 21 H. D. Jarass, BB 1977, 122. 22 Vgl. nur M. Kloepfer, Umweltrecht, 2. Aufl. 1998, § 5 Rn. 257 und 293. 23 Vom 21. 10. 1975 (GBl S. 654). 24 BVerwG, Urteil vom 04. 07. 1986 – 4 C 50 / 83, BVerwGE 74, 308, 310 f. Zum Abgabencharakter der Sonderabgabe und zu den Voraussetzungen ihrer steuerverfassungsfernen Normierung allgemein P. Selmer, Steuerinterventionismus und Verfassungsrecht, 1972, 183 ff.; ferner – im Bereich des Umweltrechts – P. Selmer, Verfassungsrechtliche und finanzrechtliche Rahmenbedingungen, in: Umweltschutz durch Abgaben und Steuern, 1992, S. 15,
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ebenfalls als Nebenbestimmung zu einer zugelassenen Nutzung auferlegte Pflicht des Verursachers, für die nicht anderweitig ausgleichbaren Schäden von Natur und Landschaft Ausgleichszahlungen in einen Naturschutzfonds zu entrichten25. Das BVerwG hat den Abgabencharakter der naturschutzrechtlichen Ausgleichsabgabe später noch einmal unter Hinweis auf die vom BVerfG instrumentell als (Vorteils-)„Abschöpfungsabgabe“ charakterisierte Fehlbelegungsabgabe26 bekräftigt27. Im Schrifttum wird mit Recht darauf hingewiesen, dass eine solche Abgabe „wegen ihrer Ausgleichsfunktion manche Ähnlichkeiten mit den Vorteilsabschöpfungsabgaben und damit mit den Vorzugslasten aufweisen. In Grenzfällen können die Unterschiede sehr gering werden.“28
Überträgt man die Entscheidung des BVerwG zum Abgabencharakter der naturschutzrechtlichen Ausgleichsabgabe29 auf den „Beitrag“ nach § 4 Abs. 2 Nr. 3 WHG, wäre die Norm mangels hinreichend bestimmter Normierung des Abgabentatbestands verfassungswidrig. bb) Bestimmtheitsanforderungen an sonstige öffentliche Geldleistungsverpflichtungen Auch wenn man dem Hessischen VGH folgt und vom Vorliegen einer anderen öffentlich-rechtlichen Geldleistungspflicht ausgeht, ist das rechtsstaatliche Bestimmtheitsgebot (Art. 20 Abs. 3 GG) keineswegs unanwendbar. Für eine öffentliche Abgabe mögen zwar gesteigerte Bestimmtheitsanforderungen gelten. Der Gesetzgeber ist jedoch – nach dem allgemeinen Gebot der Berechenbarkeit staatlichen 46 ff.; ders., Zur Zweckbindung von Umweltsteuern im Rahmen eines UGB, in: E. Bohne (Hg.), Perspektiven für ein UGB, 2002, S. 311, 315 ff.; jüngst zusammenfassend und weiterführend BVerfG, Beschluss vom 17. 07. 2003 – 2 BvL 1 / 99 u. a., NVwZ 2003, 1241 ff., 1247: Für Sonderabgaben sei die hinreichende Bestimmtheit durch Festlegung der Bemessungsfaktoren für die die Abgabe tragenden Kosten herzustellen. 25 Vgl. zur Kombination von ökologischem Erhebungszweck und ökologischem Verwendungszweck bei naturschutzrechtlichen Ausgleichsabgaben und damit – implizit – zum Abgabencharakter dieser Geldleistungspflicht: P. Selmer, Verfassungsrechtliche und finanzrechtliche Rahmenbedingungen, in: Umweltschutz durch Abgaben und Steuern, 1992, S. 15, 24. 26 BVerfG, Beschluss vom 08. 06. 1988 – 2 BvL 9 / 85 und 3 / 86, BVerGE 78, 249, 266 f. 27 BVerwG, Urteil vom 20. 01. 1989 – 4 C 15 / 87, BVerwGE 81, 220, 225; vgl. zur Fehlbelegungsabgabe als „Abschöpfungsabgabe“ auch P. Selmer, Sonderabfallabgaben und Verfassungsrecht, 1996, S. 38. 28 H. D. Jarass, Nichtsteuerliche Abgaben und lenkende Steuern unter dem GG, 1999, S. 41 f. 29 Von einer „spezifischen Gruppe von Sonderabgaben, die dem Ausgleich bzw. der Wiedergutmachung dienen“, spricht H. D. Jarass, Nichtsteuerliche Abgaben und lenkende Steuern unter dem GG, 1999, S. 42. Dem ist zuzustimmen, denn eine systematische Einordnung bei den (Finanzierungs- oder Lenkungs-)Sonderabgaben i. e. S. und auch bei den – vom BVerfG unter restriktiven Voraussetzungen anerkannten – „Ausgleichsabgaben eigener Art“ (etwa BVerfGE 92, 91, 117) bereitet erhebliche Schwierigkeiten. 29 FS Selmer
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Handelns – stets gehalten, den rechtfertigenden Grund für die Belastung eines Grundrechtsträgers mit hinreichender Regelungsdichte tatbestandlich zu erfassen30. Der Schuldner eines Kosten-„Beitrags“ kann aber anhand der tatbestandlichen Voraussetzungen des § 4 Abs. 2 Nr. 3 WHG– ganz unabhängig von der Eröffnung eines Auswahlermessens hinsichtlich der heranzuziehenden Benutzer auf der Rechtsfolgenseite der Norm – nicht zweifelsfrei erkennen, ob er zum Kreis derjenigen gehört, die zu Kostenbeiträgen herangezogen werden (können). Denn die gesetzliche Regelung ist durch zahlreiche unbestimmte Rechtsbegriffe („Wohl der Allgemeinheit“, „angemessene Beiträge“ etc.) und mithin durch ein hohes Maß an inhaltlicher Unbestimmtheit gekennzeichnet. Zwar sind diese Begriffe prinzipiell einer Auslegung zugänglich. So sind etwa Kosten für Maßnahmen, die nicht spezifisch den „Beitrags“-Schuldnern zugute kommen, nicht „beitragsfähig“; das betrifft etwa allgemeine Vorhaltekosten oder sonstige Gesamtkosten31. Allein solche allgemeinen Kausalitätserwägungen und das Übermaßverbot geben der Verwaltungsentscheidung jedoch nicht die rechtsstaatlich gebotenen Konturen32. § 4 Abs. 2 Nr. 3 WHG bietet keine genügenden Anhaltspunkte, nach welchen Maßstäben das Versagungsinteresse – hinsichtlich der Erteilung einer wasserrechtlichen Erlaubnis oder Bewilligung – aus Gründen der Verhältnismäßigkeit in eine Geldleistungsauflage umzusetzen ist (vgl. hierzu § 6 Abs. 1 WHG). Das „Ob“ und die Höhe der Geldleistungspflicht hängen somit allein von der Einschätzung der Verwaltung ab. Dies ist mit Recht kritisiert worden: „Seiner Verpflichtung, eine Abgabenermächtigung so zu fassen, dass der Betroffene die Belastung selbst nachvollziehen kann, wird der Gesetzgeber nicht dadurch enthoben, dass er die Abgabeverpflichtung in den Dienst eines Verbotsgesetzes stellt und sich für eine Geldleistungsauflagenermächtigung entscheidet“33.
Mit anderen Worten: Bezweckt der verfassungsrechtliche Grundsatz der Tatbestandsmäßigkeit einer öffentlichen Abgabe gerade, dass die Abgabenlast messbar und in gewissem Umfang für den Staatsbürger überschaubar wird34, so wird man daraus folgern müssen, dass die fehlende Tatbestandsmäßigkeit einer finanziellen Belastung des Bürgers per se verfassungsrechtlich bedenklich ist. Dies gilt 30 BVerfG, NVwZ 2003, 1241, 1247; vgl. ferner nur H.-J. Driehaus, in: ders., Kommunalabgabenrecht- Kommentar, § 2 Rn. 62. 31 So etwa ausdrücklich K. A. Pape, in: Landmann / Rohmer, Umweltrecht, Bd. III, § 4 WHG, Rn. 61; vgl. auch OVG Münster, Urteil vom 06. 10. 1981, NuR 1982, 158, 159; VGH Mannheim, Urteil vom 30. 04. 1987 – 5 S 797 / 84, ZfW 1988, 347, 350, und ferner M. Czychowski / M. Reinhardt, WHG, § 4 Rn. 95. 32 J. Schachel, DVBl. 1980, 1038, 1040 m. w. N. 33 J. Schachel, DVBl. 1980, 1038, 1040. 34 E.-M. Gersch, in: F. Klein, AO, 7. Aufl. 2000, § 3 Rn. 7, unter Hinweis auf BVerfGE 13,160; 19, 267; 34, 365).
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zumal deshalb, weil die Unterschiede zwischen den – grundrechtsrelevanten – Wirkungen einer Geldleistungsauflage und den Wirkungen anerkannter Abgabentypen (etwa der Vorteilsabschöpfungsabgabe) nur marginal sind35. Im Ergebnis ist § 4 Abs. 2 Nr. 3 WHG folglich mit dem allgemeinen rechtsstaatlichen Bestimmtheitsgebot nicht zu vereinbaren.
2. Unzulässige Doppelbelastung am Beispiel kumulativer Geldleistungspflichten für grundwasserbezogene Schutz- und Sicherungsmaßnahmen Hielte man die gewählte gesetzgeberische Gestaltung gleichwohl (noch) für verfassungsgemäß, indem man die Möglichkeit einer – konkretisierenden – verfassungskonformen Auslegung für die einzelnen Tatbestandsmerkmale 36 bejaht, so könnte das Verfassungsrecht zumindest dem behördlichen Ermessen bei der Anwendung des § 4 Abs. 2 Nr. 3 WHG enge Grenzen ziehen. Untersucht werden soll vor allem, ob die kumulative Auferlegung von „Beiträgen“ auf dieser bundesrechtlichen Grundlage und von Grundwasser(entnahme)abgaben nach Landesrecht gegen das Verbot der Doppelbelastung und damit gegen das verfassungsrechtliche Übermaß- und Willkürverbot verstößt. Für eine Gewässerbenutzung in Form der Grundwasserentnahme muss eine Auflage nach § 4 Abs. 2 Nr. 3 WHG möglicherweise dann unterbleiben, wenn für die gleiche Gewässerbenutzung (i. d. R. die Entnahme von Grundwasser) bereits eine (landesrechtliche) Grundwasserabgabe entrichtet werden muss, deren Aufkommen – wie etwa in Hessen37 – zweckgebunden für grundwasserbezogene Schutz- und Sicherungsmaßnahmen zu verwenden ist38. Denn eine Überschreitung der Ermessensgrenzen i. S. der §§ 40 VwVfG; 114 VwGO kommt insbesondere bei einer Belastungskumulation durch – gemessen an den Zwecken ihrer Erhebung und Verwendung – gleichgerichtete wasserrechtliche Abgaben in Betracht39.
35 H. D. Jarass, Nichtsteuerliche Abgaben und lenkende Steuern unter dem GG, 1999, S. 41 f. 36 Dieser Lösungsansatz unterscheidet sich fundamental von der „verfassungskonformen Auslegung“, welche der VGH Kassel vorgenommen hat, indem er aus dem fehlenden Abgabenstatus auf die Verzichtbarkeit einer näheren Bestimmtheitsprüfung geschlossen hat. 37 § 6 Abs. 1 Hessisches Gesetz über die Erhebung einer Abgabe für Grundwasserentnahmen (HGruwAG) vom 17. 06. 1992 (GVBl I S. 209); ähnliche Zweckbindungen enthalten die Wassergesetze des Landes Mecklenburg-Vorpommern und des Freistaats Thüringen. 38 So ausdrücklich und mit weiteren Nachweisen H. Thieme / O. Moufang, ZfW 1997, 73, 78 f., in ihrer Anmerkung zum Beschluss des VGH Kassel vom 09. 10. 1996, ZfW 1997, 109 ff. 39 Anerkannt ist zunächst, dass das Gewicht einer Steuer- oder Abgabelast u. U. erst im Zusammenhang mit anderen, kumulativen Belastungen richtig bewertet werden kann; BVerfGE 13, 331, 341.
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a) Verfassungsmäßigkeit und Rechtsnatur der Grundwasserabgabe Zur Rechtsnatur und zur verfassungsrechtlichen Rechtfertigung des Grundwasserentnahmeentgelts hat das Bundesverfassungsgericht mehrfach Stellung genommen, zuletzt durch (Nichtannahme-)Beschluss zu einer Verfassungsbeschwerde gegen die schleswig-holsteinische Grundwasserabgabe40. In diesem Beschluss wurden die Grundaussagen der „Wasserpfennig-Entscheidung“41, welche die badenwürttembergische und hessische Grundwasserabgabe betraf, bestätigt und bekräftigt: Landesrechtliche Grundwasserentnahmeentgelte sind danach nichtsteuerliche (weil nicht voraussetzungslos erhobene) öffentliche Abgaben. Solche Geldleistungspflichten bedürfen – so das BVerfG – über die Einnahmeerzielung hinaus einer besonderen sachlichen Rechtfertigung. Die sachliche Legitimation der Abgabe kann sich aus ihrem Charakter als Vorteilsabschöpfungsabgabe im Rahmen einer öffentlich-rechtlichen Nutzungsregelung ergeben. Knappe natürliche Ressourcen, wie etwa das Wasser, sind Güter der Allgemeinheit. Das Wasserhaushaltsgesetz unterstellt das Grundwasser einer von dem Grundeigentum losgelösten öffentlichrechtlichen Benutzungsordnung42. Wird Einzelnen die Nutzung einer solchen, der Bewirtschaftung unterliegenden Ressource eröffnet, erhalten sie einen Sondervorteil gegenüber all denen, die das betreffende Gut nicht oder nicht im gleichen Umfang nutzen dürfen. Es ist dann sachlich gerechtfertigt, diesen Vorteil ganz oder teilweise abzuschöpfen43. Der besondere, abschöpfungsfähige Vermögensvorteil wird häufig in der Entnahme von Grundwasser zu betrieblichen Zweckenliegen; die Abgabe wird als Gegenleistung zur Eröffnung der Möglichkeit der Wasserentnahme (durch Erteilung der wasserbehördlichen Zulassung), also als Gegenleistung für eine „individuell zurechenbare öffentliche Leistung“44 erhoben. Wie auch die Bundesregierung in ihrer Begründung für einen zunächst geplanten obligatorischen Wasserzins auf bundesrechtlicher Grundlage45 betonte, soll der Wasserzins seine Rechtfertigung in der Tatsache finden, „dass die öffentliche Hand alljährlich erhebliche Beträge für die Unterhaltung der Gewässer zur Verfügung stellt, deren Vorteile bisher teilweise ohne jede Gegenleistung den Benutzern zugute kommen“46. Im Schrifttum wird für eine solche Geldleistungspflicht der Abgabentypus der „Verleihungsgebühr“ als Gegenleistung für die staatliche Einräumung BVerfG, vom 18. 12. 2002 – 2 BvR 591 / 95, NVwZ 2003, 467 ff. BVerfG, Beschluss vom 07. 11. 1995 – 2BvR 413 / 88 und 1300 / 93, BVerfGE 93, 319 ff. = DVBl. 1996, 357 ff. 42 Vgl. BVerfGE 58, 300, 328. 43 BVerfGE 93, 319, 345 f. 44 BVerfGE 93, 319, 346. 45 § 19 Abs. 1 WHG-Entwurf, vgl. dazu auch BVerfGE 93, 319, 341. 46 BT-Dr. II / 2072, S. 29 rechte Spalte. 40 41
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eines Rechts (hier: die Entnahme von Grundwasser) diskutiert. Umgekehrt ist die „Verleihung“ Leistung der öffentlichen Hand, welche die Abgabenpflicht begründet47. Das BVerfG hat in der Wasserpfennig-Entscheidung den Typus der Verleihungsgebühr zwar nicht explizit, aber wohl doch der Sache nach anerkannt, indem es in der Grundwasserabgabe eine „Vorteilsabschöpfung im Rahmen eines öffentlich-rechtlichen Nutzungsverhältnisses“ gesehen hat48. Der abgabenauslösende Umstand ist der in der Erteilung einer wasserrechtlichen Erlaubnis oder Bewilligung liegende Vorteil für den Grundwasserentnehmer.
b) Gemeinsamer Zweck der Vorteilsabschöpfung Bereits aus der übereinstimmenden Zielrichtung kumulativer hoheitlicher Geldleistungsforderungen kann eine unzumutbare und deshalb unzulässige Doppelbelastung resultieren49. Die Kumulation teilweise gleichgerichteter Abgaben und Geldleistungspflichten ist gerade im Bereich des Gewässerschutzrechts mit Händen zu greifen (AbwAG, WVG, WHG50, Landes-Wassergesetze, Landesgesetze über Grundwasserentnahmeentgelte). Dabei ist noch gar nicht berücksichtigt, dass „der Schuldner einer nicht-steuerlichen Abgabe regelmäßig zugleich Steuerpflichtiger [ist] und als solcher schon zur Finanzierung der Lasten herangezogen [wird], die die Gemeinschaft treffen“51.
Das Schrifttum hat aus den (Freiheits-)Grundrechten i.V.m. dem rechtsstaatlichen Übermaßverbot sowie aus der Belastungsgleichheit 52 als Ausfluss des allgemeinen Willkürverbots (Art. 3 Abs. 1 GG) das Verbot einer doppelten Inanspruchnahme abgeleitet53. Dieses zunächst für steuerliche Belastungen entwickelte Prinzip54 ist auf nicht-steuerliche Abgaben und sonstige öffentlich-rechtliche Geldleistungspflichten zu übertragen55. Andernfalls könnte der Gesetzgeber das Verbot 47 BVerfG 93, 319, 346; vgl. zur Verleihungsgebühr etwa P. Selmer / C. Brodersen, DVBl. 2000, 1153, 1163 m. w. N. 48 Vgl. R. Hendler, in: Gesellschaft für Umweltrecht (Hg.), Umweltrecht im Wandel, 2001, S. 285, 305 f. 49 Vgl. zum Kriterium der „Zielähnlichkeit“ bei kumulativer finanzieller Belastung M. Kloepfer, VerwArch. 74 (1983), S. 201, 210. 50 Neben Geldleistungsauflagen nach § 4 Abs. 2 Nr. 3 WHG können – je nach Lage des Falles – noch Entschädigungsleistungen auf der Grundlage der §§ 8 Abs. 3; 10 Abs. 2 WHG treten. 51 Zuletzt BVerfG, Beschluss vom 17. 07. 2003 – 2 BvL 1 / 99 u. a., NVwZ 2003, 1241, 1242; ferner BVerfGE 55, 274, 302; 93, 319, 343. 52 Zum engeren Begriff der Steuergerechtigkeit vgl. nur P. Selmer, Der gerechte Steuerstaat, FinArch. 52 (1995), S. 234, 242 ff. 53 A. Rapsch, Wasserverbandsrecht, 1993, S. 121 ff.; ders., DÖV 1987, 793 ff.; M. Kloepfer, VerwArch. 74 (1983), S. 201 ff; R. Breuer, Öffentliches und Privates Wasserrecht, 2. Aufl. 1987, Rn. 257 m. w. N. 54 BVerfGE 6, 55, 70; 13, 331, 338; Th. Maunz, in: MDHS, GG, Art. 105 Rn. 26.
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der Doppelbelastung durch gezielte Ausnutzung seiner normativen Gestaltungsspielräume leicht umgehen. Auch in seiner aktuellen Entscheidung zu den badenwürttembergischen Rückmeldegebühren hat das BVerfG betont, dass unterschiedliche Rechtsgrundlagen für staatliche Geldleistungsforderungen hinreichend klar aufeinander abgestimmt sein müssen, damit die Bürger „nicht . . . zur Deckung gleicher Kosten einer Leistung oder zur Abschöpfung desselben Vorteils einer Leistung mehrfach herangezogen werden“56.
Ebenso wie die landesgesetzlichen Grundwasserentnahmeentgelte 57 wird auch der „Beitrag“ nach § 4 Abs. 2 Nr. 3 WHG als Gegenleistung „für eine individuell zurechenbare öffentliche Leistung, die Eröffnung der Möglichkeit der Wasserentnahme“, erhoben. Das ergibt sich bereits aus dem verwaltungsrechtlichen Bezugsrahmen des Beitrags, der in Form einer Auflage zur wasserbehördlichen Zulassung der Gewässerbenutzung erhoben wird. Gestützt wird dieser Befund durch die Entstehungsgeschichte der Norm. § 4 Abs. 2 Nr. 3 WHG ist seit dem Inkrafttreten des WHG vom 27. 07. 195758 in unveränderter Form im WHG enthalten. Die Vorschrift entspricht § 6 Abs. 2 des Regierungsentwurfes zum WHG59. Zur Begründung führten die Bundesregierung60 und der 2. Sonderausschuss WHG des Bundestages61 Billigkeitserwägungen an. Die Begründungserwägungen zum späteren § 4 Abs. 2 Nr. 3 WHG betonen übereinstimmend die Notwendigkeit einer kausalen Verknüpfung zwischen der Verhütungs- bzw. Ausgleichmaßnahme der öffentlichen Hand und der wasserrechtlichen Zulassung (Bewilligung oder Erlaubnis): Kann eine Wasserentnahme nur deshalb (und erst) erlaubt oder bewilligt werden, weil (und nachdem) von staatlicher oder kommunaler Seite die Erlaubnisoder Bewilligungsvoraussetzungen geschaffen werden, soll der Unternehmer an den Kosten dieser Maßnahme angemessen beteiligt werden62. Sowohl die landesrechtlichen Grundwasserabgaben als auch die bundesrechtlichen „Beiträge“ nach § 4 Abs. 2 Nr. 3 WHG bezwecken somit eine Abschöpfung der Vorteile, welche das begünstigte Unternehmen aus der Bewilligung bzw. Erlaubnis der Grundwasserentnahme zieht.
55 VGH Kassel, Beschluss vom 28. 09. 1976 – VN 3 / 75, NJW 1977, 452, 453 f.; OVG Münster, KStZ 1969, 160, 161; K. Vogel / H. Walter, in: BK zum GG, Art. 105 Rn. 138. M. Kloepfer, VerwArch. 74 (1983), S. 201, 218, leitet das Doppelbelastungsverbot aus dem Gebot der „Systemgerechtigkeit“ ab. 56 BVerfG, Urteil vom 19. 03. 2003 – 2 BvL 9 / 98 u. a., NVwZ 2003, 715, 717. 57 So ausdrücklich BVerfGE 93, 319, 346. 58 BGBl. I S. 1110. 59 Vgl. die Synopse in BT-Drs. II / 3536, S. 21. 60 BT-Drs. 2 / 2072, S. 23. 61 BT-Drs. II / 3653, S. 9. 62 BT-Dr. II / 3536, S. 9.
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c) Verwendung des Aufkommens aus der Grundwasserabgabe für grundwasserbezogene Schutz- und Vorsorgemaßnahmen Fließt das Aufkommen der Grundwasserabgabe nicht in den allgemeinen Landeshaushalt, sondern ist es nach der gesetzlichen Ausgestaltung zweckgebunden zu verwenden, nämlich für ökologische, insbesondere auch für grundwasserbezogene Schutz-, Sicherungs- und Verbesserungsmaßnahmen (§§ 1 Abs. 1; 6 Abs. 1 Satz 1 HGruwAG63), unterscheidet sich das landesrechtliche Grundwasserentnahmenentgelt auch hinsichtlich des Verwendungszwecks nicht vom Kosten-„Beitrag“ gemäß § 4 Abs. 2 Nr. 3 WHG. Zusammenfassend kann festgestellt werden: Durch die Erhebung von Kosten„Beiträgen“ nach § 4 Abs. 2 Nr. 3 WHG entsteht eine unzulässige Doppelbelastung derjenigen Schuldner, die – je nach landesgesetzlicher Ausgestaltung – zusätzlich Grundwasserabgaben zu entrichten haben. Dass es sich beim Wasserzins um eine Lenkungsabgabe zur Verringerung des Wassergebrauchs handelt, während der „Beitrag“ i. S. d. § 4 Abs. 2 Nr. 3 WHG allein der Finanzierung von Abwehrmaßnahmen diene, überzeugt nicht. Mit beiden Geldleistungsforderungen schöpft die öffentliche Hand Vorteile ab, die der Inhaber einer wasserrechtlichen Zulassung aus dem Recht zur Grundwassernutzung zieht. Es handelt sich um Gegenleistungen „für eine individuell zurechenbare öffentliche Leistung, die Eröffnung der Möglichkeit der Wasserentnahme“64. Landesgesetzliche Zweckbestimmungen (wie die des § 6 Abs. 1 Satz 1 HGruwAG) führen dazu, dass die Erhebung von Beiträgen i. S. d. § 4 Abs. 2 Nr. 3 WHG eine Doppelbelastung bewirkt, die nach steuerund abgabenrechtlichen Grundsätzen unzulässig ist.
d) Parallele: Gleichzeitige Erhebung einer Abwasserabgabe und eines „Beitrags“ nach § 4 Abs. 2 Nr. 3 WHG Eine Parallele zur Erhebung von Abwasserabgaben für das Einleiten von Abwasser in Gewässer bestätigt dieses Ergebnis: Es ist allgemein anerkannt, dass daneben die Auferlegung von „Beiträgen“ nach § 4 Abs. 2 Nr. 3 WHG nicht in Betracht kommt65. Weil das Aufkommen der Abwasserabgabe zweckgebunden für Maßnahmen zur Erhaltung oder Verbesserung der Gewässergüte zu verwenden ist (§ 13 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 Abwasserabgabengesetz – AbwAG), bleibt für die nochmalige Heranziehung von Einleitern zu Kosten vergleichbarer Maßnahmen, die auf der Grundlage des § 4 Abs. 2 Nr. 3 WHG durchgeführt werden, kein Raum. 63 Vgl. auch BVerfGE 93, 319, 348. Erfasst werden insbesondere auch Grundwassersanierungen durch Infiltrationsmaßnahmen (vgl. die Begründung des Gesetzentwurfs des HGruwAG, LT-Drs. 13 / 1915, S. 7 f.; H. Thieme / O. Moufang, ZfW 1997, 73, 78). 64 BVerfGE 93, 319, 346. 65 H. Thieme / O. Moufang, ZfW 1997, 73, 77 f.; M. Czychowski / M. Reinhardt, WHG, § 4 Rn. 93 m. w. N.
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Darin liegt eine unzulässige Doppelbelastung. Für das Zusammentreffen von landesrechtlichen Grundwasserabgaben mit „Beiträgen“ nach § 4 Abs. 2 Nr. 3 WHG kann nichts anderes gelten66.
e) Sperrwirkung der obligatorischen landesrechtlichen Grundwasserabgabe gegenüber der im Ermessen der Behörde stehenden Geldleistungsauflage Neben die materiell unzumutbare Belastungskumulation tritt für betroffene Unternehmen eine weitere, aus der grundgesetzlichen Verteilung der Gesetzgebungskompetenzen abgeleitete Erwägung. Sie bestätigt das Ergebnis, dass das Nebeneinander von landesgesetzlichen (hessischen) Grundwasserabgaben und bundesgesetzlichen „Beiträgen“ nach § 4 Abs. 2 Nr. 3 WHG rechtswidrig ist: Nach der Rechtsprechung des BVerwG67 ist für eine ermessensgeleitete behördliche Entscheidung nach dem bundesrechtlichen § 4 Abs. 2 Nr. 3 WHG kein Raum, wenn der Landes-Gesetzgeber die materielle Kostentragung für die Gewässerbenutzung verbindlich geregelt hat. Das Urteil des BVerwG betraf die Abwasserbeseitigung auf der Basis von §§ 18a Abs. 2 und 3 WHG (Abwasserbeseitigungspläne); hierfür haben die Länder teilweise finanzielle Ausgleichspflichten normiert68. Das BVerwG betont, für eine ermessensbezogene Entscheidung nach § 4 Abs. 2 Nr. 3 WHG bestehe „weder Möglichkeit noch Notwendigkeit“, wenn der Landesgesetzgeber von seiner Kompetenz zur Regelung der materiellen Kostentragung Gebrauch mache. Dies folge vor allem aus dem Charakter der WHG als bloßes Rahmengesetz des Bundes (Art. 75 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 GG)69. Dieser Grundsatz ist auf das Grundwasserentnahmeentgelt, das von einzelnen Ländern auf landesgesetzlicher Grundlage erhoben wird, übertragbar. Das WHG schließt als Rahmengesetz einen solchen „Wasserzins“ durch Landesgesetz nicht aus70, sondern wollte im Gegenteil die Befugnis zur Erhebung von Wassernutzungsentgelten bei den Ländern lassen. Machen die Länder von dieser Befugnis Gebrauch und wird die landesrechtliche Abgabe für eine konkrete Benutzung erhoben, sind kumulativ auferlegte Geldleistungspflichten nach § 4 Abs. 2 Nr. 3 WHG So jetzt auch L. Knopp, in: F. Sieder / H. Zeitler / H. Dahme, WHG, § 4 Rn. 22 a. E. BVerwG, Urteil vom 13. 09. 1985 – 4 C 47 / 82, NVwZ 1986, 204, 205; vgl. dazu auch das Berufungsurteil des OVG Münster, NuR 1982, 158. 68 Ausführlich zu § 55 Abs. 2 vgl. etwa LWG NRW M. Reinhardt, Die Festsetzung pauschaler Ausgleichszahlungen für besondere Maßnahmen der Abwasserbeseitigung in Nordrhein-Westfalen, Jahrbuch des Umwelt- und Technikrechts 2002 (UTR 62), S. 171 ff. 69 BVerwG, NVwZ 1986, 204, 205. Für den Vorrang der bundesrechtlichen Regelung des § 4 Abs. 2 Nr. 3 WHG spricht unter Gesichtspunkten der Normkonkurrenz allenfalls der „Grundsatz der zeitlichen Priorität“. Dieser Grundsatz könne freilich – so das BVerwG – bei der vorliegenden Normkollision nicht den Ausschlag geben. 70 BVerfGE 93, 319, 341. 66 67
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ermessensfehlerhaft. Eine solche Ermessensausübung ignorierte die bereits vom Landesgesetzgeber getroffene Entscheidung für eine obligatorische – bei Vorliegen der tatbestandlichen Voraussetzungen zwingend zu erhebende – Grundwasserabgabe. IV. Zusammenfassung Festzuhalten ist demnach: 1. Gesetzliche Regelungen, die zu behördlichen Geldleistungsauflagen ermächtigen, sind gemessen am rechtsstaatlichen Bestimmtheitsgebot generell problematisch. Solchen Geldleistungspflichten, deren Auferlegung in das Ermessen der Behörden gestellt ist, fehlt a priori die Tatbestandsmäßigkeit, mit der die Berechenbarkeit des staatlichen Handelns im Bereich der finanziellen Heranziehung von Grundrechtsträger sichergestellt wird. 2. Konkret § 4 Abs. 2 Nr. 3 WHG hält wegen der Vielzahl der unbestimmten Rechtsbegriffe den verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Bestimmtheit einer Eingriffsnorm nicht stand. 3. Jedenfalls bedarf die signifikante wasserrechtliche Abgaben- und Kostenkumulation eines Korrektivs. Werden die durch die Erteilung wasserrechtlicher Erlaubnisse und Bewilligungen gewährten Vorteile mehrfach abgeschöpft, etwa weil neben dem Grundwasserentnahmeentgelt noch zusätzlich „Beiträge“ gemäß § 4 Abs. 2 Nr. 3 WHG erhoben werden, ist diese finanzielle Doppelbelastung verfassungswidrig. 4. Ob das Verbot der Doppelbelastung die Erhebung von „Beiträgen“ nach § 4 Abs. 2 Nr. 3 WHG neben den landesrechtlichen Grundwasserabgaben bereits tatbestandlich ausschließt oder ob die Existenz von Grundwasserabgabenbescheiden sich erst auf der Rechtsfolgenseite der Norm auswirkt, muss nicht abschließend entschieden werden. Die kumulative Heranziehung von Unternehmen, die jährlich erhebliche Grundwasserabgaben entrichten, zu „Beiträgen“ nach § 4 Abs. 2 Nr. 3 WHG wäre jedenfalls ermessensfehlerhaft, da die (Freiheits-)Grundrechte i.V.m. dem Übermaßverbot sowie der allgemeine Gleichheitssatz anerkanntermaßen ermessensbegrenzend wirken. 5. Zumindest ermessensbegrenzend wirkt schließlich im Bereich der Grundwasserentnahmen der Vorrang der – landesgesetzlich abschließend geregelten – Grundwasserabgaben, wenn deren Aufkommen zweckgebunden (zumindest auch) für grundwasserbezogene Schutz- und Vorsorgemaßnahmen zu verwenden ist.
Wirtschaftsverfassung in der Wirtschaftsordnung der Gegenwart* Von Hans-Jürgen Papier
I. Die grundgesetzliche Wirtschaftsverfassung im Europäischen Binnenmarkt Das für das Selbstverständnis der deutschen Gesellschaft prägende Modell der sozialen Marktwirtschaft befindet sich seit Jahren in der Krise. Altbewährte soziale Sicherungsmechanismen werden nunmehr vielfach als Hemmnis für den Standort Deutschland angesehen1, der Staat vermag seine Umverteilungsaufgaben mit dem überkommenen Instrumentarium kaum mehr zu bewältigen, so dass der Begriff des „sozialen Rechtsstaates“ derzeit einem Bedeutungswandel zu unterliegen scheint.2 Dieser Wandlungsprozess hat auch eine europäische Komponente: Spätestens seit der Einführung des Euro steht auch die Sozialpolitik der Mitgliedstaaten im gemeinschaftsweiten Wettbewerb, so dass sich u. a. der Druck auf die Alterssicherungssysteme erhöht.3 Auch der bisherige verfassungsrechtliche Diskurs um die Wirtschaftsverfassung gewinnt durch die neuen gemeinschaftsrechtlichen Rahmenbedingungen eine neue Dimension, die bisweilen an den Prozess der deutschen Wiedervereinigung erinnern mag. Hatte die vormalige DDR etwa auf ihrem Weg zur Wirtschafts- und Währungsunion mit der Bundesrepublik die Stellung ihrer Staatsbank an die Strukturen des Grundgesetzes anzugleichen4, was damals manchen als eine Art Rechtskolonialismus erschien5, so wird heute die verfas* Meinem Assistenten Dr. Dr. Wolfgang Durner danke ich für die Hilfe bei der Vorbereitung des Manuskripts. 1 Vgl. die Beobachtungen bei Siems, Der Neoliberalismus als Modell für die Gesetzgebung?, ZRP 2002, S. 170 ff. 2 Dazu Pitschas, Der „neue“ soziale Rechtsstaat – Vom Wandel der Arbeits- und Sozialverfassung des Grundgesetzes, in: Verfassung, Theorie und Praxis des Sozialstaats, FS Hans F. Zacher, 1998, S. 755 ff.; Thuy, Sozialstaatsprinzip und Marktwirtschaft, 1999; Aktuelle Beiträge zu verschiedenen Einzelaspekten der Krise des Sozialstaats von Oberender / Ruckdäschel, Daumann, Rürup, Schuberth, Pfahler und Tiepelmann / van der Beek finden sich in Söllner / Wilfert (Hrsg.), Die Zukunft des Sozial- und Steuerstaates, FS Dieter Fricke, 2001, S. 228 ff. 3 Ruland, Der EURO und die deutsche und europäische Sozialpolitik, NZS 1998, S. 209, 217 ff. 4 Vgl. Zöller, Das neue Gesetz über die Staatsbank der DDR, DTZ 1990, S. 75 ff.
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sungsrechtliche Stellung der Bundesbank nicht mehr isoliert nach dem Maßstab des Grundgesetzes, sondern unter dem Gesichtspunkt der Unabhängigkeit der Zentralbank nach Art. 107 EGV behandelt.6 Auch die Wirtschaftsverfassung und das Modell der sozialen Marktwirtschaft werden damit zum Gegenstand eines umfassenden Austauschsystems von „Rechtsexport und Rechtsimport“.7 Auf gemeinschaftsrechtlicher Ebene wird man angesichts der wirtschaftspolitischen Zielbestimmungen oder der Vorgaben über die Förderung von Wettbewerb und Wettbewerbsfähigkeit in Art. 2, 3, 4, 98 und 157 EGV das Leitbild einer marktwirtschaftlichen Ordnung zu entnehmen haben. Art. 3 EGV etwa sieht die Schaffung eines Binnenmarktes, der durch die Beseitigung der Hemmnisse für den freien Waren-, Personen-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehr zwischen den Mitgliedsstaaten gekennzeichnet ist, sowie gemeinsame Politiken u. a. in den Bereichen des Handels, der Landwirtschaft und des Verkehrs, ein System zum Schutze des Wettbewerbs, eine Sozialpolitik und eine Politik auf dem Gebiet der Umwelt vor. In Art. 4 EGV ist die Einführung einer Wirtschaftspolitik vorgesehen, „die auf einer engen Koordinierung der Wirtschaftspolitik der Mitgliedsstaaten, dem Binnenmarkt und der Festlegung gemeinsamer Ziele beruht und dem Grundsatz einer offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb verpflichtet ist“.8 Dass allerdings trotz dieser Vorgaben die wirtschaftspolitische Rolle der nationalen Verfassungen noch lange nicht ausgespielt ist, mag etwa die Verankerung des Prinzips der sozialen Marktwirtschaft in Art. 38 ThürVerf verdeutlichen.9 Auch die grundgesetzlichen Vorgaben zur Wirtschaftsordnung haben nicht nur im Wege des „Rechtsexports“ in vielen Punkten – beispielsweise bei der Frage der Zentralbankautonomie – einen Modellcharakter für die Ausbildung entsprechender gemeinschaftsrechtlicher Strukturen übernommen, sondern definieren auch weiterhin Grenzen für die weiteren Entwicklungen der Europäischen Integration. Denn die „Integrationsnorm“ des Art. 23 Abs. 1 GG ermächtigt den Gesetzgeber nicht zum 5 Zu diesen Akzeptanzproblemen der deutschen Rechtseinheit Jauernig, „Übergestülptes Recht?“ Zur Rechts- und Bewußtseinslage nach dem Einigungsvertrag, NJW 1997, S. 2705 ff. 6 Dazu Häde, in: Calliess / Ruffert (Hrsg.), Kommentar zu EU-Vertrag und EG-Vertrag, 2. Aufl. 2002, Art. 107 Rn. 6 ff.; Potacs, in: Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar, 2000, Art. 107 EGV Rn. 1 f.; Sodan, Die funktionelle Unabhängigkeit der Zentralbanken, NJW 1999, S. 1521 ff. 7 Vgl. v. Münch, Rechtsexport und Rechtsimport, NJW 1994, S. 3145 ff. 8 So etwa Schmidt, Staatliche Verantwortung für die Wirtschaft, in: Isensee / Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. III, 1988, § 83 Rn. 26 ff.; Stober, Allgemeines Wirtschaftsverwaltungsrecht, 1998, S. 75 f.; Tettinger, Verfassungsrecht und Wirtschaftsordnung – Gedanken zur Freiheitsentfaltung am Wirtschaftsstandort Deutschland –, DVBl. 1999, S. 679, 680 ff.; differenzierend Siems, Der Neoliberalismus als Modell für die Gesetzgebung? ZRP 2002, S. 170, 172 f., der darauf hinweist, dass etwa den Regelungen über die Agrarwirtschaft in der Europäischen Union ein durchaus regulierender Ansatz zugrunde liegt. 9 Dazu Neumann, Staatsziele in der Verfassung des Freistaates Thüringen, LKV 1996, S. 392, 395.
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beliebigen „Ausstieg aus der Verfassung“ und kann nicht dazu berechtigen, die essentiellen, die Identität der geltenden Verfassung betreffenden Strukturen des Grundgesetzes aufzuheben. In ihnen finden daher auch das Gemeinschaftsrecht und die Gemeinschaftsgewalt ihre Schranken10. Art. 23 Abs. 1 Satz 3 bringt das mit der expliziten Verweisung auf die Grenzen des Art. 79 Abs. 3 besonders zum Ausdruck. Damit behält die deutsche Wirtschaftsverfassung auch gegenüber dem Gemeinschaftsrecht weiterhin erhebliche Relevanz. Ihre Vorgaben zeichnen sich einerseits durch eine grundsätzliche wirtschaftspolitische Neutralität, andererseits jedoch durch eine Reihe relevanter Grundaussagen aus, die – insbesondere im Bereich der grundrechtlichen Bindungen – den gesetzgeberischen Spielraum bei der Gestaltung der Wirtschaftsordnung nicht unerheblich einschränken.
II. Die „Wirtschaftspolitische Neutralität“ des Grundgesetzes 1. Die Neutralitätsthese des Bundesverfassungsgerichts „Das Grundgesetz enthält keine unmittelbare Festlegung und Gewährleistung einer bestimmten Wirtschaftsordnung“. Es überlässt die Ordnung der Wirtschaft „vielmehr dem Gesetzgeber, der hierüber innerhalb der ihm durch das Grundgesetz gezogenen Grenzen frei zu entscheiden hat, ohne dazu einer weiteren als seiner allgemeinen demokratischen Legitimation zu bedürfen“. Diese im Mitbestimmungs-Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 1. März 197911 getroffene Feststellung wiederholt bzw. konkretisiert die in der deutschen Staatsrechtslehre vorherrschende Grundannahme einer „wirtschaftspolitischen Neutralität“ des Grundgesetzes12. Auch in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bringt sie 10 BVerfGE 37, 279 ff.; 58, 1 (40); 73, 339 (375); Frowein, in: Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz, Bd. 2, 1976, S. 187 (202). 11 BVerfGE 50, 290 (337). 12 Vgl. dazu etwa Depenheuer, in: von Mangoldt / Klein / Starck (Hrsg.), Das Bonner Grundgesetz, Bd. 1, 4. Aufl. 1999, Art. 15 Rn. 2 f.; Krüger, Staatsverfassung und Wirtschaftsverfassung, in: Scheuner (Hrsg.), Die staatliche Einwirkung auf die Wirtschaft, 1971, S. 125 ff.; Scheuner, ebd., Einleitung, S. 29; Zacher, Aufgaben einer Theorie der Wirtschaftsverfassung, ebd., S. 549 (558 ff.); Ehmke, Wirtschaft und Verfassung, 1961, S. 18 ff.; Badura, Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu den verfassungsrechtlichen Grenzen wirtschaftspolitischer Gesetzgebung im sozialen Rechtsstaat, AöR 92 (1967), S. 382 ff.; ders., Grundprobleme des Wirtschaftsverfassungsrechts, JuS 1976, S. 205 ff.; Schmidt, Staatliche Verantwortung für die Wirtschaft, in: Isensee / Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. III, 1988, § 83 Rn. 22 ff.; Scholz, Paritätische Mitbestimmung und Grundgesetz, 1974, S. 31 ff.; Kriele, Einführung in die Staatslehre, 5. Aufl. 1994, S. 177 ff.; ders., Wirtschaftsfreiheit und Grundgesetz, ZRP 1974, S. 105 ff.; Benda, Gerechte Wirtschafts- und Wettbewerbsordnung, in: Gemper, Marktwirtschaft und soziale Verantwortung, 1973, S. 185 ff.; E. R. Huber, Wirtschaftsverwaltungsrecht, 2. Aufl., Bd. 1, 1953, S. 23 ff.; Papier, Staatliche Eigentumsgarantie und die Sozialbindung des Eigentums, in: Dichmann / Fels, Gesellschaftliche und ökonomische Funktionen des Privateigentums, 1993, S. 92 (106 ff.). Gegenpositionen etwa bei Kläver, Die Verfassung des Marktes, 2000; Nipper-
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ein Kontinuum zum Ausdruck: Bereits in seinem Urteil über die Verfassungsmäßigkeit des Investitionshilfegesetzes vom 20. Juli 195413 hat das Bundesverfassungsgericht auf die „wirtschaftspolitische Neutralität“ des Grundgesetzes verwiesen, die es dem Gesetzgeber erlaube, jede ihm sachgemäß erscheinende Wirtschaftspolitik zu verfolgen, sofern er dabei das Grundgesetz, insbesondere die Grundrechte, beachte14. Das Bundesverfassungsgericht ist damit von Anfang an allen Versuchen entgegengetreten, dem Grundgesetz eine für das Wirtschaftssystem konstituierende Entscheidung zu entnehmen, die in einer die Grundrechte „überhöhenden Objektivierung“ den Staat auf ein bestimmtes Ordnungsmodell verpflichtet. Das Gericht stellte sich dem Unterfangen entgegen, über einen wirtschaftsverfassungsrechtlichen Systementwurf des Grundgesetzes den Staat auf ein spezifisches Koordinationssystem nationalökonomischer Lehren und auf die Sicherung bzw. Durchsetzung ihrer Vorstellungen über die optimale bzw. richtige Ordnungspolitik festzulegen. In concreto sind Maßnahmen staatlicher Wirtschaftspolitik nicht unter dem Gesichtspunkt einer Marktkonformität15 und gesetzliche Mitbestimmungsregelungen und Unternehmensverfassungen nicht nach Maßgabe eines „institutionellen Zusammenhangs der Wirtschaftsverfassung“16 oder gar in Hinsicht auf ihre „Prinzipientreue“ zur Wettbewerbsordnung verfassungsgerichtlich überprüft worden.
2. Die wirtschaftspolitische Zurückhaltung des Grundgesetzes Im Unterschied zur Weimarer Verfassung (Art. 151 – 165) enthält das Grundgesetz keinen ausdrücklichen Regelungskomplex über die Wirtschafts- und Sozialverfassung, was zur Stützung der Neutralitätsthese stets angeführt worden ist17. Im Parlamentarischen Rat stand der Gedanke im Vordergrund, „dass nur die klassischen Grundrechte aufgenommen werden könnten“, „die Regelung der Sozialordnung aber der Zukunft überlassen werden müsse“ (v. Mangoldt18). Der Verfasdey, Soziale Marktwirtschaft und Grundgesetz, 3. Aufl. 1965; Sodan, Vorrang der Privatheit als Prinzip der Wirtschaftsverfassung, DÖV 2000, S. 361 ff. 13 BVerfGE 4, 7 (17 / 8). 14 Siehe auch BVerfGE 7, 337 (400); 14, 19 (23); 30, 292 (315). 15 Siehe demgegenüber Nipperdey (Fn. 12); Nipperdey / Weise, Freie Entfaltung der Persönlichkeit, in: Bettermann / Nipperdey / Scheuner, Die Grundrechte IV / 2, 2. Aufl. 1972, S. 741 (870 ff.): grundgesetzliche Gewährleistung der „sozialen Marktwirtschaft“. 16 Vgl. aber Rupp, Grundgesetz und „Wirtschaftsverfassung“, 1974; Badura / Rittner / Rüthers, Mitbestimmungsgesetz 1976 und Grundgesetz, 1977, S. 248 ff.; Papier, Unternehmen und Unternehmer in der verfassungrechtlichen Ordnung der Wirtschaft, in: VVDStRL Bd. 35 (1977), S. 55 (74 ff.). 17 Siehe etwa BVerfGE 50, 337; Abelshauser, Sozialstaatspostulat und ordnungspolitische Neutralität – Erfahrungen mit der Wirtschafts- und Sozialordnung des Grundgesetzes, in: Detjen (Hrsg.), In bester Verfassung? 50 Jahre Grundgesetz, 1999, S. 178 ff.
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sungsgeber des Jahres 1949 ging davon aus, mit dem Grundgesetz nur eine provisorische Verfassung zu konstituieren. Die verfassungsrechtliche Festlegung der Wirtschafts- und Sozialverfassung des deutschen Volkes sollte einer künftigen gesamtdeutschen Verfassung vorbehalten bleiben; jener wollte man nicht vorgreifen. Für den Entschluss der Verfassungsväter, allein die „klassischen Freiheitsrechte“ zu gewährleisten, war außerdem der Wille maßgeblich, nicht Programmsätze und Verfassungsaufträge, sondern unmittelbar geltendes und vollziehbares Recht zu schaffen19. Die Zurückhaltung des Grundgesetzgebers in Bezug auf die Wirtschafts- und Sozialverfassung bedeutete sowohl einen Vorbehalt zugunsten einer künftigen gesamtdeutschen Verfassungsgesetzgebung als auch einen (vorläufigen) Verzicht auf die Normierung wirtschaftsordnender Handlungspflichten des Staates. Das Schweigen des Verfassungsgesetzgebers in der Frage der Wirtschaftsverfassung betrifft eine „Wirtschaftsverfassung“ in dem traditionellen aggressiv-gestalterischen Sinne20. In diesem, etwa in Art. 165 WV verkörperten Sinngehalt manifestiert die Wirtschaftsverfassung einen staatlich-politischen Gestaltungswillen und Gestaltungsauftrag in Bezug auf die privatautonomen Vorgänge des Wirtschaftens. Die Enthaltsamkeit des Grundgesetzes in Fragen eines staatlichen Gestaltungsauftrages zur Wirtschaftsverfassung kann damit keinesfalls in eine reduzierte Garantiewirkung der Freiheitsrechte umgedeutet werden, soweit der einfache Gesetzgeber Fragen der Wirtschafts- und Sozialverfassung regelt und dabei Grundrechtseingriffe vornimmt21. Die unbestreitbare Feststellung, dass im Grundgesetz eine ausdrücklich vorgenommene Grundentscheidung für einen bestimmten Typus der Wirtschaftskoordination fehle, dass eine explizite Verpflichtung zur Institutionalisierung einer bestimmten Wirtschaftsverfassung unterblieben sei, darf mit anderen Worten nicht von der Aufgabe ablenken, die Funktionalität und Effektivität der individual-personalen Freiheitsrechte auch auf ökonomischem Gebiet zu sichern22. Der Verzicht auf die Normierung verfassungsrechtlicher Gebote für eine spezifische Wirtschafts- und Sozialordnung bedeutet mithin keinesfalls die Schaffung eines grundrechtsfreien oder grundrechtsverdünnten Raumes bei einfach-gesetzlicher (Um-)Gestaltung der bestehenden Wirtschafts- und Sozialordnung.
18 Das Bonner Grundgesetz, 1953, Art. 12 Anm. 3; siehe auch v. Mangoldt, Grundrechte und Grundsatzfragen des Bonner Grundgesetzes, AöR 75 (1949), S. 275. 19 Siehe auch Zweigert, Die Neutralität des Grundgesetzes gegenüber der paritätischen Mitbestimmung, in: Mitbestimmung, Wirtschaftsordnung, Grundgesetz, Protokoll der Wissenschaftlichen Konferenz des Deutschen Gewerkschaftsbunds vom 1. bis 3. Oktober 1975 in Frankfurt am Main, 1976, S. 205 (214); Papier, Zur Verfassungsmäßigkeit der paritätischen Mitbestimmung unter historischen und entstehungszeitlichen Aspekten, AG 1978, S. 291. 20 Badura, Grundprobleme des Wirtschaftsverfassungsrechts, JuS 1976, S. 205 (206). 21 Siehe auch Papier (Fn. 19), S. 291 ff. 22 Papier, Das Mitbestimmungsurteil des Bundesverfassungsgerichts, ZGR 1979, S. 444 (458); ders. (Fn. 12), S. 106 ff.
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III. Wirtschaftsordnungen in Theorie und Praxis Die Wirtschaftsordnung der Bundesrepublik ist entscheidend mitgeprägt worden von den Vorstellungen des Neo- oder Ordoliberalismus, für den eine Verkehrswirtschaft nur in der Form einer Wettbewerbswirtschaft wirtschafts- und sozialpolitisch vertretbar ist23. Nach dieser Auffassung setzt die Verkehrswirtschaft nicht nur ein bestimmtes Rechtssystem voraus, wie etwa die Eigentumsfreiheit, die Berufs- und Gewerbefreiheit, die Gesellschaftsfreiheit, die Vertragsfreiheit und die Freizügigkeit. Ein volkswirtschaftlich sinnvolles Einspielen der individuellen Wirtschaftspläne kann überdies nur bei funktionierenden Wettbewerbsmärkten erwartet werden. Ohne funktionierende Wettbewerbsmärkte büßt das Preissystem seine volkswirtschaftliche Orientierungskraft ein. Gewinn und Verlust eines Unternehmens sind dann keine Indizien für volkswirtschaftlich richtiges oder falsches Verhalten mehr. Staatliche Kartellgesetzgebung und Kartellaufsicht, Fusionskontrolle und Missbrauchsaufsicht bei eingetretener Marktbeherrschung sind die signifikanten normativen Konsequenzen oder doch die Postulate jener ordnungspolitischen Grundkonzeption. Bereits zwei Jahrzehnte nach Inkrafttreten des Grundgesetzes gewannen jedoch in der realen Wirtschaftsordnung der Bundesrepublik die Elemente einer global gesteuerten und tendenziell sozialpolitisch dirigierten Marktwirtschaft an Bedeutung. Ausdruck dieses Prozesses war u. a. die mit Änderungsgesetz vom 8. Juni 196724 eingefügte Verfassungsvorschrift des Art. 109 Abs. 2 GG, die Bund und Länder bei ihrer Haushaltswirtschaft auf die Erfordernisse des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts festlegt, sowie das auf der Grundlage des Art. 109 Abs. 4 GG erlassene Gesetz zur Förderung der Stabilität des Wachstums der Wirtschaft (Stabilitätsgesetz) vom selben Tage25. Nach Art. 1 Abs. 3 des Vertrages über die Schaffung einer Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik26 ist die Grundlage der Wirtschaftsunion die „soziale Marktwirtschaft als gemeinsame Wirtschaftsordnung beider Vertragsparteien“. Nach der Präambel des Vertrages ist es der gemeinsame Wille der vertragsschließenden Seiten, „die soziale Marktwirtschaft als Grundlage für die weitere wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung mit sozialem Ausgleich und sozialer Absicherung und Verantwortung gegenüber der Umwelt auch in der Demokratischen Republik einzuführen“.
23 Siehe etwa Böhm, Die Bedeutung der Wirtschaftsordnung für die politische Verfassung, Süddeutsche Juristenzeitung 1946, S. 141 ff.; ders., Eine Kampfansage an Ordnungstheorie und Ordnungspolitik, in: ORDO Bd. XXIV, S. 11 ff.; Eucken, Die Grundlagen der Nationalökonomie, 9. Aufl. 1989, S. 52 ff.; vgl. auch Rittner, Wirtschaftsrecht, 2. Aufl. 1987, § 3 Rn. 1 ff. 24 BGBl. I 1967 S. 581. 25 BGBl. I 1967 S. 582. 26 BGBl. II 1990, S. 537; BGBl. I 1990, S. 332.
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Ansätze für eine intensivere staatliche Planung in der Marktwirtschaft waren auch in der Bundesrepublik immer wieder diskutiert worden27, konnten jedoch keine Realisierung finden. Diese Ansätze waren auf einen „dritten Weg“ zwischen Markt und Lenkung hin konzipiert, der auf indikativen Lenkungsansätzen beruhen sollte . Der Staat steht theoretisch offensichtlich vor der Alternative, entweder seine Planungen unter Aufhebung der unternehmerischen Privatautonomie durchzusetzen – den Praxistest hat dieses Modell trotz des jahrzehntelang währenden Versuchs seiner mehr oder weniger gewaltsamen Durchsetzung ersichtlich nicht bestanden – oder aber seine Planungen den privatautonom gebildeten Unternehmerstrategien anzupassen und damit letztlich auf eine eigene umfassende Planungskompetenz in Ansehung der Volkswirtschaft zu verzichten28. Immerhin wird die globalgesteuerte und sozialstaatlich eingebundene Marktwirtschaft der Bundesrepublik Deutschland seit dieser Zeit durch einen „Superfiskalismus“29 geprägt: Die Staatsquote, d. h. die Relation der öffentlichen Ausgaben zum Bruttosozialprodukt, war in der Bundesrepublik von rund 39 % im Jahre 1970 auf fast 50 % im Jahre 1982 gestiegen und wird nach einer gewissen Abflachung in den 80er Jahren (1990: 44 %)30 seit Beginn der 90er Jahre wieder bei der 50 %-Marke angesiedelt31. Auch dieser Umstand rechtfertigt die Feststellung, dass die reale Wirtschaftsordnung der Bundesrepublik nur noch als ein Mischsystem bezeichnet werden kann, das auf der Grundlage dezentraler und privatautonomer Wirtschaftsplanung von gewissen zentralplanwirtschaftlichen Elementen und intensiven staatlichen Wirtschaftsaktivitäten durchaus überlagert wird.
27 Siehe den Zweiten Entwurf eines ökonomisch-politischen Orientierungsrahmens der SPD für die Jahre 1975 – 1985, S. 33 f.; Noé, Selektive Angebotssteuerung in der Marktwirtschaft, in: Die neue Gesellschaft 7 / 1974, S. 541 ff.; Ehrenberg, Zwischen Marx und Markt, 1974, S. 53; weitere Stellungnahmen bei Issing, Investitionslenkung in der Marktwirtschaft?, 1975; rückblickend zu diesen Debatten auch Abelshauser, Sozialstaatspostulat und ordnungspolitische Neutralität – Erfahrungen mit der Wirtschafts- und Sozialordnung des Grundgesetzes, in: Detjen (Hrsg.), In bester Verfassung? 50 Jahre Grundgesetz, 1999, S. 178, 182 ff. 28 Siehe Lutz, Zentrale Planung in der Marktwirtschaft, 1974, insbes. S. 152; Steger, Alternative Konzepte der Investitionsplanung, in: Jahrbuch für Sozialwissenschaft, Bd. 26 (1975), S. 71 ff. (91, 101); Zinn, Investionskontrolle und -planung, Wirtschaftsdienst, Juni 1973, S. 304 f.; Issing (Fn. 27), S. 24 ff.; v. Hayek, FAZ vom 6. März 1976, S. 13; Scholz, Grenzen staatlicher Aktivität unter der grundgesetzlichen Wirtschaftsverfassung, in: Duwendag (Hrsg.), Der Staatssektor in der sozialen Marktwirtschaft, 1976, S. 113 (130); Müller-Armack, in: Pletzko (Hrsg.), Planung ohne Planwirtschaft, Frankfurter Gespräche der List-Gesellschaft, 1964, S. 42. 29 Röpke, Der moderne Fiskalstaat, Steuerberater-Jahrbuch 1965 / 66, S. 35 ff. 30 Siehe Borchert, Grundsatzfragen der Haushaltspolitik, in: Rose / Faltlhauser (Hrsg.), Die Haushälter, 1990, S. 14 ff. 31 Bundesfinanzministerium, zit. Die Zeit v. 13. 3. 1992, Nr. 12, S. 40.
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IV. Wirtschaftsverfassungsrechtliche Grundaussagen des Grundgesetzes 1. Die Grundrechte der Verfassung als wirtschaftpolitische Determinanten Das Grundgesetz garantiert das Privateigentum einschließlich des unternehmensbestimmten Eigentums und seiner ökonomischen Nutzbarkeit (Art. 14 GG). Es gewährt Berufs- und damit auch Gewerbe- und Unternehmerfreiheit sowie das Recht der freien Wahl des Arbeitsplatzes und der Ausbildungsstätte (Art. 12 Abs. 1 Satz 1 GG), ferner das Recht, an jedem Ort im Bundesgebiet Aufenthalt und Wohnung zu nehmen (Art. 11 Abs. 1 GG). Die Verfassung gewährt allen Deutschen überdies das Recht der Gründung von Handelsgesellschaften sozietärer und korporativer Art, das Recht der Betätigung in solchen Vereinigungen, des Austritts, der Auflösung und des Fernbleibens von Korporationen (Art. 9 Abs. 1 GG). Die Freiheit des Abschlusses von Verträgen und der autonomen Vertragsinhaltsbestimmung ist, sofern nicht spezielle Garantien wie Art. 12 Abs. 1, 9 Abs. 1 und 3 oder Art. 14 Abs. 1 GG betroffen sind, Bestandteil der in Art. 2 Abs. 1 GG gewährleisteten allgemeinen Handlungsfreiheit. Schließlich eröffnet Art. 9 Abs. 3 GG das Recht, Koalitionen zu gründen, ihnen beizutreten oder fernzubleiben und über die Koalitionen die Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen in einer Ordnung der sozialen Selbstverwaltung privatautonom festzulegen. Auf der Grundlage eines solchermaßen freiheitsrechtlich ausgestatteten Verfassungsgesetzes kann eine Wirtschaftsordnung weder entstehen noch durch politischen Entscheid konstituiert werden, welche die Koordinationsfrage der Volkswirtschaft prinzipiell durch ein Zentralverwaltungssystem und ein System imperativer und zentralisierter Staatsplanung lösen will32. 2. Grundrechtliche Unzulässigkeit einer Zentralverwaltungswirtschaft Das Grundgesetz ist also im Hinblick auf die politische Grundentscheidung über das Koordinationssystem der Wirtschaft nicht in dem Sinne neutral, dass die von 32 Siehe Papier (Fn. 16), S. 75 ff.; ders., Wirtschaftsreformen in Mittel- und Osteuropa – Verfassungsprobleme und Eigentumsordnung, in: Mittel- und Osteuropa im marktwirtschaftlichen Umbruch, FIW-Schriftenreihe Heft 142 (1991), S. 23 ff.; ders. (Fn. 12), S. 106 ff.; Schmidt, Staatliche Verantwortung für die Wirtschaft, in: Isensee / Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. III, 1988, § 83 Rn. 24 ff.; Scholz (Fn. 12), S. 37 ff.; ders. (Fn. 28), S. 116 ff.; Rupp (Fn. 16), S. 5 ff., 22 f., 34 f.; Rüfner, Unternehmen und Unternehmer, DVBl. 1976, S. 691; Tettinger, Verfassungsrecht und Wirtschaftsordnung – Gedanken zur Freiheitsentfaltung am Wirtschaftsstandort Deutschland –, DVBl. 1999, S. 679, 683 ff.; Friauf, Eigentumsgarantie, Leistung und Freiheit im demokratischen Rechtsstaat, in: Gemper, Marktwirtschaft und soziale Verantwortung, 1973, S. 438 (450 f.); Badura, Eigentum im Verfassungsrecht der Gegenwart, 49. DJT, Bd. 2, 1972, S. T 24; Lutter, Unternehmensverfassung und Wettbewerbsordnung, BB 1975, S. 614.
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ihm vorgefundene bzw. die bisher gewachsene (gemischte) Wirtschaftsordnung in eine prinzipiell auf dem Koordinationstyp Zentralverwaltungs- oder Zentralplanwirtschaft gründende Ordnung umstrukturiert werden könnte. Die angeführten Freiheitsrechte stehen zwar unter in sich mannigfach abgestuften Regelungs- und Eingriffsvorbehalten zugunsten der einfachen Gesetzgebung und der von ihr gelenkten Exekutive. Für alle Grundrechte gilt aber die allgemeine Eingriffsschranke des Art. 19 Abs. 2 GG, nach der die Grundrechte in keinem Fall in ihrem Wesensgehalt angetastet werden dürfen, sowie das rechtsstaatlich begründete Übermaßverbot. Überdies gewährt Art. 14 Abs. 1 GG nicht nur eine Rechtsstellungsgarantie zugunsten des einzelnen Eigentümers; er garantiert auch das Privateigentum und das Erbrecht als Institute der Rechts- und Wirtschaftsordnung und begründet damit für den Gesetzgeber spezifische Einrichtungsbegründungs- und -erhaltungspflichten. Eine das unternehmensbestimmte Privateigentum prinzipiell abschaffende und negierende, alle wesentlichen ökonomischen Entscheidungen zentralisierende und damit die dezentrale-privatautonome Wirtschaftsplanung ausschließende Wirtschaftsordnung könnte die Institutsgarantie des Art. 14 Abs. 1 GG und den Wesensgehalt der genannten Freiheitsrechte nicht wahren. Das Grundgesetz enthält in den erwähnten Gewährleistungen keine spezifisch wirtschaftsbezogenen politischen Grundentscheide. Wesentlich ist allerdings, dass der allgemeine Grundrechtskatalog der Verfassung dem Einzelnen als Rechtsperson einen bestimmenden Anteil an der Sozial- und Wirtschaftsgestaltung eröffnet. Der Einzelne soll am sozialen und wirtschaftlichen Leben nicht nur zur „Abstimmung der Feinproportionen“ als „öffentlicher Planvollstrecker“, sondern eigenverantwortlich, autonom und (auch) mit privatnütziger Zielsetzung an der Gestaltung der Rechts-, Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung mitwirken. Dem Grundgesetz ist kein homogenes, von der Totalität des Staatshoheitsaktes, der staatlichen Richtigkeitsgewähr und allein oder vorrangig von den Belangen des öffentlichen Interesses geprägtes Gestaltungssystem inhärent. Die Eigentumsgarantie und die anderen Grundrechte des privatautonomen Handelns und der privatautonomen Teilhabe an der Wirtschaftsgestaltung schließen eine potentiell absolute Herrschaft des politischen Systems (auch) über die Wirtschaft aus33.
3. Die Bedeutung des Art. 15 GG Dies kann auch nicht über die Sozialisierungsermächtigung des Art. 15 GG infrage gestellt werden. Über diese Verfassungsvorschrift kann der Gestaltungsbereich des demokratischen Staates allenfalls erweitert werden. Ungeachtet des umstrittenen Inhalts des in Art. 15 GG verwendeten Produktionsmittelbegriffs34 kann diese Verfassungsvorschrift die ihm häufig zugedachte wirtschafts33 Papier (Fn. 16), S. 82 ff.; ders., Wirtschaftsreformen in Mittel- und Osteuropa – Verfassungsprobleme und Eigentumsordnung, in: Mittel- und Osteuropa im marktwirtschaftlichen Umbruch, FIW-Schriftenreihe Heft 142 (1991), S. 23 (26 f.).
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verfassungsrechtliche Konträrfunktion aus folgenden Gründen nicht einnehmen: Das Institut der Sozialisierung ist ebenso wie das der Enteignung schon wegen des Entschädigungsjunktims als ein Instrument zur Substitution individueller Rechtsbestandsgarantien durch eine „bloße“ Wertgarantie charakterisiert. Beide Verfassungsvorschriften, nämlich Art. 14 Abs. 3 und Art. 15 GG, relativieren damit allein den Schutz bestehender konkreter Rechtsstellungen und gestatten seine Ersetzung durch einen angemessenen finanziellen Ausgleich. Ebenso wie Art. 14 GG setzt auch Art. 15 GG das Fortbestehen von Eigentum als Einrichtung der Privatrechtsund Wirtschaftsordnung voraus. Sein zwingendes Entschädigungsgebot schließt nicht nur faktisch die Eigentumsinstitutsgarantie ablösende Sozialisierungen aus35. Art. 15 GG kann auch nicht zugleich die Berufsfreiheitsgarantie des Art. 12 Abs. 1 GG derogieren36. Das im Art. 15 GG zum Ausdruck kommende Prinzip eines relativen, d. h. substituierbaren Primärrechtsschutzes bezieht sich allein auf die Rechtsstellungsgarantie des Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG. Für die anderen Grundrechtsgarantien ist der Verfassung eine solche Relativität unbekannt. Eine Sozialisierung muss nämlich nicht notwendigerweise mit einer Monopolisierung oder Berufssperre zugunsten der öffentlichen Hand für alle oder einzelne Wirtschaftsbereiche verbunden sein. Es ist andererseits auch nicht ersichtlich, weshalb eine Monopolisierung von den Schranken des Art. 12 Abs. 1 GG freigestellt sein soll, wenn und weil sie zugleich unter Rückgriff auf Art. 15 GG auf bestehende Privatunternehmen Zugriff nimmt37.
4. Wirtschaftspolitik und Privatautonomie Der wirtschaftsverfassungsrechtliche Ordnungsrahmen ist implizit gesetzt, vielleicht nur reflexweise konstituiert. Er ist von einer prinzipiell verkehrswirtschaftlichen Koordination der Volkswirtschaft und von einer grundsätzlich privatautonomen Unternehmens- und Einzelwirtschaftsplanung geprägt. Es besteht daher eine gewisse Komplementarität zwischen allgemeiner freiheitsverbürgender Staatsverfassung und Wirtschaftsordnung. Diese Feststellung darf allerdings nicht dahin 34 Nach h. L. gilt ein enger Produktionsmittelbegriff, der nur die Herstellung und Gewinnung von Sachgütern betrifft und bei dem die Dienstleistungen aller Art ausgeklammert bleiben; s. Depenheuer (Fn. 12), Art. 15 Rn. 33 ff.; Maunz, in: Maunz / Dürig, Grundgesetz, Art. 15 Rn. 14 f.; Kimminich, in: Bonner Kommentar, Zweitbearbeitung 1965, Art. 15 Rn. 30; a.A. Bettermann, Versicherungsmonopole und Verfassungsrecht, WiR 1973, S. 184 (249 f.); Bryde, in: von Münch / Kunig (Hrsg.), Grundgesetzkommentar, Bd. 1, 5. Aufl., 2000, Art. 15 Rn. 18. 35 Siehe auch Leisner, Privateigentum ohne privaten Markt?, BB 1975, S. 1 (4 f.); ders., Das Eigentumssyndikat, DVBl. 1976, S. 125; Rüfner (Fn. 32), S. 690, Fn. 15; Papier (Fn. 16), S. 85; a.A. Schwerdtfeger, Unternehmerische Mitbestimmung der Arbeitnehmer und Grundgesetz, 1972, S. 241 f. 36 Ebenso Bettermann (Fn. 354), S. 250 ff. 37 Siehe auch Papier (Fn. 16), S. 85 f.
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missgedeutet werden, dass die rechtliche und tatsächliche Ausgestaltung dieses Wirtschaftssystems ausschließlich von den (wirklichen oder vermeintlichen) ökonomischen Eigengesetzlichkeiten eines nationalökonomischen Lehrsystems bestimmt werde. Die von der Verfassung im Prinzip normativ entschiedene Frage, wer für welche wirtschaftlichen Entscheidungen und Planungen zuständig sein soll und welche Wirkungsmöglichkeiten oder Mittel der Realisation den Zuständigkeitsträgern zur Verfügung stehen, ist von der nach dem Inhalt des wirtschaftlichen oder wirtschaftspolitischen Verhaltens der Zuständigkeitsträger streng zu unterscheiden38. Diese verschiedenen Fragenkomplexe sind in der Vergangenheit nicht immer streng auseinandergehalten worden. So ist die verfassungsrechtliche Konstituierung eines Rahmens der ökonomischen Zuständigkeitsordnung immer wieder dazu verwandt worden, von Verfassungs wegen die Wettbewerbsordnung zu institutionalisieren, den Staat also auf eine Ordnungssicherungspolitik und selbst private Wirtschaftssubjekte wegen eines institutionellen Gesamtzusammenhangs der grundgesetzlichen Wirtschaftsverfassung zu einem strikt-wettbewerblichen Verhalten zu verpflichten39. Gegenüber solchen Intentionen muss in Erinnerung gerufen werden, dass die maßgeblichen Grundlagen des ökonomischen Zuständigkeitsrahmens die Freiheitsrechte sind. Eine derartige Instrumentalisierung oder Funktionalisierung zugunsten einer „optimalen Wettbewerbsordnung“ ist den Freiheitsrechten aber fremd40. Die Grundrechte des privatautonomen Wirtschaftens und des privatautonomen Verfügens über Wirtschaftsgüter gewähren dem Einzelnen das Recht zu marktinkonsistentem Verhalten, zur Berücksichtigung auch metaökonomischer Gesichtspunkte. Denn von privatautonomer Gestaltung kann eben nur dann gesprochen werden, wenn dem Einzelnen das grundsätzliche Recht zugebilligt wird, nicht nur als homo oeconomicus auf Marktsignale zu reagieren, sondern aktiv und initiativ nach eigenen Zweckmäßigkeitsgesichtspunkten zu handeln. Die Freiheitsrechte des Grundgesetzes können also nicht auf eine Zuständigkeit zu ökonomisch determiniertem und ökonomisch-rationalem Reagieren reduziert werden. Den wirtschaftsplanenden Subjekten – dem Staat wie den privaten Wirtschaftssubjekten – ist es nach dem Grundgesetz im Prinzip nicht verwehrt, sich wirtschaftlich oder wirtschaftspolitisch richtig oder falsch, vernünftig oder unvernünftig, ordnungskonform oder -inkonform zu verhalten41. Bezogen auf den Inhalt des wirtschaftlichen oder wirt38 Siehe auch Böhm, Eine Kampfansage an Ordnungstheorie und Ordnungspolitik, in: ORDO Bd. XXIV, S. 11 (26, 28). 39 Dem ist z. B. auch der BGH entgegengetreten. Er hat es in BGHZ 45, 204 ff., abgelehnt, einen „zwingenden wirtschaftsverfassungsrechtlichen Grundsatz“ des Zusammenfallens von Herrschaft und Haftung anzuerkennen, der bei einer andersartigen gesellschaftsrechtlichen Verteilung der Machtverhältnisse stets zu beachten sei. 40 Siehe auch Nell-Breuning, Können Neoliberalismus und katholische Soziallehre sich verständigen?, in: Wirtschaftsordnung und Staatsverfassung, FS Franz Böhm, 1975, S. 459 (462 ff.); Papier (Fn. 16), S. 78 f. 41 Siehe auch Böhm (Fn. 38), S. 26.
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schaftspolitischen Verhaltens der Zuständigkeitsträger ist das Grundgesetz in der Tat neutral. V. Grundgesetz und Unternehmensverfassung Auf der anderen Seite ist einer wiederholt zu beobachtenden Sinnentleerung oder Entfunktionalisierung der Freiheitsrechte entgegenzutreten, soweit es um wirtschaftsverfassungsrechtliche Konsequenzen der Garantiewirkung geht oder gehen könnte. In diesem Zusammenhang ist das Bestreben zu nennen, etwa die Eigentumsgarantie des Art. 14 GG in Missdeutung des an sich richtigen Sachzusammenhangs von Freiheit und Eigentum42 im Wesentlichen nur auf das dem persönlichen Gebrauch und Bedarf dienende, gesamtgesellschaftlich und gesamtwirtschaftlich aber funktionslose Vermögensrecht zu beziehen43. In diesem Kontext ist auch die Tendenz hervorzuheben, die Freiheitsrechte insgesamt einem nahezu grenzenlosen Gestaltungsrecht des Gesetzgebers zu überantworten, je mehr die Grundrechtswahrnehmung „in einem sozialen Bezug und in einer sozialen Funktion steht“44. Es gilt im Gegenteil Folgendes beispielhaft festzuhalten: Von Art. 14 GG gehen, ebenso wie von Art. 12 Abs. 1 und Art. 9 Abs. 1 GG, gewisse Direktiven für die Binnenstruktur der Unternehmen, auch der Großunternehmen, aus. Es besteht in gewissem Grade eine strukturelle Komplementarität zwischen der Eigentumsgarantie und den genannten anderen Grundrechten einerseits und der Organisations- und Willensbildungsordnung juristischer Personen des Privatrechts andererseits. Die Funktionsfähigkeit der wirtschaftlich relevanten Grundrechte und in Sonderheit des Art. 14 GG ist entscheidend abhängig vom Organisations- und Willensbildungsrecht der wirtschaftlichen Assoziationen. Dem Gesetzgeber kann es nicht gestattet sein, über diesen intrapersonellen oder binnenstrukturellen Bereich verfassungsrechtlich garantierte Freiheiten obsolet zu machen. Unter den heutigen ökonomischen Bedingungen können die Wirtschaftsfreiheiten des Grundgesetzes zum großen Teil allein in der gesellschaftsrechtlichen (sozietären oder korporativen) Vereinigung mit anderen Grundrechtsträgern wahrgenommen werden45. Dies 42 Siehe Papier (Fn. 16), S. 82 ff.; ders., Wirtschaftsreformen in Mittel- und Osteuropa – Verfassungsprobleme und Eigentumsordnung, in: Mittel- und Osteuropa im marktwirtschaftlichen Umbruch, FIW-Schriftenreihe Heft 142 (1991), S. 23 (26 f.). 43 Siehe auch Mestmäcker, Mitbestimmung und Vermögensverteilung in der Marktwirtschaft, Alternativen zur Umverteilung von Besitzständen, in: Harbusch / Wiek, Marktwirtschaft, 1975, S. 279 (281, 285); Rüfner (Fn. 32), S. 690; Issing / Leisner, „Kleineres Eigentum“, 1976, S. 55. 44 Siehe etwa die Ansätze in BVerfGE 50, 290 (340 f., 355 f., 364 f.). 45 Siehe Papier (Fn. 16), S. 87 f.; ders. (Fn. 19), S. 293; ders., Das Mitbestimmungsurteil des Bundesverfassungsgerichts, ZGR 1979, S. 444 (457 ff.); Rupp, Vom Wandel der Grundrechte, AöR 101 (1976), S. 187 ff.; Mestmäcker, Stellungnahme zu den Fragen des BT-Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung, ob der vorliegende Gesetzesentwurf der Bundesregierung über die Mitbestimmung der Arbeitnehmer mit Art. 9 Abs. 3 und Art. 14 GG vereinbar ist; veröffentlicht als Protokoll Nr. 62 des genannten Ausschusses.
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verlangt eine gewisse strukturelle Homogenität zwischen der außenrechtlichen Freiheitsgewähr und der binnenrechtlichen Organisation und Willensbildung. Diese strukturelle Entsprechung von Eigentumsgarantie und wirtschaftlichen Grundrechten einerseits, Unternehmensverfassung andererseits ist nicht gewahrt, wenn das Gesetz für die Unternehmen bzw. für bestimmte Größenkategorien von Unternehmen zwingend anstaltlich organisierte Trägerpersonen vorschreiben würde. Solche Unternehmensträger liegen vor, wenn die Organisation über keine interne Trägerschaft von Eigentümern und von mit Privatautonomie ausgestatteten Rechtspersonen verfügt, sondern von externen Gruppen, Verbänden und deren Repräsentanten nach Proporzgesichtspunkten getragen wird46. Eine quasi-anstaltliche und keine eigentumsrechtliche, auf Privatautonomie gründende Unternehmensverfassung liegt auch vor, wenn die autonomen Privatrechtsträger und Mitglieder der Unternehmensträgergesellschaft nicht mehr imstande sind, in ihrer Assoziation und durch ihre Korporation einen eigenen Willen zu bilden, weil von den Mitgliedern unabhängige Personen oder Gruppen beherrschenden Einfluss auf den unternehmensinternen und -leitenden Willensbildungsprozess nehmen47. Das verfassungsrechtlich Bedenkliche vollparitätischer oder gar überparitätischer Mitbestimmungsmodelle läge weniger darin, dass den Arbeitnehmern oder ihren Repräsentanten eine den unternehmerischen Willensbildungsprozess maßgeblich mitbeherrschende Stellung eingeräumt würde. Die Eigentumsgarantie verlangt keine unternehmerische Binnenstruktur, die ausschließlich von Kapitalinvestoren geprägt ist48. Auch die Arbeitnehmer als diejenigen Personen, die zwar nicht Kapital, wohl aber Arbeitsleistung in das Unternehmen einbringen, können in den Unternehmensträgerverband inkorporiert werden. Die Binnenstrukturrichtlinien des Art. 14 GG legen es aber nahe, dass jene Mitträgerschaft und Mitbestimmung im Unternehmen aus subjektiven Privatrechten fließen, die den verfassungsrechtlichen Eigentumsvorstellungen entsprechen49. Sie müssen also ihrem Träger oder Inhaber einen Anteil an privatautonomer Rechts- und Wirtschaftsgestaltung in und durch das Unternehmen gewährleisten. Gemäß den Funktionen der auf Privateigentum basierenden Autonomie müssen sie ferner die Steuerungs46 Vgl. auch Rittner, Öffentlich-rechtliche Elemente in der Unternehmensverfassung, in: Coing / Kaiser, (Hrsg.), Planung V, 1971, S. 59 (91); ders., Unternehmensverfassung und Eigentum, in: Gesellschaftsrecht und Unternehmensrecht, FS Wolfgang Schilling, 1973, S. 363 (366 ff.). 47 S. auch R. Huber, Grundgesetz und wirtschaftliche Mitbestimmung, 1970, S. 52 ff.; Pernthaler, Qualifizierte Mitbestimmung und Verfassungsrecht, 1972, S. 36 ff.; Rittner, Öffentlich-rechtliche Elemente in der Unternehmensverfassung, in: Coing / Kaiser, (Hrsg.), Planung V, 1971, S. 59 (91 f.); Grasmann, Der Betrieb, Beilage 21 / 75, S. 17; Papier (Fn. 16), S. 91; ders., Mitbestimmungsgesetz und Verfassungsrecht, ZHR 142 (1978), S. 71 (80). 48 S. auch Böhm, Der Zusammenhang zwischen Eigentum, Arbeitskraft und dem Betrieb eines Unternehmens, in: Festgabe für Kronstein, 1967, S. 28 f.; Rittner, Unternehmensverfassung und Eigentum (Fn. 46), S. 363 (374 ff.); Papier (Fn. 16), S. 92 f. 49 Papier (Fn. 16), S. 91; ders., (Fn. 47), S. 71 (81).
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und Kontrollmechanismen von Gewinnmöglichkeit und Verlust- oder Haftungsrisiko aufweisen50. Den derzeit geltenden Mitbestimmungsstrukturen liegt indes eine andere Regelungsidee zugrunde. Die Träger der Mitbestimmung verbleiben letztlich in einem externen, vertraglichen Austausch-, d. h. Arbeitsverhältnis zum Unternehmensträger, sie sind gerade nicht in den Unternehmensträger- oder Eigentümerverband und damit in die Gewinn- und Risikogemeinschaft inkorporiert und zu „Socii“ eines Unternehmensverbandes oder einer Trägergesellschaft geworden. Die bislang üblichen unternehmensrechtlichen Mitbestimmungsrechte sind ungeachtet der binnenstrukturellen Direktiven des Art. 14 GG und der anderen Wirtschaftsfreiheiten entwickelt und ausgestaltet worden. Deswegen fände ihr weiterer Ausbau nach vorherrschender Auffassung in dem personenrechtlichen Gehalt der Gesellschaftsund Anteilsrechte der Eigentümer insoweit eine Grenze, als sie deren prinzipielle Privatnützigkeit nicht mittels einer paritätischen oder gar überparitätischen Mitbestimmung ausschalten dürfen51. Den Eigentümern oder Anteilseigentümern müsste ein unmittelbarer oder doch jedenfalls mittelbarer Anteil an privatautonomer Gestaltung im und durch das Unternehmen gewährleistet bleiben. Dies setzte die Wahrung eines Mindestrahmens an Letztentscheidungsrechten der Unternehmenseigentümer voraus. Es gilt auf der anderen Seite zu bedenken, dass Art. 14 GG ebenso wie die anderen Wirtschaftsfreiheiten des Grundgesetzes möglicherweise breiteren Raum für eigentumsrechtliche, auf Privatautonomie basierende Unternehmensverfassungen bietet, die die Arbeitnehmer in den Unternehmensträgeroder Eigentümerverband und damit in die Gewinn- und Risikogemeinschaft inkorporieren.
VI. Grundgesetz und Konzentrationskontrolle Es stellt im Grundsatz eine zulässige Inhalts- und Schrankenbestimmung des Unternehmenseigentums dar (Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG), wenn der Gesetzgeber die normativen Grundbedingungen für einen funktionsfähigen Wettbewerbsprozess und damit für eine dezentrale Zuständigkeitsordnung der Wirtschaft herstellt52. Die grundrechtliche Zulässigkeit wird auch durch die kompetenzregelnde Norm des Art. 74 Abs. 1 Nr. 16 GG untermauert. Kartellverbote, Missbrauchsaufsicht 50 Vgl. Papier (Fn. 16), S. 87 ff.; ders. (Fn. 12), S. 105 ff.; Rittner (Fn. 48), S. 374 ff.; Ramm, Der Wandel der Grundrechte und der freiheitliche soziale Rechtsstaat, JZ 1972, S. 137 (145); Rupp (Fn. 16), S. 39, Fn. 67; Böhm (Fn. 48), S. 28 f. 51 Badura / Rittner / Rüthers (Fn. 16), S. 297 / 8 (Gesamtergebnisse); vgl. auch Scholz (Fn. 12), S. 93 f.; Schwerdtfeger (Fn. 35), S. 211 f., 245. 52 Vgl. auch Papier (Fn. 16), S. 102 f.; zur Gesamtproblematik s. insbesondere Scholz, Konzentrationskontrolle und Grundgesetz, 1971; Selmer, Unternehmensentflechtung und Grundgesetz, 1981; Badura, Eigentum, in: Benda / Maihofer / Vogel (Hrsg.), Handbuch des Verfassungsrechts, 2. Aufl. 1994, S. 327 (386 f.).
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und Fusionskontrolle sind daher im Grundsatz von Art. 14 Abs. 1 GG her gesehen unbedenklich53. Das gilt auch für die Festlegung von Marktanteilsgrenzen zur Vermeidung von Konzentrationen. Die Grenzen zulässiger Sozialbindung werden hier aber insbesondere überschritten, wenn die Konzentrationskontrolle zur realen Beseitigung der Wettbewerbsfähigkeit der betroffenen Unternehmen führt54. Bei Entflechtungen wird zu differenzieren sein55. Dient die Entflechtung lediglich der Rückgängigmachung einer im Einzelnen unzulässigen Fusion, so liegt darin kein verfassungswidriger Eigentumseingriff. Die Verweisung eines Eigentümers in die Schranken der das Unternehmenseigentum nach Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG zulässigerweise konstituierenden Rechtsordnung ist allgemein kein enteignender Eingriff, auch wenn es dadurch zu Substanzeinwirkungen kommt. Wird die Entflechtung vorgesehen, um ohne Fusionierung eingetretene Überschreitungen bestehender und zulässigerweise bestimmter Marktanteilsgrenzen rückgängig zu machen, so kann ebenfalls noch gesagt werden, dass hier Eigentumspositionen contra legem aufgebaut oder erlangt worden sind, deren Entziehung daher keine entschädigungspflichtige Enteignung darstellt. Etwas anderes gilt, wenn Entflechtungen durchgeführt werden, obgleich Marktanteilsgrenzen erst nachträglich, d. h. nach erfolgter Expansion oder Fusion, festgelegt worden sind. In diesen Fällen sind Eigentumspositionen innerhalb der geltenden Rechtsordnung aufgebaut bzw. erlangt worden56. Der (Teil-)Entzug von Unternehmenseigentum, etwa durch Ausspruch einer Verkaufsauflage, kann dann nicht mehr als Verweisung des Eigentümers in die Schranken der missachteten Rechtsordnung angesehen werden. Die hoheitsrechtlich verfügte Verpflichtung des Eigentümers, einen Teil seines Unternehmens zu veräußern, aber auch jede andere auf Entflechtung abzielende Entzugsmaßnahme der öffentlichen Gewalt, stellen daher Eingriffe in die legalerweise erlangte Eigentumssubstanz und damit eine von Verfassungs wegen entschädigungspflichtige Einwirkung in die eigentumsrechtliche Bestandsgarantie dar. Die Tatsache, dass der Eigentümer, der zum Verkauf eines Teils seines Unternehmens gezwungen wird, einen Verkaufserlös erzielen kann, vermag nur bei der Bemessung der von Verfassungs wegen gebotenen Entschädigung über die gebotene Vorteilsausgleichung Bedeutung zu erlangen.
Papier, Die Regelung von Durchleitungsrechten, 1997, S. 24 f. Scholz (Fn. 52), S. 60. 55 Vgl. auch Scholz (Fn. 52), S. 57 ff. 56 Vgl. Scholz (Fn. 52), S. 58; ferner Lerche, Verfassungsrechtliche Aspekte der „inneren Pressefreiheit“, 1974, S. 91 f. 53 54
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VII. Die Schaffung einer Wettbewerbsordnung als legitimer Gemeinwohlbelang Ein aktuelles Beispiel für die anhaltende Bedeutung wirtschaftsverfassungsrechtlicher Vorgaben bei der gesetzgeberischen Ausgestaltung der Wirtschaftsordnung findet sich im Bereich der Energiewirtschaft. Mit dem Gesetz zur Neuregelung des Energiewirtschaftsrechts vom 24. April 1998 (BGBl. I S. 730) sind die kartellrechtliche Freistellung der Versorgungswirtschaft nach § 103 Abs. 1 GWB in Ansehung von Elektrizität und Gas und damit das System der geschlossenen Versorgungsgebiete beseitigt sowie der Ermöglichung des freien Leitungsbaus Raum gegeben worden. Ein ausdrücklicher Durchleitungstatbestand wurde mit § 6 EnWG nur für die Elektrizitätsversorgungsnetze, nicht aber für die Gasversorgungsnetze normiert. In der Begründung des Regierungsentwurfs vom 8. 11. 1996, der noch für beide Bereiche einen speziellen Durchleitungstatbestand ablehnte, wurde darauf verwiesen, dass eine Durchleitung im Einzelfall von Kunden oder Lieferanten unter Berufung auf das allgemeine Missbrauchs- und Behinderungsverbot für marktbeherrschende Unternehmen nach dem damaligen § 22 Abs. 4 und § 26 Abs. 2 GWB erzwungen werden könne57. Diese Möglichkeit bleibt im Übrigen nach § 6 Abs. 1 Satz 4 EnWG auch in den Fällen des Netzzugangs zu Elektrizitätsversorgungsnetzen bestehen. Derartige Verfahren hätten – so die Begründung – künftig eher Aussicht auf Erfolg, „weil die gesetzgeberische Entscheidung zugunsten geschlossener Versorgungsgebiete entfällt“58. Durch eine zum 1. Januar 1999 in Kraft getretene Änderung des GWB wurde die Durchleitungsfrage schließlich erneut in den kartellrechtlichen Kontext zurückgeführt.59 Nach der Grundnorm des § 19 Abs. 1 GWB ist die missbräuchliche Ausnutzung einer marktbeherrschenden Stellung durch ein oder mehrere Unternehmen verboten. Ein solcher Missbrauch liegt nunmehr nach § 19 Abs. 4 Nr. 4 GWB insbesondere vor, wenn ein marktbeherrschendes Unternehmen sich weigert, einem anderen Unternehmen gegen angemessenes Entgelt Zugang zu den eigenen Netzen oder anderen Infrastruktureinrichtungen zu gewähren, wenn es dem anderen Unternehmen aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen ohne die Mitbenutzung nicht möglich ist, auf dem vor- oder nachgelagerten Markt als Wettbewerber des marktbeherrschenden Unternehmens tätig zu werden; dies gilt nicht, wenn das marktbeherrschende Unternehmen nachweist, dass die Mitbenutzung aus betriebsbedingten oder sonstigen Gründen nicht möglich oder nicht zumutbar ist. Zugleich wurde § 6 Abs. 1 EnWG um einen Satz 4 ergänzt, wonach § 19 Abs. 4 und § 20 Abs. 1 und 2 GWB unberührt bleiben. Die Rechtmäßigkeit dieser energierechtlichen Vorgaben wurde vielfach unter Berufung auf die Wirtschaftsverfassung des Grundgesetzes in Frage gestellt und BR-Drs. 806 / 96, S. 20. BR-Drs. 806 / 96, S. 20. 59 Dazu Litpher / Wetzel, Durchleitung nach europäischem und nationalem Recht, in: Wetzel / Weyand (Hrsg.), Das neue Energiewirtschaftsrecht, 1999, S. 53 (59 ff.). 57 58
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den Durchleitungsrechten die Eigentums- und Berufsfreiheitsgewährleistungen zugunsten der Netzeigentümer bzw. Netzbetreiber aus Art. 14 und Art. 12 Abs. 1 GG entgegengehalten60. Wären diese verfassungsrechtlichen Einwände berechtigt, dann wären neben den bestehenden auch künftige gesetzgeberische Verbesserungen bzw. Effektuierungen des Durchleitungstatbestandes unzulässig. Entsprechendes würde im Übrigen auch für gemeinschaftsrechtliche Normierungen der Durchleitung gelten, weil gemeinschaftsrechtliches Sekundärrecht an einem gemeinschaftsrechtlichen Grundrechtskanon zu messen ist, der jedenfalls im Hinblick auf die Eigentums- und Berufsfreiheit den Garantien aus Art. 14 und Art. 12 Abs. 1 GG weitestgehend entsprechen dürfte61. Neben der Gewährleistung des Privateigentums spricht Art. 14 GG aber zugleich die Sozialbindung des Eigentums aus: Nach Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG werden Inhalt und Schranken des Eigentums durch die Gesetze bestimmt. Art. 14 Abs. 2 GG besagt, dass das Eigentum verpflichtet und dass sein Gebrauch zugleich dem Wohl der Allgemeinheit dienen soll. Der Gesetzgeber ist bei der Erfüllung der ihm durch Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG aufgetragenen Aufgabe nicht völlig frei; die Gemeinwohlverpflichtung des Eigentumsgebrauchs (Art. 14 Abs. 2 GG) ist ebenso Rechtfertigungsgrund und Orientierungspunkt wie auch Grenze einer Beschränkung des Eigentums62. Dem Rückgriff auf die Sozialbindung des Netzeigentümers zur verfassungsrechtlichen Legitimation der Durchleitung wird entgegengehalten, dass Durchleitungen eine ausschließlich konkurrentennützige Indienstnahme63 von Eigentum und Unternehmerfreiheit darstellten. Unter verfassungsrechtlichen Aspekten soll damit offenbar zum Ausdruck gebracht werden, dass es gar nicht um die Geltendmachung einer Sozialbindung oder Gemeinwohlverpflichtung des Netzeigentums, sondern um die einseitige Durchsetzung gegenläufiger Privatbelange Dritter gehe. Über normative bzw. administrative Durchleitungsgebote ergreife der Staat gewissermaßen Partei für die Belange privater Nichteigentümer zu Lasten der grundrechtlich geschützten Träger des Grundrechts aus Art. 14 Abs. 1 GG. 60 So vor allem Schmidt-Preuß, Verfassungskonflikt um die Durchleitung? – Zum Streitstand nach dem VNG-Beschluss des BGH -, RdE 1996, S. 1 ff.; ders., Die Gewährleistung des Privateigentums nach Art. 14 GG im Lichte aktueller Probleme, AG 1996, S. 1 (5 ff.); vgl. auch Scholz / Langer, Rechtsfragen eines europäischen Binnenmarktes für Energie, ET 1992, S. 851 ff.; dies., Europäischer Binnenmarkt und Energiepolitik, 1992, S. 243 ff., zur vergleichbaren Problematik eines gemeinschaftsrechtlichen Durchleitungstatbestandes; dagegen Jarass, Europäisches Energierecht, 1996, S. 106 ff. Für die Zulässigkeit des Durchleitungsmodelles hingegen bereits Papier, Die Regelung von Durchleitungsrechten. Verfassungsrechtliche und energiekartellrechtliche Würdigung, 1997; ders., Durchleitungen und Eigentum, BB 1997, S. 1213 ff.; ders., Verfassungsrechtliche Fragen der Durchleitung, in: Das neue Energierecht in der Bewährung, FS Jürgen Baur, 2002, S. 209 ff. 61 Siehe statt vieler Scholz / Langer, Europäischer Binnenmarkt und Energiepolitik, 1992, S. 243 (254 ff.), m.w.Nachw. 62 Vgl. BVerfGE 25, 112 (118); 50, 290 (340); 79, 174 (198); Papier, in: Maunz / Dürig, Grundgesetz, Art. 14 Rn. 308 ff. 63 Siehe Scholz / Langer, Rechtsfragen eines europäischen Binnenmarktes für Energie, ET 1992, S. 851 (856); dies., Europäischer Binnenmarkt und Energiepolitik, 1992, S. 259 ff.
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Diese müssten sogar ihr Eigentum nicht irgendeinem Privaten, sondern ausgerechnet einem Wettbewerber zur Verfügung stellen64. Die Begründung bzw. die Ermöglichung eines (begrenzten) Wettbewerbs – das Ziel der hier in Rede stehenden Durchleitungen – stellen indes sehr wohl einen verfassungslegitimen Gemeinwohlbelang dar. Das Grundgesetz selbst enthält zwar – wie bereits erwähnt – keine expliziten, spezifisch wirtschaftsbezogenen Grundentscheide65. Wesentlich ist aber, dass der Grundrechtskatalog der Verfassung dem Einzelnen als Rechtsperson einen bestimmenden Anteil an der Sozial- und Wirtschaftsgestaltung einräumt. Zwischen dem Verfassungsrecht eines Staates und seiner Wirtschaftsordnung besteht unzweifelhaft ein Bedingungszusammenhang66. Es kann von einer strukturellen Komplementarität von verfassungsrechtlich gewährleisteter Eigentums- und Wirtschaftsfreiheit einerseits sowie der Marktwirtschaft und Wettbewerbsordnung andererseits ausgegangen werden. Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland enthält zwar keine ausdrückliche Verpflichtung zur Institutionalisierung eines bestimmten Typus der Wirtschaftsordnung, implizit hat es sich zugunsten von Delegation und Dezentralisation der Wirtschaftsplanung und für die Einbeziehung der unternehmerischen Planungs- und Betätigungszuständigkeit in die Privatautonomie und das Privateigentum, also für die verkehrswirtschaftliche Koordinierung der Volkswirtschaft, entschieden. Eine Verkehrswirtschaft ist aber grundsätzlich nur in der Form der Wettbewerbswirtschaft wirtschafts-, sozial- und verfassungspolitisch vertretbar; in verfassungsrechtlicher Hinsicht ist der Gesetzgeber zwar nicht auf eine Art „Optimum“ des Wettbewerbszustandes verpflichtet, für die für eine dezentrale Zuständigkeitsordnung funktionsnotwendigen normativen Grundbedingungen eines Wettbewerbsprozesses muss er aber hinreichend Sorge tragen. In diesem Zusammenhang ist auch bereits auf die Kompetenznorm des Art. 74 Abs. 1 Nr. 16 GG hingewiesen worden, die dem Bund das Recht der konkurrierenden Gesetzgebung auf dem Gebiet der Verhütung des Missbrauchs wirtschaftlicher Machtstellung verleiht. Aus dem geschilderten verfassungsrechtlichen Normengefüge kann jedenfalls die Folgerung abgeleitet werden, dass das gesetzgeberische Ziel der Herstellung, Sicherung oder Beförderung der für die Verkehrswirtschaft notwendigen Grundbedingungen eines freien Wettbewerbsprozesses, wenn nicht gar ein Gebot des Verfassungsrechts, so doch mindestens einen verfassungslegitimen (Rechtfertigungs-)Grund für die Einwirkung in bestehende Eigentumspositionen darstellt. Diese Annahme wird übrigens durch das Gemeinschaftsrecht bestätigt: Der Vertrag über die Europäische Union hat in dieser Hinsicht wesentliche und zentrale Ergänzungen des EG-Vertrages gebracht. Art. 4 EGV schreibt – wie bereits betont – eine Schmidt-Preuß, (Fn. 60), S. 1 (2). Siehe auch BVerfGE 50, 290 (337), sowie schon BVerfGE 4, 7 (17 / 8); 7, 337 (400); 14, 19 (23); 30, 292 (315). 66 Papier (Fn. 12), S. 108 f.; ders., Grundgesetz und Wirtschaftsordnung, in Benda / Maihofer / Vogel (Hrsg.), Handbuch des Verfassungsrechts, 2. Aufl. 1994, S. 799 (805 ff.); ders. (Fn. 16), S. 74 ff. 64 65
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Wirtschaftspolitik der Mitgliedsstaaten vor, die u. a. dem „Grundsatz einer offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb verpflichtet ist“ (vgl. auch Art. 105 Abs. 1 EGV). Auch insoweit bestätigt sich die einleitend angedeutete Einheit der deutschen und der gemeinschaftsrechtlichen Wirtschaftsverfassung, die beide für den Gesetzgeber nicht nur einschränkende Vorgaben, sondern auch Gestaltungs- und Eingriffsmöglichkeiten beinhalten.
Die Beihilfeaufsicht zwischen nationaler Autonomie und europäischer Metakompetenz „Definitionshoheit“ und Vermutungsregeln bei der Identifikation von Beihilfen
Von Michael Rodi
I. Die Entwicklung der Beihilfeaufsicht zu einer administrativen Metakompetenz Dreh- und Angelpunkt der europäischen Integration ist nach wie vor die Errichtung eines Binnenmarktes. Seiner Verwirklichung dienen neben den unmittelbar anwendbaren Grundfreiheiten die Rechtsharmonisierung sowie die Wettbewerbsregeln. Aus dieser funktionalen Methode der Integration ergibt sich ein Spannungsverhältnis zwischen nationalen Sachkompetenzen und Gemeinschaftskompetenzen, die sich grundsätzlich auf alle Sachbereiche beziehen. Der zugrunde liegende Grundkonflikt wird gegenwärtig besonders intensiv im Bereich der Beihilfeaufsicht diskutiert, nachdem diese in immer neue Sachbereiche vorgedrungen ist. Peter Selmer1 hat sich mit dieser „Demarkationslinie der Europäisierung“2 immer wieder befasst: In seiner Habilitationsschrift „Steuerinterventionismus und Verfassungsrecht“ suchte er nach Grenzen für die „ipso iure wirksamen Ingerenzen in die nationale Steuerhoheit“3, später beschäftigte ihn die Gestaltungsfreiheit nationaler Kultur- und insbesondere Rundfunkpolitik vor den Schranken der EG-Beihilfeaufsicht4. 1 So etwa Selmer, Steuerinterventionismus und Verfassungsrecht, Frankfurt / Main 1971, S. 371 ff., bezogen auf das Steuerwesen; Selmer / Gersdorf, Die Finanzierung des Rundfunks in der Bundesrepublik Deutschland auf dem Prüfstand des EG-Beihilferegimes, Berlin 1994, S. 22 ff., bezogen auf das Rundfunkwesen; Selmer, Verfassungs- und europarechtliche Probleme staatlicher Werbebeschränkungen – unter besonderer Berücksichtigung der Tabakwerbung, in: Kirchhof / Lehner / Raupach / Rodi (Hrsg.), Staaten und Steuern, FS Klaus Vogel, Heidelberg 2000, S. 405 ff., S. 430 ff., bezogen auf die Rechtsharmonisierung im Bereich der Tabakwerbung. 2 Modlich, Nationale Infrastrukturmaßnahmen und Artikel 92 Abs. 1 EGV. Zur Vereinbarkeit nationaler Infrastrukturmaßnahmen mit dem Beihilfeverbot des Art. 92 Abs. 1 EGV, Köln u. a. 1996, S. 273. 3 Selmer, Steuerinterventionismus und Verfassungsrecht, (Fn. 1) S. 371 ff. 4 Selmer / Gersdorf (Fn. 1), S. 22 ff.
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Dieser Grundkonflikt wurde in dem Maße sichtbarer, in dem die Beihilfeaufsicht kontinuierlich erweitert und intensiviert wurde5. Und ein Ende ist nicht in Sicht, denn es gibt keine Politikbereiche, die nicht unter dem Vorbehalt der Beihilfeaufsicht stünden6. So erfasse der „Kontrollstrahl“ der Kommission immer neue Instrumente staatlichen Handelns, mit denen mittelbar wettbewerbsverfälschende selektive Vergünstigungen für einzelne Unternehmen oder Produktionszweige verbunden sein können: Pars pro toto seien neben Steuervergünstigungen gegenleistungsabhängige Maßnahmen in Privatrechtsform und Vergünstigungen öffentlicher Unternehmen, die mit Aufgaben der Daseinsvorsorge betraut werden, genannt. Anders als bei der „klassischen“ Subvention wird hier die Feststellung, ob überhaupt eine Beihilfe vorliegt, zu einer anspruchsvollen Vorfrage. Die Lösung dieses Konflikts hat erhebliche Bedeutung für die nationalen Rechtsordnungen und das institutionelle System der Gemeinschaft: Aus Gründen der Rechtssicherheit muss Klarheit darüber bestehen, welche Maßnahmen Beihilfecharakter haben, von dem grundsätzlichen Beihilfeverbot des Art. 87 Abs. 1 EGV erfasst werden, der Kommission gemäß Art. 88 Abs. 3 Satz 1 EGV notifiziert werden müssen und damit dem Durchführungsverbot des Art. 88 Abs. 3 Satz 2 EGV unterfallen. Im Falle einer zu Unrecht unterbliebenen Notifizierung sind die betroffenen Unternehmen von Rückforderungen bedroht, eine zu Unrecht erfolgte Notifizierung führt zu unnötigen Investitionsverzögerungen7. Klarheit über die Konturen des Beihilfebegriffs ist jedoch auch zur Wahrung des institutionellen Gleichgewichts und der Souveränität der Mitgliedstaaten erforderlich: Verliert er seine Konturen und wird er zu weit gefasst, droht die Beihilfeaufsicht zu einer administrativen Metakompetenz der Kommission zu werden8. Der Kampf um den Begriff und um die „Definitionshoheit“9 steht hier unmittelbar für politische Machtfragen im vertikalen Verhältnis zwischen Europäischer Union und Mitgliedstaaten wie auch im horizontalen Verhältnis der Gemeinschaftsorgane zueinander.
5 Zur Entwicklungsgeschichte vgl. Rodi, Die Subventionsrechtsordnung. Die Subvention als Instrument öffentlicher Zweckverwirklichung nach Völkerrecht, Europarecht und deutschem innerstaatlichen Recht, Tübingen 2000, S. 143 ff. 6 Selmer / Gersdorf (Fn. 1), S. 54 ff.; Cremer, in: Calliess / Ruffert, Kommentar zu EU-Vertrag und EG-Vertrag, Neuwied, 2. Aufl. 2002, Rn. 7 zu Art. 87 EGV m. Nachw. aus der Rechtsprechung. 7 Geiss, Rechtsstaatliche Grundsätze im Beihilferecht der Europäischen Gemeinschaft. Eine Analyse von Funktion und Wirkungsweise ausgewählter allgemeiner Rechtsgrundsätze des Gemeinschaftsrechts, Baden-Baden 2001, S. 28 ff.; Koenig / Kühling / Ritter, EG-Beihilfenrecht, Heidelberg 2002, S. 51. 8 Vgl. etwa Koenig / Kühling / Ritter (Fn. 7), S. 24: dem Beihilferecht käme zunehmend der Status eines „Metarechts“ zu. 9 Albin, Daseinsvorsorge und EG-Beihilfenrecht – Mehr Rechtssicherheit durch die neue Mitteilung der Kommission?, DÖV 2001, S. 895.
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II. Das Ringen um die Grenzen der Beihilfeaufsicht Die starke Stellung der Kommission im Rahmen der Beihilfeaufsicht ist im EGVertrag erkennbar vorgezeichnet. Sie wird durch das in Art. 87 ff. EGV angelegte formelle Verbot mit Erlaubnisvorbehalt10 und einen weiten Beihilfebegriff11 abgesichert. Die Reichweite des Verbots und damit Kontrollvorbehalts wird zwar durch mehrere Tatbestandsmerkmale umschrieben: die Maßnahme muss (1.) eine Begünstigung bewirken, (2.) für bestimmte Unternehmen oder Produktionszweige, also spezifisch sein, (3.) staatlich bzw. aus staatlichen Mitteln gewährt sein, (4.) den Wettbewerb verfälschen oder zu verfälschen drohen und schließlich (5.) den Handel zwischen Mitgliedstaaten beeinträchtigen. Es besteht jedoch Einigkeit darüber, dass der Kreis der damit erfassten Maßnahmen weit zu ziehen ist, wie der Zusatz „Beihilfen gleich welcher Art“ bereits anzeigt. Mit dem Vordringen der Beihilfeaufsicht in neue Politikbereiche gerieten alle diese Kriterien zwischen die Fronten der Auseinandersetzung um die Reichweite der Beihilfeaufsicht und damit auf den rechtlichen Prüfstand. So wurde etwa die Frage, inwieweit sich Fördermaßnahmen finanziell zu Lasten staatlicher Haushalte auswirken müssen, bei der Beurteilung der Abnahme- und Vergütungspflichten des Stromeinspeisungsgesetzes bzw. nunmehr des Erneuerbare-Energien-Gesetzes entscheidungserheblich12. Kriterien für die Selektivität von Fördermaßnahmen sowie ihre wettbewerbs- und handelsbeeinträchtigenden Auswirkungen wurden im Rahmen verschiedener Steuervergünstigungen diskutiert, etwa den Investitionsförderungen in den neuen Bundesländern13 oder den Vergünstigungstatbeständen der Ökologischen Steuerreform14. Zu erheblichem Konfliktpotential in der Praxis führt jedoch bereits die Frage, ob und inwieweit staatliche Maßnahmen wirtschaftliche Vorteile bewirken. Auch die Feststellung einer, gegebenenfalls relativen Günstigkeit erfolgt rein wirkungsbezogen. Auf die Qualifizierung der zugrunde liegenden Maßnahme, auf die mit ihr verfolgten Zwecke oder auf den dazu eingesetzten Begünstigungsmechanismus kommt es nicht an15. Im Folgenden sollen die Schwierigkeiten, die bereits auf die10 Mederer, in: Groeben / Thiesing / Ehlermann (Hrsg.), Kommentar zum EU-EG-Vertrag. Artikel 88 – 102 EGV, Baden-Baden, 5. Aufl. 1999, Rn. 2 zu Art. 92. 11 Selmer, Steuerinterventionismus und Verfassungsrecht (Fn. 1), S. 375, spricht treffend von einem „an Weite schwerlich zu überbietenden Beihilfebegriff“. 12 Vgl. dazu EuGH, Urt. v. 13. 03. 2001, Rs. C-379 / 98, PreussenElektra AG / Schleswag AG, Slg. 2001 I, 2099, Rn. 37 ff. 13 Vgl. dazu EuGH, Urt. v. 19. 09. 2000, Rs. C-156 / 98, Deutschland / Kommission, Slg. 2000 I, 6857; vgl. dazu Harings, Praxis des Europäischen Beihilferechts, Köln 2001, S. 23 f. 14 So etwa die Frage, ob die Einschränkung von Vergünstigungen auf das „Produzierende Gewerbe“ selektiven Charakter hat (vgl. hierzu Rodi, Stromsteuergesetz, in: Schneider / Theobald (Hrsg.), Handbuch des Energiewirtschaftsrechts, München 2003, § 19, Rn. 106, 229, sowie EuGH, Urt. v. 8. 11. 2001, Rs. C-143 / 99, Adria-Wien Pipeline GmbH, Slg. 2001 I, 8365, Rn. 37 ff., zur Rechtslage in Österreich).
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ser Ebene bei der Feststellung von (selektiven) Vergünstigungselementen auftreten, exemplarisch für die Auseinandersetzungen um die Reichweite der Beihilfeaufsicht diskutiert werden. Als Referenzfelder werden Steuervergünstigungen, gegenleistungsabhängige Maßnahmen in Privatrechtsform sowie schließlich die Betrauung von Privatrechtssubjekten mit der Erfüllung öffentlicher Aufgaben gewählt; pars pro toto lässt sich hier der schwelende Konflikt zwischen nationaler Gestaltungsfreiheit und nationalen Souveränitätsansprüchen einerseits und dem gemeinschaftsrechtlichen Anspruch auf umfassende Wettbewerbskontrolle andererseits nachzeichnen, der zu Recht als Achillesferse des Systems der Beihilfeaufsicht bezeichnet wurde16. 1. Steuergesetzgebung unter supranationalem Genehmigungsvorbehalt? Als die Kommission mit einer Entscheidung vom 23. Juli 197117 die Bundesrepublik Deutschland aufforderte, die im Gesetz über die Besteuerung des Straßengüterverkehrs enthaltenen Befreiungen und Ermäßigungen abzuschaffen, wurde dies von Vielen als Übergriff in die nationale Steuerhoheit gewertet. Die Besteuerungsgewalt sei, so Peter Selmer in seiner kurz darauf publizierten Habilitationsschrift, „ein Kernbereich des Bestandes nationaler Eigenständigkeit . . ., was den Verzicht auf die Einbeziehung des Steuerrechts in die Methode einer stufenweisen Integration . . . geradezu notwendig zu einer conditio sine qua non der gemeinschaftsrechtlichen Einigung machen mußte“18. Steuervergünstigungen unterlägen deshalb grundsätzlich den restriktiven und die nationale Steuersouveränität schonenden Bestimmungen über Steuerharmonisierung. Nur in besonderen Ausnahmefällen würden sie aus dem „Lichtkreis“ der Art. 90 ff. EGV als abschließende „Sonderregelungen des Steuerprotektionismus“ (auch) in den des Beihilferechts rücken; dies werde man etwa „für die steuergesetzlich verkleideten Begünstigungen in Betracht zu ziehen haben, bei denen es sich ihrer materiellen Natur nach nicht um spezielle Ausnahmen von der allgemeinen Steuernorm, sondern um reine Leistungssubventionen handelt“19. Entgegen diesen Mahnungen hat sich mittlerweile eine kontinuierliche Praxis der Kommission und eine gefestigte Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zur Beihilfeaufsicht über Steuervergüns15 Zur Weite und Wirkungsbezogenheit des Beihilfebegriffs vgl. Müller-Graff, Die Erscheinungsformen der Leistungssubventionstatbestände aus wirtschaftsrechtlicher Sicht, ZHR 152 (1988), S. 403, 415; Rodi (Fn. 5), S. 153 ff.; Cremer (Fn. 6), Rn. 7 zu Art. 87 EGV m. Nachw. 16 Slot, Das Verfahren zur Gewährung staatlicher Beihilfen im Gemeinschaftsrecht, in: Koenig / Roth / Schön (Hrsg.), Aktuelle Fragen des EG-Beihilferechts, Heidelberg 2001, S. 43, 53. 17 ABl. 1971 Nr. L 179 / 37; vgl. dazu Selmer, Steuerinterventionismus und Verfassungsrecht (Fn. 1), S. 376. 18 Selmer (Fn. 1), S. 372. 19 Selmer (Fn. 1), S. 385 ff.
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tigungen herausgebildet20, der auch die Literatur weitgehend folgt21. Geblieben ist allerdings die Brisanz der Intensivierung der Beihilfeaufsicht über steuerliche Maßnahmen, auf die Selmer hingewiesen hat: Wie weit kann mit der Beihilfeaufsicht als „Metakompetenz“ in die Steuerpolitik eingegriffen werden, die das Gemeinschaftsrecht nach wie vor als Kernelement mitgliedstaatlicher Souveränität anerkennt?22 Andererseits wird man damit auf das kaum befriedigend lösbare Problem zurückgeworfen, Steuersubventionen zu identifizieren23. Die Kommission hat dies erkannt und im Dezember 1998 eine Mitteilung „über die Anwendung der Vorschriften über staatliche Beihilfen auf Maßnahmen der direkten Unternehmensbesteuerung“ bekanntgegeben24. Die dort niedergelegten Grundsätze haben jedoch über diesen engen Anwendungsbereich hinaus Bedeutung und fanden etwa auch bei der Beurteilung der Ökologischen Steuerreform Anwendung25. Es ist nicht weiter erstaunlich, dass diese Mitteilung an entscheidender Stelle vage bleibt: Unter Verweis auf eine Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs von 197426 wird festgestellt, dass der selektive und begünstigende Charakter einer Maßnahme durch die „Natur oder den inneren Aufbau des Systems“ gerechtfertigt sein kann27. Ergibt sich die Vergünstigung nicht unmittelbar aus den Grund- und Leitprinzipien des allgemein geltenden Steuersystems, liegt danach eine Beihilfe vor. Eine umfassende Antwort auf die Frage, wie sich solche systemkonformen und damit die Beihilfeeigenschaft ausschließenden Rechtfertigungen feststellen lassen, wird hier nicht formuliert28. In einer eher typologischen 20 Vgl. dazu Koschyk, Steuervergünstigungen als Beihilfen nach Artikel 92 EG-Vertrag. Grundsätze zur Beurteilung steuerlicher Beihilfen, Baden-Baden 1999, S. 219 ff.; Mitteilung der Kommission über die Anwendung der Vorschriften über staatliche Beihilfen im Bereich der direkten Unternehmensbesteuerung, ABl. 1998 Nr. C-384 / 3; für die Kommissionspraxis vgl. Mitteilung der Kommission, Umweltsteuern und -gebühren im Binnenmarkt, KOM (97) 9 endg., S. 13 ff.; für die Rechtsprechung des EuGH vgl. grdl. EuGH, Urt. v. 15. 03. 1994, Rs. C-387 / 92, Banco Exterior, Slg. 1994 I, 877. 21 Frick, Einkommensteuerliche Steuervergünstigungen und Beihilfeverbot nach dem EGVertrag, Sinzheim 1994, S. 20 ff.; Koschyk (Fn. 20), S. 144 ff.; Götz, Steuervergünstigungen als Gegenstand der europäischen Beihilfeaufsicht, in: FS Klaus Vogel (Fn. 1), S. 579 ff., Schön, Steuerliche Beihilfen, in: Koenig / Roth / Schön (Hrsg.) (Fn. 16), S. 106 ff. 22 Vgl. etwa Europäische Kommission, Steuerpolitik in der Europäischen Union, 2000, S. 5. 23 Vgl. dazu grdl. Selmer, Steuerinterventionismus und Verfassungsrecht (Fn. 1), S. 59 ff.; Vogel, Die Abschichtung von Rechtsfolgen im Steuerrecht, StuW 1997, S. 97 ff.; Rodi, Die Rechtfertigung von Steuern als Verfassungsproblem, München 1994, S. 49 ff. 24 Mitteilung Unternehmensbesteuerung (Fn. 20). 25 Götz (Fn. 21), S. 580. 26 EuGH, Urt. v. 02. 07. 1974, Rs. 173 / 73, Italienische Republik / EG-Kommission Slg. 1974, 709. 27 Zum Ausschluss eines Vorteils als Element des Beihilfebegriffs vgl. jüngst EuGH, Urt. v. 09. 12. 1997, Rs. C-353 / 95P, Ladbroke / Kommission, Slg. 1997 I, 7007, Rn. 29 ff., und v. 22. 11. 2001, Rs. C-53 / 00, Ferring, Slg. 2001 I, 9067, Rn. 17; zur Praxis von Kommission und Rechtsprechung vgl. Schön (Fn. 21), S. 116 ff. m. Nachw. 28 Vgl. dazu Götz (Fn. 21), S. 579, 588.
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Vorgehensweise werden einerseits Beispiele für „unverdächtige“ Ausprägungen allgemeiner Grundsätze der Steuerordnung gegeben29, andererseits Umstände angeführt, unter denen steuerliche Regelungen spezifische, bestimmte Unternehmen oder Produktionszweige begünstigende und wettbewerbsverfälschende Maßnahmen darstellen (können). Dabei lassen sich im Wesentlichen drei Ansatzpunkte ausmachen, die für das Vorliegen einer Beihilfe sprechen: (1.) Abweichungen von allgemeinen Steuertatbeständen oder Tarifen unter bestimmten Voraussetzungen oder für bestimmte Unternehmen (Betonung der Spezifizität der Maßnahme)30; (2.) Fälle, in denen der Steuerverwaltung Ermessen hinsichtlich eines Entlastungstatbestandes eingeräumt wird31; (3.) Identifikation von externen, etwa sozial- oder regionalpolitischen Zielsetzungen32 bzw. das entsprechende Setzen von Verhaltensanreizen, etwa Investitionsanreizen33. Damit setzt die Kommission im Wesentlichen auf die Formulierung von Vermutungstatbeständen, die gleichsam einen „Beihilfeverdacht“ begründen. Vor diesem Hintergrund gewinnt eine allgemeine Aussage besonderes Gewicht: den Mitgliedstaaten obliege die Erbringung des Nachweises dafür, dass die differenzierende Natur einer bestimmten Maßnahme als Ausdruck des allgemeinen Steuersystems verstanden werden könne34.
2. Staatshandeln im „market economy investor“-Test? Das Vordringen der Beihilfeaufsicht in immer neue Anwendungsbereiche bringt zunehmend auch staatliche Maßnahmen vor die Schranken der Kommission, deren beihilferechtlich relevantes Begünstigungselement nur im Wege einer marktbezogenen Bewertung bestimmt werden kann35. Die Günstigkeit ist damit „marktrelativ“36, ergibt sich also erst aus einem Vergleich von Leistung und Gegenleistung. Zur Ermittlung des Beihilfecharakters ist hier festzustellen, inwieweit die Gegenleistung (Kompensation) nach den Marktverhältnissen als nicht angemessen zu be-
29 So etwa der Hinweis auf progressive Tarife (Mitteilung Unternehmensbesteuerung (Fn. 20), Rn. 24), Steuerfreiheit von Unternehmen ohne Erwerbscharakter (Rn. 25) oder Pauschalbesteuerungen etwa im Bereich der Landwirtschaft (Rn. 27). 30 So etwa eine rechtsformabhängige Besteuerung (Mitteilung Unternehmenssteuerreform (Fn. 20), Rn. 19); vgl. zu diesem methodischen Ansatz der Identifikation von steuerlichen Beihilfen Koschyk (Fn. 20), S. 183 f. 31 Mitteilung Unternehmensbesteuerung (Fn. 20), Rn. 21 f., 24; vgl. zu diesem Ansatz auch Götz (Fn. 21), S. 588, Fn. 43 m. Nachw. etwa der EuGH-Rspr. 32 Mitteilung Unternehmensbesteuerung (Fn. 20), Rn. 26. 33 Mitteilung Unternehmensbesteuerung (Fn. 20), Rn. 31. 34 Mitteilung Unternehmensbesteuerung (Fn. 20), Rn. 23. 35 Selmer / Gersdorf (Fn. 1), S. 26. 36 Müller-Graff (Fn. 15), S. 418.
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werten ist37. Als Vergleichsmaßstab zur Bestimmung der Marktüblichkeit wird ein „vernünftiger Investor“ herangezogen38. Danach wird geprüft, ob die staatliche Leistung (in der Regel eine Kapitalzufuhr) unter Bedingungen erfolgte, die für einen hypothetischen privaten Vergleichsinvestor, etwa eine Bank, unter normalen marktwirtschaftlichen Voraussetzungen akzeptabel wären. Diese Grundsätze wurden zunächst für staatliche Kapitalbeteiligungen an privaten Unternehmen entwickelt39. Die Methode des Vergleichs mit einem ökonomisch handelnden Privateigentümer40 wurde in der Vergangenheit insbesondere auf Kaufverträge (v.a. Grundstücks- und Unternehmensverkäufe)41, Darlehen, Garantien und Bürgschaften42 oder die Vergabe öffentlicher Aufträge43 übertragen. Ihr potentieller Anwendungsbereich ist kaum einzugrenzen44.
37 Soweit kein Markt für vergleichbare Leistungen besteht, ist notfalls auf einen „hypothetischen Markt“ abzustellen; so für den Fall von Staatsbürschaften: Möller, Staatsbürgschaften im Lichte des EG-Beihilfenrechts, Berlin 2001, S. 46 ff., 51 f. 38 Zum Vergleichsmaßstab des „vernünftigen Investors“ und seinen Wurzeln im „reasonable investor’s test“ des U.S.-amerikanischen Antidumpingrecht vgl. Schroeder, Vernünftige Investition als Beihilfe? Gemeinschaftsrechtliche Optionen zur Finanzierung öffentlicher Unternehmen, ZHR 161 (1997), S. 805, 817 ff.; zum „market economy investor“-Test vgl. Koenig, Weichenstellung im EG-Beihilfetatbestand: „Market Economy Investor“-Test und Marktabgrenzung, in: Koenig / Roth / Schön (Hrsg.) (Fn. 16), S. 9 ff.; Koenig / Kühling / Ritter (Fn. 7), S. 45 Fn. 136 m. Nachw. sowie die Unternehmensmitteilung der Kommission (Mitteilung der Kommission an die Mitgliedstaaten über die Anwendung der Artikel 87 und 88 EGVertrag und des Artikels 5 der Kommissionsrichtlinie 80 / 723 / EWG über öffentliche Unternehmen in der verarbeitenden Industrie, ABl. 1993 Nr. C-307 / 3). 39 Vgl. dazu Bonkamp, Die Bedeutung des gemeinschaftsrechtlichen Beihilfeverbotes für die Beteiligung der öffentlichen Hand an einer Kapitalgesellschaft, Berlin 2001, S. 43 ff.; Koenig / Kühling / Ritter (Fn. 7), S. 45 f. 40 Müller-Graff (Fn. 15), S. 420 ff.; Geiss (Fn. 7), S. 35 ff., 38. 41 Vgl. dazu Koenig / Kühling / Ritter (Fn. 7), S. 55 ff. sowie die Grundstücksmitteilung (Mitteilung der Kommission betreffend Elemente staatlicher Beihilfe bei Verkäufen von Bauten oder Grundstücken durch die öffentliche Hand, ABl. 1997 Nr. C-209 / 3). 42 Vgl. Mitteilung der Kommission über die Anwendung der Artikel 87 und 88 EG-Vertrag auf staatliche Bürgschaften, ABl. 2000 Nr. C-71 / 14, Ziff 4; Koenig / Kühling / Ritter (Fn. 7), S. 63 ff. und zu Staatsbürgschaften Möller (Fn. 37), S. 15 ff., 54 ff. 43 Vgl. dazu Koenig / Kühling / Ritter (Fn. 7), S. 69 ff. 44 Weitere Problemfelder sind etwa: die Förderung von Risikokapital (hier ist schon unklar, wer begünstigt wird; vgl. dazu XXXI. Wettbewerbsbericht 2001, S. 90 f.; Mitteilung der Kommission „Staatliche Beihilfen und Risikokapital“, ABl. 2001 Nr. C-235 / 3); Infrastrukturmaßnahmen (Begünstigungen durch Infrastrukturmaßnahmen sowie Begünstigungen bei der Vergabe von Infrastrukturaufträgen; dazu Modlich (Fn. 2); Koenig / Kühling, EG-beihilferechtliche Beurteilung mitgliedstaatlicher Infrastrukturförderung im Zeichen zunehmender Privatisierung, DÖV 2001, S. 881); die Nichtdurchsetzung von Forderungen der öffentlichen Hand (hier wurde vom EuGH in der jüngeren Rechtsprechung ein entsprechender „private creditor test“ verwendet, vgl. dazu Soltész / Makowski, Die Nichtdurchsetzung von Forderungen der öffentlichen Hand als staatliche Beihilfe i.S. von Art. 87 I EG, EuZW 2003, S. 73, mit Rechtsprechungshinweisen in Fn. 12).
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Auch bei diesen Maßnahmen handelt es sich um Kernbereiche mitgliedstaatlicher Gestaltungsfreiheit. So wie bei Steuervergünstigungen das Kriterium einer „selektiven Begünstigung“ führt hier die Feststellung der sog. Beihilfeäquivalente, also die Differenz zwischen der tatsächlich erbrachten Leistung und der tatsächlich erhaltenen Gegenleistung im Einzelfall zu erheblichen Schwierigkeiten45. Diese folgen aus dem hypothetischen und prognostischen Charakter des Tests sowie der weiten Spanne von Beurteilungsmöglichkeiten gerade bei der Einschätzung langfristiger Rentabilitätsaussichten. Auch in diesem Bereich versucht die Kommission, die Rechtsunsicherheit bei der Feststellung des Beihilfecharakters durch Vermutungstatbestände zu begrenzen und setzt dabei insbesondere auf verfahrensrechtliche Vorgaben. So muss sich der Verkauf nach den in der Mitteilung der Kommission betreffend Grundstücksverkäufe aufgestellten Grundsätzen entweder auf ein offenes Bietverfahren oder auf eine unabhängige Wertermittlung durch einen Sachverständigen gründen46. Das Bietverfahren, das die Kommission vorzieht47, muss hinreichend publiziert sein, grundsätzlich jedem Käufer offen stehen und darf nur an Bedingungen geknüpft werden, die vom nationalen Recht vorgeschrieben sind. Diese Grundsätze hat die Kommission mittlerweile auf viele weitere Bereiche, etwa Unternehmensverkäufe oder die Durchführung von Infrastrukturprojekten übertragen48. Werden die verfahrensrechtlichen Kautelen nicht eingehalten, muss der Mitgliedstaat die Transaktion nach Auffassung der Kommission notifizieren49. Damit versucht die Kommission auch in diesem Bereich, den Unsicherheiten bei der Feststellung der Beihilfeelemente einer Maßnahme durch Verfahrens- und Vermutungsgrundsätze zu begegnen.
3. Die Erfüllung öffentlicher Aufgaben unter Gemeinschaftsaufsicht? Die Schwierigkeiten, die Grenzen der Beihilfeaufsicht zu bestimmen, und die daraus folgende Rechtsunsicherheit zeigen sich gegenwärtig mit besonderer Deutlichkeit im Bereich der Daseinsvorsorge. Über die Frage, unter welchen Umständen Ausgleichsleistungen für Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse notifizierungspflichtige Beihilfen darstellen, ist im Anschluss an eine Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs (Ferring / ACOSS)50 ein Grundsatzstreit zwischen verschiedenen Generalanwälten entbrannt51. 45 Vgl. dazu Koenig / Kühling / Ritter (Fn. 7), S. 48 ff.; zu Recht warnt Müller-Graff (Fn. 15), S. 422, in diesem Zusammenhang vor vereinfachenden Formeln. 46 Kommission, Grundstücksmitteilung (Fn. 41), II. 2. a). 47 Vgl. den XXIX. Wettbewerbsbericht der Kommission 1999, SEK (2000) 720 endg., Ziff. 235. 48 Vgl. dazu Modlich (Fn. 2), S. 174 ff.; Koenig / Kühling / Ritter (Fn. 7), S. 55 f. 49 Grundstücksmitteilung (Fn. 41), Ziffer 3. 50 EuGH, Urt. v. 22. 11. 2001, Rs. C-53 / 00, Ferring, Slg. 2001 I, 9067, Rn. 14 ff.
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Im Zuge der Liberalisierung vieler Wirtschaftssektoren, die traditionell der Daseinsvorsorge zugerechnet werden (Energie, Telekommunikation, Rundfunk, Post) hat die Kommission konsequent damit begonnen, ihrem Auftrag zur Beihilfeaufsicht auch in diesem Bereich nachzugehen. Die besondere Spannung zwischen mitgliedstaatlicher Gestaltungsfreiheit im Bereich der Daseinsvorsorge und gemeinschaftsrechtlicher Wettbewerbsaufsicht ist primärrechtlich in Art. 16 und Art. 86 Abs. 2 EGV anerkannt, aber durch Formelkompromisse nur scheinbar gelöst. Auf der einen Seite steht fest, dass den Mitgliedstaaten bei der Festlegung und Durchführung gemeinwohlorientierter Dienstleistungsaufträge auch in liberalisierten Märkten ein weit reichender Gestaltungsspielraum zukommt. Auf der anderen Seite stellt Art. 86 Abs. 2 EGV klar, dass dieser Spielraum nicht schrankenlos ist, und Kompensationen für den öffentlichen Versorgungsauftrag im Einzelfall (unzulässige) Beihilfen sein können. Im Ergebnis besteht bei der Grenzziehung Einigkeit, dass die Vergütungen für die Erfüllung öffentlicher Aufträge durch (öffentliche oder private) Unternehmen dann keine Beihilfen darstellen, wenn sie – ähnlich wie bei sonstigen gegenleistungsabhängigen Vergünstigungen – eine „normale geschäftliche Transaktion“ darstellen52. Unklar und heftig umstritten ist gegenwärtig jedoch, inwieweit Mitgliedstaaten entsprechende Ausgleichsleistungen zu notifizieren haben und die Kommission hierüber routinemäßig zu wachen hat. Diese Unsicherheiten lassen sich dogmatisch im Verhältnis von Art. 87 Abs. 1 EGV und Art. 86 Abs. 2 EGV verorten: Stellen die Ausgleichsleistungen bereits begrifflich keine Beihilfe dar (sog. Tatbestandslösung), entfallen auch Anmeldepflicht und Kontrolle. Etwas anderes gilt, wenn man in Art. 86 Abs. 2 EGV eine spezielle Ausnahme vom Beihilfeverbot (sog. Spezialitätslösung53) oder einen besonderen Rechtfertigungsgrund für Beihilfen sieht (sog. Rechtfertigungslösung54)55. Entgegen der bisherigen Rechtsprechung des Gerichts erster Instanz und der Praxis der Kommission scheint der Europäische Gerichtshof in der Rechtssache Ferring nunmehr der Tatbestandslösung zuzuneigen: Soweit die Ausgleichsleistung die zusätzlichen Kosten für die Erfüllung der gemeinwirtschaftlichen Pflichten nicht übersteige, läge keine Beihilfe im Sinne des Art. 87 Abs. 1 EGV vor56. Für eine Änderung dieser Sichtweise zuguns51 Vgl. dazu etwa Nettesheim, Europäische Beihilfeaufsicht und mitgliedstaatliche Daseinsvorsorge, EWS 2002, S. 253 ff. 52 So bereits die Unternehmensmitteilung der Kommission (Fn. 38), Ziff. III, V; vgl. auch EuG Urt. v. 28. 01. 1999, Rs. T-14 / 96, BAI / Kommission, Slg. 1999 II, S. 139: Çharakter eines normalen Handelsgeschäftes“. 53 Vgl. Art. 87 Abs. 1 Hs. 1 „soweit in diesem Vertrag nicht etwas anderes bestimmt ist“. 54 So dezidiert Selmer / Gersdorf (Fn. 1), S. 43 ff.; Nettesheim (Fn. 51), S. 258 ff. 55 Ein weiterer dogmatischer Ansatz wurde von GA Tizzano in dem Schlussantrag in der Rs. Ferring diskutiert und von Gundel, Staatliche Ausgleichszahlungen für Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse: Zum Verhältnis zwischen Art. 86 Abs. 2 EGV und dem EG-Beihilferecht, RIW 2002, 222, 228 ff. aufgegriffen: danach seien die Ausgleichsleistungen zwar notifikationspflichtig, das Durchführungsverbot gelte jedoch in den Fällen des Art. 86 Abs. 2 EGV nicht.
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ten der Rechtfertigungslösung setzt sich insbesondere Generalanwalt Légers ein: Die Tatbestandslösung habe zur Folge, dass „die Maßnahmen zur Finanzierung der öffentlichen Dienstleistungen der Kontrolle der Kommission entzogen werden“57. Die Generalanwälte Jacobs und Stix-Hackl vertreten dagegen vermittelnde Evidenzlösungen: Die Tatbestandslösung käme nur in Betracht, wenn Leistung und Gegenleistung eindeutig definiert sind und zwischen ihnen ein unmittelbarer und offensichtlicher Zusammenhang besteht58. Dieser Auffassung folgt nunmehr auch der Europäische Gerichtshof59. Dieser vermittelnde Ansatz verweist letztlich wieder auf formale Aspekte bei der Übertragung des Daseinsvorsorgeauftrags. So ist es nicht erstaunlich, dass die Kommission auf prozedurale Grundsätze und insbesondere eine verfahrensgestützte Vermutungsregelung zurückgreift: Ausgangspunkt der Überlegungen habe die Gestaltungsfreiheit der Mitgliedstaaten zu sein; diese seien bei der Definition von Dienstleistungen mit allgemeinen wirtschaftlichen Interesse vorrangig zuständig60. Vor diesem Hintergrund könne „in den Fällen, in denen ein solcher Ausgleich im Anschluss an ein offenes, transparentes und nicht diskriminierendes Verfahren für einen angemessenen Zeitraum festgesetzt wird, davon ausgegangen werden, dass die staatliche Hilfe mit den beihilferechtlichen Bestimmungen des Vertrags in Einklang steht“61. III. Die Identifizierung von Beihilfen als Gebot der Rechtssicherheit Die angesprochenen Problemfelder machen deutlich, dass die Unsicherheiten über Inhalt und Reichweite des Beihilfebegriffs zunehmend zu einer, wenn nicht gar der zentralen Herausforderung für das Beihilfeaufsichtsrecht werden. Auf der einen Seite sind die erheblichen rechtlichen Risiken einzugrenzen, die das Vordringen der Wettbewerbskontrolle in immer neue Bereiche für die Betroffenen zur FolEuGH, Urt. v. 22. 11. 2001, Rs. C-53 / 00, Ferring, Slg. 2001 I, 9067, Rn. 27. GA Légers, Antrag v. 19. 03. 2002, Rs. C-280 / 00, Altmark, Rn. 93, und v. 14. 01. 2003, Rs. C-280 / 00, Altmark, Rn. 28 ff. 58 GA Jacobs, Antrag vom 30. 04. 2002, Rs. C-126 / 01, GEMO, Rn. 120 ff.; GA StixHackl, Antrag vom 7. 11. 2002, Rs. C-34 / 01 bis C-38 / 01, Enirisore, Rn. 153 ff.; zustimmend auch Nettesheim (Fn. 51), S. 261 ff. 59 In EuGH, Urt. v. 24. 07. 2003, Rs. C-280 / 00, Altmark, Rn. 88 ff., werden die Voraussetzungen genannt, bei deren Vorliegen eine Ausgleichsleistung nicht als Beihilfe zu qualifizieren ist: die gemeinwirtschaftliche Verpflichtung des begünstigten Unternehmens muss klar definiert sein, die Parameter, anhand derer der Ausgleich berechnet wird, müssen vorab objektiv und transparent aufgestellt werden, der Ausgleich muss zur Erfüllung der gemeinwirtschaftlichen Verpflichtungen angemessen sein und zwar aufgrund einer Kostenanalyse, der ein durchschnittliches gut geführtes Unternehmen zugrunde gelegt wird. 60 Mitteilung der Kommission, Leistungen der Daseinsvorsorge in Europa, ABl. 2001 Nr. C-17 / 4, Rn. 22. 61 Mitteilung Daseinsvorsorge (Fn. 59), Rn. 26. 56 57
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ge hat: die Mitgliedstaaten müssen wissen, wann Maßnahmen als Beihilfen zu notifizieren sind, und die Adressaten der Maßnahmen brauchen Klarheit, ob die Vergünstigung zu Recht erfolgt oder sie mit Rückforderungen zu rechnen haben. Auf der anderen Seite wird ein Ringen der Beteiligten um die Reichweite der Beihilfeaufsicht und die „Definitionshoheit“ über Beihilfen deutlich; hier sind dringend verlässliche Grenzziehungen erforderlich, die die Balance zwischen einer wirksamen Wettbewerbskontrolle einerseits und mitgliedstaatlichen Gestaltungsfreiräumen andererseits wahrt. Im Folgenden soll näher untersucht werden, ob die bisherigen, noch eher tastenden Bemühungen der Praxis diesen Anforderungen entsprechen oder wenigstens in die richtige Richtung weisen. Dabei ist zu klären, welche materiellen Anforderungen die Gemeinschaftsrechtsordnung an die Bestimmtheit des Beihilfebegriffs stellt, und welche Organe zu seiner weiteren Konkretisierung beizutragen haben.
1. Der Beihilfebegriff als einheitlicher Rechtsbegriff Als Ausgangspunkt für die Suche nach Lösungswegen hat die Feststellung zu dienen, dass den Art. 87 ff. EGV ein einheitlicher Beihilfebegriff zugrunde liegt. Es ist daher nicht möglich, den geschilderten Schwierigkeiten dadurch zu begegnen, dass die Anforderungen an die Identifikation von Beihilfen in prozeduraler Hinsicht abgesenkt werden. Gemäß Art. 88 Abs. 3 Satz 1 EGV ist die Einführung und Umgestaltung jeder Beihilfe zu notifizieren, die den Tatbestand des Art. 87 Abs. 1 EGV erfüllt62. Eine Einschränkung dieser Pflicht etwa auf Fälle, in denen der Beihilfecharakter eindeutig feststeht oder offensichtlich ist, findet im Vertrag keine Stütze. Ebenso unterfällt jede (notifizierungspflichtige) Beihilfe dem Durchführungsverbot des Art. 88 Abs. 3 Satz 3 EGV63. Eine Aufspaltung dieser Pflichten etwa in dem Sinne, dass eine Maßnahme zwar angezeigt werden muss, aber gleichwohl durchgeführt werden kann, ist nicht möglich64.
2. Der Beihilfebegriff als unbestimmter und konkretisierungsbedürftiger Rechtsbegriff Der Beihilfebegriff ist in erheblichem Maße unbestimmt, wie gerade auch die oben geschilderten Problemfälle belegen. Er muss also erst in der Anwendungspra62 So auch Art. 1 a) VO Nr. 659 / 1999, vgl. hierzu Mederer (Fn. 10), Rn. 10, 37 zu Art. 93; Slot (Fn. 16), S. 43, 51 ff. 63 Dies wird nunmehr, insoweit deklaratorisch, durch Art. 3 VO Nr. 659 / 1999 bestätigt, vgl. Mederer (Fn. 10), Rn. 10 zu Art. 93. 64 Dies gilt entgegen der Ansicht von Gundel (Fn. 55), S. 228, auch für Ausgleichsleistungen an öffentliche Unternehmen, die unter Art. 86 Abs. 2 EGV fallen.
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xis konkretisiert werden. Hieran wirken verschiedene Akteure mit, von den Mitgliedstaaten als Urheber der Maßnahmen und Notifizierungsverpflichtete, über die Kommission als Aufsichtsbehörde, den Rat als Entscheidungsorgan im Einzelfall (Art. 88 Abs. 2 UAbs. 3 EGV) und als Rechtssetzungsorgan (Art. 89 EGV) bis hin zum Europäischen Gerichtshof als Kontrollinstanz. Für die Verteilung dieser Beiträge sind vor allem zwei Vorfragen relevant: der Umfang der gerichtlichen Kontrollbefugnis und die Konkretisierungsbefugnisse bzw. -pflichten von Kommission bzw. Gemeinschaftsgesetzgeber auf der Grundlage des Art. 89 EGV.
a) Der Umfang der gerichtlichen Überprüfung Angesichts der komplexen Erwägungen, die bei der Feststellung des Beihilfecharakters einer Maßnahme (in zunehmenden Maße) anzustellen sind, gewinnt eine alte Streitfrage neue Aktualität: Ist der Beihilfebegriff von den europäischen Gerichten im Sinne einer strikten Rechtsbindung uneingeschränkt zu überprüfen oder kommt der Kommission bei der Anwendung ein gewisser Beurteilungsspielraum zu? Der Europäische Gerichtshof hat sich vor Kurzem im Fall Ladbroke mit erfreulicher Deutlichkeit zu einer strikten Rechtsbindung bekannt65. In dieser Rechtssache ging das Gericht erster Instanz noch davon aus, dass es im Rahmen der Qualifizierung einer Maßnahme als staatliche Beihilfe „grundsätzlich“ nicht gerechtfertigt sei, der Kommission einen weiten Spielraum einzuräumen, „wenn keine besonderen Umstände vorliegen, die insbesondere mit der komplexen Natur der betreffenden staatlichen Maßnahme zusammenhängen“66. Unsicherheiten, die mit dieser interpretationsbedürftigen Aussage verbunden waren67, wurden vom Gerichtshof beseitigt: Der Begriff der Beihilfe habe rechtlichen Charakter und sei anhand von objektiven Kriterien auszulegen. Deshalb habe „der Gemeinschaftsrichter die Frage, ob eine Maßnahme in den Anwendungsbereich des Artikel 92 Absatz 1 des Vertrages fällt, grundsätzlich unter Berücksichtigung der konkreten Umstände des bei ihm anhängigen Rechtsstreits und des technischen oder komplexen Charakters der von der Kommission vorgenommenen Beurteilungen umfassend zu prüfen“68.
65 EuGH, Urt. v. 16. 05. 2000, Rs. C-83 / 98 P, Frankreich / Kommission, Slg. 2000 I, 3271, Rn. 25. 66 EuG, Urt. v. 27. 01. 1998, Rs. T-67 / 94, Ladbroke, Slg. 1998 II, 1, 26, Rn. 52. 67 Vgl. dazu Geiss (Fn. 7), S. 128 ff. 68 EuGH, Urt. v. 16. 05. 2000, Rs. C-83 / 98 P, Frankreich / Kommission, Slg. 2000 I, 3325, Rn. 25.
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b) Darlegungslasten und Konkretisierungsbefugnisse der Kommission Die uneingeschränkte Kontrolle des Beihilfebegriffs durch den Gerichtshof bedeutet jedoch nicht, dass der Kommission diesbezüglich keine Bewertungs- und Entscheidungsspielräume zukommen69. Dies ergibt sich bereits aus dem Umstand, dass die Gerichte nur im Ausnahmefall tätig werden und ihre Kontrolle zudem nur im Nachhinein, also „ex post“ erfolgt. Die Kommission muss aber unabhängig davon und „ex ante“ Rechtssicherheit hinsichtlich ihrer Entscheidungspraxis schaffen. Trotz (theoretisch) voller Überprüfung hinsichtlich der Methodik für die Feststellung von Beihilfeelementen gibt es notwendigerweise eine gewisse Bandbreite möglicher Entscheidungen, die vom Gerichtshof jeweils als rechtmäßig hingenommen werden können; zumindest faktisch wirkt die Entscheidungspraxis der Kommission insoweit prägend70. Beurteilungsspielräume sind erst Recht dann anzuerkennen, wenn die Entscheidung hypothetische und prognostische Erwägungen notwendig macht71. Die Kommission würde jedoch den Rechtsgrundsätzen der Rechtssicherheit und der Transparenz nicht gerecht, würde sie die Entscheidungsspielräume allein „ad hoc“, durch Entscheidungen im Einzelfall füllen. Vielmehr hat sie die Grundsätze ihrer Entscheidungspraxis vorab abstrakt-generell und für sie selbst bindend festzulegen. Zu diesem Zweck bieten sich die Gemeinschaftsrahmen (Mitteilungen, Leitlinien . . . ) an, mit denen die Grundsätze der Beihilfeaufsicht festgelegt werden. Diesen kommt nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs über eine beschränkte Selbstbindung der Kommission hinaus „objektive Bedeutung“ und „zwingende Wirkung“ zu72, sie dienen damit neben der Verwaltungsvereinfachung gerade auch der Rechtssicherheit und Transparenz73. Die Grundsätze, die für die Ausübung des Ermessens durch die Kommission bei der Rechtfertigung von Beihilfen im Rahmen des Art. 87 Abs. 3 EGV gelten74, sind auf das Vorgehen 69 Zu den notwendigen Unsicherheiten beim Vergleich mit einem privaten Investor vgl. etwa für den Fall einer Beteiligung der öffentlichen Hand an einer Kapitalgesellschaft Bonkamp (Fn. 39), S. 45 ff. 70 Ähnlich auch v. Danwitz, Grundfragen der Europäischen Beihilfeaufsicht, JZ 2000, S. 429, 433. 71 Müller-Graff (Fn. 15), S. 403, 419 ff.; Dreher, Die staatliche Eigenkapitalzufuhr an Gesellschaften als Beihilfe im Sinne des EG-Vertrages, in: W. Schön (Hrsg.), Gedächtnisschrift für Brigitte Knobbe-Keuk, Köln 1997, S. 591 ff.; Schroeder (Fn. 38), S. 805, 818 f.: die Kommission dürfe insoweit die ökonomische Einschätzung der Mitgliedstaaten nicht durch die eigene ersetzen. 72 EuGH, Urt. v. 24. 03. 1993, Rs. C-313 / 90, CIRFS, Slg. 1993 I, 1125, Rn. 34 ff.; Urt. v. 15. 10. 1996, Rs. C-311 / 94, IJssel-Vliet, Slg. 1996 I, 5023, Rn. 42 ff. 73 EuGH, Urt. v. 04. 07. 2000, Rs. C-387 / 97, Kommission / Griechenland, Slg. 2000 I, 5047, Rn. 87, 89; EuGH, Urt. v. 07. 03. 2002, Rs. C-310 / 99, Italien / Kommission, Slg. 2002 I, 2289, Rn. 52; Schlussanträge von GA Albert, Rs. C-409 / 00, vom 10. 09. 2002, Rn. 80 ff. 74 Vgl. dazu Rodi (Fn. 5), S. 488 ff.
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bei der Identifikation von Beihilfen grundsätzlich übertragbar: Die Kommission hat nicht nur das Recht, sondern auch eine Pflicht zum Erlass von Leitlinien und Mitteilungen, die den Beihilfebegriff konkretisieren und verdeutlichen.
c) Erlass von Durchführungsbestimmungen Darüber hinaus ist zu fragen, ob nicht die Rechtsunsicherheit bei der Beurteilung des Beihilfecharakters bestimmter Maßnahmen diesbezügliche Regelungen in einer Durchführungsverordnung auf der Grundlage des Art. 89 EGV erforderlich macht75. Die Bezugnahme auf Art. 87 EGV zeigt, dass die Durchführungsverordnungen auch materielles Beihilfenrecht zum Regelungsgegenstand haben können76. Angesichts der Bedeutung der Beihilfeaufsicht für die Verwirklichung des Binnenmarktes einerseits und für die vertikale Kompetenzverteilung andererseits ist es zu begrüßen, dass der Rat seine fast vollständige Regelungsabstinenz mit dem Erlass der Freistellungsverordnung 994 / 9877, der Verfahrensverordnung 659 / 199978 sowie der De-minimis-Verordnung 69 / 200179 beendet hat. Dringend wünschenswert wären darüber hinaus richtungsweisende Festlegungen hinsichtlich der Rechtfertigung von Beihilfen im Spannungsfeld von Wettbewerbsgewährleistung und politischer Gestaltung im europäischen Interesse. Die Kommission hat sich in der Vergangenheit erfolgreich dagegen gewendet, dass ihr Beurteilungsspielraum durch begriffliche Festlegungen eingeschränkt wird80. So tragen die bisher erlassenen Durchführungsverordnungen zu der hier interessierenden Frage der Identifizierung von Beihilfeelementen wenig bei, die VO 659 / 199981 enthält zum Beihilfebegriff nur punktuell sehr allgemein gehaltene Festlegungen. In der Anfangszeit der Beihilfeaufsicht, als es darum ging, im Wechselspiel mit der Beihilfenpraxis den Regelungsgegenstand tastend zu ergründen, war die Zurückhaltung des Rates von Vorteil82. Diese Situation hat sich nach der erheblichen Ausweitung und Intensivierung der Aufsichtstätigkeit und der dadurch bewirkten Rechtsunsicherheit grundlegend geändert. Mehr noch als bei der Ermessensausübung im Rahmen der Rechtfertigung wäre eine stärkere normative Konturierung Zu entsprechenden Vorschlägen vgl. Geiss (Fn. 7), S. 41 Fn. 102. Mederer (Fn. 10), Rn. 3 zu Art. 94. 77 ABl. 1998 Nr. L 142 / 1. 78 ABl. 1999 Nr. L 83 / 1. 79 ABl. 2001 Nr. L 10 / 30. 80 Mederer (Fn. 10), Rn. 3 zu Art. 94. 81 ABl. 1999 Nr. L 83 / 1. 82 Geiss (Fn. 7), S. 257, bezeichnet die Offenheit des Beihilfenkonzeptes als „einen Glücksgriff der Vertragsschöpfer, da sie der Beihilfeaufsicht einen beständigen Wandel und eine problemlose Anpassung an neue Trends jenseits politisch häufig schwierig durchsetzbarer gesetzgeberischer Reformen ermöglicht hat“. 75 76
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der tatbestandlichen Voraussetzungen Sache des „Gesetzgebers“83. Aus dem Umstand, dass Art. 89 EGV im Gegensatz zu Art. 83 EGV im Kartellrecht dem Rat ein Rechtssetzungsermessen einräumt, kann nicht gefolgert werden, dass dies allein eine Frage der Rechtspolitik wäre84.
IV. Reichweite und Grenzen der Konkretisierungsbefugnis der Kommission Solange der Rat seiner Aufgabe, mehr Rechtssicherheit durch Sekundärrecht zu gewährleisten, nur bruchstückhaft nachkommt, trifft die Verantwortung subsidiär die Kommission, die hier normvertretend tätig werden muss. In diesem Lichte sollen im Folgenden die von ihr im Rahmen dieses Auftrags bereits entwickelten Möglichkeiten zur Konkretisierung des Vorgehens bei der Ermittlung des Beihilfecharakters staatlicher Maßnahmen betrachtet werden. Dabei ist insbesondere zu fragen, ob und inwieweit dem Erfordernis der Rechtssicherheit bereits entsprochen wird oder weitere Konkretisierungen zu entwickeln sind.
1. Die Konkretisierung materieller Maßstäbe für die Ermittlung von Beihilfeelementen Die Identifizierung von Beihilfeelementen staatlicher Maßnahmen hängt zunächst von materiellen Maßstäben ab. Immer dann, wenn der Staat sich außerhalb des klassischen Instrumentariums hoheitlichen Handelns und traditioneller Subventionsvergabe bewegt und Vergünstigungen im Rahmen von Austauschbeziehungen regelmäßig in den Formen des Privatrechts transportiert werden, ist der (hypothetische) Vergleich mit dem Handeln privater Wirtschaftssubjekte grundsätzlich überzeugend. Dieser Maßstab für die Beurteilung von Beihilfeelementen, etwa als „market economy investor“-Test hat sich dementsprechend in der von Kommission und Gerichtshof geprägten Praxis fest etabliert. Er stellt nicht nur ein legitimes, sondern auch ein durch das Gebot der Rechtssicherheit gefordertes Vorgehen dar85. Dies darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass damit lediglich ein begrenzter Konkretisierungsschritt vollzogen wurde. Er belässt einerseits noch erhebliche Bewertungsspielräume. Andererseits gibt es bei vielen Gegenleistungsbeziehungen zwischen staatlichen Stellen und Privaten schlicht keine Vergleichsmärkte oder -geschäfte, so dass die Anwendung des Tests nicht wirklich weiterführt. 83 84 85
In diesem Sinne auch v. Danwitz (Fn. 69), S. 429, 431 f.; Geiss (Fn. 7), S. 257 f. So etwa Mederer (Fn. 10), Rn. 3 zu Art. 94. Schroeder (Fn. 38), S. 805, 832.
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2. Der „Beihilfeverdacht“ und die Bedeutung von Vermutungstatbeständen Wie oben dargestellt, behilft sich die Kommission in den problematischen Bereichen häufig damit, Vermutungsregeln für das Vorliegen oder Nichtvorliegen von Beihilfen zu formulieren. Auffallend ist zunächst, dass der Einsatz von Vermutungstatbeständen in der Literatur kaum auf Widerspruch stößt86. Das erstaunt insofern, als dieses Vorgehen dogmatisch alles andere als klar ist. Von der Qualifikation hängen jedoch seine Einsatzmöglichkeiten und Grenzen ab. Häufig wird die Bedeutung der Vermutungstatbestände im Bereich der Beweislast gesucht. Die Vermutungswirkung wird dann etwa als Frage des Anscheinsbeweises angesehen87 oder kritisch eingewendet, dass mit Hilfe solcher Vermutungstatbestände die Beweislast für das Vorliegen einer Beihilfe nicht verändert werden könne88. Diese Sichtweise führt jedoch auf die falsche Fährte, denn das Instrument der Beweislast ist relativ auf Rechtsverhältnisse bezogen. Vorliegend geht es jedoch um etwas anderes, nämlich um die Konkretisierung sowie Operationalisierung eines Rechtsbegriffs und die Frage, welche Organe hierzu (verbindliche) Beiträge leisten können oder müssen. Subventionen und Beihilfen begründen ein mehrpoliges System von Kompetenzen und Rechtsverhältnissen; das Bedürfnis nach Rechtssicherheit besteht nicht nur zwischen zwei Parteien, sondern erfordert Rechtsklarheit ex ante und erga omnes. Die Lösung von Problemen bei der Konkretisierung des Beihilfebegriffs und der Identifikation von Beihilfen hat an der Funktion des Beihilfeaufsichtsrechts anzusetzen. Es geht dabei weniger um gegenseitige Ansprüche und Rechtspositionen, vielmehr in erster Linie um einen Kompetenzkonflikt im Rahmen eines Systems des kooperativen Föderalismus. Mitgliedstaatliche und gemeinschaftliche Kompetenzen sind durch wechselseitige Kompetenzausübungsschranken zu einem schonenden Ausgleich zu bringen89. Die Regeln der Beihilfeaufsicht verteilen Verantwortlichkeiten in einem gestuften und mehrpoligen System von Kompetenzen und Rechtspositionen90. Ausgangspunkt bei der dogmatischen Einordnung von Vermutungsregeln hat ein Bereich politischer Gestaltungsfreiheit der Mitgliedstaaten zu sein. Dies wird besonders deutlich, wenn es um Entscheidungen des Steuergesetzgebers oder um die Ausgestaltung des Daseinsvorsorgeauftrags geht. Mit der Freiheit im Bereich der Grundentscheidung korrespondiert ein gemeinschaftsrechtliches Gebot zu wettbewerbsneutraler Ausgestaltung. In der Logik einer „Selbstbindung“ ergibt sich daher der Maßstab für die Qualifikation der Beihilfe in erster Linie aus dem zugrunde gelegten System der Be- und Entlastungsentscheidun86 So etwa bei Schroeder (Fn. 38), S. 805, 818 f.; Koenig / Kühling, Grundfragen des EGBeihilfenrechts, NJW 2000, S. 1065, 1066 f. 87 So etwa Dreher (Fn. 70), S. 601 f. 88 Schroeder (Fn. 38), S. 805, 819; Bonkamp (Fn. 39), S. 66 ff. 89 Schroeder (Fn. 38), S. 805, 841 ff. 90 Dazu grdl. Rodi (Fn. 5), S. 92 ff., 191 ff.; vgl. auch v. Danwitz (Fn. 69), S. 429, 432.
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gen91. Damit besteht letztlich eine Obliegenheit der Mitgliedstaaten, zur Klärung des Beihilfecharakters der Maßnahmen beizutragen92. Umgekehrt hängen Inhalt und Reichweite der Notifikationsverpflichtungen damit indirekt auch davon ab, wie die Mitgliedstaaten ihre Gestaltungsfreiräume nutzen und ihrer Verantwortung für eine wettbewerbskonforme Ausgestaltung nachkommen. Im Rahmen ihrer Pflicht zur Festlegung abstrakt-genereller Regeln zur Identifikation von Beihilfeelementen kann die Kommission dazu Vermutungstatbestände formulieren. Die Figur der Beihilfevermutung entspricht einer dialektischen Grundstruktur des Beihilferechts93 und ist Teil der Rechtskonkretisierung in einem System gestufter Verantwortlichkeiten. Die „Definitionshoheit“ über den Beihilfebegriff ist letztlich eine geteilte. Die Vermutungsregeln knüpfen einerseits an der Pflicht der Mitgliedstaaten zu einer wettbewerbsneutralen Ausgestaltung der Rechtsordnung an; dabei trifft sie zumindest eine Obliegenheit zu Transparenz, insbesondere sind nicht systemkonforme Begünstigungselemente erkennbar zu machen. Die Formulierung von Beihilfevermutungen ist andererseits Ausfluss der Aufgabe der Kommission, abstrakt-generelle Regeln zur Identifikation von Beihilfen zu schaffen. Aus beidem zusammen, der Rechtsgestaltung durch den Mitgliedstaat und der abstrakt-generellen Regel muss sich der Beihilfecharakter einer Maßnahme objektiv und für Dritte bei einer Betrachtung ex ante ergeben. Vermutungstatbestände können diese Funktion erfüllen.
3. Prozedurale Kriterien zur Feststellung von Beihilfeelementen Kontrovers diskutiert wird das Vorgehen der Kommission, die Ermittlung von Beihilfeelementen davon abhängig zu machen, ob bestimmte Verfahrensvorgaben beachtet wurden94. Beispielhaft sei auf das oben bereits erwähnte Bietverfahren bei Grundstücks- und Immobilienverkäufen sowie bei der Durchführung von Infrastrukturprojekten hingewiesen95. Entsprechendes gilt für das Erfordernis, dass öffentliche Aufträge bereits vorab bindend festgelegt sein müssen96. Das Unbehagen Schön (Fn. 21), S. 111 zu Steuervergünstigungen. Müller-Graff (Fn. 15), S. 417 ff., spricht in diesem Zusammenhang davon, dass man bei der Bewertung einer Maßnahme als Beihilfe nicht ohne die Berücksichtigung staatlicher Erwägungen auskommen könne; angesichts der ihnen zustehenden Beurteilungsspielräume seien die Mitgliedstaaten im Zweifelsfall begründungspflichtig. 93 So Schön (Fn. 21), S. 111, zum steuerlichen Beihilferecht. 94 Zu den überwiegend positiven Stellungnahmen vgl. etwa Britz, Staatliche Förderung gemeinwirtschaftlicher Dienstleistungen in liberalisierten Märkten und Europäisches Wettbewerbsrecht, DVBl. 2000, S. 1641, 1644; Gundel (Fn. 55), S. 222, 227. 95 Vgl. dazu oben II. 2., Fn. 41, 44. 96 Vgl. dazu die Mitteilung der Kommission über die Anwendung der Vorschriften über staatliche Beihilfen auf den öffentlich-rechtlichen Rundfunk, ABl. 2001 Nr. C-320 / 5; Mitteilung Daseinsvorsorge (Fn. 59), Rn. 22, 26; ähnlich auch im Rahmen der Gewährsträgerhaftung, vgl. XXXI. Wettbewerbsbericht, S. 94 f. 91 92
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an dem verfahrensrechtlichen Ansatz der Kommission rührt wohl daher, dass den Mitgliedstaaten damit (mittelbar) formale Vorgehensweisen in Politikbereichen aufgedrängt werden, die an sich in ihre Gestaltungsfreiheit fallen. Daraus ergibt sich jedoch nicht die Unzulässigkeit von Verfahrenskriterien zur Feststellung oder zum Ausschluss eines „Beihilfen-Verdachts“, zeigt jedoch die Grenzen dieser Methode auf: Einerseits muss das jeweilige Verfahren geeignet sein, die Vermutung zu begründen, dass eine marktfähige, den Beihilfencharakter ausschließende Gegenleistung erfolgt ist. Andererseits darf die Beurteilung des Vorliegens von Beihilfeelementen nicht allein von der korrekten Durchführung des jeweiligen Verfahrens abhängen. Es müssen für die betroffenen Mitgliedstaaten auch andere Wege offen stehen, eine Vermutung für das Vorliegen von Beihilfen durch Ausgestaltung ihrer Rechtsordnung in formeller wie materieller Hinsicht zu widerlegen. Hierfür gibt die Kommission regelmäßig auch weitere Möglichkeiten an, etwa bei Grundstücksverkäufen eine unabhängige Wertermittlung durch Sachverständige. Solche Alternativen sind notwendig und können zudem ihrerseits nur als beispielhaft verstanden werden, denn ohne ihre Eröffnung würde die Kommission in der Tat die Grenzen ihrer Aufgabe, Methoden zur Feststellung von Beihilfeelementen zu konkretisieren, verlassen und unzulässig Verfahren steuern, die die Mitgliedstaaten autonom gestalten dürfen.
4. Grundsätze zur Abschichtung steuerlicher Beihilfen als Desiderat Besonderheiten ergeben sich bei der Identifikation von steuerlichen Beihilfeelementen. Das liegt nicht so sehr an dem Umstand, dass die „Demarkationslinie“ der Europäisierung hier – anders als in sonstigen Problembereichen – weniger bei der Feststellung einer Vergünstigung, als vielmehr bei der Abgrenzung allgemeiner Maßnahmen von spezifischen Begünstigungen bestimmter Unternehmen oder Produktionszweige verläuft97. Die Besonderheiten des Steuerrechts führen allerdings dazu, dass für die Identifikation von Beihilfeelementen ein „Markttest“, also die Frage nach marktgerechten Gegenleistungen ebenso ausscheiden muss98 wie der Weg über Verfahrenskriterien: hier ist die Maßnahme aufgrund des Gesetzesvorbehalts materiell im Steuergesetz und das Verfahren in der Steuerverfahrensordnung festgelegt. Um so stärker behilft sich die Kommission zur Feststellung steuerlicher Beihilfeelemente statt dessen mit der Formulierung von Vermutungsregeln. Sie zieht damit die Konsequenz aus dem Umstand, dass es eine einfache Lösung zur Identifikation steuerlicher Beihilfebestimmungen ebenso wenig geben kann wie für die Abschichtung von Steuervergünstigungen insgesamt. Im Grunde lassen sich die 97 98
Vgl. hierzu Schön (Fn. 21), S. 120 ff. Schön (Fn. 21), S. 117.
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Möglichkeiten zur Abgrenzung auf zwei grundlegende Alternativen zurückführen: Einerseits kann man nach den vom Gesetzgeber mit der jeweiligen Vergünstigungsnorm verfolgten Zwecken fragen. Andererseits läßt sich negativ darauf abstellen, welcher Entlastungstatbestand sich nicht in das allgemeine Steuersystem einfügt;99 dann muss im Einzelfall festgestellt und begründet werden, dass sich eine Steuernorm nicht mehr als Ausprägung der gesetzgeberischen Grundkonzeption, etwa der Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit, verstehen lässt100. Positiv entspricht dem im Rahmen des von Stanley S. Surrey entwickelten Konzeptes der „tax expenditures“ die Frage, welche steuerlichen Regelungen ein funktionales Äquivalent zu einer Subvention darstellen101. Die Feststellung von Beihilfeelementen im Steuerrecht hat einerseits den objektiven Charakter des Beihilfebegriffs, andererseits die auch hier prägende Dialektik von mitgliedstaatlicher Gestaltungsfreiheit und einer abstrakt-generellen Konkretisierungsverantwortung der Gemeinschaftsorgane zu berücksichtigen. Ausgangspunkt kann auch hier nur das vom Mitgliedstaat autonom gestaltete Steuersystem sein102. Ohne Rückgriff auf die zugrunde liegenden rechtlichen Wertungen lässt sich ihr Beihilfencharakter nicht beurteilen. Damit trifft den Mitgliedstaat wiederum die Obliegenheit, die Konturen des allgemeinen Steuersystems in Abgrenzung zu spezifischen, hiervon unabhängigen Vergünstigungen erkennen zu lassen. Dieses Zusammenspiel von Gestaltungsfreiheit und Gestaltungsverantwortung entspricht im Übrigen dem Gebot der Zweckklarheit, das das Bundesverfassungsgericht zur Identifikation von Steuervergünstigungen einsetzt103. Auch das Beihilfenrecht zwingt die Mitgliedstaaten im Sinne einer Selbstbindung zu einer gleichheitsgerechten Ausgestaltung der autonom getroffenen Belastungsentscheidungen104. Mit Vermutungsregeln kann die Kommission den Zusammenhang zwischen Ausgestaltungsentscheidung und Beihilfeelementen verdeutlichen.
V. Ausblick Vermutlich lag dem Vorgehen der Kommission, für die Identifikation von Beihilfen zunehmend Vermutungs- und Verfahrensregeln in den Leitfäden und Mitteilungen zu formulieren, kein konsistentes dogmatisches Konzept zugrunde. Es lässt Zur Methode der Abschichtung vgl. grdl. Vogel (Fn. 23), S. 97. In diese Richtung tendiert etwa Frick (Fn. 21), S. 27 ff.; vgl. auch Schön (Fn. 21), S. 118 ff. 101 Vgl. dazu oben Abschnitt II 1. 102 Schön (Fn. 21), S. 117. 103 Vgl. dazu Rodi, Ökonomische, ökologische und andere öffentliche Zwecke im Abgabenrecht, JZ 2000, S. 832 f. 104 In diesem Sinne auch Schön (Fn. 21), S. 111: „Will der Mitgliedstaat den Verdacht steuerlicher Beihilfen ausräumen, muss seine Gesetzgebung daher auf eine breitflächige und gleichmäßige Belastung steuerwürdiger Sachverhalte gerichtet sein“. 99
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sich wohl eher auf intuitives Handeln zurückführen, angesichts praktischer Notwendigkeiten und fehlender Rechtsvorschriften mehr Transparenz und Rechtssicherheit für den Rechtsverkehr zu erreichen. Bei näherer Hinsicht zeigt sich, dass mit diesem Verfahren eines „trial and error“ auch ein dogmatisch gangbarer und fortentwicklungsfähiger Ansatz geschaffen wurde. Regelungstechnisch wurde damit eine Option entwickelt, auf die auch der Rat zurückgreifen könnte, wenn er sich auf seine Verantwortung zur Rechtskonkretisierung in diesem Bereich besinnen sollte.
Wirtschaftsverwaltungsrecht vor den Kartellsenaten Die Praxis zu §§ 63 ff. GWB als Beitrag zum Verwaltungsrechtsschutz im Wirtschaftsrecht Von Karsten Schmidt
I. Zum Gegenstand dieses Beitrags 1. Die Zuweisung des Kartellverwaltungsrechtsschutzes zu den Zivilgerichten Zu den Arbeitsschwerpunkten Peter Selmers hat neben dem Finanzverfassungsrecht stets das Wirtschaftsverwaltungsrecht1, in den jüngeren Jahren der Fusionskontrolle besonders das Kartellrecht als Bestandteil des öffentlichen Rechts, gehört2. Als Rechtslehrer, aber auch als ständiger Mitarbeiter der Zeitschrift „Juristische Schulung“ hat Peter Selmer, wo es der Zusammenhang mit seinen Bereichen mit sich bringt, auch bis heute die allgemeinen Lehren des Verwaltungsverfahrens und des Verwaltungsprozesses in seine Fallanalysen einbezogen3. Die thematische Ausrichtung der folgenden Betrachtungen basiert auf der Feststellung, dass diese Bereiche – das Kartellrecht, der wirtschaftsverwaltungsrechtliche Rechtsschutz und die ständige Mitbetreuung des Rechtsprechungsteils der Juristischen Schulung – neben freundschaftlicher und langjähriger kollegialer Verbundenheit auch eine fachliche Nachbarschaft zwischen dem Werk des Jubilars und dem Arbeitsgebiet des Verfassers begründen. Hier soll eine Brücke geschlagen werden: Es geht um den Beitrag der Kartellsenate bei den Oberlandesgerichten und beim Bundesgerichtshof zu einer rechtsstaatlich gefestigten, jedoch durchaus eigenständigen Praxis im Wirtschaftsverwaltungsrecht. Kartellrechtspraxis ist zum großen Teil rechtsförmlich praktizierte Wirtschaftspolitik. Verwaltungsrechtliche und verwaltungsverfahrensrechtliche Fragen stehen aus dieser Perspektive nicht im Zentrum der Aufmerksamkeit. Sie sind nicht die erste Sorge der Praxis und Wissenschaft des Rechts gegen Wettbewerbsbeschränkungen. Aus der Sicht des Wirtschaftsverwaltungsrechts sollte dies anders sein. 1 2 3
32*
Vgl. nur P. Selmer, Unternehmensentflechtung und Grundgesetz, 1981. Vgl. exemplarisch Selmer (Fn. 1). Vgl. nur P. Selmer, JuS 2001, 198; 2002, 821.
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Bedenkt man die Dimension und die Tragweite kartellbehördlicher Tätigkeit – namentlich im Bereich der Zusammenschlusskontrolle nach §§ 35 ff. GWB (früher §§ 23 ff. GWB a.F.) –, so verwundert das offenkundige Desinteresse der Wissenschaft vom öffentlichen Recht am kartellrechtlichen Verwaltungsverfahrensrecht und am Rechtsschutzkonzept des GWB4. Nach zivilgerichtlicher Zuständigkeit für den Verwaltungsrechtsschutz kraft spezialgesetzlicher Zuweisung gefragt (§ 40 Abs. 1 VwGO)5, wird nahezu jeder Verwaltungsrechtler nächst den Staatshaftungssachen (Art. 34 Satz 3 GG) und den Entschädigungssachen (Art. 14 Abs. 3 Satz 4 GG, § 40 Abs. 2 VwGO) sehr rasch auf die Justizverwaltungsakte (§ 23 EGGVG) und auf die Baulandsachen (§ 217 BauGB) zu sprechen kommen. Die nach Zahl und Dimension doch wahrhaftig nicht minder bedeutende Rechtsprechung der Kartellsenate über das Verwaltungshandeln des Bundeskartellamts6 steht demgegenüber in einem schwer erklärbaren Schatten7. Zwar haben die Einbeziehung des Vergaberechts in das GWB8 und der in §§ 116 ff. GWB geregelte Rechtsschutz durch sofortige Beschwerde die Aufmerksamkeit auch der Verwaltungsrechtswissenschaft jedenfalls kurzfristig auf die dort eingeführte Rechtswegzuweisung gelenkt9, doch hat dies an dem Gesamtbefund nichts geändert. Auch die dem Bundesgerichtshof dargebrachten Festschriften haben, wo sie das Kartellrecht einbezogen10, eines nicht gewürdigt: die genuin verwaltungsrechtlichen Verdienste der zivilgerichtlichen Rechtsprechung auf diesem Gebiet. Das sei hier nachgeholt.
2. Kartellrecht als verwaltungsrechtliches Arbeitsfeld Nach den Gründen gefragt, die eine Befassung mit dem Thema in einer öffentlichrechtlichen Festschrift rechtfertigen, könnte man es sich hiernach leicht machen und einfach sagen: Wo sonst? Aber der Rechtsschutz in Kartellverwaltungs4 Wichtige Ausnahmen sind K. A. Bettermann, R. Scholz, H. Soell, W. Skouris und P. J. Tettinger. 5 Dazu umfassend Fr. Schoch, in: System des verwaltungsrechtlichen Rechtsschutzes, FS Menger, 1985, S. 305 ff. 6 Die Landeskartellbehörden bleiben hier außer Betracht. 7 Charakteristisch Th. Würtenberger, Verwaltungsprozessrecht, 1998, Rn. 178 ff.; auch dem „Verwaltungsprozessrecht“ von Dieter Lorenz (2000) scheint es kaum eine Erwähnung wert, vgl. § 11 Rn. 78 sowie § 11 Anm. 156 a.E.; s. auch J. Hüttenbrink, in: Kuhla / Hüttenbrink (Hrsg.), Der Verwaltungsprozess, 2. Aufl. 1998, Rn. C 94. 8 Gesetz vom 29. Mai 1998, BGBl. I S. 2512. 9 Vgl. C. Erdl, Der neue Vergaberechtsschutz, 1999; J. Pietzcker, ZHR 162 (1998), 427 (470 ff.); als Beitrag eines Wirtschaftsprivatrechtlers vgl. M. Dreher, NVwZ 1997, 343 (347 ff.). 10 Vgl. H. Hill, in: Krüger-Nieland (Hrsg.), 25 Jahre BGH, 1975, S. 175 ff.; J. Bornkamm, in: Geiß / Nehm / Brandner / Hagen (Hrsg.), FS aus Anlass des 50jährigen Bestehens von Bundesgerichtshof, Bundesanwaltschaft und Rechtsanwaltschaft beim BGH, 2000, S. 343 ff.; U. Immenga und M. Dreher, in: Canaris u. a. (Hrsg.), 50 Jahre BGH, Bd. II, 2000, S. 699 ff., 713 ff.
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sachen hat auch von der Sache her seinen besonderen Reiz: Zunächst einmal wird hier auf der Basis eines aus dem Jahr 1957 stammenden Gesetzes11 praktiziert und judiziert, dem man trotz seiner vieldiskutierten Novellen12 – im Jahr dieser Festschrift wird es die siebente sein13 – bis heute anmerkt, dass es vom Verwaltungsverfahrensgesetz (1976) und von der Verwaltungsgerichtsordnung (1960) noch nichts weiß, das von Verfügungen (§ 61 GWB) statt von Verwaltungsakten (§ 35 VwVfG) und von Beschwerden (§ 63 GWB) statt von Klagen (§ 42 VwGO) spricht und dessen Verfahrensteil fragmentarisch ist. Das GWB war von Anbeginn an eine Einladung an die Verwaltungsrechtsdoktrin zur Rechtsfortbildung. Sie wurde von dieser Seite wenig genutzt14, musste folglich von anderen wahrgenommen werden15. In weiten Teilen war die Rechtsprechung der Kartellsenate auf sich gestellt. Das mag damit zusammenhängen, dass der um die Kartellrechtsdomäne geführte, wenig fruchtbare „Schulenstreit“ zwischen dem öffentlichen Recht und dem Privatrecht immer mehr zur Landnahme durch das Wirtschaftsprivatrecht geführt hat16 und aufgrund der Europäischen Verordnung Nr. 1 / 200317 noch weiter führen wird18. Dass aber die Verwaltungsrechtsdoktrin auch das unbestreitbare öffentlichrechtliche Instrumentarium des Verwaltungsverfahrens und des Gerichtsschutzes in Kartellsachen in dem bisher erlebten Maße links hat liegen lassen, statt ihren Sachverstand aktiv einzubringen, ist schwer zu erklären und noch weniger zu rechtfertigen, namentlich im Recht der Zusammenschlusskontrolle, das genuines Wirtschaftsverwaltungsrecht ist19. Hinzu kommt schließlich, dass die immer wieder entscheidenden Kraftproben des Verwaltungsrechtsschutzes, namentlich die Probleme der Nicht-Adressatenklage20 wohl nirgends so zugespitzt in Erscheinung treten wie im Kartellrecht21. Einfach und bildhaft gesagt: Wo Märkte verwaltet werden, geht mit jeder Individualbegünstigung oder Individualbetroffenheit durch Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen vom 27. Juli 1957, BGBl. I S. 1081. Das Gesetz wurde nach der Sechsten Novelle neu verkündet am 26. August 1998, BGBl. I. S. 2546. 13 Diese Novelle beruht auf der VO Nr. 1 / 2003 des Rates; zur gesetzgeberischen Planung vgl. die Eckwerte für eine Siebente GWB-Novelle in WuW 2003, 379 ff. 14 Auf exemplarische Ausnahmen wurde in Fn. 4 hingewiesen. 15 Als ein solcher Versuch versteht sich Karsten Schmidt, Kartellverfahrensrecht – Kartellverwaltungsrecht – Bürgerliches Recht, 1976. 16 Vgl. zu diesem „Schulenstreit“ J. F. Baur, Der Missbrauch im deutschen Kartellrecht, 1972, S. 53 f. 17 VO (E 8) Nr. 1 / 2003 des Rates v. 16. Dezember 2002 zur Durchführung der in den Artt. 81 und 82 des Vertrags niedergelegten Wettbewerbsregeln, ABl. 2003, L 1, 1. 18 Karsten Schmidt, BB 2003, 1237 (1244). 19 Vgl. nur P. Badura, in: Schmidt-Assmann (Hrsg.), Besonderes Verwaltungsrecht, 12. Aufl. 2003, Rn. 3 / 77. 20 Dazu umfassend W. Skouris, Verletztenklagen und Interessentenklagen im Verwaltungsprozessrecht, 1979, passim. 21 Das war früh erkannt bei R. Scholz, Wirtschaftsaufsicht und subjektiver Konkurrentenschutz, 1971. 11 12
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verwaltungsbehördliches Handeln eine bisweilen direkte, meist aber diffuse Doppelwirkung für oder gegen Dritte einher, so dass sich beständig – nur eben in überaus schwieriger Zuspitzung – das von Nachbar- und Konkurrentenklagen im Verwaltungsprozessrecht bekannte Drittschutzproblem stellt, insbesondere die Frage: Welcher Marktteilnehmer ist subjektivrechtlich betroffener Dritter, welcher dagegen nur reflexiv betroffener quivis ex populo? Viel war hier also zu leisten, und viel ist – wie schon gesagt: ohne gebührende Mithilfe seitens der wirtschaftsverwaltungsrechtlichen Literatur – von den Kartellsenaten in nunmehr fast 50jähriger Praxis geleistet worden. In diesem Sinne soll hier in den Annalen der Gerichtspraxis geblättert werden. II. Zum Gerichtsschutz durch die Kartellsenate 1. Die kartellrechtliche Beschwerde als klageähnliche Rechtsschutzform Nach § 63 Abs. 1 GWB ist gegen Verfügungen der Kartellbehörde die Beschwerde gegeben, die auch auf neue Tatsachen und Beweismittel gestützt werden kann. Nach § 63 Abs. 3 Satz 1 GWB kann die Beschwerde auch gegen die Unterlassung einer beantragten Verfügung der Kartellbehörde eingelegt werden, sei es, dass die Kartellbehörde den Antrag abgelehnt, sei es, dass sie ihn nicht binnen angemessener Frist beschieden hat (§ 63 Abs. 3 Satz 2 und 3 GWB). Über die Beschwerden entscheidet das für den Sitz der Kartellbehörde zuständige Oberlandesgericht, bis zum Umzug des Bundeskartellamts nach Bonn22 also das Kammergericht, seither das Oberlandesgericht Düsseldorf23. Die Beschwerde ist binnen Monatsfrist einzulegen (§ 66 GWB) und hat in den Fällen des § 64 GWB aufschiebende Wirkung, sofern nicht die Kartellbehörde den Sofortvollzug angeordnet hat (§ 65 GWB). Das Beschwerdegericht ermittelt den Sachverhalt unter der Geltung des – durch Mitwirkungspflichten der Beteiligten relativierten24 – Untersuchungsgrundsatzes (§ 70 Abs. 1 GWB) und entscheidet durch Beschluss (§ 71 GWB), der unter den Voraussetzungen der §§ 74 ff. GWB der Rechtsbeschwerde an den Bundesgerichtshof unterliegt. Die Zuweisung dieses Rechtsschutzes zu Kartellsenaten hat sich, obgleich anfangs kritisiert25 und sogar verfassungsrechtlich in Frage gestellt26, bewährt. Sie 22 § 51 Abs. 1 GWB; die Änderung beruht auf dem Gesetz v. 26. April 1994, BGBl. I S. 918; auf Landeskartellbehörden wird hier nicht eingegangen. 23 Die Zuständigkeit des OLG Düsseldorf statt des OLG Köln beruht auf § 63 Abs. 4 S. 1 GWB und § 2 der Verordnung v. 2. Oktober 1990, GVBl. NW 1990, S. 579 (für die Zeit bis 1994) bzw. auf § 2 der Verordnung v. 22. November 1994, GVBl. NW 1994, S. 1067 (für die Zeit ab 1994). 24 Vgl. nur BGH, WuW / E DE-R 375 (378) „Flugpreisgestaltung“. 25 Vgl. nur Kurt Zweigert, Das neue Kartellgesetz, 1959, S. 16 f. = DVBl. 1958, 733 (737 f.). 26 C.-H. Ule, Verwaltungsprozessrecht, 9. Aufl. 1987, § 6 I (betr. den BGH).
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dient der Einheit der Rechtsordnung und legt den dreigleisigen Rechtsschutz im Kartellrecht – Bußgeldbeschwerden nach §§ 83 ff. GWB, Zivilprozesse nach §§ 87 ff. GWB und eben den Rechtsschutz in Kartellverwaltungssachen nach §§ 63 ff. GWB – in die Hand derselben Gerichte und Spruchkörper. Nicht die traditionelle Trennung der Rechtswege und der juristischen Disziplinen, sondern die materielle Einartigkeit der schwierigen Rechtsmaterie gab hier den Ausschlag. Das war eine unkonventionelle, auch heute noch modern anmutende Entscheidung des Gesetzgebers. Gleichfalls unkonventionell und für die sich an die Einführung des GWB anschließende Praxis eher verwirrend als klärend war die Ausformung des Rechtsschutzes in Anlehnung an das Beschwerdeverfahren der §§ 19 ff. FGG27. Sie wurde von Karl August Bettermann als Etikettenschwindel bezeichnet28 und ließ, wie der seinerzeitige Vorsitzende des Kartellsenats am Kammergericht resümierend feststellte, den Senat erst allmählich erkennen, dass dieses Verfahren nach den Maßstäben der Verwaltungsgerichtsordnung und nicht der Freiwilligen Gerichtsbarkeit fortgebildet werden müsse29. Heute steht fest: Funktionell ist die Beschwerde nach dem GWB eine bei dem Oberlandesgericht einzureichende verwaltungsrechtliche Klage30, die zum BGH führende Rechtsbeschwerde eine Revision31.
2. Von der Enumeration der Beschwerdeformen zur ungeschriebenen Generalklausel a) Das FGG spricht nur von der gegen eine Verfügung gerichteten Beschwerde32. Mit ihr beginnt auch § 63 GWB (sog. Anfechtungsbeschwerde), wobei sich der Begriff der Verfügung auf §§ 61 f. GWB bezieht und das bedeutet aus heutiger Sicht: auf den Begriff des Verwaltungsakts i.S. von § 35 Satz 1 VwVfG. Verfügung in diesem Sinne ist jede Entscheidung oder andere hoheitliche Maßnahme, die eine Kartellbehörde zur Regelung eines Einzelfalls auf dem Gebiet des Kartellverwaltungsrechts trifft und die auf unmittelbare Rechtswirkung nach außen gerichtet ist (vgl. § 35 Satz 1 VwVfG)33. Die im Gesetz als gegen die Unterlassung einer beanBegründung des Regierungsentwurfs zum GWB, Anlage 1 zu BT-Drucks. II / 1158, S. 30. K. A. Bettermann, Die Beschwer als Klagevoraussetzung, 1970, S. 27 = K. A. Bettermann, Staatsrecht – Verwaltungsrecht – Zivilrecht, 1988, S. 602 (621). 29 G. Hintze, WuW 1970, 571 (574). 30 Karsten Schmidt, Gerichtsschutz in Kartellverwaltungssachen, 1980, S. 3 ff.; ausführlich seither M.-G. Kremer, Die kartellverwaltungsrechtliche Beschwerde, 1988, passim. 31 Über die Anwendung revisionsrechtlicher Grundsätze vgl. BGHZ 65, 30 (35) = WuW / E BGH 1367 (1370) „Zementverkaufsstelle Niedersachsen“; s. auch BGHZ 81, 53 (54) = WuW / E BGH 1867 (1869) „Levi’s Jeans“. 32 Vgl. zur Ablehnung einer Verpflichtungsbeschwerde im FGG BayObLG, NJW-RR 1999, 292 (293); I. Kahl, in: Keidel / Kuntze / Winkler, FGG, 15. Aufl. 2003, § 19 Rn. 5. 33 Vgl. zuletzt OLG Düsseldorf, WuW / E DE-R 1070 (1071) „Energie-AG Mitteldeutschland“. 27 28
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tragten Verfügung gerichtet bezeichnete Beschwerde („Verpflichtungsbeschwerde“) ist das Pendant zur verwaltungsgerichtlichen Verpflichtungsklage und wird heute in deutlicher Anlehnung an die Terminologie des Verwaltungsprozessrechts in die Varianten der Weigerungsbeschwerde (§ 63 Abs. 3 Satz 1 GWB) und der Untätigkeitsbeschwerde eingeteilt (§ 63 Abs. 3 Satz 2 und 3 GWB)34. Weitere Beschwerdearten konnten sich erst nachträglich unter dem Druck des Art. 19 Abs. 4 GG etablieren. Insbesondere die Entscheidung „Feuerfeste Steine“ aus dem Jahr 197035 wurde lange Zeit dahin gehend verstanden, nur eine Verfügung der Kartellbehörde oder deren Unterlassung könne eine Rechtsverletzung i.S. von Art. 19 Abs. 4 GG sein36. b) Einen Riesenschritt nach vorn brachte der Beschluss BGHZ 117, 209 = NJW 1992, 1829 = WuW / E 2760 „Unterlassungsbeschwerde“, in dem der Bundesgerichtshof nach mehr als einem Vierteljahrhundert GWB-Praxis die allgemeine Leistungsbeschwerde anerkannte. Es ging in diesem Fall um den Rechtsschutz der Bayerischen Landesbank gegen eine nach § 43 Abs. 1 Nr. 1 GWB (damals noch § 10 Abs. 1 Nr. 4 GWB a.F.) erfolgte Bekanntmachung einer nach § 39 GWB (damals noch § 23 Abs. 1 GWB a.F.) gebotenen Zusammenschlussanzeige, die das Bundeskartellamt mit dem Zusatz versehen hatte, die Beschwerdeführerin sei „gemeinsam beherrscht vom Freistaat Bayern und dem Bayerischen Sparkassen- und Giroverband“. Der Bundesgerichtshof führte in seiner Grundsatzentscheidung aus: „1. Das KG geht zutreffend davon aus, dass Leistungsbeschwerden in Form der vorbeugenden Unterlassungsbeschwerde auch im kartellgerichtlichen Verfahren grundsätzlich statthaft sind, wenn und soweit nur durch sie ein lückenloser effektiver Rechtsschutz gewährleistet ist. Allerdings regelt das Gesetz in § 62 GWB nur die Anfechtungsbeschwerde, die sich gegen Verfügungen der Kartellbehörde richtet (Absatz 1), und die Verpflichtungsbeschwerde, mit der die Pflicht der Kartellbehörde zum Erlass einer Verfügung durchgesetzt werden soll (Absatz 3). Diese Beschwerdearten reichen jedoch allein nicht aus, um den nach Art. 19 Abs. 4 GG gebotenen lückenlosen Rechtsschutz in allen Fällen zu gewährleisten, in denen der Betroffene in seinen Rechten verletzt ist. Ist ein kartellverwaltungsrechtlicher Anspruch durchzusetzen, der – wie der Folgen- oder Störungsbeseitigungsanspruch – nicht auf Erlass einer Verfügung gerichtet ist, so ist der kartellverwaltungsrechtliche Rechtsschutz um eine der allgemeinen Leistungsklage des Verwaltungsprozesses vergleichbare allgemeine Leistungsbeschwerde zu ergänzen. Der Senat hat bereits in einem früheren Verfahren entschieden, dass mit der allgemeinen Leistungsbeschwerde gegen die Kartellbehörde zulässigerweise der Anspruch verfolgt werden kann, eine Bekanntmachung nach § 10 Abs. 1 Nr. 5 GWB zu berichtigen (vgl. BGHZ 74, 359, 360). 2. Zutreffend hat das KG weiter angenommen, dass als Leistungsbeschwerde auch eine vorbeugende Unterlassungsbeschwerde statthaft ist, dass ihre Zulässigkeit aber ein besonderes (qualifiziertes), gerade auf die Inanspruchnahme vorbeugenden Rechtsschutzes gerichtetes Interesse voraussetzt. 34 35 36
Immenga / Mestmäcker / Karsten Schmidt, 3. Aufl. 2001, § 63 Rn. 8. BGH, WuW / E BGH 1161 (1163) „Feuerfeste Steine“. So etwa KG, WuW / E OLG 1515 (1518) „Sicherheitsglas“.
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Den Rechtsschutzformen im allgemeinen Verwaltungsrecht wie auch im Kartellverwaltungsverfahrensrecht ist gemeinsam, dass der Gesetzgeber den Bürger – u. a. im Interesse effektiven Verwaltungshandelns – grundsätzlich auf nachträglichen Rechtsschutz verwiesen hat: Voraussetzung ist, dass zunächst die Verwaltung gehandelt oder ein Handeln verweigert hat. Etwas anderes gilt, wenn der erst nach einer Rechtsverletzung einsetzende Rechtschutz auf vollendete, nicht ohne weiteres mehr rückgängig zu machende Tatsachen stößt. Den auch in diesen Fällen gebotenen lückenlosen und effektiven Rechtsschutz sieht die Verwaltungsrechtsprechung durch einen vorbeugenden Rechtsschutz in Form der vorbeugenden Unterlassungsklage gewährleistet. Wegen ihres Ausnahmecharakters setzt diese Klage ein qualifiziertes, gerade auf die Inanspruchnahme vorbeugenden Rechtsschutzes gerichtetes Interesse voraus; denn für den vorbeugenden Rechtsschutz ist dort kein Raum, wo und solange der Betr. in zumutbarer Weise auf den von der VwGO als grundsätzlich angemessen und ausreichend angesehenen nachträglichen Rechtsschutz verwiesen werden kann (vgl. BVerwGE 26, 23, 24 f.; 40, 323, 326; 54, 211, 215; NVwZ 1984, 168, 169; NVwZ 1986, 1011; 1012). Diese Grundsätze des allgemeinen Verwaltungsrechts gelten auch im kartellrechtlichen Beschwerde- und Rechtsbeschwerdeverfahren, für das die §§ 62 ff. GWB keine abschließende Regelung der Verfahrensvorschriften enthalten (vgl. BGHZ 41, 42, 54; 50, 357, 361 f.; 51, 61, 65; 30; 35; 67, 104, 110).“
c) Anerkannt ist auch die Fortsetzungsfeststellungsbeschwerde als nachträgliche Feststellungsbeschwerde37. Die Normsituation ist in diesem Punkt nicht wesentlich anders als im Verwaltungsprozessrecht. Die Fortbildung des in § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO geregelten Feststellungsantrags zum Institut der Fortsetzungsfeststellungsklage38 fand eine Entsprechung in der Praxis zu § 71 Abs. 2 Satz 2 GWB. Hat sich eine angefochtene Verfügung vor der Entscheidung des Beschwerdegerichts durch Zurücknahme oder auf andere Weise erledigt und besteht ein Feststellungsinteresse des Beschwerdeführers, so spricht das Gericht nach § 71 Abs. 2 Satz 2 GWB auf Antrag aus, dass die Verfügung rechtswidrig (das GWB sagt: „unzulässig oder unbegründet“) gewesen ist. Charakteristisch für die sich im Bereich der Erledigung stellenden Rechtsfragen ist der Beschluss „Stellenmarkt für Deutschland II“ aus dem Jahr 2002. Dort heißt es wörtlich39: „Der Antrag auf Freistellung nach §§ 7 Abs. 1, 10 GWB erledigt sich grundsätzlich, wenn eines der beteiligten Unternehmen aus dem geplanten Kartell ausscheidet. Tritt eine solche Erledigung im Beschwerde- oder Rechtsbeschwerdeverfahren ein und ist zu erwarten, dass die Kartellbehörde den neuen Freistellungsantrag der verbliebenen Unternehmen aus denselben Gründen ablehnt, die für die Ablehnung des ursprünglichen Antrags maßgeblich waren, kann dies ein hinreichendes Interesse für einen Fortsetzungsfeststellungsantrag nach § 71 Abs. 2 Satz 2 GWB begründen.“
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KG, WuW / E OLG 3217 (3221). BVerwGE 26, 161 (165); BVerwG, NJW 1967, 1819; std. Rspr. BGH, WuW / E DE-R 919 = ZIP 2002, 1740 „Stellenmarkt für Deutschland II“.
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3. Gibt es die allgemeine Feststellungsbeschwerde? Bisher nicht anerkannt ist eine dem § 43 VwGO entsprechende Feststellungsbeschwerde40. Das wird im Vergleich mit § 43 VwGO zunächst verwundern, müsste doch, sobald eine andere Rechtsschutzform nicht in Betracht käme, aufgrund von Art. 19 Abs. 4 GG auch ein Feststellungsverfahren eröffnet sein41. Zweierlei ist indes zu bedenken: a) Die in § 43 Abs. 1 VwGO geregelte, auf „Feststellung der Nichtigkeit eines Verwaltungsaktes“ zielende sog. Nichtigkeitsklage wird zwar von der herrschenden Auffassung gemäß der gesetzlichen Systematik als Feststellungsklage qualifiziert42. Dass diese Einschätzung aber mit dem auf verbindliche Nichtigerklärung gerichteten Rechtsschutzziel unvereinbar, die Nichtigkeitsklage vielmehr nichts anderes als eine von der Monatsfrist des § 74 VwGO befreite, nach deren Ablauf dafür nur unter den Voraussetzungen des § 44 VwVfG begründete Gestaltungsklage ist, wurde vor 15 Jahren an anderer Stelle ausgeführt43. Der auf der Hand liegende Einwand, ein nichtiger Verwaltungsakt sei doch ipso iure unwirksam (§ 44 VwVfG), ein auf Nichtigkeit lautendes Gestaltungsurteil also gegenstandslos, ist, wie seinerzeit gleichfalls ausgeführt wurde, in Anbetracht des mit der Klage verfolgten Rechtsschutzziels unberechtigt44, wie ja auch die gesicherte Erkenntnis zeigt, dass einer Anfechtungsklage ohne Klagänderung stattgegeben werden kann, wenn sich der angefochtene Verwaltungsakt statt als bloß anfechtbar als nichtig erweist45. Für das analoge Problem des Verhältnisses zwischen Anfechtungs- und Nichtigkeitsklage im Aktienrecht (§§ 241, 243, 246, 248, 249 AktG)46 hat inzwischen der Bundesgerichtshof treffend entschieden, dass der Streitgegenstand beider Klagen identisch ist47. Nicht anders verhält es sich hier. Einer besonderen Rechtsschutzform der Feststellungsbeschwerde bedarf es also neben der Anfechtungsbeschwerde für Nichtigkeitsfälle nicht. Das in der Nichtzulassung einer besonderen „Nichtigkeitsbeschwerde“ im GWB liegende Problem besteht vielmehr aus40 KG, WuW / E OLG 1515 (1518) „Sicherheitsglas“; 3685 (3697) „Aral“; 4589 (4591) „Blockheizkraftwerk“; H. W. Hinz, in: Gemeinschaftskommentar GWB, 4. Aufl. 1981, § 62 a.F. Rn. 3; Langen / Bunte / J. Kollmorgen, Kommentar zum deutschen und europäischen Kartellrecht, 9. Aufl. 2001, § 63 Rn. 38; zweifelnd R. Bechtold, GWB, 3. Aufl. 2002, § 63 Rn. 9. 41 Immenga / Mestmäcker / Karsten Schmidt (Fn. 34), § 63 Rn. 11. 42 BVerwG, NVwZ-RR 2000, 324: „Nichtigkeitsfeststellungsklage“; OVG Saarland, ZfB 2000, 181; E. Eyermann / L. Fröhler / M. Happ, VwGO, 11. Aufl. 2000, § 43 Rn. 26; F. O. Kopp / W.-R. Schenke, VwGO, 13. Aufl. 2003, § 43 Rn. 20; K. Redeker / H.-J. v. Oertzen, VwGO, 13. Aufl. 2000, § 43 Rn. 16. 43 Karsten Schmidt, JZ 1988, 729 ff. 44 Ebd., S. 732 f.: Doppelwirkung im Recht. 45 So richtig BVerwGE 18, 154 (155); Kopp / Schenke (Fn. 42), § 42 Rn. 3; Redeker / v. Oertzen (Fn. 42), § 43 Rn. 16. 46 Über die aktienrechtliche Nichtigkeitsklage als Gestaltungsklage vgl. gegen die h.M. Karsten Schmidt, in GroßkommAktG, 4. Aufl. 1995, § 249 Rn. 4 f. 47 BGHZ 134, 364 = NJW 1997, 1510.
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schließlich darin, ob die Monatsfrist des § 66 GWB präkludierende Wirkung auch dann haben kann, wenn eine kartellbehördliche Verfügung als nichtig i.S. von § 44 VwVfG angegriffen wird. Dieser Fall ist in Anbetracht der Förmlichkeit des kartellbehördlichen Verfahrens (§§ 54 – 62 GWB) und der Tatsache, dass erst die Zustellung der Verfügung die Frist in Lauf setzt, absolut theoretisch. Wer die Hypothese, was denn in diesem theoretischen Fall aus einer nichtigen Kartellverfügung nach Ablauf der Frist würde, partout durchspielen möchte, wird zu dem Ergebnis kommen: Die Verfügung kann zwar nicht mehr im Beschwerdewege mit gestaltender Wirkung erga omnes aus der Welt geschaffen werden (§ 71 Abs. 2 Satz 1 GWB), aber die Verfügung bleibt unwirksam (§ 43 Abs. 2 VwVfG), und dies müsste im neuerlich theoretischen Fall einer uneinsichtigen Kartellbehörde im Wege der Beschwerde festgestellt werden können. Diese Beschwerde wäre dann – weil eine gerichtliche Aufhebungsentscheidung wegen Fristablaufs ausscheidet – wirklich eine Feststellungsbeschwerde. Deren theoretische, jedoch eben nur theoretische, Zulässigkeit wäre im Sinne einer wiederum theoretischen Lückenlosigkeit des Rechtsschutzes also durchaus zu bejahen. b) Nicht anders verhält es sich im Bereich eines Streits um das Bestehen oder Nichtbestehen eines Rechtsverhältnisses. Für die Abwehr einer Rechtsverletzung i.S. von Art. 19 Abs. 4 GG ist eine solche Rechtsschutzform nicht geboten48. Die bisher vor die Kartellsenate gelangten Fälle49 haben auch nicht den Beleg erbracht, dass die gleichfalls durch Art. 19 Abs. 4 GG gewährleistete Effektivität des Verwaltungsrechtsschutzes50 zur Anerkennung der allgemeinen Leistungsbeschwerde drängt. Auch hier ist also ein faktisches Bedürfnis noch nicht erkennbar51.
III. Zur Drittschutzproblematik 1. Der Konflikt a) Bereits eingangs wurde auf die spezifische Schwierigkeit des Individualschutzes Drittbetroffener im Kartellverwaltungsrecht hingewiesen. Sie hängt mit dem diffusen und doch individuell wirkungsmächtigen Effekt jeder Einflussnahme auf Marktverhältnisse zusammen und ist insofern recht eigentlich keine Besonderheit des Verwaltungsrechts. Sie stellt sich allerdings beim verwaltungsrechtlichen anders als beim zivilrechtlichen Rechtsschutz. Im Kartellprivatrecht läuft die Drittschutzfrage auf die intrikate Frage hinaus: Unter welchen Voraussetzungen können Dritte gegenüber Kartellrechtsdelinquenten geltend machen, dass eine Kartell48 A. M. wohl BVerwGE 50, 11 (19); Kopp / Schenke (Fn. 42), § 43 Rn. 1; unklar BVerfGE 70, 35 (45 f., 52 ff.) (zu § 47 VwGO). 49 Vgl. Fn. 40. 50 BVerfGE 40, 272 (274 f.). 51 Wie hier H. J. Meyer-Lindemann, in: Frankfurter Kommentar Kartellrecht, Loseblatt, 53. Erg.-Lfg., Mai 2003, § 63 Rn. 7.
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rechtsnorm oder eine kartellbehördliche Verfügung ihren Schutz bezweckt und deshalb nach § 33 GWB Unterlassungs- bzw. Schadensersatzansprüche begründet52? Es besteht eine Parallelität zwischen dieser Frage und der anderen53: Unter welchen Voraussetzungen kann ein Nicht-Antragsteller oder Nicht-Adressat durch ein Tun oder Unterlassen der Kartellbehörde subjektiv-rechtlichen Rechtsschutz durch Verfahrensbeteiligung und Klagebefugnisse reklamieren? b) Im Kartellverwaltungsrecht hat die Problematik ein doppeltes Gesicht: Beiderseits der gedachten – im Einzelfall schwer auszumachenden – Grenzlinie subjektivrechtlicher Drittbetroffenheit steht die Praxis vor konträren Fragestellungen. Die eine, die akademische Aufmerksamkeit beherrschende Frage lautet: Sorgt das GWB, wo subjektive Drittrechte berührt sind, für einen dem Art. 19 Abs. 4 GG genügenden verfahrensrechtlichen Drittschutz? Das andere, die Praxis nicht weniger berührende Problem ist: Wer schützt Antragsteller und Adressaten, wer schützt insbesondere ihre Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse vor dem Eindringen marktbeteiligter, jedoch typischerweise nicht subjektivrechtlich betroffener Dritter in das Verfahren? 2. Die Beiladung als Angelpunkt des Problems im Kartellverwaltungsrecht Das Thema des kartellverwaltungsrechtlichen Drittschutzes im GWB, in seiner vollen Bedeutung wohl zuerst von Rupert Scholz und Hermann Soell wahrgenommen54, beherrscht bis heute die Anwendungs- und Fortbildungspraxis des Kartellverfahrensrechts, und nicht nur des hier referierten deutschen, sondern mehr und mehr auch des europäischen Kartellverfahrensrechts55. Anfangs dominierte eine formale, die Dinge naturgemäß auch vereinfachende Sicht der Dinge: Nach § 54 Abs. 2 Nr. 3 GWB sind Personen und Personenvereinigungen am Verfahren beteiligt, deren Interessen durch die Entscheidung erheblich berührt werden und die die Kartellbehörde auf ihren Antrag zum Verfahren beigeladen hat. Darauf Bezug nehmend gesteht § 63 Abs. 2 GWB den am Verfahren Beteiligten ohne Wenn und Aber das Recht zur Beschwerdeeinlegung – m. a. W. die kartellrechtliche „Klagebefugnis“ – zu, aber auch nur ihnen! Damit stellte sich von Anfang an eine Reihe unterschiedlicher, vom Gesetz samt und sonders unentschieden gelassener Fragen: 52 Dazu umfassend Immenga / Mestmäcker / V. Emmerich (Fn. 34), § 33 Rn. 9 ff.; zum Standpunkt des Verf. vgl. Karsten Schmidt, in: FS Benisch, 1989, S. 293 ff. 53 Karsten Schmidt, Kartellverfahrensrecht (Fn. 15), S. 318 f., 577 ff., 603 ff. 54 Scholz (Fn. 21), 1971; H. Soell, Beiladung und Konkurrentenschutz im Verwaltungsverfahren des Kartellgesetzes, in: FS Wahl, 1973, S. 439 ff.; sodann Karsten Schmidt, Kartellverfahrensrecht (Fn. 15), S. 515 ff. 55 Vgl. exemplarisch U. Dormann, Drittklagen im Recht der Zusammenschlusskontrolle, 2000; T. Körber, Die Konkurrentenklage im Fusionskontrollrecht der U.S.A., Deutschlands und der EU, 1996; W. Veelken, WRP 2003, 207 ff.; zum Standpunkt des Verf. vgl. Karsten Schmidt, in: FS Steindorff, 1990, S. 1085 ff.
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– Kann die Kartellbehörde in ihren Interessen berührte Dritte nach Gutdünken beiladen, oder gibt es hierfür handhabbare Kriterien? – Ist aus Art. 19 Abs. 4 GG das Rechtsinstitut einer notwendigen Beiladung nach dem Vorbild von § 13 Abs. 2 VwVfG herzuleiten? – Steht jedem nur in seinen Interessen betroffenen Dritten der Gerichtsschutz nach § 63 ff. GWB offen, sofern er von der Kartellbehörde beigeladen worden ist? – Ist einem von der Kartellbehörde nicht beigeladenen Dritten der Gerichtsschutz auch dann versperrt, wenn er geltend macht, in seinen Rechten verletzt zu sein? – Gibt es für Adressaten und Antragsteller einen Geheimnisschutz gegenüber beigeladenen Marktbeteiligten?
Unverkennbar war hier Schwerarbeit zu leisten, für deren qualitative Einschätzung man sich buchstäblich in den vor Jahrzehnten noch maßgeblichen Stand von Praxis und Literatur zurückversetzen oder jedenfalls den unbefriedigenden Wortlaut des Gesetzes mit der Fülle der gerade bei Markteingriffen bestehenden Drittschutzprobleme unbefangen vergleichen muss. 3. Die Anerkennung der notwendigen Beiladung a) Zu den großen Veränderungen des Kartellverfahrensrechts gehörte ohne Zweifel die Anerkennung der notwendigen Beiladung durch die Praxis des Kammergerichts56. Hier hatte die Kartellrechtsliteratur vorgearbeitet57. Das Gesetz stellt die Beiladung Dritter in das Ermessen der Kartellbehörde (§ 54 Abs. 2 Nr. 3 GWB), aber Art. 19 Abs. 4 GG gebietet bereits im Verwaltungsverfahren eine Hinzuziehung derjenigen Dritten, die durch den Ausgang des Verwaltungsverfahrens in ihren Rechten verletzt sind58. Klassische Fälle sind gebundene Unternehmen bei der Überprüfung von Vertikalbindungen i.S. von § 16 GWB59. b) Die grundsätzliche Anerkennung der notwendigen Beiladung steht heute nicht mehr in Frage. Mittelbar hat auch der Gesetzgeber sie in der Fünften Novelle nachträglich anerkannt, nämlich im Zusammenhang mit einem bereits erwähnten Ausschnitt des komplexen Problemfelds: mit der schwierigen Abstimmung von Akteneinsicht, rechtlichem Gehör Dritter und Geheimnisschutz gegenüber Dritten. Im Beschwerdeverfahren kann (!) nach § 72 Abs. 3 GWB das Beschwerdegericht den Beigeladenen nach Anhörung der Verfügungsbeteiligten Akteneinsicht gewäh56 KG, WuW / E OLG 2193 „Basaltunion“; 2247 (2257) „Parallellieferteile“; 2411 (2413) „Synthetischer Kautschuk I“; 4753 (4759) „VW-Leasing“; 5849 (5851) „Großverbraucher“. 57 Karsten Schmidt, Kartellverfahrensrecht (Fn. 15), S. 493 f., 510 ff.; ders., Gerichtsschutz (Fn. 30), S. 50 f. 58 KG, WuW / E OLG 3217 (3219); a.A. Chr.-D. Bracher, in: Frankfurter Kommentar Kartellrecht (Fn. 51), § 54 Rn. 66. 59 KG, WuW / E OLG 2247 (2256 f.) „Parallellieferteile“.
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ren60. Für die Beschwerdeentscheidung macht dann aber § 71 Abs. 1 GWB einen bemerkenswerten Unterschied zwischen einfach und notwendig Beigeladenen61. Nach Satz 2 dieser Bestimmung darf der Beschluss des Beschwerdegerichts grundsätzlich nur auf Tatsachen und Beweismittel gestützt werden, zu denen sich die Beteiligten äußern konnten. Diese Gehörsgarantie erleidet dann aber eine Ausnahme und diese Ausnahme wiederum eine charakteristische Gegenausnahme. Die Sätze 3 und 4 lauten: „Das Beschwerdegericht kann hiervon abweichen, soweit Beigeladenen aus wichtigen Gründen, insbesondere zur Wahrung von Fabrikations-, Betriebs- oder Geschäftsgeheimnissen, Akteneinsicht nicht gewährt und der Akteninhalt aus diesen Gründen auch nicht vorgetragen worden ist. Dies gilt nicht für solche Beigeladene, die an dem streitigen Rechtsverhältnisse derart beteiligt sind, dass die Entscheidung auch ihnen gegenüber nur einheitlich ergehen kann.“ Der Wortlaut dieses Schlusssatzes lehnt sich erkennbar an § 65 Abs. 2 VwGO an. Wer durch das Verfahren in seinen Rechten betroffen und deshalb notwendig beizuladen ist, kann zwar nach § 72 Abs. 2 und 3 GWB ausnahmsweise von der Akteneinsicht ausgeschlossen werden, aber dies hat zur Folge, dass die geheimgehaltenen Tatsachen nicht verwertet werden können62. c) Es kann nicht erstaunen, dass die Abgrenzung der Fälle notwendiger Beiladung immer wieder Zweifelsfragen aufwirft. Eindeutig sind Fälle unmittelbar in private Rechte Dritter eingreifender Privatrechtsgestaltung 63. Der Bundesgerichtshof hat im Fall „Herstellerleasing“ die Tendenz gezeigt, es bei diesen Fällen zu belassen. Zur Frage, ob beim Anfechtungsstreit um die Diskriminierungskontrolle über das VW-Leasingsystem auch die einzelnen, durch die Verfügung der Kartellbehörde geschützten VW-Händler beizuladen sind, führte der BGH-Kartellsenat nämlich aus64: „Entgegen der Ansicht der Betroffenen und der Beigeladenen war es im Verfahren vor Erlass der Untersagungsverfügung nicht erforderlich, dass neben dem V-Händlerbeirat e.V. auch die einzelnen V-Händler von dem Verfahren vor dem Bundeskartellamt benachrichtigt und gegebenenfalls beigeladen würden. Die Untersagungsverfügung, die auf § 37a Abs. 2 i.V. mit § 26 Abs. 2 GWB gestützt ist, zielt auf die Unterbindung einer unbilligen Behinderung ab. Sie greift nicht unmittelbar rechtsgestaltend in bestehende Rechtsbeziehungen zwischen den Betroffenen und den als unbillig behindert angesehenen Unternehmen ein: insbesondere enthält sie keine konstitutive Untersagung vertraglich vereinbarter Ausschließlichkeitsbindungen. Eine Beiladung dieser Unternehmen zu dem Verfahren vor dem Bundeskartellamt war deshalb nicht notwendig.“
60 Umstritten ist, ob notwendig Beigeladene dem Beschwerdeführer gleichzustellen sind; dafür Immenga / Mestmäcker / Karsten Schmidt (Fn. 34), § 72 Rn. 11; zust. K. Quack, in: Frankfurter Kommentar Kartellrecht, Loseblatt, 36. Erg.-Lfg., Juni 1995, § 71 a.F. Rn. 8. 61 Vgl. ebd., § 71 Rn. 4. 62 Immenga / Mestmäcker / Karsten Schmidt (Fn. 34), § 71 Rn. 4. 63 BGH, WuW / E BGH 2875 (2876) „Herstellerleasing“. 64 BGH, WuW / E BGH 2875 (2876) „Herstellerleasing“.
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Damit ist der subjektivrechtliche Drittschutz auf das Maß des unabdingbar Notwendigen zurückgefahren. Schwierig bleibt die Abgrenzung dennoch, denn es gilt ja die Regel: Überall da, wo die Kartellbehörde durch ihre Verfügung oder durch deren Unterlassung private kartelldeliktsrechtliche Drittansprüche nach § 33 GWB unmittelbar zuteilt oder beseitigt, ist notwendige Beiladung gegeben65, womit sich vollends die bereits angedeutete Wertungsparallelität mit dem deliktsrechtlichen Schutzgesetzprinzip zeigt66. Dass dieses Prinzip seinerseits, also die Abgrenzung der privatrechtlich zu schützenden subjektiven Drittrechte, selbst wiederum ein nicht endenwollender Entdeckungsprozess ist, wurde gleichfalls schon angedeutet. Die Praxis des Kartellverwaltungsrechts ist hier auf dieselben nur schrittweise lösbaren Fragen verwiesen wie die des kartellrechtlichen Deliktsschutzes. Die Zuweisung des kartellverwaltungsrechtlichen Rechtsschutzes an die Kartellsenate erweist sich auch in dieser Hinsicht als wohlbegründet, denn so sind diese miteinander zusammenhängenden Fragen in einer Hand. d) Umstritten geblieben sind auch die Folgen einer unterlassenen notwendigen Beiladung für das Hauptverfahren. Die kartellbehördliche Entscheidung einem notwendig beizuladenden, jedoch von der Behörde nicht beigeladenen Dritten gegenüber nicht wirksam werden zu lassen, wie dies der wohl herrschenden Meinung zu § 13 Abs. 2 Satz 2 VwVfG entspricht67, wäre im Unternehmensrecht kaum akzeptabel. Die wohl richtige Lösung lautet: Die Verfügung ist wirksam, nur nicht bestandsfest. Deshalb kann der Dritte noch zu dem nur scheinbar beendeten Verfahren beigeladen werden68. Um ihm gegenüber die Anfechtungsfrist in Lauf zu setzen, muss die Kartellbehörde die Verfügung jetzt noch dem nachträglich Beigeladenen zustellen69. Versäumt die Behörde auch jetzt noch die notwendige Beiladung, so ist der gemäß Art. 19 Abs. 4 zu schützende Dritte entgegen dem zu engen Wortlaut des § 63 Abs. 2 GWB als Soll-Beteiligter auch ohne förmliche Hinzuziehung zur Anfechtung befugt70. 4. Einfache Beiladung: Abgrenzung und Rechtsschutzkonsequenzen a) Man wird hiernach verstehen, warum der Gesetzgeber das Recht der Beiladung nur fragmentarisch und das Recht der notwendigen Beiladung überhaupt 65 Immenga / Mestmäcker / Karsten Schmidt (Fn. 34), § 54 Rn. 46; insoweit wie hier (sonst einschränkend) Bracher, Frankfurter Kommentar Kartellrecht (Fn. 51), § 54 Rn. 67. 66 Vgl. Fn. 53. 67 So für § 13 Abs. 2 Satz 2 VwVfG F. Kopp / U. Ramsauer, VwVfG, 7. Aufl. 2000, § 13 Rn. 51; K. Obermayer / M. Riedl, VwVfG, 3. Aufl. 1999, § 13 Rn. 71. 68 Immenga / Mestmäcker / Karsten Schmidt (Fn. 34), § 54 Rn. 47. 69 KG, WuW / E OLG 2193 (2194) „Basalt-Union“. 70 KG, WuW / E OLG 4811 (4820) „Radio NRW“; Immenga / Mestmäcker / Karsten Schmidt (Fn. 34), § 54 Rn. 47; Meyer-Lindemann, in: Frankfurter Kommentar Kartellrecht (Fn. 51), § 63 Rn. 34; T. Körber, BB 2000, 1532 (1536); H. Steinberger, WuW 2000, 345 (349 ff.).
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nicht geregelt hat. Und man mag in Anbetracht der sich bei der notwendigen Beiladung zeigenden Abgrenzungsschwierigkeiten versucht sein, erleichtert auf das gesetzliche Institut der einfachen in das Ermessen der Behörde gestellten Beiladung zu blicken. Doch dabei wird sich Enttäuschung einstellen. Denn außerhalb des Bereichs der notwendigen Beiladung sind die Drittbeteiligungs- und Drittschutzprobleme keineswegs geringer. b) Das beginnt schon mit der für Antragsteller und Verfügungsadressaten virulenten Frage, unter welchen Voraussetzungen die Kartellbehörde Dritte beiladen und das Verfahren für die unmittelbar Beteiligten durch die formelle Beteiligung dieser Dritten beschweren darf. § 54 Abs. 2 Nr. 3 GWB begrenzt ja die Beiladung auf Personen und Personenvereinigungen, deren Interessen durch die Entscheidung – also durch den zu erwartenden Ausgang des Verwaltungsverfahrens – „erheblich berührt“ werden. Was das im Einzelnen bedeutet, ist umstritten. Das hat verfahrenspolitische, aber auch semantische Gründe: Während der Verfasser dieses Beitrags „erheblich“ i.S. von „rechts-erheblich“, also für das Verfahren bedeutsam, liest71, versteht die herrschende Auffassung das Merkmal im Sinne eines Ausschlusses der Popularbeiladung quantitativ im Sinne von „spürbar“72. Quivis ex populo soll eben nicht beigeladen, sondern bestenfalls angehört werden. Das ist bei der Befassung mit in Tausenden oder Millionen zählenden Märkten ein wichtiges Datum. Im Fall der Beiladung von Verbänden kommt es auf das Betroffensein der Verbandsmitglieder an sowie darauf, ob der Verband diese Interessen tatsächlich (nach h.M. auch satzungsmäßig) auch repräsentiert73. Mit Recht abgelehnt wurde deshalb z. B. die Beiladung der „Greenpeace“-Organisation in dem Fusionskartellverfahren „E.ON / Ruhrgas“74. c) Über die Berechtigung der Beiladung oder ihrer Ablehnung kann in einem separaten Beschwerdeverfahren entschieden werden, denn die Beiladungsentscheidung ist selbst eine Verfügung75. Die notwendige Beiladung kann also durch Verpflichtungsbeschwerde erstritten, die unzulässige Beiladung durch Anfechtungsbeschwerde abgewehrt werden. Wird hierüber vor dem Beschwerdegericht gestritten, so mag sich im Einzelfall Gewissheit darüber einstellen, ob eine vollzogene Beiladung eine notwendige, eine immerhin zulässige oder eine unzulässige ist. Häufig sind solche Parallelverfahren neben dem Hauptsacheverfahren nicht. Deshalb wird meist im Unklaren bleiben, ob eine vollzogene Beiladung eine notwendiImmenga / Mestmäcker / Karsten Schmidt (Fn. 34), § 54 Rn. 38, 40. KG, WuW / E OLG 3730 (3731) Çoop“; 5849 (5851) „Großverbraucher“; OLG Düsseldorf, WuW DE-R 523 (527) „SPNV“; DE-R 1029 „E.ON / Ruhrgas: Greenpeace“. 73 Vgl. mit Unterschieden im Detail KG, WuW / E OLG 339 „IG Bergbau“; 1071 (1073) „Triest-Klausel“; 2021 „Bahnhofsbuchhandel“; BKartA, WuW / E BKartA 2010 (2022) „Armaturen“. 74 OLG Düsseldorf, WuW / E 1029 „E.ON / Ruhrgas: Greenpeace“; ausführlich Bracher, in: Frankfurter Kommentar Kartellrecht (Fn. 51), § 54 Rn. 62. 75 Bechtold (Fn. 40), § 54 Rn. 9; Immenga / Mestmäcker / Karsten Schmidt (Fn. 34), § 54 Rn. 53. 71 72
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ge ist oder nicht. Diese Feststellung hat für das laufende Verwaltungsverfahren etwas Beruhigendes und wurde vom Verfasser, solange noch für die Anerkennung der notwendigen Beiladung gestritten wurde, als Labsal der Praxis herausgekehrt: Auf das gefürchtete Abgrenzungsproblem komme es schließlich nur an, wenn eine potenziell notwendige Beiladung trotz Antrags abgelehnt worden sei, während wir in den Regelfällen nicht darüber nachdenken müssten, ob eine vollzogene Beiladung denn nun obligatorisch oder nur fakultativ gewesen sei76. Aber holt uns die Frage nicht ein, sobald es um die Beschwerdebefugnis geht?
5. Zurück zu den Wurzeln: formalisierte Beschwerdeberechtigung oder Angleichung an § 42 Abs. 2 VwGO? a) An dieser Stelle ist die Diskussion auf eine Kern- und Anfangsfrage des kartellrechtlichen Drittschutzes zurückgeworfen: Folgt aus § 63 Abs. 2 GWB, wonach die Beschwerde den am Verfahren vor der Kartellbehörde Beteiligten zusteht, wie der Verfasser – früher noch entschiedener als heute – vertreten hat, eine nicht auf den verfassungsmäßig gebotenen Rechtsschutz beschränkte formalisierte Beschwerdeberechtigung auch jedes Beigeladenen77, oder ist die Praxis aufgerufen, zu dem aus der VwGO bekannten Erfordernis einer Rechtsverletzung zurückzufinden, wie dies inzwischen im Schrifttum gefordert wird78? Letzteres würde bedeuten: Eine Anfechtungs- oder Verpflichtungsbeschwerde ist nur zulässig, wenn der Beschwerdeführer geltend macht, durch die kartellbehördliche Verfügung oder durch deren Unterlassung in seinen Rechten verletzt zu sein. Wir werden sehen, dass sich in der Praxis eine Kompromisslösung abzeichnet. b) Die für eine Formalisierung des Drittschutzes sprechenden Argumente sind teilweise positivistischer, teilweise gesetzeshistorischer, teilweise rechtpolitischer Art. Der allein auf die Verfahrensbeteiligung abhebende Gesetzeswortlaut spricht eine völlig eindeutige Sprache79. Die Vorgeschichte des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen zeigt, dass der Gesetzgeber gerade nicht auf die im individuellen Fall festzustellende Rechtsbeeinträchtigung abstellen wollte, wie dies der Bundesrat80 vorgeschlagen hatte81. Das rechtspolitische Argument basiert auf der notorisch schwierigen Feststellbarkeit subjektiver Drittrechte von Marktbeteiligten und lautet ganz einfach: „Wenn dem Drittschutz im Kartellrecht eine Chance blei76 Karsten Schmidt, Kartellverfahrensrecht (Fn. 15), S. 504; ähnlich zum Verfahren der Fusionskontrolle Schulte, AG 1998, 303. 77 Karsten Schmidt, Kartellverfahrensrecht (Fn. 15), S. 472 f. u. 549 f.; ders., Drittschutz, Akteneinsicht und Geheimnisschutz im Kartellverfahren, 1992, S. 41 f. 78 U. Dormann, WuW 2000, 245 ff. 79 Dormann (WuW 2000, 245 [254 ff.]) muss dem § 63 Abs. 2 GWB entgegen der Intention des Gesetzgebers eine „befugnisausschließende Bedeutung“ geben. 80 Änderungsvorschläge des Bundesrats, zu BT-Drucks. II / 1158, S. 74. 81 Karsten Schmidt, WuW 1976, 631 (632).
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ben soll, dann auf dem Weg über die formalisierte Beschwerdebefugnis“82. Es sollte deshalb bei der herrschenden Auffassung bleiben, wonach die in § 42 Abs. 2 VwGO beschriebenen Zulässigkeitsvoraussetzungen, wenn ein am Verfahren Beteiligter die Beschwerde einlegt, nicht zu prüfen sind83. Das entspricht dem Gesetz. c) An dieser Stelle kommt jedoch wieder das rechtsmittelähnliche Beschwerdekonzept des Gesetzgebers ins Spiel. In dem BGH-Beschluss Çoop-Supermagazin“84 heißt es mit Recht, in § 62 Abs. 2 GWB sei nur die Beschwerdebefugnis geregelt, nicht aber entschieden, dass auch auf das Erfordernis einer Beschwer verzichtet werden könne. Unbestritten ist, dass ohne eine formelle Beschwer jede Beschwerde, auch die eines beigeladenen Dritten unzulässig ist85: Wer im Verwaltungsverfahren Anträge gestellt hat, die mit der erlassenen Verfügung übereinstimmen, ist nicht rechtsmittelbefugt. Dagegen ist ein Dritter mindestens dann formell beschwert, wenn er im Verwaltungsverfahren Anträge gestellt hat, denen nicht oder nicht vollständig entsprochen wurde86. Entgegen einer früher vom Verfasser und später von Rainer Bechtold87 und Hans-Jürgen Ruppelt88 vertretenen Auffassung ist damit aber nicht jedem formell beschwerten Beigeladenen das Beschwerdeverfahren eröffnet, vielmehr muss jedenfalls eine materielle Beschwer hinzukommen: eine nachteilige Wirkung der angefochtenen Verfügung – oder ihrer Unterlassung – für den beschwerdeführenden Beigeladenen89. Das Oberlandesgericht Düsseldorf hat dies mit der Überlegung begründet, es bleibe auch hier bei den „allgemein für Rechtsmittelverfahren geltenden Zulässigkeitsvoraussetzungen“, zu denen neben der formellen auch die materielle Beschwer gehöre90.
Karsten Schmidt (Fn. 30), S. 43. BGH, NJW 2003, 3776 „HABET / Lekkerland“; KG, WuW / E OLG 2411 (2413) „Synthetischer Kautschuk I“; 5565 (5571) „Fernsehübertragungsrechte“; OLG Hamburg, WuW / E OLG 781 (782) „Fahrlehrer“; Langen / Bunte / Kollmorgen (Fn. 40), § 63 GWB Rn. 19; Meyer-Lindemann, in: Frankfurter Kommentar (Fn. 51), § 63 Rn. 33; R. Laufkötter, WuW 1999, 673; nur auf die Rechtsbeschwerde beziehen sich dagegen die diesbezüglichen Ausführungen bei BGH, WuW / E BGH 2077 (2079) Çoop-Supermagazin“. 84 BGH, WuW / E BGH 2077 (2079) Çoop-Supermagazin“. 85 Immenga / Mestmäcker / Karsten Schmidt (Fn. 34), § 63 Rn. 26; Langen / Bunte / Kollmorgen (Fn. 40), § 63 GWB Rn. 22; Meyer-Lindemann, in Frankfurter Kommentar (Fn. 51), § 63 Rn. 37. 86 BGH, WuW / E BGH 1556 (1558) „Weichschaum III“ = NJW 1979, 2563; vgl. dazu auch OLG Düsseldorf, WuW / E DE-R 759 (763) „NetCologne“. 87 R. Bechtold (Fn. 40), § 63 Rn. 6; ders., NJW 1988, 2773. 88 Langen / Bunte / H.-J. Ruppelt (Fn. 40), § 40 GWB Rn. 32 (für die Freigabe in der Fusionskontrolle). 89 BGH, NJW 2003, 3776 (3777) „HABET / Lekkerland“; OLG Düsseldorf, WuW / E DE-R 569 (570) „Puttgarden II“; Immenga / Mestmäcker / Karsten Schmidt (Fn. 34), § 63 Rn. 27; R. Werner, in: Wiedemann (Hrsg.), Handbuch des Kartellrechts, 1999, § 54 Rn. 27; Meyer-Lindemann, in: Frankfurter Kommentar (Fn. 51), § 63 Rn. 37 ff. 90 OLG Düsseldorf, WuW / E DE-R 759 (762) „NetCologne“. 82 83
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Offenkundig mischt sich an dieser Stelle wieder das dem Gesetzgeber vorschwebende Modell eines Rechtsmittelzuges ein, das oben unter II.1 eher als Fehlkonstruktion eingeschätzt wurde. Aber das muß nicht gegen die Richtigkeit in der Sache sprechen. Löst man sich nämlich von rein formaler Betrachtung, so erweist sich als die entscheidende Frage: Welcher Grad an materieller Drittbetroffenheit soll geprüft werden? Wir sind uns ja, seitdem Karl August Bettermann über die „Beschwer als Klagevoraussetzung“ nachgedacht hat91, nicht mehr sicher, wie sich die materielle Beschwer zum Merkmal der Rechtsverletzung in § 42 Abs. 2 VwGO verhält92. Holt, wer materielle Beschwer verlangt, nicht am Ende das Merkmal der Verletzung in subjektiven Rechten wieder zur Tür herein? Offenbar nicht. Lesen wir nämlich, was die Gerichte darunter verstehen. So heißt es beim Kammergericht93: „Allein die Position als Beigeladener und der Umstand, als solcher bei der Kartellbehörde mit dem Untersagungsbegehren nicht durchgedrungen zu sein, reichen allerdings aus der Sicht des Senats nicht aus, das Beschwerderecht zu begründen. Von der gesetzlich eröffneten Möglichkeit, eine Zusammenschluss-Freigabeverfügung anzufechten, kann, da sie vom Gesetzgeber ersichtlich als dem individuellen Rechtsschutz dienend angelegt ist und nicht als ein einer Popularklage nahekommendes Überprüfungsinstrument, nicht jedes zum Verwaltungsverfahren beigeladene Unternehmen Gebrauch machen. Hinzukommen muss im Einzelfall die Geltendmachung einer materiellen Beschwer. Die Beschwerde ist nur dann zulässig, wenn das Unternehmen geltend machen kann, durch die Freigabe des Zusammenschlusses in seinen wettbewerblichen Möglichkeiten rechtswidrig, beeinträchtigt zu sein.“
Das Oberlandesgericht Düsseldorf hat in seinem Beschluss „NetCologne“ diesen Standpunkt auf die Formel gebracht94: „Das etwaige (!) Erfordernis der materiellen Beschwer könnte keineswegs bedeuten, dass zwingend ein Eingriff in eigene Rechte des Beschwerdeführers vorausgesetzt wird. Ausreichend müsste ein (unmittelbares oder mittelbares) Wettbewerbsverhältnis des Beschwerdeführers zu einem der Fusionsbeteiligten sein.“
Und im Jahr 2001 heißt es bei demselben Gericht95: „§ 63 Abs. 2 GWB darf nicht dahin missverstanden werden, dass diese Vorschrift die Zulässigkeitsvoraussetzungen der Beschwerde gegen kartellbehördliche Verfügungen – abgesehen von Form und Frist der Beschwerde – abschließend normiert. Das wird schon daran erkennbar, dass die Vorschrift nichts über die selbstverständliche Voraussetzung jedes Rechtsmittels – das allgemeine Rechtsschutzinteresse des Rechtsmittelführers – sagt. Die Bedeutung der Vorschrift erschöpft sich vielmehr – wie in der höchstrichterlichen Rspr. anerkannt ist – darin, dass (soweit § 63 Abs. 2 GWB auf § 54 Abs. 2 Nr. 3 GWB verweist) die Beigeladenen in den Kreis der möglichen Beschwerdeberechtigten einbezogen werden. 91 92 93 94 95
33*
Vgl. Fn. 28. Dazu eingehend A. Kohlmeier, Beschwer als Beschwerdevoraussetzung, 1997, S. 41 ff. KG, WuW / E DE-R 688 (689) „Habet / Lekkerland“. OLG Düsseldorf, WuW / E DE-R 665 (666) „NetCologne“. OLG Düsseldorf, WuW / E DE-R 759 (762 f.) „NetCologne“.
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§ 63 Abs. 2 (i.V.m. § 54 Abs. 2) GWB ändert daher nichts daran, dass die allgemein für Rechtsmittelverfahren geltenden Zulässigkeitsvoraussetzungen gelten, wozu auch die notwendige Beschwer des Rechtsmittelführers in formeller und materieller Hinsicht – als eine besondere Form des Rechtsschutzinteresses – gehört . . . Die Anforderungen an die materielle Beschwer müssen vom Zweck der Fusionskontrolle her bestimmt werden. Ziel der Fusionskontrolle ist es, die Märkte möglichst offen zu halten und Verschlechterungen der Wettbewerbsbedingungen auf den Märkten infolge übermäßiger Unternehmenskonzentrationen vorzubeugen. Es sollen solche Unternehmenskonzentrationen verhindert werden, die die Wettbewerbsbedingungen auf dem Markt derart verändern, dass die Funktionsfähigkeit des Wettbewerbs nicht mehr gewährleistet ist, von einer bestimmten Schwelle ab der Wettbewerb noch mehr eingeschränkt wird oder sich die Chance für ein Wiederaufleben des erlahmten Wettbewerbs noch mehr verschlechtert. Im Hinblick auf diesen Zweck der Fusionskontrolle muss der Dritte, der mit seiner Beschwerde eine vom BKartA beschlossene Freigabe angreift, durch diese als Träger eigener Interessen und / oder eigener ,rechtlich geschützter Positionen‘ betroffen sein. Das führt notwendig zu der Erkenntnis, das die Betroffenheit des Dritten aus der drohenden Verschlechterung der Wettbewerbsbedingungen auf dem relevanten Markt resultieren muss, dass daher der Dritte durch die Freigabe in seinem eigenen unternehmerischen und wettbewerblichen Betätigungsfeld und Gestaltungsspielraum auf dem relevanten Markt – durch drohende negative Veränderung der Wettbewerbsbedingungen – betroffen sein muss. Das hat der Senat in seinem im vorliegenden Verfahren ergangenen Anordnungsbeschluss zum Ausdruck gebracht mit der Formulierung, ausreichend für die materielle Beschwer müsste ein (unmittelbares oder mittelbares) Wettbewerbsverhältnis des Beschwerdeführers zu einem der Fusionsbeteiligten sein, wenn dieses Wettbewerbsverhältnis durch den Zusammenschluss (mit-)betroffen wird. In der Sache nichts anderes dürfte die Formulierung des KG bedeuten, die Beschwerde eines Dritten gegen eine Fusionsfreigabe sei nur dann zulässig, wenn dieses Unternehmen geltend machen könne, durch die Freigabe in seinen wettbewerblichen Möglichkeiten rechtswidrig beeinträchtigt zu sein.“
Der Unterschied zum Merkmal der Rechtsverletzung ist unverkennbar, und er ist gut erklärbar. Zwar legt der auf dem Merkmal „Beschwer“ liegende Ton den Verdacht einer nachwirkenden Verkennung des kartellrechtlichen Rechtsschutzkonzepts der „Beschwerde“ nahe, insbesondere wenn das OLG Düsseldorf auf die „allgemeinen Rechtsmittelvoraussetzungen“ pocht. Aber der Grundgedanke bleibt eben doch richtig: Nur wer überhaupt beiladungsfähig, weil „erheblich in seinen Interessen verletzt“, ist, soll als Beteiligter zur Beschwerde befugt sein. Dass die Beiladung eine notwendige ist, wird nicht vorausgesetzt. d) Unterstrichen wird diese Einordnung durch den nach Fertigstellung des vorliegenden Beitrags publizierten BGH-Beschluss im Fusionskontrollfall „HABET / Lekkerland“. Darin heißt es96: „Die Verletzung eines subjektiven öffentlichen Rechts, wie sie § 42 Abs. 2 VwGO für die Klage im verwaltungsgerichtlichen Verfahren voraussetzt, braucht jedenfalls derjenige nicht darzutun, der sich für seine Beschwerdebefugnis auf die formelle Stellung als Beigeladener stützen kann. (§ 63 Abs. 2 i.V. mit § 54 Abs. 3 GWB; vgl. Karsten Schmidt, in Immenga / Mestmäcker, § 63 Rdnr. 27; Werner, in: Wiedemann, Hdb. d. KartelIR, § 54 96
BGH, NJW 2003, 3776 „HABET / Lekkerland“; dazu Karsten Schmidt, DB 2004, 527.
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Rdnr. 27). Dies gilt auch und gerade für die Drittbeschwerde gegen eine fusionskontrollrechtliche Freigabeverfügung (vgl. Mestmäcker / Veelken, in: Immenga / Mestmäcker, § 40 Rdnrn. 75, 81; Körber, BB 2000, 1532, 1536; Ruppelt, in: Langen / Bunte, KartelIR, 9. Aufl., § 40 GWB Rdnr. 32; Bosch, in: Gemeinschaftskomm., 5. Aufl., § 40 GWB Rdnr. 29; OLG Düsseldorf, WuW / E DE-R 759, 763). Zwar ist in der Begründung des Regierungsentwurfs zur 6. GWB-Novelle davon die Rede, Dritte seien künftig beschwerdebefugt, ,wenn sie in eigenen Rechten betroffen sind‘ (vgl. BT-Dr 13 / 9720, S. 44). Hieraus kann indessen nicht der Schluss gezogen werden, die kartellrechtliche Beschwerdebefugnis setze in diesen Fällen abweichend von § 63 Abs. 2 GWB eine Verletzung eines subjektiven öffentlichen Rechts des Dritten voraus (so aber Dormann, Drittklagen im Recht der Fusionskontrolle, S. 103 ff.; WuW 2000, 245 (252 f.); offen Richter, in: Wiedemann, § 21 Rdnr. 107). Denn aus der Begründung ergibt sich unmissverständlich, dass nach der Vorstellung des Gesetzgebers Wettbewerber der am Zusammenschluss beteiligten Unternehmen – dem europäischen Beispiel folgend – in der Lage sein sollten, die Freigabeentscheidung anzufechten (vgl. BT-Dr. 13 / 9720, S. 44). Gegen eine Freigabeentscheidung der Kommission kann hingegen jeder mit der Nichtigkeitsklage vorgehen, der durch die Entscheidung unmittelbar und individuell betroffen ist (Art. 230 Abs. 4 EG; dazu ausf. Dormann, Drittklagen im Recht der Fusionskontrolle, S. 194 ff.; Veelken, WRP 2003, 207 [235 ff.]). Dies entspricht im Wesentlichen dem auch im deutschen Kartellverwaltungsverfahren anerkannten Erfordernis der materiellen Beschwer, wonach der Beschwerdeführer durch die angefochtene Verfügung der Kartellbehörde in seinen wirtschaftlichen Interessen nachteilig berührt sein muss . . . Denn der als Beigeladener grundsätzlich beschwerdebefugte Dritte (§ 63 Abs. 2 i.V. mit § 54 Abs. 2 Nr. 3 GWB) muss durch die Freigabeverfügung formell und materiell beschwert sein (vgl. BGH, WuW / E 2077, 2078 f. – Coop-Supermagazin; Kollmorgen, in: Langen / Bunte, § 63 GWB Rdnr. 21; Karsten Schmidt, in: Immenga / Mestmäcker, § 63 Rdnr. 27; a.A. Ruppelt, in: Langen / Bunte, § 40 GWB Rdnr. 32, Bechthold, § 63 Rdnr. 6 u. § 40 Rdnr. 21). Gleichzeitig beschränkt die Beschwer den Gegenstand der Überprüfung durch das Beschwerdegericht: Wird der Beschwerdeführer durch den Zusammenschluss nur auf einem von mehreren in Rede stehenden Märkten nachteilig betroffen, muss er dartun, dass die Freigabe in Bezug auf diesen Markt nicht gerechtfertigt erscheint.“
Wir sehen: Eine Verletzung im subjektiven Recht ist nicht erforderlich, wohl aber ein Betroffensein im (kartell-)rechtserheblichen Interesse. Das Merkmal der materiellen Beschwer ist kein Rückfall in die Fehlkonstruktion der Beschwerde als Rechtsmittelverfahren, sondern ein der Natur der Sache entsprechender Kompromiß zwischen den zu hohen Anforderungen des § 42 Abs. 2 VwGO und einer Popularbeschwerde im Kartellverwaltungsrecht.
IV. Schlussbemerkungen 1. Ein Thema mit Zukunft? Im Hinblick auf die mittelbar von der Europäischen Verordnung Nr. 1 / 2003 zu erwartende Zurückdrängung des verwaltungsrechtlichen Anteils der Kartellrechtspraxis durch die für 2004 zu erwartende Siebente Novelle97 mag die Frage auf-
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kommen, ob die hier diskutierten Drittschutzfragen an Bedeutung verlieren werden. Das ist nicht zu erwarten. Zum einen nämlich wird es im Bereich der Zusammenschlusskontrolle gerade in kartellrechtlichen Großverfahren bei einem Entscheidungsmonopol der Kartellbehörde, mithin auch bei einem genuin verwaltungsrechtlichen Schwerpunkt bleiben. Hinzu kommt, dass der kartellverwaltungsrechtlichen Beschwerde neben der schon erwähnten sofortigen Beschwerde in Vergabesachen (§§ 116 ff. GWB) ein Schwesterinstitut erwächst: In den §§ 48 ff. des Wertpapiererwerbs- und Übernahmegesetzes (WpÜG) vom 20. Dezember 2001 ist der Rechtsschutz gegenüber dem Verwaltungshandeln des Bundesaufsichtsamtes für den Wertpapierhandel in direkter Anlehnung an die §§ 63 ff. GWB geregelt.98 Und siehe da: Nahezu alle Rechtsschutzfragen des Kartellverwaltungsrechts, namentlich des verwaltungsrechtlichen Drittschutzes begegnen uns hier in neuem Gewand, und das kann nicht erstaunen, weil ja die Schwierigkeiten der Materie zuvörderst in der unterschiedlichen – teils subjektivrechtlichen, teils lediglich reflexierenden – Drittbetroffenheit zahlloser Marktbeteiligter liegen99.
2. Versuch einer Würdigung Die Kartellsenate des Bundesgerichtshofs sowie des Kammergerichts und des Oberlandesgerichts Düsseldorf haben in bemerkenswerter – jedoch von der Verwaltungsrechtsdoktrin viel zu wenig bemerkter – Weise gestaltend an der Institutionalisierung des Verwaltungsrechtsschutzes im Wirtschaftsverwaltungsrecht mitgewirkt. Die Schwierigkeit der im Kartellrecht zu entscheidenden Rechts- und insbesondere Drittschutzprobleme hebt diese Gerichtspraxis sogar gegenüber derjenigen der Verwaltungsgerichte besonders hervor, weil sich die Standardfragen des subjektivrechtlichen und des reflexiven Drittschutzes bei Eingriffen einer Verwaltungsbehörde in Marktstruktur und Marktverhalten hier in sonst nicht gekannter Schärfe stellen. Der Drittschutz durch Beiladung und formalisierte Beschwerdebefugnis genügt so, wie er nunmehr gehandhabt wird, den Geboten der Rechtsstaatlichkeit und der Effektivität. Den Schutzinteressen unmittelbar Verfahrensbeteiligter gegenüber einem Übermaß an Drittbeteiligung hat der Gesetzgeber der Fünften GWB-Novelle gebührend Rechnung getragen.
Fn. 13; vgl. zur Würdigung auch Fn. 18. Vgl. BegrRegE WpÜG, in: H. Fleischer / S. Kalss, Das neue Wertpapiererwerbs- und Übernahmegesetz, 2002, S. 581. 99 Vgl. nur L. Giesberts, in: Kölner-Kommentar zum WpÜG, 2003, § 4 Rn. 24 ff. u. 50 ff.; Geibel / Süßmann / R. Zehetmeier-Müller / St. Grimmer, WpÜG, 2002, § 48 Rn. 17 ff., § 52 Rn. 6 u. § 56 Rn. 5; A. Cahn, ZHR 167 (2003), 262 (284 ff.); M. Habersack, ZHR 166 (2002), 619 ff.; A. Möller, ZHR 167 (2003), 301 ff.; A. von Riegen, Der Konzern 2003, 583 ff.; Y. Schnorbus, ZHR 166 (2002), 72 ff.; Chr. Seibt, in: Henze / Hoffmann-Becking (Hrsg.), Gesellschaftsrecht 2003, 2004, S. 337 ff. 97 98
Das reformierte Bankenaufsichtssystem der Bundesrepublik Deutschland Von Klaus Stern*
I. Die Neuordnung der Bankenaufsicht 1. Der Erlass des Finanzdienstleistungsaufsichtsgesetzes Mit dem Erlass des Gesetzes über die integrierte Finanzdienstleistungsaufsicht (FinDAG) vom 22. April 2002 (BGBl. I S. 1310) hat der Bundesgesetzgeber die Bankenaufsicht in Deutschland auf eine neue Rechtsgrundlage gestellt. Er hat damit das bislang erfolgreiche Modell einer dualen Bankenaufsicht, wie sie durch das Bundesaufsichtsamt für das Kreditwesen und die Bundesbank wahrgenommen wurde1, modifiziert2. Gleichzeitig hat er die bisherigen Bundesaufsichtsämter für das Kreditwesen, für das Versicherungswesen und für den Wertpapierhandel durch eine sektorübergreifend tätige Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht organisatorisch zusammengeführt. Ziel der Reform war, „eine neue staatliche Aufsicht über Banken, Versicherungsunternehmen und Finanzdienstleistungsinstitute zu schaffen, die sektorübergreifend den gesamten Finanzmarkt umfasst“3. Unverändert blieb das materielle Aufsichtsrecht der drei Sektoren der Aufsicht, das im Gesetz über das Kredit* Herrn Assessor Dr. Jörg Geerlings danke ich für wertvolle Mitarbeit. 1 Dazu BVerfGE 14, 197 (211 f., 216); A. Fülbier, in: Boos / Fischer / Schulte-Mattler (Hrsg.), Kreditwesengesetz, 2000, § 7 Rn. 3; J. Geerlings, Die neue Rolle der Bundesbank im Europäischen System der Zentralbanken, DÖV 2003, S. 322; R. Hirdina, Verfassungsrechtliche Aspekte zur Funktion einer reformierten Bundesbank bei der Allfinanzaufsicht, BKR 2001, S. 135; J. F. Reiter / J. Geerlings, Die Reform der Bankenaufsicht, DÖV 2002, S. 562 (564); V. Szagunn / U. Haug / W. Ergenzinger (Hrsg.), Kreditwesengesetz, 6. Aufl. 1997, § 7 Rn. 1. 2 Vgl. M. Fricke, Versicherungsaufsicht integriert – Versicherungsaufsicht unter dem Gesetz über die integrierte Finanzdienstleistungsaufsicht, NVersZ 2002, S. 337; J. Fürhoff / G. Schuster, Entwicklung des Kapitalmarktaufsichtsrechts im Jahr 2002, BKR 2003, S. 134; J. Geerlings, Neuordnung von Bundesbank und Bankenaufsicht, Sparkasse 2002, S. 560; ders. (Fn. 1); R. Hirdina (Fn. 1), S. 135 (136); M. Weber, Die Entwicklung des Kapitalmarktrechts 2001 / 2002, NJW 2003, S. 18 (23); ferner Gemeinsame Presseerklärung der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht und der Deutschen Bundesbank vom 4. November 2002. 3 Vgl. BT-Drucks. 14 / 7033, S. 1.
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wesen, im Versicherungsaufsichtsgesetz und für die Finanzdienstleistungsinstitute in mehreren Gesetzen geregelt war4. Diese Gesetze erfuhren weithin nur Anpassungen (Art. 3 – 13 FinDAG). Für die Bankenaufsicht sollte allerdings die „Zusammenarbeit mit der Deutschen Bundesbank und deren schon bisherige Einbindung in die laufende Überwachung aller Institute konkretisiert und der Umfang ihrer Beteiligung an der laufenden Überwachung auf der Erkenntnisebene gesetzlich festgeschrieben“ werden. Im Wesentlichen sollten damit Synergieeffekte erreicht werden5. Nach § 3 FinDAG wurde schließlich bei der Bundesanstalt ein „Forum für Finanzmarktaufsicht“ eingerichtet, dem die Bundesanstalt und die Deutsche Bundesbank angehören (Satz 1). Ziel des Forums sollte es sein, die Zusammenarbeit bei der Aufsicht mit der Bundesbank zu koordinieren (Satz 4). Dabei werden auch Fragen der Allfinanzaufsicht erörtert, die für die Stabilität des Finanzsystems von Bedeutung sind (Satz 5). An den Sitzungen dieses Forums kann auch das Bundesministerium der Finanzen teilnehmen (Satz 2). In der Begründung zum Gesetzentwurf legte die Bundesregierung dar, dass die Aufsicht von Bundesanstalt und Bundesbank besser koordiniert werden soll und dass „bestehende Aufsichtskonzepte weiterzuentwickeln“ sind. Wegen der Bedeutung der Zusammenarbeit solle dies „nunmehr unter Wahrung der jeweiligen Befugnisse gesetzlich geregelt“ werden6. Man kann danach als gesetzgeberisches Zwischenziel festhalten, dass die Finanzmarktaufsicht beiden Institutionen gleichsam zur gesamten Hand übertragen ist. Dies folgt aus der mehrfachen gemeinsamen Erwähnung beider Institutionen sowohl im FinDAG (§§ 3, 7 und 8) als auch im KWG n.F. (etwa §§ 7 Abs. 1, Abs. 2, Abs. 3, Abs. 4, Abs. 5, 8 Abs. 3, 10 Abs. 1, Abs. 3). § 7 Abs. 3 KWG n.F. hebt noch einmal besonders hervor, dass Bundesanstalt und Bundesbank einander Beobachtungen und Feststellungen mitzuteilen haben, die zur Erfüllung ihrer Aufgaben erforderlich sind. Dies entspricht § 7 Abs. 1 Satz 2 KWG a.F. Die Norm will das Zusammenwirken beider Institutionen sicherstellen und ein Gegeneinanderarbeiten verhindern. Diesem Ziel dient auch § 7 Abs. 2 Satz 5 KWG n.F., wonach die Bundesanstalt die von der Bundesbank getroffenen Prüfungsfeststellungen und Bewertungen in der Regel ihren aufsichtsrechtlichen Maßnahmen zugrunde zu legen hat. Demgegenüber spricht § 3 FinDAG allerdings etwas unklar von einem „Forum“, ohne Details zu nennen. Ausdrücklich erwähnt wird lediglich eine Koor4 Vgl. Gesetz über das Kreditwesen (Kreditwesengesetz – KWG) in der Neufassung der Bekanntmachung vom 9. September 1998 (BGBl. I S. 2776), zuletzt geändert durch Art. 3 des Gesetzes vom 8. August 2002 (BGBl. I S. 3105); Gesetz über die Beaufsichtigung der Versicherungsunternehmen (Versicherungsaufsichtsgesetz – VAG) in der Fassung der Bekanntmachung vom 17. Dezember 1992 (BGBl. 1993 I S. 2), zuletzt geändert durch Artikel 6 des Gesetzes vom 23. Juli 2002 (BGBl. I S. 2778); Gesetz über den Wertpapierhandel (Wertpapierhandelsgesetz – WpHG) in der Fassung der Bekanntmachung vom 9. September 1998 (BGBl. I S. 2708), zuletzt geändert durch Art. 4 des Gesetzes vom 23. Juli 2002 (BGBl. I S. 2778). 5 Vgl. BT-Drucks. 14 / 7033, S. 1 u. 31 f. 6 Vgl. BT-Drucks. 14 / 7033, S. 33.
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dinierungsfunktion. § 3 Satz 5 FinDAG normiert darüber hinaus, dass das Forum in Fragen der Allfinanzaufsicht, die für die Stabilität des Finanzsystems von Bedeutung sind, beratende Funktion ausübt. Damit bedient sich der Gesetzgeber eines sog. unbestimmten Rechtsbegriffs, der ausfüllungsbedürftig und damit entwicklungsoffen ist. 2. Anordnungen von Prüfungen durch die Bundesanstalt § 6 Abs. 1 KWG – in alter wie neuer Fassung – weist der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht das Recht zu, die Aufsicht über die Institute nach den Vorschriften des Kreditwesengesetzes auszuüben. Zugleich enthält § 6 KWG in den Absätzen 2 und 3 eine Generalklausel für die Aufgaben und Befugnisse der Bundesanstalt. Namentlich wird der Bundesanstalt die Aufgabe zugewiesen, die Ordnungsvorschriften des Kreditwesengesetzes gegenüber jedem einzelnen Institut durchzusetzen, vor allem die erforderlichen und geeigneten „Anordnungen“ zu treffen. Teils wiederholt, teils konkretisiert wird dies in § 7 Abs. 2 Satz 4 KWG n.F. In dieser Bestimmung wird auch festgelegt, dass die Bundesanstalt die Prüfungsanordnungen nach § 44 Abs. 1 Satz 2 und § 44 b Abs. 2 Satz 1 KWG n.F. gegenüber den Instituten trifft. Hierbei steht das einzelne Institut im Vordergrund, nicht die Finanz- und Kreditwirtschaft insgesamt7. Um der Pflicht zur Beaufsichtigung gemäß § 6 KWG nachkommen zu können, haben die Aufsichtsbehörden neben den laufenden Informationsrechten weitreichende zusätzliche Sachverhaltsermittlungsrechte, die sie jeweils bei Bedarf einsetzen können. Hierzu zählen etwa die Meldungen zur Angemessenheit der Eigenmittel (§ 10 KWG) und zur Liquidität (§ 11 KWG), ferner besonders Großkreditmeldungen (§§ 13 ff. KWG), Anzeigen (§§ 24, 24a KWG), Monatsausweise (§ 25 KWG), die Vorlage des Jahresabschlusses und des Prüfungsberichts (§ 26 KWG) sowie die besonderen Pflichten des Abschlussprüfers (§ 29 KWG). Eine wirkungsvolle Durchführung der Bankenaufsicht erfordert jedoch eine über diese von den Instituten zu erbringenden Meldungen hinausreichende Möglichkeit, an Informationen zu gelangen. Ein Aufsichtssystem, das vorrangig über Informationen in Form von Anzeigen und Meldungen durch die beaufsichtigten Kredit- und Finanzdienstleistungsinstitute verfügt, ist in hohem Maße auf deren loyale Mitwirkung, also die korrekte Erfüllung der Mitteilungspflichten, angewiesen8. Um den Gefahren, die mit ungenauen Berichten einhergehen können, zu begegnen, sind den Bankenaufsichtsträgern eigenständige Informationserhebungsrechte zugestanden worden. Zudem wird gewähr7 Vgl. H. Beck / C. Th. Samm (Hrsg.), Kreditwesengesetz, Bd. 1, Stand: 2002, § 6 Rn. 4 f.; M. A. Bock, Staatsaufsicht über Finanzkonglomerate, 1999, S. 168; R. Fischer, in: Schimansky / Bunte / Lwowski (Hrsg.), Bankrechts-Handbuch, Bd. III, 2. Aufl. 2001, § 127 Rn. 1; A. Fülbier (Fn. 1), § 6 Rn. 2; J. Geerlings (Fn. 2), S. 560 (562); H. Humm, Bankenaufsicht und Währungssicherung, 1989, S. 78. 8 Vgl. H. Mayer, Das Bundesaufsichtsamt für das Kreditwesen, 1981, S. 45; G. Waschbusch, Bankenaufsicht, 2000, S. 521 f. m.w.Nachw.
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leistet, dass die aufklärungsbedürftigen Sachverhalte an Ort und Stelle nachgeprüft werden können. Hierbei erlangt § 44 Abs. 1 Satz 1 KWG n.F. besondere Bedeutung. Danach müssen die beaufsichtigten Institute und die Mitglieder ihrer Organe der Bundesanstalt sowie den Personen und Einrichtungen, deren sich die Bundesanstalt bei der Durchführung bedient, und der Deutschen Bundesbank auf Verlangen Auskünfte über alle Geschäftsangelegenheiten erteilen und Unterlagen vorlegen. Nach § 44 Abs. 1 Satz 2 KWG n.F. erhält die Bundesanstalt die Möglichkeit, auch ohne besonderen Anlass, bei den Instituten Prüfungen vornehmen zu lassen und die Durchführung auf die Bundesbank zu übertragen. Mit den zusätzlichen Rechten aus §§ 44 bis 44 c KWG erlangen die Aufsichtsbehörden die Möglichkeit, eine umfassende Sachverhaltsermittlung zu betreiben, soweit sie dies für aufsichtliche Zwecke als notwendig erachten9. Die konkrete Gewährleistung wird dadurch sichergestellt, dass nach § 44 Abs. 1 Satz 3 KWG n.F. die Bediensteten der Bundesanstalt, der Bundesbank sowie die weiteren Personen, deren sich die Bundesanstalt bedient, die Geschäftsräume des zu prüfenden Instituts betreten und besichtigen können. Diese gesetzliche Ermächtigungsgrundlage ist im Hinblick auf das Grundrecht der Unverletzlichkeit der Wohnung (Art. 13 GG), die auch Geschäftsräume umfasst, unerlässlich10. Die durch die Bundesanstalt vorgenommenen Anordnungen der Prüfungen und des Betretens der Geschäftsräume sind Verwaltungsakte im Sinne des § 35 VwVfG, die die Bundesanstalt gemäß § 17 FinDAG mit Zwangsmitteln durchsetzen kann und für die die Institute nach § 15 FinDAG die Kosten zu übernehmen haben. Für die von der Bundesanstalt erlassenen Verwaltungsakte gelten die allgemeinen Regeln des Verwaltungsrechts11.
3. Präzisierung der Zusammenarbeit zwischen Bundesanstalt und Bundesbank durch das Kreditwesengesetz Mit der Neuordnung der Finanzdienstleistungsaufsicht gingen notwendigerweise auch Veränderungen außerhalb des neugeschaffenen FinDAG einher. Diese Veränderungen betreffen im Wesentlichen redaktionelle Anpassungen in den einschlägigen Aufsichtsgesetzen und in anderen Materien (oben 1, 2). Ob es auch zu inhaltlichen Korrekturen gekommen ist, bedarf einer genaueren Analyse der einschlägi9 Vgl. U. Braun, in: Boos / Fischer / Schulte-Mattler (Hrsg.), Kreditwesengesetz, 2000, § 44 Rn. 2; J. Geerlings (Fn. 1), S. 322 (327); G. Hütz, Die Bankenaufsicht in der Bundesrepublik Deutschland und in den USA, 1990, S. 199; G. Waschbusch (Fn. 8), S. 524. 10 Vgl. BVerfGE 32, 54 (73); 97, 228 (265 f.); J. H. Lindemann, in: Boos / Fischer / Schulte-Mattler (Hrsg.), Kreditwesengesetz, 2000, § 44c Rn. 24 ff. m.w.Nachw.; V. Szagunn / U. Haug / W. Ergenzinger (Hrsg.) (Fn. 1), § 44 Rn. 17 ff. 11 Vgl. BVerwG, NJW 1957, 643; H. Beck / C. Th. Samm (Hrsg.) (Fn. 7), § 6 Rn. 41 f.; G. Hütz (Fn. 9), S. 199; F. Reischauer / J. Kleinhans (Hrsg.), Kreditwesengesetz, Bd. I, Stand: 2001, § 44 Rn. 7; V. Szagunn / U. Haug / W. Ergenzinger (Hrsg.) (Fn. 1), § 6 Rn. 10.
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gen Gesetze auf der Basis der klassischen Auslegungsmethoden. Dies soll im folgenden mit Blick auf die §§ 7 und 44 KWG n.F. untersucht werden.
a) Primär organisatorische Veränderungen der Finanzmarktaufsicht Gesetzgeberisches Ziel war zuvörderst, eine selbständige Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht zu schaffen, bei der die bisherigen Aufsichtskompetenzen der drei Bundesaufsichtsämter für das Kreditwesen, für das Versicherungswesen und für den Wertpapierhandel gebündelt werden sollten (oben 1). Dabei handelt es sich um eine rein organisatorische Veränderung der bislang nebeneinander agierenden Einrichtungen. Die Gesetzesbegründung sagt daher: „Über organisationsrechtliche Vorschriften hinaus wird das materielle Aufsichtsrecht der drei Sektoren der Aufsicht nicht geändert“12.
b) Auslegung der materiell-rechtlichen Veränderungen im Kreditwesengesetz Die für andere Gesetze als das Kreditwesengesetz getroffenen bloß redaktionellen Veränderungen hielt der Gesetzgeber wegen der Unwesentlichkeit dieser Veränderungen in seiner Begründung nicht für erläuterungswürdig. Allerdings heißt es zu Art. 2 des Gesetzes über die integrierte Finanzdienstleistungsaufsicht, der die Änderungen des Gesetzes über das Kreditwesen enthält, dass dieses Gesetz „mit Ausnahme des § 7 KWG und § 44 KWG lediglich redaktionelle Anpassungen“ erfährt13. Dadurch gibt der Gesetzgeber eindeutig zu verstehen, dass er im Zuge seiner Neuregelungen einen bestimmten Bereich doch inhaltlich reformieren wollte. Dies wird besonders deutlich, wenn man einen Vergleich zur bisherigen Fassung des § 7 KWG zieht. Bislang beschränkte sich § 7 KWG nämlich lediglich auf den Grundsatz der Zusammenarbeit zwischen dem damaligen BAK und der Bundesbank nach Maßgabe des KWG. Form und Ausgestaltung der Zusammenarbeit wurden danach den beiden Institutionen weitestgehend freigestellt. Sie beruhte im Wesentlichen auf Absprachen und einer gut eingespielten Verwaltungspraxis. Bereits die Normierung dieser Zusammenarbeit wurde allerdings schon als „eine der wichtigsten Neuerungen“ gegenüber dem früherem (vor Erlass des KWG 1961 geltenden) Aufsichtsrecht gesehen14. Diese Zusammenarbeit war nicht immer selbstverständlich. So ist schon das in § 7 KWG a.F. enthaltene Gebot zu einer Zusammenarbeit von Bundesaufsichtsamt
12 Vgl. BT-Drucks. 14 / 7033, S. 1; kritisch hierzu J. F. Reiter / J. Geerlings (Fn. 1), S. 562 (566 f.). 13 Vgl. BT-Drucks. 14 / 7033, S. 39. 14 Vgl. A. Fülbier (Fn. 1), § 7 Rn. 6; F. Reischauer / J. Kleinhans (Fn. 11), § 7 Rn. 1.
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und Bundesbank als eine Verbesserung gegenüber dem früherem Recht verstanden worden. Im Reichsgesetz über das Kreditwesen in der Fassung vom 15. September 1939 war eine Mitwirkung der Reichsbank an der materiellen Bankenaufsicht bekanntlich noch nicht vorgesehen. Erst die kriegsbedingten Änderungen dieses Gesetzes durch eine entsprechende Verordnung aus dem Jahre 1944 übertrugen wesentliche bankaufsichtliche Funktionen auf die Reichsbank15. Die wenig präzisen Vorgaben des Gesetzgebers führten im Ergebnis dazu, dass § 7 KWG a.F. die Bedeutung einer entwicklungsoffenen Generalklausel besaß. Bundesbank und Bundesaufsichtsamt mussten den sich ergebenden Spielraum selbständig ausfüllen und entsprechend praktikable Lösungen einer Zusammenarbeit entwickeln. Dieser bislang offene gesetzgeberische Spielraum wurde mit der Neufassung des § 7 KWG nunmehr deutlich verändert16. In § 7 Abs. 1 Satz 2 KWG n.F. hebt der Gesetzgeber nunmehr die neue und kompetenziell stärker konturierte Rolle der Bundesbank bei der laufenden Überwachung hervor; denn „unbeschadet weiterer gesetzlicher Maßgaben umfasst die Zusammenarbeit die laufende Überwachung der Institute durch die Deutsche Bundesbank“. Zugeordnet wird also ein fester Wirkungskreis, der in Satz 3 noch weiter präzisiert wird. § 7 Abs. 1 Satz 2 a.F. sah demgegenüber lediglich gegenseitige Mitteilungs- und Beobachtungspflichten vor. Aber schon diese Zusammenarbeit wurde dahingehend bewertet, dass die Bundesbank sich eine starke Stellung in der Bankenaufsicht gesichert habe17. Will man die Bedeutung der Neufassung des § 7 KWG in seiner Gesamtheit würdigen, um die Rolle der Bundesbank nach neuem Recht richtig darzustellen, so sind die (klassischen) Auslegungsmethoden einzusetzen, zu denen sich auch das Bundesverfassungsgericht in ständiger Rechtsprechung bekennt: „Maßgebend für die Auslegung einer Gesetzesvorschrift ist der in dieser zum Ausdruck kommende objektivierte Wille des Gesetzgebers, so wie er sich aus dem Wortlaut der Gesetzesbestimmung und dem Sinnzusammenhang ergibt, in den diese hineingestellt ist“18.
15 Vgl. Verordnung zur Änderung des Reichsgesetzes über das Kreditwesen vom 15. 9. 1939 (RGBl I, S. 1953); Verordnung zur Änderung des Reichsgesetzes über das Kreditwesen vom 18. 9. 1944 (RGBl. I, S. 211); dazu BVerfGE 14, 197 (216); H. Beck / C. Th. Samm (Hrsg.) (Fn. 7), § 7 Rn. 8; G. Hütz (Fn. 9), S. 24. 16 Vgl. nach der gesetzlichen Neuordnung der Finanzmarktaufsicht die Gemeinsame Presseerklärung der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht und der Deutschen Bundesbank vom 4. November 2002. 17 Vgl. G. Franke, in: Deutsche Bundesbank (Hrsg.), Fünfzig Jahre Deutsche Mark, 1998, S. 296; G. Galahn, Die Deutsche Bundesbank im Prozess der europäischen Währungsintegration, 1996, S. 183. 18 Std. Rspr., vgl. etwa BVerfGE 1, 299 (312); 15, 256 (264); 18, 112 (116 ff.); 23, 98 (108 ff.); 23, 127 (132; 28, 243 (258 f.); 83, 119 (126); 88, 145 (166); 93, 37 (81); K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, 2. Aufl. 1984, S. 124.
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aa) Grammatikalische Auslegung Schon die Auslegung des Wortlauts lässt erkennen, dass in unmissverständlicher Weise die „laufende Überwachung“ auf die Bundesbank übertragen ist. Diese Präzisierung war in § 7 KWG a.F. nicht vorhanden. In der alten Fassung wurde die laufende Überwachung an keiner Stelle explizit genannt. Zudem legt der Wortlaut der Neufassung fest, dass die laufende Überwachung „durch“ die Bundesbank erfolgen soll. Adressat des § 7 Abs. 1 Satz 2 KWG n.F. ist unzweideutig die Bundesbank und nicht die Bundesanstalt. Dies ergibt sich klar aus dem Wortlaut der Vorschrift. Diese Wortlautinterpretation deckt sich zudem mit den dazu abgegebenen Stellungnahmen der Bundesregierung. In einer Pressemitteilung zur neuen integrierten Finanzdienstleistungsaufsicht sprach das Bundesfinanzministerium davon, dass die Einbindung der Bundesbank „mit diesem Gesetz in sachgerechter Weise konkretisiert“ wird, „indem ihren Hauptbereichsverwaltungen die laufende Bankenaufsicht ausdrücklich zugewiesen wird“19. bb) Systematische Auslegung Das Ergebnis der grammatikalischen Auslegung erfährt eine Unterstützung durch eine an der Systematik des Gesetzes orientierte Auslegung. Dabei muss die untersuchte Norm oder auch ein Teil der Norm in ihrem spezifischen Zusammenhang mit anderen Bestimmungen gesehen werden und sich dabei zu einer umfassenden Regelung mit einem verständlichen Sinn fügen. § 7 Abs. 1 Satz 1 KWG n.F. bestimmt, wie bereits in der alten Fassung, dass Bundesanstalt und Bundesbank „nach Maßgabe dieses Gesetzes“ zusammenarbeiten. Die Maßgaben dieses Gesetzes, des Kreditwesengesetzes, präzisiert Satz 2 der Vorschrift, indem „unbeschadet weiterer gesetzlicher Maßgaben“ die Zusammenarbeit in jedem Fall die laufende Überwachung der Institute durch die Deutsche Bundesbank umfasst. Wenn nun aber der Gesetzgeber weiterhin in § 7 Abs. 1 KWG n.F. die Zusammenarbeit von Bundesanstalt und Bundesbank „nach Maßgabe dieses Gesetzes“ vorschreibt, so bringt er damit einerseits zum Ausdruck, dass die bislang gedeihliche Zusammenarbeit in vollem Umfang erhalten bleiben soll, dass aber andererseits mit Einfügung des neuen Satzes 2 die laufende Überwachung der Institute eindeutig bei der Deutschen Bundesbank angesiedelt werden soll. Satz 2 muss als eine den Satz 1 konkretisierende und präzisierende Vorschrift im systematischen Zusammenhang der Norm gesehen werden. Dabei handelt es sich um einen für eine Norm typischen Aufbau, den man in größeren Zusammenhängen, beispielsweise bei Kodifikationen wie dem Bürgerlichen Gesetzbuch, als eine vor die Klammer gezogene Grundsatzaussage zu einem zentralen Sektor der Bankenaufsicht, nämlich der laufenden Überwachung der Kreditinstitute, charakterisieren kann. Darin liegt zugleich eine wesentliche Festlegung für das Verhältnis dieser Vorschrift zu § 44 KWG n.F. 19
Vgl. Pressemitteilung des Bundesfinanzministeriums v. 22. März 2002, S. 1.
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Dieser Argumentationsstrang setzt sich in § 7 Abs. 1 Satz 3 KWG n.F. fort; denn dort präzisiert der Gesetzgeber weiter, welchen konkreten Inhalt die laufende Überwachung mindestens umfasst: „Die laufende Überwachung beinhaltet insbesondere die Auswertung der von den Instituten eingereichten Unterlagen, der Prüfungsberichte nach § 26 und der Jahresabschlussunterlagen sowie die Durchführung und Auswertung der bankgeschäftlichen Prüfungen zur Beurteilung der angemessenen Eigenkapitalausstattung und Risikosteuerungsverfahren der Institute und das Bewerten von Prüfungsfeststellungen“. § 26 KWG nennt die der Bundesanstalt und der Bundesbank einzureichenden Unterlagen, wozu Jahresabschluss, Lagebericht und Prüfungsberichte gehören. Berichte sind jeweils der Bundesanstalt und der Bundesbank einzureichen. Dies ist Ausdruck der gemeinsam wahrzunehmenden Aufgaben im Rahmen der Bankenaufsicht. Außerdem eröffnet Satz 3 bereits vor Inkrafttreten der Vereinbarungen zu Basel II der Bundesbank die Aufgabenwahrnehmung mit den in diesem Zusammenhang anfallenden Prüfungen, vor allem im Rahmen des Supervisory Review Process – SRP – (unten II, 2). Die Einfügung des Wortes „insbesondere“ in Satz 3 verdeutlicht, dass die Aufzählung nur beispielhaft ist. Weiterhin muss im systematischen Zusammenhang gesehen werden, dass § 7 Abs. 1 Satz 4 KWG n.F. darlegt, dass die laufende Überwachung durch die Hauptverwaltungen (§ 8 Gesetz über die Deutsche Bundesbank) der Deutschen Bundesbank erfolgen soll. Die Hauptverwaltungen sind die bereits vorhandenen wirksamen Instrumente zur Informationsbeschaffung, die zur Bundesbank, nicht zur Bundesanstalt, gehören. Damit sind vor allem die vor Ort wirkenden ehemaligen Landeszentralbanken in den Überwachungsprozess einbezogen. Diese Kompetenzzuweisung widerspricht auch unter systematischen Gesichtspunkten nicht einer zur gesamten Hand übertragenen Bankenaufsicht; denn § 7 Abs. 2 KWG n.F. betont, dass die Deutsche Bundesbank bei der Aufgabenwahrnehmung „dabei die Richtlinien der Bundesanstalt zu beachten“ hat. „Dabei“ kann unter systematischen Gesichtspunkten nur die in Absatz 1 angesprochene laufende Überwachung bzw. die mit Basel II einhergehenden Aufgabenerweiterungen meinen. Ansonsten wäre der mit diesem Wort verbundene Verweis systematisch ohne Bedeutung. Die für diese Aufgaben erforderlichen Richtlinien der Bundesanstalt müssen zudem im „Einvernehmen“ mit der Bundesbank ergehen (§ 7 Abs. 2 Satz 2 n.F.). Somit ergibt sich auch aus einer systematischen Betrachtung, dass mit § 7 KWG n.F. der Bundesbank die laufende Überwachung ausschließlich übertragen wurde. cc) Genetische Auslegung Die an der Entstehungsgeschichte orientierte Auslegung dient in erster Linie der Ermittlung des Gesetzeszwecks, auch wenn es vornehmlich um die Ermittlung des objektivierten Willens des Gesetzgebers geht20. Legt man den Referentenentwurf 20
Vgl. BGHZ 46, 74 (80); 62, 340 (350).
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des Bundesfinanzministeriums zugrunde, so ergibt sich im Vergleich zu dem von Bundestag und Bundesrat beschlossenen Gesetz ein gravierender Unterschied. Der im Entwurf vorgesehene § 7 Abs. 2 KWG beschränkte die Ausübung der laufenden Überwachung der Bundesbank auf „Sparkassen, Kreditgenossenschaften, Kreditinstitute im Sinne des § 1 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4, 8 und 10, Finanzdienstleistungsinstitute im Sinne des § 1 Abs. 1a Satz 2 Nr. 1 – 4 und“ auf „Wohnungsunternehmen mit Spareinrichtung“21. Eine darüber hinausgehende Beteiligung der Bundesbank an weiteren Überwachungen anderer Institute war rechtlich verpflichtend nicht vorgesehen. Vielmehr sah der Entwurf nur eine „Kann“-Bestimmung vor, so dass es im Ermessen der Bundesanstalt lag, eine Einbeziehung der Bundesbank durch ihre Hauptverwaltungen an der laufenden Überwachung vorzunehmen22. Demgegenüber sah der in das parlamentarische Verfahren eingebrachte Regierungsentwurf bereits die Gesetz gewordene Fassung vor. Dazu hieß es: „Unbeschadet weiterer gesetzlicher Maßgaben umfasst die Zusammenarbeit die laufende Überwachung der Institute durch die Deutsche Bundesbank“23. Von einer Beschränkung auf bestimmte Institute ist nicht mehr die Rede. Nach der Definition des § 1 Abs. 1 KWG versteht man unter Kreditinstituten Unternehmen, die Bankgeschäfte gewerbsmäßig oder in einem Umfang betreiben, der einen in kaufmännischer Wiese eingerichteten Gewerbebetrieb erfordert. Für die Erfüllung des Tatbestands Kreditinstitut, dessen Kurzform der Begriff „Institut“ ist, genügt es, wenn ein Unternehmen auch nur ein Bankgeschäft aus dem Katalog des § 1 Abs. 1 KWG betreibt. Dies gilt gleichermaßen auch für das Einlagen- und das Kreditgeschäft. Der Betrieb von einem der beiden Geschäfte führt zum Erwerb der Kreditinstitutseigenschaft24. Der Begriff des Kreditinstituts bildet den Oberbegriff für die in Anlehnung an die Statistik der Deutschen Bundesbank vorgenommene weitere Unterteilung in Institutsgruppen. Hierzu zählen etwa die Kreditbanken, wozu auch die sog. systemrelevanten Banken gehören, also die Banken, die Aktivitäten über den Bereich der Bundesrepublik Deutschland hinaus entfalten und somit im Krisenfall eine besondere Stellung einnehmen. Hiervon existieren in der Bundesrepublik etwa 15 Institute. Ferner unterfallen dem Kreditinstitutsbegriff die Sparkassen- und Girozentralen, die genossenschaftlichen Banken, Realkreditinstitute, Teilzahlungskreditinstitute, Kreditinstitute mit Sonderaufgaben, wie beispielsweise die Wertpapiersammelbank und die Investmentgesellschaften und die Postbank. Der Begriff des Kreditinstituts gilt über das Kreditwesengesetz hinaus. Zudem findet dieses Gesetz auch auf Institute mit bankfremden Geschäften Anwendung, so beispielsweise Wirtschafts- und Industrieunternehmen mit unselbstständigen Bankabteilungen25. Daneben existieren weit mehr als 2000 nicht systemrelevante BanVgl. Referentenentwurf des Bundesministeriums der Finanzen v. 11. April 2001, S. 25 f. Vgl. Referentenentwurf des Bundesministeriums der Finanzen v. 11. April 2001, ebda. 23 Vgl. BT-Drucks. 14 / 7033, S. 11. 24 Vgl. OLG Stuttgart, NJW 1958, 1360 f.; OLG Frankfurt / Main, NJW 1965, 264; VG Berlin, WM 1997, 218 (221 f.); A. Fülbier (Fn. 1), § 1 Rn. 9 m.w.Nachw. 21 22
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ken, denen eine länderübergreifende Bedeutung nicht zukommt und die im Krisenfall, also beispielsweise einer Liquiditätskrise, nicht gleich die ganze Finanzbranche und darüber hinaus andere Bereiche erschüttern. Der Gesetzgeber hat also mit der Veränderung des ursprünglichen Referentenentwurfs zu verstehen gegeben, dass eine Beschränkung auf einige Bereiche der Institute nicht vorgenommen werden soll. Vielmehr erfasst die laufende Überwachung bzw. Aufsicht alle Formen vorhandener Institute, wozu systemrelevante und nicht-systemrelevante Institute gleichermaßen zählen. Insgesamt ergeben sich aus der Entstehungsgeschichte wesentlich erweiterte Befugnisse zur laufenden Überwachung der Institute. Der Gesetzgeber begründet dies mit einer weitergehenden Konkretisierung der Zusammenarbeit der Institutionen, damit „eine effiziente, einheitlich wirkende Aufsicht auf der Basis verlässlicher Erkenntnisse über die Marktsituation und die sonstigen für Aufsichtsmaßnahmen erforderlichen Informationen sichergestellt ist“26. Zweck dieser Präzisierung durch das Gesetz war, dass in der Praxis Doppelarbeit bei der Beaufsichtigung der Institute vermieden und eine Verbesserung der aufsichtsrelevanten Erkenntnisse sowie eine Effizienzsteigerung bei der praktischen Handhabung der Aufsicht herbeigeführt werden sollte. Schon früher hatte der Gesetzgeber eine solche Doppelarbeit zu verhindern versucht. Die ehemaligen Landeszentralbanken, denen Zweiganstalten nachgeordnet waren, und zwar Hauptstellen, denen wiederum Zweigstellen nachgeordnet waren (§ 10 BBankG a.F.), verfügten neben einer entsprechenden Sachkunde auch über die notwendige Ortsnähe und sollten das Bundesaufsichtsamt für das Kreditwesen „von der Sichtung des Einzelmaterials“ entlasten. Nach Ansicht des Gesetzgebers sollte die Bundesbank dabei „als Filter, durch den nur die bankaufsichtlich bedeutsamen Fälle an die Aufsichtsbehörde gelangen“, wirken27. Wenn jetzt die Gesetzesmaterialien zur Neufassung des § 7 KWG betonen, dass Ziel der Neufassung „eine effiziente, einheitlich wirkende Aufsicht“ im Rahmen der Koordination ist und dies auch im Gesetzestext selbst zum Ausdruck kommt, so ist die Folgerung einer Aufwertung der Bundesbank in diesem Aufgabenbereich zwingend. Bestätigt wird dies durch den anschließenden Satz der Gesetzesbegründung: „Deshalb wird in § 7 Abs. 1 Satz 2 die Durchführung der laufenden Überwachung der Deutschen Bundesbank ausdrücklich zugewiesen“28. Zum gleichen Ergebnis kommt Ralph Hirdina, wenn er von der „gesetzliche(n) Aufwertung der Stellung der reformierten Bundesbank auf dem Gebiet der Bankenaufsicht“ spricht, die vor allem dadurch eingetreten ist, dass der Gesetzgeber 25 Vgl. den Überblick bei S. Kümpel, Bank- und Kapitalmarktrecht, 2. Aufl. 2000, Rn. 19.9; ferner A. Fülbier (Fn. 1), § 1 Rn. 5; F. Reischauer / J. Kleinhans (Hrsg.) (Fn. 11), § 1 Rn. 1; H.-P. Schwintowski / F. A. Schäfer, Bankrecht, 1997, S. 137. 26 Vgl. BT-Drucks. 14 / 7033, S. 39. 27 Vgl. BT-Drucks. III / 1114, S. 23; R. Fischer (Fn. 7), § 126 Rn. 3; J. F. Reiter / J. Geerlings (Fn. 1), S. 562 (564); K. Stern, in: Deutsche Bundesbank (Hrsg.), Fünfzig Jahre Deutsche Mark, 1998, S. 174; G. Waschbusch (Fn. 8), S. 111 f. 28 Vgl. BT-Drucks. 14 / 7033, S. 39.
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die laufende Überwachung der (Kredit-)Institute konkret als gesetzlich abgesicherte, generelle Aufgabe der Bundesbank festlegt und damit nicht mehr – wie bislang – nur von einer für bestimmte Einzelfälle näher spezifizierten Zusammenarbeit zwischen Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht und Bundesbank spricht29. Eine genaue Analyse der Entstehungsgeschichte des § 7 Abs. 2 KWG n.F. führt auch aus anderen Gründen zu dem Schluss, dass eine erhebliche Aufwertung der Arbeit der Deutschen Bundesbank ein insgesamt erstrebtes Ziel des Gesetzgebers war. Zunächst war im Referentenentwurf nämlich lediglich vorgesehen, der Bundesbank nur für bestimmte Institute die laufende Überwachung zu übertragen. Dies sollte zudem „nach den Richtlinien der Bundesanstalt und des Vorstands der Deutschen Bundesbank“ geschehen30. Im Regierungsentwurf war dann immerhin bereits vorgesehen, dass die von der Bundesbank zu beachtenden Richtlinien der Bundesanstalt im „Benehmen“ mit der Deutschen Bundesbank ergehen sollten. Ziel des Gesetzgebers war es, „ein weiteres Element zur Sicherstellung der Einheitlichkeit der Durchführung und Qualitätssicherung“ durch Richtlinien zu schaffen. Es ging dem Gesetzgeber vorzugsweise um eine einheitliche Praxis31. Die Gesetz gewordene Fassung sieht dann aber sogar vor, dass diese Richtlinien zur laufenden Aufsicht im „Einvernehmen“ mit der Deutschen Bundesbank ergehen müssen. Der Gesetzgeber hat damit in „letzter Sekunde“ noch einmal die Möglichkeit genutzt, die stärkste Form der Mitwirkung der Bundesbank beim Erlass der für die Bankenaufsicht wesentlichen Richtlinien in das Gesetz einzufügen. Ist das Einvernehmen der Bundesbank beim Erlass der Richtlinien vorgeschrieben, so entfaltet die Stellungnahme der Bundesbank dahingehend Bindungswirkung, dass im Falle eines Dissenses eine von der Bundesanstalt beabsichtigte Regelung zu unterbleiben hat. Der Gesetzgeber billigt der Bundesbank mithin nicht nur die laufende Überwachung über die Institute zu, sondern ermöglicht ihr zudem ausdrücklich entscheidenden Einfluss auf die Gestaltung der im Rahmen dieser Aufgaben maßgeblichen Richtlinien. Die Bundesbank erhält damit eine umfassende Kompetenz bei der laufenden Überwachung der Institute. Sie ist im Rahmen des Aufsichtssystems für diesen Prüfungssektor der allein maßgebliche Akteur. dd) Teleologische Auslegung Auch eine an Sinn und Zweck orientierte teleologische Auslegung unterstreicht die gewachsene Bedeutung der Deutschen Bundesbank bei der laufenden Überwachung der Institute. Mit der Neufassung des Kreditwesengesetzes wollte der Gesetzgeber in besonderer Weise eine gegenüber der alten Regelung verbesserte Präzisierung und Konkretisierung der Zusammenarbeit der Bundesanstalt mit der 29 30 31
Vgl. R. Hirdina (Fn. 1), S. 135 (136); ebenso J. Geerlings (Fn. 2), S. 560 (562). Vgl. Referentenentwurf des Bundesministeriums der Finanzen v. 11. April 2001, S. 26. Vgl. BT-Drucks. 14 / 7033, S. 11, insbesondere die Begründung, S. 40.
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Bundesbank erreichen. Der Gesetzgeber hat gewissermaßen die Felder der Aufgabenwahrnehmung „abgesteckt“. Zusammen mit der Abgrenzung legte er besonderen Wert darauf, Doppelarbeit zu vermeiden, wie sie leicht dadurch entstehen kann, dass zwei Institutionen parallel Aufgaben wahrnehmen, ohne dass eine koordinierte Arbeits(ein)teilung existiert. Sinn und Zweck sinnvoller Koordination kann es dann aber nur sein, dass Aufgaben in eindeutiger Weise von einer Institution wahrgenommen werden, nämlich vorliegend im Rahmen der laufenden Überwachung durch die Deutsche Bundesbank. Die geforderte effiziente, einheitlich wirkende Aufsicht verträgt sich nicht mit zwei Institutionen, die die gleiche Aufgabe doppelt wahrnehmen. Unterstützt wird dies durch das Bestreben der öffentlichen Hand, in Zeiten knapper finanzpolitischer Spielräume Mittel möglichst haushaltsschonend einzusetzen. In diesem Lichte ist die Reform zur Finanzdienstleistungsaufsicht auch davon getragen, dass Einsparungen erzielt werden sollen32. Dem steht nicht entgegen, dass nach wie vor auch eine Zusammenarbeit zwischen beiden Institutionen gewollt ist. Abgesehen von der über Jahrzehnte bewährten Zusammenarbeit in der deutschen Bankenaufsicht zwischen Bundesaufsichtsamt und Bundesbank widersprechen sich exklusive Kompetenzzuweisung und Zusammenarbeit nicht. Kompetenzüberschreitende Rechts- und Amtshilfe sieht das Grundgesetz ausdrücklich in Art. 35 GG vor. Die Zusammenarbeit der beiden hier in Rede stehenden Institutionen geht allerdings weit über eine gegenseitige Amtshilfe hinaus; sie soll Aufgaben gesamthänderisch erledigen33. Unterstützt wird dieses Argument durch die besondere Aufgabenzuteilung an die Bundesanstalt, wonach diese „die aufsichtsrechtlichen Maßnahmen, insbesondere Allgemeinverfügungen und Verwaltungsakte einschließlich Prüfungsanordnungen nach § 44 Abs. 1 Satz 2 und § 44b Abs. 2 Satz 1 trifft“ (§ 7 Abs. 2 Satz 4 KWG n.F.). Aus systematisch-teleologischer Sicht ist dies wiederum ein deutliches Zeichen dafür, dass § 7 KWG n.F. in klarer Weise eine Trennung der Aufgabenbereiche vornimmt, indem die laufende Überwachung Sache der Bundesbank, die Wahrnehmung der Aufsicht durch entscheidungsrelevante Anordnungen jedoch Sache der Bundesanstalt ist. Wie bereits nach altem Recht das Bundesaufsichtsamt wird auch die Bundesanstalt nach außen hin auftreten und entsprechende Maßnahmen ergreifen (vgl. § 6 Abs. 3 KWG), also – wenn nötig – vor allem Verwaltungsakte an die Kreditinstitute erlassen34. Eine solche arbeitsteilige Regelung ist aber nach Sinn und Zweck dann nur so zu verstehen, dass dies eine gegenüber der Bundesbank andere Aufgabe ist. Wiederum zeigt sich, dass der Gesetzgeber eine klare Präzisie32 Vgl. Begründung zum FinDAG, wonach eine vollständige Entlastung des Bundeshaushalts erreicht werden soll, BT-Drucks. 14 / 7033, S. 2; dazu J. Geerlings (Fn. 2), S. 560 (561). 33 Vgl. zur bisherigen Rechtslage der Zusammenarbeit F. Reischauer / J. Kleinhans (Hrsg.) (Fn. 11), § 7 Rn. 7. 34 Vgl. BT-Drucks. 14 / 7033, S. 40; R. Fischer (Fn. 7), § 126 Rn. 13; J. Geerlings (Fn. 2), S. 560 (561); R. Hirdina (Fn. 1), S. 135 (136); ferner Gemeinsame Presseerklärung der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht und der Deutschen Bundesbank v. 4. November 2002.
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rung der Aufgabenverteilung zwischen Bundesanstalt und Bundesbank vorgenommen hat. Schließlich präzisiert § 7 Abs. 2 Satz 5 KWG n.F. die Zusammenarbeit dahingehend, dass bei der hoheitlichen Wahrnehmung der aufsichtsrechtlichen Maßnahmen, in denen die Bundesanstalt als Verwaltungsbehörde im Sinne des § 1 Abs. 4 VwVfG tätig wird, die im Vorfeld von der Bundesbank getroffenen Prüfungsfeststellungen und Bewertungen in der Regel zugrunde zu legen sind. Hiermit soll wiederum „Doppelarbeit auf der Erkenntnisebene vermieden“ werden. In der Begründung heißt es dazu, dass „vertiefende eigene Feststellungen, wie sie insbesondere im Vorfeld konkreter Aufsichtsmaßnahmen erforderlich werden können“, der Bundesanstalt unbenommen bleiben35. Diese Zielsetzung deckt sich mit Sinn und Zweck der Bankenaufsicht; denn der Gesetzgeber bringt damit zum Ausdruck, dass trotz der Zuordnung der laufenden Überwachung zur Bundesbank eine weitergehende Prüfung, beispielsweise im Verdachtsfalle, möglich und auch erforderlich bleiben muss. Man kann von einem gestuften Verfahren dergestalt sprechen, dass die Erkenntnisebene, die im Regelfall im Rahmen der laufenden Überwachung wahrgenommen wird, als eine erste Stufe der Sachverhaltsaufklärung dient, und erst dann, wenn sich Verdachtsmomente gegen ein Institut verdichten, auf einer zweiten Stufe in eine zusätzliche Prüfung eingestiegen wird, an deren möglichem Ende hoheitliche Maßnahmen der Bundesanstalt stehen können.
4. Die Richtlinienkompetenz der Bundesanstalt Nach § 7 Abs. 2 Satz 1 KWG n.F. muss die Bundesbank bei der laufenden Überwachung der Institute die Richtlinien der Bundesanstalt beachten. Diese dienen als „ein weiteres Element zur Sicherstellung der Einheitlichkeit der Durchführung und Qualitätssicherung“. Der Gesetzgeber weist damit der Bundesanstalt eine Kompetenz zum Erlass der hierfür notwendigen Richtlinien zu. Der Blick auf die Entstehungsgeschichte zeigt, dass selbst mit der Zuweisung der Richtlinienkompetenz an die Bundesanstalt eine Aufwertung der Arbeit der Bundesbank gewollt war. § 7 Abs. 2 Satz 2 KWG n.F. setzt nämlich voraus, dass die Richtlinien der Bundesanstalt im Einvernehmen mit der Bundesbank, also der stärksten Mitwirkungsform im Verwaltungsbereich zwischen zwei Verwaltungsträgern, ergehen müssen, soweit sie die laufende Aufsicht betreffen. Der Referentenentwurf sah demgegenüber nur eine auf bestimmte Institute beschränkte laufende Überwachung durch die Bundesbank vor; erst der Regierungsentwurf regelte die Richtlinienkompetenz präziser. Allerdings war in diesem Entwurf zunächst nur das „Benehmen“ mit der Bundesbank Voraussetzung für den Erlass von Richtlinien. Die Gesetz gewordene Fassung setzt hingegen „Einvernehmen“ voraus. Damit hat der Gesetzgeber der Bundesbank größeren Einfluss bei der Gestaltung der Richtlinien zur laufenden 35
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Vgl. BT-Drucks. 14 / 7033, S. 40.
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Überwachung zuerkannt. Ohne eine Einigung mit der Deutschen Bundesbank kann die Bundesanstalt somit keine Richtlinien erlassen. Auch darin kommt eine Stärkung der Rolle der Bundesbank bei der laufenden Überwachung zum Ausdruck. Sie wird nur unwesentlich geschwächt, wenn im Falle des Scheiterns des Einvernehmens an Stelle der Bundesanstalt das Bundesministerium der Finanzen tätig wird; denn dann bedarf es nur noch einer Entscheidung „im Benehmen mit der Deutschen Bundesbank“ (§ 7 Abs. 2 Satz 3 KWG n.F.). Diese Ersatzkompetenz des Bundesministeriums der Finanzen berührt aber nicht das Verhältnis von Bundesbank und Bundesanstalt. Sie will sicherstellen, dass der Erlass von Richtlinien nicht unterbleibt, wenn sich beide Institutionen nicht einigen.
II. Die Abgrenzung der Aufgabenbereiche von Bundesbank und Bundesanstalt Neben § 7 KWG hat der Gesetzgeber auch § 44 KWG einer inhaltlichen Erneuerung unterzogen. Vor allem § 44 Abs. 1 Satz 2 KWG ist neu gefasst worden. Hieß es in der ursprünglichen Fassung nur, dass das Bundesaufsichtsamt Prüfungen, auch ohne besonderen Anlass, durchführen kann, so lautet Satz 2 nunmehr: „Die Bundesanstalt kann, auch ohne besonderen Anlass, bei den Instituten Prüfungen vornehmen und die Durchführung der Prüfungen der Deutschen Bundesbank übertragen.“ Damit rückt die Prüfungskompetenz der Bundesanstalt nach § 44 KWG n.F. in ein Konkurrenzverhältnis zur Befugnis zur „laufenden Überwachung“ und „der Durchführung und Auswertung der bankgeschäftlichen Prüfungen“ der Bundesbank nach § 7 Abs. 1 Satz 2 KWG n.F. Gleiches gilt für die Neufassung des § 44 Abs. 2 Satz 2 KWG. Es lässt sich nicht leugnen, dass das Verhältnis der beiden Bestimmungen zueinander nach dem Wortlaut nicht leicht zu erfassen ist; es besteht erheblicher Interpretationsbedarf, um die Grauzone der Kompetenzen zu erhellen.
1. Das Verhältnis von § 7 KWG n.F. zu § 44 KWG n.F. a) § 44 KWG n.F. als Ermächtigungsnorm Die Regelung des § 44 Abs. 1 und Abs. 2 KWG hat durch das Gesetz über die integrierte Finanzaufsicht (Art. 2 Nr. 46) nur geringe – überwiegend redaktionelle – Veränderungen erhalten. Der bisherige § 44 Abs. 1 Satz 2 KWG, der das Bundesaufsichtsamt für das Kreditwesen ermächtigte, auch ohne besonderen Anlass bei den Instituten Prüfungen vornehmen zu lassen, wurde ergänzt. Gleiches gilt für § 44 Abs. 2 Satz 2 KWG n.F. In beiden Bestimmungen wird die Bundesanstalt ermächtigt, die Durchführung der Prüfung auf die Bundesbank zu übertragen. Dies bedeutet zunächst, dass der Gesetzgeber davon ausgeht, dass sich die Bundesanstalt zukünftig verstärkt auch im Anwendungsbereich dieser Vorschrift der Bun-
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desbank bedient. Die Gesetzesbegründung betont, „dass die Bundesanstalt die von ihr angeordneten Prüfungen (sog. Sonderprüfungen) von [ . . . ] beauftragten Wirtschaftprüfern oder von eigenen Mitarbeitern durchführen“ lassen und sich zukünftig der Bundesbank bedienen kann36. Die Bedeutung der in §§ 44 bis 44 c KWG geregelten Befugnisse besteht darin, dass sie primär Sachverhaltsermittlungsbefugnisse der Aufsichtsinstitutionen darstellen, die jeweils bei Bedarf einzusetzen sind, soweit sie für aufsichtliche Zwecke als notwendig erachtet werden. Das waren sie von Anfang an37.
b) § 44 KWG n.F. als Grundlage für Sonderprüfungen Der Gesetzgeber versteht danach in § 44 KWG n.F. Sonderprüfungen im Gegensatz zur „laufenden Überwachung“ in § 7 KWG n.F. Damit differenziert er deutlich zwischen dem Anwendungsbereich des § 44 KWG n.F. und dem des § 7 KWG n.F. Dies wird bekräftigt, wenn im Anschluss an die Ausführungen zur erweiterten Beauftragungsmöglichkeit der Deutschen Bundesbank davon gesprochen wird, dass zur Klärung von Abgrenzungsfragen das im Zuge der Einführung der Allfinanzaufsicht eingerichtete Finanzmarktforum nach § 3 FinDAG dient. Dieses „soll in diesem Zusammenhang nicht nur zur Klärung allgemeiner institutsaufsichtlicher Fragen, sondern auch zur Koordination der laufenden Aufsicht über die Institute und des Prüfungswesens gemäß §§ 44 ff. genutzt werden“38. Der Gesetzgeber gibt damit zu verstehen, dass er unter der laufenden Überwachung der Kreditinstitute etwas anderes versteht als unter den Prüfungen der §§ 44 ff. KWG n.F. Auslöser von Prüfungen nach § 44 KWG n.F. können vorherige Kontrollen, also laufende Überwachung, sein, vor allem bei festgestellten Mängeln. Ein Anlass kann aber auch darin liegen, dass sich die Bundesanstalt aus eigenem Entschluss allgemein durch Sonderprüfungen über ganz bestimmte Sachverhalte, Vorgänge oder Geschäfte informieren will, die eine aufsichtsrechtliche Relevanz haben39. Prüfungen können nach § 44 Abs. 1 Satz 2 und Abs. 2 Satz 2 KWG alter wie neuer Fassung auch „ohne besonderen Anlass“ durchgeführt werden. Dies bedeutet mithin gerade nicht, dass es sich dabei um die laufende Überwachung handelt. Diese Worte wurden bereits mit der 2. KWG-Novelle vom 24. März 1976 eingefügt, damit geprüfte Institute nicht Gefahr laufen, durch eine Sonderprüfung an Ansehen und Vertrauen zu verlieren, da allzu leicht der Verdacht entstehen könnte, es seien aufsichtsrechtlich relevante Verstöße entdeckt worden oder das jeweilige Institut habe wirtVgl. BT-Drucks. 14 / 7033, S. 40. Vgl. H. Beck / C. Th. Samm (Hrsg.) (Fn. 7), § 44 Rn. 4; U. Braun (Fn. 9), § 44 Rn. 1 f.; J. Geerlings (Fn. 2), S. 560 (562); G. Hütz (Fn. 9), S. 199; F. Reischauer / J. Kleinhans (Hrsg.) (Fn. 11), § 44 Rn. 2. 38 Vgl. BT-Drucks. 14 / 7033, S. 40. 39 Vgl. A. Bödecker, Prüfungen nach § 44 Abs. 1 Kreditwesengesetz, 1987, S. 22; U. Braun (Fn. 9), § 44 Rn. 20 f.; F. Reischauer / J. Kleinhans (Hrsg.) (Fn. 11), § 44 Rn. 6. 36 37
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schaftliche Probleme40. Die Abstände, in denen solche Sonderprüfungen stattfinden, sind nicht festgelegt und liegen damit im Ermessen der Bundesanstalt. Von den Untersuchungen soll nach der Vorstellung des Gesetzgebers ein erzieherischer Effekt ausgehen. Jedes Institut soll gleichsam ständig mit einer Prüfung nach § 44 KWG rechnen müssen41.
c) Der sonstige Anwendungsbereich des § 44 KWG n.F. im Verhältnis zu § 7 KWG n.F. § 44 KWG n.F. ist als eine besondere Ermächtigungsnorm zu charakterisieren, die es der Bundesanstalt ermöglicht, Sonderprüfungen durchzuführen und sich dabei verschiedener Hilfe zu bedienen. Die vorgenommene Aufnahme der Bundesbank in den Kreis der zu Beauftragenden unterstreicht damit ebenfalls, dass insgesamt der Aufgabenbereich der Bundesbank ausgedehnt werden sollte. § 44 KWG n.F. tritt danach ergänzend zur „laufenden Überwachung“ des § 7 KWG n.F. hinzu, ohne dass diese eingeschränkt werden soll. Beide Vorschriften haben mithin im Bankenaufsichtssystem einen unterschiedlichen Stellenwert. § 7 KWG n.F. will sicherstellen, dass die reguläre Überwachung der Kreditinstitute in der Hand der Bundesbank liegt. § 44 KWG n.F. ist hingegen auf Prüfungen zugeschnitten, die die nicht-laufende Überwachung erfassen, d. h. solche Prüfungen, die außerhalb des regulären Prüfungsturnus aufgrund besonderen Handlungsbedarfs stattfinden sollen (oder müssen). Die Kompetenznorm des § 44 KWG n.F. hat sonach einen anderen Anwendungsbereich als § 7 KWG n.F., der durch die Novellierung eine erhebliche Präzisierung erfahren hat, während der an die Bundesanstalt adressierte § 44 KWG n.F. gegenüber der alten Fassung substanziell unverändert geblieben ist, sieht man von der ausdrücklich festgelegten Einschaltung der Bundesbank ab. § 7 KWG n.F. erfasst insbesondere die laufende Überwachung der Institute. § 44 KWG n.F. spricht hingegen nicht von einer laufenden Überwachung und hat daher bereits vom Wortlaut her einen ganz anderen Sinngehalt. Damit erfasst er zwar einen weiteren Anwendungsbereich als § 7 KWG n.F., wird aber durch diesen für die laufende Überwachung eingeschränkt. § 7 KWG n.F. ist offensichtlich durch die Neufassung zu einer grundsätzlichen und langfristig angelegten klaren legislativen Regelungsnorm der laufenden Überwachung geworden; er hat eine verbindliche und exklusive Zuweisung der darin genannten Aufgabengebiete an die Deutsche Bundesbank im Rahmen dieser Zusammenarbeit vorgenommen. Zudem wird diese Zusammenarbeit durch § 7 Abs. 2 Satz 5 KWG n.F. dahingehend präzisiert, dass nunmehr die Bundesanstalt ihren aufsichtsrechtlichen Maßnahmen die von der Bundesbank ge40 Vgl. H. Beck / C. Th. Samm (Hrsg.) (Fn. 7), § 44 Rn. 9 f.; U. Braun (Fn. 9), § 44 Rn. 21; H. Mayer (Fn. 8), S. 124; M. Schneider, Praxis der Bankenaufsicht, 1978, S. 49. 41 Vgl. H. Mayer (Fn. 8), S. 125; F. Reischauer / J. Kleinhans (Hrsg.) (Fn. 11), § 44 Rn. 6; G. Waschbusch (Fn. 8), S. 524 m.w.Nachw.
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troffenen Prüfungsfeststellungen und Bewertungen in der Regel zugrundelegt. Dieser Norm kommt damit eine Filterfunktion zu, die es der Bundesanstalt ermöglicht, auf sichere Ergebnisse, die auf der Erkenntnisebene durch die Bundesbank gewonnen werden, zurückzugreifen. Der Filter befreit die Bankenaufsicht von der Gefahr der Doppelarbeit, die dem Postulat der Effizienzsteigerung entspricht.
d) § 7 KWG n.F. als Grundsatznorm auf der Erkenntnisebene bei der Institutsüberwachung Diese grundlegende Bedeutung des § 7 KWG n.F. wird dadurch unterstrichen, dass diese Vorschrift im Grundsatzteil des KWG steht. Die Kompetenzen nach § 7 KWG n.F. begrenzen danach die Prüfungsbefugnisse der Bundesanstalt nach § 44 KWG dahingehend, dass alles, was zur laufenden Überwachung nach § 7 Abs. 1 Satz 2 und 3 KWG n.F. gehört, ausschließlich der Bundesbank vorbehalten ist. Exklusive Zuweisung von Aufgaben und Zusammenarbeit schließen sich ihren Intentionen nach nicht aus. Es war ein zentraler gesetzgeberischer Zweck der Neuregelung, die Effizienz der Bankenaufsicht zu steigern und Kosten zu senken. Zugleich sollte jedoch an der gemeinsamen Aufgabenwahrnehmung festgehalten werden. Dies spricht dann aber auch dafür, dass Doppelarbeit vermieden werden soll. Eine Wahrnehmung gleicher Aufgaben durch beide Institutionen widerspräche diesem Ziel. Im Gegenteil: Die ausschließliche Wahrnehmung der laufenden Überwachung der Institute durch die Bundesbank entspricht einem klaren gesetzgeberischen Ziel. Dieser Zielsetzung läuft es nicht zuwider, wenn der Gesetzgeber auf eine Zusammenarbeit nicht verzichten wollte. Eine klare Aufgabenzuweisung und eine Kooperationsregelung sind im Verwaltungsrecht durchaus nicht unüblich. Probleme würden nur dann entstehen, wenn sich der Gesetzgeber nicht zu einer eindeutigen Kompetenzzuweisung durchgerungen hätte. Diese ist jedoch in § 7 KWG n.F. getroffen worden. Sollten Probleme in der Zusammenarbeit auftreten, so kann das „Forum für Finanzmarktaufsicht“ gemäß § 3 FinDAG eingeschaltet werden, dem die Bundesanstalt und die Deutsche Bundesbank angehören; es kann die Zusammenarbeit beider Institutionen koordinieren, falls sich ein solcher Koordinierungsbedarf ergeben sollte. Nach § 6 Abs. 1 KWG n.F. übt die Bundesanstalt die Aufsicht über die Institute „nach den Vorschriften dieses Gesetzes aus“. Wenn das Gesetz in den nachfolgenden Bestimmungen für einzelne Bereiche eine andere Zuordnung vornimmt, liegt darin kein Widerspruch. Vielmehr baut das Gesetz auf dem Grundsatz eines gestuften Aufgabenverständnisses auf. Auf der Stufe der Erkenntniserlangung wird die Deutsche Bundesbank tätig, auf einer weiteren aufsichtsrechtlichen Stufe, die nach außen in Erscheinung tritt, handelt die Bundesanstalt, die entsprechende Verfügungen erlassen kann (§ 6 Abs. 3 KWG n.F.). § 6 KWG – in alter wie neuer Fassung – will lediglich klarstellen, welche Behörde nach außen die verantwortlich handelnde Stelle ist, die im Streitfalle auch prozessual zu belangen ist. Die interne Auf-
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gabenabgrenzung zwischen Bundesbank und Bundesanstalt berührt er nicht. Im Übrigen verwendet auch § 7 KWG in der Neufassung des Absatzes 2 Satz 2 den Begriff „Aufsicht“. Von einer ausschließlichen Zuordnung der Aufsicht an die Bundesanstalt kann daher nicht die Rede sein. Um es noch einmal zu wiederholen: Die Bankenaufsicht soll von beiden Institutionen zur gesamten Hand wahrgenommen werden. § 44 KWG n.F. ist zudem keine „reine“ Befugnisnorm, die einen Katalog möglicher Maßnahmen vorsieht. Richtig ist, dass darin Prüfungsbefugnisse geregelt werden, aber nur für Prüfungen außerhalb der „laufenden Überwachung“ des § 7 KWG n.F. Gesetzestechnisch mangelhaft ist es freilich, dass § 44 KWG alter wie neuer Fassung auch die Pflichten der zu prüfenden Kreditinstitute regelt. Dieser Anwendungsgehalt der Vorschrift gilt allerdings für Bundesbank und Bundesanstalt gleichermaßen (§ 44 Abs. 1 Satz 1, 3 und 4 KWG n.F.) – Vorschriftenteile, die im Übrigen unverändert geblieben sind. Sie ändern indessen nichts an den Aufgabenverteilungsnormen der § 7 KWG n.F. und § 44 Abs. 1 Satz 2 KWG n.F. Die in § 44 KWG n.F. genannten möglichen Auftragnehmer für Prüfungen können zudem nicht beliebig durch die Bundesanstalt ausgewählt werden. Vor dem Hintergrund, dass der Gesetzgeber durch § 7 Abs. 1 KWG n.F. der Bundesbank für den Bereich bankgeschäftlicher Prüfungen zur Angemessenheit der Eigenkapitalausstattung und der Risikosteuerungsverfahren eine konkrete Zuordnung vorgenommen hat, ist die Auswahlmöglichkeit der Bundesanstalt zugunsten der Bundesbank eingeschränkt. Sie muss in diesem Bereich die Bundesbank einschalten; das Auswahlermessen ist insoweit auf „Null“ reduziert. In dieser Hinsicht schlägt die durch den Gesetzgeber verfügte Aufnahme der Bundesbank in die Neufassung des § 44 Abs. 1 Satz 2 und Abs. 2 Satz 2 KWG in vollem Umfang auf die Ermessenswaltung durch.
2. Aufgabenwahrnehmung der Bundesbank im Rahmen des Supervisory Review Process (Basel II) § 7 KWG n.F. und § 44 KWG n.F. stehen nach den vorgenannten Ausführungen als je eigene Anwendungsbereiche nebeneinander. Die im Rahmen des § 44 KWG n.F. erteilten Ermächtigungen für die Bundesanstalt müssen im Einklang mit der Kompetenzzuweisung für die ständige „laufende Überwachung“ gesehen werden, die § 7 KWG n.F. vorgenommen hat. Griffe beispielsweise die Bundesanstalt in den Anwendungsbereich des § 7 KWG ein, verstieße sie gegen diese gesetzliche Kompetenzverteilung. Da von der laufenden Überwachung insbesondere die in § 7 Abs. 1 Satz 3 KWG n.F. aufgeführten Aufgaben umfasst sind, gehört nach der Intention des Gesetzgebers auch die zukünftige Überwachung im Rahmen der mit Basel II neu entstehenden Aufgaben hierzu. Damit sind die im Rahmen des Supervisory Review Process (SRP) zu erwartenden Aufgaben von der laufenden Über-
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wachung erfasst42. Diese Auslegung wird auch von § 7 Abs. 2 Satz 5 KWG n.F. gestützt, wonach die Bundesanstalt die von der Bundesbank getroffenen Prüfungsfeststellungen und Bewertungen in der Regel ihren aufsichtsrechtlichen Maßnahmen regelmäßig zugrunde zu legen hat. Daraus folgt ebenfalls, dass das Auswahlermessen, wen die Bundesanstalt mit der Durchführung ihrer Aufgaben betraut, auf „Null“ reduziert ist, wenn es sich um Aufgaben des SRP handelt. Ansonsten würde die Aufgabenverteilung des Gesetzgebers umgangen.
III. Zusammenfassung Die im Zusammenhang mit der Einführung einer Allfinanzaufsicht vorgenommenen gesetzlichen Änderungen sind vornehmlich organisatorischer Natur. Der materiell-rechtliche Bereich des Kreditwesengesetzes ist nur geringfügig geändert worden, ausgenommen die §§ 7 und 44. Mit den in diesem Rahmen getroffenen Änderungen bringt der Gesetzgeber zum Ausdruck, dass die Bankenaufsicht der Bundesanstalt und der Bundesbank zur gesamten Hand übertragen ist. Insgesamt hat die Neufassung des § 7 KWG zu einer präziseren Aufgabenverteilung zwischen Bundesanstalt und Deutscher Bundesbank geführt. Das Ergebnis, dass die laufende Überwachung nunmehr durch die Bundesbank wahrgenommen wird, wurde aufgrund einer eindeutigen, sich auf Wortlaut, Systematik, Entstehungsgeschichte und Telos orientierten Auslegung gefunden. Gleiches gilt für die Stärkung der Rolle der Bundesbank bei der Wahrnehmung der Bankenaufsicht. Auch dies ist unmittelbare Folge der mit der Neufassung des § 7 KWG einhergehenden Präzisierung. Die Bereiche der Bundesanstalt und der Bundesbank sind jetzt genauer abgegrenzt, ohne eine völlige Abkoppelung der Institutionen voneinander befürchten zu lassen, was zudem durch § 3 FinDAG verhindert wird. Insbesondere das systematische Zusammenspiel der Absätze bzw. Sätze des § 7 KWG n.F. lässt dies erkennen. Man kann von einem gestuften Verhältnis dergestalt sprechen, dass die Sachverhaltsermittlung von der Bundesbank wahrgenommen wird und nach einer ersten Auswertung der Bundesanstalt zugeleitet wird. Diese entscheidet dann auf einer zweiten Stufe, ob sie aufsichtsrechtliche Maßnahmen mit Außenwirkung vornehmen will oder nicht. Damit soll der Gefahr des Gegeneinanderwirkens beider Institutionen entgegengetreten werden. Zugleich soll eine an Effizienzgesichtspunkten orientierte Aufgabenwahrnehmung der Institutionen Doppelarbeit vermeiden. Die stärkere Rolle der Notenbank wird zudem bei der Erarbeitung der Richtlinien für die laufende Überwachung verdeutlicht. Zwar muss die Bundesbank die Richtlinien der Bundesanstalt beachten, aber diese Richtlinien müssen im Einvernehmen, also der stärksten Form der Mitwirkung, mit der Bank ergehen. Umgekehrt muss die Bundesanstalt bei ihren Maßnahmen in der Regel 42 Vgl. J. Geerlings (Fn. 2), S. 560 (562); zu den mit Basel II einhergehenden Veränderungen St. Paul, in: Hummel / Breuer (Hrsg.), Handbuch europäischer Kapitalmarkt, 2001, S. 136.
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nach § 7 Abs. 2 Satz 5 KWG n.F. die Prüfungsfeststellungen der Bundesbank zugrundelegen. Schließlich macht die mit der Präzisierung des § 7 KWG n.F. verbundene Aufwertung der Rolle der Notenbank in der Bankenaufsicht unter dem Gesichtspunkt einer Effizienzsteigerung ihren Sinn: Freiwerdende Kapazitäten der Bundesbank können im Zuge der Aufgabenverlagerung zur EZB wirkungsvoll genutzt werden. Außerdem gewährleistet die vorhandene Ortsnähe der Hauptverwaltungen der Bundesbank eine flächendeckende Präsenz. Das so interpretierte Verhältnis von § 7 KWG n.F. zu § 44 KWG n.F. findet seine Bestätigung bei der europarechtlichen Bewertung der Bankenaufsicht im Rahmen des ESZB: Vorschläge einer außerhalb der Notenbanken angesiedelten europäischen Allfinanzaufsicht wurden nicht umgesetzt. Vielmehr wird inzwischen vorrangig betont, dass die Zusammenarbeit im Rahmen einer europäischen Bankenaufsicht nicht ohne die Beteiligung der nationalen Notenbanken erfolgen kann. Durch die Bundesbank ist der EZB damit ein „Rückgriff auf Informationen aus erster Hand für die Geldpolitik“ gesichert.
Sonntagszeit und Arbeitszeit Ein Beitrag zur Zulässigkeit von Mitarbeiterschulungen an Sonntagen Von Rolf Stober
I. Peter Selmer als forschender Wirtschaftsrechtler Das wissenschaftliche Œuvre des Jubilars ist weitgespannt. Es bewegt sich im Schnittfeld zwischen Staat und Finanzen, Wirtschaft und Verwaltung. Ein publizistischer Schwerpunkt von Peter Selmer liegt im europäischen und nationalen Wirtschaftsrecht, das er in zahlreichen Abhandlungen bearbeitet hat. Dabei ist sein Forschungsinteresse stets darauf gerichtet, neue Themen zu entdecken, juristisch zu analysieren und die einschlägigen Rechtsprobleme einer praktikablen Lösung zuzuführen. Vor diesem Hintergrund liegt es nahe, Peter Selmer mit einem wirtschaftsverwaltungsrechtlichen Beitrag zu würdigen, der seiner wissenschaftlichen Neugier entgegenkommt. II. Sonntagszeit und Arbeitszeit als Forschungslücke Diese Anforderungen erfüllt das Thema Sonntagszeit und Arbeitszeit. Zwar ist auf den ersten Blick das Verhältnis zwischen Sonntagszeit und Arbeitszeit hinreichend geklärt. Denn nach Art. 140 GG i. V. m. Art. 139 WRV bleiben der Sonntag und die staatlich anerkannten Feiertage als Tage der Arbeitsruhe und der seelischen Erhebung geschützt. Dementsprechend heißt es in § 10 Abs. 1 ArbZG, dass Arbeitnehmer an Sonn- und gesetzlichen Feiertagen von 0 bis 24 Uhr nicht beschäftigt werden dürfen. Bei näherem Hinsehen bleiben jedoch viele Fragen offen, die auch durch die Ausnahmeregelungen des § 10 ArbZG nicht abschließend beantwortet werden. Vielmehr ist das Sonntagsrecht ein weithin unerforschtes Rechtsgebiet, wie ein Blick in die Literatur zeigt. Denn das arbeitszeitrechtliche Schrifttum konzentriert sich auf die werktägliche Arbeitszeit und beschränkt sich im übrigen weitgehend darauf, die Gesetzeslage zu referieren1. Dabei wird unter anderem vernach1 S. etwa Diller, Fortschritt oder Rückschritt? – Das neue Arbeitszeitrecht, NJW 1994, S. 2726 ff.; Kollmer, Das neue Arbeitszeitrecht, GewArch 1994, S. 406 ff.; Zmarzlik, Entwurf eines Arbeitszeitgesetzes, BB 1993, S. 2009 ff.; Anzinger, Neues Arbeitszeitgesetz in Kraft getreten, BB 1994, S. 1492 ff. und ferner allgemein die Literaturübersicht bei M. Wollenschläger, Arbeitsrecht 1999, S. 398.
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lässigt, dass die Zweckbestimmung des § 1 ArbZG unvollständig ist, weil sie weder auf besondere Bedürfnisse nach Sonn- und Feiertagsarbeit noch auf die verfassungsrechtliche Würdigung der Restriktionen eingeht. So wird etwa kaum berücksichtigt, dass das Arbeitszeitrecht auch der Beschäftigungssicherung dient und im Hinblick auf Auslandskonkurrenz sogar wettbewerblich motiviert ist. Die weiteren Ausführungen nehmen nicht zu dem Gesamtkomplex der Sonntagszeit und Arbeitszeit Stellung. Sie konzentrieren sich sozusagen exemplarisch auf einen nicht ausdrücklich geregelten Ausschnitt, dem besondere Praxisrelevanz zukommt: Der Schulung von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern von Friseursalons durch Friseurbedarf produzierende Unternehmen. Hierzu ist rechtstatsächlich zu bemerken, dass die Schulung in dieser Branche traditionell am Wochenende stattfindet, da die Arbeitszeiten kaum eine andere Wahl lassen. Bislang wurde diese Praxis geduldet. In jüngerer Zeit melden Arbeitsicherheitsbehörden allerdings rechtliche Bedenken an, denen nachfolgend nachgegangen werden soll. Dabei werden auszugsweise Ergebnisse eines Gutachtens vorgestellt, das der Autor einer Herstellerfirma von Friseurartikeln erstattet hat. Die verfassungsrechtliche Lage wird nicht geprüft.
III. Sonntagszeit und Arbeitszeit als Forschungslücke Die entscheidende Frage in diesem Zusammenhang lautet, ob das ArbZG zwischen einem Mitarbeiter eines Friseursalons und dem Schulungsunternehmen anwendbar ist. So läßt sich etwa dem Wortlaut des § 8 Satz 2 ArbZG und einer Betrachtung der Gesetzessystematik entnehmen, dass die Bestimmungen nur für eine Beschäftigung im Betrieb gelten. Dem könnte man entgegenhalten, das ArbZG regele die Sonn- und Feiertagsruhe in einem eigenen Abschnitt, und § 9 I ArbZG verbiete jede Art der Beschäftigung eines Arbeitnehmers und damit auch die Beschäftigung an jedem Ort, nicht nur im Betrieb2. Eine solche Betrachtung wäre indes abwegig, denn man wird, um eine Beschäftigung i. S. d. § 9 I ArbZG bejahen zu können, zumindest eine unmittelbare Betriebsbezogenheit der jeweiligen Tätigkeit verlangen müssen. Insoweit ist bei Schulungen zwischen der betrieblichen und der privaten Sphäre zu unterscheiden, die nicht dem Arbeitsverhältnis zugeordnet werden darf. Der Arbeitnehmer wird bei den Schulungen nicht im arbeitsrechtlichen und auf der Direktionsgewalt beruhenden Auftrag seines Arbeitgebers tätig, sondern er nimmt freiwillig aus persönlichem Interesse an einer Schulung außerhalb des Betriebes teil. Darüberhinaus werden Schulungen als Incentives und als Belohnung für die geleistete Arbeit verstanden. Es leuchtet deshalb ein, dass die Schulungen zwar ihre Ursache im Arbeitsverhältnis haben, während das Schulungsgeschenk nicht unbedingt dem Arbeitgeber zugute kommen soll. Vielmehr erhalten Schulungen ein privates Gepräge. Diese Zuordnung zur Privatsphäre findet auch im Bezahlungsvorgang ihren Niederschlag. Denn Schulungen werden den Teilnehmern in Rechnung gestellt. Es gibt also keinen Automatismus dahin, dass 2
So Zmarzlik / Anzinger, § 9 ArbZG, Rn. 4.
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nur der Salon und das Schulungsunternehmen an der organisatorischen und finanziellen Abwicklung beteiligt sind. Vielmehr zahlen die Teilnehmer die Kosten häufig selbst. Sofern der Salon die Kosten letztlich trägt, fehlt es wegen des Prämiencharakters an der Betriebsnützlichkeit, weil es sich um eine Leistung handelt, die über das Arbeitsentgelt hinausreicht. Nachfragen bei Innungsobermeistern haben ferner ergeben, dass wegen des Prämiencharakters auch kein Freizeitausgleich vorgenommen wird. Ferner bezahlen viele Salons nach Leistungslohn, dessen Höhe von der individuellen Leistung des einzelnen Mitarbeiters abhängt. Die Weiterbildung liegt auch hier im eigenen Interesse. Diese Praxis spricht ebenfalls dafür, dass Schulungen schwerpunktmäßig dem Privatbereich zuzuordnen sind. Dass der Mitarbeiter anlässlich der Schulung seine beruflichen Fertigkeiten verbessert, ist für die Frage nach der Anwendbarkeit des ArbZG unbeachtlich, denn es fehlt bei der allgemein angebotenen Schulung an einer konkreten Betriebsbezogenheit. Dieses Kriterium der unmittelbaren Betriebsbezogenheit muss deshalb gefordert werden, weil andernfalls jedes Verhalten eines Arbeitnehmers, das auf den Erwerb von Wissen oder Fertigkeiten in dem von ihm gewählten Berufszweig gerichtet ist, unter den Begriff der Beschäftigung gezogen werden könnte. Dem Arbeitnehmer wäre es dann etwa verboten, an Sonn- und Feiertagen Interessen nachzugehen, die mit der von ihm ergriffenen Berufstätigkeit nur in einem losen sachlichen Zusammenhang stehen, räumlich und personell sogar keinerlei Verbindung aufweisen. Die Voraussetzung einer „Beschäftigung“ im Betrieb könnte also nur in der Variante vorliegen, dass Schulungen an Sonn- und Feiertagen in dem Friseursalon des jeweiligen Arbeitgebers stattfinden. Diese Auffassung findet sich in der Rechtsprechung3 und in der Literatur4. Es ist jedoch fraglich, ob sie einer grammatikalischen und teleologischen Interpretation standhält. Adressat des ArbZG ist nur der Arbeitgeber der jeweils beschäftigten Arbeitnehmer5. Es soll vermieden werden, dass der Arbeitgeber als Friseurmeister die Angestellten am Sonntag im Betrieb selbst fachlich weiterbildet und damit das betriebliche Abhängigkeitsverhältnis ausnutzt. Davon ist aber die Konstellation zu trennen, dass das Schulungsunternehmen durch ihr Personal in Salons Schulungen vornimmt. Denn die Schulungsunternehmen sind – wie dargelegt – nicht Arbeitgeber der Beschäftigten des Salons, in dem die Schulung stattfindet. Folglich liegt auch keine Beschäftigung im Sinne des ArbZG vor6. Daher könnte man allenfalls diskutieren, ob eine Beschäftigung deshalb anzunehmen ist, weil die Schulung von Arbeitnehmern im Betrieb durch fremde Kräfte der Vorbereitung der eigentlichen Betriebstätigkeit dient7. Dieser Auslegung ist BayObLG, GewArch 1986, 132 = BB 1986, 880. Neumann, in: Landmann / Rohmer, GewO, Erl. zu § 9 ArbZG, Rn. 3; Wank, in: Tettinger / Wank, GewO, 6. Aufl. 1999, § 105a, Rn. 34. 5 S. etwa Zmarzlik / Anzinger, § 9 ArbZG, Rn. 6. 6 A.M. BayObLG, BB 1986, 880. 7 So BayObLG, BB 1986, 880. 3 4
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entgegenzuhalten, dass eine Schulung zunächst den betroffenen Arbeitnehmern selbst nützt und für ihr berufliches Fortkommen entscheidend ist. Es sei nur an Personal erinnert, das sich auf eine Meisterprüfung im Friseurhandwerk vorbereitet, um sich selbstständig zu machen, oder das für einen Friseurwettbewerb neue Anregungen erwerben möchte. Aber auch bei Schulungen für Persönlichkeitsweiterbildung, Marketing und Betriebswirtschaft fehlt es an einem Bezug zur Arbeit für den Arbeitgeber, weil die Schulung nicht auf eine Anwendung im Betrieb zielt. Unabhängig davon kann man Weiterbildung nicht zwingend ohne weiteres als Arbeit im Sinne des ArbZG qualifizieren, weil das typische Weisungs- und Direktionsrecht bei Fremdschulungen nicht oder nur rudimentär zur Geltung kommt. Es liegt vor allem keine Beschäftigung im Salon vor, weil der eigentliche Friseurbetrieb zu dieser Zeit ruht und die Schulungsteilnehmer keine Leistungen gegenüber den Kunden erbringen. Es werden lediglich die Räumlichkeiten und Einrichtungen des Friseursalons für Schulungszwecke zur Verfügung gestellt. Würde jedoch allein das Zur-Verfügung-Stellen von Einrichtungen dazu führen, dass eine Schulung für die Fachkräfte, die sonst als Angestellte in den betreffenden Räumen tätig sind, pauschal als Beschäftigung i. S. d. § 9 ff. ArbZG zu werten sei, wäre eine unsachgemäße Differenzierung vorprogrammiert. Denn ob die Schulung – an der regelmäßig Fachkräfte unterschiedlicher Salons teilnehmen – in einem Hotel, in einem Salon A oder einem Salon B stattfinden, kann mehr oder weniger vom Zufall abhängen. Dann widerspräche es aber dem gesetzgeberischen Zweck, die Weiterbildung für den Einzelnen als Beschäftigung i. S. d. § 9 ff. ArbZG anzusehen – nämlich für denjenigen, der auch wochentags im betreffenden Salon wirkt –, obwohl für alle anderen diese Klassifizierung von vornherein ausscheidet. Vor diesem Hintergrund ist das ArbZG generell nicht auf Fremdschulungen durch Mitarbeiter von Schulungsunternehmen in Friseursalons anwendbar. Dieses Auslegungsergebnis gilt erst recht, wenn die Schulung nicht in der Arbeitsstätte des Arbeitgebers, sondern in anderen Salons anlässlich von Tagungen und Seminaren, in Hotels oder in Studios der Produkthersteller erfolgt. Hier ist der personelle Geltungsbereich für das Friseurpersonal nicht tangiert, weil die Schulung nicht im Betrieb des Arbeitgebers stattfindet8. In diesen Fällen ist vor allem ein konkreter betrieblicher Bezug nicht mehr erkennbar. Das ist auch die Meinung der Rechtsprechung. So hat etwa das BayObLG9 festgestellt, Adressat der Verbotsnorm sei der Arbeitgeber. Sonstige Veranstalter überbetrieblicher Schulungen vergleichbarer Art fielen nicht darunter10. Die Kommentarliteratur hat sich dieser Ansicht ohne nähere Begründung angeschlossen11. BayObLG, BayVBl. 1987, 313. BB 1986, 880 = BayVBl. 1987, 313. 10 Ebenso im Anschluss Wank, in: Tettinger / Wank, GewO, 6. Aufl., § 105a, Rn. 34; Neumann, in: Landmann / Rohmer, GewO, ArbZG § 9, Rn. 3. 11 Baeck / Deutsch, ArbZG, 1999, § 9, Rn. 11; Neumann / Biebl, ArbZG, 13. Aufl. 2001, § 9, Rn. 3. 8 9
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Selbst wenn man davon ausginge, dass Schulungen einen konkreten Betriebsbezug aufwiesen und deshalb eine Beschäftigung im arbeitsrechtlichen Sinne darstellten, wäre auch der Umfang der jährlichen Inanspruchnahme an Sonn- und Feiertagen zu berücksichtigen. Aus dieser zeitlichen Perspektive handelt es sich aber um eine vernachlässigungswürdige Bagatelle, weil nach Auskunft von Innungsobermeistern Arbeitnehmer regelmäßig allenfalls ein- oder zweimal jährlich an Sonntagsschulungen teilnehmen. Derartige Weiterbildungen verletzen weder die Schutzzwecke des § 1 ArbZG noch belasten sie die betroffenen Arbeitnehmer übermäßig, wenn man die Vorteile von Schulungen in Ansatz bringt.
IV. Mitarbeiterschulungen und sachlicher Anwendungsbereich des § 10 ArbZG 1. Zur gesetzlichen Zulässigkeit von Ausnahmen nach § 10 ArbZG Deshalb ist der Frage nachzugehen, ob eine Sonn- und Feiertagsbeschäftigung von Mitarbeitern des Produktherstellers anlässlich von Schulungen nach dem sachlichen Geltungsbereich des ArbZG zulässig ist. Insoweit ist zunächst an § 10 ArbZG zu denken, der zahlreiche Abweichungen von dem in § 1 Nr. 2 und § 9 I ArbZG festgelegten Beschäftigungsverbot zulässt. Dabei handelt es sich um gesetzliche Ausnahmetatbestände. Das bedeutet zum einem, dass der Arbeitnehmerschutz hinter den katalogartig aufgeführten Tatbeständen aus unterschiedlichen Bedürfnisgesichtspunkten zurücktritt. Die Situation ist vergleichbar dem Ladenschlussrecht, das ebenfalls zwischen Ladenarbeitszeiten und zahlreichen Sonderregeln trennt, die im Interesse bestimmter Versorgungs- und Dienstleistungsbedürfnisse erlassen sind12. Zum anderen legt die Norm fest, dass die Ausnahmen keiner besonderen Bewilligung durch die zuständige Aufsichtsbehörde bedürfen13. Vielmehr hat der Arbeitgeber, hier das Schulungsunternehmen, selbst zu prüfen, ob bei Sonntagsschulungen von Friseuren ein Ausnahmefall vorliegt. Wegen dieser legislatorischen Ausgestaltung trägt der Arbeitgeber gleichzeitig die Verantwortung dafür, dass die Tatbestandsvoraussetzungen des § 10 ArbZG gegeben sind14. Diese Rechtsfolge lässt sich auch aus § 13 III Nr. 1 und § 22 ArbZG ableiten. Denn in Zweifelsfällen kann der Arbeitgeber, der von § 10 ArbZG Gebrauch machen will, durch die Aufsichtsbehörde feststellen lassen, ob eine Beschäftigung nach dieser
12 Ausführlich Stober, Wirtschaftsverwaltungsrecht BT, 12. Aufl. 2001, § 52 IV; zum Verhältnis zwischen LSchlG und ArbZG Baeck / Deutsch, ArbZG, 1999, § 9, Rn. 19. 13 Ebenso D. Hahn, Das Wirtschaftsverwaltungsrecht in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ab 1999, GewArch 2002, 41, 46; Baeck / Deutsch, ArbZG, 1999, § 10, Rn. 3. 14 S. auch Baeck / Deutsch, ArbZG, 1999, § 10, Rn. 3; Zmarzlik / Anzinger, ArbZG, § 10, Rn. 28; Zmarzlik, Die Zulässigkeit industrieller Sonntagsarbeit, RdA 1988, 257, 268; Wank, in: Tettinger / Wank, GewO, § 105a, Rn. 38; D. Hahn (Fn. 13), S. 41, 46.
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Vorschrift gestattet ist15. Auf diese Weise kann er vermeiden, ordnungswidrig zu handeln. Als generelle Voraussetzung verlangt die Bestimmung, dass die Arbeiten nicht an Werktagen vorgenommen werden können. Diese Bedingung ist nicht nur dann erfüllt, wenn die Arbeiten aus rein technischen Gründen nicht auf Werktage verlagert werden können, sondern auch dann, wenn die Vornahme dieser Arbeiten an Werktagen für den Betrieb unverhältnismäßige wirtschaftliche und soziale Nachteile zur Folge hätte16. Unzulässig sind dagegen Arbeiten, die ohne Gefährdung des Betriebszwecks mit zumutbaren Gestaltungsmitteln auf den Werktag verschoben werden können17. Für die Frage, ob zumutbare Gestaltungsmittel zur Vermeidung der Sonn- und Feiertagsarbeit vorhanden sind, ist auf die Art der Arbeit und die konkreten betrieblichen Verhältnisse abzustellen18. Insoweit ist auf die besondere Struktur des Friseurhandwerks hinzuweisen, dessen Öffnungs- und Geschäftszeiten im Interesse der Kunden keine intensive, qualitativ hochwertige Schulung während der Geschäftszeit oder an Abenden nach Geschäftsschluss gestatten. Die meisten Betriebe sind zu klein, weshalb sie auf das Personal während der Öffnungszeiten nicht verzichten können. Auch wegen der – vonseiten der Kunden erwarteten – umfassenden Beratungsfunktion des Friseurbetriebes und ihrer wachsenden Ansprüche reicht eine Abendschulung nicht aus. Ferner müssen aus Wettbewerbs- und Marketinggründen neue und modische Friseurtrends möglichst zeitnah vermittelt werden. Diese Umsetzung lässt sich nur zu Wochenbeginn und am Wochenende verwirklichen. Somit hätte eine Verschiebung nur auf Werktage für die Friseurbetriebe unverhältnismäßige wirtschaftliche und soziale Nachteile zur Folge19. Da die Generalbedingung erfüllt ist, kann man sich dem Ausnahmekatalog des § 10 I ArbZG zuwenden.
15 S. auch Wank, in: Tettinger / Wank, GewO, § 105a, Rn. 38; BVerwGE 112, 51 ff. = GewArch 2001, 39 ff. = JZ 2001, 43 mit Anm. Schoch. 16 Erasmy, Ausgewählte Rechtsfragen zum neuen Arbeitszeitrecht (II), NZA 1995, 97, 98; Roggendorff, ArbZG, 1994, § 10, Rn. 16; Wank, in: Dieterich / Hanau / Schaub, Erfurter Komm. zum ArbZR, 2. Aufl. 2001, § 10, Rn. 2. 17 Neumann / Biebl, ArbZG, 13. Aufl. 2001, § 10, Rn. 3; Roggendorff, ArbZG, 1994, § 10, Rn. 16. 18 Neumann / Biebl, ArbZG, 13. Aufl. 2001, § 10, Rn. 3; Roggendorff, ArbZG, 1994, § 10, Rn. 17; Wank, in: Dieterich / Hanau / Schaub, Erfurter Komm. zum ArbZR, 2. Aufl. 2001, § 10, Rn. 2. 19 Roggendorff, ArbZG, 1994, § 10, Rn. 16 f.; Wank, in: Tettinger / Wank, GewO, § 105a, Rn. 39 m. w. N.; Neumann, in: Landmann / Rohmer, § 10 ArbZG, Rn. 3; BVerwG, GewArch 2001, 39, 42.
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2. Zur gesetzlichen Zulässigkeit von Sonn- und Feiertagsschulungen nach § 10 I Nr. 5 ArbZG Nach § 10 I Nr. 5 ArbZG dürfen Arbeitnehmer beschäftigt werden bei Musikaufführungen, Theatervorstellungen, Filmvorführungen, Schaustellungen, Darbietungen und ähnlichen Veranstaltungen. Darunter fallen Vorträge mit unterhaltendem, kulturwissenschaftlichem und bildendem Charakter, die zum Zwecke der Unterhaltung, Zerstreuung und Freizeitgestaltung angeboten werden. Die Anführung der einzelnen Veranstaltungstypen ist nicht abschließend. Vielmehr fungiert der Begriff „ähnliche Veranstaltungen“ als Auffangtatbestand20. Ob Schulungen unter diese Veranstaltungskategorie fallen, richtet sich nach der Ausgestaltung der Schulungen sowie nach ihrem Schwerpunkt und Gepräge. Die Merkmale des § 10 I Nr. 5 ArbZG sind zunächst erfüllt, wenn die Teilnehmer lediglich passiv geschult werden, das heißt, wenn sich ihre Mitwirkung auf das Zusehen und Zuhören beschränkt. Diese Voraussetzung ist nämlich charakteristisch für Aufführungen, Vorführungen, Vorstellungen und Darbietungen, denn dann findet die jeweilige Veranstaltung quasi vor einem Publikum statt21. Das gilt etwa für Schaufrisieren und Schaufärben, für Wettbewerbe und die Vorführung neuer Techniken oder Kreativseminare, die etwa der Persönlichkeitsfindung und -verwirklichung dienen. Ferner kommt es auf die konkreten Umstände des Einzelfalls an. Insoweit ist zu beobachten, dass Schulungen in jüngerer Zeit immer mehr in Events eingebaut werden, bei denen die Unterhaltung nicht zu kurz kommt. Derartige Veranstaltungen stehen auch im Einklang mit dem in § 1 Nr. 2 ArbZG festgeschriebenen Gesetzeszweck. Denn sie werden von den Teilnehmern nicht als Arbeit, sondern als Bestandteil der sonntäglichen seelischen Erhebung verstanden. Hinsichtlich der Behauptung, Veranstaltungen, die der Werbung und Vermarktung dienten, fielen nicht unter dieser Ziffer, ist zu bemerken, dass sämtliche in § 10 I Nr. 5 ArbZG angeführten Veranstaltungen auch auf Werbung und Vermarktung angelegt sind. Man denke nur an den Verkauf von CD’s vor, während und nach Veranstaltungen. Auch die Gewerblichkeit der Veranstaltungen ist nicht geeignet, den Anwendungsbereich auszuschließen. Denn grundsätzlich sind sämtliche Filmvorführungen, Schaustellungen und Musikaufführungen nicht gemeinnützig orientiert, sondern gewerblich im Sinne von Gewinnerzielungsabsicht. § 10 I Nr. 5 ArbZG stellt hinsichtlich der Zulässigkeit der Arbeitnehmerbeschäftigung nicht auf die Gewerbsmäßigkeit des Veranstalters, sondern allein darauf ab, ob die jeweiligen Darbietungen in den dort erwähnten kulturellen, bildenden und unterhaltenden Typus fallen22. Das zeigt etwa ein Vergleich mit § 10 I Nr. 6 ArbZG, der nichtgewerbliche Aktionen verlangt, und mit § 33a und § 55 I Nr. 2 GewO, die 20 Baeck / Deutsch, ArbZG, 1999, § 10, Rn. 37 ff., 43 ff., Zmarzlik / Anzinger, ArbZG, § 10, Rn. 43 f. 21 Baeck / Deutsch, ArbZG, 1999, § 10, Rn. 44; Linnenkohl, ArbZG, 1997, § 10, Rn. 26. 22 Schliemann, in: Stahlhacke / Leinemann, GewO – Arbeitsrechtlicher Teil, § 10 ArbZG, Rn. 18.
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jeweils die Gewerbsmäßigkeit als typprägendes Merkmal voraussetzen. Deshalb spielt bei Veranstaltungen im Sinne des § 10 I Nr. 5 ArbZG auch keine Rolle, ob für die Vorführung ein Entgelt verlangt wird.
3. Zur gesetzlichen Zulässigkeit von Sonn- und Feiertagsschulungen nach § 10 I Nr. 6 ArbZG Die Voraussetzungen der Ziffer 6 sind erfüllt, wenn das Unternehmen anlässlich von Schulungsmaßnahmen mit Verbänden, Vereinen und ähnlichen Vereinigungen kooperiert und der Schwerpunkt der Schulung bei den beteiligten Organisationen unter der Prämisse liegt, dass die Aktionen und Veranstaltungen so ausgestaltet sind, dass mit ihnen keine Gewinnerzielungsabsicht verfolgt wird23. Das ist etwa der Fall, wenn Unternehmen kostendeckende Schulungen in Zusammenarbeit mit Friseurverbänden und Friseurinnungen in ihren Studios durchführen. Dann ist es unerheblich, dass die Fortbildung in Räumlichkeiten der Schulungsunternehmen stattfindet. Da derartige Aktionen und Veranstaltungen gesetzlich zugelassen sind, kommt es auch nicht darauf an, dass Dozenten eingesetzt werden und anderes Personal der Schulungsunternehmen beschäftigt wird, weil der Arbeitnehmerschutz wegen des in § 10 I Nr. 6 ArbZG artikulierten Bedürfnisses zurücktritt. Zum einen ist die Dozententätigkeit nicht gewerblich, wenn sie im Arbeitnehmerstatus erfolgt. Aber selbst wenn die Dozenten selbstständige Friseurmeister oder Akteure sind, die von den Innungen bzw. den Herstellerfirmen bezahlt werden, ist diese Qualifizierung unerheblich, solange nicht, wie der Wortlaut und Kontext des § 10 I Nr. 6 ArbZG eindeutig belegt, der Veranstalter selbst gewerblich tätig wird24.
4. Zur gesetzlichen Zulässigkeit von Sonn- und Feiertagsschulungen nach § 10 I Nr. 7 ArbZG Fehlt es an einer Zusammenarbeit mit Verbänden und Vereinen oder sind die Schulungsveranstaltungen kostenpflichtig, dann ist zu prüfen, ob andere Ausnahmeregeln greifen. Insoweit muss das veränderte Freizeitverhalten in die Auslegung des § 10 I Nr. 7 ArbZG einfließen, solange dadurch der eigentliche Kerngehalt nicht ausgehöhlt wird. Und hier kommt der zweite wesentliche Aspekt der Ausnahmeregelung zum Tragen. In den letzten Jahrzehnten hat sich ein grundlegend anderes Bild des Freizeitverhaltens und insbesondere der Sonn- und Feiertage ergeben. Nicht zuletzt durch die Massenmotorisierung und der damit einhergehenden Unabhängigkeit und Mobilität dient der Sonntag heute weniger als früher der Ruhe. 23 Linnenkohl, ArbZG, 1997, § 10, Rn. 26; Neumann / Biebl, ArbZG 13. Aufl. 2001, § 10, Rn. 17; Schliemann, in: Stahlhacke / Leinemann, GewO – Arbeitsrechtlicher Teil, § 10 ArbZG, Rn. 19. 24 S. auch die Einzelfälle bei Zmarzlik / Anzinger, ArbZG, § 10, Rn. 48.
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Sonn- und Feiertage werden immer mehr zu Ausflügen genutzt wie auch dazu, Angebote der Freizeitwirtschaft und -industrie wahrzunehmen. Namentlich im Hotel-, Gaststätten- und Beförderungsgewerbe erfahren diese „geschützten“ Tage eine Veränderung hin zum „Hauptarbeitstag“25. Mit anderen Worten: Die seelische Erhebung an Sonn- und Feiertagen manifestiert sich heute weniger als damals in der „kollektiven Ruhe“, vielmehr besteht ein Trend zur individuellen und interessengebundenen Selbstverwirklichung26. Diese Entwicklung wirkt sich auch auf die Bildungsaktivitäten der Bevölkerung aus. Nach neuesten Umfragen27 zählt die Fortbildung am Feierabend oder am Wochenende nicht zum Arbeitsleben. Sie ist vielmehr essentieller Bestandteil der Freizeit der Bundesbürger, der eine hohe Bedeutung beigemessen wird. So haben sieben von zehn Befragten erklärt, dass nach ihrer Einschätzung Fortbildungen in den nächsten Jahren einen größeren Teil der Freizeit in Anspruch nehmen werden. Bei diesem modernen Verständnis sind Weiterbildungseinrichtungen gleichzeitig als Freizeiteinrichtungen zu qualifizieren, weil sie einem ausgeprägten Bedürfnis entsprechen, sich an Sonntagen intensiv weiterzubilden, um den Anschluss an den Beruf und die Gesellschaft nicht zu verlieren. Das gilt um so stärker, je mehr die Schulungstätigkeit von einem Programm begleitet wird, dem entweder sportlicher oder unterhaltender Charakter beizumessen ist und bei dem das Vergnügen des zu schulenden Personals nicht zu kurz kommt. Bekanntlich sind zahlreiche Schulungsveranstaltungen so organisiert, dass es nicht nur um eine Schulung auf dem Gebiet der Kopfpflege geht, sondern dass auch Show- und andere Elemente in den Vordergrund treten. Keine Bedenken bestehen insbesondere bei Seminaren, die der Persönlichkeitsfindung und -verwirklichung dienen, da sie typischerweise der Freizeitbeschäftigung zuzuordnen sind (Rhetorikkurs, Körpersprachekurs usw.). Angesichts des Freizeitwandels liegt es sogar nahe, dass derartige Veranstaltungen im Einklang mit § 10 I Nr. 2 ArbZG stehen, weil sie kaum als Arbeit im herkömmlich verstandenen Sinne, sondern als eine Möglichkeit seelischer Erhebung empfunden werden.
5. Zur gesetzlichen Zulässigkeit von Sonn- und Feiertagsschulungen nach § 10 I Nr. 9 ArbZG Eine weitere Ausnahme vom Beschäftigungsverbot ist nach § 10 I Nr. 9 ArbZG bei Messen, Ausstellungen und Märkten im Sinne des Titels IV der Gewerbeordnung zulässig. Diese Ziffer ist vor allem dann anwendbar, wenn Schulungen bei Friseurkongressen oder in Ausstellungsräumen stattfinden. Die Sonderstellung Loritz, Möglichkeiten und Grenzen der Sonntagsarbeit, 1989, S. 50 ff. Vom Ansatz her ähnlich Loritz, Möglichkeiten und Grenzen der Sonntagsarbeit, 1989, S. 48. 27 Forsa-Institut im Auftrage des Arbeitskreises Freizeitwirtschaft im Institut der deutschen Wirtschaft Köln v. 12. bis 14. 9. 2001; iwd v. 22. 11. 2001, Nr. 47, S. 6. 25 26
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hängt mit der besonderen Funktion von Messen und Ausstellungen zusammen28. Sie wollen auf Neuheiten aufmerksam machen und sollen wegen des wirtschaftsbelebenden Charakters nicht an arbeitszeitliche Regelungen gebunden sein. Voraussetzung ist, dass die Merkmale für die einschlägigen Veranstaltungen nach §§ 64 ff. GewO erfüllt sind29. Dementsprechend fallen sog. Hausmessen und Hausausstellungen nicht unter diese Ausnahmevorschrift30.
6. Zur gesetzlichen Zulässigkeit von Sonn- und Feiertagsschulungen aufgrund einer Zusammenschau des § 10 I ArbZG Die bisherige Analyse der einzelnen Katalogbestimmungen des § 10 I ArbZG hat ergeben, dass Sonntagsschulungen jedenfalls nicht pauschal verboten sind. Vielmehr ist nach jeweils unterschiedlich strukturierten Schulungsaktivitäten zu differenzieren, die an Sonn- und Feiertagen unter bestimmten Voraussetzungen zulässig sind. Diese Rechtsfolge ergibt sich auch, wenn man die einzelnen Ausnahmetatbestände nicht isoliert und nur am jeweiligen Wortlaut misst, sondern in einem systematischen Gesamtzusammenhang betrachtet. Denn eine Gesamtschau der hier einschlägigen Ausnahmeklauseln bildet die Summe kombinierbarer gestatteter Schulungsmöglichkeiten. Deshalb bestätigt eine Zusammenfassung der einzelnen Ausnahmen das gewonnene Auslegungsergebnis, das auch im Einklang mit dem besonderen Gesetzeszweck des § 10 ArbZG steht. Er ist zwar weder in § 1 noch in §§ 9 f. ArbZG klar formuliert. Hinter den einzelnen Ausnahmeziffern steht jedoch der Gedanke, dass an Sonn- und Feiertagen bestimmte Veranstaltungen, zu denen auch Schulungen zählen, kraft Gesetzes zulässig sein sollen31.
7. Zur analogen Anwendung des § 10 I ArbZG unter veränderten Bedürfnissen Allerdings zeigt § 10 ArbZG deutliche Grenzen im Hinblick auf Schulungsaktivitäten auf, weil jeweils bestimmte Vorbedingungen erfüllt sein müssen, um ein Bedürfnis zu bejahen. Der Ausnahmekatalog ist trotz der Erwähnung ähnlicher Veranstaltungen und Vereinigungen abschließend normiert32 und gestattet deshalb nicht sämtliche Schulungsalternativen. Zwar hat die Novelle des Arbeitszeitrechts (1994) die alten in § 105b GewO a.F. enthaltenen Tatbestände an die technische Baeck / Deutsch, ArbZG, 1999, § 10, Rn. 70 ff. S. dazu näher Stober, Besonderes Wirtschaftsverwaltungsrecht, 12. Aufl. 2001, S. 72 ff. 30 Zmarzlik / Anzinger, ArbZG, § 10, Rn. 73 f. 31 Zur Legitimität und Notwendigkeit einer Gesamtschau Zmarzlik / Anzinger, ArbZG, § 10, Rn. 26. 32 Schliemann, in: Stahlhacke / Leinemann, GewO – Arbeitsrechtlicher Teil, § 10 ArbZG, Rn. 11. 28 29
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und soziale Entwicklung angepasst33. Doch die Neuregelung trägt dem gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Wandel nicht in vollem Umfang Rechnung. Selbst das neue Arbeitszeitrecht wurde inzwischen in einem Punkt geändert, um auch an solchen Feiertagen Finanz- und Wertpapierhandel zu ermöglichen, die nicht in allen Mitgliedstaaten der EU Feiertage sind (§ 10 IV ArbZG)34. Damit hat der Arbeitsgesetzgeber bei der Ausgestaltung des § 10 ArbZG erstmals grenzüberschreitende gemeinschaftsrechtliche Belange berücksichtigt. Diese Hinweise belegen, dass das Bedürfnis nach Sonn- und Feiertagsbeschäftigung von Arbeitnehmern einem raschen Wandel unterliegt, der nicht nur technologisch und sozial bedingt ist. Vielmehr ist es eine Folge der Dienstleistungs-, Verbraucher-, Freizeit- und Informationsgesellschaft sowie des EU-Binnenmarktes, dass auch das Wirtschafts- und Arbeitsleben neu strukturiert und die Weiterbildung der Arbeitnehmer auch zeitlich in einem neuen Licht gesehen werden muss. Vor diesem Hintergrund entspricht die aktuelle Fassung des Ausnahmekataloges nicht mehr den gegenwärtigen und künftigen Bedürfnissen und Anforderungen nach einer gesetzlichen Zulässigkeit von Sonntagsaktivitäten. Das Arbeitszeitrecht hinkt hinter der Wirtschaftsrealität hinterher und steht nicht im Einklang mit dem Rhythmus der Wirtschaft35, der vom Gesetzgeber keineswegs verkannt wird, wie die auf Druck des Gemeinschaftsrechts erfolgte Aufnahme des § 10 IV ArbZG zeigt36. In derartigen Situationen bietet es sich methodisch an, die Voraussetzungen der Rechtsfigur einer Gesetzesanalogie zu prüfen. Ihr Vorliegen verlangt jedoch die Erfüllung zweier Bedingungen. Erstens muss eine planwidrige Lücke vorliegen und zweitens muss es sich um eine ähnliche Fallkonstellation handeln37. Hier fehlt es schon an einer unbewussten Unvollständigkeit, weil der Gesetzgeber, wie dargelegt, vor kurzem den Ausnahmekatalog des § 10 ArbZG geändert hat. Deshalb ist von einer bewussten Nichtregelung auszugehen. Angesichts der Formulierung der einzelnen Ausnahmeklauseln und ihres abschließenden Charakters ist auch eine Ähnlichkeit des Sachverhalts zu verneinen. Folglich ist es Aufgabe des Gesetzgebers, den Ausnahmekatalog des § 10 ArbZG zu erweitern und Schulungen an Sonn- und Feiertagen großzügiger zuzulassen.
S. auch Wank, in: Tettinger / Wank, GewO, § 105a, Rn. 38. Neumann, in: Landmann / Rohmer, § 10 ArbZG, Rn. 42. 35 Grundlegend zum Einklang zwischen staatlichem Handeln und dem Rhythmus der Wirtschaft Stober, Rückzug des Staates im Wirtschaftsverwaltungsrecht, 1997, passim. 36 § 10 IV ArbZG wurde eingefügt durch Art. 14a EuroEinführungsG v. 9. 6. 1998, BGBl. I S. 1242; vgl. dazu Anzinger, Ergänzung des Arbeitszeitgesetzes durch das Euro-Einführungsgesetz, NZA 1998, 845 f. 37 S. näher Wolff / Bachof / Stober, Verwaltungsrecht 1, 11. Aufl., § 28 V 5. 33 34
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V. Zur Zulässigkeit von Sonn- und Feiertagsschulungen kraft Rechtsverordnung nach § 13 ArbZG Solange und soweit der Gesetzgeber nicht selbst aktiv wird, ist nach anderen arbeitszeitrechtlichen Möglichkeiten zu suchen, die eine Sonn- und Feiertagsschulung gestatten. Insoweit muss man sich vergegenwärtigen, dass das ArbZG neben § 10 ArbZG noch andere Formen kennt, nach denen eine Sonn- und Feiertagsbeschäftigung zulässig ist. Sie sind Ausdruck der in § 1 ArbZG zum Ausdruck kommenden Rahmenbedingungen für flexible Arbeitszeiten und einer weiteren Bedürfnisorientierung des Arbeitszeitrechts. Hier ist zunächst an die doppelte gesetzliche Ermächtigung der Bundesregierung zum Erlass von Rechtsverordnungen nach § 13 I ArbZG zu denken. Sie bezweckt, erhebliche Schäden zu vermeiden und ermächtigt deshalb zunächst, die Bereiche der Sonn- und Feiertagsbeschäftigung nach § 10 ArbZG zu konkretisieren. Die nähere Bestimmung dient der Rechtssicherheit für die betroffenen Unternehmen und der einheitlichen Rechtsanwendung. Aus diesem Blickwinkel kann die Bundesregierung Schulungsveranstaltungen gestatten. Sie ist über die Ausnahmen von § 10 ArbZG hinaus befugt, weitere Ausnahmen zuzulassen aus Gründen des Gemeinwohls, insbesondere zur Sicherung der Beschäftigung (§ 10 I Nr. 2 c ArbZG). Die Bundesregierung hat jedoch von ihrer Ermächtigung ausweislich des Fundstellenverzeichnisses Bundesrecht A mit Stand v. 31. 12. 2000 keinen Gebrauch gemacht, weshalb weitere Ausnahmen nicht auf eine Bundesverordnung gestützt werden können. In diesem Falle sind die Landesregierungen aufgrund von § 13 II ArbZG ermächtigt, durch Rechtsverordnung entsprechende Bestimmungen zu erlassen. Sie haben, soweit ersichtlich, bisher nur teilweise entsprechende Rechtsquellen verabschiedet, ohne dabei aber die Frage einer Schulungstätigkeit im Bereich des Friseurhandwerks aufzugreifen.
VI. Zur Zulässigkeit von Sonn- und Feiertagsschulungen aufgrund von Bewilligungen nach § 13 V ArbZG Deshalb ist unabhängig von allgemeinen gesetzlichen Normierungen eine Beschäftigung an Sonn- und Feiertagen nur gestattet, wenn die Aufsichtsbehörde sie nach § 13 III bis V bewilligt. Da die in § 13 III Nr. 2 und VI genannten Sonderfälle hier nicht in Betracht kommen, ist zu untersuchen, ob die Tatbestandsvoraussetzungen des § 13 V ArbZG einschlägig sind. Danach hat die Aufsichtsbehörde abweichend von § 9 ArbZG die Beschäftigung von Arbeitnehmern an Sonn- und Feiertagen zu bewilligen, wenn bei einer weitgehenden Ausnutzung der gesetzlich zulässigen wöchentlichen Betriebszeiten und bei längeren Betriebszeiten im Ausland die Konkurrenzfähigkeit unzumutbar beeinträchtigt ist und durch die Genehmigung von Sonn- und Feiertagsarbeit die Beschäftigung gesichert werden kann. Mit dieser Ausnahmeregelung hat der Gesetzgeber darauf reagiert, dass in allen ande-
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ren EG-Ländern entweder überhaupt keine Sonntagsarbeitsverbote bestehen oder erheblich großzügigere Ausnahmeregelungen gelten38. Die von verschiedenen Seiten geäußerten Bedenken, § 13 V ArbZG könne zu einem „Dammbruch“ im Bereich des Sonn- und Feiertagsschutzes führen, sind in der Vergangenheit allein schon durch statistische Zahlen widerlegt worden39. Die Hauptbesonderheit dieses Passus liegt darin, dass der Aufsichtsbehörde kein Ermessen bei dem Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen zusteht. Der Gesetzestext sieht vielmehr eine gebundene Entscheidung vor, wie sich aus den Worten „hat . . . zu bewilligen“ entnehmen lässt40. Das bedeutet, dass nach dem Gesetzeszweck dieser Vorschrift der Unternehmerschutz absoluten Vorrang vor dem Arbeitnehmerschutz an Sonn- und Feiertagen genießt, weil der Beschäftigungssicherung größeres Gewicht beigemessen wird. Gleichzeitig widerspräche es der Zielsetzung der Norm, wenn bei einer Ablehnung Arbeitsplätze ins Ausland verlagert werden müssten41. Hinsichtlich der Tatbestandsmerkmale ist davon auszugehen, dass bei der Veranstaltung von Schulungen die gesetzlich zulässigen wöchentlichen Betriebszeiten ausgenutzt werden, weil sie auch an Wochentagen und abends stattfinden. Jedenfalls sind auch die tatsächlichen Schulungskapazitäten an Werktagen ausgeschöpft, wenn man die Schwierigkeiten berücksichtigt, im Verlauf der Woche an Modelle zu kommen. Es ist ferner bekannt, dass das Arbeitszeitrecht in Deutschland besonders restriktiv ist, während im Ausland längere Betriebszeiten und auch Sonntagsbeschäftigung üblich sind42. Diesen Unterschied will § 13 V ArbZG auffangen, der im Interesse der Sicherung des Wirtschaftsstandortes Deutschland geschaffen wurde43. Aus diesen Gründen ist die Konkurrenzfähigkeit deutscher Schulungsunternehmen gegenüber ausländischen Wettbewerbern beeinträchtigt, die sonntags schulen können. Die Beeinträchtigung ist auch unzumutbar, soweit Sonn- und Feiertagsveranstaltungen Bestandteil des Unternehmenskonzepts der betreffenden Firmen sind. Würden Sonntagsschulungen verboten, dann bestünde die Gefahr, dass die Schulungsunternehmen die deutschen Studios schließen und vom benachbarten Ausland aus operieren. Die Verlagerung in grenznahe Studios ist schon deshalb kein Problem, weil etwa global tätige Unternehmen in sämtlichen EU-Staaten sowie in anderen mitteleuropäischen Ländern über ausgebaute Geschäftsverbindungen und VerErasmy (Fn. 16), S. 97, 98; Zmarzlik / Anzinger, ArbZG, § 13, Rn. 101 f. Diller (Fn. 1) S. 2726, 2728 und zur Regelung der Sonntagsarbeit in Westeuropa Zmarzlik (Fn. 14), S. 257 f.; Erasmy (Fn. 16), S. 97. 40 S. auch BT-Ds. 12 / 5888, S. 31; Neumann, in: Landmann / Rohmer, ArbZG, § 1, Rn. 6; Kollmer (Fn. 1), S. 406 f. 41 Zmarzlik / Anzinger, ArbZG, § 13, Rn. 101 f. 42 Vgl. hierzu die ausführliche rechtsvergleichende Darstellung von Loritz, Möglichkeit und Grenzen der Sonntagsarbeit, S. 151 ff., 169. 43 BT-Ds. 12 / 5888, S. 9, 31; Zmarzlik / Anzinger, § 13 ArbZG, Rn. 101 f. 38 39
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triebswege verfügen. Da im Ausland seit langem Schulungen stattfinden, könnten die deutschen Schulungen weitgehend auf ausländische Tochtergesellschaften übertragen werden. Dadurch würden die in die Sonntagsschulung eingebundenen Beschäftigten ihren Arbeitsplatz in Deutschland verlieren und auch das Gaststätten- und Hotelgewerbe wäre nachteilig betroffen, weil die Übernachtungen an den Studiostandorten entfielen. Die Bewilligungsbehörde besitzt nicht nur eine Schutzpflicht gegenüber den Unternehmen, sondern auch gegenüber den Beschäftigten, deren Arbeitsplatz gesichert werden soll. Dabei ist die Einschätzungsprärogative der Aufsichtsbehörde um so geringer, je höher die Arbeitslosigkeit und der Konkurrenzdruck ist. Dementsprechend wirkt eine Bewilligung beschäftigungssichernd, weshalb sie zu erteilen ist44.
VII. Fazit: Erheblicher Modernisierungsbedarf Das Beispiel Schulung an Sonn- und Feiertagen hat gezeigt, dass das deutsche Arbeitszeitrecht unbeschadet von Novellierungen den Bedürfnissen der Arbeitnehmer, Unternehmen und Konsumenten nur ansatzweise Rechnung trägt. Deshalb ist vor allem die Betätigung an Sonn- und Feiertagen auf den gesetzlichen Prüfstand zu stellen. Im Interesse einer dynamischen Handhabung wird empfohlen, dem Verordnungsgeber sachgerechte Ermächtigungen zur Bewältigung unterschiedlicher Fallkonstellationen an die Hand zu geben. Der Beitrag hat ferner gezeigt, dass sich die Rechtswissenschaft intensiv an dieser Diskussion beteiligt. Es ist der Verdienst von Peter Selmer, dass er sich dieser Herausforderung stets gestellt und mit vielen Abhandlungen und Gutachten wichtige Impulse zur Fortentwicklung des Wirtschaftsrechts geliefert hat.
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S. auch Neumann, in: Landmann / Rohmer, § 13 ArbZG, Rn. 20.
Die Universität als Kaufmann Von Werner Thieme
I. Das Problem der Wirtschaftlichkeit Die Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit sind die wichtigsten Grundsätze der öffentlichen Haushaltswirtschaft in Planung und Vollzug.1 Sie gelten – selbstverständlich – auch für die Universitäten. Soweit es sich um die Sparsamkeit handelt, macht der Grundsatz der Wirtschaftlichkeit keine besonderen Schwierigkeiten. Auf der Ausgabenseite der Hochschulen wird mit der Forderung nach Sparsamkeit ein Vergleich der jeweils in Frage kommenden Handlungsalternativen verlangt und die Auswahl der kostengünstigsten Alternative für die Realisierung eines jeden Projekts verlangt, vorausgesetzt es ist auch die wirksamste und die Ziele am besten verwirklichende Alternative. Vor allem macht die rechnerische Darstellung des Prinzips der Sparsamkeit keine besonderen Schwierigkeiten. Die Kosten schlagen sich überwiegend im Verbrauch von Geld nieder. Die verbrauchten Geldsummen lassen sich mit realen oder geforderten Alternativen vergleichen, sodass die Aussage möglich ist, eine Alternative sei sparsamer als die andere. Damit ist aber das Problem der Wirtschaftlichkeit noch nicht berührt. Denn Aussagen über die Wirtschaftlichkeit fordern einen Vergleich von Kosten und Erträgen.2 Die Kosten der öffentlichen Hand lassen sich ebenso gut oder ebenso schlecht berechnen wie die privater Unternehmen.3 Die Schwierigkeiten liegen bei den Erträgen. Denn die öffentliche Hand verkauft ihre Produkte grundsätzlich nicht. Für die Staatsforsten kann man rechnen wie bei Privatforsten, obwohl auch bei jenen zusätzlich noch Gemeinwohlverpflichtungen zu Verzerrungen führen. Aber bei der Hoheitsverwaltung lassen sich Erträge kaum feststellen. Was sind die Erträge der polizeilichen Arbeit? Was sind die Erträge der Bundeswehrverwaltung oder Bauverwaltung? 1 HGrG § 6 Abs. 1; BHO § 7 Abs. 1; Grupp, Die „Grundsätze der Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit“ im Haushaltsrecht, JZ 1982, S. 231; ders., Steuerung des Verwaltungshandelns durch Wirtschaftlichkeitskontrolle?, DÖV 1983, S. 661 ff.; Wahl, Verwaltungsverfahren zwischen Effizienz und Rechtsschutzauftrag, VVDStRL 41 (1983), 151 ff., 157; v. Arnim, Wirtschaftlichkeit als Rechtsprinzip, 1988. 2 Reichard, Betriebswirtschaftslehre der öffentlichen Verwaltung, 2. Aufl. 1987, S. 305 ff. 3 Thieme, Verwaltungslehre, 4. Aufl. 1986, S. 280 m. w. N.
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Ebenso schwierig ist es, die Erträge der Leistungsverwaltung festzustellen. Was sind die Erträge der Sozialhilfeverwaltung, der Schulen oder der Hochschulen in Geld ausgedrückt wert? Auch die Evaluierung, die § 6 HRG vorschreibt, kann nur abstrakte Vergleiche anstellen, aber keine monetären Bewertungen produzieren. Wenn man den Geldwert dieser Erträge nicht feststellen kann, kann man allerdings auch die Wirtschaftlichkeit nicht feststellen, allenfalls die Sparsamkeit. Sparsamkeit ist aber noch kein wirtschaftlicher Erfolg. Denn man kann die Sparsamkeit so weit treiben, dass nicht genügend Mittel zur Verfügung stehen, um überhaupt Erträge zu erzielen. Das Problem liegt darin, dass die Universitäten ihre Leistungen nicht verkaufen dürfen. Die Hauptaufgabe der Universitäten ist die Lehre und hier wieder das zum ersten berufsqualifizierenden Abschluss führende Studium. Die Universitäten erbringen hierzu Leistungen, die einen wirtschaftlichen Wert haben, wie die Bereitschaft der Studenten an den Privathochschulen zeigt, eine Studiengebühr zu zahlen. Aber die öffentlichen Universitäten haben keine Erträge, weil sie für ihre zentralen Leistungen in der Lehre, die auch die meisten Kosten hervorrufen, keine Gebühren erheben dürfen.4 Nur für Langzeitstudenten, für Senioren-Studenten und für Studenten der postgradualen Studiengänge werden Gebühren erhoben, nur für sie können damit Erträge entstehen. Entsprechendes gilt für die Forschung. Die Forschungsleistungen können zu Patenten führen. Die Lizenzen aus diesen Patenten stehen nach dem neuen § 42 des Arbeitnehmererfindungsgesetzes den Universitäten zu 70 v.H. zu, wenn es sich um „Dienstpatente“ handelt.5 Aber außerhalb dieses engen Sektors, das der Staat durch Schutzrechte umhegt hat, sind die Forschungsergebnisse der Universität frei und nicht verkäuflich. Sie haben weithin auch nur einen immateriellen, aber keinen in einer Geldsumme auszudrückenden Wert. Der Wert kann sehr groß sein, weil er den Menschen, hilft ihre Situation in dieser Welt und in unserer Zeit zu verstehen. Aber dafür zahlt niemand etwas. Das ist ja überhaupt die Besonderheit der öffentlichen Güter, warum sie öffentliche Güter sind und bleiben: Sie sind wichtig, weitgehend sogar lebensnotwendig. Aber sie haben keinen Markt und für sie kann auch kein Markt gebildet werden. Deshalb werden sie als Gemeinschaftsangelegenheit von der öffentlichen Hand betrieben. Sie haben daher auch keinen in Geld zu berechnenden Preis. Die Leistungen der Polizei und der Bundeswehr kosten den einzelnen Bürgern nichts. Sogar die Löschleistungen der Feuerwehr sind kostenfrei, ebenso wie die Leistungen der Schule. Es wäre gemeinwohlschädlich, wollte man für derartige Leistungen Entgelte verlangen. Daher gibt es keine Entgelte und Erträge. Dies Problem haben die Wirtschaftswissenschaften selbstverständlich erkannt und haben Methoden entwickelt, wie sie aus Leistungen, für die es keine Marktpreise gibt, monetär bewertete ableiten können. Diese Methoden sind aber nur an4 5
HRG § 27 Abs. 4. G. v. 18. Januar 2002, BGBl. I S. 414.
Die Universität als Kaufmann
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wendbar, wenn es gelingt „Schattenpreise“ zu bilden.6 Dabei könnte man sich daran orientieren, was der Abnehmer der Leistung zu zahlen bereit wäre. Da heute schon eine nicht ganz erhebliche Zahl von Privathochschulen besteht, die von ihren Studenten Gebühren erheben, könnte man daran denken, diese Gebühren zur Grundlage einer Bewertung des Studiums zu machen. Das Problem liegt für die Universität darin, dass die Privathochschulen, nur wenige wirtschaftsnahe Studiengänge anbieten, die mit den vielen wirtschaftsfernen Studiengängen der Universitäten nur schwer vergleichbar sind. Wenig sinnvoll ist es, von den Kosten des Studiums als Wert der Ausbildung auszugehen. Man kann zwar die Kosten, die ein Student verursacht, einigermaßen sachgerecht feststellen. Aber die Kosten des Produkts sind nicht der Wert des Produkts. Sicherlich kann man bei Produkten, die am Markt verkauft werden, sagen, sie seien in der Regel mindestens so viel wert, wie die aufgewendeten Kosten. Denn sonst würde der Kaufmann die Produktion einstellen. Diese Aussage ist aber für die Produkte der Universität nicht möglich. Die Produktion öffentlicher Güter und vor allem die Leistungen der Universität sind ist eine Zwangsproduktion, weil ein Zwangsbedarf vorliegt. Der Staat kann nicht aufhören, eine Feuerwehr, eine Polizei oder Schulen zu unterhalten, wenn er feststellt, dass diese Institutionen nicht wirtschaftlich arbeiten. Und er kann den Universitätsbetrieb nicht einstellen, wenn die Universität nicht wirtschaftlich arbeitet. Er kann zwar einzelne Studiengänge, die nur von wenigen Studenten gewählt werden, einstellen. Aber buchungstechnisch lässt sich eine solche Maßnahme in der kaufmännischen Buchführung nicht verarbeiten, weil Aussagen über die erzielten und nicht erzielten Erträge nicht möglich sind. Die Umsetzung von Studenten in A-Beträge ist noch nicht gelungen.
II. Die kaufmännische Buchführung der Universität Das Dilemma der Feststellung der Wirtschaftlichkeit der Arbeit der Universitäten ist bekannt. Es ist oft genug dargestellt worden, sodass es sich erübrigt, die Probleme im einzelnen noch einmal vorzuführen.7 Umso überraschender ist es, dass ein wesentlicher Teil der heutigen „Reform“-Gedanken im Hochschulbereich sich auf Fragen der Wirtschaftlichkeit konzentriert.
Reichard (Fn. 2), S. 359. Hettlage, Die „Erfolgskontrolle“ von Forschungsaufwendungen, FS Gerhard Wacke, 1972, S. 117 ff.; Oppermann, Zur Finanzkontrolle der Stiftung Volkswagenwerk, 1972; J. Schmidt, Wirtschaftlichkeit in der öffentlichen Verwaltung, 2. Aufl. 1977; Flämig, Effizienzkontrolle der Hochschulforschung, Denkschr. Uni Marburg, 1977, S. 311 ff.; Kewenig, DUZ 1978, 362 f.; Rollmann, Die Universität als Wirtschaftsunternehmen, 1987; v. Arnim, Wirtschaftlichkeit als Rechtsprinzip, 1988; Schulze-Fielitz, Kontrolle der Verwaltung durch Rechnungshöfe, VVDStRL 55 (1996), S. 231 ff., 254 ff.; Gröpl, Ökonomisierung von Verwaltung und Verwaltungsrecht, VerwArch, 2002, 459 ff., insb. S. 473 ff. 6 7
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In dem folgenden Beitrag soll dabei einem Spezialproblem nachgegangen werden, der Darstellung der Wirtschaftlichkeit in einem kaufmännischen Rechnungswesen. Als Beispiel soll die Universität Bremen genommen werden. Für sie ist auf Grund des § 9a des Haushaltsgesetzes der Freien Hansestadt Bremen für das Jahr 20038 eine Verordnung über des Haushalts- und Rechnungswesen ergangen.9 § 1 dieser Verordnung lautet: „Für die Universität Bremen wird die kaufmännische Buchführung zugelassen.“
Ob die Universität von dieser Ermächtigung Gebrauch machen wird, steht dahin. Aber es ist anzunehmen, dass der Verordnungsgeber hier nicht Theorie betrieben hat, sondern dass dahinter die ernste Absicht steht, diese Vorschrift zu benutzen. Die Verordnung schreibt vor, dass die Universität, wenn sie die kaufmännische Buchführung einführt, einen Wirtschaftsplan aufzustellen hat, der Grundlage der Wirtschaftsführung ist (§ 3). Er tritt an die Stelle des Haushaltsplans, der bisher Grundlage der Wirtschaftsführung war. Mit dem Wirtschaftsplan ist eine erhebliche Erweiterung der Autonomie der Universität verbunden. Ob dies allerdings zu Einsparungen in der Verwaltung und zu Verfahrensvereinfachungen führt, ist zweifelhaft. Denn die Universität lebt auch mit der kaufmännischen Buchführung in erster Linie von den staatlichen Zuschüssen, die künftig zwar pauschal gegeben werden, aber begründet werden müssen (§ 4 Abs. 2), insbesondere wenn sie von den Vorjahreszahlen erheblich abweichen und daher auch Auseinandersetzungen nicht werden aussparen können, die sich auf Einzelheiten beziehen. Wahrscheinlich werden die Universitäten ihre gewonnene Freiheit auch damit bezahlen, dass der Staat mit seinen Globalzuschüssen einen Teil der Verantwortung und damit auch der Lasten an die Universität abgibt. Der Wirtschaftsplan besteht aus drei Einzelplänen, einem Erfolgsplan, einem Vermögensplan und einer Stellenübersicht. Letztere ist gegenüber dem Stellenplan, der dem Haushaltsplan der öffentlichen Haushalte beigefügt wird, keine wesentliche Neuerung.10 Die Neuerung liegt in dem Erfolgsplan und dem Vermögensplan. Sicherlich schließen auch sie sich an das bisherige kameralistische Haushaltsrecht an. Der Erfolgsplan (§ 4) soll alle voraussehbaren Erträge und Aufwendungen enthalten. Der Vermögensplan (§ 5) soll alle voraussehbaren Einnahmen und Ausgaben enthalten, die sich auf das Anlagevermögen beziehen, sowie die notwendigen Verpflichtungsermächtigungen.11 Entscheidende Neuerung ist, dass die Universität ihre Rechnung nach den Regeln der kaufmännischen Buchführung führt (§ 8). Dabei finden die Vorschriften Vom 17. Dezember 2002, GBl. S. 623. Vom 20. Dezember 2002, GBl. 2003 S. 11 – Soweit im folgenden §§ ohne nähere Angaben zitiert werden, beziehen diese sich auf die bremische VO. v. 20. Dezember 2002. 10 HGrG § 11 Abs. 1 Nr. 3. 11 Auch die Vermögensbuchführung des kaufmännischen Buchführungssystems ist gegenüber der kameralistischen Buchführung grundsätzlich nichts Neues (vgl. HGrG § 35). 8 9
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des Dritten Buches des Handelsgesetzbuches über Buchführung und Inventar sinngemäß Anwendung (§ 8 Abs. 3 Satz 1). Offen bleibt die Frage, inwieweit das bisherige Haushaltsrecht neben der kameralistischen Buchführung bestehen bleibt. Denn § 33 a HGrG, der das Haushaltswesen der Länder als Rahmenvorschrift regelt, sagt, dass die Buchführung der Länderhaushalte zusätzlich nach den Regeln ordnungsgemäßer Buchführung und Bilanzierung in sinngemäßer Anwendung der Vorschriften des HGB erfolgen kann. Dann aber ist die kaufmännische Buchführung nur als zusätzliches Instrument neben der kameralistischen Buchführung zulässig. Es besteht aber auch die Möglichkeit, die Universität als Landesbetrieb oder Sondervermögen aus dem Landeshaushalt auszugliedern. Dann sind nur die Zuführungen und Ablieferungen im Landeshaushalt einzustellen.12 Wahrscheinlich ist letzteres mit der bremischen VO vom 20. 12. 2002 gewollt.
III. Vorteile der kaufmännischen Buchführung? Es stellt sich die Frage, welche Vorteile die kaufmännische Buchführung der Universität bringt. Eines ist sicher: Die kaufmännische Buchführung erfasst wesentlich mehr wirtschaftlich relevante Vorgänge als die kameralistische Buchführung, weil diese nur geldwirksame Vorgänge darstellt, nicht dagegen Erträge und Aufwendungen, die sich nicht in Geldbewegungen niederschlagen wie z. B. Wertsteigerungen von Sachen und Immaterialgütern und Wertverluste durch Abschreibungen. Doch stellt sich die Frage, was diese zusätzlichen Informationen bedeuten. Die kaufmännische Buchführung hat das Ziel, eine Gewinn- und Verlustrechnung aufzustellen, aus der der Kaufmann am Ende der Rechnungsperiode (Rechnungsjahr) erkennen kann, ob er Gewinne oder Verluste gemacht hat. Dies ist vor allem für Gesellschaften wichtig, weil sich hieraus ergibt, ob Gewinnanteile ausgeschüttet werden können. Ferner ist es für den immer präsenten „stillen Teilhaber“, das Finanzamt, wichtig, weil sich aus der Gewinn- und Verlustrechnung ergibt, wie viel Einkommen- oder Körperschaftsteuern das Unternehmen an den Staat abzuführen hat.13 Entsprechendes gilt für die Bilanz. Sie stellt das Eigen- und das Fremdkapitals dar, das in dem Unternehmen arbeitet. Vor allem ist der Vergleich des Eigenkapitals am Anfang und am Ende der Rechnungsperiode identisch mit dem Gewinn oder Verlust des Unternehmens während des Rechnungsjahres. Während diese Informationen für den Kaufmann wichtig sind, stellt sich die Frage, welche Bedeutung sie für die Universität haben. Die Universität hat keine Ge12 13
HGrG § 18 Abs. 2. KStG § 8 i.V.m. EStG § 4.
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sellschafter, die auf ihre Dividende warten. Das Finanzamt verlangt keine Körperschaftsteuer.14 Und ein Insolvenzverfahren kommt in Falle der Überschuldung auch nicht in Betracht.15 Die kaufmännische Buchführung kann aber vielleicht das erfolgreiche Wirtschaften der Universität darstellen und dazu führen, dass die Universität dazu angehalten wird, im nächsten Jahr sparsamer und wirtschaftlicher mit ihren Mitteln umzugehen. Ob es hierzu allerdings der kaufmännischen Buchführung bedarf, ist zweifelhaft. Denn die Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit kann auch aus der kameralistischen Buchführung die es als sog. erweiterte Kameralistik gibt, entnommen werden und wird seit je her durch den Rechnungshof geprüft. Der mögliche Vorteil der kaufmännischen Buchführung liegt darin, dass nicht nur die monetären Bewegungen, sondern auch die Veränderungen der übrigen Vermögensgegenstände, z. B. an Grundstücken und Gebäuden, an Maschinen und Wertpapieren, an Einrichtungsgegenständen, Materialien und Vorräten erfasst werden kann. Doch bleibt immer noch die Frage, welche Einsichten diese Erkenntnisse für künftiges Handeln der Universität bringen, wenn sie nur zusammengefasst als ein Posten in der Gewinn- und Verlustrechnung oder der Bilanz dargestellt werden. Die Vorteile der kaufmännischen Buchführung für die Universität sind nicht erkennbar. Die Erfassung der Veränderungen bei den Sachgütern und immateriellen Werten kostet viel Arbeit, d. h. aber auch Geld, ohne dass damit irgendwelche Ersparnisse oder künftige Wert- und Leistungssteigerungen indiziert sind. Denn auch in den Unternehmen mit kaufmännischer Buchführung wird eine Verbesserung der Wirtschaftlichkeit immer nur punktuell erreicht, indem man bestimmte Bereiche prüft und für sie Maßnahmen trifft. Es ist nicht anders als in den wirtschaftenden Einheiten, die kameralistisch geführt werden.
IV. Die kaufmännische Buchführung als Liste von Fiktionen Bei der Beurteilung der Nützlichkeit der kaufmännischen Buchführung wird leicht eines vergessen. Die kaufmännische Buchführung zählt unvermeidlich Äpfel und Birnen zusammen. Ein Wirtschaftsgut hat nicht einen bestimmten Geldwert. Es erhält ihn dadurch, dass am Markt für dieses Wirtschaftsgut ein bestimmter Preis gezahlt wird. Preise sind nicht stabil. Sie steigen und fallen. Den Wirtschaftsgütern wird ein bestimmter Geldwert zugeordnet, obwohl es völlig unsicher ist, ob ein entsprechender Preis jemals erzielt wird. Wenn man in der Bilanz Grundstücke, Maschinen, Patente, Wertpapiere und Forderungen addiert und in einer zusammengefassten Geldsumme ausweist, so hat man eben Äpfel und Birnen addiert. WähKStG § 1 Abs. 1 Nr. 6 i.V.m. § 4. Insolvenzordnung § 12 Abs. 1 – Gundlach, Die Insolvenzfähigkeit juristischer Personen und Vermögen des öffentlichen Rechts, DÖV 1999, S. 815 ff. 14 15
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rend aber die Äpfel und Birnen noch einen Marktpreis haben, haben Institutsgebäude, schon lange eine Universitätsaula keinen Marktpreis. Jede Bewertung von derartigen Gebäuden arbeitet notwendig mit Fiktionen. Ob der in die Bilanz eingesetzte Wert im Ernstfalle realisiert werden kann, ist völlig offen. Nun kann man zwar von Fiktionen bei der Bewertung von Gebäuden ausgehen. Man kann, wie der Kaufmann das tut, jährlich Abschreibungen machen und damit zu einem Wertvergleich kommen, vor allem die Höhe der notwendigen Rückstellungen für die Erneuerung ermitteln. Doch was hat das mit dem Wert und dem Erfolg der universitären Arbeit zu tun? Es wird hier eine Verengung der Sicht auf ökonomische Fragen erkennbar, die mit einem hohen Aufwand ermittelt werden, aber im Grunde ziellos sind. Es ist typisch für diese Haltung, wenn von der Universität ein jährlicher „Lagebericht“ gefordert wird (§ 13), der viel Bürokratie (und Kosten) hervorruft, weil er über die wirkliche Lage der Universität nichts sagt, wenn er „die organisatorische, wirtschaftliche und personelle Lage“ darstellen soll. In der zitierten Vorschrift (§ 13 Satz 3) heißt es: „Hierzu gehören Angaben über Strukturveränderungen, Ausstattungs- und Leistungskennzahlen, wesentliche Veränderungen bei der Verwendung der personellen und sachlichen Mittel, durchgeführte und beabsichtigte Bauvorhaben bzw. Fortschritte im Bau befindlicher Anlagen, die Entwicklung der Ertragssituation. Insgesamt soll sich aus dem Bericht die Entwicklung der Universität in ihrem Aufgabenbereich (Forschung, Lehre, Weiterbildung) ergeben.“
Bei der Lektüre dieser Vorschrift hat man den Eindruck, dass sie Verfasser dieser Vorschrift die Arbeit einer Universität nicht kennen. Die Entwicklung einer Universität ergibt sich nicht aus wirtschaftlichen Daten. Eine Ertragssituation der Universität gibt es nicht, weil die Universität nur sehr geringe Erträge hat und die wenigen Erträge mit der Lage der Universität und ihrer Gesamtleistung oder ihrer zu geringen Leistung überhaupt nichts zu tun haben. Dasselbe gilt für die Bauten und deren Fortschritte. Ebenso haben die Verfasser offensichtlich keine Vorstellung, was Ausstattungs- und Leistungskennzahlen an einer Universität bewirken können. Sicherlich kann man irgendwelche Kennzahlen über die Bücherausstattung oder die Zahl der Arbeitsplätze in Bibliotheken oder Labors erarbeiten. Wie man damit allerdings Leistungskennzahlen in der Forschung erarbeiten will, bleibt gänzlich ungeklärt. Bei der Anforderung, Leistungs- und Ausstattungskennzahlen aufzustellen und anzuwenden, ist nur eines sicher: Es werden zunächst viele Sitzungen stattfinden, um die Bewertungsmerkmale (Kennzahlen) zu erarbeiten. Es wird zwischen den zentralen und den dezentralen Einheiten um diese Zahlen gerungen werden, wobei viel Zeit aufzuwenden ist. Wenn dann ein Konzept erarbeitet ist, müssen jährlich die notwendigen Feststellungen getroffen werden. Das Rektorat muss die nachgeordneten Einheiten in der Universität anhalten, Informationen zur Verfügung zu stellen. Diese Arbeit hält wieder von der eigentlichen wissenschaftlichen Arbeit ab. Die Feststellungen stim-
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men erfahrungsmäßig nur teilweise mit den Realitäten überein. Gleichwohl fließen sie in den Lagebericht ein, dessen Druck und Verteilung wieder Geld kostet. Der Bericht bleibt dann wie fast alle derartigen Berichte ungelesen liegen. Irgendeine Bedeutung für das politische Handeln bekommt er nicht. Hier haben irgendwelche fachlich unerfahrenen Bürokraten sich ausgetobt, ohne zu wissen, was sie tun. Man fragt sich, ob die Universität hierbei beteiligt worden ist, ob sie diesen Vorschriften zugestimmt hat, vor allem auch, wer denn dabei für die Universität gehandelt hat.
V. Die Faktoren des kaufmännischen Rechnungswerks Die Sache wird noch grotesker, wenn man in die Einzelheiten der geforderten Zahlenangaben einsteigt. Denn die Verordnung hat zwei Anlagen, die die Aufgliederung der Gewinn- und Verlustrechnung (Anlage 1) und der Bilanz (Anlage 2) vorschreiben. Dabei wird auf die §§ 275 bzw. 266 HGB verwiesen, die das Vorbild dieser Aufgliederung liefern. In die Gewinn- und Verlustrechnung sind aufzunehmen z. B. „2. die Erhöhung und Verminderung des Bestands an fertigen und unfertigen Erzeugnissen“. Was mag mit den unfertigen Erzeugnissen gemeint sein? Die Studenten des sechsten Semesters? Unter Nr. 7 b wird gefordert gesondert aufzunehmen „Abschreibungen auf Vermögensgegenstände des Umlaufvermögens, soweit diese die in der Kapitalgesellschaft üblichen Abschreibungen überschreiten.“ Welche Vorstellungen mögen die Verfasser der Verordnung von dem Umlaufvermögen der Universität haben? Wahrscheinlich gar keine. Unter Nr. 9 wird gefordert die Erträge aus Beteiligungen aufzuführen, davon gesondert die aus verbundenen Unternehmen. Ist das Land Bremen ein verbundenes Unternehmen? Sind die staatlichen Zuschüsse als derartige Erträge gemeint? Unter Nr. 14 sollen das Ergebnis der gewöhnlichen Geschäftstätigkeit und unter Nr. 15 die außerordentlichen Erträge aufgeführt werden. Was ist bei der Universität der „gewöhnliche“ Ertrag und was sind „außerordentliche“ Erträge? Unter 18. sollen die Steuern vom Einkommen und vom Ertrag aufgeführt werden. Wissen die Verfasser der Verordnung denn nicht, dass die Universität weder Einkommensteuer noch Körperschaftsteuer zahlt? Ähnliche Unsinnigkeiten tauchen bei der Liste der Punkte auf, die in die Bilanz aufgenommen werden sollen. Verlangt wird dort unter A I 2 die Aufnahme des Geschäfts- oder Firmenwerts. Ist ein solcher Wert schon einmal festgestellt worden? Was sind solche Bewertungen wert? Über derartige Unsinnigkeiten kann man nur den Kopf schütteln.
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Die Finanzanlagen sollen aufgeführt werden, z. B. Ausleihungen an Unternehmen, mit denen ein Beteiligungsverhältnis besteht (B I 4) sowie die Anteile an verbundenen Unternehmen (B III 1) und manches andere mehr, was in den Universitäten nicht vorkommt. Auf der Passivseite soll des gezeichnete Kapital ausgewiesen werden (A I). Welches Kapital mag von wem für die Universität Bremen gezeichnet sein? Dann sollen die satzungsmäßigen Rücklagen aufgeführt werden (A III 3). Was ist die Satzung der Universität? Die Grundordnung? Welche Rücklagenbildung fordert sie? Auch hier herrscht Ignoranz und Unüberlegtheit, die die Verordnung über die kaufmännische Buchführung zur Lachnummer machen.
VI. Möglichkeiten der kaufmännischen Buchführung Selbstverständlich kann man derartige Gedankenlosigkeiten als Pannen beiseite schieben. Man kann sich der Grundsatzfrage zuwenden, ob es denn denkbar wäre, für Universitäten eine kaufmännische Buchführung aufzustellen. Die erste Voraussetzung wäre, dass man die Produkte der Universität feststellt und sie bewertet. Als wichtigstes Produkt ist der einzelne Student anzusehen, der sein Studium erfolgreich abgeschlossen hat. Ihm wäre ein Geldwert zuzuordnen. Das Produkt „berufsfähiger Student“ könnte – fiktiv – an den Geldgeber Staat als dem Besteller abgeliefert werden, der dafür einen fiktiven Preis zahlt, der sich in den staatlichen Zuschüssen niederschlägt. Werden viele Studenten ausgebildet, so gibt der Staat viel Geld, werden weniger Studenten ausgebildet, so gibt es wenig Geld. Dabei wäre es eine Frage des Aushandelns zwischen Staat und Universität, wie ein fertiger Student bewertet wird. Für den Staat bedeutet das das Risiko, bei einer großen Zahl von erfolgreichen Studenten mehr Geld zur Verfügung stellen zu müssen als bei einer kleinen Zahl, obwohl die Aufwendungen der Universität dabei nicht größer werden. Aber dies ist das Gesetz des kaufmännischen Rechnens und Handelns. Ein solches System kann im übrigen nur funktionieren, wenn die Universität ihr Lehrsystem selbständig gestalten kann. Sie muss das Recht haben, die Studenten auszuwählen und die muss weiter das Recht haben, die Zahl der Studenten selbst festzulegen. Denn das kaufmännische Rechnungswesen wird erst dann sinnvoll, wenn dahinter ein kaufmännischer Betrieb steht, der die „Rohstoffe“ (Abiturienten) selbständig auswählt und dabei über die Menge und Qualität selbst befindet. Ein solches System hat aber auch seine Tücken. Wenn die Höhe der staatlichen Zahlungen von der Zahl der produzierten berufsfähigen Studenten abhängt, so hat die Universität ein Interesse daran, die Studentenzahl zu erhöhen, um möglichst viel zu produzieren. Damit verschlechtern sich die Studienbedingungen. Es muss daher in das Rechenwerk auch ein Faktor aufgenommen werden, der die Qualität bewertet. Diese lässt sich nicht anhand der Examensnoten feststellen, da schon 36 FS Selmer
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Werner Thieme
heute in vielen Fächern fast nur noch die Noten „sehr gut“ und „gut“ vorkommen, die Note daher nicht aussagefähig ist. Die vom Staat repräsentierte Gesellschaft muss eine Qualitätsprüfung verlangen, was ihr denn eigentlich an Produkten geliefert wird. Damit wird der Einfluss des Staates als monopolistischer Abnehmer der Produkte ganz erheblich vermehrt. Die Universität hat dann, wenn sie ihre Produkte an den Staat „verkauft“, ein Interesse daran, möglichst billige Studiengänge einzurichten und das Geld hierauf zu verwenden. Mit großer Wahrscheinlichkeit werden bei derartigen Wirtschaftlichkeitsbetrachtungen viele kleine und insbesondere teure Ausbildungsfächer (sog. Orchideenfächer) aussterben. Das Gerangel um das Geld, das für die „Produkte“ zu zahlen ist, wird an der Tagesordnung sein. Ein sinnvolle Hochschulpolitik lässt sich dabei kaum treiben. Wenn man dem Studenten, der sein Studium erfolgreich abgeschlossen hat, vielleicht noch einen fiktiven Wert zuordnen kann, so wird dies bei Forschungen gänzlich unmöglich. Zunächst gibt es sehr unterschiedliche Fächer, die höchst verschiedene Forschungen betreiben. Bei wirtschaftsnahen Fächern gibt es vielleicht noch Chancen einer sinnvolle Schatten-Bewertung. Aber in den vielen Fächern, die wirtschaftsfern sind, z. B. in der Geschichte, der Musikwissenschaft, die Astronomie und der Psychologie können die Forschungsprodukte nicht bewertet werden. Erträge lassen sich für die Forschung dieser und anderer Fächer nicht ermitteln. Das gilt vor allem für die Grundlagenforschung, die an der Universität – im Gegensatz zu den Fachhochschulen – eine wichtige Rolle spielt. Niemand kann sagen, was ein Aufsatz über Grundsatzfragen wert ist, ob es sich um eine grundlegende und in die Zukunft weisende Untersuchung für unsere ganze Zivilisation handelt oder um reine Spinnereien. Das Beispiel Immanuel Kants, dessen „Kritik der reinen Vernunft“ immer noch eines der philosophischen Grundlagenwerke ist, ist von seinen Zeitgenossen in seiner Bedeutung nicht erkannt worden. In vielen Fällen kann niemand sagen, ob die Aufwendungen für bestimmte Forschungsarbeiten wirtschaftlich eingesetzt worden sind. Allenfalls lassen sich die Seiten des mit diesen Forschungsergebnissen bedruckten Papiers zählen. Aber Seitenzahlen sagen nichts aus über den Wert einer Forschung. Der Fortschritt der kaufmännischen Buchführung gegenüber der kameralistischen liegt Buchführung liegt darin, dass Kosten, die nicht monetären Charakter haben, mit in der Rechenwerk eingebracht werden. Der wichtigste Posten sind hierbei der Abschreibungen auf Gebäude, die zu Rückstellungen für die Erneuerung der demnächst „verbrauchten“ Gebäuden führen. Sonderbarerweise sind aber die Gebäude der Universität, die Staatseigentum bleiben und kostenlos zur Nutzung überlassen sind, nicht in die Bilanz aufzunehmen (§ 8 Abs. 2). Damit ist es auch nicht möglich, die Abschreibungen in der Gewinn- und Verlustrechnung zu berücksichtigen. Angesichts der Herausnahme der Gebäude aus dem Rechenwerk fragt man sich, was das Rechenwerk eigentlich noch wert ist, wenn man den Erfolg der Universität ohne diesen Faktor bewerten will.
Die Universität als Kaufmann
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Denn die Bilanz gibt praktisch nichts her für irgendwelche Bewertungen. Auf der Aktivseite spielen immaterielle Vermögenswerte (A I) keine Rolle. Bei den Sachanlagen (A II) fallen die Grundstücke aus. Eine Beurteilung der Wertentwicklung von technischen Anlagen und Maschinen sowie der Betriebs- und Geschäftsausstattung durch die Jahre ist schwierig. Sie gibt auch wenig für den Erfolg der Universität her. Muss ein wertvolles wissenschaftliches Gerät auf Null abgeschrieben werden, weil es eine ganz neue Generation von Geräten gibt, die die alten Geräte wertlos machen, so ist das nicht die Folge schlechten Wirtschaften, sondern Folge einer Entwicklung, die jenseits des Handelns der Universitätsmitglieder liegt. Finanzanlagen hat die Universität auch nicht in nennenswertem Umfang (A III). Beim Umlaufvermögen ist ebenfalls überwiegend Fehlanzeige zu machen. Es können allenfalls bei den einzelnen Bilanzposten hier und da ein paar Zahlen eingesetzt werden. Da aber selbst der ganze Zahlungsverkehr nicht von der Universität, sondern von einem staatlichen Eigenbetrieb (Performa Nord) abgewickelt wird (§ 9), können nicht einmal Bargeld und Bankguthaben in die Bilanz eingesetzt werden. Und noch eine letzte Frage stellt sich. Wenn die Gewinn- und Verlustrechnung einen Gewinn ausweist, was geschieht damit? Muss die Universität diesen Gewinn an das „Muttergemeinwesen“ Land Bremen abliefern? Wenn sie ihn nicht abliefern muss, was geschieht damit? Wohl gar nichts. Steuerlich ist ein Gewinn irrelevant. Gesellschaftsrechtlich ist er gegenstandslos. Welchen Sinn hat die Feststellung von Gewinnen und Verlusten in einer kaufmännischen Buchführung der Universität? Es ist zu hoffen, dass den Realisten in der Stadt Bremen die Augen früh genug aufgehen, um festzustellen, dass die Universität kein Kaufmann ist, der Leistungen auf dem Markt verkauft, und dass eine kaufmännische Buchführung für die Universität daher nichts anderes ist als Bürokratievermehrung ohne Ziel und Zweck.
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Der europäische Regulierungsverbund in der Telekommunikation – ein neues Modell europäisierter Verwaltung* Von Hans-Heinrich Trute Innovationen im Telekommunikationsrecht sind wesentlich europarechtlich veranlasst.1 Die Liberalisierung der Märkte und die Schaffung entsprechender Regelungsstrukturen zur Überleitung der ehemaligen Monopolunternehmen in eine wettbewerbliche Ordnung sind in den Grundlagen europäisch geformt. Regelmäßig sind davon wichtige Anstöße etwa zur Ausbildung eines Regulierungsverwaltungsrechts ausgegangen.2 Mit dem so genannten Richtlinienpaket 20023 beschreitet die Europäische Gemeinschaft nach erfolgter Liberalisierung4 wiederum * Die nachfolgenden Ausführungen verdanken wesentliche Ideen der Diskussion mit Herrn PrivDoz Dr. Hans-Christian Röhl; ausführlich demnächst auch Trute / Röhl, Der Europäische Regulierungsverbund in der Telekommunikation, 2004 (i.E.). 1 Dazu Susanne K. Schmidt, Liberalisierung in Europa. Die Rolle der Europäischen Kommission, 1998; zur Entwicklung des europäischen Regulierungsrahmens vgl. auch Trute, in: Trute / Spoerr / Bosch, TKG mit FTEG, Einführung II. 2 Dazu Masing, Grundstrukturen eines Regulierungsverwaltungsrechts: Regulierung netzbezogener Märkte am Beispiel Bahn, Post, Telekommunikation und Strom, Die Verwaltung 2003, S. 1 ff. m. w. N. 3 Richtlinie 2002 / 21 / EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 7. 3. 2002 über einen gemeinsamen Rechtsrahmen für elektronische Kommunikationsnetze und -dienste (Rahmenrichtlinie), ABl. EG Nr. L 108 vom 24. 4. 2002, S. 33; Richtlinie 2002 / 19 / EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 7. 3. 2002 über den Zugang zu elektronischen Kommunikationsnetzen und zugehörigen Einrichtungen sowie deren Zusammenschaltung (Zugangsrichtlinie), ABl. EG Nr. L 108 vom 24. 4. 2002, S. 7; Richtlinie 2002 / 20 / EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 7. 3. 2002 über die Genehmigung elektronischer Kommunikation und -dienste (Genehmigungsrichtlinie), ABl. EG Nr. L 108 vom 24. 4. 2002, S. 21; Richtlinie 2002 / 22 / EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 7. 3. 2002 über den Universaldienst und Nutzungsrechte bei elektronischen Kommunikationsnetzen und -diensten (Universaldienstrichtlinie), ABl. EG Nr. L 108 vom 24. 4. 2002, S. 51; Richtlinie 2002 / 58 / EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. 7. 2002 über die Verarbeitung personenbezogener Daten und den Schutz der Privatsphäre in der elektronischen Kommunikation (Datenschutzrichtlinie für elektronische Kommunikation), ABl. EG Nr. L 201 vom 31. 7. 2002, S. 37. In diesen Kontext gehört auch noch die Richtlinie 2002 / 77 / EG der Kommission vom 16. 9. 2002 über den Wettbewerb auf den Märkten für elektronische Kommunikationsnetze und -dienste (Wettbewerbsrichtlinie), ABl. EG Nr. L 249 vom 17. 9. 2002, S. 21. 4 Zum Stand der Umsetzung des Rechtsrahmens 1998 und zur Marktentwicklung vgl. Achter Bericht der Kommission über die Umsetzung des Reformpakets für den Telekom-
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neue Wege, die nachhaltigen Einfluss auf das Verwaltungsrecht haben werden. Sollte der bisherige Rechtsrahmen in erster Linie die Überführung der Monopole in den Wettbewerb steuern, so ist der neue Rechtsrahmen auf die inzwischen eingetretenen Veränderungen bezogen, auf neue und zunehmend dynamischere Märkte, für deren Regulierung der eher statische bisherige Rechtsrahmen 1998 zu unflexibel erscheint. Der neue Rechtsrahmen zielt zwar nicht auf eine generelle Überführung in das allgemeine Wettbewerbsrecht, weil es nach wie vor in wichtigen Bereichen an einem selbsttragenden Wettbewerb fehlt.5 Wohl aber erfolgt eine weitere Annäherung an das allgemeine Wettbewerbsrecht. Die bisherigen Instrumente insbesondere der asymmetrischen Regulierung, also der Begründung besonderer Verpflichtungen marktbeherrschender Unternehmen, sollen dazu flexibilisiert werden. Ihre Auferlegung erfolgt nicht mehr aufgrund einer vom Gemeinschaftsgesetzgeber und dem nationalen Gesetzgeber vorgenommenen Prognose der Marktentwicklung, die dann zu abstrakt-generellen, für alle marktbeherrschenden Unternehmen geltenden Regelungen führt, sondern aufgrund einer jeweils durch die nationalen Regulierungsbehörden (NRB) durchzuführenden und regelmäßig zu überprüfenden Marktanalyse. Damit wird die Auferlegung spezifischer Verpflichtungen durch die NRB eng an die jeweilige Marktentwicklung gekoppelt. Darin liegt eine erhebliche Flexibilisierung, die je nach Ergebnis der Marktanalyse mit einer Annäherung an das allgemeine Wettbewerbsrecht durch die Rücknahme spezifischer Verpflichtungen verbunden sein kann. Damit geht freilich ein erheblicher Kompetenzzuwachs der NRB einher, die künftig über die bisher vom mitgliedstaatlichen Gesetzgeber abstrakt generell vorgesehene Verpflichtung nach durchgeführter Marktanalyse selbst zu entscheiden haben. Gleichsam kompensatorisch werden diese dafür – jedenfalls für eine bestimmte Teilmenge von Entscheidungen – in einen Kooperations- und Abstimmungsmechanismus mit den übrigen nationalen Regulierungsbehörden unter Einschluss der Europäischen Kommission eingebunden. Dieser europäische Regulierungsverbund soll die einheitliche Anwendung des neuen Rechtsrahmen garantieren. Das neue Telekommunikationsrecht wird damit prozeduralisiert und auch in seinem Vollzug durch die mitgliedstaatliche Verwaltung europäisiert. Damit ist zugleich ein weiteres wichtiges Ziel des neuen Rechtsrahmens umschrieben: die kohärente Anwendung des europäischen Rechts in einen binnenmarktrelevanten Bereich. Nicht nur sollen – wie bisher – durch das europäische Recht die Rechtsordnungen harmonisiert werden, sondern auch ihr Vollzug soll kohärent werden. Insoweit ist die Schaffung eines Regulierungsverbundes ein zentrales Element des neuen Rechtsrahmens.6 Dieser stellt durch den Zugriff auf den Vollzug nicht nur eine neue Stufe der Europäisierung dar, sondern bringt auch für das mitgliedstaatliche munikationssektor. Telekommunikation in Europa – Regulierung und Märkte 2002, KOM (2002) 695 endg. 5 Dazu Achter Bericht (Fn. 4). 6 Ausführlich Trute / Röhl, Der Europäische Regulierungsverbund in der Telekommunikation, 2003, (i.E.).
Der europäische Regulierungsverbund in der Telekommunikation
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Verwaltungsrecht, vor allem für das traditionelle deutsche Verwaltungsrechtsmodell, neue Herausforderungen mit sich.
I. Die Spannung von Flexibilität und Kohärenz Die Auferlegung, Änderung oder Aufhebung von spezifischen Verpflichtungen für marktbeherrschende Unternehmen sind ungeachtet der noch näher darzustellenden europäischen Vorprägungen nicht sinnvoll zentral zu bewerkstelligen. Die Marktsituation, etwa die räumliche und sachliche Marktabgrenzung kann zumindest durch nationale Besonderheiten geprägt sein, die Berücksichtigung finden müssen und für die sinnvollerweise nur die NRB zuständig sein sollten. Zwar mögen die Kriterien, nach denen dies erfolgen kann und soll, und eine Instrumente, die zur Verfügung stehen müssen, europäisch vorgeprägt werden, aber ohne einen hinreichenden Gestaltungsspielraum auf nationaler Ebene ist die flexible und gleichzeitig auf das jeweilige Marktproblem abgestimmte Regulierung nicht sinnvoll. Dem trägt der Rechtsrahmen durch die Zuweisung der wesentlichen Entscheidungen an die NRB Rechnung. Damit aber tritt aus europäischer Perspektive notwendig ein Spannungsverhältnis zur Gewährleistung einheitlicher Spielregeln im europäischen Binnenmarkt auf, vor allem auf der Anwendungsebene. Vor diesem Hintergrund erweist sich der bisherige, auf die Kohärenz der Rechtsordnungen abstellende Ansatz als unzureichend, weil die Gestaltungsspielräume in wichtigen Bereichen nicht mehr beim nationalen Umsetzungsgesetzgeber, sondern bei den NRB liegt. Eine unterschiedliche nationale Regulierungspraxis bringt freilich die Gefahr von Wettbewerbsverzerrungen mit sich. Flexibilisierung einerseits und Kohärenz des Rechtsrahmens andererseits treten also in ein Spannungsverhältnis, das leicht zu Lasten einheitlicher Wettbewerbsbedingungen und zu Gunsten der Verfolgung partikularer nationaler Interessen aufgelöst werden kann. Der europäische Regulierungsverbund ist die europäische Antwort auf dieses Spannungsverhältnis im Interesse der Kohärenz der Anwendung des Richtlinienpakets 2002. Bisher vertraut das europäische Recht in vielen Bereichen schon mangels zureichender Eigenverwaltung auf die Implementation des umgesetzten oder direkt wirksamen europäischen Rechts durch die nationalen Verwaltungen,7 gesichert durch Aufsichtsrechte der Kommission,8 sanktioniert über das Vertragsverletzungsverfahren und die Rechtsprechung des europäischen Gerichtshofs, insbesondere im Vorabentscheidungsverfahren nach Art. 234 EGV. Freilich zeigt sich seit 7 Allgemein dazu Schmidt-Aßmann, Strukturen des europäischen Verwaltungsrechts: Einleitende Problemskizze, in: Schmidt-Aßmann / Hoffmann-Riem (Hrsg.), Strukturen des europäischen Verwaltungsrechts, 1999, S. 9 ff.; Hatje, Die gemeinschaftsrechtliche Steuerung der Wirtschaftsverwaltung, 1998. 8 Dazu Hatje (Fn. 7), S. 154 ff.; Pühs, Der Vollzug von Gemeinschaftsrecht, 1997, S. 135 ff.; Suerbaum, Die Kompetenzverteilung beim Verwaltungsvollzug des europäischen Gemeinschaftsrechts in Deutschland, 1998, S. 184 ff.
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geraumer Zeit, dass damit die Kohärenz des rechtlichen Rahmens nicht ohne weiteres sicherzustellen ist. Das mag in Feldern wenig bedeutsam sein, wo die Wirkung nationaler Entscheidungen auf den jeweiligen Mitgliedstaat begrenzt bleibt. Aus Integrationssicht mag auch dies unbefriedigend sein, ist aber letztlich hinzunehmen – jedenfalls solange sich die Abweichungen in Grenzen halten. Für die europäische Integration bedeutsamer sind freilich Felder, in denen die Wirkungen über die mitgliedstaatlichen Grenzen deutlich hinausreichen, also insbesondere solche mit Binnenmarktrelevanz: das Wettbewerbsrecht, das Beihilferecht, das Recht der Finanzdienstleistungen, in Teilen das Lebensmittelrecht, das Arzneimittelrecht – um nur einige der Felder ohne jeden Anspruch auf Vollständigkeit zu nennen. Je größer die grenzüberschreitenden Wirkungen und die integrationspolitische Relevanz, desto dringlicher die Kohärenz des Rechtsrahmens nicht nur hinsichtlich seiner materiell-rechtlichen Grundlagen, sondern auch seiner Anwendung. Die unterschiedliche Verwaltungsstruktur der Mitgliedstaaten, die je spezifische Organisation und das Verfahren der Verwaltungen der Mitgliedstaaten, die Möglichkeit des Einfließens partikularer nationaler Interessen im Rahmen des Verwaltungsvollzuges können dann ein ernst zu nehmendes Problem darstellen – nicht zuletzt ein Wettbewerbsproblem. Die auf den ersten Blick naheliegende Zentralisierung von Entscheidungen ist mit hohen bürokratischen Kosten verbunden, vor allem aber setzt sie eine Ausdehnung der europäischen Eigenverwaltung voraus, die im Zweifel auf den Widerstand der Mitgliedstaaten stoßen dürfte. Verwaltungskooperationen sind daher seit geraumer Zeit ein Mittel, um die Integration zu befördern9, aber sie sind oftmals schwerfällig und möglicherweise nur begrenzt geeignet, das Kohärenzziel nachhaltig zu befördern. Vor diesem Hintergrund lässt sich der durch das Richtlinienpaket 2002 geschaffene europäische Regulierungsverbund als eine neue Form der Kohärenzsicherung verstehen. Das kommt bereits in Art. 1 der RahmenRL zum Ausdruck, der nicht nur auf die Flexibilisierung der Regulierung setzt, sondern auch ausdrücklich das Ziel nennt, zu einer harmonisierten Anwendung des Gemeinschaftsrechts durch die Institutionalisierung von Verfahren beizutragen. Die Genese der Rahmenrichtlinie verdeutlicht dies. Der Richtlinienentwurf der Kommission10 hatte noch in Art. 6 RahmenRL-E für alle Vorabverpflichtungen, die eine nationale Regulierungsbehörde marktbeherrschenden Unternehmen aufzuerlegen beabsichtigte, nicht nur eine Abstimmung mit den anderen nationalen Regulierungsbehörden unter weitestgehender Berücksichtigung von deren Stellungnahmen, sondern zugleich ein „Ve9 Dazu grundlegend Schmidt-Aßmann, Verwaltungskooperation und Verwaltungskooperationsrecht in der Europäischen Gemeinschaft, EuR 1996, S. 270 ff.; Schlag, Grenzüberschreitende Verwaltungsbefugnisse im EG-Binnenmarkt, 1997, S. 168 ff.; Hatje (Fn. 7), S. 128 ff.; Röhl, Akkreditierung und Zertifizierung im Produktsicherheitsrecht: Zur Entwicklung einer europäischen Verwaltungsstruktur, 2000. 10 Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über einen gemeinsamen Rechtsrahmen für elektronische Kommunikationsnetze und -dienste vom 12. 7. 2000, KOM (2000) 393 endg.
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torecht“ der Kommission (Art. 6 Abs. 4) gegen bestimmte Maßnahmen vorgesehen. Das Europäische Parlament hatte diesen Mechanismus in den Zusammenhang der Kohärenz gestellt, zugleich aber dies als eine nicht notwendige Bündelung der Entscheidungsgewalt auf europäischer Ebene bezeichnet.11 In dem Geänderten Vorschlag hatte die Kommission ihrerseits noch einmal auf die zentrale Bedeutung des seinerzeitigen Art. 6 für die Harmonisierung und den Aufbau einer europäischen Regulierungskultur hingewiesen.12 Der später insbesondere im Hinblick auf die ablehnende Haltung des Rates13 gefundene Kompromiss begrenzt diesen Mechanismus auf eine Teilmenge von Entscheidungen und sieht im Übrigen „nur“ eine prozedurale Abstimmung hinsichtlich der übrigen Entscheidungen vor, ändert aber in der Sache nichts an dem Ziel, einen prozeduralen Verbund der Regulierungsbehörden auf europäischer Ebene zu schaffen. Insoweit geht es der Rahmenrichtlinie nicht zuletzt darum, die binnenmarktrelevanten Entscheidungen in der Telekommunikation im Interesse der Kohärenz stärker zu europäisieren, ohne sie jedoch zu zentralisieren. Die vom europäischen Richtlinienrecht geschaffene Architektur ist durch ein Zusammenspiel von materiellen Maßstäben und Verfahren und die Schaffung eines Netzwerks nationaler Verwaltung und der Europäischen Kommission gekennzeichnet, ohne allerdings auf das Mittel der Organisation zurückzugreifen. Aber es besteht eine deutliche funktionale Äquivalenz zur Organisationssteuerung.14 Das damit geschaffene Netzwerk von Verwaltungen entzieht sich naturgemäß der ausschließlichen Steuerung in den klassischen parlamentarischen Steuerungszusammenhängen von Gesetzgeber – Regierung – Verwaltung und Gerichten oder besser, modifiziert diese Steuerungszusammenhänge durch eine Europäisierung.
11 Europäisches Parlament, Bericht über den Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über einen gemeinsamen Rechtsrahmen für elektronische Kommunikationsnetze und -dienste vom 12. 7. 2000, A5 0053 / 2001 endg., S. 65, 69. 12 Geänderter Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über einen gemeinsamen Rechtsrahmen für elektronische Kommunikationsnetze und -dienste vom 4. 7. 2001 KOM (2001) 380 endg., S. 2 ff. 13 Gemeinsamer Standpunkt (EG) Nr. 38 / 2001 vom Rat gelegt am 17. 9. 2001 im Hinblick auf den Erlass der Richtlinie 2001 / . . . / EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom . . . über einen gemeinsamen Rechtsrahmen für elektronische Kommunikationsnetze und -dienste (Rahmenrichtlinie), ABl. EG Nr. C 337 vom 30. 10. 2001, S. 34; dazu auch die Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament gem. Art. 251 Abs. 2 UA 2 EGV betr. den vom Rat angenommenen gemeinsamen Standpunkt im Hinblick auf den Erlass einer Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über einen gemeinsamen Rechtsrahmen für elektronische Kommunikationsnetze und -dienste, SEK / 2001 / 1365 endg., S. 4, in der noch einmal auf die Bedeutung für die einheitliche Anwendung des europäischen Rechts hingewiesen wird. 14 Dazu Trute / Röhl (Fn. 6).
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II. Der europäische Regulierungsverbund als Kohärenzsicherung Die Ausbalancierung des Spannungsverhältnisses von Flexibilisierung im Interesse einer auf die jeweilige Marktsituation abgestimmten und deswegen in einem gewissen Maß notwendig dezentralen Regulierung und der Kohärenzsicherung im Interesse einheitlicher Wettbewerbsbedingungen im Binnenmarkt ist – wie die Genese des Richtlinienpakets zeigt – kein einfaches Unterfangen. Das Richtlinienpaket sieht insoweit ein eng aufeinander abgestimmtes institutionelles Arrangement von Zielen, Verfahren und Instrumenten vor. 1. Die Bedeutung der Regulierungsziele Besondere Bedeutung kommt dabei im neuen Rechtsrahmen den Regulierungszielen zu. Die Festlegung von Regulierungszielen ist freilich nicht grundsätzlich neu. Auch das bisherige europäische Sekundärrecht kannte Regulierungsziele – wenn auch begrenzt und nicht als Maßstäbe auf die gesamte Telekommunikationsregulierung ausgedehnt.15 Das TKG 1998 hat bekanntlich in § 2 Abs. 2 einen Katalog von Zielen festgelegt16, ohne diese freilich konsequent mit den möglichen Instrumenten der Regulierung zu verzahnen. So sind die Ziele – wie wohl von der Regulierungspraxis und den Gerichten zunehmend aufgegriffen – vor allem zur interpretatorischen Leitlinie bei der Ausfüllung von Beurteilung- und Ermessenstatbeständen herangezogen worden.17 Demgegenüber haben die Ziele im europäischen Regulierungsansatz der Rahmenrichtlinie eine weiterreichende Bedeutung.18 In Art. 7 Abs. 1 RahmenRL ist vorgesehen, dass die NRB bei der Erfüllung ihrer Aufgaben gemäß der Rahmenrichtlinie und den Einzelrichtlinien den in Art. 8 RahmenRL genannten Zielen, auch soweit sie sich auf das Funktionieren des Binnenmarktes beziehen, weitestgehend Rechnung tragen. Dem entspricht die Verpflichtung der Mitgliedstaaten, dafür Sorge zu tragen, dass die nationalen Regulierungsbehörden bei der Wahrnehmung ihrer im Richtlinienpaket festgelegten Aufgaben alle angezeigten Maßnahmen treffen, die den in Art. 8 Abs. 2 – 4 RahmenRL vorgegebenen Zielen dienen, und dass die Maßnahmen jeweils in einem angemessenen Verhältnis zu diesen Zielen stehen. Die Ziele werden damit zum verbindlichen Rechtmäßigkeitsmaßstab Vgl. etwa Art. 9 RL 97 / 33 / EG. Dazu Trute, in: Trute / Spoerr / Bosch, TKG mit FTEG, § 2 Rn. 6 ff. 17 Vgl. etwa BVerwG, Urt. v. 15. 04. 2001 – 6 C 7.00; VG Köln, Urt. v. 11. 05. 2000 – 1 K 4868 / 97; RegTP, Entscheidung v. 12. 12. 2001 – BK 4a-01 – 026. 18 Auch insoweit gibt die Genese des Richtlinienvorschlags wichtige Hinweise zur Bedeutung der Ziele; vgl. etwa Geänderter Vorschlag (Fn. 12), S. 2, der davon spricht, dass der Vorschlag um eine Reihe von Bestimmungen ergänzt wurde, um zu verdeutlichen, dass die nationalen Regulierungsbehörden über gemeinsame Zielvorgaben verfügen, auf die sie ihre Maßnahmen hin ausrichten. 15 16
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des Handelns der nationalen Regierungsbehörden. Dementsprechend sind bei den einzelnen Maßnahmen die Ziele ausdrücklich noch einmal in Bezug genommen worden. Dies gilt etwa für die Vorleistungsregulierung nach Maßgabe der Art. 9 – 13 ZugangsRL, aber auch für die Endnutzerregulierung nach Maßgabe von Art. 16 f. UniversaldienstRL. Nicht zuletzt die Tatsache, dass die Kommission die Europarechtskonformität der Maßnahmen der NRB auch anhand der Zielkonformität beurteilt – wie Art. 7 Abs. 4 RahmenRL zeigt – verdeutlicht dies. Weil die NRB angesichts dynamischer und komplexer Märkte die Regulierungsinstrumente flexibel und situativ handhaben sollen, ist die Zielorientierung eine wichtige europarechtlich harmonisierte Vorgabe, die gleichermaßen für alle NRB und die Kommission bei ihren Stellungnahmen und Entscheidungen gilt.19 Dabei sind die Ziele des Art. 8 RahmenRL zwar nach wie vor von den Mitgliedstaaten umzusetzen. Zugleich aber bleiben – im Rahmen von Entscheidungen, die im europäischen Regulierungsverbund zu treffen sind – die sekundärrechtlichen Ziele des Art. 8 RahmenRL primärer Rechtmäßigkeitsmaßstab für die Kommission. Sie trifft ihre Entscheidungen – wie etwa die Ausübung des Vetorechts in Art. 7 Abs. 4 RahmenRL – auch am Maßstab der Ziele des Art. 8 RahmenRL. Zwar handeln die NRB grundsätzlich auf der Grundlage des europarechtskonform umgesetzten nationalen Rechts, aber die Stellungnahmen, die sie zu den Regulierungsmaßnahmen der jeweils anderen NRB abgeben, können notwendig nur mit Blick auf die europäischen Maßstäbe abgegeben werden. Darin äußert sich ein gewisser, prozedural ansetzender Zwang zur Harmonisierung der Maßstäbe. Ganz in diesem Sinne formuliert Art. 7 Abs. 2 S. 1 RahmenRL die Verpflichtung der NRB, untereinander und mit der Kommission in transparenter Weise zu kooperieren, um in allen Mitgliedstaaten eine kohärente Anwendung der Bestimmungen der Rahmenrichtlinie zu gewährleisten. Diese Verpflichtung soll die auf der Grundlage des nationalen Rechts getroffenen Maßnahmen auf die kohärente Anwendung der Rahmenrichtlinie beziehen. Da die NRB den Stellungnahmen weitestgehend Rechnung zu tragen haben, ist unschwer zu erkennen, dass die nationalen Regulierungsziele – und nicht nur diese – auch in ihrem Vollzug deutlich europäisch überformt werden dürften. Am Ende wird sich das im Regulierungsverbund harmonisierte Verständnis der Ziele durchsetzen. Gleiches gilt – cum grano sales – dann auch für die tatbestandlichen Voraussetzungen der spezifischen Regulierungsinstrumente, wie sie in den spezielleren Richtlinien vorgesehen sind, soweit deren Maßnahmen in den europäischen Regulierungsverbund einbezogen sind. Darin zeigt sich etwas von dem ehrgeizigen Ziel, zu einem harmonisierten Verständnis des europäischen Richtinienrechts zu kommen, das dann am Anwendungsvorrang des europäischen Rechts teilnimmt. Zumal dort, wo die Kommission über ein „Vetorecht“ verfügt, werden sich die von ihr zugrunde gelegten Verständnisse von Zielen und Instrumenten durchsetzen. Selbst in den weicheren Abstimmungsverfahren aber wird durch die Kommunikation der Regulierungsbehörden ein gemeinsames Verständnis der materiellen Maßstäbe befördert. 19
Vgl. dazu Erwägungsgrund 16 f. RahmenRL.
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Die Kohärenzsicherung wird im Übrigen selbst zum Regulierungsziel. Nach Art. 8 Abs. 3 lit. d RahmenRL sollen die nationalen Regulierungsbehörden dadurch zur Verwirklichung des Binnenmarktes beitragen, dass sie untereinander und mit der Kommission in transparenter Weise zusammenarbeiten, um die Entwicklung einer einheitlichen Regulierungspraxis und die einheitliche Anwendung des Richtlinienpakets sicherzustellen. Dieses Ziel war im ursprünglichen Richtlinienentwurf der Kommission noch nicht enthalten. Es ist in anderer Fassung vom europäischen Parlament vorgeschlagen worden,20 um die Notwendigkeit der Harmonisierung zu betonen. Ungeachtet aller Änderungen im Detail stand dabei die Betonung der Entwicklung einer einheitlichen Regulierungspraxis bei allen Beteiligten im Vordergrund. Da die Ziele die Anwendung der Einzelmaßnahmen tatbestandlich steuern sollen, wird die Abstimmung und Vereinheitlichung selbst zu einem Teil des Rechtmäßigkeitsmaßstabes der Einzelmaßnahmen. Das Ergebnis der Abstimmungs- und Kooperationsverfahren wird dadurch künftig auch bei Einzelmaßnahmen ein erhebliches Gewicht haben. Dies gilt schon im Lichte der allgemeinen Ziele der RahmenRL in Art. 1 Abs. 1. Es wird durch die Verpflichtung des Art. 7 Abs. 4 RahmenRL verstärkt, wonach die Stellungnahmen der übrigen NRB und der europäischen Kommission bei einer bestimmten Klasse von Entscheidungen weitestgehend zu berücksichtigen sind.
2. Die Institutionalisierung des Europäischen Regulierungsverbundes durch Verfahren Die Architektur der Kohärenzsicherung wird noch deutlicher, wenn man den Blick auf die Verfahren lenkt, die das Netzwerk der europäisierten Verwaltungen erst konstituieren. Sie sind, wie schon Art. 1 Abs. 1 S. 2 RahmenRL verdeutlicht, das eigentliche Instrument der Kohärenzsicherung; auf die Kooperationsverpflichtung der NRB nach Art. 7 Abs. 2 RahmenRL ist schon hingewiesen worden. Zu ihrer Erfüllung sollen die NRB gemäß Art. 7 Abs. 2 S. 2 RahmenRL insbesondere Einvernehmen über die geeignetsten Mittel und Wege zur Bewältigung besonderer Marktsituationen zu erreichen versuchen.21 Dies ist zwar nur eine Kooperations20 Vgl. Änderungsantrag 38 im Bericht des EP (Fn. 11). Der Geänderte Vorschlag der Kommission sprach dann von der Gewährleistung der Entwicklung einheitlicher regulatorischer Position in der gesamten Europäischen Union; vgl. Geänderter Vorschlag (Fn. 12), zu Art. 7 Abs. 3 lit. c. Zur Begründung auch Geänderter Vorschlag (Fn. 12), S. 2; vgl. auch Änderungsantrag 23 der Empfehlung für die 2. Lesung betr. den gemeinsamen Standpunkt des Rates im Hinblick auf den Erlass einer Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über einen gemeinsamen Rechtsrahmen für elektronische Kommunikationsnetze und -dienste (A 5 – 0435 / 2001), der dann die endgültige Fassung enthielt. 21 Die Vorschrift wurde im Rahmen der Kompromisssuche zwischen dem schwachen Ratsvorschlag und dem starken Kommissionsvorschlag vom Europäischen Parlament im Rahmen der 2. Lesung als Art. 6 Abs. 2 vom Europäischen Parlament vorgeschlagen. Die Begründung macht deutlich, dass dies zu einer harmonisierten Umsetzung des Rechtsrahmens durch „peer review“ der NRB untereinander einschließlich der Kommission anstatt
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verpflichtung, verbunden mit einer Pflicht, Einvernehmen zu suchen, beinhaltet aber bereits eine prozedural ansetzende europäische Prägung der Anwendung geeigneter Mittel und Wege. Gerade durch die Schaffung von Transparenz gegenüber den übrigen nationalen Regulierungsbehörden und der Kommission entstehen prozedural ansetzende Rechtfertigungszwänge. Die Bezeichnung als „peer review“ in der Empfehlung des Europäischen Parlaments für die 2. Lesung verdeutlicht die angestrebte Wirkung durchaus richtig. Darüber hinaus hat die Europäische Kommission auf allgemeiner Ebene nach Art. 19 RahmenRL die Möglichkeit, Empfehlungen an die Mitgliedstaaten über die harmonisierte Durchführung des Richtlinienpakets zu erlassen.22 Diese Empfehlung ist mit der Verpflichtung der Mitgliedstaaten verbunden, dafür zu sorgen, dass die NRB bei der Wahrnehmung ihrer Aufgaben diesen Empfehlungen weitestgehend Rechnung tragen. Insofern – und durchaus typisch für die weichere Form der Steuerung innerhalb des Netzwerkes – liegt eine Verstärkung der an sich unverbindlichen Form23 der Empfehlung durch die Richtlinie vor, ohne dass damit allerdings die Qualität einer förmlichen Entscheidung der Kommission erreicht wird. Durch die Begründungspflicht gegenüber der Kommission bei Abweichungen bekommt die Europäische Kommission ein zwar weiches, gleichwohl wirksames Instrument zur Harmonisierung auf europäischer Grundlage in die Hand. Berücksichtigt werden kann dies wiederum im Rahmen des Zieles zur Entwicklung einer einheitlichen europäischen Regulierungspraxis.24 Darüber hinaus hat – wie es in den Erwägungsgründen heißt und wie es der Sache nach auch bereits umgesetzt ist – die Kommission die europäische Gruppe der Regulierungsbehörden institutionalisiert, die ein europäisches Forum der Kooperation und Abstimmung darstellen kann und darstellen soll.25 In den Erwägungsgründen26 durch Auflagen der Kommission beitragen sollte (vgl. Empfehlungen für die 2. Lesung (Fn. 20), Art. 6 a Abs. 2). 22 Vgl. dazu jetzt etwa die Empfehlung der Kommission vom 23. 7. 2003 zu den Notifizierungen, Fristen und Anhörungen gem. Art. 7 der Richtlinie 2002 / 21 / EG des Europäischen Parlaments und des Rates über einen gemeinsamen Rechtsrahmen für elektronische Kommunikationsnetze und -dienste, ABl. EG Nr. L 190 vom 30. 7. 2003, S. 13. 23 Auch in der allgemeinen Dogmatik sind die Empfehlungen – freilich über den Wortlaut des Art. 249 Abs. 5 EGV hinaus – nicht ohne normative Relevanz, da die Mitgliedstaaten bei an sie gerichteten Empfehlungen schon aufgrund des Art. 10 EGV verpflichtet sind, diese ernsthaft zu prüfen und sich in begründetem Fall nach ihnen zu richten bzw. sie andernfalls mit ausreichender Erklärung zurückzuweisen; vgl. Grabitz, in: Grabitz / Hilf, Kommentar zur Europäischen Union, Art. 189 EGV Rn. 82; EuGH, Rs 322 / 88, Slg. 1989, 4407. Die durch die RahmenRL begründete Verpflichtung reicht freilich über diese allgemeine Wirkung hinaus, wie noch zu zeigen sein wird. 24 Vgl. dazu die oben bei Fn. 21 gemachten Hinweise. 25 Erwägungsgrund 36 f. RahmenRL; zur Europäischen Gruppe der Regulierungsbehörden vgl. Beschluss der Kommission vom 29. 7. 2002 zur Einrichtung der Gruppe europäischer Regulierungsstellen für elektronische Kommunikationsnetze und –dienste, EG Nr. 200 v. 30. 7. 2002 sowie Klotz, Die neuen EU-Richtlinien über elektronische Kommunikation: An-
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und in Art. 3 Abs. 2 des Beschlusses heißt es insoweit, dass die Gruppe die Schnittstelle zwischen den nationalen Regulierungsbehörden und der Kommission bilden soll, um zur einheitlichen Anwendung des neuen Rechtsrahmens für elektronische Kommunikationsnetze und -dienste in allen Mitgliedstaaten beizutragen. Wenn zugleich von Vertretern der Kommission betont wird, dass dieses Forum wie auch die einzurichtenden Verfahren dazu dienen können, dass sich die NRB für bestimmte Entscheidungen gegenüber einseitigen politischen und wirtschaftlichen Einflüssen die europäische Rückendeckung verschaffen27, wird die Architektur der Verfahren ebenso sichtbar wie die zumindest partielle Herauslösung der NRB aus dem nationalen Steuerungszusammenhang. Es ist nachgerade der Sinn, durch die prozedurale Einbettung in den europäischen Regulierungsverbund eine Distanz gegenüber den Einflussnahmen auch der nationalen Politik und damit Raum für die Verfolgung eines europäisch definierten Gemeinwohls zu schaffen.28 3. Verfahren nach Art. 7 Abs. 3 – 6 RahmenRL Den Kern des Kohärenzmechanismus bildet freilich das Konsultations- und Konsolidierungsverfahren des Art. 7 Abs. 3 – 6 RahmenRL, dass das eigentliche Instrument zur Konstitution des Netzwerks europäischer Regulierungsinstanzen bildet. Das Verfahren nach Art. 7 Abs. 3 – 6 RahmenRL bezieht sich insbesondere auf die Anwendung von Maßnahmen im Bereich der Marktdefinition und -analyse (Art. 15, 16 RahmenRL) sowie die Auferlegung von Verpflichtungen und zwar sowohl im Bereich der symmetrischen wie asymmetrischen Vorleistungsregulierung (Art. 5 Abs. 1, 2 Zugangsrichtlinie) wie auch auf solche im Bereich der Endnutzerregulierung (Art. 6 f. UniversaldienstRL).
a) Das Konsultationsverfahren (Art. 7 Abs. 3, 5 RahmenRL) Für den überwiegenden Teil der Regulierungsmaßnahmen ist eine Abstimmungspflicht mit der europäischen Kommission und anderen nationalen Regulierungsbehörden gemäß Art. 7 Abs. 3, 5 RahmenRL vorgesehen. Verfahrensmäßig näherung der sektorspezifischen Regulierung an das allgemeine Kartellrecht, K&R 2003, Beilage 1 / 2003, S. 3, 8. 26 Vgl. Erwägungsgrund 6 RahmenRL. 27 Klotz (Fn. 25). 28 Das berührt sich im Übrigen mit Versuchen des Europäischen Parlaments, in den Prozess der Beratungen der RahmenRL auch die politische Unabhängigkeit der nationalen Regulierungsbehörden in der RahmenRL zu verankern; vgl. Änderungsantrag 22 im Bericht des Europäischen Parlaments (Fn. 11), der in modifizierter Form von der Kommission in ihrem Geänderten Vorschlag (Fn. 12) aufgegriffen wurde (vgl. insoweit Art. 3 Abs. 2), vom Gemeinsamen Standpunkt (Fn. 13) aber nicht übernommen wurde. Im Änderungsantrag 10 der 2. Lesung des Europäischen Parlaments wurde er noch einmal aufgenommen, gleichwohl hat er nicht Eingang in den abgeänderten Vorschlag gefunden.
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hat die jeweilige NRB den übrigen NRB und der Europäischen Kommission den Entwurf von Maßnahmen zuzuleiten und ihnen damit Gelegenheit zur Stellungnahme innerhalb einer bestimmten Frist zu geben.29 Materiellrechtlich hat sie den Stellungnahmen weitestgehend Rechnung zu tragen. Die Verpflichtung, den Stellungnahmen weitestgehend Rechnung zu tragen, kann dabei nicht allein so verstanden werden, dass die Stellungnahme zur Kenntnis genommen werden muss, die nationalen Regulierungsbehörden sich mit ihnen auseinander setzen und die geplante Entscheidung entweder entsprechend anpassen oder in der Begründung deutlich machen, warum von den bzw. einzelnen Stellungnahmen abgewichen worden ist.30 Dies entspräche im Wesentlichen der allgemeinen Berücksichtigungspflicht bei unverbindlichen Stellungnahmen und Empfehlungen.31 Die Berücksichtigungspflicht ist vielmehr gesteigert. Neben die genannten prozeduralen Aspekte der Kenntnisnahme, Auseinandersetzung und Begründung muss daher noch ein materieller Maßstab treten. In der englischen Fassung der Rahmenrichtlinie wird dies mit utmost account umschrieben, was nichts anderes heißt, als dass die Regulierungsbehörde das ihr Äußerste, ihr Möglichste zu tun hat, um die Stellungnahme zu berücksichtigen.32 Daher kann es nicht auf allgemeine Zumutbarkeitserwägungen, abweichende Sichtweisen oder gar spezifische nationale Zielsetzungen ankommen. Dass der NRB Mögliche wird vielmehr über das ihr rechtliche Mögliche zu umschreiben sein. Sie hat daher die Stellungnahme, soweit dies vom europäischen Recht und dem europarechtskonformen und -konform ausgelegten Recht nationalen Recht möglich ist, zu berücksichtigen. Anders formuliert: Nur dort, wo das europäische Recht oder das gegebenenfalls europarechtskonform interpretierte nationale Recht einer Berücksichtigung entgegensteht, kann sie die Stellungnahme begründet zurückweisen. Nur dies entspricht der Systematik und den Zielen, nämlich zu einer einheitlichen Anwendung des europäischen Rechts zu kommen.33 Schon dies führt – zusammen mit den allgemeinen Kooperations- und Abstimmungspflichten – unter Beachtung des Integrationszieles zu einer deutlichen Harmonisierung auf einem gemeineuropäischen Niveau.34 Zu Einzelheiten vgl. Empfehlung der Kommission (Fn. 22). So aber Koenig / Loetz / Neumann, Sektorspezifische Regulierung im neuen Telekommunikationsrecht: Umsetzungsspielräume, verfassungsrechtliche Vorgaben und Verfahrensgestaltung, K&R 2003, Beilage zu Heft Nr. 4, S. 9; weitergehend auch Ladeur, Europäisches Telekommunkationsrecht im Jahre 2001: zur Entwicklung des „Maßnahmepaketes“ zur Neuordnung der Telekommunikation und zur Entscheidungspraxis der europäischen Gerichte und der EG-Kommission auf dem Gebiet des Telekommunikations- und Wettbewerbsrechts, K&R 2002, S. 110, 113. 31 Vgl. dazu oben Fn. 23. 32 Die französische Fassung spricht von concernee tient le plus grand compte, was in der Sache ebenfalls auf einen kaum steigerbaren Maßstab jenseits der Verbindlichkeit verweist. Dies entspricht bei unbefangener Betrachtung auch dem deutschen Begriff der weitestgehenden Berücksichtigung. 33 Bei divergierenden Stellungnahmen sind diese im Hinblick auf das Integrationsziel zu bewerten und zu gewichten, soweit ihre Berücksichtigung nach dem dargelegten Maßstab möglich ist. 29 30
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b) Konsolidierungsverfahren (Art. 7 Abs. 4 RahmenRL) Intensiviert wird die vertikale Einbettung bei einer bestimmten Klasse von Entscheidungen, die die Marktdefinition und die Einstufung eines Unternehmens als marktbeherrschend betreffen, wenn dies Auswirkungen auf den Handel zwischen den Mitgliedstaaten hat. In diesen Fällen hat die Europäische Kommission in der Sache ein Beanstandungs- und in letzter Konsequenz ein Vetorecht gemäß Art. 7 Abs. 4 RahmenRL. Dieses ist zwar in das Komitologie-Verfahren des Art. 22 RahmenRL einbezogen,35 und zwar in das Beratungsverfahren des Art. 3. In der Sache ändert dies nichts daran, dass nationale Maßnahmen von der Kommission blockiert, wenn auch nicht ersetzt werden können. Als Rechtmäßigkeitsmaßstab dient für die Europäische Kommission das Erfordernis eines Hemmnisses für den Binnenmarkt oder ernsthafte Zweifel an der Vereinbarkeit mit dem Gemeinschaftsrecht, insbesondere mit den in Art. 8 RahmenRL genannten Regulierungszielen. Auch insoweit kann die Kommission über das Integrationsziel begründet für die Kohärenz der Anwendung sorgen, ohne auf die klassischen Instrumente der Kohärenzsicherung angewiesen zu sein – in letzter Konsequenz auf das Vertragsverletzungsverfahren. Für diese Klasse von Entscheidungen wird die Einbindung in einen vertikalen administrativen Verbund bei gleichzeitiger Europäisierung der materiellen Maßstäbe besonders deutlich. Den Entscheidungsmaßstab der Kommission bildet dabei neben dem Primärrecht das Richtlinienrecht. Damit wird eine europäische Interpretationsinstanz mit Entscheidungskompetenz in den Regulierungszusammenhang eingebunden, werden also echte Mitverwaltungsbefugnisse begründet. Die nationale Regulierungsbehörde muss zur Vermeidung eines Vetos der Kommission letztlich den harmonisierten europäischen Maßstab anwenden können, der nicht zuletzt durch das Verständnis der Kommission geprägt wird. Nationale Abweichungen laufen Gefahr, auf diesem Wege von der Kommission ohne Vertragsverletzungsverfahren korrigiert zu werden. Das Vetorecht der Europäischen Kommission in Art. 8 Abs. 3 UA 2 ZugangsRL bei Abweichungen vom Maßnahmekatalog der Art. 9 – 13 ZugangsRL verdeutlicht noch einmal diese Einbettung; auch damit soll letztlich eine europäische Kontrolle möglicher Abweichungen vom einheitlichen europäischen Regierungsrahmen ermöglicht werden. Die NRB werden also künftig – wie bisher auch – auf der Grundlage nationalen Rechts in Umsetzung des europäischen Richtlinienrechts entscheiden. Aber das europäische Recht prägt nicht nur ihre Aufgaben und ihre Stellung, sondern auch den Vollzug der Maßstäbe deutlicher vor. Das nationale Recht wird in seiner Anwendung gegenüber dem europäischen Recht und den europäischen Implementations34 Die bisherigen Stellungnahmen der Europäischen Kommission verdeutlichen die Eindringtiefe und den Europäisierungseffekt sehr eindringlich; vgl. Europäische Kommission SG (2003) D / 233787; SG (2003) D 233817; SG (2003) D 233786; SG (2003) D 233788; SG (2003) D 231466, SG (2003) D 231920. 35 Vgl. Beschluss des Rates 1999 / 468 / EG, ABl. EG Nr. L 184 vom 17. 7. 1999, S. 23.
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instanzen prozedural und materiell geöffnet, und damit werden die Entscheidungen der NRB mitgeformt. Sie werden im Anwendungsbereich der Kooperations- und Abstimmungspflichten durch das europäische Recht kontinuierlich beeinflusst. Mehr noch: Durch dieses Verfahren werden die Europäische Kommission wie auch die anderen nationalen Regulierungsbehörden zu Mitverwaltungsinstanzen, denen die nationalen Verwaltungsvorgänge zumindest zum Teil damit transparent werden. Das Ziel ist, wie die Genese des Richtlinienpakets zeigt, die Ausbildung einer einheitlichen europäischen Regulierungskultur.36 4. Insbesondere: Das Marktdefinitions- und -analyseverfahren Dieser Blick auf den europäischen Regulierungsverbund wäre unvollständig ohne den Blick auf das Marktdefinitions- und -analyseverfahren. Wiewohl an der Schnittstelle von materiellem und Verfahrensrecht gelegen, ist das Marktdefinitions- und Marktanalyseverfahren von vornherein im Sinne einer Abstimmung von NRB und europäischer Kommission konzipiert, mit einer deutlichen materiellen und prozeduralen Präponderanz der europäischen Kommission. Dem kommt eine umso größere Bedeutung zu, als die Marktanalyse entscheidende Grundlage der Auferlegung von Einzelverpflichtungen ist, die eine NRB auf der Grundlage der einzelnen Richtlinien treffen kann (Art. 8 ZugangsRL, Art. 16 f. UniversaldienstRL). Nach Art. 15 Abs. 1 erlässt die Kommission – nach Anhörung der NRB und der Öffentlichkeit – eine Empfehlung37 in Bezug auf relevante Produkt- und Dienstleistungsmärkte, deren Merkmale die Auferlegung der von den Einzelrichtlinien dargelegten Verpflichtungen rechtfertigen können. Die Durchmusterung der in Anhang 1 der RahmenRL vorgesehenen Märkte ergibt den breiten Umfang der Definitionsmacht der Kommission.38 Auch hier ist die weitestgehende Berücksichtigung der europäischen Marktdefinition durch die NRB, von der Art. 15 Abs. 2 RahmenRL spricht, eingebunden in das Abstimmungsverfahren nach Art. 7 RahmenRL, sofern die NRB von der Marktdefinition der Kommission abweichen will.39 Nach dem Verständnis der Europäischen Kommission haben die nationalen Regulierungsbehörden nur zu ermitteln, ob aufgrund nationaler Gegebenheiten die Vgl. dazu oben Fn. 10 ff. Der Kommissionsentwurf sah hier eine Entscheidung der Kommission vor, der Rat schwächte diese zu einer Empfehlung ab, verbunden mit der Pflicht zur weitestgehenden Berücksichtigung; vgl. Gemeinsamer Standpunkt (Fn. 13), zu Art. 14. 38 Vgl. dazu auch die Empfehlung der Kommission von 11 / 02 / 2003 über die relevanten Produkt- und Dienstmärkte des elektronischen Kommunikationssektors, die aufgrund der Richtlinie 2002 / 21 / EG des Europäischen Parlaments und des Rates über einen gemeinsamen Rechtsrahmen für elektronische Kommunikationsnetze und -dienste für eine Vorabregulierung in Betracht kommen, C (2003) 497. 39 Vgl. auch Knauth, Regulierungsschwerpunkte und offene Fragen bei der Umsetzung der Telekommunikationsrichtlinien: die Eckpunkte der Bundesregierung zum Sondergutachten der Monopolkommission, K&R, 2003, Beilage 1 / 2003, S. 24 f. 36 37
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Festlegung anderer relevanter Märkte gerechtfertigt ist,40 für die dann das Verfahren der Art. 6, 7 RahmenRL einzuhalten ist. Das entspricht der oben herausgearbeiteten Pflicht zur weitestgehenden Berücksichtigung. Die zweite Vorprägung erfolgt durch die Leitlinien der Kommission für die Marktanalyse der NRB auf der Grundlage der Marktdefinition.41 Auch insoweit ist nur eine weitestgehende Berücksichtigung dieser an sich noch schwächeren Handlungsformen vorgesehen; zudem sind diese Entscheidungen eingebunden in den skizzierten Verfahrensverbund. Für die Einschätzung dieses Mechanismus ist allerdings wichtig, dass spezifische Regulierungsmaßnahmen der asymmetrischen Regulierung von den nationalen Regulierungsbehörden nur nach Durchführung der Marktanalyse auferlegt, geändert oder aufgehoben werden können. Daran wird deutlich, dass die Anbindung an die Marktentwicklung und deren Analyse das Instrumentarium situationsspezifisch ausrichtet; die auferlegten Maßnahmen müssen entsprechend einzeln oder zusammen auf das jeweils analysierte Marktproblem zugeschnitten werden. Dies erhellt den Bedeutungszuwachs der NRB bei gleichzeitigem Bedeutungsverlust des nationalen Umsetzungsgesetzgebers. Der Gesetzgeber hat zwar das Instrumentarium im Einklang mit dem Richtlinienpaket vorzusehen, aber es ist ihm verwehrt, für einzelne Märkte bestimmte Instrumente abstrakt-generell vorzusehen, wie es für das bisherige Recht kennzeichnend war.42
III. Konsequenzen Es sollte deutlich geworden sein, dass hier eine neue Stufe der Harmonisierung und Kohärenz durch die Etablierung eines Netzwerks nationaler Regierungsbehörden unter Einschluss der Europäischen Kommission beabsichtigt ist. Damit einher geht ein Bedeutungszuwachs des europäischen sekundären Richtlinienrechts, das nicht mehr allein zum Maßstab nationaler Umsetzung und deren Interpretation, sondern zum operativen Maßstab der NRB und der Kommission innerhalb des Regulierungsverbundes wird. Zwar wird nicht eine eigene Organisation geschaffen, wohl aber ein funktional adäquates Netzwerk von Regulierungsbehörden und Kommission, das die Trennung der Verwaltungsräume in Europa partiell überwindet43 und damit zugleich die nationalen Regulierungsbehörden im Interesse ihrer Unabhängigkeit ein Stück weit aus dem nationalen Steuerungs- und Kontroll40 Vgl. Leitlinien der Kommission zur Marktanalyse und Ermittlung beträchtlicher Marktmacht nach dem gemeinsamen Rechtsrahmen für elektronische Kommunikationsnetze und -dienste, ABl. EG Nr. C 165 vom 11. 7. 2002, S. 6, 1.2 Nr. 18. 41 Dazu Fn. 39. 42 Dies übersehen Koenig / Loetz / Neumann (Fn. 30), die bei der Analyse des Umsetzungsspielraums des nationalen Gesetzgebers zwar auf die Art. 6, 7 RahmenRL eingehen, aber das Marktanalyseverfahren im Rahmen systematischer Interpretation überhaupt nicht einbeziehen. Damit wird freilich der spezifische Ansatz der RahmenRL verfehlt. 43 Allgemein dazu Schmidt-Aßmann (Fn. 7), S. 17 ff.
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zusammenhang von Gesetzgeber-Regierung-Verwaltung-Gerichten herauslöst. Dies geht einher mit einem Bedeutungszuwachs der europäischen Ebene in horizontaler wie vertikaler Hinsicht. Vergegenwärtigt man sich, dass die Spielräume partiell unabhängigen Regulierungsbehörden zukommen, wird die Veränderung des Steuerungszusammenhangs nur umso deutlicher und damit auch die Differenz zum klassischen deutschen Verwaltungsrechtsmodell.44 Aber das ist aus europäischer Perspektive durchaus konsequent. Erst die partielle Unabhängigkeit bewirkt die Entkoppelung von partikularistischen nationalen Einflussversuchen, wie sie auch in der bisherigen Regulierungspraxis immer wieder beobachtet worden sind. Die Sicherung des europäisch formulierten Gemeinwohls und die Herstellung gleicher Wettbewerbsbedingungen im Binnenmarkt machen diese Organisationsgestaltung durchaus sinnvoll. Aber die Veränderung gegenüber den bisherigen Vorstellungen parlamentarischer und Regierungskontrolle gilt es gleichwohl im Auge zu behalten; auf die Notwendigkeit der Neuformulierung bestimmter Grunddogmen – wie etwa der Verwaltungslegitimation – kann hier nur hingewiesen werden.45 Es liegt auf der Hand, dass das bisherige Legitimationsmodell mit seiner eher einfachen, an nationalen Steuerungszusammenhängen ausgerichteten Konzeption zumindest teilweise aufgesprengt und auch deshalb neu überdacht werden muss, gerade weil sich die Verwaltungsräume nicht mehr so säuberlich trennen lassen, wie es das Modell an sich voraussetzt.
1. Die Spielräume der NRB und nationales Verfassungsrecht Durchaus konsequente Folge dieser veränderten Verwaltungsarchitektur und der mit ihr verbundenen partiellen Herauslösung der NRB aus dem nationalen Steuerungszusammenhang ist die Zuweisung von für das deutsche Recht ungewöhnlichen Gestaltungsspielräumen an die Regulierungsbehörde. Die Möglichkeit zur Auferlegung von Vorabverpflichtungen auf der Grundlage der Marktanalyse und im Lichte der Ziele überlässt den NRB die bisher dem nationalen Gesetzgeber zukommenden Gestaltungsmöglichkeiten, der in die Rolle eines Gewährleisters des von den Richtlinien vorgesehenen Instrumentariums zurückgestuft wird. Gerade an diesem Punkt wird die Friktion zum nationalen Verwaltungsrechtsmodell klassischer Prägung deutlich. Insofern verwundert es nicht, dass gerade in der deutschen Diskussion versucht wird, den Gesetzgeber zu ermutigen, die Spielräume der RegTP im neuen TKG vorzuprägen und einzuengen.46 Darin sind sich ausnahmsweise die Deutsche Telekom AG und ihre Wettbewerber einig. Fürchten die einen um die Wirksamkeit des Rechtsschutzes gegenüber Regulierungsmaßnahmen, so besorgt die anderen eine wie auch immer motivierte Zurückhaltung der Regulie44 Dazu Trute, Gemeinwohlsicherung im Gewährleistungsstaat, in: Schuppert / Neidhardt (Hrsg.), Gemeinwohl – auf der Suche nach Substanz, 2002, S. 329, 333 ff. 45 Dazu bereits Schmidt-Aßmann (Fn. 7), S. 27 46 Vgl. dazu etwa Koenig / Loetz / Neumann (Fn. 30).
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rungsbehörden zu Lasten fairer Wettbewerbsbedingungen. Nun mag man angesichts der Regulierungspraxis und ihrer gerichtlichen Kontrolle Verständnis für beide Positionen haben, aber auffällig ist doch, wie sehr die Vorschläge zur Eingrenzung des Spielraums an der Architektur des Regulierungsverbundes vorbeigehen und damit zwangsläufig in europarechtliche Grauzonen führen. Ungeachtet dessen wird die Wesentlichkeitslehre in Anschlag gebracht, nach der der Gesetzgeber verpflichtet ist, zumal in grundrechtsrelevanten Bereichen die wesentlichen Entscheidungen selbst zu treffen und nicht der Exekutive zu überlassen.47 Außerdem – und in die gleiche Richtung einer Eingrenzung exekutivischer Handlungsspielräume wirkend – wird über Art. 19 Abs. 4 GG das Modell umfassender gerichtlicher Kontrolle der Exekutive in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht aufgerufen.48 Beides wirkt in Richtung einer umfassenden Verrechtlichung der Exekutive, für die es gute historische Gründe gegeben haben mag49, die aber bereits im nationalen Kontext der Komplexität und Situativität der Verwaltungsentscheidungen in vielen Sachbereichen nicht gerecht wird50 und vor allem die Funktion der Exekutive als Rechtsproduzent unzureichend berücksichtigt.51 Die sich daran sub specie der Wesentlichkeitslehre und des Parlamentsvorbehaltes abarbeitende Kritik ist zwar schon wegen der Verpflichtung zur effektiven Umsetzung des europäischen Rechts und seines Anwendungsvorranges nicht ohne weiteres überzeugend und könnte nur dort Bedeutung gewinnen, wo die Umsetzungsspielräume des nationalen Rechts liegen. Ohnehin ist aber der Parlamentsvorbehalt in Gestalt der insgesamt bisher wenig strukturbildenden Wesentlichkeitslehre zu reformulieren und stärker auf die Leistungen des Gesetzes und die Funktion der Exekutive und ihre Handlungsbedingungen einzustellen. 52 Es liegt auf der Hand, dass insbesondere in entwicklungsoffenen und dynamischen Bereichen eine materielle Vorprägung der Verwaltungsentscheidungen durch den Gesetzgeber letztlich unzureichend bleiben muss und daher eine Prozeduralisierung unausweichlich ist.53 Insoweit kann das Gesetz zwar Ziele und Kriterien vorgeben, aber 47 BVerfGE 40, 237, 239; 43, 165, 192; 47, 46, 78 ff.; 49, 89, 126; 57, 295, 320; 73, 118, 153; 90, 60, 104; 98, 218 ff.; zur Notwenigkeit der Fortentwicklung jüngst Ladeur / Gostomzyk, Der Gesetzesvorbehalt im Gewährleistungsstaat, Die Verwaltung 2003, S. 141 ff. 48 Vgl. jüngst Holznagel, Rechtsschutz und TK-Regulierung im Referentenentwurf zum TKG: neue Ansätze für eine Verfahrensbeschleunigung, MMR 2003, S. 513 ff. 49 Dazu und zu den gerade im Kontext einer europäisierten Verwaltung problematischen Annahmen Wahl, Die zweite Phase des öffentlichen Rechts in Deutschland: die Europäisierung des öffentlichen Rechts, Der Staat 38 (1999), S. 495 ff.; Trute, Herausforderungen an die Verwaltungsgerichtsbarkeit, Festschrift zum 100-jährigen Jubiläum des Sächsischen Oberverwaltungsgerichts, S. 23, 24 ff. 50 Ladeur / Gostomzyk (Fn. 46), S. 160 ff. 51 Dazu Trute, Methodik der Herstellung und Darstellung verwaltungsrechtlicher Entscheidungen, in: Schmidt-Aßmann / Hoffmann-Riem (Hrsg.), Methodik der Verwaltungsrechtswissenschaft, 2003 (i. E.). 52 Ausführlich Ladeur / Gostomzyk (Fn. 46), S. 160 ff. 53 Dazu Ladeur / Gostomzyk (Fn. 46), S. 160 ff.
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angesichts der Komplexität der zu verarbeitenden Faktoren und der Informationen, die erst im Zusammenwirken mit den Adressaten der Verwaltungsentscheidung generiert werden können, kann und muss der Gesetzgeber letztlich stärker die prozedurale Seite der Verwaltungsentscheidungen festlegen. Insoweit wäre die Wesentlichkeitslehre denn auch stärker auf diesen Aspekt hin zu entwickeln, statt über unrealistische Bindungsvorstellungen materieller Art eher symbolisch denn wirklich Rechtssicherheit und Vorhersehbarkeit der Verwaltungsentscheidungen gewährleisten zu können.54 Wenn der rechtliche Rahmen im Interesse marktangepasster Regulierung stärker flexibilisiert wird, dann sind Gestaltungsspielräume der nationalen NRB – wie gesehen – unvermeidlich und sinnvoll. Situative Ankoppelung der Regulierung an die jeweilige Marktentwicklung ist ohne hinreichende Gestaltungs- und Prognosespielräume der NRB nicht zu haben. Darin steckt denn auch der richtige Kern des europäischen Konzepts. Insoweit ist zweierlei bedeutsam. Auch dieses kompensiert – erstens – materiell-rechtliche Spielräume durch europäisierte Verfahren. Wenn etwas aus der Genese des Richtlinienpakets deutlich wird, dann ist es die Spannungslage von notwendiger Flexibilität der Regulierung im Interesse marktangepasster, und deswegen angesichts der Dynamik der Entwicklung notwendig situativer und temporärer Instrumente einerseits, die Notwendigkeit der Harmonisierung der Rechtsanwendung im Interesse einer einheitlichen europäischen Regulierungskultur, die damit auch Rechtssicherheit bietet, andererseits.55 Und es ist ja nicht zu übersehen, dass durch die Einrichtung eines „peer review“ der nationalen Regulierungsbehörden unter Einschluss der Europäischen Kommission eine neue Form der Verwaltungsöffentlichkeit und Verwaltungskontrolle in Europa geschaffen wird, die gleichsam als Gegengewicht zu den Spielräumen auf nationaler Ebene wirken kann und soll.56 Darüber hinaus – und zweitens – lässt das Richtlinienpaket dem nationalen Umsetzungsgesetzgeber jenseits des europäisierten Verfahrens des Regulierungsverbundes weite Spielräume für prozedurale Regelungen. Insoweit kann also gerade durch eine nationale Ausprägung des Verfahrens einiges zur Kompensation der materiell-rechtlichen Spielräume beigetragen werden. Hinweise dazu gibt es sowohl in der Regulierungspraxis als auch in dem Referentenentwurf zur Umsetzung. Zum einen erweist die Regulierungspraxis selbst die Notwendigkeit der Ausbildung von Konzepten in einem komplexen iterativen Verfahren, etwa im Rahmen der Entgeltregulierung,57 die ihrerseits einen Rahmen für die Einzelentscheidungen Ladeur / Gostomzyk (Fn. 46), S. 160 ff. Vgl. dazu oben bei Fn. 7 ff. 56 Dazu kritisch Koenig / Loetz / Neumann (Fn. 30), S. 12, die freilich die Wirkungsweise unzureichend analysieren und deswegen im Interesse einer national einheitlichen Lösung dem Gesetzgeber größere Umsetzungsspielräume zuerkennen wollen, als er sie nach dem Richtlinienrecht hat. 57 Vgl. Trute, Das Telekommunikationsrecht – Eine Herausforderung für die Verwaltungsgerichte, in: Schmidt-Aßmann / Sellner / Hirsch / Kemper / Lehmann-Grube (Hrsg.), Festgabe 50 Jahre Bundesverwaltungsgericht, S. 857 ff. 54 55
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abgeben. Ähnliche Ansätze finden sich im Referentenentwurf zum TKG.58 Das mag unzureichend sein, weist aber in die richtige Richtung. Insoweit wäre sub specie der Wesentlichkeitslehre dann allerdings weniger auf die materiellen Spielräume abzustellen, die ohnehin zu einem guten Teil europarechtlich vorgeprägt sind. Vielmehr wäre eher zu fragen, ob denn das Zusammenwirken von kohärenzsichernden europäischen Verfahren und nationalen Verfahrensregelungen geeignet ist, hinreichende Vorhersehbarkeit und Stabilität der Regulierung zu gewährleisten. Insoweit wäre etwa die Wesentlichkeitslehre auch auf das Zusammenwirken von nationalem und europäischem Recht einzustellen. Daran wäre dann auch der Kontrollzugriff der nationalen Gerichte bei der Überprüfung von Regulierungsmaßnahmen zu orientieren. Diese werden kaum umhinkommen, größere Gestaltungsspielräume der RegTP und die Prozeduralisierung der Maßstabsbildung anzuerkennen und ihren Kontrollansatz darauf einzustellen. 2. Die gerichtliche Kontrolle im Regulierungsverbund Auch im Übrigen bleibt die gerichtliche Kontrolle von der Einbettung der NRB in den europäischen Regulierungsverbund nicht unberührt.59 An sich sind Kontrollzuständigkeit und Verwerfungsbefugnis im Rechtsschutzsystem des EG-Vertrages nach den unterschiedlichen Ebenen, denen die Gerichte angehören, geschieden. Sie folgen damit einem klaren Trennungsprinzip. Gegenstand der Kontrolle durch deutsche Gerichte sind danach nur Maßnahmen deutscher öffentlicher Gewalt im Sinne des Art. 19 Abs. 4 GG. Dazu zählen bekanntlich auch die Handlungen deutscher Behörden auf der Grundlage des EG-Rechts. Demgegenüber werden die ausländischen, zwischenstaatlichen oder supranationalen Einrichtungen dem Grundsatz nach nicht durch deutsche Gerichte kontrolliert. Hier sind die europäischen Gerichte zuständig für Maßnahmen der EG-Organe. Diese fallen gemäß Art. 230 ff. EGV in die Zuständigkeit dieser Gerichtsebene, also des EuGH und des EuG. Dies ist, wie sich aus Art. 240 EGV ergibt, eine ausschließliche Zuständigkeit. Soweit ein Fall indirekten Vollzugs des Gemeinschaftsrechts vorliegt, also das Recht der europäischen Gemeinschaften von einer mitgliedstaatlichen Behörde vollzogen wird, ist damit im Grundsatz der Rechtsschutz vor den mitgliedstaatlichen Gerichten möglich. Etwaige Fragen der Auslegung des dem nationalen Vollzug zugrunde liegenden Gemeinschaftsrechts können dann mit Hilfe des Vorabentscheidungsverfahrens gemäß Art. 234 EGV geklärt werden.60 Vgl. etwa § 118 Abs. 2 TKG-RefE Allgemein zum effizienten Rechtsschutz in vergleichbaren Fällen Röhl, Jura 2003, (i.E.). 60 Allgemein zu den Folgen, die sich durch eine Durchbrechung des Trennungsprinzips ergeben Röhl, Effektiver Rechtsschutz gegenüber Europäischer Verwaltung, (noch unveröffentlichtes Manuskript). 58 59
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Soweit demgegenüber verbindliche Maßnahmen der EG-Organe, im Telekommunikationsrecht also vor allem verbindliche Kommissionsmaßnahmen vorliegen, unterliegen diese nach dem Trennungsprinzip keiner nationalen gerichtlichen Kontrolle, sondern der Kontrolle durch die europäischen Gerichte. Dies gilt etwa für Vetoentscheidungen im Rahmen des Art. 7 Abs. 4 RahmenRL oder die Festlegung länderübergreifender Märkte im Rahmen von Art. 15 Abs. 4 RahmenRL. Deutlich schwieriger ist demgegenüber die Beantwortung der Frage nach der verwaltungsgerichtlichen Kontrolle, wenn die Entscheidungen der nationalen Regulierungsbehörden auf einzelnen Elementen der Zusammenarbeit im Regulierungsverbund aufbauen, die nicht als förmliche Entscheidung ausgewiesen sind. Hier zeigt sich die Verschleifung der Verwaltungsebenen, auf die das Rechtsschutzsystem eingestellt werden muss. Dies gilt etwa bei spezifischen Vorschlägen zur Änderung des Maßnahmenentwurfs in Art. 7 Abs. 4 S. 4 2. Hs. RahmenRL, den Empfehlungen nach Maßgabe des Art. 15 Abs. 1 RahmenRL, den Leitlinien im Rahmen des Art. 15 Abs. 2 RahmenRL und den Empfehlungen der Kommission zur Harmonisierung nach Art. 19 RahmenRL. Nur soweit diese einzelnen Handlungen sich entgegen ihrer äußeren Form als verbindliche Entscheidungen darstellen lassen, bestünde wiederum ein Verwerfungsverbot. Insoweit gilt es, die Wirkungsweise der Zusammenarbeit im Rahmen des europäischen Regulierungsverbundes in Rechnung zu stellen. Gerade im Zusammenhang mit den Konsultationsverfahren nach Art. 7 Abs. 3, 5 RahmenRL werden damit durchaus intrikate Rechtsschutzfragen aufgeworfen. Die weitestgehende Berücksichtigungspflicht der Stellungnahmen, jedenfalls derjenigen der Europäischen Kommission, rückt diese in die Nähe von anderen Stellungnahmen und Empfehlungen, für die die Rechtsprechung des EuGH ungeachtet des Art. 230 Abs. 1 EGV durchaus Rechtsschutz im Rahmen der Nichtigkeitsklage nach Art. 230 EGV gewährt, wenn ein Akt nicht lediglich bereits geltendes Recht erläutert, sondern gegenüber Dritten, z. B. den Mitgliedstaaten, den Anspruch erhebt, dass eine gemeinschaftsrechtliche Pflicht zur Beachtung besteht.61 Auch wenn für die Beurteilung der Rechtswirkung zum Teil auf den Inhalt, zum Teil auch auf den Kontext der jeweiligen Handlung abgestellt wird und insofern nicht eindeutig ist, wonach sich die Wirkung bemisst, spricht die Systematik für eine Einbeziehung in die Nichtigkeitsklage, jedenfalls des Art. 230 Abs. 1 EGV. Ähnliches gilt für Leitlinien für den Fall, dass sie Rechtswirkungen und sei es auch nur eine Selbstbindung der Kommission beinhalten.62 Auch daran wird man angesichts der dargestellten Wirkungsweise nicht zweifeln können. Intrikater ist freilich die Frage, inwieweit ein nationales Gericht die Stellungnahmen der Kommission und der anderen nationalen Regulierungsbehörden im Hinblick auf ihre Europarechtskonformität überprüfen kann und damit gegebenenfalls – wegen mangelnder Europarechtskonformität – von der weitestgehenden Be61 EuGH, Rs C-57 / 95, Slg. 1997, I-1627, Rn. 13 ff. (Frankreich / Kommission); Cremer, in: Calliess / Ruffert, EUV / EGV, Art. 230 Rn. 14. 62 EuGH, Rs C-135 / 93, Slg. 1995, I-1651, Rn. 29 (Spanien / Kommission).
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rücksichtigungspflicht ausschließen kann. Der ursprüngliche Kommissionsentwurf 63 hatte ebenso wie der Gemeinsame Standpunkt des Rates64 den Charme der Klarheit für sich. Ersterer sah ein zweistufiges Verfahren vor, bei dem die NRB die Stellungnahme der anderen NRB weitestgehend berücksichtigen und erst danach diesen Maßnahmeentwurf der Kommission vorzulegen hatte, die diesen durch ein Veto blockieren und die NRB zur Zurückziehung des Maßnahmeentwurfes auffordern konnte. Damit hätte eine verbindliche Entscheidung der Kommission vorgelegen, die der Kontrolle der Gemeinschaftsgerichte, nicht der nationalen Gerichte unterlegen hätte. Umgekehrt hätte die Verwirklichung des gemeinsamen Standpunktes die Berücksichtigungspflicht weitestgehend zurückgenommen und gegenüber der Kommission nur eine Begründungspflicht bei Abweichungen angenommen, ohne dass hier eine wie auch immer geartete materielle Verbindlichkeit geschaffen worden wäre. Durch den vom Europäischen Parlament vorgeschlagenen und jetzt Geltung erlangten Art. 7 Abs. 3, 5 RahmenRL wird für die Stellungnahmen der Europäischen Kommission und der anderen NRB eine einheitliche, nicht in zweistufige Verfahren aufgelöste Pflicht zur weitestgehenden Berücksichtigung geschaffen. Blickt man zunächst nur auf die Stellungnahme der Europäischen Kommission, so liegt es angesichts der Pflicht zur weitestgehenden Berücksichtigung nahe, anzunehmen, diese unterliege nicht der Überprüfung durch die nationalen Gerichte im Hinblick auf ihre Europarechtskonformität. Vielmehr habe das nationale Gericht das Vorabentscheidungsverfahren nach Maßgabe des Art. 234 EGV zu beschreiten. Es besteht kein Zweifel, dass das nationale Gericht als funktionelles Gemeinschaftsgericht auch für Stellungnahmen der Kommission vorlageberechtigt im Sinne des Art. 234 EGV ist.65 Eine andere Frage ist freilich die nach der Vorlagepflicht auch nicht letztinstanzlicher Gerichte für den Fall, dass sie zum Ergebnis einer Ungültigkeit der Maßnahme der Kommission kommen. Hier dürften im Einklang mit der Foto-Frost-Entscheidung des EuGH66 im Hinblick auf die einheitliche Anwendung des europäischen Rechts, die Rechtssicherheit und das im Rechtsschutzsystem des Vertrages angelegte Verwerfungsmonopol die nationalen Gerichte nicht befugt sein, selbst die Ungültigkeit von Handlungen der Gemeinschaftsorgane festzustellen. Das freilich besagt noch nichts über die gerichtliche Kontrolle der Stellungnahmen der anderen nationalen Regulierungsbehörden, die ebenfalls – wie gesehen – weitestgehend zu berücksichtigen sind. Insoweit sind die nationalen Gerichte kaum schon aufgrund der allgemeinen europarechtlichen Grundsätze gehindert, diese im Hinblick auf ihre Europarechtskonformität einer Prüfung zu unterziehen. Kann das Gericht einzelne Stellungnahmen damit gleichsam aus der Masse der StellungnahVgl. Fn. 10. Vgl. Fn. 13. 65 EuGH, Rs 113 / 75, Slg. 1976, 953, Rn. 8 f. (Frecassetti); Rs C-188 / 91, Slg. 1993, I-363, Rn. 18 (Deutsche Shell); Wegener, in: Calliess / Ruffert, EUV / EGV, Art. 234 Rn. 5. 66 EuGH, Rs. 314 / 85, Slg. 1987, 4199, Rn. 11 ff. 63 64
Der europäische Regulierungsverbund in der Telekommunikation
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men herausnehmen und damit das, was weitestgehend zu berücksichtigen ist, variieren? Dies sind Untiefen, die bei der Kompromisslösung des Europäischen Parlaments, so wie sie nun einmal geltender Richtlinientext geworden ist, nicht zureichend berücksichtigt worden sind. Jede Lösung steht daher vor dem Problem, entweder die Harmonisierungsziele des Europäischen Regulierungsverbundes zu verfehlen oder aber Rechtsschutzlücken aufzureißen, die jedenfalls nach der Lösung des ursprünglichen Kommissionsentwurfes vermieden worden wären. Hier wird man zunächst einmal auf die Wirkungsweise des Regulierungsverbundes setzen müssen, der die Verpflichtung zu einer kohärenten Anwendung enthält. Daraus könnte eine verfahrensmäßige Pflicht zur Herbeiführung einer einheitlichen oder doch zumindest weitgehend einheitlichen Lösung anzunehmen sein. Wo diese gelingt, stellt sich das Problem nicht. Das entspricht dem Telos des europäischen Regulierungsverbundes, bedeutet aber auch, dass dort wo der institutionelle Mechanismus keine Einheitlichkeit bietet, grundsätzlich die Kontrolle der Gerichte sich auch auf die Europarechtskonformität der Stellungnahmen einzelner nationaler Regulierungsbehörden erstreckt mit der Folge, dass diese gegebenenfalls von ihrer Berücksichtigungspflicht ausgeschlossen werden können.67 Es liegt auf der Hand, dass dies nicht dem Ziel der kohärenten Anwendung der RahmenRL entspricht, wenn die nationalen Gerichte jeweils die Stellungnahmen anderer NRB ggf. mit unterschiedlichen Ergebnissen in vergleichbaren Fragen verwerfen könnten. Hier spricht manches dafür, den NRB, die anders als die nationalen Gerichte, in den kohärenzsichernden Regulierungsverbund einbezogen sind, einen Bewertungsspielraum hinsichtlich der weitestgehenden Berücksichtigung einzuräumen, der sie in die Lage versetzt, über den Regulierungsverbund auf eine Einheitlichkeit zu drängen. Insoweit wird man bei evidenten Rechtsfehlern eher von einem Bescheidungsurteil der nationalen Gerichte ausgehen müssen, durch das die NRB verpflichtet wird, vor dem Hintergrund der Auffassung des Gerichts erneut über die weitestgehend zu berücksichtigenden Stellungnahmen zu entscheiden. Dafür spricht nicht zuletzt, dass die Auferlegung von Vorabverpflichtungen als Abwägungsentscheidung zu konzipieren ist, die nicht zuletzt durch die Regulierungsziele geprägt werden, zu denen dann wiederum das Kohärenzziel gehört, das einen Abwägungsgesichtspunkt unter anderen abgibt. Dagegen lässt sich nicht einwenden, dass auch das mitgliedstaatliche Gericht die entsprechenden Stellungnahmen ebenfalls weitestgehend berücksichtigen kann. Eine solche Argumentation berücksichtigt nicht zureichend die Eingliederung der Verwaltung in den oben skizzierten Kommunikationszusammenhang mit dem Ziel der Herstellung einer kohärenten Rechtsanwendung durch kontinuierliche Koope67 Die Prüfung der Akte ausländischer Staatsgewalt ist freilich nicht unumstritten, da zum Teil deren Staatenimmunität als Hinderungsgrund angesehen wird. Indes geht es hier darum, Entscheidungen auf der Grundlage nationalen Rechts zu prüfen, das ausländische Stellungnahmen als Referenzgesichtspunkt einbezieht; deren Europarechtskonformität wird allein aus dem Blickwinkel des jeweiligen nationalen Rechts und des Europarechts beurteilt. Das sollte durch Souveränitätsgesichtspunkte nicht gehindert werden; zum Ganzen Röhl, (Fn. 59).
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ration. Die Verwaltungsgerichte sind in diesem Verbund nicht integriert. Insoweit wird man auch bei Verpflichtungsklagen – etwa auf Aufhebung von Vorabverpflichtungen aufgrund veränderter Marktsituationen – annehmen müssen, dass das angerufene Verwaltungsgericht nur die Verpflichtung aussprechen kann, das Konsultations- und gegebenenfalls Konsolidierungsverfahren nach Maßgabe seiner Rechtsauffassung durchzuführen.68 Damit sind keineswegs alle Rechtsetzungsprobleme aufgeworfen und gelöst, die der neue Rechtsrahmen und seine Umsetzung in nationales Recht mit sich bringen.69 Es sollte aber deutlich geworden sein, dass der kohärenzsichernde Mechanismus des Regulierungsverbundes, gerade weil er in horizontaler wie vertikaler Hinsicht das Trennungsprinzip der Verwaltungsräume in Europa zumindest partiell durchbricht, eine Reihe von Problemen auch hinsichtlich der Rechtsschutzgewährung aufwirft. Die Fortentwicklung zu einem europäischen Verwaltungsraum wird freilich nur dann gelingen, wenn dem auch eine angemessene Rechtsschutzkonzeption entspricht. Ohne einer hypertrophen Rechtsschutzperspektive das Wort reden zu wollen, darf der Einzelne weder über Fallstricke unzuständiger Gerichte stolpern, noch dürfen die nationalen Verwaltungen in ihrem Zusammenwirken mit der Kommission sich in prinzipiell kontrollfreie Bereiche im Interesse ungehinderter Harmonisierung flüchten können.
68 Zu ähnlichen Problemstellungen vgl. Caspar, Zur Vergemeinschaftung von Verwaltungsverfahren am Beispiel von Gentechnik- und reformiertem Lebensmittelrecht, DVBl. 2002, S. 1437, 1439. 69 Vgl. etwa aus der Perspektive vor allem des nationalen Rechts Holznagel (Fn. 47).
III. Finanzverfassung
Sparen auf Pump? – Darf der Staat Kredite zur Verwendung in späteren Haushaltsjahren aufnehmen? Von Dieter Birk
I. Das Problem Nach allgemeinen Grundsätzen, die in Bund und Ländern gleichermaßen gelten, muss der Haushalt des Bundes und der Länder in Einnahmen und Ausgaben ausgeglichen sein (Art. 110 Abs. 1 Satz 2 GG). Einnahmen können aus Steuern und sonstigen Abgaben, aber auch aus aufgenommenen Krediten stammen. Werden die im Haushaltsplan angesetzten Einnahmen nicht vollständig im jeweiligen Haushaltsjahr ausgegeben, so verbleibt ein Überschuss. Ob dieser Überschuss aus Steuereinnahmen oder aus Krediten stammt, ist i.d.R. nicht klar feststellbar, da bei der Deckung der Ausgaben nicht unterschieden wird, woher die Deckung kommt. Nur in Fällen, in denen beispielsweise Kredite in Auslaufzeiträumen des jeweiligen Rechnungsjahres (siehe z. B. § 76 LHO NW) aufgenommen werden, um die in diesen Zeiträumen anfallenden Ausgaben zu decken, und in denen diese Ausgaben tatsächlich nicht anfallen, ist eine eindeutige Zuordnung möglich. Regelmäßig wird der Überschuss aber zumindest teilweise kreditfinanziert sein. Wird der kassenmäßige Überschuss im nächsten Jahr zusammen mit weiteren dann aufgenommenen Krediten in eine allgemeine Rücklage überführt, so verschafft sich der Staat auf diese Weise ein kreditfinanziertes Einnahmenpolster, auf das er in den darauffolgenden Jahren zugreifen kann, wenn die planmäßigen Einnahmen (Steuern und Krediteinnahmen) zur Bestreitung der Ausgaben nicht ausreichen. Der Staat wird versucht sein, dieses Instrument der „Reservefinanzierung“ gezielt einzusetzen, wenn eine Erhöhung der Kreditaufnahme wegen der verfassungsrechtlich festgelegten Kreditobergrenze (Art. 115 Abs. 1 Satz 2 GG) nicht in Betracht kommt. Diese Praxis ist – jedenfalls in den einzelnen Bundesländern – nicht ungewöhnlich, wie das nachfolgende Beispiel aus Nordrhein-Westfalen zeigt. Die daran anschließenden Überlegungen beruhen auf den in Nordrhein-Westfalen geltenden haushaltsrechtlichen Bestimmungen, können aber auf die landesrechtlichen Bestimmungen anderer Bundesländer übertragen werden. Beispiel: Das Land Nordrhein-Westfalen hat im Auslaufzeitraum des Haushaltsjahres 1999 (1. 1. 2000 – 3. 3. 2000) Kredite in Höhe von 2,9 Mrd. DM aufgenommen. In derselben Zeit wurden Ausgaben in Höhe von 260 Mio. DM zu Lasten des Haushaltsjahres 1999
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geleistet. 800 Mio. verblieben als kassenmäßiger Überschuss und wurden nicht verausgabt. Dieser Betrag wurde im Haushaltsplan 2000 als Einnahme verbucht. Zugleich wurde im Haushaltsgesetz 2000 geregelt, dass dieser Betrag zusammen mit weiteren Haushaltsmitteln (Mehreinnahmen bzw. Minderausgaben im Jahr 2000, die 1,5 Mrd. DM ausmachten) in eine Allgemeine Rücklage eingestellt werden sollte.1 Im Haushaltsgesetz 20012 war dann die Ausschöpfung der Allgemeinen Rücklage vorgesehen. Tatsächlich enthielt diese Allgemeine Rücklage einen Betrag von 2,3 Mrd. DM. Die im Haushaltsgesetz 2001 festgesetzte Nettoneuverschuldung lag um 0,5 Mrd. DM unter der verfassungsrechtlich vorgeschriebenen Kreditobergrenze (Investitionsvolumen). Zieht man jedoch die Ausschöpfung der – zumindest teilweise aus Kreditmitteln gespeisten – Allgemeinen Rücklage in Betracht, wurde die Kreditobergrenze überschritten.
Für diese Art des „Sparens auf Pump“ stellen sich einfachrechtliche und verfassungsrechtliche Fragen. Zunächst könnte die Erwirtschaftung eines kassenmäßigen Überschusses aus Krediteinnahmen und die Einstellung in eine Rücklage gegen Vorschriften des Haushaltsrechts, aber auch gegen haushaltsverfassungsrechtliche Grundsätze verstoßen. Zudem könnte die Bildung einer Rücklage im Haushaltsgesetz und die Ausschöpfung dieser Rücklage in späteren Haushaltsjahren Veranschlagungsgrundsätze des Haushaltsverfassungsrechts verletzen.
II. Die Bildung einer Rücklage zur Vorsorge gegenüber Engpässen in künftigen Haushaltsjahren 1. Ausschöpfung von Kreditermächtigungen im Haushaltsvollzug zur Erwirtschaftung eines Überschusses (Kreditaufnahme auf Vorrat) Der Haushaltsgesetzgeber kann die notwendigen Ausgaben nur dadurch abdecken, dass er im Haushaltsplan neben den originären Einnahmen des Staates aus Steuern die Exekutive auch zur Kreditaufnahme ermächtigt. Werden jedoch in einem Jahr Kreditermächtigungen ausgeschöpft, die zur Ausgabenfinanzierung in diesem Jahr nicht erforderlich sind, so stellt sich die Frage, ob die Bildung eines solchen Überschusses im Haushaltsvollzug mit Grundsätzen des Haushaltsrechts zu vereinbaren ist. Gemäß § 18 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 LHO bestimmt das Haushaltsgesetz, bis zu welcher Höhe Kredite zur Deckung von Ausgaben aufgenommen werden dürfen. Diese sog. Deckungskredite haben im Gegensatz zu Kassenverstärkungskrediten3 keine andere Funktion, als Finanzmittel für tatsächlich zu leistende Ausgaben zur Verfügung zu stellen. Fallen keine Ausgaben an, darf die Ermächtigung nicht in Anspruch genommen werden. Dies ergibt sich nicht nur aus dem Wortlaut dieser 1 2 3
Jahresbericht des LRH 2001, S. 241. GV. NRW 2001, 171. Giesen / Fricke, Haushaltsrecht Nordrhein-Westfalen, § 18 LHO, Anm. 6, 1972.
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Vorschrift, sondern auch aus der Funktion der Kreditaufnahme, die nur eine subsidiäre Einnahmequelle des Staates ist. „Krediteinnahmen sind nur vorläufige Einnahmen, die künftige Steuereinnahmen antizipieren. Sie verlagern die Finanzierungsverantwortung für heutige Ausgabenbedürfnisse in die Zukunft“.4 Eine Haushaltsdeckung durch Kredit ist deshalb nur zulässig, wenn sie unvermeidbar ist, d. h. wenn reguläre Einnahmen nicht zur Verfügung stehen. Daraus folgt, dass Kreditermächtigungen nicht in Anspruch genommen werden dürfen, wenn sie nicht zur Ausgabendeckung verwendet werden. Eine Kreditaufnahme „auf Vorrat“ ist unzulässig.5 Allerdings ergibt sich aus § 18 Abs. 3 LHO, dass die Kreditermächtigungen bis zum Ende des nächsten Haushaltsjahres „weitergelten“. Zweck des § 18 Abs. 3 Satz 1 LHO ist es, eine kontinuierliche Kreditwirtschaft in den Fällen des Nothaushaltsrechts sowie für sog. Ausgabenreste6 zu gewährleisten. Aus dieser eingeschränkten Zweckbestimmung wird abgeleitet, dass fortgeltende Kreditermächtigungen nicht zur uneingeschränkten Einnahmeerzielung in späteren Haushaltsjahren zur Verfügung stehen.7 Wie immer man zu dieser restriktiven Auslegung stehen mag, die Vorschrift regelt jedenfalls einen anderen Fall: Während bei Anwendung des § 18 Abs. 3 LHO die Ermächtigung zur Vereinnahmung von Kreditmitteln in das folgende Haushaltsjahr übertragen wird, um daraus später Krediteinnahmen für die Ausgabendeckung zu erzielen, werden im Falle der Kreditaufnahme zur Überschussbildung tatsächlich Kredite in Anspruch genommen (und damit Einnahmen erzielt) und im Wege eines kassenmäßigen Überschusses auf die folgenden Haushaltsjahre übertragen. Hierauf ist § 18 Abs. 3 LHO nicht anwendbar. Man könnte versuchen einzuwenden, dass die Bildung eines Überschusses im Haushaltsvollzug ein wünschenswertes Ergebnis ist und aufgrund des Prinzips der Gesamtdeckung (Non-Affektation) gar nicht festgestellt werden könne, ob der Überschuss nicht auf entsprechende Sparanstrengungen zurückzuführen sei. Gemäß § 8 Abs. 1 LHO dienen grundsätzlich alle Einnahmen, also sowohl Steuern als auch Krediteinnahmen, als Deckungsmittel für alle Ausgaben. Aus diesem Gebot der Non-Affektation lassen sich jedoch keine Folgerungen für die Verwendung von Überschüssen aus Krediten ziehen. Dieses Prinzip erschwert nur auf der tatsächlichen Ebene die Feststellung, ob der erzielte Überschuss aus der Kreditauf4 Dazu ausführlich Jahndorf, Grundlagen der Staatsfinanzierung durch Kredite und alternative Finanzierungsformen im Finanzverfassungs- und Europarecht – Formenstrenge und Gestaltungsspielräume im Haushalts- und Staatsschuldenrecht sowie Reformüberlegungen unter Einbeziehung der Haushaltssysteme Frankreichs und Englands, Heidelberg 2003, S. 87 ff. 5 Jahndorf, (Fn. 4), S. 87 ff. 6 Vgl. hierzu Höfling, Staatsschuldenrecht, Heidelberg 1993, S. 78 ff. 7 Birk / Wolffgang, Zur Verfassungsmäßigkeit der Inanspruchnahme der nach § 18 Abs. 3 S. 1 LHO NW fortgeltenden Kreditermächtigungen, Schriftenreihe des Bundes der Steuerzahler NRW e.V., Nr. 14, Düsseldorf 1984, S. 31.
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nahme stammt. Lässt sich jedoch – wie in dem oben (unter I.) angeführten Beispiel, in dem die Kredite im Auslaufzeitraum des Haushaltsjahres aufgenommen wurden – eindeutig belegen, dass der Kreditaufnahme keine entsprechenden Ausgabenbedürfnisse gegenüberstanden, so besteht dieses Feststellungsproblem nicht. Der Überschuss resultiert aus der Kreditaufnahme und hätte damit nicht erwirtschaftet werden dürfen. Aber auch soweit nicht festgestellt werden kann, ob es sich um einen steuer- oder kreditfinanzierten Überschuss handelt, wird in einer neueren Untersuchung vertreten, dass dieser Überschuss immer als auf Krediteinnahmen beruhend angesehen werden müsse, da auch der Haushalt immer teilweise kreditfinanziert sei. Die Zuordnung des Überschusses zu den Krediteinnahmen folge aus der verfassungsrechtlichen Wertung, „dass Steuern und Kredite nicht gleichrangig nebeneinander stehen und Überschüsse deshalb nicht proportional gewichtet werden dürfen“.8 Danach wäre unabhängig vom Nachweisproblem stets der erwirtschaftete Überschuss als kreditfinanziert anzusehen. Die Erwirtschaftung eines Überschusses durch Kredit ist zudem mit den Gebot der Wirtschaftlichkeit (§ 7 Abs. 1 LHO, § 6 Abs. 1 HGrG) nicht vereinbar. Geht man davon aus, dass selbst bei günstigster Verwendung des kassenmäßigen Überschusses durch Anlage als Barmittel eine entsprechende Guthabenverzinsung stets in Höhe von 1,5 bis 2% hinter den aufzubringenden Kreditzinsen zurückbleibt, so ist eine Finanzierung der Schuldendienste für die zusätzlichen Krediteinnahmen durch die Bildung des Überschusses nicht zu leisten. Selbst wenn unterstellt wird, dass ein kassenmäßiger Überschuss in gleicher Höhe einer späteren Senkung der Neuverschuldung diente oder eine spätere Nettokreditaufnahme ersetzte, wäre die Gesamtzinsbelastung – auch im Falle steigender Zinssätze – allein durch die längere Laufzeit des Kredits höher.
2. Einstellung der Kreditmittel in eine Rücklage als Ausgabe Gemäß Art. 83 Satz 2 LVerf, § 18 Abs. 1 LHO sind die Einnahmen aus Krediten grundsätzlich an die Ausgaben für Investitionen gekoppelt. Dies ergibt sich schon daraus, dass sich die Kreditobergrenze aus der Investitionshöhe ergibt. Den Kreditermächtigungen müssen also nicht nur in der Planungsphase, sondern auch in der Phase der Inanspruchnahme entsprechende Ausgaben gegenüberstehen. Fraglich ist, ob die Einstellung der Kreditmittel in eine Rücklage als Ausgabe angesehen werden kann. Unter „Ausgaben“ sind die im Haushaltsplan ausgewiesenen Mittel zu verstehen, die im laufenden Haushaltsjahr kassenwirksam werden.9 Rücklagen dienen hingegen der Bildung einer Kapitalreserve, die erst zu einem späteren Zeitpunkt Jahndorf (Fn. 4), S. 92. Dommach, in: Heuer, Kommentar zum Haushaltsrecht, § 6 BHO, Rn. 2, 34. Lfg., Sept. 2002. 8 9
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die Finanzierung von Ausgaben ermöglichen soll. Die Einstellung der Kreditmittel in eine Rücklage, mag zwar formell, nämlich buchungstechnisch, als Ausgabe erscheinen10, in materieller Hinsicht kann es sich jedoch nicht um Ausgaben handeln. Auch aus § 25 Abs. 2 LHO kann nichts anderes entnommen werden. Nach dieser Vorschrift ist ein Überschuss zur Verminderung des Kreditbedarfs oder zur Tilgung von Schulden zu verwenden oder einer Rücklage nach § 62 LHO zuzuführen. Nach § 62 Abs. 2 Satz 1 kann eine Allgemeine Rücklage gebildet werden. Diese Vorschrift regelt nicht, wie die Einstellung in eine Rücklage zu qualifizieren ist, sondern ordnet lediglich an, was mit Überschüssen zu geschehen hat. Zwar stellt § 25 Abs. 2 LHO drei Verwendungsalternativen dem Wortlaut nach gleichrangig nebeneinander. Sinn und Zweck der Vorschrift kann es aber nur sein, eine ökonomisch sinnvolle, d. h. wirtschaftliche Verwendung der kassenmäßigen Überschüsse sicherzustellen. Dieses Regelungsziel wird nur dadurch erreicht, dass – durch geringere Kreditaufnahme auf der Einnahmenseite – ein Überschuss vermieden wird. Kommt es dennoch zu einem Überschuss, so entspricht es der zweckorientierten Auslegung der Vorschrift, dass dieser zunächst zur Verminderung der Nettokreditaufnahme, bzw. wenn eine Neuverschuldung nicht mehr erforderlich ist, zur Tilgung der Altschulden verwendet wird. Nur subsidiär ist danach die Einbringung von Überschüssen in eine Allgemeine Rücklage möglich. Für diese Auslegung sprechen auch verfassungsrechtliche Erwägungen, die von einer zwingenden generellen Subsidiarität der Kreditaufnahme ausgehen.11 Wenn somit haushaltsrechtlich zwar eine allgemeine Rücklage gebildet werden darf, so darf diese grundsätzlich nicht aus Überschüssen finanziert werden. Werden Überschüsse erwirtschaftet, so sind diese zur Verminderung der Schuldenlast zu verwenden, soweit es rechtlich möglich ist.
3. Bildung einer Rücklage zur „Speicherung“ von Krediteinnahmen Verfassungsrechtlich stellt sich die Frage, ob der Haushaltsgesetzgeber – wie im obigen Beispiel (siehe unter I.) geschehen – überhaupt eine Rücklage zur „Speicherung“ von Krediteinnahmen bilden darf. § 62 Abs. 2 LHO erlaubt die Bildung einer „allgemeinen Rücklage“. Unter Rücklagen versteht die öffentliche Haushaltswirtschaft Geldbestände, die aus der jährlichen Haushaltswirtschaft ausgeschieden wurden, um der Aufgabenerfüllung in näherer oder fernerer Zukunft zu dienen.12 Allgemeine Rücklagen dienen neben der Kassenverstärkung auch der Si10 Zuführungen an Rücklagen sind gem. § 13 Abs. 3 Nr. 2 LHO im Gruppierungsplan bei den Ausgaben gesondert darzustellen. 11 Jahndorf (Fn. 4), S. 85 ff. 12 Faiß, in: Püttner, Handbuch der kommunalen Wissenschaft und Praxis, Bd. 6, 2. Aufl., Berlin 1985, S. 607.
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cherung des Haushaltsgleichgewichts.13 Auf sie kann zurückgegriffen werden, wenn der Haushaltsausgleich weder durch eine weitere Einschränkung der Ausgaben, noch durch zusätzliche Einnahmeverbesserungen herbeigeführt werden kann.14 Die Frage ist jedoch, ob sich nicht aus § 25 Abs. 2 i.V.m. § 62 Abs. 2 und 3 LHO ergibt, dass die Allgemeine Rücklage nur aus „echten“ (d. h. nicht kreditfinanzierten) Überschüssen gebildet werden kann, anders ausgedrückt, ob Überschüsse aus Krediten in eine solche Allgemeine Rücklage eingestellt werden dürfen. Die Frage nach der Zulässigkeit der Bildung einer kreditfinanzierten Rücklage stellt sich auf der Ebene der Haushaltsgesetzgebung und nicht des Haushaltvollzugs. Maßstab für den Gesetzgeber sind das Haushaltsgrundsätzegesetz und die haushaltsrechtlichen Bestimmungen der Verfassung. Gem. Art. 83 Satz 2 LVerf NW dürfen die Einnahmen aus Krediten entsprechend den Erfordernissen des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts in der Regel nur bis zur Höhe der im Haushaltsplan veranschlagten Ausgaben für Investitionen in den Haushaltsplan eingestellt werden. Ziel der Einstellung von Kreditmitteln in eine Rücklage ist es, die Finanzierung von Ausgaben im folgenden Haushaltsjahr sicherzustellen. Im Jahr der Ausschöpfung der Rücklage (also dem Folgejahr) hätten jedoch ohne die Möglichkeit des Zugriffs auf die Rücklage weitere Kreditmittel aufgenommen werden müssen. Führt somit die Ausschöpfung der Rücklage dazu, dass die Kreditobergrenze dieses (nachfolgenden) Haushaltjahres überschritten wird, so stellt sich die Frage, ob Art. 83 Satz 2 LVerf nicht schon durch die Bildung der Rücklage im Haushaltsgesetz des (laufenden) Haushaltsjahres umgangen wird. Beispiel: Im Jahr 1999 ist der Überschuss durch Aufnahme von Krediten erwirtschaftet worden. Im Jahr 2000 wurde er in eine Allgemeine Rücklage eingestellt. Im Jahr 2001 wurde die Rücklage ausgeschöpft, was – rechnet man sie der Nettoneuverschuldung zu – zur Überschreitung der Kreditobergrenze führte. Die Frage ist, ob nicht schon die Bildung der Rücklage im Jahr 2000 – im Hinblick auf den Zweck, durch die „Speicherung“ später (nämlich im Jahr 2001) die Kreditobergrenze überschreiten zu können – gegen Art. 83 Satz 2 LVerf NW verstößt.
Allein aus dem Wortlaut des Art. 83 Satz 2 LVerf NW kann ein solcher Verstoß schwerlich begründet werden. Gem. Art. 83 Satz 2 LVerf NW dürfen die Einnahmen aus Krediten entsprechend den Erfordernissen des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts in der Regel nur bis zur Höhe der im Haushaltsplan veranschlagten Ausgaben für Investitionen in den Haushaltsplan eingestellt werden. Das bloße Einstellen der Überschüsse aus Kreditaufnahmen aus dem Vorjahr in die Allgemeine Rücklage stellt aber wohl noch keine „Einnahmen aus Krediten“ dar, die der Kreditobergrenze des Art. 83 Satz 2 LVerf gegenübergestellt werden können. Dies ergibt sich bereits daraus, dass die Kredite im Vorjahr (unter Einhaltung der verfas13 Piduch, Bundeshaushaltsrecht (Loseblatt, Stand: 38. Lfg., Okt. 2001), Anhang § 62 BHO. 14 Giesen / Fricke (Fn. 3), § 62 LHO, Anm. 3, 1972.
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sungsrechtlichen Kreditobergrenze) aufgenommen und im Jahr der Einstellung in die Rücklage nur „gespeichert“ werden sollen. Da dieses „Speichern“ aber gerade im Hinblick auf das Überschreiten der Kreditobergrenze in späteren Haushaltsjahren erfolgt, stellt sich die Frage, ob nicht unter Rückgriff auf den Grundsatz der zeitlichen Spezialität bzw. des zeitlichen Bepackungsverbots ein Verstoß des Haushaltsgesetzes, in dem die „Speicherung“ vorgesehen ist, gegen Art. 83 Satz 2 LVerf NW in Betracht kommt. Sinn und Zweck des Bepackungsverbots ist es, das Haushaltsgesetzgebungsverfahren von allen Bestimmungen freizuhalten, die nicht unmittelbar die zur Entscheidung anstehende Haushaltswirtschaft betreffen.15 Das zeitliche Bepackungsverbot hat damit als Haushaltsgrundsatz auch den Zweck, zu verhindern, dass unter „Umgehung“ des Grundsatzes der jährlichen Haushaltsplanung in die Haushaltswirtschaft der folgenden Haushaltsjahre eingegriffen wird. Dieser Gedanke der „Missbrauchsverhinderung“ ist gerade hier einschlägig: Die gebildete Rücklage sollte Ausgaben des nachfolgenden Haushaltsjahres sichern und bezieht sich somit der Sache nach auf eine künftige Haushaltsperiode. Damit wird in der laufenden Haushaltsperiode (im obigen Beispiel im Jahr 2000) eine Entscheidung getroffen, die nicht die Haushaltswirtschaft dieses, sondern des nächsten Jahres (im obigen Beispiel das Jahr 2001) betrifft. Die Bildung einer Allgemeinen Rücklage in einem Haushaltsjahr zur Umgehung der verfassungsrechtlichen Kreditobergrenze im nächsten Haushaltsjahr ist rechtsmissbräuchlich und lässt sich vor dem Hintergrund des zeitlichen Bepackungsverbots nicht mit dem Argument der „Vorsorge“ rechtfertigen. Zudem verstößt die Einstellung von Krediteinnahmen in die Allgemeine Rücklage gegen den Grundsatz der Wirtschaftlichkeit, an den auch der Haushaltsgesetzgeber gebunden ist (§ 6 Abs. 1 HGrG, Art. 86 Abs. 2 LVerf NW). Die Prinzipien der Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit sind nach Art. 86 Abs. 2 LVerf NW zwar in erster Linie Prüfungsmaßstäbe der Finanzkontrolle durch den Landesrechnungshof. Die Grundsätze sind aus der Sicht der Rechnungsprüfung entwickelt worden und dienen vor allem der Kontrolle des Haushaltsvollzugs durch den Landtag. Dennoch besteht Einigkeit darüber, dass der auch bundesrechtlich verankerte Rechtsgrundsatz der Wirtschaftlichkeit (vgl. § 6 Abs. 1 HGrG i. V. m. Art. 109 Abs. 3 GG) auch für den Gesetzgeber gilt. Wie bereits ausgeführt, wird eine kreditfinanzierte Rücklage, die ähnlich wie ein kassenmäßiger Überschuss als Guthaben anzulegen ist, in aller Regel gegenüber einer Verwendung zur Verminderung der Nettokreditaufnahme Zinsnachteile bedeuten. „Sparen auf Pump“ über die Bildung einer Rücklage kann nicht wirtschaftlich sein.
15 Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 2, 1982, § 50 III 12, S. 1252 f. m. w. N.
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III. Ausschöpfung der Rücklage jenseits der verfassungsrechtlichen Kreditobergrenze Sinn und Zweck der kreditfinanzierten Rücklage ist es, ein Finanzierungspolster zu schaffen, auf das in späteren Haushaltsjahren zugegriffen werden kann, wenn die Kreditermächtigungen nicht ausreichen, um den Ausgabenbedarf zu befriedigen. Der Haushaltsgesetzgeber ist bei der Festlegung der Kreditermächtigung an die Summe der Investitionen gebunden. Wenn im Gesetzgebungsverfahren der verfassungsrechtliche Spielraum für die Kreditaufnahme ausgeschöpft ist, ohne dass eine Deckung der Ausgaben erreicht wird, ist es willkommen, auf die in der Rücklage „gespeicherten“ Kredite zurückzugreifen. Die Rücklage schafft dann die Spielräume, die eine reguläre Kreditbewirtschaftung nicht eröffnen würde. Schon dies muss Bedenken hervorrufen.
1. Geltung der verfassungsrechtlichen Kreditobergrenze im Haushaltsvollzug Die Kreditobergrenze in Art. 83 Satz 2 LVerf NW gilt ihrem Wortlaut nach (ebenso wie die grundgesetzlich festgelegte Kreditobergrenze in Art. 115 Abs. 1 Satz 2 GG) zunächst nur bei der Aufstellung und Feststellung des Haushaltsplans, die Verfassung legt insoweit dem Haushaltsgesetzgeber im Planungsstadium Beschränkungen auf.16 Ob sie auch von der Exekutive im Haushaltsvollzug zu beachten sind, ist vom BVerfG bisher nicht entschieden worden und im Schrifttum umstritten.17 Mit der überwiegenden Meinung ist davon auszugehen, dass die Kreditobergrenze auch den Haushaltsvollzug bindet, da nur so der Zweck des Art. 83 Satz 2 LVerf NW erreicht werden kann. Dieser besteht darin, die Staatsverschuldung zu begrenzen, was nicht wirksam erreicht werden kann, wenn der Haushaltsvollzug nicht in den Regelungsbereich der Vorschrift einbezogen 16 Maunz in: Maunz / Dürig, Kommentar zum GG, Art. 115 GG, Rn. 43; Piduch (Fn. 13), Art. 115 GG, Rn. 30. 17 Dagegen: Piduch (Fn. 13), Art. 115, Rn. 30; Maunz (Fn. 16), Art. 115, Rn. 43; Patzig, Haushaltsrecht des Bundes und der Länder, Bd. 2, Art. 115 GG Rn. 25, 8. Lfg., 1991. Dafür: Bundesrechnungshof, BT-Drucks. 11 / 7810, S. 18 und 12 / 8490, S. 21; Birk / Wolffgang (Fn. 7), S. 44 f.; Wolffgang, Die Fortgeltung von Kreditermächtigungen nach § 13 Abs. 2 S. 1 HGrG – Grundlagen für eine Schattenkreditwirtschaft, DVBl. 1984, 1049 (1054); Isensee, Schuldenbarriere für Legislative und Exekutive, in: FS Friauf, 1986, S. 705 (722 ff.); von Arnim / Weinberg, Staatsverschuldung in der Bundesrepublik Deutschland, Schriftenreihe des Karl-Bräuer-Instituts des Bundes und der Steuerzahler, Bd. 59, S. 110 f.; Höfling, Staatsschuldenrecht, 1993, S. 340 ff.; Bajohr, Verlustgrenzen und die Wirkung nicht ausgeschöpfter Kreditermächtigungen im Landeshaushalt Nordrhein-Westfalen 1997, DÖV 1999, 399 (404). Kritisch: Kriszeleit / Meuthen, Kredithöchstgrenze und Haushaltsvollzug, DÖV 1995, 461 (465). Für eine einfache Gesetzesbindung aus § 2 BHO: Tiemann, Die verfassungsrechtliche Kreditobergrenze im Haushaltsvollzug, DÖV 1995, 632 (635). Unklar: Fischer-Menshausen, in: von Münch, Grundgesetzkommentar, Bd. 3, Art. 115 GG, Rn. 12, 13; Jahndorf (Fn. 4), S. 182 ff., insbes. 187 ff.
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wird.18 Denn wirtschaftlich wirken sich Kreditermächtigungen erst aus, wenn sie im Haushaltsvollzug tatsächlich in Anspruch genommen werden.19 Würde man den Haushaltsvollzug aus dem Regelungsbereich des Art. 83 Satz 2 LVerf NW herausnehmen, so hätte es der Gesetzgeber im Rahmen seiner Einschätzungsprärogative in der Hand, die Investitionssumme möglichst hoch anzusetzen, um damit den Spielraum für Krediteinnahmen zu erhöhen, und es käme nicht darauf an, ob diese Investitionssumme im Haushaltsvollzug tatsächlich erreicht wird.20 Eine systematische Stütze für die Einbeziehung des Vollzugs in Art. 83 Satz 2 LVerf NW findet sich zudem in Art. 109 Abs. 2 GG, dessen Bindung sich auch auf die Kreditaufnahme gem. Art. 83 Satz 2 LVerf NW erstreckt.21 Art. 109 Abs. 2 GG erfasst die gesamte Haushaltswirtschaft, also sowohl die Haushaltsaufstellung als auch den Haushaltsvollzug.22 Einen neuen Begründungsansatz hat jüngst Jahndorf 23 vorgelegt. Die Frage, ob die Exekutive im Verwaltungsvollzug an das Kredit-Investitions-Junktim gebunden ist, sei eine Frage der Auslegung der Kreditermächtigung des Haushaltsgesetzes. Die Kreditermächtigung des Haushaltsgesetzes enthält keinen Vorbehalt hinsichtlich der Summe der zu tätigenden Investitionsausgaben. Ein solcher Vorbehalt sei aber aus teleologischen Gründen von Verfassungswegen in die Kreditermächtigung des Haushaltsgesetzes hineinzulesen. Der Haushaltsgesetzgeber habe mit seiner Kredit- und Investitionsentscheidung zugleich eine Entscheidung über die Erfordernisse des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts getroffen. Weicht die Regierung im Haushaltsvollzug in der Weise davon ab, dass die Krediteinnahmen die Investitionsausgaben übersteigen, nehme sie eine Gestaltungs- und Haushaltskorrekturkompetenz in Anspruch, die ihr nicht zukomme. Führt der Verwaltungsvollzug zu einem Ergebnis, zu dem der Gesetzgeber die Verwaltung nicht hätte ermächtigen dürfen, sei der Vollzug verfassungswidrig. Was dem Haushaltsgesetzgeber in der gesamtwirtschaftlichen Störungslage nur ausnahmsweise gestattet ist, dürfe die Exekutive nicht als Regelermächtigung für sich in Anspruch nehmen. Denn die Vollzugskompetenz der Verwaltung kann nicht weiter sein als die Ermächtigungskompetenz des Haushaltsgesetzgebers. Die Kreditermächtigung im Haushaltsgesetz ist daher so auszulegen, dass eine Inanspruchnahme nur erfolgen darf, wenn mindestens in entsprechender Höhe Investitionsausgaben getätigt werden. Ein asymmetrischer Haushaltsvollzug verstößt danach gegen die Kreditermächtigung. Isensee (Fn. 17), S. 705 (723). Wolffgang (Fn. 17), DVBl. 1984, 1049 (1054). 20 Jahndorf (Fn. 4), S. 182 ff., insbes. S. 185 f. 21 BVerfG v. 18.04.1989, 2 BvF 1 / 82, BVerfGE 79, 311 (334). Die qualitative Kreditgrenze des Art. 109 Abs. 2 GG, die ein finanzwirtschaftliches Übermaßverbot normiert, wird durch Art. 83 LVerf NW konturiert, indem er der Neuverschuldung eine quantitative Grenze zieht, vgl. Birk, Die finanzverfassungsrechtlichen Vorgaben und Begrenzungen der Staatsverschuldung, DVBl. 1984, 745 (748). 22 Stern (Fn. 15), § 51 III 4, S. 1277. 23 Jahndorf (Fn. 4), S. 182 ff., insbes. S. 187 ff. 18 19
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Wird somit im Haushaltsjahr, das auf die Rücklagenbildung folgt, der verfassungsrechtliche Kreditermächtigungsrahmen ausgeschöpft und außerdem auf die kreditfinanzierte Rücklage zugegriffen, so liegt darin ein Verstoß gegen Art. 83 Satz 2 LVerf NW. Im obigen Beispiel (I.) wurde die kreditfinanzierte Rücklage im Jahr 2000 gebildet. Im Haushaltsgesetz 2001 reichte die Nettoneuverschuldung knapp an die verfassungsrechtliche Kreditobergrenze heran. Zählt man zu den im Haushaltsvollzug tatsächlich auf der Grundlage der planmäßigen Kreditermächtigung aufgenommenen Krediten die Einnahmen aus der Rücklage dazu, so wird die verfassungsrechtliche Kreditobergrenze eindeutig überschritten.
2. Verstoß gegen die verfassungsrechtliche Kreditobergrenze durch den (fiktiven) Ansatz der Rücklage im Jahr der Ausschöpfung Unabhängig von der Frage der Verletzung der verfassungsrechtlichen Kreditobergrenze im Haushaltsvollzug ist zu bedenken, dass die Ausschöpfung der Rücklage auf einem gesetzlich festgelegten Haushaltsansatz beruht. Es ist deshalb zu untersuchen, ob die Rücklage, die im obigen Beispiel im Haushaltsjahr 2000 gebildet wurde, nicht bei der haushaltsgesetzlichen Planung der Nettoneuverschuldung im Jahr 2001 in der Weise hätte berücksichtigt werden müssen, dass das Rücklagenpolster als Teil der Nettoneuverschuldung anzusehen ist, diese also im Ergebnis erhöht. Dafür spricht schon, dass der Haushaltsgesetzgeber die Ausschöpfung der Rücklage mit in seinen Planungsprozess einbezieht und ohne den Transfer von Kreditmitteln die Kreditermächtigung (verfassungswidrig) hätte erhöhen müssen oder die nicht investiven Ausgaben hätte senken müssen. Durch die Rücklage verschafft sich der Gesetzgeber unter Umgehung der für ihn geltenden verfassungsrechtlichen Kreditaufnahmebegrenzungen im Ergebnis zusätzlichen ausgabenwirksamen Spielraum. Schon vom Ergebnis her erscheint es deshalb schlüssig, wenn bei der Ermittlung der Kreditobergrenze die Rücklage mitgerechnet wird oder, anders ausgedrückt, wenn die Rücklage wie der Ansatz einer Kreditermächtigung behandelt wird. Auch für diese Frage ist Maßstab Art. 83 Satz 2 LVerf NW, wonach die Einnahmen aus Krediten die Summe der im Haushaltsplan veranschlagten Ausgaben für Investitionen nicht überschreiten dürfen, sofern keine Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts vorliegt. So wurde im obigen Beispiel (I.) die Kreditobergrenze im Haushaltsplan 2001 nur deshalb nicht überschritten, weil die kreditfinanzierte Rücklage unter Verstoß gegen das zeitliche Bepackungsverbot (siehe oben unter II. 3.) in die Planung des Haushalts 2000 einbezogen wurde. Der Umstand, dass zur Deckung der Finanzierungslücke 2001 auf die Rücklage zurückgegriffen werden musste, zeigt, dass die Lücke anderenfalls nur durch eine erhöhte Kreditaufnahme hätte geschlossen werden können. Eine weitere „reguläre“ Kreditaufnahme wäre aber im Jahre 2001 wegen Überschreitens der Kreditobergrenze
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nicht zulässig gewesen. Wäre also der zusätzliche Kreditbedarf ordnungsgemäß im Haushaltsjahr 2001 veranschlagt worden, so hätte dies eindeutig gegen Art. 83 Satz 2 LVerf NW verstoßen.
Bei formaler Betrachtung ist der Ansatz der Nettoneuverschuldung im Haushaltsplan 2001 maßgeblich; insofern wurde die Kreditobergrenze eingehalten. Bei materieller Betrachtung wurde die Kreditobergrenze jedoch überschritten, da auf die geplante tatsächliche Inanspruchnahme von Krediten zur Deckung von Ausgaben abzustellen ist und deshalb der Ansatz der Nettoneuverschuldung und die kreditfinanzierte Rücklage schon im Planungsprozess als Einheit angesehen werden müssen. Die Frage ist also, ob bei der Auslegung des Art. 83 Satz 2 LVerf NW eine formale oder materielle Betrachtung zugrunde zu legen ist. Diese Frage beantwortet Art. 83 Satz 2 LVerf NW nicht unmittelbar. Die Norm geht jedoch davon aus, dass die Beurteilung der Relation von Krediteinnahmen und Investitionsausgaben im Übrigen auf einer verfassungsmäßig korrekten Veranschlagung sämtlicher Einnahmen und Ausgaben beruht. Dies ergibt sich auch daraus, dass – wie oben ausgeführt (II. 3.) – Art. 83 Satz 2 LVerf NW durch das Prinzip der zeitlichen Spezialität ergänzt wird. Steht – wie im obigen Beispiel – fest, dass der Gesetzgeber durch die Bildung der kreditfinanzierten Rücklage im Jahr 2000 zur Vorsorge für das Jahr 2001 gegen den Grundsatz des zeitlichen Bepackungsverbots verstoßen hat, so kann es für die Beurteilung, ob der Haushaltsansatz für Investitionsausgaben die Einnahmen aus Krediten übersteigt, nur auf eine materielle Betrachtung ankommen. Maßgeblich für die Beurteilung, ob der Gesetzgeber die Grenze des Art. 83 Satz 2 LVerf NW eingehalten hat, können nur diejenigen Haushaltsansätze sein, die der Gesetzgeber bei verfassungsmäßigem Handeln, also ohne den Transfer von Kreditmitteln aus den Vorjahren, hätte anbringen müssen. Durch die Inanspruchnahme der Mittel aus der im Vorjahr gebildeten Rücklage wird – wie ausgeführt – Art. 83 Satz 2 LVerf NW auf verfassungswidrige Weise umgangen. Um eine solche Umgehung wirksam zu unterbinden, müssen nach der ratio des Art. 83 Satz 2 LVerf NW die sich aus der Ausschöpfung der Rücklage ergebenden Einnahmen der Kreditermächtigung hinzugerechnet werden. Auch die Tatsache, dass die Rücklage sowie der in der Rücklage enthaltene kassenmäßige Überschuss des Jahres 1999 durch die Kreditobergrenzen in den Vorjahren gedeckt waren, ändert daran nichts. Denn bei der Beurteilung der Kreditobergrenze ist gem. Art. 83 Satz 2 LVerf NW sowie Art. 109 Abs. 2 GG den Auswirkungen auf das gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht Rechnung zu tragen.24 Die durch die Kreditaufnahme eingenommenen Mittel haben sich aufgrund ihrer „Speicherung“ in der Rücklage noch nicht gesamtwirtschaftlich ausgewirkt. Art. 83 Satz LVerf NW verfolgt ebenso wie die Parallelvorschrift des Art. 115 Abs. 1 Satz 2 GG den Zweck, die Kreditaufnahme effektiv zu begrenzen.25 Die 24 25
Vgl. BVerfG v. 18.4.1989, 2 BvF 1 / 82, BVerfGE 79, 311 (330 ff.). Jahndorf (Fn. 4), S. 103 ff.
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Vorschrift ist als Ausprägung des Übermaßverbots auf dem Gebiet der Finanzwirtschaft des Staates zu verstehen (finanzwirtschaftliches Übermaßverbot).26 Die Frage, ob das finanzwirtschaftliche Übermaßverbot eingehalten wird, kann jedoch nur für dasjenige Jahr beantwortet werden, in dem sich die eingenommenen Mittel durch Verausgabung auf die gesamtwirtschaftliche Situation auswirken.27 Im Ergebnis ist also bei der Auslegung des Art. 83 Satz 2 LVerf NW der materiellen Betrachtung der Vorzug zu geben. Die sich aus der Ausschöpfung der Rücklage ergebenden Einnahmen sind nach Sinn und Zweck des Art. 83 Satz 2 LVerf NW der Kreditaufnahme des Jahres 2001 schon im Planungsstadium hinzuzurechnen. Im obigen Beispiel wird damit im Ergebnis im Jahr 2001 die Kreditobergrenze überschritten, obwohl sich formal die veranschlagte Nettoneuverschuldung unterhalb dieser Grenze hält.28 So sehr also die Überschussbildung durch Sparen bei den Ausgaben zu begrüßen ist: Sind die Überschüsse auf eine Kreditaufnahme zurückzuführen und werden sie über die Rücklagenbildung zur späteren Verausgabung „gespeichert“, so verstößt dies mehrfach gegen haushaltsverfassungsrechtliche Grundsätze. Die Exekutive sollte im Haushaltsvollzug versuchen, nicht mehr Kredite aufzunehmen, als für die anstehenden Ausgaben tatsächlich benötigt werden. Der Gesetzgeber sollte bei der Haushaltsplanung, die sich nicht nur formal an die verfassungsrechtliche Kreditobergrenze hält, die Krediteinnahmen ansetzen, die er tatsächlich zur Deckung der Ausgaben in diesem Haushaltsjahr vorsieht. Dazu gehört die Einbeziehung der kreditfinanzierten Rücklage, auch wenn sie bereits im vorangegangenen Haushaltsjahr gebildet worden ist.
26 Birk, Die verfassungsrechtlichen Vorgaben und Begrenzungen der Staatsverschuldung, DVBl. 1984, 745. 27 Wolffgang (Fn. 17), DVBl. 1984, 1049 (1054). 28 Mittlerweile (nach Ablieferung des Manuskripts) hat auch der VerfGH NW entschieden, dass die Bildung kreditfinanzierter Rücklagen zur Deckung des Finanzbedarfs in künftigen Haushaltsjahren grundsätzlich eine unzulässige Umgehung der Kreditbegrenzung nach Art. 83 Satz 2 LVerf NW darstellt; siehe VerfGH NW NWVBl. 2003, 418.
Weisungen des Bundes in der Steuerauftragsverwaltung Von Carsten Brodersen
I. Einleitung Nach einem vielzitierten Ausspruch des Bundesverfassungsgerichts1 sind „die in den Art. 104a bis 108 GG enthaltenen finanzverfassungsrechtlichen Normen [ . . . ] einer der tragenden Grundpfeiler des Grundgesetzes. Sie sollen eine Finanzordnung sicherstellen, die den Gesamtstaat und die Gliedstaaten am Gesamtertrag der Volkswirtschaft sachgerecht beteiligt.“ Und das Gericht betont weiter – unter ausdrücklicher Berufung auf den Jubilar2 –, dabei komme der strikten Beachtung der finanzverfassungsrechtlichen Zuständigkeitsbereiche von Bund und Ländern eine überragende Bedeutung für die Stabilität der bundesstaatlichen Verfassung zu. In einer späteren Entscheidung ergänzt das Gericht3, die Finanzverfassung des Grundgesetzes bilde eine in sich geschlossene Rahmen- und Verfahrensordnung; sie zeichne sich durch Formenklarheit aus und sei auf Formenbindung angelegt. Angesichts dieser Festlegungen überrascht es jedenfalls auf den ersten Blick, wenn bei der durch Art. 108 Abs. 3 GG angeordneten Auftragsverwaltung der Steuern mit Bundesertrag durch Länderfinanzbehörden eine für die Einflussrechte des Bundes wichtige Frage bis heute ungeklärt ist, ihre Klärung vielmehr seit der Neufassung des Art. 108 GG in der Finanzverfassungsreform 1969 „ohne Präjudiz für die unterschiedlichen Rechtsstandpunkte von Bund und Ländern“ durch eine „Bund-Länder-Vereinbarung“ vom 15. 1. 19704 („Vereinbarung“) ersetzt worden ist: Es geht um die Tragweite des dem Bundesminister der Finanzen (BMF) gemäß Art. 108 Abs. 3 Satz 2 i. V. mit Art. 85 Abs. 3 GG eingeräumten Weisungsrechts, in Abgrenzung namentlich von der gemäß Art. 108 Abs. 7 GG (nur) der Bundesregierung eingeräumten Befugnis, mit Zustimmung des Bundesrates allgemeine Verwaltungsvorschriften (allgVV) zu erlassen. BVerfGE 55, 274 (300 f.). P. Selmer, Finanzordnung und Grundgesetz – Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts in Finanz- und Steuersachen, AöR 101 (1976), 238 (240 f.). 3 BVerfGE 67, 256 (288); vgl. auch BVerfGE 105, 185 (193 f.). 4 Abgedruckt z. B. bei R. Seer, Bonner Kommentar zum Grundgesetz (Drittbearbeitung 1999), Art. 108 Rn. 107, und bei J. Bonsels, Einwirkungs- und Mitwirkungsrechte des Bundes bei der Verwaltung der Steuern durch die Länder, 1995, S. 115 Fn. 258. 1 2
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Die strittige Frage der Zulässigkeit „allgemeiner Weisungen“5 des BMF (in Abgrenzung zu den im Grundsatz unstrittigen „Einzelweisungen“) wird in der „Vereinbarung“ dahingestellt zugunsten einer Verfahrensregelung, in deren Zentrum „Schreiben“ des BMF an die obersten Finanzbehörden der Länder stehen, die der BMF nur herausgibt, wenn die „Mehrzahl der Länder keine Einwendungen dagegen erhoben hat“; die Länder „werden sich nach den in diesem Verfahren ergangenen Schreiben des [BMF] richten“ und eigene Weisungen „entgegen der Rechtsauffassung des [BMF] nicht herausgeben“. Diese – in ihrem Rechtsgehalt und in ihrer Rechtswirksamkeit zweifelhafte6 – „Vereinbarung“ wird in der Literatur als „pragmatische Kompromisslösung“7 durchweg positiv gewürdigt; insbesondere der Praxis nahestehende Autoren sehen in ihr die Grundlage für eine wiederholt beschriebene „vertrauensvolle Zusammenarbeit“ des Bundes und der Länder8. Auch im übrigen pflegt im Schrifttum jedenfalls oft festgestellt zu werden, angesichts der „Vereinbarung“ habe die ihr zugrundeliegende Streitfrage eine geringe praktische Relevanz9 bzw. sei sie für die Praxis beigelegt10. Eine derartige Sicht mag angesichts einer über Jahrzehnte – jedenfalls für den außenstehenden Betrachter – weitgehend „geräuschlosen“ Praxis11, die nur durch wenige bekannt gewordene „Streitfälle“ durchbrochen worden ist, verständlich sein. Indes bleibt die Ausgangsfrage der Tragweite des Weisungsrechts des BMF gemäß Art. 108 Abs. 3 GG für einen Konfliktfall relevant, auch wenn ein derartiger Streit zwischen Bund und Ländern bislang noch nicht vor das Bundesverfassungsgericht getragen worden ist. Zudem vermag ihre Klärung beizutragen zur zutreffenden Würdigung einer etwaigen Sonderstellung der Steuerauftragsverwaltung gemäß Art. 108 GG gegenüber den unmittelbar von Art. 85 GG erfassten weiteren Fällen einer Auftragsverwaltung der Länder für den Bund gemäß Art. 87c ff. GG12.
5 So die „Vereinbarung“ selbst und deshalb auch im folgenden. Die Terminologie ist insoweit im Schrifttum recht unterschiedlich und z.T. verwirrend; doch kann das hier dahinstehen. 6 Vgl. nur m.w.Nachw. J. Bonsels (Fn. 4), S. 120 f. 7 So V. Schlette, in: v.Mangoldt / Klein / Starck (Hrsg.), GG, Bd. 3, 4. Aufl. 2001, Art. 108 Rn. 73. 8 So namentlich J. Bonsels (Fn. 4), vgl. unten bei Fn. 47 ff. 9 Vgl. etwa M. Heintzen, in: von Münch / Kunig (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 3, 5. Aufl. 2003, Art. 108 Rn. 35. 10 So B. Pieroth, in: Jarass / Pieroth, GG, 6. Aufl. 2002, Art. 108 Rn. 6. 11 Als solche dürfte sie allerdings kaum zur Auslegung des Art. 108 Abs. 3 GG heranzuziehen sein; vgl. nur BVerfGE 91, 148 (171 / 172) in ausdrücklicher Abgrenzung zu BVerfGE 62, 1 (38). 12 So bleibt namentlich die wiederholt anzutreffende Ansicht, die Rechtsprechung des BVerfG zur atomrechtlichen Auftragsverwaltung sei für Art. 108 Abs. 3 GG nicht einschlägig, letztlich vordergründig; vgl. auch J. Bonsels (Fn. 4), S. 257; G. Orlopp, Auftragsverwaltung im Steuerrecht, in: FS Franz Klein,1994, S. 597 (608).
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Dem für die Steuerauftragsverwaltung skizzierten Befund stehen nämlich ersichtlich die z.T. heftigen Auseinandersetzungen gegenüber, die namentlich in Fragen der Atomverwaltung gemäß Art. 87c GG, aber auch in anderen Anwendungsbereichen der Auftragsverwaltung13 zwischen Bund und Ländern ausgetragen wurden. Sie haben – allerdings zeitlich erst nach den „Vereinbarung“ von 1970 – zu einer durch mehrere Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts bewirkten weiteren Klärung der Befugnisse von Bund und Ländern in der (allgemeinen) Auftragsverwaltung geführt. Es erscheint deshalb reizvoll, die dort erarbeiteten Ergebnisse für den hier interessierenden Zusammenhang in Bezug zu setzen zur Rechtslage bei der Steuerauftragsverwaltung und zu fragen, ob und inwieweit insoweit Besonderheiten bei dieser Steuerauftragsverwaltung bestehen, die ja jedenfalls bei der Schaffung des Grundgesetzes mit dem Übergang von einer zuvor reichseinheitlichen Steuerverwaltung durch spezifische Bedingungen geprägt war14. Dabei soll es hier nicht in erster Linie darum gehen, die „Vereinbarung“ von 1970 und die darauf beruhende, auf Konsens abzielende Praxis in Frage zu stellen. Ziel ist es vielmehr, mit einem Perspektivenwechsel, der auch für die Steuerauftragsverwaltung mehr auf den (etwaigen) Konfliktfall abstellt, durch die Parallele zur allgemeinen Auftragsverwaltung den Blick auf die Steuerauftragsverwaltung und insbesondere auf die Tragweite des Weisungsrechts des BMF zu schärfen. Auch für die Steuerauftragsverwaltung als solche scheint im übrigen eine Ausweitung der Diskussionsgrundlagen geboten. Das gilt etwa für die Anforderungen, die sich nach der Entscheidung zur Zinsbesteuerung15 aus der Verantwortung des (Bundes-)Gesetzgebers für den Vollzug der Steuergesetze ergeben. – Schließlich aber ist auch nicht von der Hand zu weisen, dass die bislang angesichts der „Vereinbarung“ von 1970 eher „theoretische“ Frage nach der Tragweite des Weisungsrechts des BMF gemäß Art. 108 Abs. 3 GG in absehbarer Zeit unmittelbare Relevanz bekommen kann. Zumindest deutet eine neuere Untersuchung16 darauf hin, dass auch in der Praxis die Steuerauftragsverwaltung nicht mehr als alleinige Domäne der jeweiligen Finanzverwaltungen (als Partner der damaligen „Vereinbarung“) angesehen, sondern dass ein (auch) hier möglicherweise zu beobachtendes „Klima der Zurückhaltung“17 seitens des BMF vom Parlament (ggf. unterstützt vom Bundesrechnungshof) in Frage gestellt werden könnte.
Zur Fernstraßenverwaltung vgl. etwa BVerfGE 102, 167. Dazu näher R. Seer (Fn. 4), Art. 108 Rn. 2 ff.; S. Oeter, Die Finanzverwaltung im System der bundesstaatlichen Kompentenzverteilung, ThürVBl 1977, 1 ff. 15 BVerfGE 84, 239. 16 W. Löwer, Verfassungsrechtsfragen der Steuerauftragsverwaltung, Rechtsgutachten, Schriftenreihe BMF Heft 70, 2001. 17 In übertragender Anlehnung an BVerfGE 84, 239 (279); vgl. unten bei Fn. 95 ff. 13 14
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II. Zum verfassungsrechtlichen Rahmen der Auftragsverwaltung 1. Für die unmittelbar von Art. 85 GG erfassten Fälle eines Gesetzesvollzugs durch Länderbehörden im Auftrag des Bundes unterscheidet das Bundesverfassungsgericht seit der Kalkar II-Entscheidung von 199018 die Wahrnehmungs- und die Sachkompetenz. Während erstere unentziehbar beim Land verbleibt, kann der Bund letztere in Anspruch nehmen, indem er das ihm durch Art. 85 Abs. 3 GG zuerkannte Weisungsrecht in Anspruch nimmt. Diese Inanspruchnahme ist danach nicht auf Ausnahmefälle begrenzt und auch nicht rechtfertigungsbedürftig; sie ist vielmehr von Art. 85 GG als reguläres Mittel gedacht, damit sich bei Meinungsverschiedenheiten das hier vom Bund zu definierende Gemeinwohlinteresse durchsetzen kann. Von dieser Weisungskompetenz in den unter Art. 85 Abs. 3 GG fallenden Gesetzesmaterien wird die gesamte Vollzugstätigkeit des Landes erfasst: Das Gericht betont, Gegenstand der Weisung könne also sowohl eine nach außenhin zu treffende verfahrensabschließende Entscheidung wie auch das ihrer Vorbereitung dienende Verwaltungshandeln sein; solche Weisungen könnten auch auf Art und Umfang der Sachverhaltsermittlung und -beurteilung gerichtet sein. Inhalt einer Weisung könne schließlich auch die Festlegung auf eine bestimmte Gesetzesauslegung sein. Die Weisung sei Mittel zur Steuerung des Gesetzesvollzugs der Länder in allen seinen Phasen, auch in jener, in der die Maßstäbe gewonnen würden, nach denen die Verwaltung im vorgegebenen normativen Rahmen den ihr unterbreiteten Sachverhalt einer Entscheidung zuzuführen habe. Allerdings ist dem Bund ein „Selbsteintrittsrecht“ in Art. 85 GG versagt; er muss also, wie das Gericht in der Biblis-Entscheidung19 betont hat, diese – jedenfalls „zunächst“ ebenfalls beim Land liegende, dem Bund nur in Form einer „Reservezuständigkeit“ verliehene – Sachentscheidungsbefugnis erst aktualisieren, indem er sie ausdrücklich oder konkludent auf sich überleitet; dabei muss er die vom Gericht herausgearbeiteten, insbesondere aus der Bundestreue folgenden Anforderungen an die rechtmäßige Inanspruchnahme der Weisungskompetenz beachten20. Im übrigen bekräftigt diese gerade auch „informale Absprachen“ einbeziehende Entscheidung, der Bund dürfe im Rahmen der Auftragsverwaltung alle Aktivitäten entfalten, die er für eine effektive und sachgerechte Vorbereitung und Ausübung seines grundsätzlich unbeschränkten Direktions- und Weisungsrechts für erforderlich halte, soweit er dadurch nicht die Wahrnehmungskompetenz der Länder verletze. 2. Der für das Weisungsrecht auf Art. 85 Abs. 3 GG verweisende Art. 108 Abs. 3 GG ist demgegenüber – wie auch Art. 108 Abs. 7 GG – noch nicht unmittelbarer Gegenstand einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts gewesen. Es ist BVerfGE 81, 310 (332, 335 f.); bestätigt in BVerfGE 84, 26 (31). BVerfGE 104, 249 (264 f.). 20 Die von BVerfGE 81, 310 (334) für den „äußersten Fall“ gesehene „Grenze alleiniger Gemeinwohlverantwortlichkeit des Bundes“ kann jedenfalls für den hier interessierenden Sachbereich der Steuerauftragsverwaltung vernachlässigt werden. 18 19
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aber zu prüfen, ob sich der bisherigen Rechtsprechung Aussagen für die hier interessierende Problematik entnehmen lassen. Hervorzuheben ist dabei zunächst, dass das Gericht in seinen Feststellungen zur „Ordnungsfunktion der Finanzverfassung“21 zwar ausdrücklich neben der Gesetzgebungs- und der Ertragskompetenz auch die Verwaltungskompetenz nennt22, regelmäßig ist indes sachlich (nur) die Gesetzgebungs- bzw. Ertragshoheit betroffen; die Wasserpfennig-Entscheidung23 akzentuiert „Sinn und Funktion der Finanzverfassung“ im Hinblick auf „Gesetzgebungs- und Ertragskompetenz“, während die Verwaltungskompetenz nicht mehr ausdrücklich angesprochen wird. Für den die Verteilung der Steuerverwaltungshoheit auf Bund und Länder betreffenden Art. 108 GG hatte das Bundesverfassungsgericht schon zu dessen alter, bis zur Finanzverfassungsreform 1969 geltenden Fassung angesichts dessen schwieriger, kompromisshafter Entstehungsgeschichte vor allem im Hinblick auf die organisatorischen und personellen Besonderheiten der Oberfinanzdirektionen und ihrer Präsidenten festgestellt, das Grundgesetz habe „Verhältnisse geschaffen oder doch vorgezeichnet, denen gegenüber die sonst geltenden Grundsätze der Unterscheidung von Bundes- und Landesverwaltung nicht ohne weiteres anwendbar erscheinen.“24 Diese Feststellung hat das Gericht in seiner OFD-Entscheidung 200225 aufgegriffen und für die 1969 erfolgte Neufassung des Art. 108 GG namentlich die ausdrückliche Ermächtigung zu einem „Zusammenwirken von Bundes- und Landesbehörden“ gemäß Abs. 4 betont; nehme man die unterschiedlichen Regelungselemente des Art. 108 GG mit ihren die bundesstaatliche Finanzverwaltung prägenden Trennungs- wie auch Verbindungstendenzen gemeinsam in den Blick, könne von einer „weitgehenden Kooperationsermächtigung“ gesprochen werden. In anderem Zusammenhang hebt das Gericht dann auch hervor, die Neufassung des Art. 108 Abs. 4 GG habe mehr, nicht weniger Flexibilität als vorher verfassungsrechtlich ermöglichen oder jedenfalls absichern sollen26. – Auf die danach mögliche punktuelle Durchbrechung der verfassungsrechtlichen Verteilung der Verwaltungskompetenzen kann die „Vereinbarung“ allerdings schon mangels von Art. 108 Abs. 4 GG geforderter bundesgesetzlicher Regelung nicht, jedenfalls nicht unmittelbar, gestützt werden. 3. Außerhalb des engeren, durch Formenklarheit und Formenbindung geprägten Bereichs der Finanzverfassung sieht das Gericht in der Aufteilung der (allgemeinen) Verwaltungskompetenzen bis in die jüngste Zeit – so etwa in der Entscheidung von 2003 zu § 50 TKG27 – eine „wichtige Ausformung des bundesstaatlichen 21 22 23 24 25 26 27
BVerfGE 72, 330 (388) – Finanzausgleich. So etwa BVerfGE 91, 186 (201); wieder aufgegriffen in BVerfGE 101, 141 (147). BVerfGE 93, 319 (342). BVerfGE 32, 145 (155). BVerfGE 106, 1 (21). BVerfGE 106, 1 (26). BVerfG NVwZ 2003, 1497 (1498).
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Prinzips im Grundgesetz und zugleich [ . . . ] ein Element zusätzlicher funktionaler Gewaltenteilung“; die Verwaltung des Bundes und die Verwaltungen der Länder seien organisatorisch und funktionell i.S. von in sich geschlossenen Einheiten prinzipiell voneinander getrennt und Kompetenzverschiebungen zwischen Bund und Ländern seien selbst mit Zustimmung der Beteiligten – auch in der Form einer Mischverwaltung, soweit sie nicht ausdrücklich im Grundgesetz zugelassen sei – nicht zulässig. In dieser Entscheidung ging es – wie meist – um eine gesetzlich angeordnete Kompetenzabgrenzung – hier nach § 50 Abs. 3 und 4 TKG zwischen bundeseigener Verwaltung i.S. des Art. 86 GG und landeseigenem Vollzug gemäß Art. 83, 84 GG. Trotz der wiederholten Bekräftigung derartiger, scheinbar strikter Grundsätze28 zeigt eine genauere Betrachtung einschlägiger Entscheidungen doch im einzelnen eine flexiblere Haltung des Gerichts, wie etwa die „berühmte“ Entscheidung BVerfGE 63, 1 belegt. Für nicht durch Gesetz, sondern auf der Verwaltungsebene vorgenommene Kompetenzabgrenzungen, die zudem den hier interessierenden Bereich der Auftragsverwaltung betreffen, kann eine neuere Entscheidung29 zur Atomverwaltung herangezogen werden, auf die in späterem Zusammenhang zurückzukommen sein wird: Es geht um „Allgemeine Verwaltungsvorschriften für den Vollzug von Bundesgesetzen durch die Länder im Auftrage des Bundes“, die – so das Gericht – gemäß Art. 85 Abs. 2 Satz 1 GG ausschließlich von der Bundesregierung als Kollegium mit Zustimmung des Bundesrats erlassen werden könnten. Wenn man deshalb – wie das Gericht – die „Leitlinien“ gemäß § 7 Abs. 2a AtG als derartige allgVV ansieht, durfte nur die Bundesregierung, nicht aber ein einzelnes Bundesministerium ermächtigt werden, solche Leitlinien mit Zustimmung des Bundesrats zu erlassen. Diesen „Leitlinien“ stellt das Gericht dann aber30, und darauf kommt es hier an, „das Regelwerk konsentierter Vorgaben für die Handhabung des Atomgesetzes“31 gegenüber, „die auf Übereinstimmung zwischen den zuständigen Landesbehörden und dem zuständigen Bundesministerium beruhen“ – jenseits des Anwendungsbereichs allgVV i.S. des Art. 85 Abs. 2 Satz 1 GG scheinen demnach derartige „konsentierte Vorgaben für die Handhabung des Atomgesetzes“ kompetenzrechtlich unbedenklich zu sein. 4. Die Übertragung einer derartigen Sicht auf den hier interessierenden Fall und dementsprechend die Würdigung der „Vereinbarung“ von 1970 als konsentierte Vorgabe für die Handhabung der Steuergesetze bzw. als deren Grundlage scheint nahezuliegen. Der Bund „verzichtet“ partiell auf die Wahrnehmung ihm in Art. 108 28 Dass Art. 108 GG „eine zwingende und erschöpfende Regelung“ sei, von der „außer in den . . . ausdrücklich vorgesehenen Typen und Kompetenzzuweisungen weder durch Gesetz noch durch Vertrag . . . abgewichen werden“ dürfe, betont z. B. W. Heun, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz, Bd. 3, 2000, Art. 108 Rn. 7. 29 BVerfGE 100, 249. 30 BVerfGE 100, 249 (259). 31 Deren Handhabung und Wirkungsweise wird in der Erwiderung der Bundesregierung (BVerfGE 100, 249 [255 f.]) näher dargelegt.
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GG eingeräumter Befugnisse zugunsten von Vorgaben, die auf Übereinstimmung zwischen den zuständigen Landesbehörden und dem BMF beruhen. Die im Schrifttum gelegentlich geäußerten grundsätzlichen Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der „Vereinbarung“ von 1970 vermögen demgegenüber nicht zu überzeugen, wenn darin etwa eine „Umgehung“ der Mitwirkungsrechte des Bundesrates32 gesehen wird oder eine unzulässige Mischverwaltung, die mangels gesetzlicher Grundlage auch nicht auf Art. 108 Abs. 4 GG gestützt werden könne33. Die h.M. dürfte davon ausgehen, dass es sich bei der „Vereinbarung“ nicht um eine rechtsverbindliche Modifikation grundgesetzlicher Zuständigkeiten, sondern um informelle Praktiken handelt und deshalb – so V. Schlette34- „bei einem Zerbrechen des Konsenses zwischen Bund und Ländern eine förmliche Ausübung der (wie weit auch immer reichenden) verfassungsrechtlichen Befugnisse jederzeit möglich bleibt.“ Doch kann diese Frage hier – ebenso wie die nach der Rechtsnatur der auf die „Vereinbarung“ gestützten BMF-Schreiben35 – letztlich dahinstehen; im weiteren soll es vielmehr um die Klärung dieser „wie weit auch immer reichenden“ verfassungsrechtlichen Befugnisse in der Abgrenzung der Art. 108 Abs. 3 und 7 GG gehen. III. Zur gegenwärtigen Praxis 1. Eine Auftragsverwaltung durch Landesfinanzbehörden für Steuern mit Bundesertrag sah schon Art. 108 GG in der Fassung von 1949 vor36. Dessen Neufassung in der Reform von 196937 beseitigte dann nicht nur die (verfassungsrechtlichen) Unzuträglichkeiten, die sich aus den entstehungszeitlich bedingten Aussagen der ursprünglichen Fassung des Art. 108 GG zur Abgrenzung der Befugnisse von Bund und Ländern ergeben hatten: Die alte Fassung des Art. 108 Abs. 4 Satz 2 2.Hs. GG, der BMF könne [bei der Auftragsverwaltung] „die ordnungsmäßige Verwaltung durch Bundesbevollmächtigte überwachen, welche gegenüber den Mittelund Unterbehörden ein Weisungsrecht haben“, wurde in der Neufassung des Art. 108 Abs. 3 Satz 2 GG ersetzt durch den Verweis auf die Geltung des Art. 85 32 Vgl. etwa T. Schöck, Innerstaatliche Kooperation beim Vollzug von Steuergesetzen in der Bundesrepublik Deutschland, StuW 1977, 1 (27 ff.). 33 J. Bonsels (Fn. 4), S. 122; vgl. auch G. Juchum, Verwaltungsvorschriften im Einkommensteuerrecht, ZG 1991, 56 (63 ff.). 34 V. Schlette (Fn. 7), Art. 108 Rn. 77. 35 Dazu etwa G. Orlopp (Fn. 12), S. 606 f. 36 Schon die Weimarer Reichsverfassung kannte im übrigen mit Art. 77 WRV sowie – in Verbindung mit dem dann für die einheitliche Reichsfinanzverwaltung instrumentalisierten Art. 14 WRV – in Art. 15 WRV bei Ausführung der Reichsgesetze durch Landesbehörden mit Zustimmung des Reichsrates von der Reichsregierung zu erlassende allgVV bzw. „allgemeine Anweisungen“. 37 Die erneute Änderung des Art. 108 GG im Jahre 2001 kann im vorliegenden Zusammenhang vernachlässigt werden.
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Abs. 3 und 4 GG „mit der Maßgabe, dass an die Stelle der Bundesregierung der Bundesminister der Finanzen tritt“. Demgemäß sollen die Landesbehörden bei der Steuerauftragsverwaltung den Weisungen des BMF unterstehen, der sie, außer wenn er es für dringlich erachtet, an die obersten Finanzbehörden zu richten hat. Die Bundesaufsicht, deren Mittel die Weisung bildet, erstreckt sich dabei auf Gesetzmäßigkeit und Zweckmäßigkeit der Ausführung [der Steuergesetze]. Im hier interessierenden Zusammenhang sachlich unverändert blieb demgegenüber Art. 108 Abs. 4 GG a.F. jetzt als Art. 108 Abs. 7 GG. – Dass insgesamt neben der einheitlichen Steuergesetzgebung auch ein einheitliches Steuererhebungsverfahren „wesentliche Voraussetzung für die Durchsetzung der Steuergleichheit, soziale Gerechtigkeit und eine Angleichung der Lebensverhältnisse“ ist38, dürfte dabei jeweils im Grundsatz unstrittig gewesen sein. Auf die Schwierigkeiten, die sich aus dieser ursprünglichen Fassung des Art. 108 GG für die Steuerrechtsanwendung in der Praxis ergaben39, braucht hier im einzelnen nicht eingegangen zu werden. Dass es derartige Schwierigkeiten aber gerade auch hinsichtlich der Ingerenzrechte des Bundes gab, verdeutlicht die Amtliche Begründung40 zur geplanten Neufassung des Art. 108 GG im Rahmen der Finanzverfassungsreform 1969, insbesondere zum Übergang auf die jetzt umfassendere, vor allem die „großen Steuern“ betreffende Auftragsverwaltung: Zur Sicherstellung der Gleichmäßigkeit der Gesetzesanwendung reiche es nicht aus, dass die Bundesregierung (nach Art. 108 Abs. 6 GG a.F.) allgVV erlassen könne. Schon bei der (früheren) landeseigenen Verwaltung sei die für die damaligen, vom BMF koordinierten einheitlichen Ländererlasse erforderliche Einstimmigkeit bei verschiedenen wichtigen Fragen41 nicht zu erreichen gewesen; die Bundesauftragsverwaltung schaffe hier im Interesse der Gleichmäßigkeit der Besteuerung die Möglichkeit einer Weisungserteilung durch den BMF, die die Einheitlichkeit der Gesetzesauslegung und der Ermessensausübung sicherstelle42. Die Amtliche Begründung beruft sich insoweit vor allem auf die Betriebsprüfung, aber auch sonst könne sich die Notwendigkeit ergeben, dass der BMF selbst entscheide, wie ein Steuerfall zu bearbeiten sei43. Insgesamt könne sich der BMF in wichtigen Fällen schon vor der Durchführung der Veranlagung von den Landessteuerbehörden berichten lassen und im Interesse der Einheitlichkeit in der Besteuerung grundsätzliche Fragen rechtzeitig klären; auch könne ein gleichmäßigerer Betriebsprüfungs-Turnus erreicht werden.
So W. Heun (Fn. 28), Art. 108 Rn. 7. Sie werden exemplarisch deutlich in BVerfGE 32, 145. 40 BT-Drs. V / 2861. 41 Beispiele dafür klingen an bei F. J. Strauß, Die Finanzverfassung, 1969, S. 143; vgl. auch dort S. 141 zur schon seinerzeit grundsätzlich auf Konfliktvermeidung angelegten Verwaltungspraxis. 42 BT-Drs. V / 2861 Rn. 164, 165. 43 BT-Drs. V / 2861 Rn. 166, 167. 38 39
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Abschließend stellt die Amtliche Begründung fest44, durch die Neufassung sollten die Befugnisse des BMF gegenüber den Landesfinanzbehörden in Anlehnung an Art. 85 GG erschöpfend geregelt werden. Zur Sicherung eines schnellen Vollzugs der Weisungen durch die Länder müsse am Weisungsrecht des BMF festgehalten werden; denn die Ordnungsmäßigkeit des Vollzugs würde nicht gewährleistet sein, wenn gerade in dringenden Fällen erst eine Kabinettsentscheidung für die Weisung an Unterbehörden notwendig sei. Kurze Zeit, nachdem die Finanzverfassungsreform 1969 mit dem – insoweit gegenüber dem Regierungsentwurf unveränderten – Art 108 GG vollendet worden war, kam es am 15. 1. 1970 zu der „Vereinbarung“45. Vordergründig scheint sie nur einen eingeschränkten Anwendungsbereich zu haben und sich wohl weder auf – jedenfalls im Prinzip unstrittige – „Einzelweisungen“ noch auf allgVV i.S. des Art. 108 Abs. 7 GG zu beziehen; tatsächlich bekam sie vor dem Hintergrund des Zusammenspiels dieser Alternativen in der Praxis eine zentrale Bedeutung. Über diese auf der „Vereinbarung“ beruhende Praxis gibt es wenige, indes instruktive Informationen, namentlich in der langjährige einschlägige Erfahrungen reflektierenden Arbeit von J. Bonsels46, der 1995 zusammenfassend feststellt47, trotz der gegensätzlichen Interessenlage habe sich „eine enge und von gegenseitigem Vertrauen getragene Zusammenarbeit herausgebildet“; diese Zusammenarbeit gestalte sich zwar gelegentlich mühsam, insgesamt jedoch wirkungsvoll. Wesentlich dazu beigetragen habe, dass der Bund seinen Standpunkt zum Weisungsrecht nie ins Spiel gebracht habe48. Die Berufung auf die „vertrauensvolle Zusammenarbeit“ durchzieht die Darstellung, in der sich auch die Feststellung findet, weder beim BMF noch bei den obersten Finanzbehörden der Länder habe jemals die Absicht bestanden, zur Klärung der Tragweite des Art. 108 Abs. 3 GG das Bundesverfassungsgericht anzurufen. Auch andere Autoren49 betonen, dass eine Neigung bestehe, das in der „Vereinbarung“ vorgesehene Verfahren zu wählen statt der schwerfälligeren und zeitaufwendigen Einschaltung von Bundesregierung und Bundesrat nach Art. 108 Abs. 7 GG, was jedenfalls auch oft erst am Ende eines langen Vorbereitungsprozesses unter den Bundes- und Landesfinanzbehörden erfolge. Bei allgVV nach Art. 108 BT-Drs. V / 2861 Rn. 171. Zum Zustandekommen der „Vereinbarung“ vgl. im einzelnen auch G. Orlopp (Fn. 12), S. 601 ff. 46 J. Bonsels (Fn. 4), passim. Zu nennen sind weiter etwa G. Juchum (Fn. 29), S. 62 ff.; G. Orlopp (Fn. 12), S. 605 f.; T. Schöck (Fn. 32), S. 22 ff.; vgl. im übrigen dazu auch insgesamt die teils polemischen Bemerkungen von G .Felix, KÖSDI 4 / 95 S. 10212 ff. 47 J. Bonsels (Fn. 4), S. 27. 48 J. Bonsels (Fn. 4), S. 116; vgl. auch etwas anders akzentuiert P. Flockermann, Zur Umsetzung von Steuergesetzen im Bund- / Länder-Verhältnis, in: FS Meyding, 1994, S. 105 (110). 49 Vgl. etwa K. Tipke, Die Steuerrechtsordnung, Bd. III, 1993, S. 1164; V. Schlette (Fn. 7) Art. 108 Rn. 75. 44 45
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Abs. 7 GG übernehme – so J. Bonsels50 – die Bundesregierung in aller Regel die in den Bund- / Länder-Gremien erarbeiteten Entwürfe. Ebenso regelmäßig gebe der Bundesrat seine Zustimmung. Ein Fall der endgültigen Verweigerung sei nicht bekannt; lediglich vereinzelt komme es zu einem sog. Maßgabe-Beschluss, mit dem der Bundesrat sein Placet unter die Bedingung stelle, dass die Bundesregierung eine einzelne Regelung zurücknehme oder ändere. Auf diesem Wege – oder meist sogar im Vorfeld dazu – hätten Kontroversen zwischen Bund und Ländern ausgeräumt werden können; allerdings könnten sich „derartige Bereinigungen im Einzelfall schwierig und langwierig gestalten“51. Zudem pflegt für das in der „Vereinbarung“ vorgehende eigentliche Verfahren der „Schreiben“ des BMF betont zu werden, dass die Länder als „ultima ratio“ unter Berufung auf den Vorbehalt in der „Vereinbarung“ den eigenen Rechtsstandpunkt durchsetzen könnten, wovon sie allerdings „sehr selten“ bzw. „kaum“ Gebrauch machten52. Aus den die Praxis reflektierenden Stellungnahmen verdienen schließlich noch die Schlussbemerkungen von G. Orlopp53 erwähnt zu werden, die Inanspruchnahme der Weisungsbefugnis des BMF in den strittigen Fällen würde nicht nur das derzeit gute Verhältnis zu den Ländern aufs Spiel setzen und einen Rechtsstreit vor dem Bundesverfassungsgericht mit ungewissem Ausgang zur Folge haben; vielmehr könne eine Durchsetzung des Weisungsrechts dazu führen, dass der BMF zum einen von den Ländern in einem nicht mehr zu leistenden Umfang mit Einzelfallentscheidungen überhäuft werde und zum anderer seinerseits sämtliche Länderregelungen auf ihre rechtliche Vertretbarkeit ständig überprüfen müsse, wozu er aus personellen Gründen nicht in der Lage sei. 3. Schließlich seien für die Art und Weise der „Konfliktbewältigung“ bis in die jüngere Vergangenheit zwei Fälle erwähnt, die hier nicht voll ausgebreitet werden können, aber doch immerhin skizziert werden sollen. In der „unendlichen Geschichte“ der Familienbesteuerung kaum mehr als eine Fußnote, verdient der durch das Steueränderungsgesetz 1979 eingeführte damals sog. Kinderbetreuungsbetrag des seinerzeitigen § 33a Abs. 3 EStG54 im hier interessierenden Zusammenhang Beachtung: Da sich Bundesregierung und Bundesrat (in dem s.Zt. die BundestagsOpposition über die Mehrheit der Stimmen verfügte) nicht über die Auslegung des Begriffs und vor allem über die Frage des Nachweises entstandener Aufwendungen einigen konnten, lehnte der Bundesrat den Entwurf einer auf Art. 108 Abs. 7 GG gestützten Richtlinie ab. Einzelne Bundesländer (mit zumeist von der damaligen Opposition im Bundestag gestellten Landesregierungen) erließen daraufhin J. Bonsels (Fn. 4), S. 92; vgl. auch T. Schöck (Fn. 32), S. 22. J. Bonsels (Fn. 4), S. 92. 52 T. Schöck (Fn. 32), S. 23; G. Orlopp (Fn. 12), S. 606. 53 G. Orlopp (Fn. 12), S. 609. 54 Nachw. zum Folgenden bei F.-C. Zeitler / H.Scheidel, Zur Auslegung der Bestimmungen zum Kinderbetreuungsbetrag, BB 1980, 1368; vgl. auch schon R. Charlier, Familienbesteuerung – wachsende Probleme, StBJb 1979 / 1980, S. 479 (498). 50 51
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Verwaltungsanweisungen, die dem Kinderbetreuungsbetrag durch den Verzicht auf „Belege“ im Ergebnis Freibetragscharakter verliehen; andere Länder verlangten demgegenüber Nachweise. Aufgelöst wurde der Konflikt schließlich durch einen bei den Beratungen über das Steuerentlastungsgesetz 1981 im Vermittlungsausschuss gefundenen Kompromiss, der durch ein „Schreiben“ des BMF55 umgesetzt wurde und im Ergebnis darauf hinauslief, dass bundeseinheitlich (nur) bis zur Höhe des halben Kinderbetreuungsbedarfs auf einen Nachweis verzichtet wurde. Im übrigen wurde dieser Kinderbetreuungsbetrag alsbald wieder durch Gesetz abgeschafft. Aktuelleren Datums sind demgegenüber die Auseinandersetzungen, die – auch im Bundestag – um eine Änderung der sog. AfA-Tabellen (also von Verwaltungsvorschriften) geführt wurden. Ausgelöst durch eine Entscheidung des Bundesfinanzhofs56 zur Auslegung des maßgeblichen § 7 Abs. 1 EStG sollten daran orientiert die in den Tabellen niedergelegten AfA-Sätze angehoben werden (wobei die dadurch zu erzielenden Steuermehreinnahmen bereits im Rahmen einer Gegenfinanzierung verplant waren). Die im Bundestag in Opposition stehende CDU / CSU-Fraktion versuchte daraufhin Anfang 2001 durch entsprechende Änderung des § 7 Abs. 1 EStG57 dessen von der Bundesregierung unter Berufung auf den Bundesfinanzhof geltendgemachter Auslegung die Grundlage zu entziehen. Darüber hinaus zielte ein weiterer Antrag der CDU / CSU-Fraktion58 darauf, der Bundestag möge die Bundesregierung auffordern, die inzwischen vom BMF bekannt gemachte „neue“ AfA-Tabelle von 2000 zurückzunehmen. Beides fand im Bundestag keine Mehrheit. Zugleich entbrannte aus diesem Anlas ein – bislang wohl noch nicht endgültig entschiedener – Streit darum, ob diese AfA-Tabellen entgegen der bisherigen Praxis nur als allgVV i.S. des Art. 108 Abs. 7 GG zu behandeln seien und deshalb der Zustimmung des Bundesrats bedürften59. Beide Fälle weisen damit bemerkenswerte Gemeinsamkeiten auf: Sie spielen in Zeiten, in denen die jeweilige Bundestags-Opposition über eine Mehrheit der Stimmen im Bundesrat verfügte. Die Opposition im Bundestag ging jeweils „doppelgleisig“ vor, indem sie einerseits auf der Ebene der Gesetzgebung versuchte, die jeweilige (materiellrechtliche) Norm zu ändern (beim AfA-Fall also § 7 Abs. 1 EStG). Andererseits versuchte sie beim Scheitern entsprechender ÄnderungsgesetBStBl I 1980, 436. BFH BStBl II 1998, 59. 57 Gesetzentwurf der CDU / CSU-Fraktion, BT-Drs. 14 / 5135; dazu BT-Drs. 14 / 5149 (Ausschussbericht). 58 BT-Drs. 14 / 5134; vgl. auch schon den in entsprechende Richtung zielenden Antrag der FDP-Fraktion, BT-Drs. 14 / 1887. 59 Wie schwierig diese anscheinend erst jetzt problematisierte Frage zu beantworten ist, verdeutlichen etwa die Stellungnahmen von C. Starck, einerseits „Wer ist eigentlich für den Erlass der AfA-Tabellen zuständig?“, JZ 2001, 132, und andererseits „Gleichheit der Besteuerung durch amtliche AfA-Tabellen und Sonderbehandlung von Verlustzuweisungsgesellschaften“, in: FS K. Vogel, 2002, S. 391. 55 56
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ze auf der Ebene der Verwaltungsvorschriften, insbesondere über Art. 108 Abs. 7 GG vorzugehen, wenn dort – wie in beiden Fällen – Folgerungen aus dem jeweils betroffenen materiellen Recht zu ziehen waren. Die Bundesregierung schließlich hat im Zuge der Auseinandersetzungen um die AfA-Tabellen auf eine Kleine Anfrage der FDP-Fraktion hin im Bundestag ihre Auffassung von der „Rechtsnatur von Schreiben des BMF“ dargelegt60; sie nimmt danach – auch unter Berufung auf den Bundesrechnungshof – ersichtlich den Standpunkt ein, Art. 85 Abs. 3 GG (i.V. mit Art. 108 Abs. 3 GG) enthalte die Befugnis zum Erlass allgemeiner Weisungen. Sie macht weiter geltend, BMF-Schreiben stellten derartige allgemeine Weisungen dar; das gelte insbesondere auch für die AfA-Tabellen, die deshalb vom BMF aufgestellt werden dürften.
IV. Zur Diskussion im Schrifttum 1. Demgegenüber dürfte es wohl ganz h.M. im Schrifttum sein, dass unter „Weisungen“ i.S. des Art. 108 Abs. 3 i.V. mit Art. 85 Abs. 3 GG nur „Einzelweisungen“ zu verstehen sind. Obwohl Art. 85 Abs. 3 GG im Gegensatz zu Art. 84 Abs. 5 GG nicht von „Einzelweisungen“, sondern nur von „Weisungen“ spricht, geht die Diskussion bei Art. 108 Abs. 3 Satz 2 GG davon aus, dass dort nur „Einzelweisungen“ gemeint seien. Meist gebräuchliches Argument ist, dass ein weitergehendes Weisungsrecht des BMF in der Sache nichts anderes bedeuten würde als die nach Art. 108 Abs. 7 GG von der Bundesregierung zu erlassenden allgVV; es würden dann also „zwei konkurrierende Kompetenzträger existieren, wobei völlig unverständlich wäre, warum die Bundesregierung als höherrangiges Organ für ein Tätigwerden der Zustimmung des Bundesrates bedürfen sollte, der BMF dagegen nicht“61. Zudem wird dieses Ergebnis mit dem weiteren systematischen Argument begründet, „Besonderheiten“ der Steuerverwaltung, insbesondere die enge Nähe von Steuern, die in Auftragsverwaltung vollzogen würden, zu den in landeseigener Verwaltung vollzogenen Steuern würden diese Auslegung gebieten62. Gerade letzteres, auf die spezifischen Verhältnisse bei Art. 108 GG abstellendes Argument ist als solches ernst zu nehmen. In größerem Zusammenhang hat C. Heitsch63 für die allgemeine Auftragsverwaltung nach Art. 85 GG zu recht darauf hingewiesen, dass für die Interpretation „der“ Auftragsverwaltung nicht nur Art. 85 GG, sondern auch die einzelnen materiellen Zuordnungen zur Auftragsverwaltung in Art. 87c ff. GG herangezogen werden müssen. Eine derartige „bereichsspeziBT-Drs. 14 / 6716. So V. Schlette (Fn. 7), Art. 108 Rn. 71 m.w.Nachw.; vgl. auch R. Seer (Fn. 4), Art. 108 Rn. 104, 106; J. Bonsels (Fn. 4), S. 108; M. Heintzen (Fn. 9), Art. 108 Rn. 34. 62 V. Schlette (Fn. 7), Art. 108 Rn. 71 f. 63 C. Heitsch, Die Ausführung der Bundesgesetze durch die Länder, 2001, S. 134, 253 (der allerdings, soweit ersichtlich, dabei die Steuerverwaltung nach Art. 108 GG nur am Rande berücksichtigt). 60 61
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fische“ Auslegung versteht sich bei Art. 108 GG wohl schon angesichts dessen Sonderstellung innerhalb der Finanzverfassung von selbst und gewinnt durch die hier zu beobachtende, von der Verfassung zugelassene „weitgehende Kooperationsermächtigung“64 namentlich des Art. 108 Abs. 4 GG zusätzliches Gewicht. Aber die Frage bleibt, ob daraus auch für die hier zu untersuchende Problematik zu folgern ist, „Weisungen“ i.S. des Art. 108 Abs. 3 GG seien (nur) als „Einzelweisungen“ zu verstehen. Eine besonders ausführliche Darlegung dieser These findet sich bei J. Bonsels65: Eine enge Auslegung des Art. 108 Abs. 3 GG sei geboten aufgrund einheitlicher Aufgabenstellung der Steuerverwaltung (für den Vollzug in Auftragsverwaltung wie bei landeseigener Verwaltung). Dem Grundgesetz liege „ein eigenes Bild von der Steuerverwaltung zugrunde“; die Vorgaben des Art. 108 GG seien „Ausfluss der Geschlossenheit unseres Steuersystems“66, das „nach einem auf Einheitlichkeit abgestellten Vollzug der Gesetze“ verlange67: Zahlreiche Entscheidungen könnten – wie ausführlich dargelegt wird – unabhängig davon, ob sie in landeseigener oder Auftragsverwaltung anfielen – nur gleichartig und zusammen für beide Verwaltungstypen getroffen werden; diese großen Gemeinsamkeiten „gebieten es, dass [. . . ] Entscheidungen (dann) einheitlich ausfallen. Bei einer Befugnis des [BMF], für den Bereich der Auftragsverwaltung aufgrund seines Weisungsrechts [allgVV] zu erlassen, wäre dies nicht garantiert.“68 Abgesehen davon, dass es die Fragestellung auch hier wohl schon unzulässig verkürzt, wenn terminologisch von der Befugnis des BMF die Rede ist, allgVV (i.S. des Art. 108 Abs. 7 GG) zu erlassen, geht es in der Sache darum, wer im Konfliktfall seine Auffassung durchsetzen kann. Dass für einen konfliktfreien Regelfall ein auf Einheitlichkeit abgestellter Vollzug der Steuergesetze unabhängig vom jeweiligen Verwaltungstyp sinnvoll und erstrebenswert sein mag, liegt nahe; dass aber aus einem derartigen „eigenen Bild von der Steuerverwaltung“ auch die Konsequenz folgen soll, der Bund habe über das eng ausgelegte, auf einen konkreten Einzelfall beschränkte Weisungsrecht des BMF nach Art. 108 Abs. 3 i.V. mit Art. 85 Abs. 3 GG hinaus verfassungsrechtlich nur die Möglichkeit, auf den Vollzug der Steuergesetze in Auftragsverwaltung über den Erlass von allgVV gemäß Art. 108 Abs. 7 GG einzuwirken, wofür er dann wiederum der Zustimmung des Bundesrats bedürfte, überzeugt nicht. Dieses aus Art. 108 GG abgeleitete „eigene Bild von der Steuerverwaltung“ liefe letztlich darauf hinaus, dass das, was die Auftragsverwaltung in den unmittelbar von Art. 85 GG erfassten Fällen ausmacht69, BVerfGE 106, 1 (21). J. Bonsels (Fn. 4), S. 109 ff.; vgl. auch schon S. 38. 66 J. Bonsels (Fn. 4), S. 109. 67 J. Bonsels (Fn. 4), S. 110. 68 J. Bonsels (Fn. 4), S. 113. 69 Einen derartigen „Kern“ sehen auch für die Steuerauftragsverwaltung L. Müller / F.-C. Zeitler, Zuständigkeit bei der Verwaltung der Finanzen durch den Bund und die Länder, DStZ A 1975, 467 (468). 64 65
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nämlich die (unbeschränkte) Möglichkeit der Inanspruchnahme der Sachkompetenz durch den Bund für den Bereich des Steuerrechts weitgehend leer liefe und letztlich die Steuerauftragsverwaltung gemäß Art. 108 GG damit vom Gewicht her kaum den übrigen Fällen der Auftragsverwaltung entspräche. 2. Eine gewisse „Entschärfung“ der Kontroverse dürfte schon durch eine genauere Betrachtung der Tragweite des in diesem Zusammenhang üblicherweise verwendeten Begriffs der „Einzelweisung“ eintreten. Anders als in den Fällen der unmittelbaren Anwendung des Art. 85 GG, in denen aus bereichsspezifischen Gründen „Weisungen“ zumeist von vornherein „Einzelweisungen“ sein dürften (und allgVV als solche folglich in den gerichtlichen Auseinandersetzungen kaum eine Rolle spielen), wird die Steuerrechtsanwendung regelmäßig durch dessen Massenfall-Charakter geprägt wie durch das verfassungsrechtlich vorgegebene Ziel gleichheitsgerechten Vollzugs. Zwar wird es auch im Rahmen des Art. 108 GG – wie bei Art. 85 GG – „Einzelfälle“ geben, in denen Bedarf für „Einzelweisungen“ bestehen mag70, wie der durch ungewöhnliche Umstände, nämlich die anscheinend auf unterschiedliche Sachbeurteilung in einem Einzelpunkt gestützte, dann gerichtlich angefochtene Abberufung einer Außenprüferin, vor nicht allzu langer Zeit bekannt gewordene Steuerfall aus Nürnberg, in den sich dann Zeitungsberichten zufolge auch das BMF eingeschaltet hat. Schon das Steuergeheimnis dürfte aber i.d.R. dem Bekanntwerden derartiger „Einzelfälle“ entgegenstehen71. Auch rechtlich relevanter dürften aber gerade Fälle sein, in denen einzelne (Rechts- oder Verfahrens-)Fragen aus konkretem Anlass, aber wegen der möglichen Betroffenheit einer Vielzahl von Steuerpflichtigen mit großer Breitenwirkung strittig werden, wie man es sich etwa bei der s.Zt. zwischen Bund und Ländern umstrittenen Steuerpflicht der sog. Telekom-Treueaktien72 vorstellen könnte (auch wenn derartige Fragen in der Sache dann vermutlich später sowieso gerichtlich geklärt zu werden pflegen). Im Schrifttum sind verschiedentlich Vorschläge73 unterbreitet worden, ein derartiges Verständnis der „Einzelweisung“ i.S. des Art. 108 Abs. 3 GG dogmatischkonstruktiv zu begründen. Sie knüpfen z.T. an aus dem Verwaltungsrecht geläufige Differenzierungen an, indem derartige Fälle als „konkret-generelle“ Maßnahmen74 70 K. Tipke (Fn. 49), S. 1131 nennt als Beispiel den Steuerfall von Großunternehmen, die Betriebstätten in mehreren Ländern unterhalten. G. Juchum (Fn. 33), S. 63 hält die Einzelweisung im Massenverfahren der Steuerverwaltung für „eher lebensfremd“. 71 Z. B. ergeben sich auch aus den als Landtags-Drucksachen veröffentlichten Berichten der Untersuchungsausschüsse zur sog. Zwick-Affaire in Bayern und im Saarland, soweit ersichtlich, keine Hinweise auf eine spätere Einschaltung des BMF. 72 Angesichts der „Betroffenheit“ des Bundes war dieser Fall als solcher zudem besonders gelagert. 73 Insgesamt dazu R. Seer (Fn. 4), Art. 108 Rn. 104 m.w.Nachw. 74 Vgl. J. Depenbrock, Zum Umfang des Weisungsrechts bei der Bundesauftragsverwaltung, DÖV 1970, 235 (236); vgl. auch – für Art. 85 GG – K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, 1980, § 41 VI 5, S. 812 / 813, der allerdings einräumt, die
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bezeichnet werden. Andere wollen nach dem Adressatenkreis der Weisung abgrenzen und sie jedenfalls dann als „allgemein“ bezeichnen, wenn sie sich nicht nur an eine einzelne Landesfinanzbehörde, sondern an die Gesamtheit der dafür jeweils zuständigen Landesfinanzbehörden richte75. Andere Abgrenzungen versuchen demgegenüber Lösungen (nur) aus dem Verhältnis von Art. 108 Abs. 3 und 7 GG zu entwickeln76. Im einzelnen kann das im hier gegebenen Rahmen nicht weiter verfolgt werden; im Ergebnis dürfte aber sehr vieles dafür sprechen, dass – wie K. Stern77 es formuliert hat – „die Weisung bei konkreter Sachbezogenheit auch generell sein darf.“ 3. Auch bei einem derartigen Verständnis von „Einzelweisungen“ des BMF bleibt die Frage, ob es darüber hinausgehend auch „Allgemeine Weisungen“ des BMF gibt, die es dann von den in Art. 108 Abs. 7 GG erfassten allgVV abzugrenzen gälte. Schon die Terminologie ist hier oft wenig klar; vielfach werden beide Fälle gleichbehandelt und ist dann die Rede von – näher zu untersuchenden – allgVV des BMF78. Auch in der Sache bleibt vieles eher unklar. Bestrebungen79, unterhalb der Ebene der allgVV eine besondere Kategorie allgemeiner Weisungen zu etablieren und den Begriff allgVV nur auf solche Regelungen anzuwenden, die – in unterschiedlichen Wendungen umschrieben – ein größeres Rechtsgebiet von erheblichem Gewicht betreffen und für einen längeren Zeitraum gelten sollen, so dass bei „weniger Wichtigem“ Raum für derartige allgemeine Weisungen bliebe, haben sich schon angesichts der Unschärfe solcher Abgrenzungen zu Recht nicht durchsetzen können. Versuche, den Anwendungsbereich allgVV i.S. des Art. 108 Abs. 7 GG über ihren Charakter als Regelungen mit abstrakt-generellem Inhalt hinaus80 zu bestimmen, bleiben meist deskriptiv; eine Abgrenzung allgemeiner Weisungen von allgVV lässt sich so nicht erreichen81. Grenze zur generell-abstrakten Verwaltungsvorschrift bleibe „freilich außerordentlich flüssig“. Die Ausführungen zu Art. 108 GG in § 48 III 3, S. 1185, gehen nicht weiter darauf ein. Zusätzlich fordert T. Tschentscher, Inhalt und Schranken des Weisungsrechts des Bundes aus Art. 85 Abs. 3 GG, Diss. Bonn 1988, S. 234 ff., dass der Weisung nicht nur ein konkreter „Vollzugsfall“ zugrundeliegen, sondern auch ein konkreter Vollzugsmangel drohen müsse. 75 So K. Vogel / M. Wachenhausen, Kommentar zum Bonner Grundgesetz (Zweitbearbeitung Juni 1971), Art. 108 Rn. 172 f. – Danach kämen dann wohl Weisungen des BMF als abstrakt-individuelle Maßnahmen in Betracht. 76 So z. B. L. Müller / F.-C. Zeitler (Fn. 69), S. 470 ff. 77 K. Stern (Fn. 74), S. 813; vgl. auch H. Siekmann, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, 3. Aufl., 2003, Art. 108 Rn. 24. 78 So etwa K. Tipke (Fn. 49), S. 1131, 1164; vgl. auch J. Bonsels (Fn. 4), S. 96. 79 Vgl. etwa L. Müller / F.-C. Zeitler (Fn. 69), S. 472; ähnlich H. Fischer-Menshausen, in: von Münch / Kunig (Hrsg.), GG, Bd. 3, 3. Aufl. 1996, Art. 108 Rn. 16; w.Nachw. bei R. Seer (Fn. 4), Art. 108 Rn. 105 Fn. 508. 80 Vgl. insoweit auch BVerfGE 100, 249 (258) und dazu unten bei Fn. 85. 81 R. Seer (Fn. 4), Art. 108 Rn. 106. Deshalb scheint es im vorliegenden Zusammenhang auch nicht geboten, im einzelnen zwischen den verbreitet üblichen weiteren Differenzierungen von allgVV zur Norminterpretation oder -konkretisierung, zur Sachverhaltsermittlung
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Es dürfte auch nicht hilfreich sein, etwa darauf abzustellen, ob es um Verfahrensfragen oder um Fragen des materiellen Rechts geht; schon der enge Zusammenhang beider Aspekte ermöglicht jedenfalls für das vorliegende Problem keine sinnvolle Abgrenzung. Überhaupt dürfte es schließlich umgekehrt kaum gelingen, für die Ingerenzrechte des Bundes bei der Steuerauftragsverwaltung positiv Maßnahmen inhaltlich zu benennen, die gerade nur durch allgVV i.S. des Art. 108 Abs. 7 GG zu regeln seien; nicht zuletzt legt das schon die überaus weitgefasste Palette von Maßnahmen nahe, auf die das Bundesverfassungsgericht – allerdings als Gegenstand von Einzelweisungen – die vom Bund zu aktualisierende „Sachkompetenz“ erstreckt hat82. Im übrigen steht der Erlass derartiger allgVV nach Art. 108 Abs. 7 GG (auch nur) im Ermessen der Bundesregierung. 4. Angesichts des Erfordernisses, die Anwendungsbereiche der Art. 108 Abs. 3 und 7 GG zu trennen, dürfte also insbesondere auch eine Art „konkurrierender Zuständigkeit“ des BMF über „allgemeine Weisungen“ schwer zu begründen sein. Nach den bisherigen Erfahrungen mit der auf der „Vereinbarung“ beruhenden Verwaltungspraxis wird eine derartige „Konkurrenz“, so allgemein formuliert, indes auch kaum relevant werden. „Interessanter“ dürfte bei diesem Verständnis von zulässigen Einzelweisungen i.S. des Art. 108 Abs. 3 GG und allgVV i.S. des Art. 108 Abs. 7 GG folgende Konstellation werden: Der Bund will eine aus konkretem Anlass als regelungsbedürftig angesehene Frage im Rahmen einer im Verfahren nach Art. 108 Abs. 7 GG zu erlassenden allgVV klären oder – wohl die realistischere Annahme – eine bereits früher erlassene allgVV jetzt entsprechend ändern, findet dafür aber nicht die Zustimmung des Bundesrats. Ist es dann möglich, eine einzelne derartige Regelung, die nicht die Billigung des Bundesrats gemäß Art. 108 Abs. 7 GG gefunden hat, über eine Einzelweisung konkret-genereller Art durchzusetzen? So gestellt, mag die Frage zunächst provozierend wirken. Indes legt sie es gerade in dieser Zuspitzung nahe, über Sinn und Zweck des Weisungsrechts des BMF bei der Auftragsverwaltung einerseits und andererseits in Abgrenzung dazu über die Tragweite der von der Bundesregierung mit Zustimmung des Bundesrats zu erlassenden allgVV nachzudenken und die übliche Argumentation mit aus Art. 108 GG abgeleiteten „systematischen Gründen“ in Frage zu stellen. Den Ausgangspunkt soll hier die bereits oben83 herangezogene Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts84 zur Qualifikation der „Leitlinien“ gemäß § 7 Abs. 2a AtG als allgVV i.S. des Art. 85 Abs. 2 Satz 1 GG bilden. Das Gericht beginnt mit der Feststellung, das Grundgesetz stelle der vollziehenden Gewalt weder einen abschließenden Katalog bestimmter Handlungsformen zur Verfügung usw. zu unterscheiden. Die „Vereinbarung“ selbst klammert aus ihrem Geltungsbereich „Fragen der Organisation und des Personalwesens“ aus. 82 Vgl. bei Fn. 18 ff. 83 Bei Fn. 29. 84 BVerfGE 100, 249.
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noch würden ausdrücklich erwähnte Handlungsformen inhaltlich im einzelnen definiert; auf dieser Basis sieht es – unter ausdrücklichem Verzicht auf eine abschließende Definition – nur solche Regelungen als allgVV i.S. des Art. 85 Abs. 2 Satz 1 GG an, „die für eine abstrakte Vielheit von Sachverhalten des Verwaltungshandelns verbindliche Aussagen treffen, ohne auf eine unmittelbare Rechtswirkung nach außen gerichtet zu sein“85. Hier relevant ist diese Entscheidung indes weniger wegen des damit hergestellten Bezugs zu den oben angestellten Überlegungen zum „Begriff“ der allgVV86; hervorzuheben ist jetzt vielmehr, dass das Gericht in diesen „Leitlinien“ gemäß § 7 Abs. 2a AtG „vom Bund kraft seiner Sachkompetenz getroffene Bestimmungen“ sieht, die „die Länder bei Ausübung ihrer Wahrnehmungskompetenz im Rahmen des in Bundesauftragsverwaltung auszuführenden Atomgesetzes“ binden87. Zwar geht es bei dieser – von früherer Rechtsprechung abweichenden88 – Entscheidung um den effektiven Schutz der Länderverwaltungen, der bei einer Beschränkung der Bundesrats-Zustimmung nur auf das Gesetz als gleichsam blanko erteilter Zustimmung nicht gewährleistet sei; wenn also die Zustimmung des Bundesrats gerade (nur) auf den Erlass von allgVV zu beziehen ist, so handelt es sich in der Sache aber doch immer (nur) um die Möglichkeit der Länder, über den Bundesrat beim Erlass derartiger allgVV auf die damit verbundene nähere Ausgestaltung ihrer Wahrnehmungskompetenz einzuwirken, nicht aber geht es darum, den Ländern (bzw. dem Bundesrat) Einfluss auf die Ausgestaltung der Sachkompetenz des Bundes einzuräumen89. 5. Ergreift also im unmittelbaren Anwendungsbereich des Art. 85 Abs. 3 GG die Unterscheidung von Wahrnehmungs- und Sachkompetenz und damit bei letzterer der Entscheidungsvorrang des Bundes nicht nur Einzelweisungen, sondern auch allgVV, so dürfte deshalb der Umstand, dass die Steuerrechtsanwendung i.S. des Art. 108 GG anders als sonstige Fälle von Auftragsverwaltung Massenfall-Charakter hat und allgVV dort größere praktische Relevanz haben, als solcher nichts daran ändern, dass sich die Sachkompetenz des Bundes durchsetzen soll. Es fragt sich allerdings, ob es Gründe gibt, dies gerade für die Steuerauftragsverwaltung doch anders zu sehen. Ausscheiden dürfte es zunächst, die (teilweise) Ertragsberechtigung der Länder als Rechtfertigungsgrund dafür heranzuziehen; denn sie führt über Art. 105 Abs. 3 BVerfGE 100, 249 (258). Bei Fn. 78 ff. 87 BVerfGE 100, 249 (259). 88 BVerfGE 26, 338 (399). 89 Die von BVerfGE 100, 249 (261) im Anschluss an die frühere Entscheidung BVerfGE 26, 338 (398) wiederholte Feststellung, mit Art. 85 Abs. 2 Satz 1 GG werde die der Exekutive inhärente Befugnis zum Erlass allgVV zugunsten des Bundes über seinen Bereich hinaus auf die Länderverwaltungen erstreckt und die Regelung dieser Einwirkungsmöglichkeit sei deshalb „strikt“ auszulegen, darf nicht missverstanden werden: Die Unterscheidung zwischen Sach- und Wahrnehmungskompetenz ist Bestandteil dieser „Einwirkungsmöglichkeit“ des Bundes und wird nicht etwa bereits durch eine strikte Auslegung als solche eingeschränkt. 85 86
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GG bereits dazu, dass die materielle Steuerrechtsnorm – wie auch verfahrensrechtliche Regeln über Art. 108 Abs. 5 Satz 2 GG – in derartigen Fällen der Zustimmung des Bundesrats bedarf. Der Umfang der Sachregelungskompetenz des Bundes in materiellrechtlicher wie in verfahrensrechtlicher Hinsicht ist also bereits durch die insoweit erforderliche Zustimmung des Bundesrats mitbestimmt; der nach der Rechtsprechung90 auf der untergesetzlichen Ebene gebotene effektive Schutz der Länderverwaltungen bezieht sich aber nur auf die Wahrnehmungskompetenz. Letztere dürfte indes als solche gerade bei der Steuerauftragsverwaltung kaum grundsätzlich gefährdet werden können. Demgegenüber liegt es nicht im Sinne dieser Verteilung von Verantwortlichkeitsbereichen, in materiell- oder verfahrensrechtlichen Fragen der Steuerrechtsanwendung Sachlösungen, die auf der gesetzlichen Ebene von den Ländern bzw. dem Bundesrat nicht hatten durchgesetzt werden können, im Konfliktfall auf der untergesetzlichen Ebene dann doch noch durchzusetzen zu versuchen91. Es bleiben die bereits oben92 angesprochenen, aus Art. 108 Abs. 3 und 7 GG abgeleiteten, gegen eine „allgemeine“ Weisungsbefugnis des BMF gerichteten systematischen Argumente. Da es hier nicht mehr um die Begründung einer solchen selbständigen „allgemeinen“ Weisungsbefugnis des BMF geht, scheidet die Berufung auf die formale Konkurrenzsituation zweier Kompetenzträger 93 aus. Der weiteren, schlagwortartig mit dem „besonderen / eigenen Bild von der Steuerverwaltung“ zu umschreibenden Argumentation94 ist auch hier zunächst entgegenzuhalten, dass die Annahme einer derartigen „Sonderstellung“ der Auftragsverwaltung nach Art. 108 GG begründungsbedürftig ist und jedenfalls nicht allein aus einer langjährigen „guten Praxis“ begründbar ist. Es erscheint vor der Verfassung rechtfertigungsbedürftig, dass der Bund bei der Steuerauftragsverwaltung an der Wahrnehmung seiner Sachkompetenz gehindert sein soll, weil es wegen bestimmter Parallelen zum landeseigenen Vollzug anderer Steuergesetze zu Schwierigkeiten bei der Steuerrechtsanwendung kommen kann. Vor allem sollte man in Rechnung stellen, dass ein derartiger Fall – nicht nur angesichts der bisherigen Praxis der „Vereinbarung“, sondern auch bei davon abweichenden Prämissen – wegen grundsätzlich doch eher gleichgerichteter Interessen nur bei schweren Konflikten zwischen Bund und Ländern auftreten dürfte.
BVerfGE 100, 249 (261). Insoweit hat die Feststellung von K. Tipke, es sei „ohnehin nicht einzusehen, dass Landesbehörden, die an Bundesgesetze gebunden sind und diese bloß auszuführen haben, ein föderatives Gegengewicht gegen den Bund darstellen sollen“, einen zutreffenden Kern; vgl. K. Tipke (Fn. 49), S. 1129 m.w.Nachw. – Demgegenüber ist die Annahme von T. Schöck (Fn. 32), S. 29, die Einschaltung des Bundesrats nach Art. 108 Abs. 7 GG sei „verzichtbar“, ersichtlich durch die auf der „Vereinbarung“ von 1970 beruhende Praxis geprägt. 92 Bei Fn. 61 f. 93 Vgl. bei Fn. 61. 94 Vgl. bei Fn. 62. 90 91
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6. Insgesamt spricht deshalb vieles dafür, die oben gestellte Frage zu bejahen: Für die hier untersuchten Aspekte des Vollzugs der Steuergesetze gibt es nicht nur angesichts der „äußerst flüssigen Grenze“ zwischen konkret-generellen und abstrakt-generellen Regelungen weder Maßnahmen, die als Verwaltungsvorschriften nur auf dem Wege über Art. 108 Abs. 7 GG getroffen werden könnten, noch ist dieser Weg für andere derartige Maßnahmen grundsätzlich versperrt. Aus konkretem Anlas generell gebotene Anordnungen können also Bestandteil von allgVV i.S. des Art. 108 Abs. 7 GG werden, müssen es aber nicht bleiben: Aus einer einmal geschehenen Zuordnung zu einer derartigen allgVV folgt keine grundlegende „Umqualifizierung“ der getroffenen Maßnahme, insbesondere ergibt sich daraus keine „Bestandsgarantie“ für eine Mitwirkung des Bundesrates. Im Konfliktfall setzt sich vielmehr bei der Auftragsverwaltung die Sachkompetenz und Sachverantwortung des Bundes gemäß Art. 108 Abs. 3 GG auch gegenüber Art. 108 Abs. 7 GG durch. Zwei hier nur noch anzudeutende Aspekte stützen zudem dieses Ergebnis. Zum einen ist auf die von K. Vogel und M. Rodi aus europarechtlichem Anlass vorgelegte Untersuchung zur Tragweite des Auseinanderfallens von Ertrags- und Verwaltungskompetenz95 hinzuweisen. Die dort getroffenen Feststellungen zur Situation in Deutschland96 deuten aber vor allem darauf hin, dass in den auch hier bislang berücksichtigten „Quellen“ zur Praxis aufgrund der „Vereinbarung“ von 1970 ein Bild gezeichnet wird, das manche Fragen aufwirft und vor allem hinsichtlich der Position des Bundes – nicht zuletzt gestützt auch auf Bemerkungen des Bundesrechnungshofs97 – Anlass zu Korrekturen geben dürfte – dem Betrachter zeigt sich jetzt insgesamt ein Bild, in dem man trotz oder gerade angesichts wiederholter Bekundungen guten Willens seitens des BMF bei diesem ein „Klima der Zurückhaltung“ erkennen könnte. Zum anderen ist das vom Bundesverfassungsgericht in der Zinsbesteuerungs-Entscheidung98 aus dem Gebot der möglichst gleichmäßigen Belastung aller Steuerpflichtigen entwickelte Gebot nicht nur der Gleichheit der normativen Steuerpflicht, sondern auch der Gleichheit bei der Durchsetzung in der Steuererhebung zu nennen; die Verantwortung für diese auch faktische Belastungsgleichheit trägt der Gesetzgeber. Innerhalb des weiten Feldes der „Verantwortung des Gesetzgebers für ein verfassungsmäßiges Steuerrecht“99, die auch dessen Verantwortung für den Vollzug der Steuergesetze umfasst, hebt sie sich – allein schon wegen der Möglichkeit des Umschlags der materiellen Steuernorm in die Verfas95 K. Vogel / M. Rodi, Probleme bei der Erhebung von EG-Eigenmitteln aus rechtsvergleichender Sicht, 1995. 96 K. Vogel / M. Rodi (Fn. 95), S. 45 ff., insb. 49 ff. 97 Sie finden sich auch in den folgenden Jahren, allenfalls eher etwas resigniert. Hinzuweisen ist in diesem Zusammenhang schließlich auch auf das Urteil des BVerwG zur – vom Gericht bejahten -Befugnis des BRH, im Bereich der Steuerauftragsverwaltung Erhebungen bei Landesfinanzbehörden vorzunehmen, vgl. BVerwG DVBl. 2002, 1223. 98 BVerfGE 84, 239 (271 ff., 281 ff.) 99 So der Titel eines Beitrags von R. Mellinghoff, DStR, Beihefter 3 zu Heft 20 – 21 / 2003.
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sungswidrigkeit bei einem dem Gesetzgeber zurechenbaren Verstoß – in besonderer Weise hervor; sie kann sich gerade auch auf Verwaltungsvorschriften beziehen, die der Gesetzgeber „bewusst und gewollt hingenommen“100 hat. „Gesetzgeber“ im Sinne dieses Verantwortungszusammenhangs ist aber das Parlament und ihm wiederum verantwortlich der Bundesfinanzminister.
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BVerfGE 84, 239 (281).
Familienleistungsausgleich – eine Aufgabe des Steuerrechts? Von Dagmar Felix
I. Problemstellung Mit dem Jahressteuergesetz 1996 (JStG 1996) vom 11. Oktober 19951 hat der Gesetzgeber einen grundlegenden Systemwandel im Kindergeldrecht vollzogen. Das relativ junge Rechtsgebiet , das zu diesem Zeitpunkt bereits eine wechselvolle Geschichte einerseits der Weiterentwicklung und Ausdifferenzierung, andererseits der Anpassung an wechselnde Rahmenbedingungen hinter sich gebracht hatte2, wurde mit Wirkung vom 1. Januar 1996 vom Sozial- in das Steuerrecht verlagert, mit anderen Worten: Der sozialrechtlich konzipierte kindergeldrechtliche Familienlastenausgleich wurde insoweit durch den steuerrechtlich geregelten sogenannten Familienleistungsausgleich ersetzt. In seiner aktuellen Fassung beschreibt § 31 EStG die Zielsetzung der Kindergeldgewährung wie folgt: Die steuerliche Freistellung eines Einkommensbetrags in Höhe des Existenzminimums eines Kindes einschließlich der Bedarfe für Betreuung und Erziehung oder Ausbildung wird durch die Freibeträge nach § 32 Abs. 6 EStG oder durch Kindergeld nach dem X. Abschnitt bewirkt. Im laufenden Kalenderjahr wird das Kindergeld gemäß § 31 Satz 3 EStG an alle Eltern zunächst als monatliche Steuervergütung ausgezahlt. Ist der Abzug der Freibeträge günstiger als der Anspruch auf Kindergeld, erhöht sich die unter Berücksichtigung der Abzüge der Freibeträge für Kinder ermittelte tarifliche Einkommensteuer um den Anspruch auf Kindergeld; diese sogenannte Günstigerprüfung3 führt nur bei den sogenannten „besserverdienenden“ Eltern zum Abzug der Freibeträge4. Für die meisten Eltern ist das ausgezahlte Kindergeld in Höhe von derzeit 1848 A jährlich für die steuerliche Freistellung des Existenzminimums des Kindes ausreichend; der „überschießende“ Betrag verbleibt dem Steuerpflichtigen gemäß § 31 Satz 2 EStG als Leistung zur „Förderung der Familie“. BGBl. I, S. 1250. Ausführlich zur Geschichte des Kindergeldrechts in Deutschland seit Beginn der Industrialisierung bis zur letzten Neufassung des Bundeskindergeldgesetzes (BKGG) von 1994 O. Seewald / D. Felix, in: Wickenhagen / Krebs, BKGG, Einführung Rn. 44 ff.). 3 Hierzu M. Jachmann, in: Kirchhof / Söhn / Mellinghoff, EStG, § 31 Rn. B 27 ff.; H.-J. Kanzler, in: Herrmann / Heuer / Raupach, EStG § 31 Rn. 35; § 31 wurde durch das StÄndG 2003 vom 15. 12. 2003 neu gefasst. 4 Im einzelnen vgl. H. Ross, in: Dankmeyer / Giloy, EStG, § 31 Rn. 13 ff. 1 2
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Während die den verfassungsrechtlichen Vorgaben entsprechende Besteuerung der Familie, die in § 31 Satz 1 EStG angesprochen wird, zu den ureigensten Aufgaben des Einkommensteuerrechts gehört, wurde dem Steuerrecht mit der in § 31 Satz 2 EStG beschriebenen Zielsetzung eine Aufgabe der sozialen Sicherung übertragen, die bis dahin dem Sozialrecht zugewiesen war5. Der praktisch bedeutsame Familienleistungsausgleich ist dadurch zu einem zentralen Aspekt des ansonsten vor allem6 sozialrechtlich geprägten Familienlastenausgleichs 7 geworden. Im folgenden soll – nach einer kurzen Darstellung der Entstehungsgeschichte des aktuellen Familienleistungsausgleichs und der Konsequenzen, die sich aus der Verlagerung der Materie ergeben, – gezeigt werden, dass die Entscheidung des Gesetzgebers nicht nur zur Belastung des Einkommensteuerrechts mit einer letztlich „fremden“ Materie geführt hat; vielmehr führt die steuerrechtliche Betonung der Zielsetzung der Kindergeldgewährung zu einem Verständnis des Familienleistungsausgleichs, das sich in zunehmendem Maße von den Vorgaben des Zivilrechts löst und insoweit zu einer zu weitgehenden Förderung der Familie führt: Umverteilung darf nicht übertrieben werden, sonst wird sie kontraproduktiv8.
II. Entstehungsgeschichte, Hintergründe und Konsequenzen des aktuellen Familienleistungsausgleichs 1. Entstehungsgeschichte Die neue Konzeption des Kindergeldrechts erfolgte gesetzestechnisch in zwei Schritten: Zum einen wurde das bislang geltende Bundeskindergeldgesetz (BKGG) durch Art. 41 Abs. 8 JStG 1996 mit Wirkung vom 31. Dezember 1995 aufgehoben und durch ein neues BKGG ersetzt9. Die praktische Bedeutung des ab 1. Januar 1996 geltenden BKGG ist jedoch gering, weil es lediglich die Kindergeldberechti5 Vgl. in diesem Kontext § 6 SGB I: „Wer Kindern Unterhalt zu leisten hat oder leistet, hat ein Recht auf Minderung der dadurch entstehenden wirtschaftlichen Belastungen“. Der Kindergeldgewährung nach Maßgabe des BKGG, das als Teil des SGB (§ 68 Nr. 9 SGB I) ausgestaltet ist, kommt in der Praxis heute keine große praktische Bedeutung mehr zu (hierzu unter II.). 6 Selbstverständlich enthalten auch andere Teilrechtsordnungen Aspekte eines Familienlastenausgleichs – so etwa das Besoldungsrecht, das für Beamte mit Familie besondere Zuschläge vorsieht (§§ 39 ff. BBesG); bei einem weiten Begriffsverständnis lassen sich auch bestimmte arbeitsrechtliche Erleichterungen für Kinder zum Familienlastenausgleich zählen – so etwa die Elternzeit (§§ 15 ff. BErzGG). 7 Hierzu D. Felix, Familienlastenausgleichsrecht, in: Handbuch des Sozialrechts, 3. Aufl. 2003, S. 1518; neben dem steuerrechtlichen Familienleistungsausgleich erfolgt ein Familienlastenausgleich durch eine Vielzahl anderer Gesetze, so dass es nicht erforderlich ist, die Terminologie grundlegend zu ändern (so aber B. Schulin / G. Igl, Sozialrecht, 7. Aufl., Rn. 8839). 8 Hierzu schon E. von Hippel, Grundfragen der Umverteilung, SGb 2001, S. 352, 354. 9 Art. 2 JStG 1996.
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gung bestimmter im Ausland lebender Personen sowie von Vollwaisen regelt, die für sich selbst Kindergeld erhalten. Der Kindergeldanspruch für alle sonstigen Eltern – und damit für den weitaus überwiegenden Teil aller Kindergeldberechtigten – ist heute im Einkommensteuerrecht geregelt, das durch Art. 2 Nr. 61 JStG 1996 durch einen mit „Kindergeld“ überschriebenen Abschnitt X ergänzt wurde10. Der ebenfalls durch das JStG 1996 neu gefasste und seither wiederholt modifizierte11 § 31 EStG benennt die „Doppelfunktion“ der Kindergeldgewährung: Zum einen geht es um die einkommensteuerliche Freistellung eines näher umschriebenen Existenzminimums des Kindes; zum anderen um eine Förderung der Familie. 2. Hintergründe der aktuellen Konzeption Die Neuregelung des Kindergeldrechts durch das JStG geht – ebenso wie die späteren Änderungen vor allem der §§ 31 und 32 EStG – auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) zurück. In seiner als „Kindergeldbeschluss“ bekannt gewordenen Entscheidung vom 29. Mai 199012, in der das Gericht erstmals nachdrücklich die steuerliche Freistellung des Existenzminimums nicht nur des Steuerpflichtigen, sondern auch seiner Familie forderte, berücksichtigte der Erste Senat bei der Prüfung der steuerlichen Freistellung nicht nur den steuerrechtlichen Kinderfreibetrag, der in der streitentscheidenden Zeit 432 DM jährlich betrug13, sondern auch das nach dem BKGG zu gewährende Kindergeld, das er in einen zusätzlichen, „fiktiven“ Kinderfreibetrag umrechnete14. Diese gleichsam additive Betrachtungsweise von Kinderfreibetrag und Kindergeld hat der Gesetzgeber mit dem JStG 1996 weiterentwickelt und institutionalisiert, indem er – alternativ zum Freibetrag15 – das Kindergeld als monatlich zu zahlende Steuervergütung in das Einkommensteuergesetz übernommen hat. 10 Wie sich später herausstellen sollte, war dies nicht die letzte bedeutende Ergänzung des Einkommensteuerrechts: Seit dem 1. 1. 2002 findet sich ein Abschnitt X (§§ 79 – 99 EStG), der die Altersvorsorgezulage im Rahmen der sogenannten „Riester-Rente“ regelt. 11 Zunächst erfolgt eine Änderung des § 31 EStG durch das Gesetz zur Familienförderung vom 22. 12. 1999 (BGBl. I, S. 2552; hierzu ausführlich R. Seer / V. Wendt, Die Familienbesteuerung nach dem sogenannten Familienförderungsgesetz vom 22. 12. 1999, NJW 2000, S. 1904; M. Stahlschmidt, Die Neuregelung der Freistellung des Existenzminimums von Kindern durch das Gesetz zur Familienförderung, BB 2000, S. 1327; G. Nolde, Änderungen im Familienleistungsausgleich durch das Familienförderungsgesetz vom 22. 12. 1999, FR 2000, S. 187). Kurze Zeit später führte das Zweite Gesetz zur Familienförderung vom 16. 8. 2001 (BGBl. I, S. 2074) zu einer erneuten Änderung des § 31 Satz 1 EStG (hierzu D. Felix, Das Zweite Gesetz zur Familienförderung, NJW 2001, S. 3073). Vgl. auch Art. 1 Nr. 11 StÄndG 2003 vom 15. 12. 2003 (BGBl. I, S. 2645). 12 BVerfGE 82, S. 60 ff. 13 Hierzu ausführlich M. Jachmann (Fn. 3), EStG, § 31 Rn. A 20 ff., A 28. 14 Kritisch zu dieser Vorgehensweise O. Seewald / D. Felix, Kindergeld – Sozialleistung mit steuerlicher Entlastungsfunktion?, VSSR 1991, S. 157 ff.
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Seit dem Kindergeldbeschluss hat das BVerfG wiederholt zu Fragen des Familienleistungsausgleichs Stellung genommen. Hervorzuheben sind hierbei vor allem die Beschlüsse vom 10. November 199816, durch die das Gericht den Gesetzgeber verpflichtet hatte, spätestens mit Wirkung vom 1. Januar 2000 eine Neuregelung hinsichtlich des Betreuungsbedarfs und spätestens mit Wirkung vom 1. Januar 2002 hinsichtlich Haushaltsfreibetrag / Erziehungsbedarf zu treffen. Diesen Forderungen ist der Gesetzgeber in einem ersten Schritt durch das Gesetz zur Familienförderung17 nachgekommen; in § 32 Abs. 6 EStG wurde ein typisierter Betreuungsfreibetrag von 3024 DM für ein Elternpaar eingeführt, der unabhängig von den tatsächlichen Aufwendungen abgezogen wird. Mit dem am 1. Januar 2002 in Kraft getretenen Zweiten Gesetz zur Familienförderung18 wurde die verfassungsrechtliche Forderung nach der steuerlichen Berücksichtigung des Erziehungsbedarfs des Kindes erfüllt; die Schaffung der neuen Freibeträge19 wurde allerdings teilweise durch Beschränkung bzw. Streichung anderer Freibeträge kompensiert20. Durch Art. 1 Nr. 19 des Zweiten Gesetzes zur Familienförderung wurde auch das Kindergeld für die beiden ersten Kinder21 erhöht: Seit dem 1. Januar 2002 wird für sie – ebenso wie für das dritte Kind – monatlich je 154 A gezahlt. Zu beachten ist hierbei, dass die Anhebung der Kindergeldbeträge verfassungsrechtlich nicht zwingend war, sondern vielmehr auf einer sozialpolitischen Entscheidung des Gesetzgebers beruhte: Da die steuerliche Freistellung des Existenzminimums nach der Konzeption des § 31 EStG in jedem Fall durch die entsprechenden Freibeträge des § 32 Abs. 6 EStG erfolgt22, ist deren Höhe verfassungsrechtlich vorgegeben, nicht jedoch die Höhe des Kindergeldes. Begünstigt wurden durch die Anhebung des Kindergeldes diejenigen Eltern, deren Einkommen im unteren und mittleren 15 Insoweit ist die deutliche Erhöhung des Kindergeldes im Jahre 1996 nicht als sozialpolitische Entscheidung zugunsten der Familie zu sehen; sie liegt allein darin begründet, dass im Regelfall das Kindergeld ab 1. 1. 1996 – anstelle des Kinderfreibetrags – die verfassungsrechtlich geforderte Freistellung des Existenzminimums bewirken sollte. 16 2 BvL 42 / 93 (BVerfGE 99, S. 246), 2 BvR 1120 / 93 (BVerfGE 99, S. 268), 2 BvR 1852 / 97, 2 BVR 1853 / 97 (BVerfGE 99, S. 273 ff.) zum Thema Kinderleistungsausgleich und Existenzminimum sowie 2 BvR 1057 / 91, 2 BVR 1126 / 91 und 2 BvR 980 / 91 (BVerfGE 99, S. 216 ff.) zum Thema Kinderbetreuungskosten und Haushaltsfreibetrag. 17 Vom 22. 12. 1999 (BGBl. I, S. 2552). 18 Vom 16. 8. 2001 (BGBlI, S. 2074). 19 Nach aktuellem Recht gewährt § 32 Abs. 6 EStG für Ehegatten, die nach den §§ 26, 26b EStG zusammen zur Einkommensteuer veranlagt werden, je Kind einen Kinderfreibetrag in Höhe von 3648 A für das sächliche Existenzminimum des Kindes sowie einen Freibetrag in Höhe von 2160 A für den Betreuungs- und Erziehungs- oder Ausbildungsbedarf des Kindes. 20 Hierzu D. Felix, Das Zweite Gesetz zur Familienförderung, NJW 2001, S. 3073. 21 Zur Staffelung des Kindergeldes und zur Rangfolge der Kinder vgl. D. Felix, in: Kirchhof / Söhn / Mellinghoff, EStG, § 66 Rn. B 3 ff. 22 Wird die verfassungsrechtlich gebotene Freistellung durch das Kindergeld nicht bewirkt, werden gemäß § 31 Satz 4 EStG die Freibeträge abgezogen. 23 Zur Vergleichsrechnung M. Jachmann (Fn. 3), § 31 Rn. B 27 ff.
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Bereich liegt23: Sie kommen seit dem 1. Januar 2002 verstärkt in den Genuss des Kindergeldes als einer Leistung zur Förderung der Familie24.
3. Konsequenzen Die Verlagerung des Kindergeldrechts in das Steuerrecht hat nicht nur eine Reihe grundlegender Änderungen des materiellen Rechts mit sich gebracht25; bedeutsam ist vor allem, dass seit dem 1. Januar 1996 Kindergeld nicht mehr gleich Kindergeld ist26. Dies wirft eine Reihe grundlegender Fragen auf27. Soweit es das BKGG in der aktuellen Fassung28 betrifft, handelt es sich nach wie vor um eine staatliche Leistung zur Minderung des Familienaufwands im Sinne des § 6 SGB I. Da es sich beim BKGG um einen Teil des SGB handelt, kommt das SGB X als Verfahrensrecht zur Anwendung. Für Verfahren nach dem BKGG sind nach wie vor die Sozialgerichte zuständig29. Völlig anders ist die Rechtslage hinsichtlich des gemäß §§ 31, 62 ff. EStG zu gewährenden steuerrechtlichen Kindergeldes. Zwar sind auch hier dieselben Familienkassen, nämlich die Agenturen für Arbeit für die Durchführung des Familienleistungsausgleichs zuständig30; anders als im Rahmen des BKGG fungieren diese jedoch als Finanzbehörden31 und handeln nach Maßgabe der Abgabenordnung, deren Vorschriften auch für die Steuervergütung „Kindergeld“ gelten32. Auch die gerichtliche Zuständigkeit ist eine andere: Für kindergeldrechtliche Streitigkeiten ab 1. Januar 1996 sind die Finanzgerichte zuständig, die seitdem über eine Flut von kindergeldrechtlichen Klagen zu entscheiden hatten. Eine ganze Reihe von Streitfragen sind mittlerweile vom Bundesfinanzhof (BFH) entschieden; dabei fällt auf, dass seine Rechtsprechung sich in ganz zentralen Punkten von der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG), das bis Ende 1995 die Alleinzuständigkeit für das Thema „Kindergeld“ hatte, unterscheidet – darauf wird zurückzukommen sein.
24 Sozialhilfeempfänger haben von dieser Erhöhung allerdings nicht profitiert (hierzu D. Felix, Das Zweite Gesetz zur Familienförderung, NJW 2001, S. 3073, 3075). 25 Hierzu O. Seewald / D. Felix, Kindergeldrecht, Einführung Rn. 14 ff. 26 So der plakative Titel eines Beitrags von H.-H. Schild, NJW 1996, S. 2414. 27 H. Schöberle, Kinderleistungsausgleich im Schnittpunkt steuerrechtlicher Erfordernisse und sozialpolitischer Aspekte, DStZ 1999, S. 693. 28 Vom 2.1. 2002 (BGBl. I, S. 6). 29 Vgl. § 15 BKGG i.V.m. § 51 Abs. 1 Nr. 10 SGG. 30 Vgl. § 13 BKGG einerseits und § 67 EStG andererseits. 31 Hierzu § 5 Abs. 1 Nr. 11 FVG. 32 § 1 Abs. 1 AO. 33 Hierzu H. D. Jarass, GG, 6. Aufl., Art. 20 Rn. 102 ff.
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III. Soziale Förderung der Familie durch das Steuerrecht? 1. Allgemeines Gegen die Verlagerung des Kindergeldrechts in das Steuerrecht und die damit verbundene Familienförderung durch das Einkommensteuergesetz bestehen prinzipiell keine Bedenken. Das Sozialrecht kann für sich keine Monopolstellung beanspruchen, wenn es um den Familienlastenausgleich im weiteren Sinne geht. Das in Art. 20 Abs. 1 GG33 normierte Sozialstaatsprinzip wurde von der Gesetzgebung nicht nur im Rahmen des Sozialrechts umgesetzt; die gesamte Rechtsordnung – vom Sozialrecht über das Zivilrecht34 bis hin zum Beamten35- oder Strafrecht36 – ist heute sozialstaatlich geprägt. Auch wenn das Einkommensteuerrecht in erster Linie an die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit des Steuerpflichtigen anknüpft37, ist doch unbestritten, dass mit der Steuergesetzgebung neben dem Zweck der Finanzierung der Staatsaufgaben weitere konkrete Ziele verfolgt werden38 – gerade im Bereich der Steuervergünstigungen handelt es sich häufig um indirekte Subventionen, die nicht fiskalisch, sondern etwa sozialpolitisch motiviert sind39. In diese Kategorie gehört nach der ausdrücklichen Festlegung des § 31 Satz 2 EStG nunmehr auch40 die Förderung der Familie. Bezogen auf die gleichsam soziale Zielsetzung des Kindergeldrechts entspricht die in § 31 EStG enthaltene Regelung prinzipiell auch den Grundsätzen des Sozialrechts, die gerade im Bereich des Kindergeldrechts immer auch die Bedürftigkeit der Eltern im Auge hatte: Gegenstand des bekannten Kindergeldbeschlusses41 war § 10 Abs. 2 BKGG a.F., der die sogenannte Minderung des Kindergeldes für „besserverdienende Eltern“ vorsah. Während Eltern mit entsprechend hohem Einkommen, bei denen im nachhinein die Freibeträge des § 32 Abs. 6 EStG abgezogen werden, weil das Kindergeld zur steuerlichen Freistellung des Existenzminimums nicht ausreichend ist, letztlich gar nicht in den Genuss einer Familienförderung kommen, ist dies bei gering verdienenden Eltern, die das Ziel der verfassungsgemäßen Besteuerung schon mit einem Teil-
34 Zur „Vitalität“ des Sozialrechts im Zivilrecht vgl. etwa M. Fuchs, Zivilrecht und Sozialrecht, 1992, S. 78 ff. 35 BVerfGE 14 S. 30, 33; BVerfGE 44, S. 249, 267, 273 ff. 36 BVerfGE 35, S. 202, 235 f.; BVerfGE 45, S. 187, 238 f. 37 Grundlegend hierzu J. Lang, in: Tipke / Lang, Steuerrecht, 17. Aufl. 2002, § 4 Rn. 81 ff. 38 Zur Abgrenzung sogenannter Fiskalzweck- und Lenkungsnormen im Steuerrecht D. Birk, Steuerrecht, 4. Aufl. 2001, Rn. 168 ff. In verfassungsrechtlicher Hinsicht – vor allem mit Blick auf die Gesetzgebungskompetenz – sind Lenkungsnormen prinzipiell zulässig (BVerfGE 36, S. 66, 70 f.; BVerfGE 98, S. 106, 117). Zur materiellen Verfassungsmäßigkeit vgl. D. Birk, ebd., Rn. 176 m. w. N. 39 Zum Charakter der Steuervergünstigungen als Sozialzwecknormen vgl. J. Lang (Fn. 37), § 7 Rn. 36. 40 Hierzu M. Jachmann (Fn. 3), § 31 Rn. A 49. 41 Hierzu oben unter II. 2.
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betrag des Kindergeldes erreichen, sehr wohl der Fall. Es gilt der Grundsatz: Je höher das Einkommen, desto geringer – jedenfalls vom Prinzip her42 – die steuerliche Förderung der Familie.
2. Kindergeldgewährung als „Fremdkörper“ im Einkommensteuergesetz? Die Bedenken gegen die Verlagerung des Kindergeldrechts sind vielmehr in erster Linie dogmatischer Natur. Weder das Einkommensteuergesetz noch die Abgabenordnung sind für die Kindergeldzahlung konzipiert, was die Übernahme einzelner Normen aus dem Sozialrecht in das Einkommensteuerrecht erforderlich gemacht hat43. Dies betrifft zum einen Vorschriften wie § 74 Abs. 1 EStG, der in seiner ab 1. Januar 2002 geltenden Fassung nur noch die Auszahlung des Kindergeldes an andere Personen bei Verletzung einer gesetzlichen Unterhaltspflicht gegenüber dem Zählkind regelt44. Die Regelung verdeutlicht zunächst, dass sich trotz der Verlagerung des Kindergeldrechts in das Steuerrecht und der damit verbundenen Änderung der Zielsetzung der Kindergeldgewährung an der grundlegenden Zweckbestimmung letztlich nichts geändert hat: Auch wenn das Kindergeld heute primär der steuerlichen Freistellung des Existenzminimums des Kindes dienen soll, geht der Gesetzgeber davon aus, dass der gezahlte Betrag letztlich für den Unterhalt der Familie verwendet werden soll. Diesen Gedanken greift § 74 Abs. 1 EStG auf; die Regelung ermöglicht der Familienkasse im Bedarfsfall eine schnelle und unbürokratische Hilfeleistung, der den Betroffenen den oft zeitraubenden Weg über einen Zivilprozess und die anschließende Zwangsvollstreckung erspart. § 74 Abs. 1 EStG entspricht § 48 Abs. 1 SGB I – im Sozialrecht ist die sogenannte „Abzweigung“ für alle Sozialleistungen vorgesehen. Im materiellen Einkommensteuerrecht wirkt diese – rechtspolitisch sinnvolle – Regelung jedoch wie ein Fremdkörper. Entsprechendes gilt für § 75 EStG, der – in Abweichung von den allgemeinen Regelungen der § 394 BGB und § 226 Abs. 1 AO – die Zulässigkeit einer Aufrechnung der Familienkasse mit Ansprüchen auf Rückzahlung von Kindergeld gegen laufende Kindergeldansprüche regelt45, sowie für § 76 EStG, der im Hinblick auf die Pfändbarkeit des Kindergeldes § 46 Abs. 1 42 Die Ungleichbehandlung in der Familienförderung, die sich durch die Einflussnahme von Sozialzweck- bzw. Lenkungsnormen sowie die Anwendung bzw. Nichtanwendung des Splittingverfahrens auf Steuersatz bzw. Progression ergibt (kritisch dazu H. J. Helmke in Berlebach, Familienleistungsausgleich, A. I. § 31 Rn. 4), bewegt sich noch im Rahmen zulässiger Typisierung (M. Jachmann, Fn. 3, § 31 Rn. A 51). 43 Kritisch H. Ross (Fn. 4), § 62 Rn. 24. 44 Zur Entstehungsgeschichte des § 74 EStG vgl. D. Felix, in: Kirchhof / Söhn / Mellinghoff, EStG, § 74 A 14 ff. 45 Hierzu D. Felix (Fn. 44), § 75 Rn. B 1 ff.
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AO modifiziert und die Regelung des § 54 Abs. 5 SGB I in das Einkommensteuerrecht überträgt46. Besondere Probleme hat die Verlagerung des Kindergeldrechts in das Steuerrecht im Hinblick auf die Rechtsnatur der Kindergeldzahlung mit sich gebracht. Das Kindergeld wird gemäß § 31 Satz 3 EStG im laufenden Kalenderjahr an alle Eltern als monatlich zu zahlende Steuervergütung gewährt; bei der Kindergeldfestsetzung handelt es sich damit um einen Dauerverwaltungsakt, denn sie erschöpft sich nicht in einem einmaligen Ver- oder Gebot oder in einer einmaligen Gestaltung der Rechtslage, sondern begründet ein auf Dauer berechnetes Rechtsverhältnis, das die Gewährung von wiederkehrenden Leistungen zur Folge hat47. Dieses Phänomen ist dem Steuerrecht anders als dem Sozialrecht fremd: Die Abgabenordnung ermöglicht keine spezielle Korrektur von Dauerverwaltungsakten, weshalb – wiederum im materiellen Einkommensteuerrecht – speziell für das Kindergeldrecht geltende Korrekturvorschriften aufgenommen werden mussten48. Auch § 70 EStG erscheint insoweit als Bruch in der Systematik des Steuerrechts49. In seiner ursprünglichen Fassung bestand § 70 EStG aus zwei Absätzen, wobei Absatz 2 der Regelung des § 48 SGB X nachgebildet wurde, der die Aufhebung eines Verwaltungsakts mit Dauerwirkung bei Änderung der Verhältnisse vorsieht. Die §§ 130, 131 AO gelten nach § 172 Abs. 1 S. 1 Nr. 2d) 2. HS AO nicht; denn für Steuervergütungen sind nach § 155 Abs. 6 AO die Vorschriften über die Steuerfestsetzung und damit auch die §§ 172 ff. AO anzuwenden. § 173 AO betrifft nachträglich bekannt gewordene Tatsachen und Beweismittel, die bei der Kindergeldfestsetzung vorhanden, aber noch unbekannt waren; ein rückwirkendes Ereignis im Sinne von § 175 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 oder Abs. 2 AO liegt in der Regel nicht vor. § 70 Abs. 2 EStG ist eine „sonst gesetzlich zugelassene“ Berichtigung im Sinne von § 172 Abs. 1 S. 1 Nr. 2d) AO50. Schon durch das Jahressteuer-Ergänzungsgesetz 199651 wurde § 70 EStG um seinen Absatz 3 ergänzt, der es ermöglicht, materielle Fehler der letzten Festsetzung durch Neufestsetzung oder durch Aufhebung der Festsetzung zu beseitigen – auch hier gibt die Abgabenordnung der Familienkasse keine ausreichende Handhabe. Nach diversen weiteren Änderungen der Vorschrift52 wurde mit Wirkung vom 1. Januar 2002 schließlich § 70 Abs. 4 EStG angefügt53, der den langjährigen Streit über die Rechtsgrundlage für die AufHierzu D. Felix (Fn. 44), § 76 Rn. A 26. Zur Begrifflichkeit vgl. S. Wiesner, in: von Wulffen, SGB X, 4. Aufl., § 48 Rn. 3. 48 Soweit die jeweiligen Voraussetzungen vorliegen, kann eine Änderung der Kindergeldfestsetzung auch nach §§ 129, 172 ff. AO in Betracht kommen; diese Vorschriften sind neben § 70 EStG anwendbar (vgl. zu § 70 Abs. 2 EStG BFH, BStBl II 2002, S. 81 und zu § 70 Abs. 3 EStG BFH BStBl II 2002, S. 174). 49 W. Bergkemper, Aufhebung oder Änderung einer Kindergeldfestsetzung, FR 2000, S. 136, 137. 50 BFH / NV 1999, S. 1597. 51 Vom 18. 12. 1995 (BGBl. I, S. 1959). 52 Hierzu D. Felix (Fn. 44), § 70 Rn. A 11 ff. 46 47
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hebung der Kindergeldfestsetzung bei Überschreiten des in § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG normierten Jahresgrenzbetrags für die eigenen Einkünfte und Bezüge des Kindes54 beendete. § 70 Abs. 4 EStG ist eine spezialgesetzliche Korrekturvorschrift, die auf die – negative – Tatbestandsvoraussetzung des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG abgestimmt ist. Gerade die in § 70 Abs. 2 bis 4 EStG enthaltenen materiellen Korrekturvorschriften, die im Hinblick darauf erforderlich sind, dass das für Steuerbescheide geltende Berichtigungssystem der Abgabenordnung nicht für Verwaltungsakte mit Dauerwirkung zugeschnitten ist, verdeutlichen die Folgeprobleme, die sich aus der – letztlich überflüssigen55 – Verlagerung der Materie in das Steuerrecht ergeben56. Schließlich sei in diesem Zusammenhang noch auf § 77 EStG hingewiesen: Die Vorschrift entspricht § 63 SGB X und verpflichtet die Familienkasse zur Erstattung von Kosten im Vorverfahren. Im außergerichtlichen Rechtsverfahren nach der Abgabenordnung ist eine Erstattung von Kosten grundsätzlich nicht vorgesehen – auch hier war eine Übernahme systemfremder Elemente in das Steuerrecht erforderlich, um eine Schlechterstellung des Bürgers zu vermeiden57. In rechtspolitischer Hinsicht ist diese Entscheidung zu begrüßen; auch § 77 EStG stellt jedoch einen Fremdkörper im Einkommensteuergesetz dar. Faktisch hat der Gesetzgeber mit dem Jahressteuergesetz 1996 den Wortlaut des sozialrechtlich konzipierten Bundeskindergeldgesetzes in das Einkommensteuergesetz übernommen – auch heute noch entsprechen sich die Vorschriften der §§ 62 ff. EStG und der §§ 1 ff. BKGG n.F. fast vollständig. Ergänzt wurde der Regelungskomplex um Vorschriften aus dem Allgemeinen Teil des Sozialgesetzbuchs (SGB I) und dem Sozialverwaltungsverfahrensrecht (SGB X). Angesichts dieser Identität drängt sich die Frage auf, ob man die Materie – bei gleichzeitiger Erfüllung der vom BVerfG gemachten Vorgaben – nicht auch im Sozialrecht hätte belassen können.
53 Die Ergänzung erfolgte durch das Zweite Gesetz zur Familienförderung vom 18. 8. 2001 (BGBl. I, S. 2074); hierzu D. Felix, Das Zweite Gesetz zur Familienförderung, NJW 2001. S. 3073. 54 Hierzu ausführlich D. Felix (Fn. 44), § 70 Rn. C 12 m. w. N. 55 Hierzu gleich unter IV. 56 Zu den erheblichen Problemen im Zusammenhang mit der Korrektur von Kindergeldfestsetzungen vgl. S. Tiedchen, Die Änderung von bestandskräftigen Kindergeldbescheiden, DStZ 2000, S. 237, 244; W. Bergkemper, Aufhebung oder Änderung einer Kindergeldfestsetzung, FR 2000, S. 136, R. Huhn, Versagender / aufhebender Kindergeldbescheid oder Nullbescheid: Dauerverwaltungsakt und Bestandskraft, FR 2000, S. 141; D. Felix, Korrektur von Kindergeldfestsetzungen – zur Bestandskraft von Verwaltungsakten gemäß § 70 Abs. 1 EStG, FR 2001, S. 674. Vgl. hierzu nunmehr auch BFH, BStBl II 2002, S. 88 und BFH, BStBl II 2002, S. 89. 57 Vgl. D. Felix (Fn. 44), § 77 Rn. A 1.
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3. Im besonderen: Die Handhabung des Familienleistungsausgleichs durch den Bundesfinanzhof (BFH) a) Familienförderung als unbedingte Zielvorgabe? Die gesetzessystematischen Bedenken gegen die Verlagerung des Kindergeldrechts in das Einkommensteuerrecht werden noch verstärkt, wenn man die faktischen Konsequenzen der gesetzgeberischen Entscheidung berücksichtigt. Seit dem Kindergeldbeschluss des BVerfG aus dem Jahre 1990 lässt sich eine Tendenz zu einer fast unreflektierten Entlastung der Familie erkennen. Gerade das BVerfG selbst hat im Bereich des Familienlastenausgleichs eine Rolle übernommen, die das Prinzip der Gewaltenteilung jedenfalls in Frage stellt58 und – teilweise aufgrund dogmatisch nicht überzeugend begründeter Entscheidungen59 – einen erheblichen Aufschwung des Familienlastenausgleichs bewirkt hat. Diese Tendenz lässt sich auch in der Rechtsprechung des BFH zum Kindergeldrecht nachzeichnen. Die Verlagerung des Kindergeldrechts in das Steuerrecht hat insoweit nicht nur eine ganze Reihe grundlegender Änderungen des materiellen Rechts mit sich gebracht60, vielmehr hat das Kindergeldrecht durch die seit dem 1. Januar 1996 zuständige Finanzgerichtsbarkeit in entscheidenden Bereichen eine völlig neue Auslegung erfahren. Dabei wird zu zeigen sein, dass die Begründung des BFH zugunsten einer eher großzügigen Handhabung des Familienleistungsausgleichs nicht überzeugt; insoweit überrascht es nicht, dass diese Rechtsprechung teilweise durch den Gesetzgeber korrigiert wurde. Im folgenden soll die „familienfreundliche“ Rechtsprechung des BFH an zwei Beispielen verdeutlicht werden; anschließend ist zu fragen, ob die vom Gericht vorgebrachte Begründung mit der Zielsetzung der Kindergeldgewährung in Einklang zu bringen ist.
58 Dies betrifft vor allem die Entscheidungen zum Familienleistungsausgleich, die nach der – dogmatisch nicht gelungenen – Umsetzung des Kindergeldbeschlusses durch Schaffung der §§ 31 und 32 EStG getroffen wurden (vgl. BVerfGE 99, S. 216 – dort vor allem S. 244, BVerfGE 99, S. 246 und BVerfGE 99, S. 273; zu den Konsequenzen dieser Rechtsprechung D. Felix, Das Zweite Gesetz zur Familienförderung, NJW 2001, S. 3073). 59 Besonders die Entscheidung des BVerfG vom 3. 4. 2001 (NJW 2001, S. 1712) lässt eine Begründung für die fehlende Ausgleichswirkung der Familienversicherung völlig vermissen (hierzu auch F. Ruland, Das BVerfG und der Familienlastenausgleich in der Pflegeversicherung, NJW 2001, S. 1673, 1675); angesichts des Beurteilungsspielraums, den das Gericht im Rahmen des Art. 3 Abs. 1 GG üblicherweise einräumt, ist dies überraschend. 60 Hierzu O. Seewald / D. Felix (Fn. 25), Einführung Rn. 14 ff.; diese Änderungen betreffen die kindergeldrechtliche Anspruchsberechtigung ebenso wie den Kreis der berücksichtigungsfähigen Kinder.
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b) Eigene Einkünfte und Bezüge des Kindes im Kindergeldrecht Das Thema der sogenannten berücksichtigungsschädlichen eigenen Einkünfte und Bezüge des Kindes hatte sich von Beginn an als ein „Dauerbrenner“61 der finanzrechtlichen Rechtsprechung und Literatur erwiesen. Die überaus komplexe Regelung des § 32 Abs. 4 Satz 2 ff. EStG, durch die sichergestellt werden soll, dass nur diejenigen Eltern in den Genuss von Freibeträgen für Kinder und Kindergeld kommen, die durch ihre Kinder auch nach Erreichen deren Volljährigkeit weiterhin finanziell belastet und deshalb in ihrer steuerlichen Leistungsfähigkeit entsprechend beschränkt sind, wirft eine Vielzahl von Detailfragen auf. Betrachtet man die Rechtsprechung der Finanzgerichte, so ist festzustellen, dass diese – anders als die bis Ende 1995 zuständige Sozialgerichtsbarkeit – tendenziell eher zugunsten der Kindergeldberechtigten entscheiden. Dies gilt auch für die Rechtsprechung des BFH: Während das Gericht die Regelung des § 32 Abs. 4 Satz 2 ff. EStG trotz der Ausgestaltung des maßgeblichen Betrags als Grenzbetrag62 insgesamt als verfassungsrechtlich unbedenklich gewertet hat, zeugen andere Entscheidungen in diesem Kontext vom Bemühen des Gerichts, den Kindergeldanspruch nach Möglichkeit zu wahren. Die Rechtsprechung des BFH führt – insoweit überrascht die dagegen vorgebrachte Kritik nicht63 – zu Ergebnissen, die zwar vom Gesetzeswortlaut noch gedeckt sein dürften, insgesamt aber nicht befriedigen können. Der Gesetzgeber hat diese Rechtsprechung deshalb durch das Zweite Gesetz zur Familienförderung64 zu Recht korrigiert. Konkret ging es zum einen um die Berücksichtigung von Einnahmen des Kindes in Höhe des Versorgungs-Freibetrags und des Sparer-Freibetrags. Der BFH hatte in seiner Entscheidung vom 26. September 200065 die Ansicht vertreten, dass die Begriffe „Einkünfte“ und „Bezüge“ im Sinne des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG einander ausschließen, mit anderen Worten: Finanzielle Mittel, die bereits im Rahmen der Einkünfteermittlung berücksichtigt wurden, sind nach Ansicht des BFH keine Bezüge. Von Bedeutung war diese Rechtsprechung vor allem für die genannten Freibeträge: Da Versorgungsbezüge und Kapitaleinnahmen dem Grunde nach zu den steuerpflichtigen Einnahmen gehören und die Freibeträge hier bei der Ermittlung der Höhe der jeweiligen Einkünfte berücksichtigt werden, handelt es sich nach dieser Auffassung bei Einnahmen des Kindes in Höhe dieser Freibeträge nicht um Bezüge. Die Rechtsprechung des BFH missachtet hier den Gesetzeszweck des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG: Das Kindergeld dient dazu, der durch Kinder bedingten verminderten Leistungsfähigkeit der Eltern Rechnung zu tragen. In dem Maße, in
Vgl. hierzu nur die Nachweise bei D. Felix (Fn. 44), § 63 Rn. D 106 ff. Zur Verfassungsmäßigkeit der sogenannten „Fallbeilregelung“ vgl. BFH, FR 2000, S. 1142. 63 R. Mellinghoff, Kommentar zu BFH vom 26. 9. 2002 (VI R 85 / 99), FR 2000, S. 1292. 64 Vom 16. 8. 2001 (BGBl. I, S. 2074). 65 NJW 2001, S. 95. 61 62
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dem das Kind über eigene finanzielle Mittel verfügt, bedarf es gerade keiner wirtschaftlichen Unterstützung mehr durch die Eltern. Folgt man dagegen dem BFH, kommt es auf die tatsächliche Bedürftigkeit gar nicht an. Vielmehr entscheiden gesetzestechnische Zufälligkeiten darüber, ob ein Kindergeldanspruch für das Kind besteht oder nicht66. Vor dem Hintergrund des Art. 3 Abs. 1 GG kann es jedoch keinen Unterschied machen, ob ein Kind Einkünfte durch Kapitaleinkünfte in Höhe von beispielsweise 1000 A erhält oder denselben Betrag als Übungsleiter im Sinne des § 3 Nr. 26 EStG erzielt. Bei der Neufassung der maßgeblichen Vorschrift im Rahmen der Verlagerung des Kindergeldrechts in das Steuerrecht kam es dem Gesetzgeber gerade darauf an, alle Einnahmen des Kindes zu erfassen, die – spiegelbildlich betrachtet – die steuerliche Leistungsfähigkeit seiner Eltern erhöhen. Insofern erscheint die mit Wirkung vom 1. Januar 2002 erfolgte Korrektur durch den Gesetzgeber67 sachgerecht: Nach der Neufassung des § 32 Abs. 4 Satz 4 EStG gehören neben bestimmten steuerfreien Gewinnen sowie Sonderabschreibungen und erhöhten Absetzungen ausdrücklich auch die steuerfreien Gewinne nach § 19 Abs. 2 EStG und § 20 Abs. 4 EStG zu den Bezügen. Ebenfalls als Reaktion des Gesetzgebers auf die zu „familienfreundliche“ Rechtsprechung des BFH ist die Einfügung des § 32 Abs. 4 Satz 6 EStG sowie die damit in Zusammenhang stehende Neufassung des § 32 Abs. 4 Satz 7 EStG zu werten. In der ab 1. Januar 2002 geltenden Fassung bestimmt § 32 Abs. 4 Satz 6 EStG, dass Einkünfte und Bezüge des Kindes in einem Monat, in dem die Voraussetzungen für eine Berücksichtigung des volljährigen Kindes nur in einem Teil des Kalendermonats vorgelegen haben, nur insoweit anzusetzen sind, als sie auf diesen Teil entfallen. Hintergrund dieser Regelung ist die sogenannte Zwölftelung des Jahresgrenzbetrags für eigene Einkünfte und Bezüge des Kindes sowie die Festlegung der sogenannten Kürzungsmonate. Die mit der Verlagerung des Kindergeldrechts in das Steuerrecht erfolgte Umstellung von einem Monats- auf den Jahresgrenzwert68, die für die Betroffenen und die Verwaltung erhebliche Vorteile mit sich gebracht hat69, erfordert eine Ermittlung des Grenzbetrags im konkreten Einzelfall. Liegen die Voraussetzungen des § 32 Abs. 4 Satz 1 EStG nämlich nicht während des gesamten Kalenderjahres vor, weil das Kind seine Berufsausbildung etwa im Juni eines Jahres beendet hat und anschließend berufstätig ist, muss der Jahresgrenzbetrag für eigene Einkünfte und Bezüge des Kindes entsprechend verringert werden, um eine ungerechtfertigte Besserstellung dieses Kindes zu vermeiden. Diese Aufgabe übernimmt § 32 Abs. 4 Satz 7 EStG (bis Ende 2001: Satz 5), der die sogenannte Zwölftelung des Grenzbetrags bewirkt. Ergänzt wird die Regelung durch § 32 Abs. 4 Satz 8 EStG (bis Ende 2001: Satz 6), der bestimmt, dass die 66 Kritisch daher zu Recht R. Mellinghoff, Kommentar zu BFH vom 26. 9. 2002 (VI R 85 / 99), FR 2000, S. 1292. 67 Zur Begründung vgl. BT-Drs. 14 / 6160, S. 12. 68 Hierzu D. Felix, Rechtsprobleme bei der Anwendung des § 32 Abs. 4 S. 2 ff. EStG, FR 1998, S. 983. 69 D. Felix (Fn. 44), EStG § 63 Rn. D 131.
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Einkünfte und Bezüge des Kindes, die es während des Zeitraums bezieht, in dem es ohnehin nicht als Zählkind berücksichtigt wird, kindergeldrechtlich ohne Bedeutung sind. Die Systematik des Gesetzes lässt sich an folgendem Beispiel verdeutlichen: Ein 20 Jahre altes Kind beendet am 31. März 2003 seine Lehre und nimmt am 1. April 2003 eine Tätigkeit als Arbeitnehmer auf. Während der Lehrzeit wurde dem Kind monatlich 475 A ausgezahlt; als Arbeitnehmer verdient es 2100 A im Monat. Der maßgebliche Jahresgrenzbetrag beträgt im Jahre 2003 7188 A. Da die Voraussetzungen des § 32 Abs. 4 Satz 1 EStG nur während der Monate Januar bis März 2003 vorgelegen haben – nur während dieser Zeit befand sich das Kind in Berufsausbildung – ist der Grenzbetrag um 9/12 (Zwölftelung) zu kürzen; er beträgt also lediglich 1797 A. Dieser Betrag wurde in den Monaten Januar bis März (3 475 A = 1425 A) nicht überschritten. Über welche Einkünfte und Bezüge das Kind ab April 2003 verfügen konnte, ist irrelevant, da die finanzielle Situation des Kindes während der sogenannten Kürzungsmonate (= April bis Dezember 2003) für den Kindergeldanspruch von Januar bis März des Jahres ohne Bedeutung ist. Der mit Wirkung zum 1. Januar 2002 neu eingefügte § 32 Abs. 4 Satz 6 EStG betrifft nun in erster Linie den Kalendermonat, in dem das in Berufsausbildung befindliche Kind seine Ausbildung beendet und – innerhalb desselben Monats – in die Berufstätigkeit überwechselt. Hier können die nach Abschluss der Ausbildung im betreffenden Monat erhaltenen Einkünfte und Bezüge dazu führen, dass der maßgebliche Jahresgrenzbetrag überschritten wird; dies wiederum hätte zur Folge, dass das gesamte für das jeweilige Jahr gezahlte Kindergeld zu erstatten wäre. Innerhalb der Finanzgerichtsbarkeit war die Handhabung dieser Fallkonstellation äußerst umstritten70; der BFH hatte diesen Streit mit seiner Entscheidung vom 1. März 200071 wie folgt zugunsten der betroffenen Eltern entschieden: Obwohl für das Kind im betreffenden Monat noch das volle Kindergeld gezahlt werden müsse, dürften die Einkünfte des Kindes in diesem Monat nicht berücksichtigt werden. Kürzungsmonate im Sinne des § 32 Abs. 4 Satz 7 EStG (bis Ende 2001: Satz 5) seien nicht nur diejenigen Monate, in denen die Voraussetzungen für eine kindergeldrechtliche Berücksichtigung an keinem Tag vorgelegen haben, sondern auch diejenigen Monate, in denen die Voraussetzungen nur teilweise vorgelegen haben. Da in dem Monat des Wechsels von der Ausbildung in die Berufstätigkeit die Voraussetzungen des § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 1 oder 2 EStG jedenfalls zeitweilig nicht vorgelegen haben, weil sich das Kind ja lediglich zu Beginn des Monats in Ausbildung befand, sei der Monat als Kürzungsmonat zu betrachten mit der Folge, dass Einkünfte und Bezüge, die das Kind in diesem Monat erzielt, unberücksichtigt bleiben müssten. Kindergeld wird für das Kind in diesem Monat wegen § 66 Abs. 2 EStG dennoch in voller Höhe gezahlt. Nach Ansicht des BFH regelt § 66 Abs. 2 EStG lediglich Rechtsfolgen; die Anspruchsvoraussetzungen für eine Gewährung des Kindergeldes für über 18 Jahre alte Kinder seien in § 32 Abs. 4 EStG abschlie70 71
Hierzu ausführlich D. Felix (Fn. 44), § 63 EStG Rn. D 137 m. w. N. VI R 19 / 99, FR 2000, 666 (mit Kommentar von G. Nolde, FR 2000, S. 672).
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ßend geregelt. Entsprechende Entscheidungen des BFH waren zum Thema „Heirat des Kindes“72 sowie zum Wechsel von der Arbeitslosigkeit in den Beruf73 ergangen. Die vom BFH in den genannten Entscheidungen vorgenommene Differenzierung konnte nicht überzeugen und ist daher vom Gesetzgeber nunmehr zu Recht korrigiert worden. Bislang durfte man davon ausgehen, dass die maßgeblichen Zeiträume kongruent sind: Es geht einerseits um den Zeitraum, für den ein Kind bei den Eltern steuerlich zu berücksichtigen ist, und andererseits um den Zeitraum, für den Einkünfte und Bezüge des Kindes zu ermitteln sind. Durch die Einfügung des § 32 Abs. 4 Satz 6 EStG sowie die Neufassung des Satz 7 mit Wirkung vom 1. Januar 2002 hat der Gesetzgeber nunmehr folgendes klargestellt: Kürzungsmonate im Sinne des § 32 Abs. 4 Satz 7 EStG, also Monate, für die sich der Jahresgrenzbetrag um ein Zwölftel vermindert, deren finanzielle Bewertung jedoch andererseits kindergeldrechtlich auch irrelevant ist (§ 32 Abs. 4 Satz 8 EStG – bis Ende 2001: Satz 6), sind nur diejenigen Monate, in denen die Voraussetzungen nach § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 1 oder 2 EStG an keinem Tag vorgelegen haben. Damit ist der Monat, in dem das Kind von der Ausbildung in den Beruf wechselt, kein Kürzungsmonat. Auf der anderen Seite bewirkt der neu eingefügte Satz 6, dass die Einkünfte und Bezüge des Kindes in diesem Monat nur insoweit berücksichtigt werden, als sie auf die Zeit der Ausbildung entfallen. Der Gesetzgeber hat hier eine sachgerechte Lösung gefunden, die an folgendem stark vereinfachten74 Beispiel verdeutlicht werden soll: Ein 20 Jahre altes Kind beendet am 15. Mai 2003 seine Lehre und wird ab dem 16. Mai 2003 von seinem Ausbildungsbetrieb als Arbeitnehmer übernommen. Während der Lehrzeit hat das Kind im Monat 500 A erhalten; als Arbeitnehmer hat es Anspruch auf 2000 A. Der maßgebliche Jahresgrenzbetrag beträgt im Jahre 2003 7188 A im Jahr; im konkreten Fall sind die Monate Juni bis Dezember (= 7 Monate) Kürzungsmonate, weil sich das Kind in diesen Monaten an keinem Tag in Berufsausbildung befunden hat. Der Jahresgrenzbetrag von 7188 A (= 599 A im Monat) reduziert sich damit um 7 599 A = 4193 A, so dass zu prüfen ist, ob das Kind in den Monaten Januar bis Mai 2003 mehr als 2995 A (7188 A – 4193 A) verdient hat. Würde man die im Monat Mai bezogenen Einkünfte in voller Höhe berücksichtigen, wäre der Grenzbetrag überschritten (4 500 A sowie im Mai 250 A Lehrgeld und das hälftige Gehalt für den Monat Mai in Höhe von 1000 A = insgesamt 3250 A), was zur Folge hätte, dass die Eltern das von Januar an gezahlte Kindergeld zu erstatten hätten. Aufgrund der Neuregelung ist dagegen für den Monat Mai lediglich der Betrag von 250 A (Lehrgeld bis 15. Mai 2003) zu berücksichtigen, so dass der Grenzbetrag nicht überschritten ist.
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2. 3. 2000 – VI R 13 / 99, FR 2000, S. 668. 1. 3. 2000 – VI R 196 / 98, FR 2000, S. 671. Werbungskosten oder Betriebsausgaben des Kindes bleiben hierbei außer Betracht.
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c) Das Verständnis des Begriffs „Berufsausbildung“ Der zweite Bereich, in dem sich die großzügige Rechtsprechung des BFH zugunsten der kindergeldberechtigten Eltern sehr deutlich zeigt, ist die Auslegung des Begriffs der „Berufsausbildung“ im Sinne des § 32 Abs. 4 EStG. Gemäß § 63 Abs. 1 Satz 2 EStG i.V.m. § 32 Abs. 4 Satz 1 EStG werden volljährige Kinder nur dann als Zählkinder75 berücksichtigt, wenn sie trotz ihrer Volljährigkeit aus den im Gesetz näher umschriebenen Gründen noch nicht wirtschaftlich unabhängig sind und ihre Eltern deshalb finanziell belasten. Der praktisch bedeutsamste Anwendungsfall ist insoweit die Absolvierung einer Berufsausbildung76. Obwohl das Kind das 18. Lebensjahr vollendet hat, geht der Gesetzgeber davon aus, dass ein in Berufsausbildung befindliches Kind grundsätzlich nicht in der Lage ist, selbst für seinen Lebensunterhalt zu sorgen77; sollte dies aufgrund eigener Einkünfte und Bezüge des Kindes doch der Fall sein, sorgt die insoweit bestehende Schädlichkeitsgrenze für den Wegfall des Anspruchs. Die typisierende Betrachtung, die darauf abstellt, dass eine Berufsausbildung den Selbstunterhalt des Kindes unmöglich macht und die Eltern deshalb trotz der Volljährigkeit des Kindes finanziell weiterhin belastet sind, entspricht insoweit den Vorgaben des Zivilrechts: Gemäß § 1610 Abs. 2 BGB umfasst der Unterhaltsanspruch den gesamten Lebensbedarfs eines Kindes einschließlich der Kosten einer angemessenen Berufsausbildung, mit anderen Worten: Zivilrechtlich besteht eine Unterhaltsverpflichtung der Eltern gegenüber ihren Kindern, wenn und solange sich diese in Berufsausbildung befinden; dagegen kommt die Unterhaltung volljähriger Kinder außerhalb der Ausbildung nur ausnahmsweise in Betracht78. Das Zivilrecht erwartet von den Eltern lediglich die Übernahme der Kosten einer angemessenen Berufsausbildung, wobei neben anderem auch die Notwendigkeit der konkreten Bildungsmaßnahme für den angestrebten Beruf geprüft wird79. Der beschriebene Gleichklang von Privatrecht und Öffentlichem Recht wird seit kurzem durch die Rechtsprechung des BFH in Frage gestellt. Während das über Jahrzehnte hinweg bis Ende 1995 für das Kindergeldrecht zuständige BSG80 sich hier um eine eher restriktive Auslegung bemüht hat, die neben der dogmatisch allerdings kaum begründbaren Voraussetzung der überwiegenden Inanspruchnahme des Kindes81 durch die Ausbildung danach fragte, ob die konkreten Bildungsmaßnahmen zur Erreichung des angestrebten Ziels notwendig sind82 und dadurch den zivilrechtlichen Vorgaben jedenfalls prinzipiell zu entZu diesem Begriff D. Felix (Fn. 44), § 63 Rn. A 3. § 32 Abs. 4 Nr. 2 a) EStG. 77 Hierzu D. Felix (Fn. 44), § 63 Rn. C 1 ff. 78 Diederichsen, in: Palandt, BGB, 62. Aufl., 2003, § 1610 Rn. 18 ff. m. w. N. 79 Hierzu Diederichsen (Fn. 78), § 1610 Rn. 18 ff. m. w. N. 80 Das BSG ist heute nur noch für das nach dem BKGG zu zahlende Kindergeld zuständig (§ 15 BKGG). 81 Hierzu D. Felix (Fn. 44), § 63 D 11 m. w. N. 82 Hierzu etwa BSG SozR 5870 § 2 Nr. 32. 75 76
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sprechen suchte, geht der BFH nunmehr einen ganz anderen Weg: Danach kann der Erwerb irgendwelcher objektiv an sich durchaus allgemein nützlicher, wünschenswerter oder förderlicher Kenntnisse, Fertigkeiten und Erfahrungen zugleich als Ausbildung im Sinne des Kindergeldrechts zu bewerten sein, wobei völlig unerheblich ist, ob die so verstandene Ausbildungsmaßnahme in einer Ausbildungs- oder Studienordnung vorgeschrieben oder auch nur empfohlen wird83. Diese Rechtsprechung hat unmittelbare Konsequenzen für eine ganze Reihe von praktisch bedeutsamen und streitigen Fallkonstellationen, in denen sowohl der Zivilrichter wie auch das BSG entsprechende Ansprüche verneint hätten: Es geht etwa um die Anerkennung von Auslandsaufenthalten zur Verbesserung der Sprachkenntnisse oder von nicht in einer konkreten Studien- oder Prüfungsordnung vorgesehenen Praktika. Auslandsaufenthalte – insbesondere sogenannte „Au-pair-Tätigkeiten“ – sind nach dieser Rechtsprechung als kindergeldrechtliche Zeiten anzuerkennen, solange das Kind an einem Sprachunterricht von etwa 10 Stunden wöchentlich – im Einzelfall dürfen es auch weniger sein84 – teilnimmt. Der BFH begründet dies mit der Bedeutung von Fremdsprachenkenntnissen, die nach der Lebenserfahrung sowohl den Erwerb eines Ausbildungsplatzes als auch die Berufsaufnahme und das spätere berufliche Fortkommen fördern sollen85. So sehr man die Einschätzung des BFH in tatsächlicher Hinsicht teilen mag – ein zivilrechtlicher Unterhaltsanspruch86 eines Kindes, das später in Deutschland den Schreinerberuf erlernen, bis zum 27. Lebensjahr aber doch erst diverse Fremdsprachen erlernen möchte, dürfte mehr als fraglich sein.
d) Die Zielsetzung der Kindergeldgewährung als Rechtfertigung Der BFH, der der Rechtsprechung des BSG in weiten Teilen eine ausdrückliche Absage erteilt hat87, begründet seine Auffassung mit der grundlegend anderen Zielsetzung des steuerrechtlichen Kindergeldes: Dessen Gewährung sei nach dem Kindergeldbeschluss des BVerfG und den später ergangenen Entscheidungen – anders als das sozialrechtliche Kindergeld88 – verfassungsrechtlich geboten. Durch die kindbezogenen Aufwendungen werde die steuerliche Leistungsfähigkeit der Eltern vermindert89; das Kindergeld sei erforderlich, um eine verfassungsgemäße 83 Ausführlich hierzu Hinweisen auf die Rechtsprechung des BFH und die Stellungnahmen in der steuerrechtlichen Literatur D. Felix (Fn. 44), § 63 D 11 ff. 84 Hierzu im einzelnen D. Felix (Fn. 44), § 63 D 37. 85 BFH, DStR 2000, S. 381; a.A. BSG SozR 3 – 5870 § 2 Nr. 26. 86 Hierzu § 1602 Abs. 2 BGB. 87 Hierzu etwa BFHE 189, S. 107; vgl. auch O. Seewald / D. Felix (Fn. 25), § 63 Rn. 97a und 123. 88 In der Tat gewähren weder Art. 6 Abs. 1 GG noch § 6 SGB I einen konkreten Anspruch auf staatliche Leistungen zur Unterstützung der Familie. 89 Hierzu BFHE 189, S. 107.
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Besteuerung zu gewährleisten. Diese Aussage ist im Prinzip zutreffend, doch scheint die finanzgerichtliche Rechtsprechung90 den Ausgangspunkt des Kindergeldbeschlusses selbst aus den Augen verloren zu haben: Es ist der zivilrechtlich begründete Unterhaltsanspruch des Kindes gegen seine Eltern, der deren steuerliche Leistungsfähigkeit reduziert91 und damit – jedenfalls grundsätzlich92 – die Grundlage der Kindergeldgewährung bildet. Wenn § 31 EStG von der steuerlichen Freistellung des Existenzminimums des Kindes spricht, geht es nicht um ein beliebiges Kind, sondern um ein Kind, das seine Eltern finanziell nach wie vor belastet. Ist das Kind nicht bedürftig, weil es über Einkünfte und Bezüge in einer Höhe verfügt, die es wirtschaftlich – zumindest weitgehend93 – unabhängig machen, gibt es weder aus sozial- noch aus steuerrechtlichen Erwägungen heraus einen Grund, den Eltern Kindergeld zu gewähren. Das Kindergeld knüpft insoweit an die Unterhaltsbelastung des Unterhaltsverpflichteten an und will den durch diese finanzielle Belastung beeinträchtigten Lebensstandard der Familie anheben94. Diese Erkenntnis gerät seit der Verlagerung des Kindergeldrechts zunehmend in Vergessenheit; man mag es als wünschenswert erscheinen lassen, Eltern unabhängig von ihrer Unterhaltsverpflichtung eine Art garantierter Kindergeldgewährung bis zum 27. Lebensjahr oder sogar darüber hinaus zu sichern – mit der eigentlichen Zielsetzung dieser nach Maßgabe des öffentlichen Rechts gewährten Sozialleistung bzw. Steuervergütung hätte dies jedoch nichts mehr zu tun. Im Hinblick auf die vom BFH vorgebrachte Begründung wird es trotz des identischen Wortlauts von § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 a) EStG einerseits und § 2 Abs. 2 BKGG andererseits nicht zur Anrufung des gemeinsamen Senats der Obersten Gerichtshöfe kommen95, so dass die wenig befriedigenden Diskrepanzen zwischen der Rechtsprechung des BSG einerseits und des BFH andererseits im Hinblick auf das Tatbestandsmerkmal der Berufsausbildung bestehen bleiben werden, sofern nicht auch hier – was allerdings nicht so einfach sein dürfte – der Gesetzgeber eine Klarstellung herbeiführt. Die „erheblichen Anfangsschwierigkeiten“96 sind insoweit nur scheinbar gelöst.
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Vgl. in diesem Zusammenhang auch schon FG München, EFG 1997, S. 1262. So auch P. Kirchhof, Maßstäbe für eine familiengerechte Besteuerung, ZRP 2003, S. 73,
74. 92 Eine vollständige Harmonie zwischen Zivilrecht und Steuerrecht besteht insoweit allerdings nicht; dies zeigt etwa § 63 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG, der auch einen Kindergeldanspruch für Stiefkinder vorsieht. 93 Vgl. zur nicht ausreichenden Berücksichtigung der Sonderausgaben aber auch D. Felix, Eigene Einkünfte des Kindes im Kindergeldrecht nach dem Zweiten Familienförderungsgesetz, FR 2001, S. 832, 836. 94 M. Fuchs, Zivilrecht und Sozialrecht, 1992, S. 273. 95 Zu diesem Problem auch D. Felix, Einheit der Rechtsordnung, 1998, S. 170 ff. 96 A. Leisner, Das Kindergeldverfahren im Öffentlichen Dienst, ZBR 2000, S. 217, 225.
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e) Ergebnis Die seit der Verlagerung des Kindergeldrechts in das Steuerrecht zuständige Finanzgerichtsbarkeit tendiert aufgrund der in § 31 Satz 1 EStG beschriebenen Zielsetzung der Kindergeldgewährung zu einer Handhabung der Materie, die den verfassungsrechtlichen Vorgaben nicht entspricht. Mittlerweile bestehen in einer ganzen Reihe von Einzelfragen Divergenzen zwischen der Rechtsprechung des BSG und des BFH, die – trotz der Zielsetzung der steuerlichen Freistellung des Existenzminimums des Kindes – in dieser Form nicht gerechtfertigt sind. Mehr denn je gilt: Kindergeld ist nicht gleich Kindergeld97.
IV. Alternativen Angesichts der aufgezeigten Probleme des steuerrechtlichen Kindergeldes stellt sich die Frage nach den bestehenden Alternativen98, oder anders formuliert: War es eine gute Entscheidung des Gesetzgebers, die Materie durch Schaffung des in § 31 EStG beschriebenen Familienleistungsausgleichs in das Steuerrecht zu verlagern? Diese Frage kann nur mit einem klaren Nein beantwortet werden. Die vom BVerfG geforderte steuerliche Freistellung des Existenzminimums des Kindes hätte – ohne großen Aufwand – unter Beibehaltung des bis Ende 1995 geltenden dualen Systems von Freibeträgen für Kinder einerseits und Kindergeld andererseits verwirklicht werden können. Dem BVerfG geht es ausschließlich um die steuerliche Freistellung des Existenzminimums des Kindes, so dass sich als verfassungsmäßige Alternative zur geltenden Familienbesteuerung ein sich an Bedürftigkeitsgesichtspunkten orientierendes duales System anbietet, im Rahmen dessen zunächst alle Eltern steuerlich durch Freibeträge in Höhe des vollen Existenzminimums entlastet würden und dann diejenigen Eltern, bei denen nach Bedürftigkeitsgesichtspunkten neben der steuerlichen Entlastung eine Förderung notwendig ist, ein einkommensabhängiges Kindergeld als Sozialleistung erhalten99. Ein solches duales System stünde nicht nur im Einklang mit dem Grundsatz der Besteuerung nach Maßgabe der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit100; es würde zudem dem in Art. 20 Abs. 1 GG normierten Sozialstaatsprinzip entsprechen, das staatliche Leistungen – auch im Bereich der Familienförderung – grundsätzlich von der Bedürftigkeit der Betroffenen abhängig macht101. Ein wesentlicher Vorteil eines dualen So der Titel des Beitrags von H.-H. Schild, NJW 1996, S. 2414. Zu Alternativmodellen zum aktuellen Familienleistungsausgleich vgl. ausführlich M. Jachmann (Fn. 3), § 31 Rn. A 54 ff. 99 Hierzu schon O. Seewald / D. Felix (Fn. 25), Einführung, Rn. 26; im Ergebnis auch M. Lehner, Steuerliche Berücksichtigung des Existenzminimums von Kindern und des Betreuungsbedarfs, JZ 1999, S. 726, 729; A. Leisner, Das Kindergeldverfahren im öffentlichen Dienst, ZBR 2000, S. 217, 226 100 M. Jachmann (Fn. 3), § 31 Rn. A 55b. 101 BVerfGE 9, S. 20, 35; BVerfGE 17, S. 38, 56. 97 98
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Systems, das auf einkommensteuerliche Freibeträge aufbaut und unterstützend für bedürftige Eltern Kindergeld vorsieht102, wäre die Auflösung der auch aus steuersystematischer Sicht verfehlten Verbindung von Steuerfreibeträgen mit steuerlichem Kindergeld103.
V. Fazit Die Schaffung des in § 31 EStG normierten Familienleistungsausgleichs ist ein Paradebeispiel für eine nicht gelungene Umsetzung einer verfassungsgerichtlichen Entscheidung. Die im sogenannten „Kindergeldbeschluss“ vom BVerfG vorgenommene „kombinatorische“ Betrachtungsweise von Kinderfreibetrag und Kindergeld104 bildet dabei die Grundlage für den aktuellen Familienleistungsausgleich. Der Gesetzgeber hat diese Betrachtungsweise weiterentwickelt und gleichsam institutionalisiert, indem er – alternativ zum Freibetrag – das Kindergeld als monatlich zu zahlende Steuervergütung in das Einkommensteuergesetz übernommen hat. Die Verlagerung des Kindergeldrechts in das Steuerrecht bei gleichzeitiger Schaffung eines neuen Bundeskindergeldgesetzes hat nicht nur zu einem unnötigen Regelungswirrwarr geführt; vielmehr belastet die gesetzgeberische Entscheidung das Einkommensteuerrecht mit einer in dieser Form sachfremden Materie. Die Betonung der verfassungsrechtlichen Zielsetzung der Kindergeldgewährung in § 31 Satz 1 EStG hat zudem zu einer Handhabung des Kindergeldrechts durch die Finanzgerichte geführt, die mit dem eigentlichen Zweck des Kindergeldes nicht in Einklang zu bringen ist. Die vom BVerfG aufgestellte Forderung nach einer steuerlichen Freistellung des Existenzminimums hätte durch eine geringe Modifikation des bis Ende 1995 bestehenden dualen Systems erfüllt werden können; der aktuelle Familienleistungsausgleich dagegen verwischt die Grenze – vielleicht ist dies vom Gesetzgeber gewollt – zwischen Steuer- und Sozialrecht und täuscht darüber hinweg, dass es sich bei der Kindergeldgewährung einerseits letztlich um die Rückzahlung einer verfassungswidrigen Besteuerung und damit um eine Steuererstattung105 und andererseits um eine materielle Sozialleistung handelt. Schließlich könnte ein Familienlastenausgleich durch ein sozialrechtliches Kindergeld gegenüber dem geltenden Familienleistungsausgleich nach § 31 EStG106 effizienter und zielgenauer erfolgen107. 102 Dem Kindergeld ist eine Gewährung nach Maßgabe der Bedürftigkeit der Eltern nicht fremd (zum sogenannten Kindergeldzuschlag für Berechtigte mit geringem Einkommen vgl. § 11a BKGG a. F. und O. Seewald / D. Felix (Fn. 2), § 11a Rn. 1 ff.). 103 M. Jachmann (Fn. 3), § 31 Rn. A 55b. 104 Kritisch hierzu schon O. Seewald / D. Felix, Kindergeld – Sozialleistung mit steuerlicher Entlastungsfunktion?, VSSR 1991, S. 157 ff. 105 B. Lieber, Zur Verfassungsmäßigkeit des Familienleistungsausgleichs, DStZ 1997, S. 207, 211. 106 Kritisch insoweit auch H.-J. Helmke, in: Berlebach, Familienleistungsausgleich, A. I. § 31 Rn. 3 ff.
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Angesichts der Probleme, die die aktuelle Konzeption mit sich bringt, bleibt nur zu hoffen, dass der Gesetzgeber sich auf die ursprüngliche Zielsetzung des Kindergeldes besinnt.
107 H. Schöberle, Kinderleistungsausgleich im Schnittpunkt steuerrechtlicher Erfordernisse und sozialpolitischer Aspekte, DStZ 1999, S. 693, 697.
Beitragsgerechtigkeit im EU-Finanzierungssystem Von Volkmar Götz
I. Das Problem gerechter Verteilung finanzieller Solidarlasten der Europäischen Union 1. Verknüpfung der Beitragsgerechtigkeit mit der gemeinsamen Agrarpolitik und Strukturpolitik Beitragsgerechtigkeit im EU-Finanzierungssystem bedeutet hauptsächlich, die durch operative Ausgaben zur Förderung des wirtschaftlichen Zusammenhaltes und der Solidarität (Art. 2 EG) entstehenden Finanzierungslasten gerecht auf die Mitgliedstaaten zu verteilen. Das Ausgabenvolumen, welches die Forderung nach Beitragsgerechtigkeit auslöst, setzt sich aus den Ausgaben für die Landwirtschaft und den Ausgaben für strukturpolitische Maßnahmen zusammen, insgesamt 80% aller Ausgaben der EU. Im Jahre 2001 betrugen die Ausgaben der EU für die Landwirtschaft (Direktbeihilfen, Ausfuhrerstattungen, Lagerhaltung, Entwicklung des ländlichen Raumes, sonstige) 41,5 Mrd. A. Dies waren 55,3% der operativen Gesamtausgaben (d. h. aller Ausgaben der EU mit Ausnahme der Verwaltungsausgaben)1. Der Anteil der Ausgaben für strukturpolitische Maßnahmen an den operativen Gesamtausgaben lag mit 22,4 Mrd. A bei 29,9%. Er umfasst die Ausgaben der Strukturfonds und des Kohäsionsfonds. Landwirtschafts- und Strukturausgaben machen somit zusammen rd. 85% aller operativen Ausgaben der EU aus. Aus finanzwirtschaftlicher Sicht haben die Landwirtschafts- und Strukturpolitikaufgaben distributiven Charakter und die Funktion von Finanztransfers. Gemeinschaftsrechtlich handelt es sich um Ausgaben, die zur Förderung des wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalts und der Solidarität (Art. 2 EG) geleistet werden. Diese rechtliche Einordnung nehmen die Strukturausgaben per definitionem (Art. 158 EG) für sich in Anspruch. Ungeachtet aller Auffassungsunterschiede über die Notwendigkeit der Strukturmaßnahmen im Einzelnen ist es in Politik und Wissenschaft unbestritten, dass wir es bei den Ausgaben für strukturelle Maßnahmen mit Solidarlasten zu tun haben, die innerhalb der Gemeinschaft einen finanziellen Ausgleich herbeiführen. Bei den Ausgaben für die Landwirtschaft ist die Zuordnung 1 Eur. Kommission: Aufteilung der operativen EU-Ausgaben 2001 nach Mitgliedstaaten (September 2002) (http. / / europa.eu.int / comm / budget / agenda 2000 / reports de.htm).
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zu den Solidarlasten der Gemeinschaft weniger eindeutig. Im Gegenteil wird man sagen können, dass die allgemeine Akzeptanz eines Prinzips, nach welchem die europäischen Staaten und ihre aus dem jeweiligen Steueraufkommen finanzierten Haushalte solidarisch die Finanzlasten einer Einkommenspolitik für die Landwirtschaft überall in Europa zu tragen hätten, in der Öffentlichkeit sehr gering sein dürfte. Die Öffentlichkeit könnte sich fragen: Warum sind gerade die landwirtschaftlichen Einkommen Gegenstand europäischer finanzieller Solidarität? Warum dann nicht die Aufwendungen für Bildung, das Gesundheitssystem oder die Verteidigung? Und doch ist es gerade das Prinzip der finanziellen Solidarität2, auf dem die gemeinsame Agrarpolitik von ihren Anfängen an beruht. Jedenfalls war dies schon in der Geburtsstunde der gemeinsamen Agrarpolitik der Standpunkt Frankreichs. Frankreich verteidigt das Prinzip der finanziellen Solidarität für die gemeinsame Agrarpolitik bis zum heutigen Tage mit Beharrlichkeit. Daran scheiterte die von Deutschland in jahrelanger Vorarbeit aufgebaute und zuletzt auch von der Europäischen Kommission unterstützte Forderung, wenigstens die direkten Einkommensbeihilfen3 in eine Kofinanzierung von Staat und EU zu überführen. Noch vor dem Europäischen Rat von Berlin (24. / 25. März 1999), der den Finanzrahmen („Finanzielle Vorausschau“) für 2000 bis 2006 festlegte, gab Deutschland dem französischen Druck nach und ließ die Forderung nach Einführung der Kofinanzierung fallen4. Die enge Verknüpfung des Problems der Beitragsgerechtigkeit mit der Tragung der Solidarlasten für die Landwirtschaft und die Strukturpolitik ist hervorzuheben. Die übrigen Finanzierungslasten werfen kein vergleichbares Problem auf. Sie sind schon von der Größenordnung her nicht vergleichbar. Vor allem erfüllen sie, anders als die Solidarlasten der Landwirtschafts- und der Strukturpolitik, nicht die Funktion eines finanziellen Ausgleichs. Es genügt daher an dieser Stelle, sie kurz in den Blick zu nehmen. Es handelt sich um drei Teilbereiche. Erstens geht es um die sog. internen Politikbereiche der EU. Auf sie entfallen (2001) mit 5,3 Mrd. A 7,1% der operativen Gesamtausgaben. Dies betrifft insbesondere die Ausgaben für Bildung, Jugend, Kultur, Energie, Euratom-Sicherheitsüberwachung, Umwelt, Verbraucherschutz, Binnenmarkt, Industriepolitik, transeuropäische Netze, Forschung und technologische Entwicklung. Die Europäische Kommission unterrichtet die Öffentlichkeit seit 1998 kontinuierlich über die Aufteilung der operativen Ausgaben auf die Mitgliedstaaten, die Empfänger von Leistungen waren oder in denen die Leistungsempfänger lokalisiert sind5. Auf die2 V. Götz, Finanzierung der gemeinsamen Agrarpolitik, in: HwbdAgrR, Bd. 2, 1981, S. 590 (595). 3 67,5% der Gesamtausgaben für Landwirtschaft (2001). 4 M. Seidel, Rechts- und Verfassungsprobleme der Kofinanzierung der Struktur- und Agrarpolitik der Europäischen Union, ZEuS, 4 – 1999, S. 549 (558); ders., Rückführung der Landwirtschaftspolitik in die Verantwortung der Mitgliedstaaten? – Rechts- und Verfassungsfragen des Gemeinschaftsrechts, AgrarR 2000, 381. 5 S. Fn. 1.
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se Weise erfolgt eine Zurechnung der Ausgaben an die Mitgliedstaaten. Im Bereich der sog. internen Politiken ergeben sich aus den veröffentlichten Zahlen zwar einige auffällige Diskrepanzen zwischen dem Eigenmittelaufkommen einiger Staaten und dem Volumen des Zuflusses von Mitteln in diese Staaten6. Die dadurch aufgeworfenen Probleme verbleiben aber im Bereich sachgemäßer politischer Steuerung dieser Politikbereiche und erreichen nicht die Schwelle eines Problems der Beitragsgerechtigkeit. Zu den Aufgaben- und Ausgabenbereichen außerhalb der Agrar- und der Strukturpolitik gehören ferner diejenigen operativen Ausgaben, die nicht einzelnen Mitgliedstaaten speziell zurechenbar sind (externe Politikbereiche, Reserven und Heranführungshilfe für Beitrittskandidatenländer) und schließlich die Verwaltungsausgaben der EU. Erstere betragen (2001) mit 5,8 Mrd. A 7,8% der gesamten operativen Ausgaben, letztere (2001) 6,1% aller Ausgaben aus dem EUHaushalt. Die Agrar- und Strukturpolitiken und das Finanzierungssystem der EU sind miteinander politisch und rechtlich so verknotet, dass die Beitragsgerechtigkeit immer von den politischen Entscheidungen zur Agrar- und Strukturpolitik beeinflusst wird. Diese Verknüpfung wird durch die Gipfelkonferenzen (Europäischer Rat) hergestellt, zuletzt in Edinburgh (11. / 12. Dezember 1992), wo der Finanzrahmen für 1993 bis 1999 festgelegt wurde, Berlin (24. / 25. März 1999) mit den Beschlüssen über die Agenda 2000 (2000 bis 2006) und Kopenhagen (12. / 13. Dezember 2002), wo die Aufnahme von zehn Mitgliedstaaten in die EU beschlossen wurde und, als Grundlage einer Anpassung der finanziellen Vorausschau, Obergrenzen der erweiterungsbedingten Mittel für Verpflichtungen 2004 bis 2006 festgelegt wurden. Der Gipfel von Edinburgh 1992 verabschiedete das „Delors II“-Paket7. Er verwirklichte die „ehrgeizigen Ziele“ der von Jacques Delors geführten Kommission, indem er die Mittel für die Strukturpolitik drastisch erhöhte. Nach den Vorstellungen der Kommission sollten die Strukturmittel von 1992 bis 1997 von jährlich 18,6 Mrd. ECU auf 29,3 Mrd. ECU steigen. Der Europäische Rat8 folgte dieser Linie9. Er hob den Gesamtbetrag für Strukturmittel bis 1997 auf 26,526 Mrd. ECU und bis 1999 auf 30 Mrd. ECU an. Die Hauptnutznießer der Ausgabenexpansion waren die vier aus dem Kohäsionsfonds geförderten Länder (Griechenland, Irland, Spanien, Portugal). Die Leistungen an sie sollten im Zeitraum 1993 bis 1999 verdoppelt werden. In Edinburgh wurden auch Veränderungen des Eigenmit6 Belgien trägt (2001) nur 2,8% der MwSt-Eigenmittel und 3,2% der BSP-Eigenmittel bei, partizipiert aber mit 13,4% an den Ausgaben für interne Politikbereiche. Außerdem entfallen 55,9% der Verwaltungsausgaben auf Belgien. 7 Paket II. Struktur- und Finanzregelungen 1993 – 1997. „Von der Einheitlichen Akte zu der Zeit nach Maastricht – ausreichende Mittel für unsere ehrgeizigen Ziele“. Mitteilung der Komm. an den Rat, Bull. EG 1 / 2 – 1992 S. 13. 8 Schlussfolgerungen des Vorsitzes, in: Bull, Presse und Informationsamt der BReg. v. 28. 12. 1992; Bull. EG 12 – 1992 S. 7. Vgl. O. Schmuck, Der Gipfel von Edinburgh, integration 16 (1993) S. 73. 9 Näher: R. Eckhoff, Lastenverteilung in der Europäischen Gemeinschaft, in: Birk, Hdb. d. Europ. Steuer- und Abgabenrechts, 1995, S. 189 (214 ff.).
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telsystems beschlossen. Die Auseinandersetzungen darüber standen im Zeichen der Gegensätze zwischen den Nettozahlern (Deutschland und Großbritannien) und den Nettoempfängern. Angestrebt wurde die Absenkung des Anteils der auf der Mehrwertsteuer-Bemessungsgrundlage berechneten Eigenmittel und eine Anhebung der auf der Bruttosozialprodukt-Bemessungsgrundlage erhobenen Mittel. Für erstere wurde die (seit 1988 bestehende) Kappungsgrenze von 55 auf 50% des BSP gesenkt und der maximale Abrufsatz von 1,4 % auf 1 % herabgesetzt. Die beabsichtigte Verschiebung der Finanzierungsanteile von MwSt-Mitteln und BSP-Mitteln sollte die Länder mit einem niedrigen Bruttosozialprodukt weiter entlasten. Zugrunde gelegt wurde die Annahme von der Regressivität der Mehrwertsteuereinnahmen, nach der arme Länder eine im Verhältnis zum Bruttosozialprodukt relativ höhere Konsumquote aufweisen als wohlhabendere Länder, so dass eine Belastung nach Maßgabe der Mehrwertsteuer für sie eine im Verhältnis zur Belastung nach Maßgabe des BSP höhere Zahllast bedeutet. Diese grundsätzlich richtige Annahme traf auf die Situation Deutschlands nach der Wiedervereinigung nicht zu, als Deutschland infolge der Wiedervereinigung eine sehr hohe Konsumquote aufwies und deshalb wie ein „ärmeres“ Land durch die auf der Basis der Mehrwertsteuer abgeführten Mittel ebenfalls überproportional belastet wurde10. Die Kommission erhielt in Edinburgh den Auftrag, bis Ende 1999 einen Bericht über das Funktionieren des Eigenmittelsystems vorzulegen. Der zum 1. Januar 1995 in Kraft gesetzte neue Eigenmittel-Beschluss 11 (Art. 10) erstreckte diesen Auftrag ausdrücklich auf eine Überprüfung der vom Vereinigten Königreich seit 1984 zugestandenen Korrektur des Haushaltsungleichgewichts. Der Gipfel von Edinburgh sprach unter den „Haushaltsungleichgewichten“ allein ein das Vereinigte Königreich betreffendes Problem an. Die Haushaltsungleichgewichte anderer Mitgliedstaaten standen noch nicht auf der Tagesordnung. Noch weniger war der Begriff der Beitragsgerechtigkeit in den europäischen Sprachschatz aufgenommen. Dies änderte sich aber bis zum nächsten Finanzgipfel in Berlin. Die von der Kommission am 15. Juli 1997 vorgelegte „Agenda 2000“12 konstatierte, die Umschichtung der Ausgaben auf die Kohäsionsziele habe in einigen Mitgliedstaaten zu nicht mehr als zumutbar empfundenen Nettobelastungen geführt. Sie machte jedoch keine Vorschläge zur Behebung von „Haushaltsungleichgewichten“. Sie empfahl die Überprüfung des britischen Beitragsrabatts bis unmittelbar nach dem ersten Beitritt zurückzustellen. Die Kommission verfehlte damit, auf die 10 Vgl. Eckhoff (Fn. 9), S. 217. Dies war nach Feststellung der Bundesbank für den gesamten Zeitraum bis 1999 der Fall; der Anteil Deutschlands an der Mehrwertsteuer-Bemessungsgrundlage war höher als am EU-Sozialprodukt (Monatsbericht Juli 1999). 11 Beschluss des Rats v. 31. 10. 1994 über das System der Eigenmittel der Gemeinschaft (ABl. L 293 / 9 v. 12. 11. 1994). 12 KOM(97) 2000 (Beilage EU-Bull. S. 97). Vgl. P. Witschorek (Hrsg.), Agenda 2000, 1998 / 99; E. Guth, Die Vorschläge zur Reform des EU-Finanzsystems 2000 – 2006, in: List, Forum für Wirtschafts- und Finanzpolitik 25 (1999) S. 119; Institut „Finanzen und Steuern“ (Hrsg.), Der Haushalt der Europäischen Union – eine Bestandsaufnahme (IFSt-Schrift Nr. 372), 1999, S. 105 ff.
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weit reichenden Veränderungen zu reagieren, die seit den Beschlüssen von Edinburgh eingetreten waren und die größtenteils auf die damals beschlossene Expansion der Strukturmittel zurückzuführen waren. Deutschland erreichte 1994 den Rekordstand seiner Nettozahlerposition13. Die Niederlande, Österreich und Schweden waren inzwischen ebenfalls Nettozahler. Das Prinzip einer fairen Lastenteilung war aus deutscher Sicht nicht mehr gewahrt. Auf politische Forderungen zur Senkung des deutschen Nettobeitrages14 folgten später von deutscher Seite aus vorgelegte Reformmodelle. Die wichtigsten waren die Einführung der Kofinanzierung der direkten Einkommensbeihilfen in der Landwirtschaft und die Kappung der Nettobelastungsgrenze bei 0,3 bis 0,4 des Bruttosozialprodukts. Nachdem der Europäische Rat von Luxemburg am 12. / 13. Dezember 1997 die Kommission aufgefordert hatte, ihren Bericht über das Funktionieren des Eigenmittelsystems vorzeitig vorzulegen, ging der Kommissionsbericht vom 7. Oktober 1998 über „Die Finanzierung der Europäischen Union“ auf die Reformforderungen ein. Erstmals wieder seit Mitte der 80er Jahre veröffentlichte die Kommission Finanzierungssalden der Mitgliedstaaten. Erstmals sprach sie das Problem der Haushaltsungleichgewichte der Nettozahler Deutschland, Niederlande, Österreich und Schweden an und unterbreitete dem Rat eine Reihe von Optionen zu seiner Lösung. Dazu gehörte an erster Stelle der Vorschlag, den britischen Beitragsrabatt („Korrekturmechanismus“) schrittweise abzubauen. Als weitere Option übernahm die Kommission das von Deutschland für die Einkommendirektbeihilfen vorgeschlagene Kofinanzierungsmodell. Außerdem prüfte die Kommission die Einführung eines allgemeinen Korrekturmechanismus, wie er von Deutschland und den übrigen Nettozahlern vorgeschlagen worden war. Diese Öffnung des Problems der Haushaltsungleichgewichte setzte sich beim Berliner Gipfel vom 24. / 25. März 199915 fort. Allerdings war der Berliner Gipfel nicht imstande, strukturelle Reformen zu seiner Lösung zu beschließen. Der britische Beitragsrabatt wurde beibehalten. Die Kofinanzierung der Agrarausgaben wurde ebenso wenig beschlossen wie eine Kappungsgrenze für die Nettozahlerländer. Der Berliner Gipfel16 hat aber das Problem der Haushaltsungleichgewichte in 13 27,6 Mrd. DM (1992 22,0 Mrd. DM, 1993 23,6 Mrd. DM). Quelle: Deutsche Bundesbank, Monatsbericht Juli 1999. In den negativen Finanzierungssaldo einbezogen sind 8,3 Mrd. DM abgeführte Zölle und Agrarabgaben, abzüglich 0,8 Mrd. DM erstattete Erhebungskosten. 14 Entschließungen des BRates v. 12. 5. 1995, BR-Dr. 207 / 95, und des BTages v. 31. 3. 1995, BT-Dr. 13 / 1022; Beschluss der Länderfinanzminister vom 17. Juni 1994, FAZ v. 18. 6. 1994. Vgl. J. Stark, Die künftige Finanzierung des EU-Haushaltes und der Beitrag der Bundesrepublik Deutschland, integration 1996, 159 (160); W. Wagner, Die Finanzverfassung der Europäischen Union, in: Aus Politik und Zeitgeschichte B 1 – 2 / 99 S. 32. 15 Europäischer Rat von Berlin, Schlussfolgerungen des Vorsitzes, Bull. des Presse- und Informationsamtes der BReg. 1999, Nr. 30 / 321; Bull. EG 3 – 1999, S. 7 ff. 16 Vgl. R. Caesar / E. Scharrer (Hrsg.), Die Zukunft Europas im Lichte der Agenda 2000, 2000; Chr. Jessen, Agenda 2000: Das Reformpaket von Berlin, ein Erfolg für Gesamteuropa, integration 22 (1999) S. 167; E. Guth, Der Haushalt der Union: Bilanz und Perspektiven, in: Caesar / Scharrer, a. a. O. S. 69; J.-P. Baché, Agenda 2000: Les enjeux et les résultats de la négociation sur le cadre financier pour la période 2000 – 2006, RMC 1999, 372; J. Núñez
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bemerkenswerter Form angesprochen und die dem Eigenmittelsystem zugrunde liegenden Prinzipien formuliert. Das bedeutete politisch, die Lösung des Problems der Haushaltsungleichgewichte und das darin enthaltene Problem der Beitragsgerechtigkeit auf die Zukunft zu vertagen. Ein Fortschritt war aber dennoch die Anerkennung des Problems. Im Übrigen konzentrierte sich der Finanzgipfel auf die Stabilisierung des Gesamtausgabenvolumens in der Agrar- und der Strukturpolitik17, wobei die Strukturausgaben von 32,045 Mrd. A im Jahre 2000 bis auf 29,170 Mrd. A im Jahre 2006 zurückgeführt wurden. Die Nettozahlerländer mussten sich mit marginalen Korrekturen begnügen (einer für alle Mitgliedstaaten geltenden Erhöhung der einbehaltenen Verwaltungskosten für die Einziehung der Zölle und Agrarabgaben von 10% auf 25%; Reduzierung ihres Anteils an der Finanzierung des britischen Beitragsabschlags auf 25% des normalen Ansatzes). Der Europäische Rat von Kopenhagen (12. / 13. Dezember 2002)18 legte die Obergrenzen der erweiterungsbedingten Mittel beim Beitritt von 10 neuen Mitgliedstaaten für die Periode 2004 – 2006 auf 37,567 Mrd. A fest, davon 9,791 Mrd. A für Landwirtschaft und 21,847 Mrd. A für Strukturpolitik. Das Eigenmittelsystem wurde nicht verändert. Die neuen Mitgliedstaaten werden vom Tage des Beitritts an in das Eigenmittelsystem einbezogen und zur Finanzierung der EU beitragen. Um eine anfangs drohende Nettozahlerposition einiger Beitrittsländer zu vermeiden, richtete der Europäische Rat eine besondere Cashflow-Fazilität (2,198 Mrd. A) und einen vorübergehenden Haushaltsausgleich (1,087 Mrd. A) ein.
2. „Gerechtigkeit“ des Eigenmittelsystems und relativer Wohlstand der Mitgliedstaaten als Parameter Eine juristische Behandlung des Problems der Beitragsgerechtigkeit muss sich der normativen Beurteilungsgrundlage vergewissern. Dies ist schwieriger, als den sich aufdrängenden politischen Charakter des Problems zu konstatieren, der sich in der Geschichte der Gipfelkonferenzen von Fontainebleau (1984) bis Berlin (1999) offenbart, und auch schwieriger als die finanzwissenschaftliche Betrachtung, die sich der Suche nach rationalen Kriterien19 des Finanzierungssystems widmet. Das Ferrer / M. Emerson, Good Bye, Agenda 2000, Hello, Agenda 2003. Effects of the Berlin Summit on Own Resources, Expenditures and EU Net Balances, CEPS Working Document No. 140 (www.ceps.be / index.htm); J.-P. Chevalier, L’accord interinstitutionnel du 6 mai 1999 et les perspectives financières 2000 – 2006, RMC 2000, 440. 17 Zu Einzelheiten der Agrarbeschlüsse und der Reform der Strukturfonds s. Jessen (Fn. 16), S. 172 f. 18 Schlussfolgerungen des Vorsitzes. Europäischer Rat (Kopenhagen) 12. und 13. 12. 2002. Vgl. B. Lippert, Von Kopenhagen bis Kopenhagen: Eine erste Bilanz der EU-Erweiterungspolitik, in: Aus Politik und Zeitgeschichte B 1 – 2 / 2003 S. 7; dies., Der Erweiterungsgipfel von Kopenhagen, integration 26 (2003) S. 48. 19 Vgl. F. Heinemann, Die Reformperspektive der EU-Finanzverfassung nach den Beschlüssen zur Agenda 2000, in: Caesar / Scharrer (Hrsg.) (Fn. 16), S. 91; K.-D. Henke /
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Rationalitäts- und das Gerechtigkeitskriterium mögen nahe beieinander liegen, decken sich aber nicht. Die juristische Betrachtungsweise muss die politisch gesetzten Tatsachen hinnehmen, mögen sie auch von einem ökonomischen Standpunkt aus unvernünftig sein20. Dies betrifft in unserem Zusammenhang die vorgegebenen Entscheidungen, Ausgaben für die Landwirtschaft und für die Förderung zurückgebliebener Regionen solidarisch durch die EU zu finanzieren. Es dürfte ratsam und realistisch sein, nicht auf die Suche nach solchen Kriterien der Beitragsgerechtigkeit zu gehen, die sich als höherrangige Maßstabsnormen des Gemeinschaftsrechts im Sinne einer Normenkontrolle verwenden ließen, und auch keine Hoffnung darauf zu wecken, dass die anstehenden Probleme jemals anders als durch die politischen Entscheidungsträger gelöst werden könnten. Auf einen Gerechtigkeitsmaßstab muss auch unter diesen Vorbedingungen nicht verzichtet werden. Als Beitragsgerechtigkeit kann jedenfalls Systemgerechtigkeit im EU-Finanzierungssystem eingefordert werden. Die „dem Eigenmittelsystem zugrunde liegenden Prinzipien“ wurden durch den Europäischen Rat von Berlin (1999) ausdrücklich festgehalten und danach in die Begründung des Eigenmittelbeschlusses vom 29. September 200021 aufgenommen: „Es sollte gerecht22, transparent, kosteneffizient und einfach sein . . . Das System muss auf Kriterien basieren, durch welche die Beitragskapazität jedes Mitgliedstaats am besten zum Ausdruck kommt.“ Außerdem legte der Europäische Rat von Berlin eine Position zu den „Haushaltsungleichgewichten“ einzelner Mitgliedstaaten fest, indem er die Beschlüsse des Europäischen Rates von Fontainebleau (1984) zitierte: „Soweit möglich sollten diese im Wege der Ausgabenpolitik korrigiert werden; zugleich sollen die Mitgliedstaaten mit einer Haushaltsbelastung, die an ihrem relativen Wohlstand gemessen exzessiv ist, gegebenenfalls in den Genuss einer Berichtigung kommen.“ Daraus ergeben sich die maßgeblichen Parameter im Kontext des Problems der Beitragsgerechtigkeit: Die „Gerechtigkeit“ des Eigenmittelsystems und der „relative Wohlstand“ der Mitgliedstaaten als Maßstab einer tragbaren, gleichmäßigen Verteilung der Solidarlasten. Was erstere betrifft, so verweist die Kommission23 stets darauf, dass „Beitragskapazität“ so zu verstehen ist, dass sie die Bemessung der Eigenmittelabführung nach Maßgabe des BSP meint. Sie kann sich dafür auf die im Maastrichter Protokoll über den wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalt abgegebene Absichtserklärung berufen, in der dieses Verständnis zum Ausdruck kommt, das die Umschichtung der Finanzierung von MwSt-Eigenmitteln auf BSP-Eigenmittel meint. Damit ist aber das Problem der Beitragsgerechtigkeit nicht insgesamt gelöst. Denn die Bemessung der Eigenmittel erfolgt nach Maßgabe der B. Milbrandt, Die künftige finanzielle Lastenverteilung in der EU, ebda., S. 119; M. Kraff, Der Finanzausgleich in der Europäischen Union, 1997, S. 530 ff. 20 Nationalökonomen beklagen die Dominanz der distributiven Ausgaben und fordern eine Änderung; vgl. Heinemann; Henke / Milbrandt (Fn. 19). 21 ABl. L 253 / 42 v. 7. 10. 2000. 22 Frz.: équitable; engl.: equitable. 23 Bericht „Die Finanzierung der Europäischen Union“ v. 7. 10. 1998, S. 7, 12.
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absoluten Höhe des BSP, die nichts über den relativen Wohlstand des jeweiligen Mitgliedstaates besagt. Für die Finanzierung eines solidarischen Lastenausgleichs, wie er den Ausgaben für die Landwirtschaft und die Strukturpolitik zugrunde liegt, bedarf es aber der Heranziehung solcher Kriterien, die sich, um eine gerechte Lastenverteilung zu sichern, an dem relativen Wohlstand der Mitgliedstaaten und der relativen Leistungsfähigkeit ihrer Volkswirtschaften orientieren.
II. Erfordernisse eines Finanzierungssystems nach Kriterien der Beitragsgerechtigkeit 1. Kein Erfordernis des „juste retour“ Nach einer jahrzehntelangen Debatte um den juste retour, das Gleichgewicht zwischen den Zahlungen eines Staates und den Rückflüssen, hat sich heute in der Finanz-24 und der Rechtswissenschaft25 wie auch in der Politik die Einsicht durchgesetzt, dass das Finanzierungssystem, weil aus ihm zum großen Teil Solidarleistungen (Landwirtschaft und Strukturpolitik) finanziert werden, nicht auf einer Vorteilsgerechtigkeit im Sinne des Äquivalenzprinzips basieren kann. Dieser Debatte ist heute nichts mehr hinzuzufügen. Negative Finanzierungssalden einzelner Mitgliedstaaten26 sind daher als solche nicht gleichzusetzen mit einem Defizit an Bei24 G. Ott, Zur Diskussion um „Zahlmeister“ und „Nutznießer“ der Europäischen Gemeinschaften, in: FS Kolms, 1984, S. 339 (m. w. N.); R. Caesar, in: ders. (Hrsg.), Zur Reform der Finanzverfassung und der Strukturpolitik der EU, 1997, S. 161 (177); Chr. Ohler, Die fiskalische Integration in der Europäischen Gemeinschaft, 1997, S. 377 ff.; H. Niermann, Welchen Finanzausgleich braucht Europa? 2002, S. 149. 25 R. Bieber, in: v. d. Groeben / Tiesing / Ehlermann, Komm. EU- / EGV, 5. A. 1997, Art. 201 Rn. 10; F. Fugmann, Der Gesamthaushalt der EG, 1992, S. 278, 308; S. Magiera, in: Grabitz / Hilf, Kommentar zur EU (Losebl. Sept. 94) Art. 201 EGV Rn. 31; ders., Zur Finanzverfassung der Europäischen Union, in: GedSchr. Grabitz, 1995, 409 (420); R. M. Tonelli, Le juste retour: loi communautaire?, RMC 1981, 220, 312, 477; 1982, 227, 442; Chr. Waldhoff, in: Calliess / Ruffert (Hrsg.), Komm. EU- / EGV, 2. A. 2002, Art. 269 Rn. 19. 26 Die Berechnung der Finanzierungssalden fällt verschieden aus, je nachdem ob die Eigenmittel sämtlich erfasst werden oder mit Ausnahme der sog. traditionellen Eigenmittel (Zölle und Agrarausgaben). Letztere Methode wird aus mehreren Gründen befürwortet (die traditionellen Eigenmittel sind der EU zustehende Forderungen, die von den Staaten für die EU erhoben werden; der sog. Rotterdam-Antwerpen-Effekt erzeugt scheinbare Belastungen der Importländer, während die Endbelastung der Verbraucher in anderen Ländern auftreten kann), dennoch meistens nicht ausgeführt. Auch die der Eigenmittelbelastung gegenübergestellten Zahlungen an den jeweiligen Mitgliedstaat können verschieden sein, je nachdem ob nur die zurechenbaren operativen Ausgaben (Landwirtschaft, Strukturmittel, interne Politikbereiche) oder auch Verwaltungsausgaben den Eigenmitteln gegenübergestellt werden. Für 2001 ergeben sich folgende Finanzierungssalden (jeweils alle Eigenmittel abzüglich der zurechenbaren operativen Ausgaben): Belgien – 1,8005 Mrd. A, Dänemark – 470,3 Mio. A, Deutschland – 9,521.1 Mrd. A, Griechenland + 4,3704 Mrd. A, Spanien + 7,0248 Mrd. A, Frankreich – 3,111 Mrd. A, Irland + 1,0789 Mrd. A, Italien – 3,0373 Mrd. A, Luxemburg – 155,9 Mio. A, Niederlande – 3.8781 Mrd. A, Österreich – 703,20 Mio. A, Portugal + 1,6657 Mrd. A, Finnland – 231,8
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tragsgerechtigkeit. Dies gilt auch für den negativen Finanzierungssaldo Deutschlands, des seit je größten Nettozahlers. Beitragsgerechtigkeit erfordert nicht, dass die Zahlungen eines Mitgliedstaates im Rahmen des Eigenmittelsystems den finanziellen Leistungen der EU an diesen Mitgliedstaat äquivalent sind; ebenso wenig erfordert sie, dass der Anteil an den empfangenen Leistungen zu den Anteilen aller anderen Mitgliedstaaten nach dem Verhältnis der Eigenmittelzahlungen des jeweiligen Mitgliedstaates bestimmt wird. Beitragsgerechtigkeit erfordert vielmehr die faire Verteilung der Finanzierungslasten. Dabei spitzt sich das Problem der Kriterien fairer Lastenverteilung auf diejenigen Finanzierungslasten zu, die die Politik und Rechtsordnung der Gemeinschaft als Solidarlasten ausgewählt haben. Dies sind die Ausgaben für Landwirtschaft und Strukturpolitik. Es sind dies dieselben Lasten, deren Existenz dazu zwingt, von einem Vorteilsausgleichsmaßstab der Beitragsgerechtigkeit Abstand zu nehmen.
2. Aktuelle Defizite und die Notwendigkeit ihrer Behebung Das bestehende Eigenmittelsystem gewährleistet aus einer Reihe von Gründen für sich allein die Beitragsgerechtigkeit noch nicht, wenn diese in dem dargelegten Sinne als eine Finanzierungsgerechtigkeit27, als ein System fairer Lastenverteilung, verstanden wird. Denn es schließt nicht aus, dass, in der Terminologie der Beschlüsse des Europäischen Rates von Berlin ausgedrückt, Haushaltsbelastungen einzelner Mitgliedstaaten entstehen, die „an ihrem relativen Wohlstand gemessen exzessiv sind“ und daher zum „Genuss einer Berichtigung“ des Haushaltsungleichgewichtes führen sollen. Die politische Einigung über das Prinzip der Vermeidung exzessiver Haushaltsungleichgewichte enthält für die Bemühungen um tragfähige Kriterien der Beitragsgerechtigkeit zugleich den Hinweis, dass diese sich nicht auf eine perfekte Lastengleichheit richten, sondern nur anstreben können, ein beträchtliches Übermaß und Untermaß der jeweiligen Lastentragung zu eliminieren.
a) Der britische Beitragsabschlag Unter den Gründen, die es in Frage stellen, in den allgemeinen Kriterien der Eigenmittelaufbringung eine ausreichende Garantie der Beitragsgerechtigkeit zu erblicken, ist an erster Stelle der britische Beitragsabschlag28 zu nennen, weil er Mio. A, Schweden – 1,2671 Mrd. A, VK – 1,9416 Mrd. A. Quelle: Eur. Kommission. Aufteilung der operativen Ausgaben nach Mitgliedstaaten, Sept. 2002, Tabellen 2 a (Eigenmittel) und 3 d (zurechenbare operative Ausgaben). Bei Einbeziehung der Verwaltungsausgaben in die den Eigenmitteln gegengerechneten Vorteile und Zuflüsse verändern sich nur die Salden Belgiens (+ 517,6 Mio. A) und Luxemburgs (+ 643,6 Mio. A) signifikant. 27 Ohler (Fn. 24), S. 382. 28 Zu den Einzelheiten s. R. Messal, Das Eigenmittelsystem der Europäischen Gemeinschaft, 1991, S. 109 ff.; U. Häde, Finanzausgleich, 1996, S. 486; Eckhoff (Fn. 9), S. 208 ff.;
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die Belastung eines Mitgliedstaates nicht an diese Kriterien bindet. 1984 vom Europäischen Rat in Fontainebleau (25. / 26. Juni) als Konzession an die britische Regierung beschlossen, hat der Abschlag die Finanzgipfel von Brüssel (1988), Edinburgh (1992) und Berlin (1999) überdauert, und er wurde in Berlin erneut ausdrücklich bestätigt („Der Abschlag für das Vereinigte Königreich bleibt bestehen.“). Der Beitragsabschlag in Höhe von 2 / 3 der Nettobelastung des Vereinigten Königreiches praktiziert das in der europäischen Integration sonst abgelehnte Prinzip, die Finanzlast eines Mitgliedstaates an den Rückflüssen aus dem EU-Haushalt auszurichten und dadurch zu begrenzen. Die Nettobelastung wird durch die Differenz zwischen den MwSt-Eigenmitteln und den auf das Vereinigte Königreich entfallenden Ausgaben aus dem europäischen Haushalt ermittelt. Die seit 1988 erfolgte Umstellung des Eigenmittelsystems, die mit den BSP-Eigenmitteln eine die MwSt-Eigenmittel ergänzende und diese inzwischen in der Ertragskraft übertreffende Finanzierungsquelle geschaffen hatte, erforderte komplizierte Anpassungen des britischen Beitragsabschlages, um einerseits zu verhindern, dass die fortlaufende Verringerung der MwSt-Eigenmittel als Berechnungsfaktor den Abschlag aushöhlt, und um andererseits den Abschlag nicht auf diejenigen „Einsparungen“ auszudehnen, die durch die Umstellung der Eigenmittelbemessungsgrundlage von der MwSt auf das BSP eintraten. Im Zeitpunkt der Entstehung war der Abschlag, sieht man einmal von den machtpolitischen Komponenten seines Zustandekommens ab, durch die damalige Agrarlastigkeit des Gemeinschaftshaushaltes (1984 rd. 70% der den einzelnen Mitgliedstaaten zurechenbaren Ausgaben) und den relativ geringen Umfang des Agrarsektors im Vereinigten Königreich legitimiert. Aber der Abschlag war und ist nicht auf das durch den Agrarsektor bedingte Nettodefizit Großbritanniens beschränkt. Er erstreckt sich auch auf alle anderen Sektoren. Dies hat zur Folge, dass das Vereinigte Königreich auch die Solidarlasten aus der seit dem Ende der 80er Jahre expandierenden Kohäsionspolitik nur zu einem Drittel trägt. Die Europäische Kommission führt dazu in ihrem Bericht über das Finanzierungssystem aus29: „Der Ausgleichsmechanismus fängt alle Änderungen des britischen Haushaltsungleichgewichts auf und versetzt das Vereinigte Königreich in eine in Bezug auf die gemeinsamen Haushaltsbeschlüsse einmalige Lage. So kostet beispielsweise ein Haushaltsbeschluss, der für einen Mitgliedstaat mit Nettokosten in Höhe von 100 ECU verbunden wäre, das Vereinigte Königreich de facto 33 ECU.“ Alle übrigen Mitgliedstaaten müssen den britischen Beitragsabschlag finanzieren, die Hauptnettozahler Deutschland, Niederlande, Österreich und Schweden allerdings seit 2002 nur zu 25% ihres normalen Anteils (während bis 2001 eine Ermäßigung für Deutschland auf 66,66% bestand)30. C. Blumann, Politique agricole commune, 1996, S. 445 ff.; Europ. Kommission, Bericht (s. Fn. 23), Anh. 4. Zur Entstehung und Vorgeschichte s. Fugmann, (Fn. 25), S. 281 ff.; Götz, Das Finanzierungssystem der Europäischen Gemeinschaft in der Krise, in: ders. / Selmer (Hrsg.), Finanzverfassung der EG / Beilegung int. Rechtsstreitigkeiten. Heidelberger Kolloquium aus Anlass d. 70. Geburtstages von Günther Jaenicke, 1984, S. 3 (10 ff.); D. Strasser, Die Finanzen Europas, 3. A. 1991, S. 174 ff. 29 Fn. 23, Anh. 4 S. 7.
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Der Europäische Rat von Fontainebleau hatte 1984 den britischen Beitragsabschlag in den Rahmen einer allgemeinen Beschlussfassung gestellt. „Zu gegebener Zeit“ sollten jedem Mitgliedstaat, der gemessen an seinem relativen Wohlstand eine zu große Haushaltslast trägt, Korrekturen zugestanden werden können, und zwar auf der Grundlage seines Anteils an den Mehrwertsteuerzahlungen und dem Anteil an den nach den damaligen Kriterien aufgeteilten Ausgaben. Vor der Festlegung des Finanzrahmens für 2000 – 2006 legte Deutschland am 5. März 1998 der Kommission den Vorschlag für einen nach den Kriterien von Fontainebleau einzurichtenden allgemeinen Korrekturmechanismus vor. Die Niederlande, Österreich und Schweden schlossen sich dem Vorschlag an. Nach dem deutschen Vorschlag sollte sich der Korrekturbetrag (Abschlag) nicht wie beim britischen Abschlag aus der vollen Nettobelastung berechnen, sondern nur aus der oberhalb eines bestimmten Schwellenwertes liegenden Nettobelastung. Als Schwellenwert wurden 0,3 bis 0,4% des BSP angeregt, variabel unter Berücksichtigung des relativen Wohlstandes. Der Ausgleichskoeffizient, der beim britischen Abschlag 66,66 % beträgt, war nach dem deutschen Vorschlag ebenfalls variabel gehalten. Die Kommission nahm dieses sog. Kappungsmodell31 in die Optionen für die Reform des Finanzierungssystems auf. Der Europäische Rat von Berlin hat jedoch weder einen allgemeinen Korrekturmechanismus beschlossen noch den britischen Beitragsabschlag angetastet. Indem der Europäische Rat den Beschluss von Fontainebleau (1984) zitierte, der die Möglichkeit eines allgemeinen Korrekturmechanismus ins Auge fasst, wurde diese Option für die Zukunft wenigstens offen gehalten.
b) Das Prinzip der finanziellen Solidarität in der gemeinsamen Agrarpolitik – unbegrenzt? Zweitens ist nicht zu übersehen, dass das Prinzip der finanziellen Solidarität für die Lasten der gemeinsamen Agrarpolitik überstrapaziert wird. Es ist bisher nicht gelungen, seine Anwendung in den Grenzen zu halten, die sich aus der vorauszusetzenden Teilung der politischen Verantwortung zwischen Europäischer Gemeinschaft und Mitgliedstaaten für die Agrarpolitik und insbesondere die zugunsten der landwirtschaftlichen Bevölkerung betriebene Einkommenspolitik ergeben. Die Schlüsselposition in dieser Frage hat Frankreich, das 22,2% der Rückflüsse aus der EAGFL-Abteilung Garantie erhält (2001), bei einem Anteil von 17,9 % an den Eigenmittelzahlungen. Für Spanien ist die Schere zwischen dem Eigenmittelanteil (8,2 %) und den Rückflüssen aus der Agrarpolitik (14,9%) noch weiter ge30 Daraus resultierten 2001 Finanzierungslasten in folgender Höhe: Frankreich 1,6649 Mrd. A, Deutschland 1,4518 Mrd. A, Italien 1,3718 Mrd. A, Spanien 710,2 Mio. A, Niederlande 480,9 Mio. A, Belgien 304 Mio. A, Schweden 267,6 Mio. A, Österreich 251,8 Mio. A, Dänemark 195 Mio. A, Finnland 152,7 Mio. A, Griechenland 147 Mio. A, Portugal 135,6 Mio. A, Irland 116 Mio. A, Luxemburg 22,8 Mio. A. 31 Vgl. Eur. Kommission (Fn. 23), Anh. 6; B. Diekmann, Neuordnung der EU-Finanzen: Die Nettozahlerposition als Hebel, in: Wirtschaftsdienst 1998 II, S. 89.
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öffnet. Ein umgekehrtes Verhältnis weist Deutschland auf, mit 24,4% Anteil an den Eigenmittelzahlungen und 14,1 % an den Garantieausgaben des EAGFL. Ursprünglich bedeutete die finanzielle Solidarität dasselbe wie vollständige Gemeinschaftsfinanzierung der Preisstützung für Marktordnungserzeugnisse. Politisch folgerichtig wurde die finanzielle Solidarität nicht aufgegeben, als die Reformen von 1992 die Einkommensstützung zu einem großen Teil von einer Preisstützung auf direkte Einkommensbeihilfen umstellten. Nicht durchgesetzt hat sich die Einsicht, dass es notwendig ist, die finanzielle Verantwortung für die Agrarpolitik auf die Gemeinschaft und die Mitgliedstaaten zu verteilen und dadurch das Ausmaß finanzieller Solidarität zu begrenzen. Notwendig ist dies, weil das politische, wirtschaftliche und finanzielle Interesse der europäischen Staaten an der Agrarpolitik und an den landwirtschaftlichen Einkommen extreme Unterschiede aufweist. Diejenigen Länder, die bedeutende Nettogewinner einer 100ïgen Gemeinschaftsfinanzierung sind, haben sich der notwendigen Begrenzung widersetzt, zuletzt beim Berliner Gipfel 1999, als der deutsche Vorschlag zur Einführung der Kofinanzierung der direkten Einkommensbeihilfen scheiterte. Dabei wäre, wie hier nicht näher ausgeführt werden muss, eine Teilung der Finanzverantwortung für die Agrareinkommenspolitik nicht dasselbe wie eine Renationalisierung der Agrarpolitik; denn die gemeinsame Agrarpolitik verfügt über die rechtlichen Mittel, um einen gemeinschaftseinheitlichen Rahmen aufrechtzuerhalten. Der geeignete rechtliche Standort der Kofinanzierung wäre der Eigenmittelbeschluss 32. Die Erkenntnis, dass die gemeinsame Finanzierung der Agrarpolitik begrenzt werden muss, ist nicht neu. 1983 / 84 wurde die Krise um den britischen Finanzbeitrag durch die Disproportionalität der Agrarlasten ausgelöst. Die Kommission legte damals den Vorschlag33 vor, denjenigen Teil der Agrarfinanzierung (EAGFL-Garantie),der über 33% der Gesamtausgaben der Gemeinschaft hinausging, durch MwSt-Eigenmittel mit variablen Sätzen zu decken. Diese Sätze sollten „unter Berücksichtigung der Anteile der Mitgliedstaaten an der landwirtschaftlichen Produktion. . . sowie ihres ProKopf-Inlandsprodukts festgesetzt“ werden.
c) Lastenverteilung nach Maßgabe des BSP oder des Pro-Kopf-BSP Soweit es die Solidarlasten der Agrarpolitik und des wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhaltes betrifft, d. h. in Bezug auf 80% des gesamten Volumens des Unionshaushaltes, ist das bestehende Finanzierungssystem durch die Ausrichtung der Finanzbeiträge an der absoluten Höhe des Bruttosozialprodukts nicht geeignet, 32 Dieser hat als ratifikationsbedürftiger Rechtsakt primärrechtlichen (verfassungsrechtlichen) Charakter. Folglich sind die von Seidel (Fn. 4) geäußerten Bedenken gegen die Kofinanzierung, weil sie eine durch Gemeinschaftsrecht angeordnete nationale (Teil-)Finanzierungspflicht sei, nicht begründet. 33 Mitteilung an den Rat v. 5. 5. 1983, KOM(83) 270 endg., ABl. Nr. C 145 / 5. Vgl. Götz (Fn. 28), S. 7, 18 ff.
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aus sich heraus Beitragsgerechtigkeit herzustellen. Dies wäre nur der Fall, wenn es zuträfe, dass die Leistungen aus dem Solidarausgleich per saldo stets umgekehrt proportional zum Wohlstand der Empfängerländer wären. Dies ist aber keineswegs der Fall. Insbesondere die Leitungen für die Landwirtschaft können einzelnen Ländern unabhängig von der Leistungsfähigkeit ihrer Volkswirtschaften und ihrem Wohlstand überproportionale Vorteile verschaffen. Nur hinsichtlich der übrigen 20 % des Haushaltsvolumens, die sich aus den Ausgaben für die sog. internen Politikbereiche (7,3 %), externen Politikbereiche (6,6%) und den Verwaltungsausgaben (6,1%) zusammensetzen, genügt das heutige Eigenmittelsystem als Grundlage einer angemessenen Lastenverteilung. Dieses System speist (2001) die Zahlungen an den EU-Haushalt zu 18,1 % aus sog. traditionellen Eigenmitteln (Zölle und Agrarabgaben), zu 38,8 % aus MwSt-Eigenmitteln und zu 43,2 % aus BSP-Eigenmitteln. Der Anstieg der – 1988 ursprünglich als bloße Reservefinanzierung eingeführten – BSP-Eigenmittel zur Hauptfinanzierungsquelle und die weit fortgeschrittene Annäherung der MwSt-Bemessungsgrundlage an die BSP-Grundlage sichern nach Ansicht der Kommission grundsätzlich die Beitragsgerechtigkeit. Das trifft aber nur für die Finanzierung derjenigen (20 %) Ausgaben zu, die nicht dem Solidarausgleich dienen. Zur Finanzierung der internen und externen Politikbereiche und der Verwaltungsausgaben tragen die Mitgliedstaaten angemessen nach Maßgabe der absoluten Höhe ihres Bruttosozialproduktes bei. Anders liegt es bei Finanzlasten, die als Solidarlasten dem sozialen und wirtschaftlichen Ausgleich und damit der Herstellung des Zusammenhaltes dienen. Sie sollten nach Maßgabe des relativen Wohlstandes der beteiligten Länder getragen werden. Das Finanzierungssystem muss es ausschließen, dass relativ wohlhabende Länder auf Kosten weniger wohlhabender finanzielle Vorteile erhalten, und muss vor allem sicherstellen, dass die relativ leistungsfähigen Länder sich gleichmäßig an dem Ausgleich zulasten der weniger leistungsfähigen beteiligen. Dies gewährleistet das gegenwärtige System nicht. Es leistet noch nicht einmal die Verhinderung „exzessiver“ Ungleichgewichte. In den Beschlüssen der Gipfelkonferenzen von Fontainebleau und Berlin wurde das Kriterium des relativen Wohlstandes anerkannt, wenigstens in der Form, dass Haushaltsungleichgewichte, die gemessen am relativen Wohlstand exzessiv sind, korrigiert werden sollen. Um die Leistungsfähigkeit eines Mitgliedstaates an der seiner Volkswirtschaft zu messen, werden makroökonomische Einkommensgrößen verwendet, im Allgemeinen das Pro-Kopf-BSP nach Wechselkursen oder Kaufkraftparitäten (oder: das Pro-Kopf-Bruttoinlandsprodukt, das Nettosozialprodukt zu Marktpreisen). In der Strukturpolitik der Gemeinschaft finden das Pro-KopfBSP (beim Kohäsionsfonds) sowie das Pro-Kopf-BIP (Strukturfonds: Ziel 1-Gebiete), jeweils gemessen in Kaufkraftstandards, Verwendung. Nach dem jeweiligen Pro-Kopf-BSP wäre die relative Position jedes Mitgliedstaate zu ermitteln. Im Idealfall wäre sie zur Grundlage der Berechnung des Finanzierungsanteils zu machen, den jedes Land an den Solidarlasten zu tragen hat. Jedoch müssen in die Berechnung des Finanzierungsanteils auch die dem jeweiligen Mitgliedstaat zugeflossenen Solidarleistungen – die „zurechenbaren“ Ausgaben für Landwirtschaft und
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Strukturpolitik – eingehen. Im Juli 1998 unterbreitete Spanien mit Unterstützung Portugals und Griechenlands der Kommission den Vorschlag, die BSP-Eigenmittel nach Maßgabe des Pro-Kopf-BSP zu berechnen34. Der Vorschlag berief sich auf die Absichtserklärung des Maastrichter Protokolls über den wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalt, künftig der Beitragskapazität der einzelnen Mitgliedstaaten stärker Rechnung zu tragen und regressive Elemente im derzeitigen Eigenmittelsystem zu beseitigen. Er vernachlässigte dabei aber ohne überzeugenden Grund den Umstand, dass die drei Staaten die größten Nettoempfänger im Finanzierungssystem sind. Er lief darauf hinaus, neben dem Solidarausgleich auf der Ausgabenseite (Landwirtschaft, Struktur- und Kohäsionspolitik) außerdem einen sozial gestaffelten Beitragstarif zu schaffen und die Wirkungen beider zu kumulieren. Es ist nochmals daran zu erinnern, dass nicht perfekte Lastengleichheit gefordert werden kann, wohl aber Eliminierung exzessiver Ungleichheit35. Die in der jüngsten Vergangenheit eingetretenen großen Veränderungen der relativen Position der Mitgliedstaaten könnten bewirkt haben, dass diese Schwelle jetzt deutlich überschritten ist. Deutschland ist (2001) beim Pro-Kopf-BSP (nach Dollar-Wechselkursen ebenso wie nach Kaufkraftparitäten) auf den 9. Rang der Union der 15 abgestiegen, hinter Luxemburg, Dänemark, Irland, Schweden, das Vereinigte Königreich, Finnland, Niederlande und Österreich36.
III. Beitragsgerechtigkeit – die ungelöste Verfassungsfrage der Europäischen Union Die Beitragsgerechtigkeit im Finanzierungssystem ist eine Verfassungsfrage der Europäischen Union, die das geltende Recht leider nicht befriedigend beantwortet. Auch von der in der Entstehung begriffenen Verfassung der Union ist eine Antwort auf die offene Frage nach der Beitragsgerechtigkeit nicht zu erwarten, weil sie ihr voraussichtlich aus dem Wege gehen wird. 1984 hatten sich die Probleme einer angemessenen Verteilung der Finanzlasten im Streit um den britischen Beitrag krisenhaft zugespitzt. Das Resultat der damaligen Krisenbewältigung, die Einigung auf den britischen Beitragsabschlag, vergrößert heute die Defizite einer fairen Lastenverteilung. Seither ist kein Fortschritt zu erkennen. Strukturelle Verbesserungen zur Erzielung von Beitragsgerechtigkeit im Finanzierungssystem sind ausgeblieben. Vielleicht bedarf es einer weiteren krisenhaften Zuspitzung der Ungleichgewichte, um eine politische Einigung über Verbesserungen zu erzielen. Ein Umstand, der bei künftigen Veränderungen Bedeutung erlangen kann, ist unerwähnt geblieben: Der Beitritt weiterer Mitgliedstaaten mit niedriger Beitragskapazität. Diesen wichtigen Aspekt können wir hier nicht behandeln, obwohl er 34 35 36
Vgl. Eur. Kommission (Fn. 23), Anh. 7. S. o. II 2 (am Anfang). Quelle: OECD, GDP per Capita, 2001 (www.oecd.org).
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eine große Rolle spielen wird. Ein anderes Stichwort soll hingegen nicht ausgelassen werden: Finanzausgleich. Inzwischen existiert eine umfangreiche finanzwissenschaftliche Literatur zu unserem Problem, die das Thema als ein solches eines europäischen Finanzausgleichs behandelt37. Dieser Einordnung habe ich schon 1984 widersprochen, als Peter Selmer und ich mit Beiträgen zur Finanzverfassung der Europäischen Gemeinschaft unseren akademischen Lehrer Günther Jaenicke zu seinem 70. Geburtstag ehrten38. Der Finanzausgleich ist nach Johannes Popitz ein System von Finanzbeziehungen im Bundesstaat oder einer anderen Staatenverbindung, dessen Grundlage die Aufgaben-, Ausgaben- und Einnahmenverteilung ist39. Ein derartiges System weist die Europäische Union nicht auf. Denn ihre Verfassung, die gegenwärtige wie die voraussichtliche künftige, verfasst nur den Verband der Union, nicht sowohl die Union und die Mitgliedstaaten, wie dies bei einer bundesstaatlichen Verfassung der Fall wäre. Sie „verteilt“ nicht Aufgaben, Ausgaben und Einnahmen zwischen der Union und den Mitgliedstaaten. Sie führt ebenso wenig einen Finanzkraftausgleich durch, dessen Sinn es ja wäre, die Erfüllung der verteilten Aufgaben finanziell zu gewährleisten. Der Finanzausgleich „im engeren Sinne“, durch Transfers zum Ausgleich von Haushaltskapazitäten, wäre die Konsequenz des Finanzausgleichs „im weiteren Sinne“. Er hat in der Europäischen Union keine Daseinsberechtigung. Hingegen steht außer Frage, dass die durch Solidarität und wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalt legitimierten Leistungen der Agrar- und der Strukturpolitik einen kompensatorischen Charakter haben, der sie als solidarischen Lastenausgleich und überregionalen Wohlstandsausgleich charakterisiert. In diesem Sinne, der von dem klassischen finanzwissenschaftlichen Begriff des Finanzausgleichs durchaus zu unterscheiden ist, kann dann von einem Finanzausgleich innerhalb der beiden genannten Gemeinschaftspolitiken gesprochen werden. Nicht zum Thema der Beitragsgerechtigkeit gehört schließlich der allgemeine politische Nutzen der europäischen Integration. Er ist gewiss überragend. Aber er vermittelt keine Kriterien für eine faire Verteilung der Finanzlasten. Im Ergebnis trifft dies auch für die Wohlfahrtsgewinne zu, die die einzelnen Staaten aus der wirtschaftlichen Integration und insbesondere dem Binnenmarkt ziehen. Sie werden von allen Mitgliedstaaten gezogen. Der Nachweis, dass größere und leistungsfähigere Volkswirtschaften überproportional profitieren, ist bisher noch nie gelungen40. Der über- oder unterproportionale Nutzen des Binnenmarktes steht als brauchbares Kriterium der Beitragsgerechtigkeit nicht zur Verfügung. 37 Etwa die Monographien von F. Walthers, Europäischer Finanzausgleich (1996), M. Kraff (s. Fn. 19); H. Niermann (Fn. 24). 38 S. Fn. 28. 39 Popitz, Der Finanzausgleich, in: HdbFinW Bd. 2 (1927) S. 338; H. Fischer-Menshausen, Finanzausgleich, in: HdWW, 2. Bd., 1988 S. 608. 40 Vgl. C. Rolle, EU-Nettozahlungen – Beuten kleine Länder große aus?, in: Wirtschaftsdienst 1999 III S. 181; V. Nienhaus, Der Haushalt der Europäischen Gemeinschaften, in: Aus Politik und Zeitgeschichte B 18 – 1993, S. 28 (36).
Die Sozialversicherung und das System der Finanzverfassung Von Werner Heun
I. Einleitung Das Grundgesetz regelt die bundesstaatliche Verteilung der finanziellen Kompetenzen und Einnahmen in den Art. 104a ff. GG mit großer Detailfreude, was diesen Abschnitt über das Finanzwesen zum meistgeänderten Teil der Verfassung gemacht hat. Man könnte daher als unbefangener Beobachter annehmen, dass auch die Sozialversicherung von den detaillierten Regelungen dieses Grundgesetzabschnitts erfasst wird. Immerhin reichen die Einnahmen aus Sozialbeiträgen im Jahr 2000 mit fast 401,8 Mrd. A fast an die Steuereinnahmen von 502, 4 Mrd. A heran1 und übertreffen den gesamten Haushalt des Bundes2 von 244,4 Mrd. A bei weitem. Hinzu kommt noch der hohe Staatszuschuss von 242,3 Mrd. A zu den Sozialversicherungen, insbesondere zur Rentenversicherung. Gleichwohl fällt die Sozialversicherung schon prima facie nahezu völlig aus dem Regelungssystem der allgemeinen Finanzverfassung heraus. Die Finanzverfassung des Grundgesetzes in Art. 104a ff. GG ist in eigentümlicher Weise auf das staatliche Instrument der Steuer fixiert, deren Erhebung und Verteilung fast ausschließlich Gegenstand der finanzverfassungsrechtlichen Normen ist. Die Finanzverfassung des Grundgesetzes ist deshalb in ihrer Essenz eine Steuerverfassung3. Die Finanzierung der Sozialversicherung erfolgt indes hauptsächlich durch Sozialversicherungsbeiträge, die nicht in der Finanzverfassung erwähnt werden. Die haushaltsrechtlichen Regelungen des Grundgesetzes gelten für die staatliche Haushaltswirtschaft des Bundes und der Länder, nicht aber für das parafiskalische Finanzsystem der Sozialversicherung. Andererseits sind die Träger der Sozialversicherung nach allgemeinen föderalen Regeln teils dem Bund, teils den Ländern zugeordnet. Sie bilden aber „eine bundesweite Funktionseinheit, in der die verfassungsrechtliche Zweiteilung von Bund und Ländern praktisch aufgehoben wird“4. Damit stellen die Sozialversicherungen 1 Angaben nach Statistisches Bundesamt (Hrsg.), Statistisches Jahrbuch 2001, 2001, S. 532 für die Steuereinnahmen; dass. (Hrsg.), Statistisches Jahrbuch 2002, 2002, S. 454 für die Sozialbeiträge und den Staatszuschuss. 2 BMF (Hrsg.), Finanzbericht 2002, 2001, S. 209. 3 Vgl. auch J. Isensee, Finanzverfassung und Sozialrecht, SDSRV 35 (1992), S. 7 ff. (9). 4 Isensee (Fn. 3), S. 10.
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sich wiederum als ein Sonderfall außerhalb des normalen Gefüges der bundesstaatlichen Ordnung dar. Die Grundsatzproblematik erhält durch einen aktuellen Fall besondere Brisanz. Der Bundesgesetzgeber hat einen interkorporativen Finanzausgleich zwischen landesmittelbaren Körperschaften über die Landesgrenzen hinweg im sog. Risikostrukturausgleich5 begründet, der völlig von den Voraussetzungen und Grenzen des horizontalen Länderfinanzausgleichs gem. Art. 107 Abs. 2 GG abgekoppelt ist. Gerade angesichts dieser weitreichenden Regelungen stellt sich die grundsätzliche verfassungsrechtliche Frage nach dem Verhältnis der Sozialversicherung zum System der Finanzverfassung. Vereinzelt wird entgegen dem ersten Anschein einer Entkoppelung von Sozialversicherung und Finanzverfassung die These vertreten, der Bereich der Sozialversicherung sei weitgehend in das allgemeine System des Föderalismus und speziell der Finanzverfassung eingeordnet und deren Regelungen unmittelbar unterworfen6. Demgegenüber lässt sich die These formulieren, dass das Grundgesetz in Art. 74 Abs. 1 Nr. 12, 87 Abs. 2, 120 Abs. 1 Satz 4 GG ein in sich konsistentes Regelungssystem enthält, das von der allgemeinen bundesstaatlichen Kompetenz- und Einnahmenverteilung abgekoppelt ist.
II. Die Reichweite der Gesetzgebungskompetenz des Bundes gem. Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG Die wichtigste verfassungsrechtliche Grundlage des Systems der Sozialversicherung ist die konkurrierende Gesetzgebungskompetenz des Bundes gem. Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG für die Sozialversicherung einschließlich der Arbeitslosenversicherung. Auf ihr ruht das Gesamtsystem. Der Begriff der Sozialversicherung in dieser Norm wird in Rechtsprechung und Literatur in einem weiten Sinn verstanden, ist aber nicht konturenlos. Der grundgesetzliche Begriff knüpft an das hergebrachte Bild der sozialen Sicherung an, das in Deutschland seit Bismarck in prägnanter Weise institutionalisiert ist7. Damit wird der Bereich insofern einge5 Vgl. §§ 265 ff., 313a SGB V; vgl. auch den Endbericht der Enquetekommission „Strukturreform der gesetzlichen Krankenversicherung“, BT-Dr. 11 / 6380, S. 215 ff.; zur generellen Problematik s. auch J. Brunkhorst, Zur Problematik unterschiedlicher Risikostruktur und ihres Ausgleichs in der Sozialversicherung, insbesondere in der gesetzlichen Krankenversicherung, 1987; vgl. jetzt P. Jabornegg / R. Resch / O. Seewald (Hrsg.), Finanzausgleich in der Gesetzlichen Krankenversicherung, 2002. 6 So vor allem F. Kirchhof, Finanzierung der Sozialversicherung, in: HStR IV, 1990, § 93, Rn. 35; ders., Einheit und Vielfalt in der Sozialversicherung, in: DRV 1989, S. 32 ff. (37 f.); ders., Finanztransfers aus Separathaushalten im Bundesstaat, in: FS Günter Dürig, 1990, S. 447 ff. (456 f., 459 ff.); dagegen jetzt auch D. Gohla, Der Risikostrukturausgleich auf dem Prüfstand des Grundgesetzes, 2002, S. 304 ff.; P. Axer, Beitragsbemessung und Finanzausgleich in der Gesetzlichen Krankenversicherung, in: Jabornegg u. a., Finanzausgleich (Fn. 5), S. 15 ff. (28 ff.). 7 Zu Bismarck’s Einführung der Sozialversicherung vgl. G. Wannagat, Lehrbuch des Sozialversicherungsrechts, Bd. I, 1965, S. 61 ff.; F. Tennstedt, Geschichte des Sozialrechts, in:
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grenzt, als Sozialversicherung nicht im Sinne allgemeiner sozialer Sicherung oder einer Absicherung gegen jede Unbill des Lebens verstanden werden kann, da andernfalls sämtliche sozialrechtlichen Normen von der Kompetenzvorschrift erfasst würden8. Auch der Begriff der Sozialversicherung lässt erkennen, dass nur die beitragspflichtige Versicherung ganz bestimmter sozialer Risiken von der Norm umfasst wird. Innerhalb dieses Begriffsfeldes hat der Gesetzgeber jedoch einen weiten Spielraum, denn bei der Sozialversicherung handelt es sich um einen „verfassungsrechtlichen Gattungsbegriff, der alles umfasst, was sich der Sache nach als Sozialversicherung darstellt“9. Der Begriff ist auch nicht auf die klassischen vier Versicherungszweige beschränkt, die Kompetenznorm ermöglicht vielmehr zukunftsorientiert „die Einbeziehung neuer Lebenssachverhalte in das Gesamtsystem „Sozialversicherung“, wenn die neuen Sozialleistungen in ihren wesentlichen Strukturelementen, insbesondere in der organisatorischen Durchführung, dem Bild entsprechen, das durch die klassische Sozialversicherung geprägt ist“10. Klassischer Zweck der Sozialversicherung ist „jedenfalls die gemeinsame Deckung eines möglichen, in seiner Gesamtheit schätzbaren Bedarfs durch die Verteilung auf eine organisierte Vielheit“11. Das darin zum Ausdruck kommende soziale Bedürfnis nach einem Ausgleich besonderer Lasten ist ebenso wie die Art und Weise der organisatorischen Bewältigung charakteristisch für die Sozialversicherung. Typisch für das letztere Element ist die Wahrnehmung der Aufgaben durch selbständige Anstalten oder Körperschaften des öffentlichen Rechts und die Aufbringung der Mittel durch Beiträge12. Deshalb erstreckt sich die Gesetzgebungskompetenz des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG vor allem auf die Finanzierung der Sozialversicherung in einem umfassenden Sinn. Das schließt insbesondere die Kompetenz zur Auferlegung der sog. Sozialversicherungsbeiträge ein13. Der Verfassungsgeber hat die Sozialversicherungsbeiträge bereits vorgefunden. Da sie in Art. 104a ff. GG keinen Ausdruck gefunden haben, die Finanzierung der Sozialversicherung aber vorausgesetzt werden muss, sind die Sozialversicherungsbeiträge in Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG verankert und legitimiert14. Sie sind keine Steuern, da sie nach Schuldnerkreis und Finanzierungszweck grupv. Maydell / Ruland (Hrsg), Sozialrechtshandbuch, 2. Aufl. 1996, S. 25 ff.; T. Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866 – 1918, Bd. I, 1994, S. 335 ff. 8 Vgl. BVerfGE 11, 105 (111); R. Stettner, in: H. Dreier (Hrsg.), GG, Bd. II, 1998, Art. 74, Rn. 65. 9 BVerfGE 11, 105 (112); 75, 108 (146); vgl. auch H. C. Nipperdey / F.-J. Säcker, Zur verfassungsrechtlichen Problematik von Finanzausgleich und Gemeinlast in der Sozialversicherung, 1969, S. 14 ff. 10 BVerfGE 11, 105 (112). 11 BVerfGE 11, 105 (112). 12 BVerfGE 11, 105 (113); 63, 1 (35); 75, 108 (146); 87, 1 (34). 13 BVerfGE 81, 156 (185 f.); 89, 132 (144); 99, 202 (212). 14 BVerfGE 75, 108 (148); W. Heun, in: H. Dreier (Hrsg.), GG, Bd. III, 2000, Art. 105, Rn. 23 m. w. N.; Axer, Beitragsbemessung (Fn. 6), S. 27. 42*
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penbezogene Sonderlast, nicht Gemeinlast sind15. Sie stellen ferner keine Vorzugslast dar, weil sie nicht abstrakte oder konkrete Gegenleistungen der Versicherungsträger kompensieren, sondern mit Umverteilungseffekten dem Solidarausgleich unter den versicherten Arbeitnehmern dienen16. Zu Recht werden sie überwiegend als Abgabe eigenständiger Art17 und nicht als Sonderabgabe qualifiziert18. Eines Rückgriffs auf die allgemeinen Regelungen der Finanzverfassung bedarf es nicht, dieser ist vielmehr ausgeschlossen. Die besonderen Anforderungen und Voraussetzungen, denen der Gesetzgeber bei der Erhebung von Sonderabgaben unterworfen ist, können gerade keine Geltung beanspruchen. Ein wesentlicher Grund dafür ist, dass es im Bereich der Sozialversicherungsbeiträge zu dem bei der Erhebung von Sonderabgaben typischerweise drohenden Konflikt mit den Regelungen der Finanzverfassung nicht kommen kann. „Sozialversicherungsbeiträge dienen von vornherein nicht der allgemeinen Mittelbeschaffung des Staates, sondern finden ihren Grund und ihre Grenze in der Finanzierung der Sozialversicherung. Der Gesetzgeber kann sich seiner Regelungskompetenz für die Sozialversicherung nicht bedienen, um dadurch Mittel für die Finanzierung allgemeiner Staatsaufgaben aufzubringen. Die Finanzmasse der Sozialversicherung ist tatsächlich und rechtlich von den allgemeinen Staatsfinanzen getrennt“19. Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG ist insofern eine Sonderkompetenz, die von den allgemeinen Regelungen der Finanzverfassung abgetrennt ist. Die Voraussetzung der Erforderlichkeit einer bundeseinheitlichen Regelung gem. Art. 72 II GG ist auch unter den verschärften Voraussetzungen der Neufassung dieser Norm und der neuen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts20 im Bereich der Sozialversicherung regelmäßig ohne Einschränkung erfüllt21.
15 Vgl. z. B. H. Siekmann, in: M. Sachs (Hrsg.), GG, 3. Aufl., 2003, vor Art. 104a Rn. 97; Heun (Fn. 14), Rn. 23 m. w. N.; Gohla (Fn.), S. 73 ff.; insofern verlangt die Finanzverfassung Distanz des Sozialversicherungsbeitrags von der Steuer, Axer (Fn. 6), S. 29 f. 16 Vgl. auch BVerfGE 11, 105 (117); 14, 312 (317); 51, 115 (124). 17 BVerfGE 14, 312 (317 f.): 75, 108 (147 f., 158); L. Osterloh, Verfassungsfragen der Künstlersozialabgabe, NJW 1982, S. 1617 ff. (1619 f.); Kirchhof, § 93 (Fn. 6), Rn. 16; ders., Sozialversicherungsbeitrag und Finanzverfassung, NZS 1999, S. 161 ff. (164). 18 Vgl. BVerfGE 75, 108 (147 f.); Heun (Fn. 14), Rn. 23; a. A. P. Henseler, Begriffsmerkmale und Legitimation von Sonderabgaben, 1984, S. 49 ff., 91; Gohla, Risikostrukturausgleich (Fn. 6), S. 322 ff. 19 BVerfGE 75, 108 (148); s. auch F. Kirchhof, Funktionale Einheit bei gegliederter Finanzierung, SDSRV 31 (1988), S. 59 ff. (63). 20 BVerfGE 106, 62 (135 ff.); zur früheren Bedeutung vgl. hier nur Stettner (Fn. 8), Art. 72, Rn. 12 ff. 21 Bei der Regelung des Risikostrukturausgleichs ergibt sich die Erforderlichkeit zudem schon logisch aus dem Regelungsgegenstand der interregionalen Verteilung; vgl. auch Gohla (Fn. 6), S. 162 ff.; Axer (Fn. 6), S. 28.
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III. Die Organisationskompetenz des Art. 87 Abs. 2 GG Die Gesetzgebungskompetenz des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG darf außerdem nicht isoliert betrachtet werden. Sie wird vielmehr durch Art. 87 Abs. 2 GG ergänzt, wonach die Sozialversicherungsträger als bundesunmittelbare Körperschaften des öffentlichen Rechts geführt werden, sofern sich ihr Zuständigkeitsbereich über das Gebiet eines Landes hinaus erstreckt. Diese Regelung ist durch die Verfassungsreform von 1994 mit Satz 2 durch die Möglichkeit ergänzt worden, dass Sozialversicherungsträger, deren Zuständigkeitsbereich sich über das Gebiet eines Landes erstreckt, ebenfalls als landesunmittelbare Körperschaften des öffentlichen Rechts geführt werden können, wenn sich ihr Zuständigkeitsbereich über nicht mehr als drei Länder erstreckt und ein aufsichtsführendes Land bestimmt worden ist. Das BVerfG sieht Art. 87 Abs. 2 GG als Kompetenznorm und nicht als eine verfassungsrechtliche Garantie der Sozialversicherung an22. Darüber hinaus charakterisiert das Gericht die Regelung als „Organisationsnorm“23. Darin kommt im wesentlichen zum Ausdruck, dass Art. 87 Abs. 2 GG zugleich eine bestimmte Form der Bundesverwaltung, nämlich die mittelbare Bundesverwaltung, obligatorisch festlegt24. Jedenfalls ist klar, dass Art. 87 Abs. 2 GG bestimmte Vorgaben für die Organisation der Sozialversicherung normiert. Teilweise wird dafür plädiert, dass Art. 87 Abs. 2 GG darüber hinaus Elemente einer staatsrechtlichen Aufgabenbestimmung enthält25. Die Besonderheit des Art. 87 Abs. 2 GG besteht allerdings darin, dass er für die Sozialversicherungsträger insoweit zwar bestimmte Vorgaben über die Organisationsstruktur, nämlich die Ausgestaltung als Körperschaften des öffentlichen Rechtes, enthält, ansonsten aber keine verbindliche Zuweisung einer bestimmten Verwaltungskompetenz für eine bestimmte Materie, nämlich die Sozialversicherung, in abschließender Weise an Bund oder Länder vornimmt. Insoweit ist die Formulierung des Art. 87 Abs. 2 GG offen. Art. 87 Abs. 2 GG stellt für die Frage, ob die Körperschaften dem Bund oder den Ländern zugewiesen sind, darauf ab, welchen Zuständigkeitsbereich die betreffenden Sozialversicherungsträger haben, nicht aber darauf, wer sie errichtet hat26. Deshalb bestimmt der Gesetzgeber aufgrund seiner Ermächtigung in Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG selbst, welchen Zuständigkeitsbereich die einzelnen Sozialversicherungsträger zugewiesen bekommen. Der Bundesgesetzgeber kann daher sogar unmittelbar selbst Sozialversicherungsträger als landesunmittelbare Körperschaften des öffentlichen Rechts errichten27. 22 Vgl. BVerfGE 21, 362 (371); 39, 302 (315); zu Art. 87 Abs. 2 GG als Kompetenznorm s. auch BVerfGE 11, 105 (123 f.); 63, 1 (36). 23 BVerfGE 63, 1 (35); s. auch 21, 362 (371). 24 Vgl. P. Lerche, in: Maunz / Dürig, GG, Art. 87 (1992), Rn. 152. 25 Lerche (Fn. 24), Rn. 152. 26 BVerfGE 11, 105 (123 f.). 27 BVerfGE 11, 105 (123 f.); eine derartige Regelung ist zustimmungspflichtig gem. Art. 84 Abs. 1 GG.
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Eine bestimmte Gliederung einzelner Sozialversicherungszweige ist durch das Grundgesetz ebenfalls nicht vorgeschrieben28. Der Gesetzgeber ist vollständig frei, wie er die einzelnen Sozialversicherungen organisiert. Er kann etwa einen Versicherungszweig insgesamt bei einem einzigen Träger zusammenfassen und ihn nach Art. 87 Abs. 2 GG als bundesunmittelbare Körperschaft des öffentlichen Rechts, wie etwa die Arbeitslosenversicherung, organisieren29. Daraus ergibt sich auch die uneingeschränkte Befugnis, zwischen den Trägern einer Sozialversicherung einen finanziellen Lastenausgleich vorzusehen30. Insofern enthält Art. 87 Abs. 2 GG lediglich eine strukturelle Vorgabe über die Ausgestaltung der Versicherungsträger als Selbstverwaltungskörperschaften, aber keine materielle Garantie bestimmter Aufgabenbereiche oder einer irgendwie gearteten Finanzautonomie.
IV. Die Finanzierungskompetenz des Art. 120 Abs. 1 Satz 4 GG Gem. Art. 120 Abs. 1 Satz 4 GG trägt der Bund die Zuschüsse zu den Lasten der Sozialversicherungen mit Einschluss der Arbeitslosenversicherung und der Arbeitslosenhilfe. Die heutige Formulierung dieses Grundsatzes ist durch Gesetz vom 30. Juli 1965 eingefügt worden. Der Sache nach enthielt aber bereits Art. 120 GG in der Fassung von 1949 eine entsprechende Regelung. Obwohl die Regelung des Art. 120 Abs. 1 Satz 4 GG einen Teil der Übergangs- und Schlussbestimmungen der Verfassungen darstellt und Art. 120 GG ansonsten die zeitlich begrenzten Kriegsfolgelasten regelt, stellt die Verpflichtung des Bundes zur Tragung der Zuschüsse zur Sozialversicherung eine auf Dauer angelegte Regelung dar, die gerade nicht auf die Bewältigung von Kriegsfolgelasten beschränkt ist31. Die vereinzelte Gegenauffassung, die sich im wesentlichen auf Argumente aus der Entstehungsgeschichte beruft32, hat sich zu Recht nicht durchsetzen können, BVerfGE 36, 383 (393). BVerfGE 36, 383 (393) für den Fall der Unfallversicherung; 39, 302 (315) für die Krankenversicherung; s. auch BVerfGE 89, 365 (377); J. Isensee, Föderalisierung der Sozialversicherung, NZS 1993, S. 281 ff. (283); Brunkhorst (Fn. 5) S. 300 ff.; Axer (Fn. 6), S. 29. 30 BVerfGE 36, 383 (393). 31 BVerfGE 14, 221 (235); BSGE 34, 177 (179); 47, 148 (157); T. Maunz, in: Maunz / Dürig, GG, Art. 120 (1970), Rn. 1; T. Gössl, Die Finanzverfassung der Sozialversicherung, 1992, S. 126; K.-J. Bieback, Die Garantiehaftung des Bundes für die Sozialversicherung, VSSR 1993, S. 1 ff. (15 f.); A. Reiter, Soziallast als Steuerlast, in: FS Franz Klein, 1994, S. 1101 ff. (1105); H. Siekmann, in: Sachs, GG (Fn. 15), Art. 120 Rn. 22 f.; H.-G. Henneke, Öffentliches Finanzwesen, Finanzverfassung, 2. Aufl. 2000, S. 86; J. Lütjohann, Die Lasten der gesetzlichen Rentenversicherung nach Art. 120 Abs. 1 Satz 4 GG, Diss. jur. Tübingen 1994, S. 9 ff.; S. Muckel, in: v. Mangoldt / Klein / Starck, Bonner Grundgesetz, Bd. III, 2001, Art. 120 Rn. 26 ff. 32 H.-W. Diemer, Zum Staatszuschuss bei den Sozialversicherungen, VSSR 10 (1982), S. 31 ff. (60); N. Kranz, Die Bundeszuschüsse zur Sozialversicherung, 1998, S. 93 ff., insbes. S. 122 f. 28 29
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da schon der Herrenchiemseer Entwurf eine entsprechende Dauerregelung vorgesehen hat33. Auch aus systematischen Gründen enthält Art. 120 Abs. 1 Satz 4 GG eine klare Dauerregelung34. Inhaltlich bestimmt die Vorschrift, dass der Bund, falls die Beiträge oder die sonstigen Finanzmittel der Sozialversicherung nicht ausreichen, die darüber hinaus gehenden Lasten zu tragen hat35. Insofern enthält die Vorschrift auch eine Ermächtigung für den Bund, die gesamte Sozialversicherung ggf. durch Staatszuschüsse zu finanzieren. Die Ermächtigung betrifft zwar vor allem die Zuschüsse an die zum Aufgabenbereich der Länder gehörenden Sozialversicherungsträger, da für die Sozialversicherungsträger, die zum Verwaltungsbereich des Bundes gehören, die Finanzierungszuständigkeit des Bundes ohne Art. 120 Abs. 1 Satz 4 GG aus dem allgemeinen Lastenverteilungsgrundsatz des Art. 104a Abs. 1 GG folgen würde36. Die Regelung ist darauf aber nicht beschränkt. Art. 120 Abs. 1 Satz 4 GG normiert vielmehr ganz generell die Finanzierungszuständigkeit des Bundes sowohl für die mittelbare Landesverwaltung als auch für die mittelbare Bundesverwaltung, so dass Art. 104a Abs. 1 GG vollständig verdrängt wird. Zuschuss zu den Lasten der Sozialversicherung im Sinne des Art. 120 Abs. 1 Satz 4 GG bedeutet, dass die Finanzierung dem Bund endgültig zur Last fällt37. Außerdem bedeutet der Begriff des Zuschusses, dass die Dotation aus den eigenen Mitteln der Gebietskörperschaft, d. h. des Bundes erfolgen muss. Das wird durch eine historische Interpretation bestätigt38. Die positive Zuweisung der Finanzierungslast an den Bund bedeutet zugleich negativ, dass die Länder keine Finanzierungsverantwortung für die Sozialversicherung tragen. Sie bedeutet darüber hinaus, dass der Bund den Ländern oder einem einzelnen Land nicht durch einfaches Gesetz die Finanzierungslast zuschieben und die Länder daher auch nicht verpflichten darf, die Defizite in den Aufwendungen der Sozialversicherungsträger aufzufüllen, selbst wenn die betreffenden Versicherungsträger einen Teil der mittelbaren Landesverwaltung darstellen. Mit anderen Worten: Art. 120 Abs. 1 Satz 4 GG enthält zugleich ein Verbot für die Länder, Zuschüsse zu leisten und verbietet dementsprechend eine diesbezügliche Regelung von Seiten des Bundes durch Gesetz39. S. insbes. Siekmann, Art. 120 (Fn. 31), Rn. 23; Muckel (Fn. 31), Rn. 27. K. H. Schaefer, in: von Münch / Kunig, GG-Kommentar, Bd. III, 3. Aufl. 1996, Art. 120, Rn. 17; G. Lübbe-Wolff, in: Dreier, GG III (Fn. 14), Art. 120, Rn. 16. 35 BVerfGE 9, 305 (315, 317); BSGE 47, 148 (154, 156 f.). 36 Siekmann (Fn. 31), Rn. 25. 37 BVerfGE 9, 305 (317); BSGE 47, 148 (154); Kranz (Fn. 32), S. 90 f. 38 Lütjohann (Fn. 31), S. 45 ff.; die Norm gewährt jedoch keinen unmittelbaren Anspruch auf bestimmte Zuschüsse, weder für die Versicherten noch für die Sozialversicherungsträger, h. M.: BVerfGE 14, 221 (235); BSGE 34, 177 (178 f.); 47, 148 (154, 157); Siekmann (Fn. 31), Rn. 25 m. w. N. zur umstrittenen Frage einer Garantiehaftung des Bundes aus dem Sozialstaatsprinzip vgl. hier nur BSGE 47, 148 (158); Siekmann (Fn. 31), Rn. 26 ff. m. w. N.; Muckel (Fn. 31), Rn. 35 ff. 33 34
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Die Norm enthält eine sachgerechte Aufteilung der Finanzverantwortung zwischen Bund und Ländern im grundgesetzlichen Bundesstaat40. Der Bund hat durch sein Gesetzgebungsrecht im Bereich der Sozialversicherung gem. Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG die vollständige Regelungsgewalt über die gesamte Finanzierung sowie die Leistungen und Ausgaben der Sozialversicherung und nimmt für das gesamte Bundesgebiet über die Ländergrenzen hinweg einheitlich eine Regelung vor, deren Gesamtzusammenhang die Qualifizierung der Bundesrepublik Deutschland als unitarischen Sozialstaat rechtfertigt41. Da der Bund sowohl die Ausgaben als auch die Einnahmen der Sozialversicherung umfassend bestimmt und determiniert, obliegt ihm die Gesamtverantwortung für die Finanzierung der Sozialversicherung. Defizite in der Sozialversicherung müssen daher prinzipiell aus den Steuermitteln des Bundes finanziert werden, die von allen Bürgern der gesamten Bundesrepublik gleichermaßen getragen werden42. Die Norm enthält zugleich eine Schutzvorschrift zugunsten der Länder. Dadurch, dass dem Bund die Zuschuss- und Finanzierungslast aufgebürdet wird, werden die Länder davor geschützt, dass der Bund mittels seiner Gesetzgebungskompetenz die Länder zwingt, die von ihm gesetzlich verursachten Defizite der Sozialversicherungen zu finanzieren. Da der Bund das gesamte Leistungs-, Beitrags- und Haushaltswesen der Sozialversicherungen normativ steuert, könnte er ansonsten die Defizite und Finanzierungsprobleme auf die Länder überwälzen, die, wenn es die Regelung des Art. 120 Abs. 1 Satz 4 GG nicht gäbe, zur Finanzierung der betreffenden Finanzierungslücken aufgrund der allgemeinen Lastenverteilungsregelungen des Art. 104a GG verpflichtet wären. Da die Sozialversicherungsleistungen mittlerweile sogar das Volumen des Bundeshaushaltes übersteigen, könnte dies den Bundesgesetzgeber zu einer sozialen Großzügigkeit verleiten, die das finanzielle Gleichgewicht zwischen Bund und Ländern im Bundesstaat völlig zerstören könnte. Die Vorschrift des Art. 120 Abs. 1 Satz 4 GG ist insoweit finanzverfassungsrechtlich konsequent. Die Lastenverteilungsregelung des Art. 120 Abs. 1 Satz 4 GG betrifft allein das Verhältnis zwischen Bund und Ländern43. Art. 120 Abs. 1 Satz 4 GG spricht dementsprechend von den Lasten der Sozialversicherung insgesamt, nicht aber von einzelnen Sozialversicherungsträgern. Dies bedeutet, dass Art. 120 Abs. 1 Satz 4 GG keine Regelung über die Lastenverteilung zwischen den einzelnen Sozialversicherungsträgern enthält, sie obliegt vielmehr dem Bundesgesetzgeber kraft seiner Gesetzgebungskompetenz in Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG44. Das Grundgesetz regelt, S. insbes. Siekmann (Fn. 31), Rn. 25; Kirchhof (Fn. 6), Rn. 31 f.; Muckel (Fn. 31), Rn. 34. Vgl. Isensee (Fn. 3), S. 12. 41 Vgl. Bieback (Fn. 31), S. 16; BSGE 47, 148 (154); 34, 172 (180); Reiter (Fn. 31), S. 1106. 42 BSGE 47, 148 (154). 43 BVerfGE 14, 221 (235, 244); BSGE 34, 177 (179); 47, 148 (154 f.). 44 Eine Kompetenz zur Vermeidung der Einstandspflicht wird man allerdings Art. 120 Abs. 1 Satz 4 GG nicht entnehmen können (in diese Richtung aber wohl Axer (Fn. 6), S. 32); insoweit ist Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG maßgebend. 39
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wenn man von den Grundrechten und den Regelungen über die Staatsorgane, die im vorliegenden Zusammenhang keine Rolle spielen, absieht, die verschiedenen Sachmaterien nach funktionellen Gesichtspunkten, indem getrennt die Gesetzgebungsfragen, die Verwaltungsfragen, die Rechtsprechung und die finanzverfassungsrechtlichen Fragen jeweils gesondert geregelt werden. Dies gilt mit großer Konsequenz auch für den Bereich der Sozialversicherung. Das Grundgesetz normiert den Bereich der Sozialversicherung in allen genannten vier Abschnitten bzw. Funktionen. Der Verfassungsgeber hat eine geschlossene Regelung der Sondermaterie des Bereichs der Sozialversicherung vorgenommen. Dem Bund wird in Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG in Verbindung mit Art. 72 Abs. 2 GG eine weitreichende Gesetzgebungskompetenz zugewiesen, die durch eine beschränkte Verwaltungskompetenz ergänzt wird. Die Verwaltungskompetenz lässt ihrerseits wieder Rückschlüsse darauf zu, dass der Gesetzgeber bei der Frage der Ausgestaltung der Organisation weitgehend frei ist und nur wenige Vorgaben zu beachten hat, die zugleich die Interessen der Länder berücksichtigen. Sogar die Rechtsprechung ist von den anderen allgemeinen Materien als Sondermaterie abgekoppelt, da Art. 95 Abs. 1 GG, wenngleich rudimentär, für den Bereich der Sozialversicherung einen gesonderten Gerichtszweig, nämlich die Sozialgerichtsbarkeit, vorsieht. Dem entspricht die finanzverfassungsrechtliche Regelung, die aus dem Zusammenhang von Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG und Art. 120 Abs. 1 Satz 4 GG zu erschließen ist. Danach soll die Finanzierung der Sozialversicherung durch die eigenständige Abgabenform der Sozialversicherungsbeiträge in vollem Umfang erfolgen. Soweit diese Beiträge zur Finanzierung nicht ausreichen, trifft den Bund die Finanzierungslast. Die Länder sind von dem Finanzierungskreislauf völlig ausgeschlossen und werden durch finanzielle Regelungen nicht berührt. Das Grundgesetz sieht für den Bereich der Sozialversicherung ein rein bundesrechtliches Finanzierungssystem vor. Dieses System ist in sich geschlossen und konsistent.
V. Unanwendbarkeit der allgemeinen Finanzverfassungsregelungen der Art. 104a ff. GG Aus der geschlossenen Regelungssystematik des Grundgesetzes für den Bereich der Sozialversicherung ergibt sich umgekehrt, dass die Regeln der allgemeinen Finanzverfassung auf die Sozialversicherungen nicht anwendbar sind. Daran ändert die bindende Wirkung der grundgesetzlichen Finanzverfassung als abschließende Regelung der Finanzbeziehungen zwischen Bund und Ländern45 nichts. Entscheidend ist der Geltungsbereich der Vorschriften. Zwar beansprucht die Finanzverfassung grundsätzlich nicht nur Geltung für die unmittelbare Staatsverwaltung, sondern auch für die mittelbare Staatsverwaltung, obwohl sich entsprechende Aus45 BVerfGE 67, 256 (286); H.-G. Henneke, in: Heuer, Kommentar zum Haushaltsrecht, vor Art. 104a GG (1997), Rn. 6.
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sagen regelmäßig vornehmlich auf die Kommunen beziehen46. Alle Träger der mittelbaren Staatsverwaltung werden jeweils dem Bund bzw. den Ländern zugerechnet, soweit keine Sonderregelungen bestehen. Genau hier liegt aber zugleich der springende Punkt, da für die Sozialversicherung Sonderregelungen bestehen. Zwar findet sich in der Literatur gleichwohl vereinzelt die Auffassung, dass die finanzverfassungsrechtlichen Regelungen generell auf die Sozialversicherung anwendbar seien47. Demgegenüber wird zu Recht vielfach eine Anwendbarkeit der allgemeinen Regelungen der Finanzverfassung auf die Sozialversicherung explizit abgelehnt48. Allein letzteres ist sachlich und systematisch richtig. Zwar ist die Geltung der Finanzverfassungsregelungen für die mittelbare Staatsverwaltung im allgemeinen systematisch gerechtfertigt. Die Verantwortung für die Finanzierung der Träger mittelbarer Staatsverwaltung liegt grundsätzlich bei dem jeweiligen Land bzw. beim Bund. Deshalb werden Bund oder Land nach Art. 104a GG für die Finanzierung in Anspruch genommen. Die Finanzierung erfolgt mit den Einnahmen aus den allgemeinen Abgaben, die nach Art. 105 GG erhoben werden. Soweit die Beteiligten die Finanzierungslast trifft, muss diese Finanzierungslast im Rahmen des Finanzausgleichs berücksichtigt werden. Deshalb ist insoweit die Regelung des Art. 107 GG anwendbar. Soweit ein Teil der Tätigkeit oder die gesamte Tätigkeit eines Trägers mittelbarer Staatsverwaltung durch Sonderabgaben finanziert wird, ändert dies nichts an der grundsätzlichen Finanzierungslast des Bundes bzw. der Länder. Außerdem werden maßgebliche Sonderabgaben mit in den Finanzausgleich einbezogen. Mit anderen Worten: In aller Regel sind die verselbständigten Teile der Bundes- und Landesverwaltung im Gegensatz zur Sozialversicherung in vollem Umfang in den allgemeinen Finanzkreislauf von Bund und Ländern einbezogen, der von der Finanzverantwortung nach Art. 104a GG über die Einnahmenerhebung und -verteilung nach Art. 105, 106 GG bis hin zu der Einbeziehung in den Finanzausgleich nach Art. 107 GG reicht. Für die Sozialversicherung gilt das allerdings nicht. Deshalb sind schon aus generellen systematischen Erwägungen die Vorschriften der allgemeinen Finanzverfassung nicht auf die Sozialversicherungen anwendbar.
46 Z. B. BVerfGE 86, 148 (215); BVerwGE 44, 351 (364); F. Schoch / J. Wieland, Finanzierungsverantwortung für gesetzgeberisch veranlasste kommunale Aufgaben, 1995, S. 137; W. Heun, Die Zusammenführung der Aufgaben- und Ausgabenverantwortung von Bund, Ländern und Gemeinden als Aufgabe einer Reform der Finanzverfassung – Probleme und Risiken, DVBl. 1996, S. 1020 ff. (1026) m. w. N. 47 Vgl. K. Vogel / C. Waldhoff, in: Bonner Kommentar, Vorb. zu Art. 104a-115 (1997 / 98), Rn. 54; und dann wiederholt F. Kirchhof, § 93 (Fn. 6), Rn. 35; ders., Finanztransfers (Fn. 6), S. 456 f.; ders., Einheit (Fn. 6), S. 73. 48 H. Zacher, Das soziale Staatsziel, in: HStR I, 1987, § 25, Rn. 84 mit Fn. 339; Gössl (Fn. 31), S. 214; Stefan Weber, Die Organisation der gesetzlichen Krankenversicherung, 1995, S. 219 ff.; H.-J. Papier, Verfassungsrechtliche Probleme bei der Organisation der Sozialversicherungsträger, in: FS F. Knöpfle, 1996, S. 273 ff. (286); in der Tendenz auch Isensee, Finanzverfassung (Fn. 3), S. 10 f.
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Ein Blick in die einzelnen Vorschriften bestätigt noch einmal die allgemeine systematische Überlegung. Art. 104a GG enthält eine allgemeine Lastenverteilungsregel, nach der die Ausgabenverantwortung der Wahrnehmung der zugewiesenen Aufgaben folgt. Dieses Konnexitätsprinzip49 sowie die besonderen Regeln der Art. 104a Abs. 2 – 5 GG sind auf die Sozialversicherung schon im Ansatz nicht anwendbar. Die Länder selbst trifft in keiner Weise eine Verpflichtung zur Finanzierung der Sozialversicherungsträger, obwohl diese landesunmittelbare Körperschaften des öffentlichen Rechts sind. Diese finanzieren sich nämlich entweder durch die Sozialversicherungsbeiträge, die aufgrund eines auf der Grundlage des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG erlassenen Gesetzes erhoben werden, oder durch den Bundeszuschuss nach Art. 120 Abs. 1 Satz 4 GG. Für eine Anwendbarkeit des Art. 104a GG ist überhaupt kein Raum. Diese Annahme wird durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bestätigt, das die Vorschriften der Art. 104a ff. GG im Bereich der Sozialversicherung nicht in Betracht gezogen hat, obwohl dies im Falle ihrer Anwendbarkeit nahegelegen hätte50. Die beiden Finanzkreisläufe der allgemeinen Staatshaushalte und der Sozialversicherung sind völlig getrennt51. Allenfalls ergibt sich an Art. 120 Abs. 1 Satz 4 GG eine spezielle Sonderverbindung, die aber nichts daran ändert, dass prinzipiell die Finanzierung der Sozialversicherung gar nicht in einen Konflikt mit den allgemeinen Regeln der Finanzverfassung kommen kann52. Außerdem steht der Sinn und Zweck des Art. 104a Abs. 1 GG einer Anwendung entgegen. Die Regelung sichert zum einen den Grundsatz der fiskalischen Äquivalenz, zum anderen die Effektivität, die Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit der Haushaltsführung53. Im Bereich der Sozialversicherung werden aber die Einnahmen und Ausgaben von ein und denselben Versicherungsträgern verwaltet. Eine Trennung zwischen Ausgaben- und Einnahmenverantwortung liegt nicht vor. Die Kontrolle der selbständigen Träger der Sozialversicherung liegt ohnehin nicht in der Hand der Parlamente, so dass hier eine Anbindung nicht erforderlich ist. In diesem Bereich zeigt sich abermals, dass die Sozialversicherungssysteme einen in sich geschlossenen Bereich darstellen, der äußeren Eingriffen nur durch den Bundesgesetzgeber unterliegt. Diesen Bundesgesetzgeber trifft aber gerade nach Art. 120 Abs. 1 Satz 4 GG die letztliche Finanzverantwortung, weil er zum einen die Grundlagen für die Sozialversicherungsbeiträge bereitstellt und zum anderen die Zuschusslast trägt. Außerdem legen die Träger der Sozialversicherung in gewissem Umfang selbst ihre Beiträge der Höhe nach fest. Auch der Gesichtspunkt der Sicherung bundesstaatlicher Machtverteilung durch die Lastenverteilungs49 BVerfGE 26, 338 (390); BVerwGE 44, 351 (365); W. Heun (Fn. 14), Art. 104a, Rn. 13 m. w. N. 50 Weber, Organisation (Fn. 48), S. 221 ff. 51 BVerfGE 75, 108 (148). 52 BVerfGE 75, 108 (148). 53 Vgl. Heun (Fn. 49), Rn. 8 m. w. N.
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regeln des Art. 104a Abs. 1 Satz 5 GG wird im vorliegenden Zusammenhang bereits durch die Regelung des Art. 120 Abs. 1 Satz 4 GG erfüllt. Soweit nämlich Art. 104a Abs. 1 GG nicht nur dem Bund verbietet, Ländervorhaben zu finanzieren, sondern auch umgekehrt den Ländern untersagt, sich finanziell an Bundesaufgaben zu beteiligen, greift für den Bereich der Sozialversicherung ebenfalls bereits Art. 120 Abs. 1 Satz 4 GG ein. Sinn und Zweck des Art. 104a Abs. 1 GG erfordern nicht die Anwendung auf ein Finanzausgleichsverfahren im Rahmen der Sozialversicherung. In diesen Fall werden einzelnen Sozialversicherungsträgern allein beitragsfinanzierte und damit zweckgebundene Haushaltsmittel entzogen, die nicht die Länder in ihrer allgemeinen finanzpolitischen Gestaltung, sondern nur die jeweils betroffenen landesunmittelbaren Sozialversicherungsträger in ihrem finanziellen Handlungsspielraum einschränken. Dies trifft die Versicherten der ausgleichsverpflichteten Sozialversicherungsträger, da letztere in Folge des Mittelentzugs entweder ihre Beiträge erhöhen oder ihre Leistungen kürzen müssen. Die Länder sind demgegenüber gar nicht berührt, denn sie sind zur Finanzierung der landesmittelbaren Sozialversicherungsträger wegen der Regelung des Art. 120 Abs. 1 Satz 4 GG nicht verpflichtet. Allenfalls kann hier wiederum der Bund letztlich betroffen sein, der aber nun seinerseits gerade wieder die Finanzausgleichsregelungen trifft. Dabei bleibt die Finanzverantwortung innerhalb desselben Trägerbereichs. Das Verteilungssystem der Sozialversicherung ist nicht verfassungsrechtlich festgeschrieben und nicht am Bundesstaatsprinzip ausgerichtet; es kann daher vom Bund, wenn er Finanztransfers von landes- zu bundesunmittelbaren oder zwischen landesunmittelbaren Sozialversicherungsträgern anordnet, nicht unterlaufen werden. Das sich aus Art. 104a Abs. 1 GG ergebende Verbot für den Bund, die Länder nicht zur Finanzierung von Bundesaufgaben heranzuziehen und ebenso ein Land nicht zur Finanzierung der Aufgaben eines anderen Landes heranzuziehen, geht insoweit ins Leere. Es gibt kein schützenswertes Verteilungssystem, das durch die Norm des Art. 104a Abs. 1 GG vor Übergriffen bewahrt werden müsste54. Es kommt hinzu, dass die größte Gefahr für die Sozialversicherungsträger der Länder wie des Bundes nicht in der Regelung eines Finanzausgleichs liegt. Die Gefährdungen gehen vielmehr von anderen Maßnahmen des Bundesgesetzgebers aus. Zum einen hat der Bund nämlich die Möglichkeit, die Zuschüsse zur Sozialversicherung zu kürzen und dadurch Minderausgaben für die einzelnen Träger zu verursachen. Zum anderen kann er die Sachkompetenz aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG dazu benutzen, um der Sozialversicherung bislang aus dem Bundeshaushalt finanzierte Aufgaben allgemeiner Art zuzuweisen. Dies ist schon vielfach vorgekommen. Der Bund hat auf diese Art und Weise die Möglichkeit, an dem Verteilungssystem der Finanzverfassung vorbei seinen eigenen Haushalt zu entlasten und sich Mittel zu verschaffen, die ihm aufgrund des Bund-Länderfinanzausgleichs gerade nicht zustehen sollen55.
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Vgl. auch Weber (Fn. 48), S. 235. Vgl. Weber (Fn. 48), S. 216 f., 231 f.
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Diese Gefahren lassen sich jedoch nicht durch eine Anwendung des Art. 104a Abs. 1 GG auf die Sozialversicherungsträger vermeiden. Im Übrigen ist allgemein anerkannt, dass Art. 120 Abs. 1 Satz 4 GG eine Spezialregelung gegenüber Art. 104a Abs. 1 GG beinhaltet56. Diskutabel ist daher allenfalls, ob lediglich Art. 104a Abs. 5 GG ergänzend anwendbar ist. Danach sind Bund und Länder für die bei ihren Behörden entstehenden Verwaltungsausgaben verantwortlich. Zunächst lässt sich gegen eine Anwendung des Art. 104a Abs. 5 GG der systematische Gesichtspunkt geltend machen, dass diese Regelung im Zusammenhang mit der Regelung des Art. 104a Abs. 1 GG zu sehen ist, da insoweit die Konnexität für den Bereich der Verwaltungsausgaben festgelegt wird. Da die Sonderregelungen für Zweckausgaben in Art. 104a Abs. 2 – 4 GG nach einhelliger Auffassung für die Sozialversicherung nicht gelten, besteht an sich schon keine Veranlassung, die Regelung des Art. 104a Abs. 5 GG, aus der sich überhaupt die Differenzierung zwischen Verwaltungsausgaben und Zweckausgaben ergibt, hier für anwendbar zu halten. Daraus kann man weiter den Schluss ziehen, dass die Grundregel des Art. 104a Abs. 5 GG, die lediglich anordnet, dass die Norm des Art. 104a Abs. 1 GG für Verwaltungsausgaben ohne Einschränkungen gilt, ebenfalls keine Anwendung findet. Schon deshalb sind die Regelungen des Art. 104a Abs. 5 GG nicht auf die Sozialversicherungen anwendbar. Dies lässt sich ferner aus Art. 120 Abs. 1 Satz 4 GG unmittelbar erschließen. Im Allgemeinen wird zwar in den Kommentaren die Feststellung getroffen, dass Art. 120 Abs. 1 Satz 4 GG ganz generell, d. h. sowohl für die Kriegsfolgelasten als auch für die Sozialversicherungen, wohl Art. 104a Abs. 1 GG, nicht aber Art. 104a Abs. 5 GG ausschließe57. Diese pauschale Behauptung lässt sich jedoch nicht aufrechterhalten. Sieht man nämlich genauer hin, dann stellt man zwar fest, dass die Regelung des Art. 120 Abs. 1 GG insgesamt in der Tat die Regelung des Art. 104a Abs. 1 GG, nicht aber Art. 104a Abs. 5 GG verdrängt. Dies liegt daran, dass Art. 120 Abs. 1 GG außer in seinem Satz 4 vor allem die Kriegsfolgelasten regelt. Für Kriegsfolgelasten gilt aber etwas anderes als für die Sozialversicherungen. Die Finanzierung der Kriegsfolgelasten unterliegt, abgesehen von der Zuschussregelung nach Art. 120 Abs. 1 GG, ganz generell den allgemeinen Regeln der Finanzverfassung. Die Kriegsfolgelasten werden nämlich im Wesentlichen aus den Mitteln des allgemeinen Haushalts finanziert. Für die Verwaltung gelten prinzipiell die allgemeinen Regeln der Finanzverfassung, nämlich dass die Länder, soweit die Sonderregelung des Art. 120 Abs. 1 GG nicht gilt, auch die Finanzverantwortung tragen. Soweit daher die Länder die Verwaltungsträger für die Kriegsfolgelasten sind, muss sie sinnvollerweise die Lastenregelung des Art. 104a Abs. 5 GG treffen, während für die Zweckausgaben Art. 120 Abs. 1 GG eine Sonderregelung trifft. Dies liegt an der sonstigen generellen Einbeziehung der Kriegsfolgelasten in den 56 Vgl. S. Luther, Die Lastenverteilung zwischen Bund und Ländern nach der Finanzreform, Diss. jur. Münster 1974, S. 105 ff., 119 ff.; Heun (Fn. 49), Rn. 51. 57 Siekmann (Fn. 31), Rn. 29.
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Bereich der allgemeinen Finanzverfassung. Genau hierin liegt der wesentliche Unterschied zwischen der Kriegsfolgelastenverwaltung und der Sozialversicherung. Die Sozialversicherungen werden durch ein eigenes Beitragssystem finanziert, das – und daran besteht im Grunde genommen kein vernünftiger Zweifel – im wesentlichen für die Verwaltung der Sozialversicherungen aufkommt. Insoweit müssen für die Kriegsfolgelasten die allgemeinen Regelungen greifen, für die Sozialversicherung dagegen nicht58. Die Abgabenkompetenzen der Art. 105, 106 GG wurden für den Bereich der Sozialversicherung vollständig verdrängt, da Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG eine eigenständige Abgabenkompetenz begründet59. Folglich sind die Regeln über Steuern und ihre Verteilung nicht anwendbar. Allenfalls kann die Steuerverfassung einer Finanzierung allgemeiner Staatsaufgaben durch die Sozialversicherung Grenzen ziehen60. Konsequenterweise ist daher zudem Art. 107 Abs. 2 GG nicht anwendbar, der Korrekturen des Ergebnisses der Steuerverteilung nach Art. 107 Abs. 1 GG vorschreibt. Der Grundsatz der Berücksichtigung aller ausgleichsrelevanten Einnahmen61 betrifft gerade nicht die Sozialversicherungsbeiträge, da sie nicht in den allgemeinen Staatshaushalt einfließen, was Voraussetzung der Ausgleichsrelevanz ist. Infolgedessen kann ein Finanzausgleich zwischen verschiedenen Sozialversicherungsträgern völlig unabhängig vom Regime des Art. 107 Abs. 2 GG erfolgen. Letztlich folgt dies auch noch einmal aus Art. 120 Abs. 1 Satz 4 GG, der die Finanzierungslast vollständig dem Bund zuweist. Der Bund ist allein verantwortlich und besitzt die alleinige Regelungsbefugnis für alle Bereiche der Sozialversicherung. Die Finanz- und Haushaltsautonomie der Länder, die zum Kernbereich der Staatlichkeit von Bund und Ländern gehört62, kann erst recht nicht berührt sein. Schon lange vor Einführung eines Risikostrukturausgleichs ist daher ein kassenartübergreifender überregionaler Finanzausgleich für verfassungsrechtlich zulässig gehalten worden63. Dieser fällt allein in die Regelungskompetenz des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG 64.
VI. Resümee Das Grundgesetz trennt den Bereich der Sozialversicherung völlig von den allgemeinen Staatshaushalten des Bundes und der Länder, die von den finanzverfasPräzise erkannt bei Schaefer (Fn. 34), Rn. 7, 23, 26; s. auch Weber (Fn. 48), S. 237 f. S. oben II. 60 Vgl. J. Isensee, Umverteilung durch Sozialversicherungsbeiträge, 1973, S. 42 ff. 61 BVerfGE 72, 330 (397 ff.), 86, 148 (216); Heun (Fn. 14), Art. 107, Rn. 26 m. w. N. 62 Vgl. nur Heun (Fn. 14), Art. 109, Rn. 13 m. w. N. 63 Vgl. BVerfGE 23, 1 (23); Nipperdey / Säcker (Fn. 9), S. 23 ff.; Brunkhorst (Fn. 5), S. 299 f.; zur unmittelbaren Nachkriegsentwicklung s. a. H. G. Hockerts, Sozialpolitische Entscheidungen im Nachkriegsdeutschland, 1980, S. 95, 97 f. 64 Vgl. auch Weber (Fn. 48), S. 238 f. 58 59
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sungsrechtlichen Regelungen der Art. 104a ff. GG erfasst werden. Die Sozialversicherungen unterliegen daher konsequenterweise einem eigenständigen Regelungssystem, das im Grundgesetz trotz der verstreuten Vorschriften einen klaren und eindeutigen Ausdruck gefunden hat. Die Separierung von Staatshaushalten und Sozialversicherungen ist auch rechtspolitisch sinnvoll, da die Sozialversicherungen mit ihren Finanzmitteln dem unmittelbaren Zugriff der Staatshaushalte entzogen werden, ohne dass damit für den Gesetzgeber impermeable Trennwände errichtet werden. Insofern besteht aber jedenfalls kein Anlass, an dieser klaren Konzeption des Grundgesetzes zu rütteln.
Die Betätigungsprüfung der Rechnungshöfe nach §§ 44 Abs. 1, 53, 54 Abs. 1 HGrG Überlegungen zu Gegenstand, Voraussetzungen und Grenzen aus grundrechtlicher Perspektive Von Wolfram Höfling
I. Seit Jahren sieht sich die Tätigkeit der Rechnungshöfe mit Entwicklungen und Herausforderungen im Gefolge von Privatisierung, Deregulierung und Ökonomisierung konfrontiert, die tiefgreifende Auswirkungen auf Gegenstand, Schwerpunkt und Methode der Finanzkontrolle haben1. Zunehmend selbstbewusst entfalten die Rechnungshöfe des Bundes und der Länder ihre weit ausgreifend verstandene Kontrollkompetenz. Die „Prüfungsphilosophie“ wandelt sich2. So wie Peter Selmer 1990 ein „Schwinden des horror politici, lange Zeit immanenter Bestandteil des Selbstverständnisses der Rechnungshöfe“ konstatierte3, so scheint sich nun ein weiterer Entwicklungsschub der Finanzkontrolle abzuzeichnen. Wenn der Eindruck nicht täuscht, so ist namentlich der Bundesrechnungshof (BRH) zunehmend bereit, die durch die §§ 44 Abs. 1, 53, 54 Abs. 1 HGrG eröffnete Möglichkeit der Kontrolle der Bundesbetätigung bei privatwirtschaftlich agierenden Unternehmen in Richtung einer unternehmens- bzw. geschäftsführungsbezogenen Prüfung zu erweitern. Ob und inwieweit dies mit dem geltenden Haushaltsrecht vereinbar ist, soll im folgenden etwas genauer in den Blick genommen werden4. Zuvor jedoch ist in grundsätzlicher Hinsicht die Problemaufbereitungsperspektive für das Thema zu 1 Siehe nur H. Schulze-Fielitz, Kontrolle der Verwaltung durch Rechnungshöfe, VVDStRL 55 (1996), 231 (243 ff.). 2 Dazu schon N. Diederich / G. Cardel / H. Dettmar / I. Haag, Die diskreten Kontrolleure. Eine Wirkungsanalyse des Bundesrechnungshofes, 1990, S. 44, 48, 215 ff. 3 P. Selmer, Zur Intensivierung der Wirtschaftlichkeitskontrolle durch die Rechnungshöfe, DV 1990, 1 ff. (1) unter Bezugnahme auf G. Kisker, NJW 1983, 2167 (2168); als ein Beispiel für das gewachsene Selbstbewusstsein der Rechnungshöfe vgl. G. Korthals, Perspektiven für eine wirksamere öffentliche Finanzkontrolle, DÖV 2002, 600 (607); siehe andererseits aber auch noch das Beispiel bei St. Bajohr, Perspektiven der Finanzkontrolle: Parlamentarische Prüfaufträge an Rechnungshöfen, VerwArch 2000, 507 (522). 4 Dazu unten sub IV.
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klären, stößt doch die sog. Betätigungsprüfung des Bundesrechnungshofes gemäß § 44 Abs. 1 HGrG bzw. § 92 Abs. 1 BHO – gegebenenfalls ergänzt um das Instrumentarium des § 54 Abs. 1 HGrG – auf Rechtssubjektive außerhalb der unmittelbaren Staatsverwaltung, denen – soweit es sich um gemischt-wirtschaftliche Unternehmen handelt – im Regelfall eine eigene verfassungsrechtliche Legitimität, nämlich ihre Grundrechtssubjektivität zur Seite steht5.
II. Jedenfalls dann aber, wenn die Rechnungshofprüfung auf grundrechtliche Garantien stößt, „zwinge(n)“ diese – wie der Jubilar zu Recht hervorgehoben hat – zu einer „unmissverständlichen Bestimmung“ über Rang und Maß der Finanzkontrolle6. Damit wird zugleich die Vorfrage nach der Problemaufbereitungsperspektive aufgeworfen. Dieser kommt in der (potentiellen) Konfliktkonstellation zwischen verfassungslegitimierter Finanzkontrolle einerseits und grundrechtsgeschütztem Autonomiebereich andererseits eine durchaus weichenstellende Funktion zu. Zuspitzend lassen sich die denkbaren Problemzugriffsmöglichkeiten bipolar formulieren: Universalität und Lückenlosigkeit der Finanzkontrolle versus grundrechtsgeschützte Ingerenzfreiheit. So wie Kontrolle allgemein ein elementares Verfassungsprinzip des grundgesetzlichen Gemeinwesens darstellt7, ist die Finanzkontrolle zentrales Gebot der Finanzverfassung8. Im grundgesetzlichen System der Finanzkontrolle9 kommt dem durch Art. 114 Abs. 2 GG als unabhängig verfassten Bundesrechnungshof eine besondere institutionelle Legitimation zu10. Der so nur kursorisch skizzierte Rahmen der Rechnungshofkontrolle ist weitestgehend unbestritten. Von großem Vertrauen getragen, genießen die Rechnungshöfe auch und gerade in der Finanzverfassungsrechtslehre hohe Sympathie. Jedenfalls der verfassungstheoretischen Idee nach sichert ihre Kontrolle die Rationalität des Finanzgebarens11. „UniversaliSiehe noch unten bei FN. 27 Siehe P. Selmer, DV 1990, 1 (2). 7 Siehe dazu nur K. -U. Meyn, Kontrolle als Verfassungsprinzip, 1982; W. Krebs, Kontrolle in staatlichen Entscheidungsprozessen, 1984. 8 Siehe nur Chr. Degenhart, Kontrolle der Verwaltung durch Rechnungshöfe, VVDStRL 55 (1996), S. 190 (197 ff.), siehe a. a. O., S. 227: Finanzkontrolle als „Schlussstein im Gewölbe des Finanz- und Steuerstaates“. 9 Dazu K. Stern, Die staatsrechtliche Stellung des Bundesrechnungshofes und seine Bedeutung im System der Finanzkontrolle, in: H. G. Zavelberg (Hrsg.), Die Kontrolle der Staatsfinanzen, 1989, S. 11 ff. 10 S. Friedrich Klein, Die institutionelle Verfassungsgarantie der Rechnungsprüfung, in: 250 Jahre Rechnungsprüfung, 1964, S. 133 ff.; ferner Chr. Degenhart, VVDStRL 55 (1996), 190 (202). 11 Siehe etwa H. Schulze-Fielitz, Kontrolle der Verwaltung durch Rechnungshöfe, VVDStRL 55 (1996), 231 (233 ff.); ferner Chr. Groepl, Haushalt und Reform, 2000, S. 567. 5 6
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tät“12 und „Lückenlosigkeit“ der Rechnungshofkontrolle13 erscheinen vor diesem Hintergrund als sich nachgerade aufdrängende Postulate. Ihr „Generalauftrag“ 14 schließt in dieser Perspektive prüfungsfreie Räume grundsätzlich aus15. „Gegenrechte“ Kontrollbetroffener werden in einer solchen Perspektive dann gelegentlich zu bloßen Restgrößen, denen gegenüber den Rechnungshöfen lediglich ein „self restraint“ empfohlen wird16. In einer wie vorstehend skizzierten Problemperspektive spricht gleichsam eine Vermutung für die Legitimität einer umfassenden und detaillierten Rechnungsprüfung. Rechtfertigungsbedürftig werden dagegen alle Versuche, die Finanzkontrollaktivitäten normativ einzubinden und zu begrenzen17. Indes: Abgesehen davon, dass der Verfassungsstaat keine absoluten und illimitierten Kompetenzen kennt18, ist die Vorstellung von der Lückenlosigkeit und Totalität der Rechnungshofkontrolle19 geprägt durch die Kernaufgabe der Finanzkontrolle: die Prüfung der unmittelbaren Staatsverwaltung20. Jenseits dieses Bereiches stoßen die Rechnungshofkontrolle und Konzeptionen zu ihrer Optimierung allerdings vielfach auf „Gegenrechte“. „Prüfungsfreie Räume“ oder eingeschränkte Kontrollintensität wurden und Siehe H. Sauer / H. Blasius, Universalität der Finanzkontrolle?, DÖV 1986, 554 ff. Siehe die Nachweise bei H. Schulze-Fielitz, VVDStRL 55 (1996), 231 (241); früh schon E. R. Huber, Die institutionelle Garantie der Rechnungsprüfung, in: FS Nikitsch, 1958, S. 331 (347); ferner G. Haverkate, Prüfungsfreie Räume. Welche Türen in der öffentlichen Verwaltung bleiben dem Rechnungshof verschlossen?, in: H. G. Zavelberg (Hrsg.), Die Kontrolle der Staatsfinanzen, 1989, S. 197 (198 ff.). 14 H. von Mutius, Kontrollbedarf und Instrumentarium der Rechnungshöfe in der dezentralisierten Staatsorganisation, in: Böhning / von Mutius / Schlegelberger, Finanzkontrolle im föderativen Staat, 1982, S. 26 (29, 38); siehe auch K. Grupp, Die Stellung der Rechnungshöfe in der Bundesrepublik Deutschland, 1972, S. 113 ff. 15 Siehe auch jüngst wieder BVerwGE 116, 92 (94) unter Bezugnahme auf BVerwGE 98, 163 (170); 82, 56 (60 f.). 16 Siehe etwa F. Knoepfle, Die Zuständigkeit der Rechnungshöfe für die Prüfung der Körperschaften des öffentlichen Rechts, 1988, S. 130. 17 Deutlich wird dies etwa in den Ausführungen von N. Stackmann, Überlegungen zur Finanzkontrolle bei den Wohlfahrtsverbänden, DVBl. 1994, 383 ff. 18 Es sei hier nur angedeutet, dass die geläufige Redeweise von der in Art. 114 Abs. 2 GG verankerten „institutionellen Garantie der Rechnungshofkontrolle“ auf die Klassifikation Carl Schmitts zurückgeht, bei dem die institutionellen Garantien als „stets und wesensnotwendig begrenzt“ erscheinen; so zu Recht K. Vogel, Verfassungsrechtliche Grenzen der öffentlichen Finanzkontrolle, DVBl. 1970, 193 ff. (193) unter Bezugnahme auf Carl Schmitt, Verfassungslehre, 3. Aufl., unveränderter Nachdruck 1957, S. 170. 19 Kritisch schon E. A. Piduch, Verfassungsgarantie lückenloser Rechnungsprüfung – eine überprüfungsbedürftige These, DÖV 1965, 334 ff. 20 Siehe auch H. Schulze-Fielitz, VVDStRL 55 (1996), 231 (241): „Das gemeindeutsche Verfassungsrecht geht von der ,Lückenlosigkeit‘ der Rechnungshofkontrolle für die unmittelbare Staatsverwaltung aus“; deutlich auch (der ehemalige Präsident des BRH) H. G. Zavelberg, Von der Rechnungsprüfung zur Finanzkontrolle, in: H. H. von Arnim (Hrsg.), Finanzkontrolle im Wandel, 1989, S. 17 (21); ferner Th. Puhl, Budgetflucht und Haushaltsverfassung, 1996, S. 351 ff. 12 13
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werden insoweit für unterschiedliche Konstellationen geltend gemacht von Selbstverwaltungskörperschaften wie Gemeinden, Handwerkskammern, Rentenversicherungsträgern bis hin zu Institutionen mit Grundrechtssubjektivität wie Rundfunkanstalten, Wissenschaftseinrichtungen oder Verbänden in kirchlicher Trägerschaft. Dies bedarf keiner Vertiefung21. Hervorzuheben ist aber, dass jedenfalls verfassungsnormativ abgesicherte Gegenpositionen nicht lediglich „Restgrößen“ sind, denen gegenüber die Rechnungshöfe – nach eigenem Entscheidungsbelieben – „self restraint“ üben oder auch nicht üben22. Das gilt namentlich, wenn die Rechnungshofkontrolle auf grundrechtlich geschützte Räume trifft. In solchen Fällen „zwingen“ die Grundrechte23 zu einem Perspektivenwechsel. Rechnungshofkontrolle ist Ausdruck von Staatsgewalt. Diese aber ist durch Art. 1 Abs. 3 GG in jeder ihrer Erscheinungsformen an die Grundrechte als unmittelbar geltendes Recht gebunden24. Insofern besteht in der Tat ein Lückenlosigkeitsgebot: Es darf keine verfassungs- und grundrechtsexemten Räume geben25. Wenn und soweit also die Prüfung und Erhebung durch Rechnungshöfe sich als grundrechtsrelevantes Handeln erweist, bestimmt nunmehr der grundrechtliche Fokus die Problemaufbereitung und Problemlösung. Das rechtsstaatliche Verteilungsprinzip gibt insoweit die Richtung vor: Nicht die Inanspruchnahme von grundrechtlicher Freiheit – etwa durch Unternehmen – ist rechtfertigungsbedürftig, sondern ihre Beschränkung. Deshalb ist es völlig zutreffend, wenn Thomas Puhl hervorhebt, dass die Grundrechte „die wichtigste Verfassungsgrenze der Finanzkontrolle über die außerbudgetäre Mittelbewirtschaftung des Bundes“ darstellen26. Zugespitzt lässt sich von einer derartigen Position aus die Problemaufbereitungsperspektive wie folgt umschreiben: Nicht Grundrechtsausübung nach Maßgabe von Finanzkontrollinteressen, sondern Rechnungshofkontrolle nach Maßgabe grundrechtlicher Vorgaben.
III. Dieser Gesichtspunkt verdient Berücksichtigung auch in einem dogmatisch bislang eher vernachlässigten Bereich des Finanzkontrollrechts, der sog. Betätigungsprüfung der Rechnungshöfe nach Maßgabe der §§ 44 Abs. 1, 53, 54 Abs. 1 HGrG. Die Rechnungshofkontrolle „bei“ derartigen Unternehmen, denen vielfach Grund21 Siehe dazu mit zahlreichen Nachweisen H. Schulze-Fielitz, VVDStRL 55 (1996), 231 (251 – 253); für ein weiteres Beispiel: F. Becker, Die Einschränkung der Prüfungsbefugnis des Bundesrechnungshofes durch das Fraktionsgesetz, ZG 1996, 261 (267 ff.). 22 Siehe aber die Formulierung bei F. Knoepfle, Die Zuständigkeit der Rechnungshöfe für die Prüfung der Körperschaften des öffentlichen Rechts, 1988, S. 130. 23 Vgl. P. Selmer, Zur Intensivierung der Wirtschaftlichkeitskontrolle durch die Rechnungshöfe, Die Verwaltung 1990, 1 ff. (2). 24 Siehe dazu nur W. Höfling, in: Sachs (Hrsg.), GG-Kommentar, 3. Aufl. 2003, Art. 1 Rn. 76 ff. 25 W. Höfling (FN. 24), Art. 1 Rn. 95; K. Stern, Staatsrecht III / 1, 1988, S. 1411. 26 Th. Puhl, Budgetflucht und Haushaltsverfassung, 1996, S. 435.
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rechtssubjektivität zukommt27, ist unter dieser Voraussetzung auch in der Sache ein Grundrechtsthema. Dem lässt sich nicht etwa entgegenhalten, ausweislich des Normtextes des § 92 Abs. 1 BHO (der § 44 Abs. 1 HGrG entspricht) prüfe der Bundesrechnungshof ja gar nicht das jeweilige Unternehmen, sondern nur die Betätigung des Bundes bei diesem. Eine solche Sicht würde verkennen, dass Prüfungsbetroffener28, ja im eigentlichen Sinne Prüfungsadressat29 das Unternehmen selbst ist. Doch darüber hinaus und prinzipiell wird gelegentlich die Grundrechtsindifferenz der Rechnungshofkontrolle behauptet30. So führt beispielsweise Knöpfle an, „Akten der Rechnungshöfe (fehle es) an einer konstitutiven rechtlichen Außenwirkung in Bezug auf die zu prüfende Institution . . .“. Grundrechtsverletzend könnten allenfalls rechtswidrige Handlungsweisen sein, durch die der Persönlichkeitsschutz Beteiligter außer Acht gelassen werde, wie etwa in dem Fall, dass Beteiligte unnötigerweise bloßgestellt würden oder dass ihr Persönlichkeitsschutz dadurch verletzt werde, dass Prüfungsfeststellungen, die ihrem Ruf abträglich seien, nach außen dringen würden31. Zwar deutet Knöpfle im Blick auf spezifische Grundrechte eine gewisse Relativierung dieser Position an32, doch heißt es abschließend generalisierend: „In den Schutzbereich von Grundrechten wird nicht eingegriffen, wenn die Rechnungshöfe bei einem Grundrechtsträger die Organisation des Handlungsablaufs sowie den Einsatz der vorhandenen Ressourcen am Maßstab der Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit prüfen, indem sie finanziell relevante Sachverhalte ermitteln, untersuchen und . . . bewerten“33. Und an anderer Stelle: Bewege sich der Rechnungshof im Rahmen seines gesetzlichen Prüfungsauftrages, so seien mögliche Verletzungen der Grundrechte aus Art. 2 Abs. 1, 12 Abs. 1 und 14 Abs. 1 GG „nicht ersichtlich“34. 27 Siehe nur Th. Puhl, Budgetflucht und Haushaltsverfassung, 1996, S. 417 f.; zur hier nicht aufzugreifenden Diskussion zum Grundrechtsstatus sog. gemischt-wirtschaftlicher Unternehmen siehe aus neuerer Zeit etwa die Bestandsaufnahme von St. Storr, Der Staat als Unternehmer, 2001, S. 187 ff. 28 Siehe Chr. Gröpl, Haushaltsrecht und Reform, 2001, S. 562: „Erhebungsbetroffener“. 29 Siehe K. Lange, Die Prüfung staatlicher Zuwendungen durch den Bundesrechnungshof, in: H. G. Zavelberg (Hrsg.), Die Kontrolle der Staatsfinanzen – Geschichte und Gegenwart – 1714 bis 1989, 1989, S. 278 (297 m. Fn. 58). 30 Siehe etwa BayVGH, DVBl. 1992, 1606 (1608). 31 So F. Knöpfle, Kontrolle autonomer Einrichtungen (Universitäten, Rundfunkanstalten, Fraktionen, Kammern), in: von Arnim (Hrsg.), Finanzkontrolle im Wandel, 1989, S. 259 (270); übereinstimmend ders., Die Zuständigkeit der Rechnungshöfe für die Prüfung der Körperschaften des Öffentlichen Rechts, 1988, S. 94. 32 F. Knöpfle, in: von Arnim (Hrsg.), Finanzkontrolle im Wandel, a. a. O., S. 259 (270 f.). 33 F. Knöpfle, in: von Arnim (Hrsg.), Finanzkontrolle im Wandel, a. a. O., S. 259 (270); ähnlich W. Patzig, Haushaltsrecht des Bundes und der Länder, C (92) 4 Rn. 1 (Stand: 1989). 34 F. Knöpfle, Die Zuständigkeit der Rechnungshöfe für die Prüfung der Körperschaften des Öffentlichen Rechts (Fn. 16), S. 94; ähnlich apodiktisch BayVGH, DVBl. 1992, 1606 (1608): „Eine Rechtsverletzung scheidet insoweit deshalb aus, weil von der Prüfung keine
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Derartige und ähnliche Ansätze35 erfassen indessen das Verhältnis von Rechnungshofkontrolle und Grundrechtsschutz nicht angemessen. Dies gilt in mehrfacher Hinsicht: – Zunächst greift es bereits zu kurz, unter Hinweis auf die „Unverbindlichkeit“ der Feststellungen des Rechnungshofes dessen Tätigkeit grundsätzlich das Grundrechtsbeeinträchtigungspotential abzusprechen36. Die Rechnungshöfe – bzw. im vorliegenden Kontext: der Bundesrechnungshof – treffen nämlich im Rahmen ihrer Kontrolltätigkeit durchaus verbindliche Entscheidungen zur Erkenntnisgewinnung und Abwicklung des Prüfungsverfahrens gegenüber den Betroffenen. Zwar trifft es zu, dass die Tätigkeit der Rechnungshöfe letztlich nicht in rechtsverbindliche Regelungen oder Entscheidungen mündet. Die Ergebnisse der Prüfungstätigkeit der Finanzkontrollbehörden erschöpfen sich vielmehr im Ergebnis in der Feststellung von Rechtstatsachen und Sachverhalten, die im Vergleich zwischen dem festgestellten Ist-Zustand mit einem bestimmten Soll-Zustand genommen werden, in der sich daraus ergebenden Würdigung, der entsprechenden Beratung von Exekutive und Legislative u. ä. Insoweit sind die Rechnungshöfe in der Tat imperfekte Einrichtungen, als die eigentlichen Ergebnisse ihrer Arbeit weitestgehend empfehlenden Charakter haben. Indes greift es zu kurz, lediglich auf das Endziel der Rechnungshofkontrolle zu blicken37. In den Blick zu nehmen sind vielmehr auch die einzelnen Prüfungshandlungen zur Erreichung dieses Zieles38. – Daneben und vor allem ist aber ein weiterer Gesichtspunkt zu berücksichtigen: Grundrechte entfalten ihre Abwehrfunktion nicht nur gegen außenwirksame Entscheidungen mit Regelungsgehalt, sondern auch gegen sog. mittelbare und faktische Integritätsbeeinträchtigungen grundrechtlicher Schutzgüter39. Grundrechtseingriffe können deshalb in der bloßen Sachverhaltsermittlung durch den Rechnungshof liegen, in bewertenden (insbesondere beanstandenden) Feststelunmittelbaren Rechtswirkungen ausgehen, die Prüfung als solche Rechte der Klägerin nicht berühren kann“ – Hervorhebung hinzugefügt. 35 Beispielhaft etwa N. Stackmann, Überlegungen zur Finanzkontrolle über den Wohlfahrtsverbänden, DVBl. 1994, 383 (388): „Eine mittelbare Einwirkung der Exekutivorgane auf die Freien Wohlfahrtsverbände kann nicht über die Rechnungshöfe erfolgen, weil (!?) diese gegenüber der Exekutive unabhängig sind“ – Hervorhebung hinzugefügt. 36 Zu Recht halten eine derartige Argumentation für nicht tragfähig: H. Sauer, Wissenschaftsfreiheit und Rechnungsprüfung, DÖV 1986, 941 (943); W. Sigg, Die Stellung der Rechnungshöfe im politischen System der Bundesrepublik Deutschland – zugleich ein Beitrag zur Finanzkontrolle der Universitäten, 1983, S. 101 f.; W. Leisner, Staatliche Rechnungsprüfung Privater unter besonderer Berücksichtigung der Freien Wohlfahrtspflege, 1990, S. 128 f.; Th. Puhl, Budgetflucht und Haushaltsverfassung (Fn. 20), S. 419; M. Schulte, Staat und Stiftung, 1989, S. 91. 37 So aber G. Haverkate, AöR 107, 539 (558); Hockenbrink, DÖV 1991, 241 (242). 38 Zum ganzen siehe nur D. Fittschen, Durchsetzung der Prüfungsrechte der Rechnungshöfe, VerwArch 83 (1992), 165 (179 ff.); ferner DÖV 1986, 946 (947). 39 Dazu nur M. Sachs, in: Stern, Staatsrecht III / 2, 1994, S. 82 ff.
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lungen seiner Prüfungsergebnisse sowie in deren Übermittlung an Parlament, Regierung, Dritte oder an die Öffentlichkeit40. Hieraus können sich zahlreiche und u. U. gravierende mittelbare faktische Rückwirkungen auf das grundrechtlich geschützte Verhalten eines Prüfungsadressaten ergeben41. Es liegt ganz auf dieser Linie, wenn das Bundesverfassungsgericht im Rahmen einer Prüfung einer Verfassungsbeschwerde unmittelbar gegen die Norm des § 111 Abs. 1, Abs. 3 LHO Baden-Württemberg42 unmissverständlich formuliert, der Beschwerdeführer sei „durch die angegriffene Bestimmung selbst und gegenwärtig betroffen“43. Könnte die Finanzkontrolle a limine Grundrechte nicht berühren, wäre eine derartige Feststellung schwerlich verständlich. Vor diesem Hintergrund erweist sich die Vorschrift des § 44 Abs. 1 HGrG / § 92 Abs. 1 BHO als eine – als solche sicherlich verfassungskonforme – Grundrechtsbeschränkungsnorm. Sie möchte – ggf. im Zusammenwirken mit §§ 53, 54 Abs. 1 HGrG – die Finanzkontrolle des Bundes auch im wirtschaftlich bedeutsamen Beteiligungsbereich ermöglichen und sicherstellen, andererseits aber die davon zwangsläufig betroffenen grundrechtsberechtigten Unternehmen in ihrem Autonomieraum möglichst schonen. Die hoheitliche Ingerenz, als die sich die Betätigungsprüfung darstellt, ist allerdings nur dann verfasssungskonform, wenn sie sich an die durch § 44 Abs. 1 HGrG (§ 92 Abs. 1 BHO) – und § 54 Abs. 1 HGrG – gezogenen Grenzen hält. Diesen normativen Grenzen ist im folgenden nähere Aufmerksamkeit zu widmen.
40 Zum ganzen Th. Puhl, Budgetflucht und Haushaltsverfassung, S. 419 f.; im Blick auf die Rundfunkfreiheit in aller Deutlichkeit und nachgerade apodiktisch F. Ossenbühl, Rundfunkfreiheit und Rechnungsprüfung, 1984, S. 44: „Vielmehr steht außer Frage, dass die staatliche Finanzkontrolle in Gestalt der Rechnungsprüfung durch die Rechnungshöfe grundrechtsdogmatisch als Eingriff des Staates . . . zu qualifizieren ist“. 41 Im Ergebnis bejahend die (mittelbare) Grundrechtseingriffsqualität bzw. den Grundrechtsbeeinträchtigungscharakter der Rechnungshofkontrolle neben den bereits genannten: H. D. Jarass, Reichweite der Rechnungsprüfung bei Rundfunkanstalten am Beispiel des ZDF, 1992, S. 8: „Maßnahmen eines Rechnungshofes gegenüber einer Rundfunkanstalt betreffen folglich (gemeint ist: wegen der nicht auszuschließenden Rückwirkung der Kontrolle des Rechnungshofes auf die Programmtätigkeit) den Schutzbereich der Rundfunkfreiheit“; K. Redeker, Wissenschaftsfreiheit und Rechnungsprüfung, DÖV 1986, 946 (947): Die Tätigkeit der Rechnungshöfe sei „materiell-rechtlich Eingriffshandlung“; M. Schulte, Staat und Stiftung, a. a. O., S. 92: „kein Zweifel“ an der Eingriffsqualität; L, Fröhler / J. Kormann, Staatliche Rechnungsprüfung bei den Handwerkskammern, GewArch 1984, 1 (6). 42 Der die Haushalts- und Wirtschaftsführung der landesmittelbaren juristischen Personen des öffentlichen Rechts – einschließlich des (damaligen) Süddeutschen Rundfunks – der Rechnungshofkontrolle unterwirft. 43 BVerfGE 74, 69 (74). – Das Gericht verneinte allerdings die Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde im Blick auf den sog. Subsidiaritätsgrundsatz.
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IV. Ausgangspunkt der Überlegungen hat insoweit die zentrale Norm des Art. 114 Abs. 2 Satz 1 GG zu sein, auch wenn sie den Gegenstand der Tätigkeit des Bundesrechnungshofs – „unglücklich“ formulierend44 – dahingehend bestimmt, zu prüfen sei einerseits die vom Bundesfinanzminister nach Art. 114 Abs. 1 GG vorzulegende „Rechnung“45, anderseits die „Haushalts- und Wirtschaftsführung“46. Damit wird verunklart, dass die Rechnungsprüfung (im engeren Sinne) nichts anderes als eine anhand der vom Bundesfinanzminister vorgelegten „Rechnung“ erfolgende Prüfung der Haushalts- und Wirtschaftsführung ist. Art. 114 Abs. 2 Satz 1 GG gibt aber zu erkennen, dass auch unabhängig vom Vorliegen einer solchen Rechnung die Finanzkontrolle des Bundesrechnungshofes ausgeübt werden kann. Dementsprechend ist die „gesamte Haushalts- und Wirtschaftsführung des Bundes“ – einschließlich seiner Sondervermögen und Betriebe – Gegenstand der Rechnungshofkontrolle; so formuliert es zutreffend § 42 Abs. 1 HGrG bzw. § 88 Abs. 1 BHO. Indem § 88 Abs. 1 BHO die gesamte Haushalts- und Wirtschaftsführung des Bundes zum Gegenstand der Finanzkontrolle erklärt, will er insofern die Existenz sog. prüfungsfreier Räume ausschließen und die finanzwirksamen Aktivitäten des Bundes „lückenlos“47 erfassen48. Kontrollgegenstand ist der Bund auch dann, wenn der Bundesrechnungshof seine Prüfung auf jene Varianten der Staatstätigkeit erstreckt, in denen sich der Bund zur Erfüllung seiner Aufgaben solcher Einrichtungen bedient, die rechtlich gegenüber der unmittelbaren Staatsverwaltung ganz oder teilweise verselbständigt sind49. In dieses systematische Umfeld gehört auch die im vorliegenden Problemkontext vor allem interessierende Norm des § 44 Abs. 1 HGrG / § 92 Abs. 1 BHO. Wenn in § 88 Abs. 1 BHO davon die Rede ist, die gesamte Haushalts- und Wirtschaftsführung des Bundes werde vom Bundesrechnungshof „nach Maßgabe der folgenden Bestimmungen“ geprüft, wird davon auch § 92 BHO umfasst50. Dessen Normtext wiederum unterstreicht die Fokussierung auf den Bund als das Prüfungsobjekt, wenn er formuliert: „Der Bundesrechnungshof prüft die Betätigung des Bundes bei Unternehmen in einer Rechtsform Siehe G. Kisker, HStR IV, § 89 Rn. 105 (S. 282). Sog. Rechnungsprüfung im engeren Sinne, siehe auch etwa W. Heun, in: Dreier, Art. 114 Rn. 23. 46 Auch als sog. rechnungsunabhängige Prüfung bezeichnet; vgl. etwa Siekmann, in: Sachs, Art. 114 Rn. 12; Stern, Staatsrecht II, S. 432 f. 47 Siehe auch E. A. Piduch, Verfassungsgarantie lückenloser Rechnungsprüfung – eine überprüfungsbedürftige These, DÖV 1965, 334 ff. 48 Siehe auch W. Heun, in: Dreier, Art. 114 Rn. 24. 49 Dazu Th. Maunz, in: Maunz / Dürig, Art. 114 Rn. 34 ff.; G. Kisker, in: Handbuch des Staatsrechts IV, § 89 Rn. 106 (S. 282). 50 Siehe etwa E. A. Piduch, Bundeshaushaltsrecht, § 92 Rn. 1 (Stand: Januar 1986); vgl. ferner Soldner, in: Kommentar zum Haushaltsrecht, § 92 Rn. 1. 44 45
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des privaten Rechts, an denen der Bund unmittelbar oder mittelbar beteiligt ist, unter Beachtung kaufmännischer Grundsätze“. Im Blick auf diesen normativen Ausgangsbefund ist es dann auch nicht verwunderlich, dass die (haushaltsrechtliche) Literatur einmütig hervorhebt, Kontrollgegenstand der Rechnungshoftätigkeit sei im Rahmen des § 44 Abs. 1 HGrG / § 92 Abs. 1 BHO die Betätigung des Bundes, nicht aber das Unternehmen selbst51. Mit dieser Feststellung, die auch den Intentionen des Gesetzgebers entspricht52, kann es indes nicht sein Bewenden haben. Über die formelhafte Formulierung einer Ausgangsthese hinaus bedarf es deshalb der Konkretisierung des Grenzverlaufs. Dies gilt vor allem dann, wenn die „normale“ Betätigungsprüfung gemäß § 44 Abs. 1 HGrG / § 92 Abs. 1 BHO gekoppelt ist mit den Sonderrechten nach Maßgabe der §§ 53, 54 HGrG i.V.m. satzungsrechtlichen Bestimmungen. Wie auch immer die – im Grundsatz einhellig anerkannte53 – Grenzziehung zwischen haushaltsrechtlich vorgesehener Betätigungsprüfung und unzulässiger Unternehmens- / Geschäftsführungsprüfung bestimmt werden mag: Es könnte eingewandt werden, für bestimmte Konstellationen jedenfalls deuteten die Formulierungen der §§ 53, 54 HGrG eher auf eine weitreichende Rechnungshofkontrollkompetenz hin. Unter den in § 53 Abs. 1 genannten Voraussetzungen einer Mehrheitsbeteiligung des Bundes stattet das Haushaltsrecht den öffentlichen Anteilseigner mit gesellschaftsrechtlichen Sonderrechten aus54. Es handelt sich um ein das Gleichbehandlungs51 Siehe bspw. M. Eibelshäuser / U. Breidert, Öffentliche Unternehmen und externe Finanzkontrolle, in: M. Eibelshäuser (Hrsg.), Finanzpolitik und Finanzkontrolle – Partner für Veränderung. Gedächtnisschrift für Udo Müller, 2002, S. 223 (225): Die Formulierung verdeutliche: „Prüfungsgegenstand ist nicht die Tätigkeit des Unternehmens selbst, sondern die Tätigkeit der Gebietskörperschaften bei diesen Unternehmen. Darin unterscheidet sich die Betätigungsprüfung der Rechnungshöfe z. B. von der Abschlussprüfung durch Wirtschaftsprüfer . . .“; Soldner, in: Kommentar zum Haushaltsrecht, § 92 Rn. 2: „Bei der Prüfung nach § 92 BHO handelt es sich ohne Rücksicht auf die Höhe der Beteiligung (auch wenn der Bund alle Aktien / Anteile hält) um eine Prüfung der die Beteiligung verwaltenden Bundesbehörde und nicht um eine Prüfung des Unternehmens selbst . . .“; W. Patzig, Haushaltsrecht des Bundes und der Länder, § 92 Rn. 1 (Stand: 1989): „Der Prüfung durch die Rechnungshöfe unterliegt nicht, wie Absatz 1 deutlich macht, das Unternehmen als solches oder seine Geschäftsführung . . .“; aus der Perspektive des übereinstimmenden Landesrechts etwa H. A. Giesen / E. Fricke, Das Haushaltsrecht des Landes Nordrhein-Westfalen, 1972, § 92 Anm. II. (S. 471): weder ,Unternehmensprüfung‘ noch ,Geschäftsführungsprüfung‘; deutlich auch schon F. K. Vialon, Haushaltsrecht, 2. Aufl. 1959, S. 1033: „Eine unmittelbare Rechnungsprüfung bei den Unternehmen (ist) nicht möglich. Sie kann sich notwendigerweise nur auf die Betätigung des Bundes als Gesellschafter beziehen, nicht auf die Wirtschaftsführung des Unternehmens selbst . . .“; mit anderer Tendenz aber de lege ferenda B. Bank, Finanzkontrolle der Rechnungshöfe bei staatlichen Unternehmen des öffentlichen und privaten Rechts, DÖV 1956, 751. 52 Siehe die Begründung des Regierungsentwurfs, BT-Drs. V / 3040, S. 57: „Nicht die Unternehmen, sondern die die Beteiligung verwaltenden Bundes- oder Landesbehörden unterliegen der Prüfung“; siehe auch noch unten. 53 Dazu vorstehend. 54 Siehe nur M. Lutter / B. Grunewald, Öffentliches Haushaltsrecht und privates Gesellschaftsrecht, WM 1984, 385 (387): „Mitgliedschaftsrechtliche Vorzugsrechte“.
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gebot des § 53a AktG durchbrechendes Vorzugsrecht, das konstruktiv nur der Gebietskörperschaft als Aktionärin zustehen kann, dem Rechnungshof ist insoweit lediglich die Wahrnehmungszuständigkeit überantwortet55. Der Bund kann danach eine erweiterte Abschlussprüfung und Berichterstattung verlangen56. Diese Prüfungsberichte hat das zuständige Bundesministerium gemäß § 69 Satz 1 Nr. 3 BHO dem Bundesrechnungshof innerhalb von drei Monaten nach der Haupt- oder Gesellschafterversammlung, die den Jahresabschluß für das abgelaufene Geschäftsjahr entgegennimmt oder festzustellen hat, zu übersenden. Diese Berichte sind durchaus umfangreich57, die Prüfung der Ordnungsmäßigkeit der Geschäftsführung (§ 53 Abs. 1 Nr. 1 HGrG) ist dabei ein Hauptelement der erweiterten Abschlussprüfung58. Im Blick auf diese Prüfberichte könnte nun gefragt werden, wieso dem Bundesrechnungshof Berichte über die Ordnungsmäßigkeit der Geschäftsführung übermittelt werden sollen, wenn es ihm seinerseits verwehrt ist, diese zu prüfen und zum Gegenstand seiner Berichte zu machen. In einer solchen Perspektive würde sich das Problem der durch § 44 Abs. 1 HGrG / § 92 Abs. 1 BHO ja aufgegebenen Abschichtung von Betätigungs- und Unternehmenskontrolle weitgehend relativieren. Ein derartiges Argumentationsmuster würde indes den Grundsatz der Akzessorietät zwischen Aufgabenzuweisung an den Bundesrechnungshof sowie korrespondierendem Gegenstandsbereich seiner Kontrolle einerseits und hierauf bezogener Zuweisung von Erhebungs- und Unterrichtungsrechten andererseits verkennen. Der rein instrumentelle Charakter des Prüfinstrumentariums verbietet es, diesem eine aufgaben- bzw. gegenstandserweiternde Funktion zuzuweisen. Auch in der „rechnungshofnahen“ Literatur ist deshalb anerkannt, dass die Rechnungshöfe nur im Rahmen ihrer jeweiligen Aufgabenerfüllung, also be55
Th. Mann, Die öffentlich-rechtliche Gesellschaft, 2002, S. 236 mit weiteren Nachwei-
sen. 56 Vgl. hier nur den Überblick bei V. Benzinger / H. -P. Dengler / V. Munk, Wirtschaftsführung, Rechnungswesen und Prüfung von Unternehmen der öffentlichen Hand, in: B. Fabry / U. Augsten (Hrsg.), Handbuch Unternehmen der öffentlichen Hand, 2002, S. 349 (408 ff.). 57 Zum Inhalt vgl. die Hinweise für die Verwaltung von Bundesbeteiligungen vom 19. Oktober 2001, GMinBl 2001, S. 949 (968 ff.), sowie den Fragenkatalog zur Prüfung der Ordnungsmäßigkeit der Geschäftsführung und der wirtschaftlichen Verhältnisse nach § 53 HGrG (Stand: Februar 2000), IDW PS 720. 58 Siehe auch V. Benzinger / H. P. Dengler / V. Munk, in: Handbuch Unternehmen der öffentlichen Hand (Fn. 56), S. 349 (411). – Dort, S. 413 ff. auch zu dem Fragenkatalog zur Prüfung der Ordnungsmäßigkeit der Geschäftsführung und der wirtschaftlichen Verhältnisse (IDW PS 720), der in Zusammenarbeit des IDW mit Vertretern des Bundesfinanzministeriums, des Bundesrechnungshofes und der Landesrechnungshöfe entstanden ist; zur Geschäftsführungsprüfung siehe ferner etwa H. Karehnke, Die Prüfung der Geschäftsführung nach § 53 des Haushaltsgrundsätzegesetzes, AG 1970, 259 ff.; dens., Die Kontrolle der staatlichen Betätigung bei Unternehmen, DÖV 1971, 190 (191); H. G. Zavelberg, in: Festschrift Forster, 1992, S. 725 (734 ff.).
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schränkt auf den ihnen (verfassungs-)rechtlich zugewiesenen Kontrollgegenstand, Vorlage-, Auskunfts- und Unterrichtungsrechte geltend machen können59. Dieser Akzessorietätsgrundsatz wird besonders deutlich im systematischen Blick auf die §§ 44 Abs. 1 und 54 Abs. 1 HGrG. Der Normzusammenhang unterstreicht den verfassungsrechtlichen Ausgangsbefund des Art. 114 Abs. 1 GG, dass Gegenstand der Rechnungshofkontrolle die Haushalts- und Wirtschaftsführung des Bundes, konkret dessen Betätigung bei einem privatrechtlichen Unternehmen ist und dass auf der Grundlage von § 54 Abs. 1 HGrG in Verbindung mit einer einschlägigen Satzungsbestimmung der Kontrollbereich der Rechnungshofprüfung nicht erweitert wird. Dies ergibt sich bereits aus dem Wortlaut des § 54 Abs. 1 HGrG, wonach sich „die Rechnungsprüfungsbehörde der Gebietskörperschaft zur Klärung von Fragen, die bei der Prüfung nach § 44 auftreten“60, unmittelbar bei dem Unternehmen unterrichten kann. Der Normtext macht auf diese Weise den instrumentellen Charakter des Unterrichtungs- und Einsichtsrechts deutlich. § 54 Abs. 1 HGrG betrifft das Prüfungsverfahren bzw. das Kontrollinstrumentarium der Rechnungshöfe im Blick auf einen bereits anderweitig fixierten Prüfungsgegenstand. Auch bei der Unterrichtung unmittelbar beim Unternehmen selbst handelt es sich somit „nicht um eine Prüfung des Unternehmens selbst, sondern lediglich um eine Möglichkeit, die Prüfung der Betätigung der Gebietskörperschaft zu vertiefen und zu beschleunigen“61, dann nämlich, wenn Fragen auftreten, die auf der Grundlage von § 69 BHO und Erhebungen bei der Beteiligungsverwaltung keine vollständige und rasch verfügbare Informationsbasis liefern62. Die §§ 53, 54 HGrG gewähren allerdings „nicht Aufsicht, sondern nur Information; die Einwirkungsrechte des Gemeinwesens auf das Unternehmen werden in keiner Weise verstärkt“63. Die Rechnungshofkontrolle nach § 44 Abs. 1 HGrG / § 92 Abs. 1 BHO ist – der aufgabezuweisenden und handlungsraumeröffnenden Norm des Art. 114 Abs. 2 Satz 1 GG bzw. 42 Abs. 1 HGrG / § 48 Abs. 1 BHO entsprechend – strikt auf die Betätigung des Staates bei dem Unternehmen beschränkt. Das Unternehmen selbst liegt jenseits der Kontrollkompetenz des Bundesrechnungshofes. Namentlich eine Geschäftsführungsprüfung ist diesem verwehrt. § 44 Abs. 1 HGrG / § 92 Abs. 1 BHO nimmt insoweit Rücksicht darauf, dass die (mittelbar) durch die Rechnungshofkontrolle betroffenen Rechtssubjekte bei einer Beteiligung materiell Privater 59 Siehe auch Klostermann, in: Kommentar zum Haushaltsrecht, § 95 Rn. 7 (Stand: Juli 2001). 60 Hervorhebung hinzugefügt. 61 So etwa Soldner, in: Kommentar zum Haushaltsrecht, § 92 Rn. 3 (Stand: September 1986). 62 Th. Puhl, Budgetflucht und Haushaltsverfassung, a. a. O., S. 388; siehe auch H. Karehnke, DÖH 15 (1974), 204 (210 Fn. 125). 63 So zutreffend K. Vogel, Verfassungsrechtliche Grenzen der öffentlichen Finanzkontrolle, DVBl 1970, 193 (199).
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„nicht einfach als verlängerter Arm des Staates betrachtet werden können, sondern staatliche Finanzkontrolle durch die grundrechtlich geschützten Interessen dieser privaten Teilhaber und der Unternehmen selbst begrenzt ist“64. Namentlich dann, wenn die Rechnungshofkontrolle auf grundrechtlich geschützte Räume trifft, ist die strikte Einhaltung der durch § 44 Abs. 1 HGrG / § 92 Abs. 1 BHO gezogenen Grenze unabdingbare Voraussetzung für die Verfassungskonformität der Rechnungshoftätigkeit. Gestaltet der Bundesrechnunghof seine Betätigungskontrolle der Sache nach (partiell) als Geschäftsführungsprüfung aus, so bewegt er sich insoweit jenseits der durch die Grundrechtsbeschränkungsnorm des § 92 Abs. 1 BHO eröffneten Ingerenzspielräume und verletzt damit grundrechtliche Rechtspositionen, beispielsweise die durch Art. 12 Abs. 1 GG garantierte Berufsfreiheit65. Die „grundrechtliche Dimension“ des § 44 Abs. 1 HGrG / § 92 Abs. 1 BHO verlangt deshalb eine verfassungskonforme Deutung des Begriffs der Betätigungsprüfung nach Art der „Wechselwirkungslehre“66: Die beschränkende Norm ist ihrerseits im Lichte der grundrechtlichen Freiheit auszulegen und anzuwenden. Mit anderen Worten: Nur eine solche Konkretisierung der Begrenzungsfunktion des § 44 Abs. 1 HGrG / § 92 Abs. 1 BHO ist angemessen und verfassungskonform, die die unternehmerische Entscheidungsfreiheit und die zukunftsgestaltende Planung der Unternehmensführung unberührt lässt. Rechnungshofkontrolle bei privatwirtschaftlich agierenden Unternehmen darf mit anderen Worten nicht in eine verkappte Wirtschaftsaufsicht umschlagen67. Auch wenn man, wofür letztlich teleologische Erwägungen sprechen, das Tatbestandsmerkmal „Betätigung“ in § 44 Abs. 1 HGrG / § 92 Abs. 1 BHO weit auslegt und insoweit auch die Tätigkeit der Aufsichtsratsmitglieder der jeweiligen Gebietskörperschaft als legitimen Anknüpfungspunkt der Finanzkontrolle qualifiziert68, darf dies nicht zu einer verdeckten bzw. indirekten Geschäftsführungsprüfung führen. Bei strategischen Überlegungen der Unternehmensleitung beispielsweise hat sich die Betätigungskontrolle der Rechnungshöfe auf die Prüfung zu beschränken, ob dem Aufsichtsrat(smitglied) angemessene Informationen zur Verfügung standen und inwieweit er (es) auf etwaige Informationsmängel reagiert hat. Namentlich die Wirtschaftlichkeitskontrolle muß dann, wenn sie auf grundrechtlich geschützte Positionen trifft, diese Autonomie, konkret: die Kompetenz zur Setzung und Konkretisierung unternehmerischer Ziele und Zwecke, respektieren.
So zutreffend Th. Puhl, Budgetflucht und Haushaltsverfassung, S. 390. Allgemein dazu bereits oben B. 66 Dazu allgemein K. Stern, Staatsrecht III / 2, S. 798 ff. 67 Siehe auch P. Kirchhof, Die Steuerung des Verwaltungshandelns durch Haushaltsrecht und Haushaltskontrolle, NVwZ 1983, 505 (514). 68 In diesem Sinne etwa Soldner, in: Kommentar zum Haushaltsrecht, § 92 Rn. 18; Th. Puhl, Budgetflucht und Haushaltsverfassung, a. a. O., S. 387; anders etwa Knopff, in: Geßler / Hefermehl, Aktiengesetz, vor §§ 394, 395 Rn. 60. 64 65
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V. Wo genau die Grenzlinie zwischen zulässiger – und gebotener! – Betätigungsprüfung sowie unzulässiger Unternehmenskontrolle verläuft, lässt sich präzise nur „am Fall“ bestimmen. Und man wüßte gerne, welche Bausteine einer Konfliktlösungsdogmatik Peter Selmer, einer der „Alt“meister des Finanz(verfassungs)rechts, das diesem so zahlreiche wegweisende und prägende Beiträge verdankt69, herausarbeiten würde70.
69 P. Selmer, Steuerinterventionismus und Verfassungsrecht, Frankfurt a. M. 1972; ders., Finanzverfassungsrechtliche Grundfragen des horizontalen Finanzausgleichs (zusammen mit C. Brodersen), Hamburg 1984; ders., Straßenbenutzungsabgaben für den Schwerverkehr. Verfassungs- und europarechtliche Probleme (zusammen mit C. Brodersen und G. Nicolaysen), Baden-Baden 1989; ders., Rechtsdogmatik und Rechtspolitik unter der Finanzverfassung des Grundgesetzes, in: Rechtsdogmatik und Rechtspolitik, Hamburger Ringvorlesung im Auftrag des Fachbereichs, hrsg. von Karsten Schmidt, Berlin 1990; ders., Grundsätze der Finanzverfassung des vereinten Deutschlands, Bericht auf der Tagung der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer in Bayreuth v. 7.-10. 10. 1992, in: VVDStRL 52 (1993), S. 10 – 70; ders., Die gesetzliche Neuordnung der bundesstaatlichen Finanzbeziehungen. Verfassungsrechtliche und verfassungsrechtspolitische Bemerkungen zur 2. Phase des finanzverfassungsrechtlichen Einigungsprozesses, Finanzarchiv n. F. 51 (1994), S. 331 – 357; ders., Sonderabfallabgaben und Verfassungsrecht. Ein Beitrag zum Umweltschutz durch Sonderabgaben und Steuern, Berlin 1996; ders., Empfehlen sich Maßnahmen, um in der Finanzverfassung Aufgaben- und Aufgabenverantwortung von Bund, Ländern und Gemeinden stärker zusammenzuführen?, NJW 1996, 2062 – 2068; ders., Sonderbedarfe und Bedarfe aus Sonderlasten der Länder im bundesstaatlichen Finanzausgleich, in: Wendt / Höfling / Karpen / Oldiges (Hrsg.), Staat-Wirtschaft-Steuern, Festschrift für Karl Heinrich Friauf zum 65. Geburtstag, Heidelberg 1996, S. 683 – 703; ders., Art. 115 Abs. 2 GG – eine offene Flanke der Staatsverschuldung?, in: Burmeister (Hrsg.), Verfassungsstaatlichkeit, Festschrift für Klaus Stern zum 65. Geburtstag, München 1997, S. 567 – 585 70 Siehe etwa die sorgfältig differenzierenden, in der Tendenz allerdings eher „finanzkontrolloptimierenden“ Überlegungen von P. Selmer, DV 1990, 1 ff.
Damoklesschwert über der Finanzverfassung: der Staatsbankrott Von Josef Isensee
I. Insolvenz des insolvenzunfähigen Staates 1. Latente Gefahr Der Staatsbankrott ist kein Thema der Finanzverfassung, dennoch für sie von existentieller Bedeutung. Sein Eintritt wäre ihr Tod. Im Staatsbankrott bräche die Voraussetzung weg, auf der sie gründet mit Regelungen über den Ausgleich der Einnahmen und Ausgaben, über Kompetenzverteilung und Haushaltswirtschaft, den Verfahrenserfordernissen, Kautelen, Zielvorgaben. Dreimal wurde Deutschland von der Insolvenz des Staates heimgesucht, in der Inflation nach dem ersten Weltkrieg, im Zusammenbruch des Deutschen Reiches nach dem zweiten und im Untergang der DDR. Als latente Gefahr lauert sie stets im Hintergrund. Heute wird sie bedrohlich sichtbar in der wachsenden Finanzkrise, die Peter Selmer im Jahre 1992, noch unter erheblich günstigeren Bedingungen, beschrieb: die Finanzen seien in schlechter Verfassung; das liege auf der Hand bei einem Schuldenstand, der uns in Kürze zur Gewöhnung an die Billion als Rechnungseinheit für die Staatsschulden zwingen werde1. Im Jahre 2002 hat die Verschuldung aller Gebietskörperschaften die Höhe von 1,24 Billionen Euro erreicht2, in der Tendenz zu raschem, unaufhaltsamem Wachstum. Ein Menetekel über die Finanzwirtschaft aller Staaten ist der Satz von Adam Smith, es sei kaum jemals gelungen, die öffentliche Schuld, wenn sie einmal eine bestimmte Höhe überstiegen habe, auf gerechte Weise und vollständig zurückzuzahlen. Sofern es überhaupt gelungen sei, die Staatsfinanzen wieder einigermaßen in Ordnung zu bringen, habe man sich dazu stets des Bankrotts bedient, den man zuweilen auch unverhohlen zugegeben habe, und selbst, wenn man Rückzahlungen nominal geleistet habe, sei es in Wirklichkeit echter Bankrott geblieben3. 1 P. Selmer, Grundsätze der Finanzverfassung des vereinten Deutschlands, in: VVDStRL 52 (1993), S. 10 (11). 2 Institut der Deutschen Wirtschaft, Deutschland in Zahlen, 2003, S. 73. 3 Adam Smith, An Inquiring into the Nature and Causes of the Wealth of Nations (11776, 5 1789), dt.: Der Wohlstand der Nationen (übers. von H. C. Recktenwald), 1974, S. 803.
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2. Der Tatbestand des Staatsbankrotts Der Staatsbankrott ist nicht gesetzlich geregelt. Dennoch geht er die Rechtsordnung an. Bei den Beratungen der Konkursordnung von 1877 war er Thema. Er wurde, so die Protokolle, nicht als Konkursverfahren verstanden, sondern als ein auf Nichtkönnen oder Nichtwollen beruhender Zustand der Nichterfüllung öffentlich-rechtlicher oder bürgerlich-rechtlicher Verbindlichkeiten, der sich seinem Wesen nach nicht durch eine konkursmäßige Haftungsverwirklichung lösen lasse, sondern einer besonderen Regelung bedürfe4. Damit gewinnt das Phänomen erste rechtsbegriffliche Konturen5. Der Staatsbankrott ist kein Konkursverfahren; er ist überhaupt kein Verfahren, sondern der tatsächliche Zustand, in dem der Staat seine gesamten Zahlungsverpflichtungen dauerhaft nicht mehr erfüllt. Der typische Grund des Staatsbankrotts wie für die Insolvenz des Privaten ist die (akute oder drohende) Zahlungsunfähigkeit. Deren Bedingungen sind freilich für den Staat als Schuldner, der sich einseitig kraft seiner Abgabenhoheit Finanzmittel verschaffen kann, andere als die für den Unternehmer, der darauf angewiesen ist, auf dem Markt zu reüssieren. Doch eben die Hoheitsgewalt verschafft dem Staat einen weiteren Insolvenzgrund, den es für Private nicht gibt: die Leistungsunwilligkeit – Nichtkönnen und Nichtwollen brauchen nicht unterschieden zu werden. Der Staat hat es nicht nötig, seine Ressourcen zu verbrauchen, ehe er die Tilgung seiner Schulden einstellen kann. Er vermag, einseitig über seine Verbindlichkeiten zu verfügen. Ob er auch das Recht dazu hat, hängt von der jeweiligen Verfassung wie von den Vorgaben des internationalen Rechts ab. Auf der anderen Seite scheidet für den Staat der Insolvenzgrund der Überschuldung aus, weil es im Staatsbankrott nicht darum geht, das Staatsvermögen zur Befriedigung der Gläubiger zu verwerten6. Der Staat wird nicht liquidiert. Vielmehr will er sich sanieren. Das wird deutlich in der Behandlung der Altschulden des Deutschen Reiches. Die Übergangsbestimmung des Grundgesetzes (Art. 134 Abs. 4) bezweckte nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts die Bereinigung der Konkurslage des Reiches, doch nicht „um ihrer selbst willen“, sondern wegen ihrer grundlegenden Bedeutung für eine geordnete künftige Finanzwirtschaft in Bund und Ländern, die sonst größten Unsicherheiten und Risiken ausgesetzt gewesen wären7. Es ging weniger um die Abwicklung der Vergangenheit als um die Neuordnung der Staatsfinanzen für die Zukunft, den Rückgewinn der Handlungsfähigkeit, im Jargon von heute um die „zweite Chance“8. Darin berührt sich der Staatsbankrott mit einem Ziel des modernen Insolvenzverfahrens9. 4 Protokolle der zur Vorberathung der Konkursordnung und des Einführungsgesetzes gewählten Kommission des Deutschen Reichstags, S. 189. 5 A. Leisner spricht – wohl etwas verfrüht – von einem „speziellen Rechtsbegriff“ (Die Leistungsfähigkeit des Staates, 1998, S. 54 ff.). 6 T. Stoll, Insolvenz und hoheitliche Aufgabenerfüllung, KTS 1992, S. 521 (528); J. Lehmann, Die Konkursunfähigkeit juristischer Personen des öffentlichen Rechts, 1999, S. 89 f. 7 BVerfGE 15, 126 (136). 8 BVerfGE 15, 126 (141).
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Die Voraussetzungen des Staatsbankrotts lassen sich nicht begriffscharf bestimmen. Die Beschreibung als „ernste und hoffnungslose Lage der Staatsfinanzen“10 wäre juristisch nicht operationabel. Da der Staatsbankrott vorab nicht verfahrensrechtlich organisiert ist, läßt sich sein Eintritt in der Praxis nicht klar bestimmen. Oftmals ist nicht auszumachen, ob staatliche Maßnahmen seiner Abwendung dienen, seiner Abwicklung oder seiner Verschleppung.
3. Die sogenannte Konkursunfähigkeit des Staates Der Staatsbankrott in seiner Faktizität tastet das rechtliche Dogma von der Konkursunfähigkeit des Staates nicht an. Dieses leugnet nicht die reale Möglichkeit des Staatskonkurses. Es stellt noch nicht einmal in Frage, daß dieser in einzelnen Hinsichten rechtlich geregelt werden kann. Solcher Regelungen bedarf es heute sogar aus verfassungsrechtlichen Gründen. Der Vorbehalt des Gesetzes tritt auf den Plan, wenn der Staat in den Bestand seiner Verbindlichkeiten eingreifen will. Doch die Gesetze, um die es hier geht, treffen Regelungen ad hoc, beziehen sich auf die konkrete Situation der Finanzknappheit. Es handelt sich also um Maßnahmegesetze, Gesetze vielleicht abnormer, keineswegs aber a priori verfassungswidriger Art11. Es gibt aber keine vorab bestehenden, auf Dauer angelegten, generellen Normen für die Insolvenz des Staates, wie es sie für die Insolvenz des Privaten gibt. Gleichwohl kann sich das Bedürfnis ergeben, daß die Staatsschulden in einem bestimmten Verfahren abgewickelt werden. Im Staatsbankrott nach 1945 stand die sich neu formierende Bundesrepublik vor der Aufgabe, „spezielle gesetzliche Maßnahmen“ zu treffen. „Zumindest war bei der Organlosigkeit des Reiches ein geordnetes Verfahren notwendig, wenn es nicht zu einem unerträglichen Wettlauf der Reichsgläubiger um die Befriedigung ihrer Forderungen kommen sollte; nur dadurch konnte insbesondere das der Auseinandersetzungsregelung des Art. 134 Abs. 1 bis 3 selbst zugrunde liegende Prinzip gesichert werden, daß die Aktiven des Reiches den neuen Berechtigten und ihren öffentlichen Interessen nutzbar sein sollen.“12 Die Insolvenzunfähigkeit des Staates ist in der 1999 in Kraft getretenen Insolvenzordnung ausdrücklich verankert. Gemäß § 12 Abs. 1 Nr. 1 InsO ist das Insolvenzverfahren über das Vermögen des Bundes oder eines Landes unzulässig. Doch dessen hätte es nicht bedurft. Die Konkursunfähigkeit des Staates war längst anerkannt als ungeschriebene Ausnahme von der einschlußweise geschriebenen gesetzlichen Regel, daß juristische Personen an sich konkursfähig sind, juristische Personen im allgemeinen (§ 213 KO) wie solche des öffentlichen Rechts im besonde9 Zum Sanierungsziel L. Häsemeyer, Insolvenzrecht, 21998, S. 16, 22, 52, 71 f., 589, passim. – Rechtsvergleichender Hinweis zu den Zwecken des Insolvenzrechts C. G. Paulus, Überlegungen zu einem Insolvenzverfahren für Staaten, WM 2002, S. 725 (729). 10 H. Kratzmann, Der Staatsbankrott, JZ 1982, S. 319 (323). 11 BVerfGE 4, 7 (18). Weit. Nachw. Lehmann (Fn. 6), S. 79 Fn. 125. 12 BVerfGE 15, 126 (135 f.).
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ren (§ 89 Abs. 2 BGB)13. Die Geltung des Rechtssatzes stand außer Streit. Unklar war jedoch die Begründung. Sie ist es geblieben. Der Begründung bedarf es weiterhin. Auch die nunmehr gesetzliche Ausnahme von der gesetzlichen Regel hat der Prüfung vor dem Gleichheitssatz in seiner objektiven Dimension als Gebot der Systemgerechtigkeit und Konsequenz standzuhalten, um dem Verdikt des Fiskalprivilegs zu entgehen. Die Frage ist, ob der Konnex zwischen Rechtsfähigkeit und Insolvenzfähigkeit, der für Private gilt, nicht auch den Staat erfassen muß, zumindest für die Verbindlichkeiten, die er durch Teilnahme am Privatrechtsverkehr eingegangen ist. Der Rechtfertigungszwang verschärft sich, wenn man, dem heute als modern geltenden betriebswirtschaftlichen Denken gemäß, den Staat als bloßes Dienstleistungsunternehmen betrachtet, das sich von privaten nicht der Art, sondern nur der Größe nach unterscheidet. Warum sollen die Gläubiger des Staates im Falle seiner Zahlungsunfähigkeit anders behandelt werden als im privaten Konkurs? 4. Fiskusprivileg? Drei Argumente kehren ständig wieder, vornehmlich in der insolvenzrechtlichen Literatur:14 – es ermangele eines geeigneten Insolvenzverfahrens, – es fehle eine dem Staat übergeordnete Zwangsgewalt, – die Wahrnehmung öffentlicher Aufgaben dürfe durch das Verfahren nicht gestört werden.
Doch leuchten sie nicht ohne weiteres ein. a) Wenn es allein am Fehlen eines Verfahrens läge, so könnte der Gesetzgeber abhelfen. Doch seiner Regelungskompetenz unterliegen allein die inländischen Gläubiger. Er vermag nicht ausländische Gläubiger, die seiner Hoheit nicht unterliegen, zu zwingen, sich einem Verfahren nach seiner Fasson zu unterwerfen, sich etwa dem Mehrheitsprinzip und dem Obstruktionsverbot bei der Annahme eines Insolvenzplans zu fügen. Das gilt insbesondere für ausländische Staaten, die gegen ihn Forderungen geltend machen: par in parem non habet imperium. Die internationalen Aspekte sind hier aber nicht Thema15. Die Betrachtung konzentriert sich auf die inländische Lage. 13 Vgl. E. Forsthoff / T. Simons, Die Zwangsvollstreckung gegen Rechtssubjekte des öffentlichen Rechts, 1931, S. 40 ff.; F. Weber, in: Ernst Jäger, Konkursordnung, 81973, § 213 Anm. 2b. 14 Vgl. Forsthoff / Simons (Fn. 13), S. 40 ff.; Weber (Fn. 13), § 213 Anm. 2b; C. Ott, in: Hans-Peter Kirchhof / Hans-Jürgen Lwowski / Rolf Stürner (Hg.), Münchener Kommentar zur Insolvenzordnung, 2001, § 12 Rn. 3 (Nachw.); H. Roth, Verfassungsrecht und Insolvenzrecht, in: R. Mußgnug (Hg.), Rechtsentwicklung unter dem Bonner Grundgesetz, 1990, S. 201 f. – Kritik an den Argumenten: A. Leisner (Fn. 5), S. 49 ff.; Stoll (Fn. 6), S. 522 ff. 15 Dazu Paulus (Fn. 9), S. 725 f.
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Die allgemeinen Regelungen des geltenden Insolvenzrechts lassen sich nicht auf den Staatsbankrott übertragen. Es gilt weiterhin die Feststellung des Bundesverfassungsgerichts, daß das allgemeine Konkursrecht für einen Staatsbankrott „weder gedacht noch geeignet“ ist16. Zugeschnitten ist es auf das finanzielle Versagen von Marktteilnehmern, nicht aber auf das des Staates als des Marktgaranten. Es bezieht sich auf den Ernstfall des Unternehmens, nicht aber auf den Ernstfall der Volkswirtschaft. Horst Albach bringt die Bedeutung des Unternehmenskonkurses für die Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung auf die Formel: „Der Ernstfall des Unternehmens ist für das Gesamtsystem nur ein Schadensereignis. Derartige Schadensfälle sind die billigste Form, den Ernstfall des Systems zu vermeiden. Der Ernstfall des Unternehmens ist der Normalfall des Systems.“17 Zu ergänzen ist: der Staatsbankrott aber ist der Ernstfall des Systems. Von ihm geht keine Katharsis für andere aus. Er bildet eine Katastrophe für alle, die zum System gehören. „Anders als beim Konkurs eines privaten Schuldners ist bei der Bereinigung eines Staatsbankrotts die gesamte künftige Finanzwirtschaft und dadurch mittelbar die ganze künftige Staatspolitik mit im Spiel; im Vordergrund steht nicht die Abrechnung über die Vergangenheit, sondern die Schaffung einer Grundlage für die Zukunft. Dieses Prinzip der Sanierung . . . findet sich allenthalben in der Geschichte der Staatsbankrotte und ist unvermeidlich, weil gesunde staatliche Finanzen die erste Voraussetzung für eine geordnete Entwicklung des ganzen sozialen und politischen Lebens sind. Hierin liegt der Grund für die ,Konkursunfähigkeit‘ des Staates.“18 b) Daß der Staat nicht konkursfähig sei, weil es über ihm keine Zwangsgewalt geben könne19, entspricht den rechtsstaatlichen Vorstellungen Otto Mayers, der sogar eine Zwangsvollstreckung gegen den Staat für unangemessen hielt: „Nun es ernsthaft an den Zwang geht, ergibt sich der Widersinn, daß der Hort des Rechts im Namen des Rechts dazu gebracht werden soll, sein Recht zu achten und ihm genug zu tun. Hier muß die Gleichstellung (sc. des Staates mit den Privaten) aufhören: gegen den Staat greifen die gewöhnlichen Zwangsmittel nicht Platz.“20 Bei Otto Mayer schwingen Gedanken von „Recht auf Achtung und Ehre“ des Staates mit21, die heute außerhalb des Völkerrechts wenig Resonanz finden. Heute stehen sie jedenfalls einer Zwangsvollstreckung gegen den Staat nicht mehr im Wege, die das Gesetz, freilich unter Kautelen und Einschränkungen, zuläßt (§ 882a ZPO). Die praktische Durchführung stieße nicht auf grundsätzliche Schwierigkeiten, weil Rollenkonflikte innerhalb der Staatsorganisation, wie sie zwischen dem Staat als BVerfGE 15, 126 (135). Widerspruch: A. Leisner (Fn. 5), S. 50, 55. Deutung des Konkurses als Ernstfall: H. Albach, Kampf ums Überleben: Der Ernstfall als Normalfall für Unternehmen in einer freiheitlichen Wirtschaftsordnung, in: A. Peisl / A. Mohler (Hg.), Der Ernstfall, 1979, S. 124 (125). 18 BVerfGE 15, 126 (141). 19 Vgl. Weber (Fn. 13), § 213 Anm. 2b; H. Hess, Kommentar zur Konkursordnung, 51995, § 213 Rn. 5. 20 O. Mayer, Deutsches Verwaltungsrecht, 1. Bd., 31923, S. 381. 21 Mayer (Fn. 20), S. 382 Anm. 23. 16 17
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Schuldner und dem Staat als Träger des Insolvenzverfahrens stattfänden, im gewaltenteiligen System verarbeitet werden könnten, das die Rollen des einen und des anderen unterschiedlichen Organen zuweist22. c) In den Vordergrund rückt heute der Gedanke der Funktionsfähigkeit des Staates23. Sie wird als legitimes öffentliches Interesse von der Verfassung gewährleistet24. Die Zivilprozeßordnung trägt ihr Rechnung, indem sie die Zwangsvollstreckung in Sachen verbietet, die für die Erfüllung öffentlicher Aufgaben des Bundes oder eines Landes unentbehrlich sind oder deren Veräußerung ein öffentliches Interesse entgegensteht (§ 882a Abs. 2 S. 1 ZPO). Eben damit wird die Zwangsvollstreckung gegen den Staat nicht schlechthin für unzulässig erklärt; sie wird nur funktionsschonend eingeschränkt. Die Analogie läge nahe, daß die Insolvenz an sich möglich wäre, daß aber die Gegenstände, die nicht der Zwangsvollstreckung unterlägen, nicht zur Konkursmasse gehörten (vgl. § 36 Abs. 1 InsO), mit der Folge, daß Sachen im Gemeingebrauch und im Verwaltungsvermögen ausschieden, solche im Finanzvermögen dagegen erfaßt würden. Die praktischen Abgrenzungsprobleme, die sich dabei einstellten, wären lösbar. Sie reichten nicht aus, um die schlechthinnige Insolvenzunfähigkeit zu rechtfertigen25. Gleichwohl stünde die Analogie auf tönernen Füßen. Von der Zulässigkeit der Einzelzwangsvollstreckung läßt sich nicht ohne weiteres auf die der Gesamtvollstreckung schließen. Es ist ein wesentlicher Unterschied, ob ein einzelner Vermögensgegenstände oder ob das ganze Vermögen dem Zugriff der Gläubiger freigegeben wird. d) Die Unterwerfung des staatlichen Schuldners unter ein Insolvenzverfahren de lege ferenda scheiterte vielmehr an der Verfassung. Ein solches Verfahren und seine Organe – Insolvenzverwalter, Insolvenzgericht, Gläubigerversammlung – könnten die verfassungsrechtlichen Verfahren und Kompetenzen überlagern, modifizieren und verdrängen26. Insofern sperrte der Vorrang der Verfassung. Darüber hinaus träte der Vorbehalt der Verfassung auf den Plan: Stellung und Kompetenzen der obersten Bundesorgane sind abschließend im Grundgesetz festgelegt, soweit dieses nicht eigens den Gesetzgeber ermächtigt, weitere Regelungen zu treffen27. Ein abweichendes Regime hätte auch nicht teil an der demokratischen Legitimation, wie sie das Grundgesetz vorsieht und vermittelt. Der Insolvenzverwalter könnte nicht die Regierung substituieren, die Gläubigerversammlung nicht die Volksvertretung.
Im Ergebnis auch A. Leisner (Fn. 5), S. 50; Stoll (Fn. 6), S. 524. Vgl. Roth (Fn. 14), S. 201 f.; Ott (Fn. 14), § 12 Rn. 10. 24 Dazu J. Isensee, Gemeinwohl und Staatsaufgaben im Verfassungsstaat, in: HStR Bd. III, 2 1996, § 57 Rn. 118. 25 Vgl. A. Leisner (Fn. 5), S. 50 f.; Stoll (Fn. 6), S. 530. 26 Vgl. F. Baur / R. Stürner, Zwangsvollstreckungs-, Konkurs- und Vergleichsrecht, Bd. I, 12 1985, Rn. 6.39; U. Gundlach, Die Insolvenzfähigkeit juristischer Personen und Vermögen des öffentlichen Rechts, DÖV 1999, S. 815 (817); Ott (Fn. 14), § 12 Rn. 10. 27 Vgl. J. Isensee, Der Vorbehalt der Verfassung, in: FS Walter Leisner, 1999, S. 359 (393 ff.). 22 23
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Die Gründe reichen aus, um die Konkursunfähigkeit des Staates als sachgerecht vor dem Gleichheitssatz zu rechtfertigen. Was im Kontext der Insolvenzordnung als Ausnahme von der Regel der Insolvenzfähigkeit jeder natürlichen wie juristischen Person erscheint, stellt sich im Licht der Verfassung als eine Grundlage dafür dar, daß diese Regel überhaupt gelten kann.
II. Staatsbankrott und Grundgesetz 1. Präventive Vorkehrungen der Verfassung gegen den Staatsbankrott Ist die Diskussion der Konkursunfähigkeit des Staates unter der Geltung des Grundgesetzes eigentlich nicht müßig? Das Grundgesetz berührt das Thema Staatsbankrott lediglich in seinen Übergangs- und Schlußbestimmungen. Die Finanzkatastrophen des Reiches und der DDR, auf die sie sich beziehen, hatten sich außerhalb seines Geltungshorizonts ereignet. Den Staat des Grundgesetzes trifft keine normative Verantwortung für die Ereignisse selbst, sondern lediglich für deren Folgen. Insofern brauchte die Verfassung nur so etwas wie einen Nachlaßkonkurs vorzusehen. Unter ihrer Geltung, so läßt sich der Text lesen, werde sich das Unheil nicht wiederholen. Auf dieser Erwartung gründet der Kredit der öffentlichen Hand. Die Leistungen, zu denen sich der soziale Rechtsstaat verpflichtet, setzen voraus, daß die entsprechende Leistungsfähigkeit erhalten bleibt. Darauf bauen auch die Verfassungsinterpreten, die das soziale Staatsziel als Verbot deuten, soziale Besitzstände abzubauen, und die alle staatlichen Vergünstigungen als verfassungsgarantiert auszuweisen versuchen. Diese Strebungen können jedoch die Finanzkrise nicht verhindern. Vielmehr erreichen sie lediglich, daß sich die Finanzkrise zur Verfassungskrise auswächst28. Das Grundgesetz sucht diese Gefahr gerade zu meiden. Es hält sich zurück, den Staat auf bestimmte Aufgaben festzulegen und Zahlungspflichten zu statuieren. Die wenigen Vorgaben, die es trifft, sind elastisch genug, um sich einer Finanzkrise anzupassen. So hindert die Garantie der amtsangemessenen Alimentierung der Beamten nach hergebrachten Grundsätzen (Art. 33 Abs. 5 GG) nicht die situationsbedingte Kürzung der Bezüge für die Zukunft29. Die Finanzverfassung trifft Vorkehrungen, die Gefahr des Staatsbankrotts zu bannen. Zu diesen gehört die Verpflichtung des Haushaltsgesetzgebers, den Etat in Einnahme und Ausgabe auszugleichen (Art. 110 Abs. 1 S. 2 GG). Die Finanzverfassung setzt voraus, daß der Staat flexibel auf den Wechsel der Lagen reagieren und auch den Erfordernissen des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts Rechnung tragen kann, ohne den Haushaltsausgleich zu verfehlen. Den Risiken des Marktes braucht er sich nicht 28 Dazu mit Nachw. J. Isensee, Der Sozialstaat in der Wirtschaftskrise, in: FS Johannes Broermann, 1982, S. 365 ff. 29 Vgl. BVerfGE 8, 332 (342); 15, 167 (198); 44, 249 (263).
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auszusetzen wie der private Unternehmer. Für die erwerbswirtschaftliche Betätigung unter den Bedingungen des Wettbewerbs ist er nicht geschaffen. Die Verfassung verwehrt sie ihm prinzipiell30. Als Steuerstaat ist er darauf auch nicht angewiesen. Er nimmt nach Bedarf kraft seiner Steuerhoheit einen Teil des Sozialprodukts für sich in Anspruch und partizipiert am wirtschaftlichen Erfolg der Bürger. Schon deshalb ist es verfehlt, ihn als Dienstleistungsunternehmen zu qualifizieren und den fundamentalen Unterschied zum privaten Wirtschaftsunternehmen zu überspielen. Besonders enge und strenge Grenzen steckt das Grundgesetz der gefährlichsten Form der Staatseinnahme: der Kreditfinanzierung. Zukunftsbelastende Einnahmen dürfen grundsätzlich nur in Höhe der zukunftsbegünstigenden Ausgaben, der veranschlagten Investitionen, getätigt werden, es sei denn, daß höhere Verschuldung eine Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts abwehren kann und soll (Art. 115 Abs. 1 S. 2 GG)31. Die Verfassungsdirektiven zu haushälterischer Vorsicht werden ergänzt und verstärkt durch die europarechtlichen zur Vermeidung übermäßiger Defizite und zur Sicherung der Haushaltsdisziplin (Art. 104 EGV). Hier bringt sich die Europäische Währungsunion als Stabilitätsgemeinschaft zur Geltung. Die Praxis wird zeigen, ob es mit dieser ernst wird oder ob sie eine Wunschprojektion der Deutschen bleibt, die sich über den Verlust der nationalen Währungshoheit und der transnationalen Leitwährung, der Deutschen Mark, trösten wollen. Die Haushaltsdisziplin der Mitgliedstaaten ist weiterhin im wesentlichen Selbstdisziplin. Die vorgesehenen monetären Sanktionen, die der Rat verhängen kann – Hinterlegung einer unverzinslichen Einlage und Geldbuße in angemessener Höhe (Art. 104 Abs. 1 EGV) – dürften im Anwendungsfall kontraproduktiv sein, weil sie eine vorhandene finanzielle Bedrängnis und die Suche nach Schlupflöchern nur steigern dürften32. Die deutsche Finanzverfassung erweist sich bei näherem Hinsehen als nicht so streng, wie der Wortlaut zunächst suggeriert. Das Gebot des Haushaltsausgleichs wird nur als rechnerische Operation verstanden, die als Einnahmen auch die Kreditzuflüsse und als Ausgaben die Kredittilgungsbeträge ausweist, so daß die eigentlich zu erwartende Ordnungs- und Disziplinierungswirkung der Vorschrift in der Realität ausbleibt33. Die Verschuldungsbarriere ist leicht zu unterlaufen. Bund und Länder haben Techniken entwickelt, den Haushalt zu manipulieren, etwa durch hohe Veranschlagungen von investiven Ausgaben im Haushaltsplan, die sie 30 Näher P. Selmer, Wirtschaftliche Betätigung der öffentlichen Hand und Unternehmergrundrechte, in: R. Stober / H. Vogel (Hg.), Wirtschaftliche Betätigung der öffentlichen Hand, 2000, S. 75 ff.; W. Löwer, Der Staat als Wirtschaftssubjekt und Auftraggeber, in: VVDStRL 60 (2001), S. 416 ff. (Nachw.). 31 Dazu BVerfGE 79, 311 ff.; J. Isensee, Schuldenbarriere für Legislative und Exekutive, in: FS K. H. Friauf, 1996, S. 705 ff. (Nachw.). 32 Dazu C. Konow, Der Stabilitäts- und Wachstumspakt, 2002, S. 165 ff. 33 M. Heintzen, in: I. von Münch / Ph. Kunig (Hg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 3, 5 2003, Art. 110 Rn. 27. Vgl. auch G. Kisker, Staatshaushalt, in: HStR Bd. IV, 21999, § 89 Rn. 75.
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in dieser Höhe nicht tätigen, um einen Freibrief für Kredite zu gewinnen, die sie sodann auch tatsächlich aufnehmen34. Die parlamentarische Opposition fällt als Wächterin der Haushaltsdisziplin weitgehend aus, weil sie sich für den Fall, daß sie ihrerseits an die Macht kommt, die Option auf Laxheit nicht nehmen lassen möchte, um nicht im demokratischen Gefälligkeitswettbewerb um Wählergunst zurückzubleiben. Im Politikerhorizont des schmalen Zwischenraums zwischen Wahlen erweist sich die Kreditfinanzierung als vorteilhaft, weil sie die Empfindlichkeiten der Wähler schont, den Konsumenten staatlicher Leistungen sofortigen Genuß ermöglicht und die Kosten auf später verlagert, auf eine Generation, die sich derzeit noch nicht rühren und wehren kann. Obwohl das Bundesverfassungsgericht an die normative Rigidität der Finanzverfassung erinnert35, erweist sich diese in der Praxis eher als soft law. Jedenfalls hat sie nicht das Anwachsen der Staatsschulden zu gigantischer Höhe verhindert. Diese wachsen weiter. Tilgung und Zinsen zehren die Neuverschuldung auf. Sie drohen, die finanz-, wirtschaftsund sozialpolitische Handlungsfähigkeit des Staates zu erdrücken. An dem Faktum der Schulden endet die Macht des Rechts. Das erfuhr Kaiser Franz-Joseph, als er die an sich löbliche Ordre erteilte: „Ich finde das Defizit abzuschaffen.“36 Das erfährt heute der Bundesminister der Finanzen. Das Damoklesschwert des Staatsbankrotts hängt auch über dem Verfassungsstaat. Das Faktum der Schuldenlast rührt sich nicht, auch wenn man es für verfassungswidrig erklärt. Es läßt sich nicht hinwegjudizieren. Doch müssen sich die Maßnahmen zu seiner Beseitigung an der Verfassung messen lassen.
2. Widerstand der Verfassung gegen Sanierungsmaßnahmen a) Wegfall hergebrachter Sanierungsmöglichkeiten Das historische Repertoire der Sanierungsmaßnahmen hat sich heute erheblich verkleinert. Das alte Mittel der Münzverschlechterung hat sich schon seit der Einführung des Papiergeldes erledigt. Der deutsche Staat ist heute auch vor der Versuchung gefeit, sich seiner Verbindlichkeiten durch Verschlechterung der Währung bzw. Vergrößerung der Geldmenge zu entledigen, seit die Währungshoheit auf die Europäische Gemeinschaft übergegangen ist. Nunmehr obliegt der Europäischen Zentralbank, die Geldmenge zu steuern (Art. 106 EGV); das den Mietgliedstaaten verbliebene Münzregal ist quantité negligeable. Die in Euro bestehenden Forderungen richten sich weiterhin gegen den einzelnen Mitgliedstaat, für den sie gleichsam eine Fremdwährungsverbindlichkeit verkörpern. Der Währungsschnitt Dazu Isensee (Fn. 31), S. 721 ff. BVerfGE 67, 256 (288 f.); 72, 330 (388, 390). Vgl. K. Vogel, Grundzüge des Finanzrechts des Grundgesetzes, in: HStR Bd. IV, 21999, § 87 Rn. 121 ff. 36 Dazu H. von Treitschke, Bundesstaat und Einheitsstaat (1864), in: ders., Historische und Politische Aufsätze, 2. Bd., 61903, S. 75 (110). 34 35
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ist ihm nunmehr versagt. Aber auch die Europäische Gemeinschaft wäre dazu nicht befugt, wenn man den Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigungen ernst nimmt. Im Ernstfall allerdings würde es ihr wohl nicht an beflissenen Vertragsauslegern fehlen, die eine einschlägige implied power nach effet utile aufdeckten. Trotz Währungsunion verbleiben den Mitgliedstaaten zumindest faktische Möglichkeiten, durch ihre nationale Finanz- und Wirtschaftspolitik die Inflation zu fördern, die indirekt und unsichtbar bewirkt, daß sich ihre Schuldenlast wie die der privaten Schuldner mindert. Die Destabilisierung der Gemeinschaftswährung ist ein Thema des Europarechts. Die nationale Verfassung hat ihren Einfluß weitgehend verloren. Zwar sind die deutschen Mitglieder des Ministerrates an die Grundrechte des Grundgesetzes gebunden, doch diese Bindung wird überlagert von der Bindung an das Gemeinschaftsrecht37. Im übrigen war es schon vor Eintritt Deutschlands in die Währungsunion umstritten, ob und wie die Grundrechte des Grundgesetzes, zumal die Eigentumsgarantie, den Wert des Geldes gegen inflationäre Maßnahmen schützen38.
b) Sanierung auf Kosten der Gläubiger: Selbsterlaß der Schulden Von den hergebrachten Sanierungsinstrumenten verbleibt dem Schuldnerstaat wenigstens noch das eine, sich seiner Verbindlichkeiten durch hoheitliche Maßnahmen zu entledigen, um seine Zahlungsfähigkeit wiederzuerlangen. Er stößt auf möglichen Widerstand in den Grundrechten, zumal der Eigentumsgarantie. Eigentum im grundrechtlichen Sinne umfaßt auch die vertraglichen Forderungen des Privaten gegen den Staat. Freilich schützt das Grundrecht den privaten Gläubiger nicht vor der wirtschaftlichen Entwertung seiner Forderung, wenn der Schuldner zahlungsunfähig wird. Doch hier geht es nicht lediglich um das Versagen des staatlichen Schuldners, sondern auch und wesentlich um einen Akt des staatlichen Gesetzgebers, der den rechtlichen Bestand der Forderung auf Kosten der Gläubiger verändert, durch Streichung, Abwertung, Stundung, Ersetzung. Die Gläubiger müßten Maßnahmen solcher Art hinnehmen, wenn die Verbindlichkeiten des Staates von vornherein unter einem ungeschriebenen Vorbehalt der Leistungsfähigkeit stünden. Doch ein solcher ist nicht aufweisbar39. Gäbe es ihn, so wären die staatlichen Verbindlichkeiten bloß verkappte Naturalobligationen, den Spiel- und Wettschulden vergleichbar. Der Staat wäre als Schuldner konstitutionell unzuverlässig. Ein Vorbehalt der Leistungsfähigkeit kann auch nicht rückwirkend durch Gesetz 37 Dazu M. Herdegen, Europäisches Gemeinschaftsrecht und die Bindung deutscher Verfassungsorgane an das Grundgesetz, EuGRZ 1989, S. 309 (313); ders., Europarecht, 52003, Rn. 126 ff. 38 Ablehnend BVerfG HFR 1969, S. 347; O. Depenheuer, in: H. von Mangoldt / F. Klein / C. Starck, Das Bonner Grundgesetz, 41999, Art. 14 Rn. 162. Anders H. -J. Papier, in: Th. Maunz / G. Dürig, Grundgesetz, Stand 2002, Art. 14 Rn. 187. 39 Eingehende Widerlegung des angeblichen Vorbehalts A. Leisner (Fn. 5), S. 31 ff.
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bestehenden Schuldverhältnissen implantiert werden. Ein solcher Versuch könnte nicht als Bestimmung des Eigentumsinhalts qualifiziert werden, die das Grundgesetz an sich dem Gesetzgeber anheimgibt (Art. 14 Abs. 1 S. 2 GG). Denn der Inhalt des Schuldverhältnisses stand von Anfang an fest. Es bleibt nichts mehr nachträglich zu regeln. – Im Ernstfall dürften die Apologeten der staatlichen Maßnahme das Argument der Solidarität einführen: die Gläubiger hätten im Staatsbankrott für ihren Schuldner einzustehen und Verzicht auf ihre Forderung zu leisten. Doch Solidarität besteht unter den durch das personale Band der Staatsangehörigkeit zum Volk geeinten Bürgern, nicht aber zwischen Gläubiger und Schuldner. Hier macht es keinen Unterschied, ob der Schuldner ein Privater ist oder der Fiskus. Der Gläubiger braucht nicht Staatsangehöriger zu sein; und wenn er es ist, so sind die Rollen des Gläubigers und des Bürgers zu unterscheiden. Das grundrechtliche Eigentum steht also nicht schon von seinem Inhalt her dem Sanierungseingriff offen. Der Eingriff verträgt sich mit der Eigentumsgarantie nur unter der Bedingung, daß er unterhalb der Schwelle der Enteignung bleibt. Anderenfalls löst er die Pflicht zu angemessener Entschädigung aus, die den Sanierungserfolg von vornherein zunichte macht. Aus gleichem Grunde scheidet die Möglichkeit einer ausgleichspflichtigen Inhalts- und Schrankenbestimmung des Eigentums aus40. Wenn es überhaupt einen grundrechtslegalen Weg gibt, so den über eine ausgleichsfreie Regelung der Eigentumsschranken durch Gesetz (Art. 14 Abs. 1 S. 2 GG). Doch die Sanierung bildet keine Schranke. Sie will nicht der Ausübung des Privateigentums Grenzen ziehen, um die Sozialbindung des Eigentums zu verwirklichen41, sondern um die grundrechtlichen Positionen des Eigentümers zu vernichten, damit der staatliche Schuldner, mittelbar die Allgemeinheit, ihre finanzielle Handlungsfähigkeit zurückgewinnt. Grundrechtsschranken dienen dem Ausgleich des Eigentums mit kollidierenden privaten und öffentlichen Interessen. Die Sanierung zielt nicht auf Ausgleich, sondern auf schonungslose Durchsetzung vitaler Allgemeininteressen. „Denn es ist besser, daß ein Mensch umkomme, als daß das ganze Volk verderbe“, das ist die brutal offene Erklärung, die im Jahre 1830 Zachariä mit einem Zitat aus der Passionsgeschichte gibt42. In der Tat ist hier nichts zu verharmlosen und zu bemänteln. Das liegt auch im Interesse des Grundrechts. Wer die Sanierung noch in das grundrechtliche Legalitätssystem einbauen möchte, müßte es so weit verbiegen und überdehnen, daß es seine Konsistenz verlöre und auch unter normalen Bedingungen keine Schutzwirkung mehr zeitigte43. Dazu W. Leisner, Eigentum, in: HStR Bd. VI, 22001, § 149 Rn. 148 ff.; Depenheuer (Fn. 38), Art. 14 Rn. 241 ff., 258 ff.; U. Kinkel, Wann ist die Inhaltsbestimmung ausgleichspflichtig?, JZ 2003, S. 604 ff. 41 Zu deren Sinn W. Leisner, Sozialbindung des Eigentums, 1972, S. 147 ff., 199 ff., 226 ff. 42 Karl Salomo Zachariä von Lingenthal, Über das Schuldenwesen der Staaten im heutigen Europa, in: Karl Heinrich von Pölitz (Hg.), Jahrbücher der Geschichte und Staatskunst, 3 (1830), S. 193 (213). 43 Zum Ausfall des Grundrechtsschutzes bei Regelungen zur Bewältigung außerordentlicher Lagen BVerfGE 53, 164 (175 ff.) – Nichtauszahlung von Renten. 40
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Die ehrliche Antwort kann nur lauten, daß der Befreiungsschlag des Staatsbankrotts nicht mit der Eigentumsgarantie vereinbar ist. Wahrte das Eigentumsgrundrecht seine normative Stringenz, so wäre die Sanierung zur Lösung aus dem Staatsbankrott nicht möglich, dieser geriete also zum Dauerzustand. Soll sie aber möglich werden, so muß das Grundrecht mehr oder weniger weichen. Es handelt sich um eine Konfiskation, wie sie unter regulären Voraussetzungen nicht zulässig wäre44.
III. Präterkonstitutionelles Notrecht des Staates Der Staatsbankrott ist irregulär. Irregulär ist auch das typische Mittel zu seiner Überwindung, die einseitige Minderung seiner Verbindlichkeiten. Die Verfassung setzt die Leistungsfähigkeit des Staates als selbstverständlich voraus. Sie sorgt nicht für den Fall vor, daß sie einmal ausfällt. Dem Verfassungsstaat, dem das Wasser bis zum Halse steht, bleibt nichts anderes übrig, als sich auf ein ungeschriebenes, präterkonstitutionelles Notrecht zu berufen, wenn er zum äußersten Rettungsmittel greift und seine Schulden abschüttelt45. Daß es kein konstitutionelles Notrecht gibt, mag erstaunen. Denn die Deutschen sind traumatisiert durch die Erfahrung des zweifachen Staatsbankrotts im 20. Jahrhundert (den dritten, den der DDR, nicht mitgezählt) und empfindlicher als ihre europäischen Nachbarn auf Geldwertstabilität bedacht; nur schweren Herzens haben sie die Unabhängigkeit ihrer Notenbank, die gefeit ist gegen demokratische Versuchungen und Zumutungen, eingewechselt gegen die europäische Notenbank, die nicht auf entsprechendem Erfahrungsfundament gebaut ist. Das Fehlen einer „Bankrottverfassung“46 im Grundgesetz ist auch deshalb erstaunlich, weil geringfügige Abweichungen von der Normalität der Finanzverfassung, der Nothaushalt und die Haushaltsüberschreitung, geregelt worden sind (Art. 111 und 112 GG), nicht aber der worst case. Die perfektionistische Notstandsverfassung des Grundgesetzes ist darauf angelegt, den Ausnahmezustand aller Spielarten normativ zu erfassen und auch das Chaos noch rechtlich zu organisieren. Die Regelungen erstre44 Zutreffend Häsemeyer (Fn. 9, S. 16 mit Fn. 44), der eine Ausnahme konzediert für den Staatsbankrott. – Zum Tatbestand der Konfiskation W. Weber, Eigentum und Enteignung, in: F. L. Neumann / H. C. Nipperdey / U. Scheuner (Hg.), Die Grundrechte, 2. Bd., 1954, S. 331 (365 ff.). Ein anderer Begriff bei Papier (Fn. 38), Art. 14 Rn. 666 f. 45 Für Selmer handelt es sich bei der „extremen“ Haushaltsnotlage eines Landes um „eine spezifische Ausprägung des inneren Staatsnotstandes“ (Fn. 1, S. 29 ff., 57 f.). Das Notstandsargument erscheint im Zusammenhang mit dem Staatsbankrott bei A. Manes, Staatsbankrott, 3 1922, S. 174; Kratzmann (Fn. 10), S. 322. Allgemein zu ungeschriebenen Notrechten des Staates J. Isensee, Normalfall oder Grenzfall als Ausgangspunkt rechtsphilosophischer Konstruktion?, in: W. Brugger / G. Haverkate (Hg.), Grenzen als Thema der Rechts- und Staatsphilosophie, 2002, S. 51 (70 ff.). 46 Ausdruck von Kratzmann (Fn. 10), S. 323 – mit einem Vorschlag, wie eine solche aussehen sollte, S. 324 f.
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cken sich vom Gesetzgebungsnotstand über die Tatbestände der Naturkatastrophe und des bewaffneten Aufstandes, des Spannungs- und Verteidigungsfalles bis zum Widerstandsfall. Der Staatsbankrott kann nicht minder verheerend ausfallen als die normierten Notstandsfälle. Die Möglichkeit seines Eintritts und die Notwendigkeit seiner Bewältigung werden ignoriert. Doch das verdient keinen Vorwurf. Eine einschlägige Regelung könnte von den Regierenden als Rückversicherung für leichtsinnige Haushaltspolitik oder als Einladung zu glimpflicher Entschuldung verstanden werden. Im übrigen läßt sich nur schwer vorab normieren, was im worst case, so er einträte, geboten sein könnte. Der Staatsbankrott läßt sich kaum nach Tatbestand und Rechtsfolge fassen. Problematisch ist bereits, zu definieren und zu erkennen, wann der Staatsbankrott eingetreten ist. Der Zeitpunkt läßt sich für das komplexe Gemeinwesen nicht mit jener relativen Klarheit bestimmen wie für das insolvente Unternehmen. Es handelt sich um eine politische Entscheidung. Frei nach Carl Schmitt: souverän ist, wer über den Staatsbankrott entscheidet. Welche Vorgaben enthält das Grundgesetz für den Ernstfall? Es gilt die generelle Notmaxime: wenn der Staat in seiner Handlungsfähigkeit beschränkt und daher nicht in der Lage ist, den Forderungen der Verfassung zu genügen, hat er Lösungen zu wählen, die sich so nahe wie möglich an der Verfassung halten („näher zum Grundgesetz“). Ein Leitbild könnte die Übergangsvorschrift nach dem Beitritt der DDR abgeben, daß Recht von den Bestimmungen des Grundgesetzes abweichen kann, „soweit und solange infolge der unterschiedlichen Verhältnisse die völlige Anpassung an die grundgesetzliche Ordnung noch nicht erreicht werden kann“ (Art. 143 Abs. 1 S. 1 GG)47. In den Überleitungsbestimmungen des Grundgesetzes, die auf die Erblast des Deutschen Reiches und auf die der DDR bezogen sind (Art. 134, 135a GG), findet sich so etwas wie das Modell einer „Bankrottverfassung“. Diese wahrt die reguläre Kompetenz- und Verfahrensordnung, lockert aber die inhaltlichen Vorgaben. – Die Regelung erfolgt durch Bundesgesetz mit Zustimmung des Bundesrates (Art. 134 Abs. 4 GG). Der Umstand, daß der Gesetzgeber in eigener Sache entschiede, wäre unbedenklich, weil ohnehin keine andere Entscheidungsinstanz bereitstünde48. – Vorgegebenes Ziel des staatlichen Handelns ist, die Normalität der Handlungsund Leistungsfähigkeit wieder herzustellen. – Der Gesetzgeber entscheidet über die Maßnahmen, die zur Sanierung geeignet und notwendig sind. Zu diesem Zweck kann er bestimmen, daß Verbindlichkeiten nicht oder nicht in voller Höhe zu erfüllen sind (Art. 135a Abs. 1 GG). Das gilt auch für die Verbindlichkeiten des öffentlichen Dienstes, nicht nur die der Beamten, sondern auch die des Tarifpersonals. 47 Dazu J. Isensee, Rechtsstaat – Vorgabe und Aufgabe der Einung Deutschlands, in: HStR Bd. IX, 1997, § 202 Rn. 183 ff. 48 BVerfGE 15, 126 (145); 19, 150 (163).
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– Bei allen Entscheidungen über Quoten und Rangfolgen sowie bei der Berücksichtigung sozialer Belange ist der Gleichheitssatz zu beachten49.
IV. Staatsbankrott als bundesstaatliches Problem Der „Staat“, von dem bisher die Rede war, wurde betrachtet als Ganzheit, ohne Rücksicht auf seine bundesstaatliche Ausdifferenzierung. Die Gründe, die für die Insolvenzunfähigkeit sprechen, treffen in vollem Umfang nur auf den Bund zu. Er ist der Garant der gesamtstaatlichen Einheit, der Inhaber der wesentlichen wirtschaftlichen Zuständigkeiten, die dem EU-integrierten Deutschland noch verblieben sind, vor allem auch Inhaber der Kompetenzkompetenz. Der Bund trägt das volle Risiko des Staatsbankrotts. Davon entlastet ihn nicht die Europäische Gemeinschaft, auch nicht die Europäische Zentralbank. Freilich liegt es in der Konsequenz der Entwicklung, die durch die Europäische Währungsunion eingeleitet worden ist, daß sie sich zu einer Solidargemeinschaft entwickelt, in der die Gesamtheit für den einzelnen Mitgliedstaat, dieser für die Gesamtheit einsteht. Die Insolvenzordnung behandelt Bund und Länder gleich. Die Eröffnung des Insolvenzverfahrens wird für alle ausgeschlossen (§ 12 Abs. 1 InsO)50. Hier wie dort handelt es sich um Staaten, wenn auch die Länder nicht im Sinne des Völkerrechts Staaten sind, sondern lediglich im Sinne der Verfassung. Die Gründe der Insolvenzunfähigkeit sind hier wie da nicht konkursrechtlicher, sondern staatsrechtlicher Natur51. Ihrem Inhalt nach liegen die Gründe aber verschieden. Der Bund ist insolvenzunfähig, weil er das volle Risiko der staatlichen Existenz trägt, die Länder aber sind es, weil der Bund ihnen das Risiko abnimmt. Die Möglichkeit der separaten Insolvenz eines Landes entfällt. Wenn Insolvenz eintritt, dann nur für den Gesamtstaat in allen seinen Gliedern. Die Länder sind Staaten ohne Ernstfall. Wenn ein Land zahlungsunfähig werden sollte, eine Gefahr, die seit langem für Bremen, das Saarland, Berlin in greifbare Nähe gerückt ist, tritt die gesamtstaatliche Solidargemeinschaft, der Bund mit den übrigen Ländern, ein über den Finanzausgleich52. Sie bleibt nicht untätig, weil der Ausfall eines Gliedes auf den ganzen föderalen Organismus zurückwirkt und die kompetenzteilige, gleichwohl gemeinsame Tätigkeit für das Gemeinwohl, nicht zuletzt unter dem Aspekt des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts, beeinträchtigt. Sie kann den Bankrott eines Landes noch nicht einmal in dem Falle hinnehmen, wenn er die Folge von Leichtsinn Richtungweisend BVerfGE 53, 164 (177 f.). Schon unter der Geltung der Konkursordnung von 1873 galten die Länder als konkursunfähig. Vgl. G. Kuhn / W. Uhlenbruck, Konkursordnung, 101986, § 213 Rn. 2. 51 Dazu J. Isensee, Idee und Gestalt des Föderalismus im Grundgesetz, in: HStR Bd. IV, 2 1999, § 98 Rn. 150. 52 Vgl. BVerfGE 86, 148 (264); Isensee (Fn. 51), § 98 Rn. 146 ff., 150; Selmer (Fn. 1), S. 29 ff., 57 f. 49 50
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und Verschwendung ist. Die Bundesverfassung gewährleistet jedem Land das Existenzrecht, es sei denn, daß eine Neugliederung unter den anspruchsvollen (und kaum praktikablen) Bedingungen des Art. 29 GG erfolgte. Wenn sie ihm somit die weitgehende Gewähr der Dauer bietet, muß sie auch die finanziellen Bedingungen der Lebensfähigkeit und der aufgabengerichteten Handlungsfähigkeit über den Finanzausgleich garantieren53. Eine Neugliederungspflicht, die das Grundgesetz anfänglich statuiert hatte, ist aufgehoben, so daß sich die These des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahre 1952 erledigt hat, daß der Finanzausgleich mit Rücksicht auf Art. 29 GG nicht zu dem Ergebnis führen dürfe, lebensunfähige Länder künstlich am Leben zu halten54. Das bündische Prinzip, so Peter Selmer, verlangt unter Umständen vom Bund und von den Bundesgenossen die Daueralimentation. Das gelte zunächst auch de constitutione ferenda: „Wie es nicht primäres Ziel der Neugliederung sein kann, den Finanzausgleich zu entlasten, so soll nicht seinerseits der Finanzausgleich eine Neugliederung erzwingen wollen.“55 Das Bundesverfassungsgericht hat den insolvenz-nahen Tatbestand der „extremen“ Haushaltsnotlage eines Landes herausgearbeitet, die seine Fähigkeit zur Erfüllung der ihm von der Verfassung zugewiesenen Aufgaben in Frage stellt und aus der es sich aus eigener Kraft nicht befreien kann. In dieser Lage sind alle anderen Glieder der bundesstaatlichen Gemeinschaft aufgrund des bundesstaatlichen Prinzips verpflichtet, „dem betroffenen Glied mit dem Ziel der haushaltswirtschaftlichen Stabilisierung auf der Grundlage konzeptionell aufeinander abgestimmter Maßnahmen Hilfe zu leisten, damit es wieder zur Wahrnehmung seiner politischen Autonomie und zur Beachtung seiner verfassungsrechtlichen Verpflichtungen befähigt ist“56. Der Pflicht zur Hilfeleistung korrespondieren keine Regelungs- und Eingriffsbefugnisse der Helfer. Von der Aufgabe kann nicht auf Befugnisse geschlossen werden57. Für diese gilt der Vorbehalt der Verfassung. Doch kann die Solidarpflicht je nach den Umständen, unter denen sie sich aktualisiert, die Ausübung der bestehenden Befugnisse (wie die Haushaltsgrundsätzegesetzgebung, Gemeinschaftsaufgaben, Investitionshilfen) nach Grund und Umfang steuern58. Insbesondere können in der „extremen“ Haushaltsnotlage Bundesergänzungszuweisungen nach Art. 107 Abs. 2 S. 3 GG auch in einem über das normale Maß hinausgehenden Umfang für notstandsbedingten Sonderbedarf geleistet werden, wenn sie im Rahmen eines Programms zur Haushaltssanierung geeignet sind, zur Behebung der Haushaltsnotlage beizutragen59. Bescheidener politischer Spielraum bleibt in der Dosierung der Ausgleichsmaßnahmen. Wirkliche Ingerenzrechte 53 54 55 56 57 58 59
Vgl. BVerfGE 72, 330 (386 f., 397 f.). BVerfGE 1, 117 (134). Dazu aus heutiger Sicht Selmer (Fn. 1), S. 60 f. Selmer (Fn. 1), S. 61. BVerfGE 86, 148 (264 f.). BVerfGE 86, 148 (265). BVerfGE 86, 148 (267 f.). BVerfGE 86, 148 (268 ff.); Selmer (Fn. 1), S. 57.
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aber sind den Geberländern versagt. Der Staatscharakter des betroffenen Landes steht Erziehungs-, Besserungs- und Strafmaßnahmen im Wege. Die Gefahr bleibt, daß mit der Beseitigung des finanziellen Risikos auch der Anreiz zur Haushaltsdisziplin endet und sich alle Länder auf dem niedrigsten Niveau schuldenmacherischer Grenzmoral treffen. Hier zeigen sich Gründe für eine Änderung der Finanzverfassung. Sie sollte, wie Peter Selmer anregt, die „extreme Haushaltsnotlage“ tatbestandlich fassen, die Solidarverpflichtungen des Bundes und der Geberländer sowie die Obliegenheiten des betroffenen Landes festlegen, nicht zuletzt ein subsidiäres Eingriffsrecht des Bundes als „Sparkommissar“ in die Haushaltsautonomie dieses Landes vorsehen60. Die Insolvenzunfähigkeit der Gliedstaaten ist kein Naturgesetz. In den Vereinigten Staaten wurde ein Insolvenzverfahren (Çhapter 9“) entwickelt, das auch auf Gliedstaaten anwendbar ist und ihre Handlungsfähigkeit weitgehend schont61.
V. Insolvenz von Verwaltungstrabanten 1. Rechtliche Freistellung vom Insolvenzverfahren und ihre Rechtfertigung Die Freistellung vom Insolvenzverfahren beschränkt sich nicht auf die Träger unmittelbarer Staatsgewalt. Sie erstreckt sich auch auf einzelne ihrer Verwaltungstrabanten. Der Bundesgesetzgeber hat als Ausnahme der von ihm aufgestellten Regel, daß juristische Personen insolvenzfähig sind, ausdrücklich einzelne juristische Personen des öffentlichen Rechts durch leges speciales für insolvenzunfähig erklärt: so die Handwerksinnungen und Kreishandwerkerschaften, die Deutsche Genossenschaftsbank, die Deutsche Girozentrale und andere Banken62. Einschlußweise gilt das auch für solche Rechtsträger, die nur durch Gesetz (also nicht durch Liquidation aufgrund Gesetzes) aufgelöst werden können, wie die Deutsche Bundesbank, die Landeszentralbanken, die Kreditanstalt für Wiederaufbau63. Für die juristischen Personen des öffentlichen Rechts, die der Aufsicht eines Landes unterstehen, kann das Landesrecht das Insolvenzverfahren über das Vermögen ausschließen, so die ausdrückliche Ermächtigung in § 12 Abs. 1 Nr. 2 InsO. Dieser Ausschluß ist für Gemeinden und Gemeindeverbände erfolgt64. Entsprechende ReSelmer (Fn. 1), S. 57 f. Dazu Kratzmann (Fn. 10), S. 321 f.; Paulus (Fn. 9), S. 727. 62 Aufzählung bei Ott (Fn. 14), § 12 Rn. 12. – Zu dem speziellen Problem, ob gemäß § 12 Abs. 1 InsO auch nicht rechtsfähige, abgesonderte Vermögensmassen erfaßt werden: Gundlach (Fn. 26), S. 815 ff. 63 Aufzählung bei Ott (Fn. 14), § 12 Rn. 13. 64 Für Nordrhein-Westfalen in § 125 Abs. 2 GO, § 57 Abs. 3 KrO, § 29 Abs. 2 Landschaftsverbandsordnung, § 28 Abs. 3 Reichsgebietsgesetz, § 29 Abs. 3 Gesetz über kommunale Gemeinschaftsarbeit. Allgemein Lehmann (Fn. 6), S. 91 ff. (Nachw.). 60 61
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gelungen finden sich auch für andere Einrichtungen, zumal für Träger funktionaler Selbstverwaltung wie Ärzte- und Handwerkskammern, Industrie- und Handelskammern, ferner für Landesbanken und Sparkassen65. Es gibt ein finanzielles Motiv für Anstalten und Körperschaften des öffentlichen Rechts, sich die Insolvenzunfähigkeit attestieren zu lassen: den Umlagen für das Konkursausfallgeld zu entgehen66. An dieser Abgabe entzünden sich Rechtsstreitigkeiten, die auf das grundsätzliche Problem übergreifen, ob und unter welchen Bedingungen eine juristische Person des öffentlichen Rechts dem Insolvenzverfahren enthoben sei67. Die Insolvenzunfähigkeit läßt sich für rechtlich verselbständigte Verwaltungsträger rechtfertigen, deren Muttergemeinwesen verpflichtet ist, die Funktionsfähigkeit seines Verwaltungstrabanten dauerhaft sicherzustellen und im Falle der Gefahr finanzielle Zuwendungen zu leisten (Anstaltslast) und den Benutzern gegenüber eine Ausfallbürgschaft zu tragen (Gewährträgerhaftung)68. Diese Garantenstellung ist Voraussetzung, nicht Folge der Insolvenzunfähigkeit. Das wird bestätigt durch die Vorschrift des § 12 Abs. 2 InsO, die den Arbeitnehmern der insolvenzunfähigen Einrichtungen einen Anspruch gegen das Land auf jene Leistungen gibt, die sie in einem Konkursverfahren vom Arbeitsamt oder vom Pensions-Sicherungsverein erhalten hätten69. Wenn der Staat aber einem Träger mittelbarer Verwaltung das Insolvenzrisiko abgenommen hat, ist die Insolvenzunfähigkeit faktisch hergestellt, gleich, ob sie eigens im Gesetz vorgesehen ist oder nicht. So besteht nach Meinung des Bundesverfassungsgerichts kein Bedürfnis für ein Insolvenzverfahren über öffentlichrechtliche Rundfunkanstalten, weil die Länder – a conto der von ihnen zu prästierenden Grundversorgung – die Gewährleistungs- und Einstandspflicht treffe70. Entsprechend ließe sich für die öffentlichrechtlichen Kreditinstitute argumentieren, vor allem für die Landesbanken und Sparkassen: Anstaltslast und Gewährträgerschaft ziehen die Konkursunfähigkeit effektiv nach sich. Nun stellt sich die Frage, weshalb Bund oder Länder einzelnen 65 Beispiele Ott (Fn. 14), § 12 Rn. 17. Dazu näher Lehmann (Fn. 6), S. 119 ff., 145 ff., 160 ff. 66 Sie wurden in den Siebziger Jahren eingeführt für die Sicherung der Lohnansprüche bei Insolvenz des Arbeitgebers (§§ 141a-n, 186b-d AFG – nunmehr §§ 358 ff. SGB III) und zur Sicherung der Anwartschaften auf betriebliche Altersversorgung nach dem Betriebsrentengesetz. Dazu eingehend Lehmann (Fn. 6), S. 29 ff. 67 Vgl. etwa die Ausgangsverfahren in BVerfGE 60, 135 ff. – Landesverband der Betriebskrankenkassen . / . Pensionssicherungsverein als Träger der Insolvenzversicherung; BVerfGE 65, 359 ff. – Hessische Landesärztekammer . / . Berufsgenossenschaft für Wohlfahrtspflege und Gesundheitsdienst; BVerfGE 66, 1 ff. – Bistum Rottenburg-Stuttgart . / . Verwaltungsberufsgenossenschaft; BVerfGE 89, 144 ff. – Süddeutscher Rundfunk . / . Verwaltungsberufsgenossenschaft. 68 Zu den Prämissen mit Nachw. W. Kluth, Anstaltslast und Gewährträgerhaftung öffentlicher Kreditinstitute angesichts des gemeinschaftsrechtlichen Beihilfeverbots, in: Bitburger Gespräche, Jahrbuch 2002 / I, 2003, S. 111 (116 ff.). 69 Zutreffend C. Koenig, Insolvenzunfähigkeit juristischer Personen des öffentlichen Rechts – ein Beihilfetatbestand nach Art. 87 Abs. 1 EG?, BB 58 (2003), Heft 10, S. 1. 70 BVerfGE 89, 144 (154).
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ihrer Verwaltungstrabanten und deren Benutzern das Risiko der Zahlungsunfähigkeit abnehmen und diesen so einen Vorteil gegenüber ihren Konkurrenten verschaffen, die das normale Insolvenzrisiko tragen. Die privaten Konkurrenten können sich auf ihre Grundrechte berufen, zumal auf die Freiheit der Berufsausübung, die das Subsidiaritätsprinzip konkretisiert und die Teilhabe der öffentlichen Hand unter Rechtfertigungszwang setzt71. Der Rechtfertigungszwang verschärft sich, wenn die öffentliche Einrichtung als Zugabe zu ihrer an sich bereits grundrechtlich prekären Aktivität noch das Konkursprivileg erhält. Schon der nominelle Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts kann einen Wettbewerbsvorteil bringen, weil er den Nimbus staatlicher Förderung und Gewährträgerschaft erzeugt72. Die Rechtfertigung, so es sie gibt, folgt aus der von ihnen wahrgenommenen öffentlichen Aufgabe, die der Art, dem Umfang und dem Niveau nach von den Privaten nicht erfüllt und die von der Verwaltung ohne die Wettbewerbsvorteile nicht sichergestellt werden könnte. Doch das Argument leidet daran, daß die Aufgaben durchwegs auch von privatrechtlich organisierten Verwaltungstrabanten wahrgenommen werden können, diese aber der Insolvenzordnung unterliegen. Gleichwohl müßte im Falle der Insolvenz die Wahrnehmung der Aufgabe weiterhin gewährleistet bleiben73. Das Bundesverfassungsgericht versucht eine Rechtfertigung aus der Aufgabenerfüllung mit Hilfe seiner Doktrin, daß den öffentlichrechtlichen Rundfunkanstalten – auch in der dualen Rundfunkordnung – die unerläßliche Grundversorgung der Bevölkerung mit einem binnenpluralistischen Programm obliege74. Im Ergebnis folgt aus der Grundversorgungsdoktrin eine Bestandsgarantie der bestehenden Anstalten – eine Konsequenz, die das Bundesverwaltungsgericht zu Recht ablehnt75. In der Tat ist die Prämisse verfassungsrechtlich unhaltbar: eine Lebenslüge der Rundfunkmonopolisten. – Mit analogen Rechtfertigungstheoremen versuchen die öffentlichrechtlichen Kreditinstitute ihre Privilegien gegenüber den privaten 71 Näher Isensee (Fn. 24), § 57 Rn. 165 ff. (169); ders., Subsidiarität – das Prinzip und seine Prämissen, in: P. Blickle / Th. O. Hüglin / D. Wyduckel (Hg.), Subsidiarität als rechtliches und politisches Ordnungsprinzip in Kirche, Staat und Gesellschaft, 2002, S. 129 (162 ff.). 72 Dieser Nimbus erschloß dem Deutschen Orden, der, zunächst nur eingetragener Verein, im Jahre 1998 aufgrund einer Entscheidung des bayerischen Kultusministeriums den (mehr dekorativ als funktionell gemeinten) Status der Körperschaft des öffentlichen Rechts erhielt, erhöhte Kreditwürdigkeit bei den Banken, welche die leichtsinnigen und unbedarften Ordensmanager zu abenteuerlichen Unternehmungen verführte und den Orden in die Insolvenz mit nachhaltigem Schaden für seine Reputation stürzte. Bericht: A. Schäffer, Atemberaubend abgestürzt, FAZ v. 25. 6. 2003, Nr. 144, S. 4. 73 Vgl. M. Heintzen, Beteiligung Privater an der Wahrnehmung öffentlicher Aufgaben und staatliche Verantwortung, in: VVDStRL 62 (2003), S. 220 (250 Anm. 151). 74 BVerfGE 89, 144 (153). – Vgl. auch F. Ossenbühl, Rundfunkfreiheit und Finanzautonomie des Deutschlandfunks, 1969, S. 14 ff.; H. Bethge, Die Zulässigkeit der zeitlichen Beschränkung der Hörfunkwerbung im WDR, 1992, S. 20 f., 61 ff. 75 BVerwGE 75, 318 ff.
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Konkurrenten zu verteidigen76. Die politische Klasse glaubt ihnen allzu gerne, sind Landesbanken und Sparkassen doch die fleißigen Rohstofflieferanten für den Filz auf allen staatlichen Ebenen; sie bilden das Pfründen-Eldorado für abgehalfterte Parteipolitiker.
2. Europarechtliche Ingerenzen Die verfassungsrechtlichen Garantien der Wettbewerbsgleichheit und Subsidiarität haben bisher nicht gegriffen. Dafür aber das europarechtliche Beihilfeverbot. Die EG-Kommission hat eine Wende eingeleitet: Staatliche Haftungsverpflichtungen und Bürgschaften verzerrten den Wettbewerb. Sie fielen generell in den Anwendungsbereich des Beihilferechts, wenn keine marktgerechte Prämie gezahlt und der Handel zwischen den Mitgliedstaaten beeinträchtigt werde77. „Als Beihilfe in Form einer Garantie betrachtet die Kommission auch die günstigeren Finanzierungsbedingungen für Unternehmen, deren Rechtsform einen Konkurs oder andere Zahlungsunfähigkeitsverfahren ausschließt oder dem Unternehmen eine ausdrückliche staatliche Garantie oder Verlustübernahme durch den Staat verschafft.“78 In der „Brüsseler Verständigung“ vom 17. 7. 2001 haben sich Vertreter der Europäischen Kommission auf der einen Seite und Vertreter des Bundes und der Länder auf der anderen darauf geeinigt, daß die Gewährträgerschaft abgeschafft und die Anstaltslast durch ein marktkonformes Modell ersetzt wird, daß die öffentlichen Kreditinstitute „den gleichen Regeln für den Insolvenzfall wie private Kreditinstitute unterworfen“ und ihre Gläubiger denen privater Kreditinstitute gleichgestellt werden79. Nach einer Übergangsfrist dürfte sich daher das verfassungs- und europarechtliche Skandalon bei Landesbanken und Sparkassen erledigen.
3. Insolvenz von Gemeinden Außerhalb des Marktwettbewerbs stehen die kommunalen Gebietskörperschaften. Sie sind unersetzliche Bestandteile des Staatsgefüges. Ihr Daseins- und Wirkungsrecht schließt die Möglichkeit einer Liquidation aus. Ihr Insolvenzrisiko wird Dazu mit Nachw. Lehmann (Fn. 6), S. 119 ff. Mitteilung der Kommission über die Anwendung der Artikel 87 und 88 EG-Vertrag auf staatliche Beihilfen in Form von Haftungsverpflichtungen und Bürgschaften, Amtsblatt der EG vom 11. 3. 2000, C 71 / 14 (15), 2.1.1, 2.1.2. Darstellung des langjährigen Streits und kritische Analyse: Kluth (Fn. 68), S. 111 ff. (118 ff.), mit weiteren Materialien als Anhang S. 143 ff. 78 KOM (Fn. 77), 2.1.3, C 71 / 15. Für Koenig ist die Insolvenzunfähigkeit als solche noch keine Beihilfe (Fn. 69), S. 1. 79 Text: Anhang 5 zu Kluth (Fn. 68), S. 153. Analyse der Verständigung: M. Brenner, Transparenz der finanziellen Beziehungen zwischen den Mitgliedstaaten und ihren öffentlichen Unternehmen, in: Bitburger Gespräche, Jahrbuch 2002 / I, 2003, S. 91 (101 ff.). 76 77
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von der Solidargemeinschaft des Bundeslandes aufgefangen, dem sie angehören. – Jedoch ist der Bankrott von Gemeinden nicht lediglich theoretische Möglichkeit, sondern historische Erfahrung. Beispiele bilden der Konkurs der preußischen Stadt Halle im Jahre 1717, der Konkurs der (ost-)preußischen Stadt Arys 1929 und im selben Jahr der Konkurs der sächsischen Stadt Glashütte80. Nach heutigem Recht wird der Fall des Kommunalbankrotts nicht von der Insolvenzordnung erfaßt, sondern vom Kommunalrecht des jeweiligen Landes. Dem staatlichen Träger der Kommunalaufsicht kommen weitreichende Ingerenzbefugnisse zu. Die Bundeswie die Landesverfassung stehen diesen nicht schlechthin entgegen, weil den Gemeinden und Gemeindeverbänden der Staatscharakter abgeht. Allerdings müssen die Befugnisse dem Vorbehalt des Gesetzes und der institutionellen Garantie der kommunalen Selbstverwaltung gemäß den Verfassungen beider Staatsebenen Genüge tun. Daraus folgt, daß sie am Übermaßverbot zu messen sind81. Daß sich die Insolvenzunfähigkeit von Trägern der funktionellen (sozialen oder beruflichen) Selbstverwaltung mit analogen Gründen rechtfertigen läßt, ist denkbar82. In der Staatspraxis gerät die Insolvenz einer jeden öffentlichen Einrichtung, wie immer ihr rechtlicher Status ist, zum Politikum, übrigens auch die Insolvenz eines jeden Privatunternehmens von Bedeutung. Immer entsteht politischer Druck auf den Staat, seine schützende Hand über den Insolvenzschuldner zu halten, um die Arbeitsplätze zu sichern, den örtlichen Lebensstandard zu stützen, die regionale oder nationale Wirtschaftsstruktur zu erhalten. Das aber ist ein politisches Thema, das auf anderer Ebene liegt als das rechtliche der Insolvenzunfähigkeit des Staates.
80 Dazu E. Winckler, Der Konkurs der Stadt Glashütte in Sachsen im Lichte des Urteils des sächsischen Oberverwaltungsgerichts, Bank-Archiv XXIX (1929 / 30), S. 402 ff. Historische Beispiele und Nachweise bei Lehmann (Fn. 6), S. 92 ff. 81 Näher Stoll (Fn. 6), S. 538 ff.; Lehmann (Fn. 6), S. 101 ff. 82 Zum Landesverband für die Betriebskrankenkassen BVerfGE 60, 135 (158).
Die Rechtfertigung der ökologisch motivierten Steuer Von Monika Jachmann
I. Einführung Mit Peter Selmer gilt es, einen Jubilar zu ehren, der sich in seinem wissenschaftlichen Schaffen in ganz besonderer Weise den verfassungsrechtlichen Implikationen der staatlichen Abgabenerhebung gewidmet hat, insbesondere mit Blick auf ihre Instrumentalisierung zur Verfolgung von Sachzwecken1. Gerade der Umweltschutz wird dabei immer wieder zum Kristallisationspunkt von Peter Selmers Richtungsweisung für die Erhebung steuerlicher Abgaben wie auch ökologisch motivierter Steuern2. Angesichts der jüngeren Gesetzesentwicklung3 erweist sich die Aktualität dieser Themenstellung. Heimat seines fruchtbaren Schaffens ist für Peter Selmer seit mehr als dreißig Jahren das juristische Seminar für Finanz- und Steuerrecht der Universität Hamburg. Anknüpfend an diese Tradition4 soll im Folgenden der Frage nach der ver1 Vgl. stellvertretend nur P. Selmer, Wirtschaftslenkung durch Besteuerung – anhand ausgewählter höchstrichterlicher Entscheidungen, 1972; ders., Möglichkeiten und Grenzen staatlicher Eingriffe zur Sicherung der Energieversorgung, in: Referate und Diskussionen einer Arbeitsgemeinschaft im Zentrum für interdisziplinäre Forschung, 1974; ders., Steuerinterventionismus und Verfassungsrecht, 1972; ders. / C. Brodersen / G. Nicolaysen, Straßenbenutzungsabgaben für den Schwerverkehr: Verfassungs- und europarechtliche Probleme, 1989; ders. / C. Brodersen, Rechtliche Probleme der Einführung von Straßenbenutzungsgebühren, 1994; ders., Sonderabfallabgaben und Verfassungsrecht. Ein Beitrag zum Umweltschutz durch Sonderabgaben und Steuern, 1996; ders. / C. Brodersen, Die Verfolgung ökonomischer, ökologischer und anderer öffentlicher Zwecke durch Instrumente des Abgabenrechts, DVBl 2000, S. 1153 ff. 2 Vgl. P. Selmer, Verfassungsrechtliche und finanzrechtliche Rahmenbedingungen, in: Umweltschutz durch Abgaben und Steuern, 1992; ders., Umweltschutz und öffentliche Abgaben, in: Klima – Umwelt – Gesellschaft. Ein interdisziplinäres Seminar der Universität Hamburg am 16. und 17. November 1995, 1996; ders. / C. Brodersen, Die Verfolgung ökonomischer, ökologischer und anderer öffentlicher Zwecke durch Instrumente des Abgabenrechts, DVBl 2000 S. 1153 ff.; ders., Zur Zweckbindung von Umweltsteuern im Rahmen eines Umweltgesetzbuches, in: Perspektiven für ein Umweltgesetzbuch, 2002. 3 Vgl. stellvertretend das Gesetz zur Fortentwicklung der ökologischen Steuerreform vom 23. Dezember 2002 (BGBl. I 2002, S. 4602); sowie auch die Tagung der EU-Kommission vom 21. März 2003 zum Vorschlag einer Richtlinie zu gemeinsamen EU-Mindeststeuersätzen auf Energie, MEMO 03 / 64.
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fassungsrechtlichen Rechtfertigung ökologisch motivierter Steuern nachgegangen werden.
II. Die typische Kumulation von Staatsfinanzierung und Umweltschonung Typisch für die ökologisch motivierte Steuer ist die Verknüpfung des Fiskalzwecks der Steuer mit dem Ziel der Umweltschonung unter dem Dach der Steuerkompetenz des Art. 105 GG.5 Diese Zweckekumulation birgt – gerade wenn man das Umweltlenkungsziel nach traditionellem Verständnis dem Bereich der sog. Sozialzweck- bzw. Lenkungsnormen6 und damit (zum Teil) der Steuersubventionen7 zuweist – strukturelle Friktionen. Ist die ökologisch motivierte Steuer ernsthaft auf eine Reduzierung eines als umweltschädlich erkannten Verhaltens angelegt, dann parallel auch auf die Senkung ihres Aufkommens8, ohne dass der Fiskalzweck der Steuer freilich ganz entfiele.9 Soweit der Fiskus mit dem Aufkommen der ökolo4 Die Autorin hat am 1. 10. 2001 die Nachfolge von Peter Selmer an diesem Seminar angetreten. 5 Die Steuergesetzgebungskompetenz beinhaltet auch die Kompetenz zur Verfolgung außerfiskalischer Lenkungsziele; BVerfGE 98, 106 (118); 38, 61 (79 ff.); 36, 66 (70); 30, 250 (264); str.; stellvertretend P. Selmer, Verfassungsrechtliche und finanzrechtliche Rahmenbedingungen, in: Umweltschutz durch Abgaben und Steuern, 1992, S. 15 (21 f.); M. Rodi, Bundesstaatliche Kompetenzausübungsschranken für Lenkungssteuern, StuW 1999, S. 105 (107); zur doppelten Kompetenzgrundlage von Steuer- und Sachkompetenz vgl. K.-H. Konrad, Umweltlenkungsabgaben und abfallrechtliches Kooperationsprinzip, DÖV 1999, S. 12 (15 m. w. N.); C. Müller, Möglichkeiten und Grenzen der indirekten Verhaltenssteuerung durch Abgaben im Umweltrecht, S. 138; F. R. Balmes, Verfassungsmäßigkeit und rechtliche Systematisierung von Umweltsteuern, S. 144; zur alleinigen Maßgeblichkeit der Sachgesetzgebungskompetenz vgl. K. Tipke, Die Steuerrechtsordnung Bd. III, S. 1062; K. Vogel, in: HStR IV, 1990, § 87 Rn. 52; J. W. Hidien, Steuerreform 2000 – Anmerkungen zum gewerbesteuerlichen Anrechnungsmodell, BB 2000, S. 485 (487); Streitstand bei M. Jachmann, in: von Mangoldt / Klein / Starck, GG, Art. 105 Rn. 22 6 Vgl. stellvertretend J. Lang, in: Tipke / Lang, Steuerrecht, 17. Aufl. 2002, § 4 Rn. 21 – Steuerliche Lenkungsnormen verfolgen jenseits der Regelbesteuerung bestimmte gesellschafts-, wirtschafts- oder sozialpolitischen Ordnungsvorstellungen. Krit. etwa H.-J. Papier, in: Maunz / Dürig, GG, Art. 14 Rn. 177; ders., KritV 1987, S. 140 (143); ders., DVBl 1980, S. 787 (789); vgl. auch D. Birk, Das Leistungsfähigkeitsprinzip im Ertragsteuerrecht, 14. ÖJT Bd. III / 2, S. 53 (59). 7 K. Tipke, Die Steuerrechtsordnung Bd. I, 2. Aufl. 2000, S. 78 f. 8 Maßgeblich für diese strukturelle, steuersystematische Betrachtung ist die relative Senkung des Aufkommens gemessen am Verbrauch, nicht hingegen die absolute Gesamtsteuereinnahme, die aufgrund erhöhter Steuersätze auch bei geringerem Verbrauch durchaus steigen kann. 9 Als Mittel der allgemeinen Staatsfinanzierung dürften sog. Öko-Steuern nicht derart auf Aufkommensneutralität angelegt sein, dass sie mangels Einnahmeerzielungszweck schon nicht unter den verfassungsrechtlichen Steuerbegriff fielen. Vgl. stellvertretend H. Söhn, Umweltsteuern und Finanzverfassung, in: FS Klaus Stern, 1997, S. 587 (590); zur Zuordnung von Öko-Steuern zum verfassungsrechtlichen Steuerbegriff siehe auch A. T. Jobs, Steuern auf
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gisch motivierten Steuer rechnet, erscheint die systematische Einordnung der Steuer als Lenkung fiktiv. Aus der fiskalischen Perspektive fungiert die sog. Öko-Steuer typischerweise durchaus als – permanent gedachte – staatliche Finanzierungsquelle. Das besteuerte Verhalten soll zwar durch die Abgabepflicht erschwert, nicht aber tendenziell unterbunden und das Steueraufkommen damit nicht minimiert werden. So wird auch in der Gesetzgebungspraxis ein durch Erreichen des Lenkungszwecks bedingter Aufkommensrückgang typischerweise durch eine höhere Besteuerung kompensiert.10 Demgegenüber ist die Praxis sog. lenkender Steuergesetzgebung weniger geprägt von der zu fordernden klaren Abgrenzung der verfolgten ökologischen Ziele und der Evaluation der angestrebten Lenkungswirkungen.11 Die mit der traditionellen Einordnung der sog. Öko-Steuern12 verbundene Rechtfertigung als Abweichung von einer gleichmäßigen Regelbesteuerung zur Energie als Element einer ökologischen Steuerreform, 1999, S. 105 ff. m. w. N. zum Streitstand; P. Selmer (Verfassungsrechtliche und finanzrechtliche Rahmenbedingungen, in: Umweltschutz durch Abgaben und Steuern, 1992, S. 15 [22]) ordnet auch die ausschließlich auf einen interventionistischen Erfolg ausgerichtete, als Steuer erlassene Abgabe der Steuer im Sinne der Finanzverfassung zu „unbeschadet der begrifflich vorauszusetzenden objektiven Ertragsrelevanz jeder Steuer“. Zum konzeptionellen Nebeneinander von Lenkung und Finanzierung aus ökonomischer Sicht E. Gawel, Steuerinterventionismus und Fiskalzweck der Besteuerung, StuW 2001, S. 26 ff.; ders., Umweltabgaben zwischen Steuer- und Gebührenlösung, 1999, S. 29. 10 Zu denken ist etwa an die Mineralölsteuer, deren Aufkommen von 34 Mrd. DM im Jahre 1990 auf 42 Mrd. A im Jahre 2002 angewachsen ist, obwohl auch der ökologische Lenkungszweck im Sinne einer Energieeinsparung zumindest teilweise realisiert wurde. Durch technische Weiterentwicklungen im Kfz-Bereich wurde der durchschnittliche Kraftstoffverbrauch gesenkt. Die Jahreskilometerfahrleistung im Personenverkehr sank von 1991 bis 2000 um 0,5 v.H. und der Kraftstoffverbrauch im gleichen Zeitraum um 2 v.H. Der Straßengüterverkehr nahm allerdings zu (vgl. Umweltbundesamt, Umweltdaten Deutschland, 2002, S. 16; BMF, Datensammlung zur Steuerpolitik, Februar 2003, S. 29). Die Einnahmen aus der Mineralölsteuer stiegen seit 1990 von 6,3 v.H. auf 9,6 v.H. des Gesamtsteueraufkommens im Jahre 2002, während beispielsweise die Steuern vom Einkommen von 46,4 v.H. des Gesamtsteueraufkommens im Jahre 1990 auf ca. 39,7 v.H. im Jahre 2002 zurück gegangen sind (BMF, Datensammlung zur Steuerpolitik, Februar 2003, S. 35). 11 Vgl. stellvertretend M. Rodi, Ökonomische, ökologische und andere öffentliche Zwecke im Abgabenrecht, JZ 2000, S. 827 (834). – Probleme bei der Feststellung von Wirkungen ergeben sich insbesondere daraus, dass das individuelle Verhalten nicht nur durch die Besteuerung beeinflusst wird, sondern auch durch andere Faktoren, etwa die globalen Produktions- und Energiemärkte oder auch die Entwicklung energiesparender (z. B. Effizienzklasse A-Glühbirnen) oder energieintensiver (z. B. Stand-by-Schaltungen) Geräte. 12 Im Folgenden wird der Begriff der Öko-Steuer im engeren Sinne des verfassungsrechtlichen Steuerbegriffs gebraucht. Zu einem Überblick über mögliche Varianten der Öko-Steuer A. T. Jobs, Steuern auf Energie als Element einer ökologischen Steuerreform, 1999, S. 79 ff.; zu wesentlichen Varianten von z.T. darüber hinausgehenden Umweltabgaben stellvertretend H. Mohl / A. Rave, Abgaben für die Umwelt aus kommunaler Sicht, KStZ 2000, S. 164 ff.; zur Ausdehnung des Begriffs der Öko-Steuer auf sämtliche Abgaben, insbesondere auch Gebühren und Sonderabgaben, vgl. BMF, Umweltsteuern aus finanzwissenschaftlicher Sicht, 1997, S. 8; J. Lang, Verwirklichung von Umweltschutzzwecken im Steuerrecht, in: Umwelt-
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Verfolgung ökologischer Sachzwecke scheint jedoch nur einen Teilausschnitt dessen abzudecken, was die politische Idee einer Ökologisierung des Steuersystems im grundlegenden Ansatz meint, nämlich die Besteuerung eines Vorgangs nach dessen Umweltschädlichkeit. Im Lichte der Steuersystematik besehen bedeutet dies, dass die originäre Ökosteuer schon ihren Belastungsgrund in einer Gemeinwohlminderung findet.
III. Die sog. Öko-Steuer zwischen Ausnahmetatbestand und Regelbesteuerung 1. Ökologische Lenkung Vom Einzelnen kann – gleichheitsgerecht – ein Beitrag zur Finanzierung der allgemeinen staatlichen Aufgabenerfüllung via Gemeinlast nur in dem Maße verlangt werden, in dem ihn eine Mitverantwortung für die allgemeinen staatlichen Belange trifft.13 Diese Mitverantwortung ist aus der verfassungsrechtlich fundierten Einbindung des Einzelnen in die staatliche Gemeinschaft abzuleiten. Die Besteuerungsgleichheit bedarf als proportionale, verhältnismäßige Gleichheit14 der Wertekonkretisierung. Maßgebliche Direktive hierfür ist insbesondere das Sozialstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 1 GG).15 Der höheren Leistungsfähigkeit korrespondiert im Sozialstaat eine höhere soziale Verantwortung.16 In diesem Sinne fungiert das sog. Leistungsfähigkeitsprinzip17 als Maßstab für die Besteuerungsgleichheit. Das Leistungsfähigkeitsprinzip gebietet eine Bemessung der Steuer nach Maßgabe der indischutz im Abgaben- und Steuerrecht, DStJG 15 (1993), S. 115 (117 f.); D. Gosch, Juristische Beurteilung von Öko-Steuern, StuW 1990, S. 201; S. Franke, Hindernisse im Verfassungsrecht für Öko-Abgaben, ZRP 1991, S. 24 – speziell zur Problematik der Zweckbindung P. Selmer, Zur Zweckbindung von Umweltsteuern im Rahmen eines Umweltgesetzbuches, in: Perspektiven für ein Umweltgesetzbuch, 2002, S. 297 ff. sowie C. Waldhoff, Die Zwecksteuer. Verfassungsrechtliche Grenzen der rechtlichen Bindung des Aufkommens von Abgaben, StuW 2002, S. 285 ff. 13 M. Jachmann, Steuerrechtfertigung aus der Gemeinwohlverantwortung, DStZ 2001, S. 225. 14 Stellvertretend BVerfGE 8, S. 51 (68 f.); K. Vogel / C. Waldhoff, in: Bonner Kommentar, GG, Vorbem. zu Art. 104 a–115 Rn. 516; F. Klein, Gleichheitssatz und Steuerrecht, 1966, S. 13 ff.; P. Kirchhof, Steuergleichheit, StuW 1984, S. 297 ff. 15 BVerfGE 68, 143 (152); 61, 319 (343 f.); 32, 333 (339); K. Tipke, Die Steuerrechtsordnung Bd. I, 2. Aufl. 2000, S. 402 (480); E. Benda, in: HbVerfR, 2. Aufl. 1994, § 17 Rn. 170; D. Birk, Zum Stand der Theoriediskussion in der Steuerrechtswissenschaft, StuW 1983, S. 293 (295); ders., Das Leistungsfähigkeitsprinzip als Maßstab der Steuernormen, 1983, S. 161 ff.; vgl. auch J. Martens, Grundrecht auf Steuergerechtigkeit?, KritV 1987, S. 39 (55 ff.); P. Kirchhof, in: HStR IV, 1990, § 88 Rn. 127. 16 Vgl. D. Birk, Zum Stand der Theoriediskussion in der Steuerrechtswissenschaft, StuW 1983, S. 293 (295, 298). 17 Zur historischen Entwicklung D. Birk, in: Hübschmann / Hepp / Spitaler, AO / FGO, § 4 AO Rn. 452 ff.
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viduellen wirtschaftlichen Fähigkeit, Steuern, d. h. Geldzahlungen, zu erbringen.18 Abweichungen von einer gleichmäßigen Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit sind nach den Grundsätzen der Verhältnismäßigkeit speziell zu rechtfertigen. Eine solche Rechtfertigung stützt sich i. d. R. auf die Erzielung besonderer außerfiskalischer Gestaltungswirkungen bzw. der Verfolgung von Sozialzwecken19 – ihrerseits getragen von Gründen des Gemeinwohls20. Inwieweit einer steuergesetzlichen Regelung eine entsprechende Lenkungsfunktion zukommt, ist durch Auslegung festzustellen.21 Zu verlangen ist eine typische objektive Tendenz zur Verhaltenssteuerung.22 Hiervon ist auszugehen, wenn der Gesetzgeber schon mit Erlass der entsprechenden Lenkungs- / Sozialzwecknormen, d. h. von Interventions- bzw. Ausweichtatbeständen 23, den Steuerpflichtigen zu einem bestimmten wirtschaftlichen Verhalten anregen will.24 Der jeweilige Lenkungszweck muss insoweit „mit hinreichender Bestimmtheit tatbestandlich vorgezeichnet und gleichheitsgerecht ausgestaltet sein“25. Leistungsfähigkeitsorientierte Steuern können nach herkömmlichen Verständnis zu umweltrechtlichen Lenkungszwecken erhöht oder gesenkt werden.26 Diese steuersystematische Konstruktion stößt jedoch an ihre Grenzen, wo eine eigenständige Steuerart ihren Belastungsgrund in der Umweltschädlichkeit eines Vorgangs finden soll. Im Konzept einer gleichmäßigen Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit kommt die Besteuerung eines nicht wirtschaftskraftindizierenden 18 H.-W. Arndt / A. Schumacher, Einkommensbesteuerung und Grundrechte, AöR 118 (1993), S. 513 (518 f.); H. W. Kruse, Über die Gleichmäßigkeit der Besteuerung, StuW 1990, S. 322 (326); D. Birk, Das Leistungsfähigkeitsprinzip als Maßstab der Steuernormen, 1983, S. 167. 19 Dazu im Einzelnen M. Jachmann, Verfassungsrechtliche Grenzen der Besteuerung, 1996, S. 16 ff. m. w. N; dies., Steuergesetzgebung zwischen Gleichheit und wirtschaftlicher Freiheit, 2000, S. 31 f.; dies., in: von Mangoldt / Klein / Starck, GG, Art. 105 Rn. 6. 20 Vgl. M. Jachmann, Wider das Steuerchaos, 1998, S. 31 f.; K. Tipke, Die Steuerrechtsordnung Bd. I, 2. Aufl. 2000, S. 77 f.; D. Birk, Das Leistungsfähigkeitsprinzip als Maßstab der Steuernormen, 1983, S. 249. 21 Vgl. BVerfGE 93, 121 (147: „erkennbare Entscheidung des Gesetzgebers“); M. Jachmann, Verfassungsrechtliche Grenzen der Besteuerung, 1996, S. 17 f. 22 F. Kirchhof, Abgabenrecht, in: Achterberg / Püttner / Würtenberger, Besonderes Verwaltungsrecht II, 2. Aufl. 2000, § 20 Rn. 78. 23 Vgl. P. Kirchhof, in: Symposium des Studienwerks der Steuerberater in Nordrhein-Westfalen e.V. am 11. 4. 2003 „Der Karlsruher Entwurf“ Steuersystemwechsel als Mittel zur wirtschaftlichen Erneuerung, S. 3. 24 BVerfGE 16, 147 (161). 25 BVerfGE 93, 121 (148). 26 Stellvertretend P. Kirchhof, Verfassungsrechtliche Grenzen von Umweltabgaben, in: Umweltschutz im Abgaben- und Steuerrecht, DStJG 15 (1993), S. 3 (23, 31); S. MüllerFranken, Verfassungs- und europarechtliche Fragen der Einführung nationaler Öko-Steuern, JuS 1997, S. 872 (875). Vgl. dazu auch P. Selmer, Verfassungsrechtliche und finanzrechtliche Rahmenbedingungen, in: Umweltschutz durch Abgaben und Steuern, 1992, S. 15 (30 ff.).
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Vorgangs nicht in Betracht.27 Dies gilt gerade für die Umweltinanspruchnahme bzw. -belastung.28 Denn die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit als monetäre Belastbarkeit für das Allgemeinwohl wird durch sie gerade nicht typischerweise erhöht.29 Der Lenkungszweck einer Steuer kann deren Fiskalfunktion nicht rechtfertigen, geht es dabei doch um allgemeine Lastenzuteilung an die Mitglieder der staatlich verfassten Gemeinschaft entsprechend deren individueller Gemeinwohlverantwortung, erwachsend aus der Allgemeinbeziehung von Bürger und Staat. Demgegenüber verfolgt der Staat mit der Instrumentalisierung der Steuer zur Erreichung von Sachzwecken ein Lenkungsziel, durch das die Gemeinlastqualität der Steuer verwässert, wenngleich nicht aufgehoben wird.
2. Heranziehung wegen ökologischer Gemeinwohlverantwortung Die Erkenntnis, dass die Zukunft von Staat und Gesellschaft der Gegenwart in der Nachhaltigkeit ihrer gesamtpolitischen und damit auch rechtlichen Entwicklung liegt, impliziert auch eine grundsätzliche Akzeptanz gegenüber einer begrenzten ökologischen Ausrichtung der Besteuerung – und dies nicht als das System der 27 Dazu, dass der Grundsatz der gleichmäßigen Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit auch schon bei der Bestimmung von Gegenstand und Grundtatbestand einer Steuer zu beachten ist, M. Jachmann, Steuergesetzgebung zwischen Gleichheit und wirtschaftlicher Freiheit, 2000, S. 23 f. m. w. N. 28 P. Kirchhof, Verfassungsrechtliche Grenzen von Umweltabgaben, in: Umweltschutz im Abgaben- und Steuerrecht, DStJG 15 (1993), S. 3 (22 f.); C. Trzaskalik, Der instrumentale Einsatz von Abgaben. Bemerkungen zum Entwurf eines Abfallabgabengesetzes, StuW 1992, S. 135 (141); P. Selmer, Sonderabfallabgaben und Verfassungsrecht. Ein Beitrag zum Umweltschutz durch Sonderabgaben und Steuern, 1996, S. 76; W. Köck, Umweltsteuern als Verfassungsproblem, JZ 1991, S. 692 (697); a.A. L. Osterloh, „Öko-Steuern“ und verfassungsrechtlicher Steuerbegriff, NVwZ 1991, S. 823 (826). 29 Vgl. J. Stenger, Das Steuerrecht als Instrument des Umweltschutzes, 1995, S. 182 ff. (186 f.); M. Kloepfer / R. Thull, Rechtsprobleme einer CO2-Abgabe, DVBl 1992, S. 195 (199); C. Trzaskalik, Der instrumentale Einsatz von Abgaben. Bemerkungen zum Entwurf eines Abfallabgabengesetzes, StuW 1992, S. 135 (141); P. Kirchhof, Verfassungsrechtliche Grenzen von Umweltabgaben, in: Umweltschutz im Abgaben- und Steuerrecht, DStJG 15 (1993), S. 3 (22 f.); H.-W. Arndt, Energiesteuer und Grundrechte, ZRP 1996, S. 176 (181); F. R. Balmes, Verfassungsmäßigkeit und rechtliche Systematisierung von Umweltsteuern, 1997, S. 160 ff.; M. Herdegen / W. Schön, Ökologische Steuerreform, Verfassungsrecht und Verkehrsgewerbe, 2000, S. 27; zusammenfassend, jedoch krit. H. Söhn, Umweltsteuern und Finanzverfassung, in: FS Klaus Stern, 1997, S. 587 (591 ff.); a.A. E. Gawel, Umweltlenkungssteuern und Leistungsfähigkeitsprinzip, StuW 1999, S. 374 (378 ff.); ders., Umweltabgaben zwischen Steuer- und Gebührenlösung, 1999, S. 92 („Umweltleistungsfähigkeit“); gegen die Anwendbarkeit des Leistungsfähigkeitsprinzips auf Umweltabgaben P. Selmer, Sonderabfallabgaben und Verfassungsrecht. Ein Beitrag zum Umweltschutz durch Sonderabgaben und Steuern, 1996, S. 30 m. w. N.; W. Köck, Umweltsteuern als Verfassungsproblem, JZ 1991, S. 692 (697); K. Meßerschmidt, Umweltabgaben als Rechtsproblem, 1986, S. 159.
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Regelbesteuerung durchlöchernde – grundsätzlich abzulehnende30 – Lenkung, sondern als Ausdruck der Regelbesteuerung. Umweltressourcen sind dabei nicht lediglich als käufliche Güter zu begreifen, ihr Fortbestand nicht als unerschöpflich. Die Wahrung des Guts einer nachhaltig gesunden Umwelt31 liegt in der Verantwortung jedes Mitglieds der staatlich verfaßten Gemeinschaft. Diese Verantwortung ist – vergleichbar der sozialstaatlichen32 – Ausdruck der Beziehung des Einzelnen zum Staat, verstanden als allgemeiner Verantwortungsstatus jedes Bürgers. Es geht dabei um eine originäre Verantwortung, im Ansatz unabhängig von der individuellen wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit. Vor diesem Hintergrund ist zu fragen, ob nicht das Konzept einer leistungsfähigkeitsgerechten Besteuerung in begrenztem Umfang33 durch ein Konzept einer an der Verantwortung des Einzelnen für die Erhaltung der Umwelt als allgemeine staatliche Aufgabe ausgerichteten Besteuerung ergänzt werden kann. In Betracht käme eine äquivalenztheoretische Steuerrechtfertigung nach Maßgabe eines Umweltschutzprinzips.34 Eine äquivalenztheoretisch gerechtfertigte Steuer bestimmt sich allgemein nach den Kosten, die der Einzelne dem Staat (kausal) verursacht oder nach Vorteilen, die der Staat dem Einzelnen verschafft.35 Die Orientierung einer Steuer an diesem 30 D. Birk, Das Leistungsfähigkeitsprinzip im Ertragsteuerrecht,14. ÖJT Bd. III / 2, S. 53 (58); J. Lang, in: Tipke / Lang, Steuerrecht, 17. Aufl. 2002, § 19 Rn. 73; A. Boss / A. Rosenschon, Subventionen in der Bundesrepublik Deutschland, 1997, S. 46; M. Jachmann, Wider das Steuerchaos, 1998, S. 24; vgl. zur politischen Diskussion auch Koalitionsvertrag von SPD und Bündnis 90 / DIE GRÜNEN vom 16. 10. 2002, zu II; O. Metzger (Bündnis 90 / DIE GRÜNEN) bezeichnet die steuerlichen Ausnahmetatbestände als „Beruhigungspillen“, die es abzuschaffen gilt (Symposium des Studienwerks der Steuerberater in Nordrhein-Westfalen e.V. am 11. 4. 2003 „Der Karlsruher Entwurf“ Steuersystemwechsel als Mittel zur wirtschaftlichen Erneuerung, S. 11). 31 Dieses Gut umfasst alle natürlichen Umweltmedien wie z. B. Luft, Wasser, Boden, Atmosphäre, die natürlichen Energieflüsse, den natürlichen Stoffhaushalts, alle biotischen und abiotischen Faktoren einschließlich dem Menschen als Teil der natürlichen Lebensgemeinschaft (vgl. dazu D. Kalusche, Ökologie ein Lernbuch, 1999, S. 6; Umweltprogramm der Bundesregierung aus dem Jahre 1971, BT-Dr. 6 / 2710, S. 6). 32 Vgl. sub III. 1. 33 Vgl. dazu, dass ein Umbau des bestehenden Steuersystems zu einem substantiell nahezu reinen Ökosteuer-System nicht in Betracht kommt, stellvertretend P. Selmer, Verfassungsrechtliche und finanzrechtliche Rahmenbedingungen, in: Umweltschutz durch Abgaben und Steuern, 1992, S. 15 (31 m. w. N.). 34 Dazu J. Lang, Entwurf eines Steuergesetzbuchs, 1993, Rn. 749; vgl. auch H.-W. Arndt, Energiesteuer und Grundrechte, ZRP 1996, S. 176 (181); E. Gawel, Umweltlenkungssteuern und Leistungsfähigkeitsprinzip, StuW 1999, S. 374 (381); abstellend auf das Sozialstaatsprinzip D. Birk, Steuerrecht als Mittel des Umweltschutzes; zur Entscheidung des BVerwG vom 6. 7. 1984, NuR 1985, S. 90 (92); abstellend auf das Verursacherprinzip D. Gosch, Juristische Beurteilung von Öko-Steuern, StuW 1990, S. 201 (211). 35 K. Tipke, Die Steuerrechtsordnung Bd. I, 2. Aufl. 2000, S. 476; ausführlich dazu auch Ulbrich, Das Leistungsfähigkeitsprinzip der Besteuerung, 1975, S. 2 ff.
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sog. Äquivalenzprinzip ist schon angesichts der Natur der Steuer als Gemeinlast problematisch. Sie kollidiert grundsätzlich mit einer Steuerrechtfertigung aus der Gemeinwohlverantwortung, soweit sich diese – abgebildet im sog. Leistungsfähigkeitsprinzip – aus dem Sozialstaatsprinzip speist. Gerade für eine Fundierung der Einkommensbesteuerung eignet sich das Äquivalenzprinzip nicht, da Einkommensschwache typischerweise vermehrt auf öffentliche Leistungen angewiesen sind und daher in vielen Fällen die Steuerlast umgekehrt proportional zur Einkommenshöhe ausfallen würde, so dass es damit zu einer Besteuerung gerade entgegen der monetären Leistungsfähigkeit käme. Für den Bereich der Verbrauchsteuern ist jedoch eine ergänzende Heranziehung des Äquivalenzprinzips schlüssig, soweit der Einzelne eine staatliche Sonderleistung erhält bzw. durch sozial inadäquates Verhalten vermeidbare Aufwendungen des Staates / der Gemeinde verursacht36, ohne dass dies im Rahmen der strengen Gegenleistungsabhängigkeit der Vorzugslasten37 fassbar wäre. Die Wertekonkretisierung der proportionalen Besteuerungsgleichheit nach Maßgabe des Sozialstaatsprinzips (Art. 20 Abs. 1 GG) wäre insoweit zu ergänzen durch das Staatsziel Umweltschutz (Art. 20 a GG). So würde der elementaren Bedeutung einer nachhaltig gesicherten Umwelt für die Lebensfähigkeit der grundgesetzlich verfassten staatlichen Gemeinschaft Rechnung getragen. Zwar impliziert das Wesen der Steuer als Mittel zur Erzielung staatlicher Einnahmen, dass steuerbar nur Sachverhalte sein können, die typischerweise abschöpfbare Finanzkraft vermuten lassen. Insoweit kann steuerbar nur ein Zahlungsfähigkeit indizierender Sachverhalt sein.38 Jede Steuer muss – so die Terminologie des Bundesverfassungsgerichts39 – eine Quelle steuerlicher Belastbarkeit ausschöpfen. Diese „Quelle steuerlicher Belastbarkeit“ macht aber noch nicht – jedenfalls nicht allein – den sog. Belastungsgrund einer Steuer aus. Dieser ist vielmehr untrennbar verbunden mit der gleichheitsrechtlichen Steuerrechtfertigung.40 Auch eine Öko-Steuer kann nicht an die bloße Umweltbelastung anknüpfen, sondern immer nur an die durch einen umweltschädlichen Verbrauch indizierte Zahlungsfähigkeit. Die Indikation von Zahlungsfähigkeit als notwendige Bedingung jeglichen Steuerzugriffs bedeutet aber noch nicht zwangsläufig, dass auch die grundsätzliche Rechtfertigung der Steuererhebung und – in der Konsequenz – die relative Belastungsgleichheit ausnahmslos an der relativen Zahlungsfähigkeit bzw. finanziellen Belastbarkeit auszurichten wäre.41 Finanzielle Belastbarkeit meint inK. Tipke, Die Steuerrechtsordnung Bd. I, 2. Aufl. 2000, S. 478. M. Jachmann, in: von Mangoldt / Klein / Starck, GG, Art. 105 Rn. 8. 38 Stellvertretend P. Selmer / C. Brodersen, Die Verfolgung ökonomischer, ökologischer und anderer öffentlicher Zwecke durch Instrumente des Abgabenrechts, DVBl 2000, S. 1153 (1159 m. w. N.). 39 BVerfGE 98, S. 106 (124). 40 Vgl. dazu M. Jachmann, Ökologie versus Leistungsfähigkeit – Gilt es neue Wege in der Steuerrechtfertigung zu gehen?, StuW 2000, S. 239 (241). 36 37
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soweit nur, dass die Steuer ohne sie ins Leere griffe; sie ist nicht zugleich tertium comparationis der Besteuerungsgleichheit. Dieses tertium comparationis ist bei der originären Öko-Steuer die Wahrnehmung von Umweltverantwortung. Während aber Leistungsfähigkeit positiv durch Erwerb oder Verbrauch indiziert wird, indiziert ein umweltschädlicher Verbrauch nur negativ ein Stück „Nicht-Wahrnehmung“ von Umweltverantwortung. Eine originär ökologische Steuerrechtfertigung hat sich damit – im Sinne einer Generaläquivalenz42 – auf eine typisierend gruppenbezogene Umweltverantwortung zu beziehen.43 Im Rahmen der grundsätzlichen Steuerrechtfertigung aus der Gemeinwohlverantwortung wird der Einzelne in dem Maße zur Finanzierung der allgemeinen staatlichen Aufgabenerfüllung herangezogen, in dem ihn – als Mitglied der sozialstaatlichen Gemeinschaft – eine Mitverantwortung dafür trifft. Die Möglichkeit der Übernahme von Mitverantwortung für das Gemeinwohl bestimmt sich im sozialen Rechtsstaat grundsätzlich nach der freiheitlich erworbenen Zahlungsfähigkeit. Wie die soziale Sicherung gehört aber auch die Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen zu den elementaren, die staatliche Allgemeinheit betreffenden 41 Damit ist die zentrale Maßstabsfunktion des sog. Leistungsfähigkeitsprinzips angesprochen, die untrennbar mit dem Belastungsgrund einer Steuer verbunden ist. Wenn zutreffend geltend gemacht wird, nichtfiskalische Zwecke könnten nicht zum Austausch des Belastungsgrundes führen (stellvertretend C. Trzaskalik, Der instrumentale Einsatz von Abgaben. Bemerkungen zum Entwurf eines Abfallabgabengesetzes, StuW 1992, S. 135 [140 f.]; zum Meinungsstand P. Selmer / C. Brodersen, Die Verfolgung ökonomischer, ökologischer und anderer öffentlicher Zwecke durch Instrumente des Abgabenrechts, DVBl 2000, S. 1153 [1159 m. w. N.]), weil die Steuer dort zugreife, wo Zahlungsfähigkeit bestehe oder vermutet werden dürfe (P. Kirchhof, Verfassungsrechtliche Grenzen von Umweltabgaben, in: Umweltschutz im Abgaben- und Steuerrecht, DStJG 15 [1993], S. 3 [21]), so ist damit zwar das Wesen jeder Steuer beschrieben (so zutreffend H.-W. Arndt, Rechtsfragen einer deutschen CO2- / Energiesteuer entwickelt am Beispiel des DIW-Vorschlages, 1995, S. 46 f.), nicht aber auch hinreichend der jeweilige steuerliche Belastungsgrund, in dem die spezifische Belastungswürdigkeit einer grundsätzlich indizierten Zahlungsfähigkeit zum Ausdruck kommt und aus dem sich der Maßstab für die relative Besteuerungsgleichheit ergibt. Diese Differenzierung ist unerheblich, solange man auch die grundlegende Steuerrechtfertigung allein auf die Zahlungsfähigkeit stützt. Die Orientierung auch der Belastungsgleichheit an der finanziellen Belastbarkeit des Umweltstörers (vgl. zur Begrifflichkeit P. Kirchhof, Verfassungsrechtliche Grenzen von Umweltabgaben, in: Umweltschutz im Abgaben- und Steuerrecht, DStJG 15 [1993], S. 3 [23]) bedeutet jedoch mehr als die zwangsläufige Anknüpfung einer Steuer an einen Sachverhalt, bei dessen Vorliegen Zahlungsfähigkeit vermutet werden kann. Nur in dieser weitgehenden Dimension des Leistungsfähigkeitsprinzips macht es auch einen Sinn, über seine Geltung jenseits der Ertragsteuern nachzudenken. Insoweit erscheint die Aussage, „dass alle Steuern ihren Belastungsgrund allein im Leistungsfähigkeitsprinzip haben“ (Morgenthaler, Umweltschutz im Steuer- und Abgabenrecht – Resümee, in: Umweltschutz im Abgaben- und Steuerrecht, DStJG 15 [1993], S. 197 [210]), zumindest ungenau. Letztlich kann es aber nicht auf die dogmatische Begrifflichkeit, sondern nur auf die materielle Rechtfertigung ankommen. 42 Vgl. K. Tipke, Die Steuerrechtsordnung Bd. I, 2. Aufl. 2000, S. 476; zust. J. Lang, Entwurf eines Steuergesetzbuchs, 1993, Rn. 748. 43 J. Lang, Entwurf eines Steuergesetzbuchs, 1993, Rn. 749.
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Aufgaben.44 Die relative Entlastung des weniger Zahlungskräftigen aus der Mitverantwortung gerade für die Umwelt ist insoweit nicht zwingend, als etwa der sparsame Umgang mit Energie auch von weniger Zahlungskräftigen verlangt werden kann. Die individuellen Möglichkeiten einer freiheitlichen Wahrnehmung von Umweltverantwortung verlaufen nicht parallel mit der individuellen wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit. Zentrale Herausforderung einer originär ökologischen Steuerrechtfertigung ist die Lösung des materiellen Konflikts zwischen Umweltschutz und Sozialstaatlichkeit.45 Die originäre Rechtfertigung einer Steuer aus nicht wahrgenommener Umweltverantwortung kommt insoweit in Betracht, als der Freikauf von dieser Wahrnehmung von Umweltverantwortung durch den Leistungsfähigen akzeptiert werden kann, aber gleichzeitig der mittelbare steuerliche Zwang zur Umweltschonung für den weniger Leistungsfähigen nicht dessen individuelle Lebensführung unzumutbar beeinträchtigt. Eine existenznotwendige Umweltinanspruchnahme darf im Ergebnis nicht in einer Weise besteuert werden, dass sie nur noch besonders zahlungskräftigen Bürgern möglich ist.46 Der besondere Stellenwert einer äquivalenztheoretischen Steuerrechtfertigung nach Maßgabe des ökologischen Prinzips liegt in dem – wenn auch durchaus begrenzten – Bereich, in dem die Zumutbarkeit der Übernahme ökologischer Verantwortung für das Allgemeinwohl nicht notwendig mit (relativer) wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit gekoppelt ist. So kann der Einzelne seinen Energieverbrauch jenseits des existenznotwendigen Maßes mehr oder weniger umweltorientiert gestalten. Insoweit kann eine aus der Umweltverantwortung gegenüber der Allgemeinheit gerechtfertigte ÖkoSteuer an einen umweltschädlichen Konsum anknüpfen. Dass auf diesem Wege Steuerpflichtige mit geringerem Einkommen wegen gleichen Konsums zu den Staatseinnahmen dasselbe beitragen wie Bezieher höherer Einkommen, bedeutet – gerechtfertigt aus der gleichen Umweltverantwortung für das Allgemeinwohl – keine Verletzung der relativen Besteuerungsgleichheit. Das ökologische Prinzip überlagert insoweit das Leistungsfähigkeitsprinzip. Diese Steueranknüpfung an eine Umweltverantwortung wäre – nach Maßgabe des Verursacherprinzips47 – gleichheitsgerecht auszugestalten. Aus den dabei bestehenden Schwierigkeiten48 ergeben sich zwangsläufig Grenzen für eine äquivalenztheoretische Steuerrechtfertigung auf der Grundlage des ökologischen Prin44 Vgl. stellvertretend J. Lang, Verwirklichung von Umweltschutzzwecken im Steuerrecht, in: Umweltschutz im Abgaben- und Steuerrecht, DStJG 15 (1993), S. 115 (117). 45 Zur Problemstellung J. Lang, Verwirklichung von Umweltschutzzwecken im Steuerrecht, in: Umweltschutz im Abgaben- und Steuerrecht, DStJG 15 (1993), S. 115 (126 ff.); P. Kirchhof, Verfassungsrechtliche Grenzen von Umweltabgaben, in: Umweltschutz im Abgaben- und Steuerrecht, DStJG 15 (1993), S. 3 (7); D. Birk, in: Hübschmann / Hepp / Spitaler, AO / FGO, § 4 AO Rn. 486. 46 H. Söhn, Umweltsteuern und Finanzverfassung, in: FS Klaus Stern, 1997, S. 587 (596). 47 Vgl. H. Söhn, Umweltsteuern und Finanzverfassung, in: FS Klaus Stern, 1997, S. 587 (594). 48 Vgl. sehr krit. J. Lang, Der Einbau umweltpolitischer Belange in das Steuerrecht, in: Umweltschutz durch Abgaben und Steuern, 1992, S. 55 (68).
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zips. Im Übrigen wären auch im Konzept einer originären Öko-Steuer die aus den Freiheitsgrundrechten erwachsenden Belastungsgrenzen zu wahren.49 Darüber hinaus erwachsen insbesondere rechtsstaatliche Anforderungen an ökologisch ausgerichtete Steuern sub specie Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung.50 Die skizzierte ökologische Steuerrechtfertigung setzt beim steuerlichen Belastungsgrund an, der die grundsätzliche Steuerwürdigkeitsentscheidung zum Ausdruck bringt und damit die Besteuerungsgleichheit determiniert.51 Im Ergebnis steht die Steuerrechtfertigung aus der Umweltverantwortung der Rechtfertigung einer ökologisch motivierten Lenkungsnorm durchaus nahe.52 Die unterschiedliche Rechtfertigung ökologisch motivierter Steuern als Lenkung im Rahmen einer Regelbesteuerung nach Maßgabe wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit einerseits und als Regelbesteuerung nach Maßgabe ökologischer Gemeinwohlverantwortung (Umweltverantwortung) andererseits zeigt sich jedoch unter zwei Aspekten: Zum einen muss bei einer originären Öko-Steuer nicht aus der Emission – über den Verbrauch – auf eine relative Leistungsfähigkeit geschlossen werden. Maßgeblich ist die absolute Leistungsfähigkeit, die – in der Regel im Verbrauch – zum Ausdruck kommt. Zum anderen begründet eine etwaige repressive Wirkung der Öko-Steuer keine speziell rechtfertigungsbedürftige – und im Konzept der Belastungsgleichheit nach Maßgabe wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit kaum zu rechtfertigende – Ungleichbehandlung.
IV. Ökologische besondere Verbrauchsteuern Als originär ökologisch gerechtfertigte Steuern kommen vor allem besondere Verbrauchsteuern in Betracht.
49 Vgl. J. Lang, Entwurf eines Steuergesetzbuchs, 1993, Rn. 448, 449, 751; ders., Verwirklichung von Umweltschutzzwecken im Steuerrecht, in: Umweltschutz im Abgaben- und Steuerrecht, DStJG 15 (1993) S. 115 (126). 50 BVerfGE 98, 106 (118 f.); vgl. auch C. Weidemann, Rechtsstaatliche Anforderungen an Umweltabgaben. Zu den beiden Urteilen des Bundesverfassungsgerichts vom 7. 5. 1998, DVBl 1999, S. 73 ff.; W. Frenz, Energiesteuern als widerspruchsfreie Normgebung?, BB 1999, S. 1849 f. 51 Vgl. H. Söhn, Umweltsteuern und Finanzverfassung, in: FS Klaus Stern, 1997, S. 587 (594); E. Gawel, Umweltabgaben zwischen Steuer- und Gebührenlösung. Eine finanzwissenschaftliche Kritik der Rechtsformrestriktionen für administrierte Umweltpreise, 1999, S. 92 f. 52 In der normativen Realität knüpfen etwa die ökologisch motivierten Lenkungsnormen des § 2 Abs. 1 MinöStG an eine Kombination von Verbrauchsmenge und Emissionsverursachung an. Vergleichbar ist auch die Regelbesteuerung nach § 9 Abs. 1 KraftStG, nach der der Steuersatz je nach Hubraum und Emissionswerten variiert. Insoweit korrespondiert die maßgebliche Umweltverantwortung der Emissionsverursachung.
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1. Der materielle Ansatz In materieller Hinsicht kann bei der ökologisch gerechtfertigten Verbrauchsteuer die relative Belastungsgleichheit ohne dogmatische Friktionen direkt aus dem Umweltverbrauch abgeleitet werden. Die grundsätzliche gleichheitsrechtliche Fragwürdigkeit von – aus der indizierten wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit gerechtfertigten – speziellen Verbrauchsteuern53, die sich gerade dann zeigt, wenn sie auf einen der allgemeinen Lebensführung zuzuordnenden und damit auf keinen – nicht schon durch die Umsatzsteuer (und Einkommensteuer) erfaßte – besondere Leistungsfähigkeit indizierenden Verbrauch erhoben werden, entfällt.54 Die besondere Belastungswürdigkeit eines – im Ansatz Zahlungsfähigkeit indizierenden – Verbrauchs wird (auf der Ebene der Fiskalzwecknormen) durch die Verursachung einer Umweltbelastung begründet. Die Rechtfertigung der Ertragswirkung von Verbrauchsteuern wird demgegenüber traditionell in der – im Verbrauch vermuteten – Leistungsfähigkeit des Verbrauchers gesehen.55 Vor diesem Hintergrund wäre eine spezielle Verbrauchsteuer auf umweltschädlichen Privatkonsum56 wegen des Verbrauchs von Energie als typischem Indikator wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit des Steuerträgers zu rechtfertigen. Die materielle Rechtfertigung einer solchen Verbrauchsteuer nach Maßgabe des Grundsatzes der gleichmäßigen Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit scheint prima facie auch jedenfalls hinsichtlich des vermeidbaren Verbrauchs möglich.57 Privater Energieverbrauch ist jedoch weitgehend der allgemeinen Lebensführung zuzurechnen, so dass die Begründung einer Zusatzbelastung jenseits der allgemeinen Abschöpfung wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit durchaus problematisch ist.58 Gerade diese Rechtfertigung kann nicht an einen die Leistungsfähigkeitsbesteuerung durchbrechenden Lenkungszweck,59 wohl aber aus einer im Verbrauch zum Ausdruck kommenden Umweltverantwortung erwachsen. Wenn das Bundesverfassungsgericht60 den Belastungsgrund der Verpackungsteuer im „vermeidbaren, umweltschädlichen Ver53 Stellvertretend K. Tipke, Die Steuerrechtsordnung Bd. II, 2. Aufl. 2003, S. 1037 ff.; J. Lang, in: Tipke / Lang, Steuerrecht, 17. Aufl. 2002, § 16 Rn. 10. 54 Dazu M. Jachmann, Nachhaltige Entwicklung und Steuern, S. 254 ff. 55 Dabei wird von der strukturellen Überwälzung der Steuer auf den Endverbraucher als Steuerträger ausgegangen; vgl. BVerfGE 98, 106 (124); stellvertretend M. Jachmann, in: von Mangoldt / Klein / Starck, GG, Art. 105 Rn. 48. 56 Vgl. J. Lang, Entwurf eines Steuergesetzbuchs, 1993, Rn. 102. 57 A. T. Jobs, Steuern auf Energie als Element einer ökologischen Steuerreform, 1999, S. 185 m. w. N. zur Problemstellung; zur Kritik an der ökologischen Steuerreform im Hinblick auf eine unzureichende Anknüpfung an die Leistungsfähigkeit vgl. aber W. Löwer, Wen oder was steuert die Öko-Steuer?, 2000, S. 46. 58 Vgl. H. Jatzke, Die Stromsteuer, DStZ 1999, S. 520 (523); zur äquivalenztheoretischen Rechtfertigung der Verpackungsteuer R. Elmenhorst, Die Verpackungsteuerentscheidung des BVerwG und ihre rechtlichen Folgen, ZKF 1995, S. 170 (173 f.). 59 Stellvertretend C. Trzaskalik, 63. DJT, Gutachten, Teil A VI.7. 60 BVerfGE 98, 106 (125).
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brauch“ sieht, deutet dies auch auf eine ergänzende Rechtfertigung der Verpackungsteuer aus der Umweltverantwortung des Verbrauchers.61 Aus der Umweltverantwortung grundsätzlich zu rechtfertigen wäre etwa eine ausschließlich emissionsbezogene oder nach Geräuschklassen gestaffelte KfzSteuer. Grundsätzlich in Betracht kämen diverse weitere besondere Verbrauchsteuern, etwa auf Batterien, chemische Farben und Reinigungsmittel, Streusalz oder spezielle Hölzer.62
2. Finanzverfassungsrechtliche Einbindung Die skizzierte Ergänzung des herkömmlichen Bildes der speziellen Verbrauchsteuer um die Rechtfertigung aus einer besonderen Umweltverantwortung dürfte sich noch in den Grenzen des Art 106 GG bewegen,63 zumal die gleichheitsrechtliche Rechtfertigung der Auswahl der Steuergüter im Bereich der speziellen Verkehrsteuern nicht als eindeutig geklärt gelten kann.64 Art. 106 GG liegt die Intention zugrunde, dass im Steuerstaat des Grundgesetzes die steuerliche Ertragshoheit verfassungsrechtlich – in Art. 106 GG – zu regeln ist.65 Wird eine neue Steuerart 61 Vgl. demgegenüber für eine Orientierung an der Lenkungsfunktion J. Eschenbach, Verpackungsteuer am Ende – Konsequenzen für das gemeindliche Steuerfindungsrecht aus dem Urteil des BVerfG vom 7. 5. 1998, ZKF 1998, S. 246 (250); vgl. in diesem Sinne auch etwa BVerwGE 96, S. 272 (287); HessVGH, KStZ 1993, S. 147 (156); H. Sendler, Die jüngste Rechtsprechung auf dem Gebiet der kommunalen Abfallsteuern, WiVerw 1996, S. 83 (93); R. Eckert, Zur Verfassungsmäßigkeit einer kommunalen Getränkeverpackungsteuer, DÖV 1990, S. 1006 (1010 f.); H. Benkmann / T. Gaulke, Kommunale Getränkeverpackungsteuer genehmigungsfähig?, ZKF 1990, S. 98 (102). 62 Zu klären wäre in diesem Kontext ggf. die gleichheitsrechtliche Relevanz einer etwaigen Steuerfreiheit des Verbrauchs von Produktionsmittel – vgl. insoweit zum finanzverfassungsrechtlichen Hintergrund sogleich sub 2. 63 Vgl. stellvertretend S. Müller-Franken, Verfassungs- und europarechtliche Fragen der Einführung nationaler Öko-Steuern, JuS 1997, S. 872 (875). 64 Vgl. auch W. Höfling, Verfassungsfragen einer ökologischen Steuerreform, StuW 1992, S. 242 (245); H. Söhn, Umweltsteuern und Finanzverfassung, in: FS Klaus Stern, 1997, S. 587 (595); für wesentlich am Umweltschutzprinzip auszurichtende örtliche Verbrauchsteuern J. Lang, Entwurf eines Steuergesetzbuchs, 1993, Rn. 770; zur Problematik etwa auch P. Selmer / C. Brodersen, Die Verfolgung ökonomischer, ökologischer und anderer öffentlicher Zwecke durch Instrumente des Abgabenrechts, DVBl 2000, S. 1153 (1160 f.); M. Peters, Das Verbrauchsteuerrecht, 1989, S. 39 f. mit dem Hinweis auf die willkürliche, von der Rspr. aber noch nicht beanstandete Güterauswahl. 65 J. Lang, in: Tipke / Lang, Steuerrecht, 17. Aufl. 2002, § 3 Rn. 5; K. Vogel / H. Walter, in: Bonner Kommentar, GG, Zweitbearbeitung, Art. 106 Rn. 170; K. Vogel, in: HStR IV, 1990, § 87 Rn. 32; D. Birk, in: AK-GG, 2. Aufl. 1989, Art. 105 Rn. 21; für die Notwendigkeit einer verfassungsrechtlichen Regelung des Steueraufkommens auch K. Tipke, Vom Konglomerat herkömmlicher Steuern zum System gerechter Steuern. Steuerreformen und Gleichheitssatz unter dem Aspekt der Art. 105, 106 GG, BB 1994, S. 437 (442 f.); a.A. etwa L. Osterloh, „Öko-Steuern“ und verfassungsrechtlicher Steuerbegriff, NVwZ 1991, S. 823 (826 ff.); M. Jachmann, in: von Mangoldt / Klein / Starck, GG, Art. 105 Rn. 29.
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eingeführt oder eine vorhandene Steuer so wesentlich umgestaltet, dass sie keiner der genannten Steuerarten mehr zugeordnet werden kann, so ist – jedenfalls parallel – Art. 106 GG zu ergänzen bzw. zu modifizieren.66 Ein Rückgriff auf Art. 30 GG67 scheitert an der Spezialität von Art. 106 GG.68 Die in Art. 106 GG genannten Steuern können ausgestaltet bzw. modernisiert, aber nicht in einer so grundlegenden Weise modifiziert werden, dass der vom historischen Verfassungsgeber jeweils intendierte Steuertypus69 unter Einbeziehung einer etwaigen gewandelten Anschauung in der Steuerrechtsentwicklung,70 d. h. die wesentlichen typusbestimmenden Merkmale verlassen werden. Festgeschrieben sind dabei nur die Essentialia der Steuertypen.71 Dem Steuergesetzgeber verbleibt ein erheblicher Gestaltungsspielraum für die Fortbildung der einzelnen Steuern.72 Der Katalog des Art. 106 GG enthält explizit keine Öko-Steuer. Vielmehr knüpfen alle darin genannten Steuern nach herkömmlichem Verständnis an Tatbestände an, die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit indizieren.73 Der Einfügung einer neuen 66 Vgl. H. J. Bonk, Verfassungsrechtliche Aspekte der Gewerbesteuer im Rahmen einer Unternehmensteuerreform, FR 1999, S. 443 (444) zur Umgestaltung der Gewerbesteuer. Nach a.A. soll das Steuererfindungsrecht durch den Katalog des Art. 106 GG nicht beschränkt werden; so BT-Dr. V / 2861, Tz. 128; V / 3605, S. 6 f.; Reischl, Berichterstatter des Vermittlungsausschusses vor dem Bundestag in der 222. Sitzung vom 20. 3. 1969, Stenographische Berichte, 5. Wahlperiode, Bd. 69, S. 12058. In diesem Sinne auch P. Selmer, Verfassungsrechtliche und finanzrechtliche Rahmenbedingungen, in: Umweltschutz durch Abgaben und Steuern, 1992, S. 15 (38 f., 52). 67 So J. Wieland, Die Konzessionsabgaben: zur Belastung wirtschaftsverwaltungsrechtlicher Erlaubnisse mit Abgaben, 1991, S. 290 ff. 68 H. Siekmann, in: Sachs, GG, Art. 105 Rn. 45. 69 Allein abstellend auf die Gleichartigkeit mit den präkonstitutionellen Steuerbildern insbesondere K. Vogel / H. Walter, in: Bonner Kommentar, GG, Zweitbearbeitung, Art. 106 Rn. 207 ff. 70 Vgl. J. Lang, in: Tipke / Lang, Steuerrecht, 17. Aufl. 2002, § 3 Rn. 5; P. Selmer, Verfassungsrechtliche und finanzrechtliche Rahmenbedingungen, in: Umweltschutz durch Abgaben und Steuern, 1992, S. 15 (35 f). 71 C. Waldhoff, Verfassungsrechtliche Vorgaben für die Steuergesetzgebung im Verhältnis Deutschland-Schweiz, 1997, S. 187 ff.; K. Vogel / C. Waldhoff, in: Bonner Kommentar, GG, Vorbem. zu Art. 104a-115 Rn. 578. P. Selmer (Verfassungsrechtliche und finanzrechtliche Rahmenbedingungen, in: Umweltschutz durch Abgaben und Steuern, 1992, S. 15 [36 m. w. N.] hält je nach Eigenart und Besonderheit der Steuerart einen Wesenskern für regelungsfest. Dies lasse unberührt, dass die in Art. 106 GG genannten Steuertypenbegriffe grundsätzlich weit auszulegen seien. 72 BVerfGE 81, 108 (117 ff.); 31, 119 (128); 31, 8 (19); 27, 375 (383); 26, 172 (182); P. Kirchhof, in: HStR IV, 1990, § 88 Rn. 68; P. Selmer, Verfassungsrechtliche und finanzrechtliche Rahmenbedingungen, in: Umweltschutz durch Abgaben und Steuern, 1992, S. 15 (34 f. m. w. N.). 73 C. Trzaskalik, Der instrumentale Einsatz von Abgaben. Bemerkungen zum Entwurf eines Abfallabgabengesetzes, StuW 1992, S. 135 (141); W. Höfling, Verfassungsfragen einer ökologischen Steuerreform, StuW 1992, S. 242 (243).
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Steuerart in Art. 106 GG bedarf es bei der Ausgestaltung der bestehenden Steuerarten nach Maßgabe der ökologischen Gemeinwohlverantwortung jedoch nicht. Die Anreicherung der das Leistungsfähigkeitsprinzip tragenden Besteuerungsgleichheit nach Maßgabe individueller Gemeinwohlverantwortung um den Aspekt der Umweltverantwortung bedeutet eine von Art. 106 GG noch gedeckte Fortbildung des Verbrauchsteuerbegriffs. Im Zuge dieser Fortbildung ist an dem typusbestimmenden Merkmal der strukturellen Überwälzbarkeit auf den privaten Endverbraucher festzuhalten.74 Die Rechtfertigung aus der Umweltverantwortung für die Allgemeinheit ist auf den Endverbraucher zu beziehen. Eine ökologische Unternehmensbesteuerung sprengte demgegenüber den Rahmen einer Verbrauchsteuer im Sinne von Art. 106 GG.75 Die Einführung ökologischer Produktionsmittelsteuern bedürfte einer Grundgesetzänderung.76 Jenseits dessen würden die Grenzen des durch Art. 106 Abs. 1 Nr. 2 GG eröffneten Gestaltungsspielraums jedenfalls dann überschritten, wenn der Belastungsgrund einer Steuer unmittelbar in der Einwirkung auf natürliche Umweltressourcen bestehen sollte.77 Gedacht als neue besondere „Verbrauchsteuer im Sinne der Abgabenordnung“ (§ 1 Abs. 1 S. 3 StromStG)78 wurde zum 1. April 1999 durch das Gesetz zum Einstieg in die ökologische Steuerreform79 die Stromsteuer eingeführt.80 Damit sollten vorhandene Energiesparpotentiale beim Verbraucher ausgeschöpft und ein Anreiz zur Entwicklung von energiesparenden und ressourcenschonenden Produkten gegeben werden81. Dabei ist elektrischer Strom trotz der bezweckten zunehmenden BVerfGE 98, S. 106 (124). M. Herdegen / W. Schön, Ökologische Steuerreform, Verfassungsrecht und Verkehrsgewerbe, 2000, zusammenfassend S. 85. 76 Vgl. M. Jachmann, in: von Mangoldt / Klein / Starck, GG, Art. 105 Rn. 48, 57; Dazu J. Lang, Verwirklichung von Umweltschutzzwecken im Steuerrecht, in: Umweltschutz im Abgaben- und Steuerrecht, DStJG 15 (1993), S. 115 (133, 141 f.); a.A. (Einbeziehung des produktiven Verbrauchs in den Verbrauchsteuerbegriff), A. T. Jobs, Steuern auf Energie als Element einer ökologischen Steuerreform, 1999, S. 204 ff. (208 f.). 77 Stellvertretend P. Selmer, Verfassungsrechtliche und finanzrechtliche Rahmenbedingungen, in: Umweltschutz durch Abgaben und Steuern, 1992, S. 15 (36 f.) (ausgehend von einem weitem Verbrauchsteuerbegriff); M. Herdegen / W. Schön, Ökologische Steuerreform, Verfassungsrecht und Verkehrsgewerbe, 2000, S. 28 (ausgehend vom traditionellen Steuerbegriff). 78 Krit. H. List, Gedanken zur Öko-Stromsteuer, DB 1999, S. 1623 (1625). 79 Gesetz vom 24. März 1999 (BGBl. I 1999, S. 378), zuletzt geändert durch Gesetz zur Fortentwicklung der ökologischen Steuerreform vom 23. 12. 2002 (BGBl. I 2002, S. 4602). 80 Krit. gegenüber der Einordnung als Verbrauchsteuer J. W. Hidien, Neue Steuern braucht das Land?, BB 1999, S. 341 (343); zur europarechtlichen Einordnung der Stromsteuer stellvertretend H. Jatzke, Die Stromsteuer, DStZ 1999, S. 520 ff.; krit. J. Bloehs, Verstößt das Erhebungsverfahren der deutschen Stromsteuer gegen EU-Recht?, BB 1999, S. 1845 ff.; C. Kaeser / M. Weinsheimer, Europarechtswidrige Benachteiligung ausländischer Stromanbieter durch das Stromsteuergesetz, DB 1999, S. 2383 ff.; M. Bongartz / S. Schroer-Schallenberg, Die Stromsteuer – Verstoß gegen Gemeinschaftsrecht und nationales Verfassungsrecht?, DStR 1999, S. 962 (964 f.; sowie – zu gleichheitsrechtlichen Bedenken – 969 f.). 81 BT-Dr. 14 / 40, S. 1 f.; BR-Dr. 474 / 99, S. 1. 74 75
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Energieeinsparung nicht verzichtbar82; dies wird angesichts des Fiskalzwecks der Steuer auch nicht angestrebt.83 Strom ist eine Ware, Gegenstand des Handelsverkehrs84 sowie allein zum Verbrauch bestimmt und geeignet. Stromverbrauch ist umweltbezogener Warenverbrauch.85 Der Einordnung der Stromsteuer als Verbrauchsteuer steht auch nicht entgegen, dass Steuerentstehung und Verbrauch zeitlich zusammenfallen; dies ist allein durch die physikalischen Eigenschaften des Stroms bedingt.86 Gleiches gilt insoweit, als beim Direktbezug aus dem Ausland wegen Personenidentität von Steuerschuldner und Steuerträger eine Abwälzung nicht in Betracht kommt.87 Für weitere Steuern auf Energie wäre jeweils zu prüfen, ob sie dem Steuertyp der Verbrauchsteuer zugeordnet werden können.88 Sog. Lärm- und Schmutzabgaben können nicht als Verbrauchsteuern ausgestaltet werden.89 Hinsichtlich einer nationalen CO2-Steuer90 wäre insbesondere zu bedenken, dass die bei einer Pro82 A. T. Jobs, Steuern auf Energie als Element einer ökologischen Steuerreform, 1999, S. 115. 83 Zum Umweltziel von Energiesteuern allgemein, BMF, Umweltsteuern aus finanzwissenschaftlicher Sicht, 1997, S. 92 ff. 84 Vgl. dazu wegen der europarechtlichen gemeinsamen Verbrauchsbesteuerung EuGH, Slg. 1968, S. 633 (642); M. Wasmeier, Umweltabgaben und Europarecht: Schranken des staatlichen Handlungsspielsraumes bei der Erhebung öffentlicher Abgaben im Interesse des Umweltschutzes, 1995, S. 92; A. T. Jobs, Steuern auf Energie als Element einer ökologischen Steuerreform, 1999, S. 183. 85 Vgl. dazu A. T. Jobs, Steuern auf Energie als Element einer ökologischen Steuerreform, 1999, S. 181. 86 M. Bongartz / S. Schroer-Schallenberg, Die Stromsteuer – Verstoß gegen Gemeinschaftsrecht und nationales Verfassungsrecht?, DStR 1999, S. 962 (967); vgl. auch F. Drozda / B. Storm, Die Stromsteuer – nur eine neue Verbrauchsteuer?, NJW 1999, S. 2333 f. 87 M. Bongartz / S. Schroer-Schallenberg, Die Stromsteuer – Verstoß gegen Gemeinschaftsrecht und nationales Verfassungsrecht?, DStR 1999, S. 962 (968). 88 Gegenüber einer Qualifikation von Steuern auf Energie als Verbrauchsteuer krit. H.-W. Arndt, Rechtsfragen einer deutschen CO2- / Energiesteuer entwickelt am Beispiel des DIWVorschlages, 1995, S. 50 f. (127); H. Jenzen, Energiesteuern im nationalen und internationalen Recht: eine verfassungs-, europa- und welthandelsrechtliche Untersuchung, 1998, S. 165 (180); grundsätzlich positiv S. Bach, Wirtschaftliche Auswirkungen und rechtlich-institutionelle Aspekte einer ökologischen Steuerreform, StuW 1995, S. 264 (272); M. Kloepfer / R. Thull, Rechtsprobleme einer CO2-Abgabe, DVBl 1992, S. 195 (199); W. Jakob / O. Zugmaier, Rechtliche Probleme von Umweltabgaben, 1996, S. 24; A. Bogler, Öko-Abgaben auf Landesebene: (k)ein Problem?, NWVBl 1998, S. 87 (89); zum Diskussionsstand vgl. A. T. Jobs, Steuern auf Energie als Element einer ökologischen Steuerreform, 1999, S. 175 f. m. w. N. 89 W. Höfling, Verfassungsfragen einer ökologischen Steuerreform, StuW 1992, S. 242 (245 f.). 90 Zur Struktur einer CO -Steuer H. Mohl / A. Rave, Abgaben für die Umwelt aus kom2 munaler Sicht, KStZ 2000, S. 164 (167); zu ihrer Unzulässigkeit vgl. J. Lang, in: Tipke / Lang, Steuerrecht, 17. Aufl. 2002, § 3 Rn. 6 m. w. N.; ders., Verwirklichung von Umweltschutzzwecken im Steuerrecht, in: Umweltschutz im Abgaben- und Steuerrecht, DStJG 15 (1993), S. 115 (134 ff.); H.-W. Arndt, Rechtsfragen einer deutschen CO2- / Energiesteuer entwickelt am Beispiel des DIW-Vorschlages, 1995, S. 52 ff.; F. R. Balmes, Verfassungsmäßig-
Die Rechtfertigung der ökologisch motivierten Steuer
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duktion entstehenden Emissionen unmittelbar nicht verbrauchsteuerfähig sind91 und auch eine CO2-Input-Steuer, sollte sie Verbrauchsteuer sein, nicht den Charakter einer Unternehmenssteuer haben dürfte. Steuerliche Output-Abgaben sind für die Ausgestaltung als besondere Verbrauchsteuer mit dem Steuerobjekt ÇO2 – Schadstoffausstoß“ nicht denkbar, da die Umwelt gerade nicht durch den Verbrauch eines Gutes, sondern durch die Produktion von CO2 belastet wird.92 Eine Anknüpfung an den „Verbrauch der Luft und Minderung der Qualität der Atmosphäre“ würde den Verbrauchsteuerbegriff nicht erfüllen. Luft und Atmosphäre werden nicht wie Ware am Markt gehandelt. Die auf europäischer Ebene diskutierten CO2 – Steuern93 knüpfen in ihrem Steuerobjekt nicht unmittelbar an den Ausstoß von CO2 oder dessen Folgen an; Verbrauchsteuerobjekte sind verschiedene umweltschädliche Energieträger94.
V. Fazit Die Zukunft der Gesellschaft der Gegenwart liegt wesentlich auch in der Bewahrung der natürlichen Lebensgrundlagen. Vor diesem Hindergrund impliziert die Gemeinwohlverantwortung des Einzelnen neben seiner sozialstaatlichen Einbindung immer mehr auch die Verantwortung für die Erhaltung der Umwelt. In diesem Kontext wurzelt auch die politische Idee der Öko-Steuer als Belastung eines umweltschädlichen Vorgangs, insbesondere Verbrauchs. Dabei ist der Steuergesetzgeber nicht auf eine steuerliche Lenkung durch Ausnahmetatbestände im keit und rechtliche Systematisierung von Umweltsteuern, 1997, S. 261 ff.; W. Köck, Umweltsteuern als Verfassungsproblem, JZ 1991, S. 692 (697); K. Meßerschmidt, Umweltabgaben im Gefüge der Finanzverfassung, in: Waldschäden als Rechtsproblem, S. 83 (93 f.); S. Müller-Franken, Verfassungs- und europarechtliche Fragen der Einführung nationaler ÖkoSteuern, JuS 1997, S. 872 (876); zur europarechtlichen Einordnung H.-W. Arndt, Rechtsfragen einer deutschen CO2- / Energiesteuer entwickelt am Beispiel des DIW-Vorschlages, 1995, insbesondere S. 102 ff.; D. Cansier, Wie lassen sich CO2- / Energiesteuern gesamtwirtschaftlich verträglich ausgestalten, BB 1998, S. 77 ff.; M. Wasmeier, Einführung einer Energiesteuer im nationalen Alleingang, RIW 1996, S. 315 ff.; grundsätzlich zu den gemeinschaftsrechtlichen Rahmenbedingungen von Energiesteuern A. T. Jobs, Steuern auf Energie als Element einer ökologischen Steuerreform, 1999, S. 251 ff. m. w. N. 91 Vgl. stellvertretend M. Kloepfer / R. Thull, Rechtsprobleme einer CO -Abgabe, DVBl 2 1992, S. 195 (203). Mit der steuerlichen Belastung des Ausstoßes von Luftschadstoffen steht weder ein Warenverbrauch noch überhaupt ein Verbrauch in Rede, sondern die Einwirkung auf die natürlichen Umweltressourcen. So auch P. Selmer, Verfassungsrechtliche und finanzrechtliche Rahmenbedingungen, in: Umweltschutz durch Abgaben und Steuern, 1992, S. 15 (36 f. m. w. N.). 92 Siehe auch M. Jachmann, in: von Mangoldt / Klein / Starck, GG, Art. 105 Rn. 57; A. T. Jobs, Steuern auf Energie als Element einer ökologischen Steuerreform, 1999, S. 187 f.; M. Kloepfer / R. Thull, DVBl 1992, S. 195 (203). 93 Dazu auch L. Giesberts, Die CO - / Energiesteuer der EG, RIW 1995, S. 847 (848). 2 94 L. Fischer, IStR 1993, S. 201 (204); A. T. Jobs, Steuern auf Energie als Element einer ökologischen Steuerreform, 1999, S. 46 f. 46*
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Rahmen einer leistungsfähigkeitsbezogenen Regelbesteuerung beschränkt. Er kann vielmehr – in den insbesondere durch Sozialstaatsprinzip und Freiheitsgrundrechte aufgezeigten Grenzen – durch ökologisch ausgerichtete spezielle Verbrauchsteuern gleichheitsimmanent an die individuelle ökologische Gemeinwohlverantwortung anknüpfen. Der Verbrauch indiziert dabei lediglich absolute Zahlungsfähigkeit, die verursachte Umweltbelastung wird zum tertium comparationis der Besteuerungsgleichheit.
Das Erlöschen von Ansprüchen nach Art. 104 a Abs. 2 GG zwischen Bund und Ländern infolge Zeitablaufs Von Ferdinand Kirchhof I. Fragestellung und Lösungsangebote in ungeschriebenen Rechtsinstituten Bund und Länder sind im gegliederten Staat in vielfältiger Weise verbunden. Führen die Länder Bundesgesetze im Auftrag des Bundes nach Art. 85 GG aus, so trägt nach Art. 104 a Abs. 2 GG der Bund die sich daraus ergebenden Ausgaben. Diese wiederkehrenden Ansprüche, z. B. aus der Kernenergie-, Luftverkehrs-, Bundeswasserstraßen- oder Bundesstraßenverwaltung1, werden oft im Jahresrhythmus erfasst und erfüllt. Der Bund bittet in einem Formularschreiben die Länder, angefallene Kosten zur Erstattung anzumelden. Nach Anmeldung werden die Ansprüche vom Bund befriedigt. Es kommt aber durchaus vor, dass ein Land auf die schriftliche Aufforderung des Bundes überhaupt nicht reagiert oder eine ausdrückliche Fehlanzeige abgibt. Jahre, manchmal sogar Jahrzehnte später taucht nicht selten doch noch ein Anspruch auf und wird angemeldet. Dann erhebt sich die Frage, ob er wegen des Zeitablaufs bereits erloschen ist. Gesetzlich positivierte Erlöschenstatbestände sind dafür nicht vorhanden. Der Rückgriff auf allgemeine Rechtsinstitute erweist sich als unerlässlich. Da das Interesse von Peter Selmer vornehmlich den Grundfragen des Finanzverfassungsrechts gilt, ist diese Festschrift der richtige Ort, dieser Frage nachzugehen. Auch im Grundgesetz enthaltene Geldleistungsansprüche gehören zum Verwaltungsrecht, wenn sie keine zentralen, materiellen, staatsorganisationsrechtlichen Beziehungen zwischen Verfassungsorganen betreffen2. Art. 104 a Abs. 2 GG gleicht die Kosten der Erfüllung von Verwaltungsausgaben aus. Der einzelne Erstattungsanspruch unterliegt deswegen den allgemeinen Regeln des Verwaltungsrechts. Als Erlöschenstatbestand eignen sich aber nur Rechtsinstitute des Verwaltungsrechts mit konturenscharfen Tatbeständen und präzisen Rechtsfolgen. Seine allgemeinen Prinzipien sind dazu untauglich, denn sie geben nur WertungsmerkArt. 87 c, 87 d Abs. 2, 89 Abs. 2 Satz 3 und 4 sowie Art. 90 Abs. 2 GG. Umschließendes materielles Verfassungsverhältnis, vgl. BVerfGE 81, S. 310, 329; vgl. ferner BVerwGE 116, S. 92, 93; 109, S. 258, 260; 96, S. 45, 48 f.; 42, S. 103, 112 ff.; 87, S. 169; DÖV 2003, S. 378, 379; BayVGH, NVwZ 1993, S. 794. 1 2
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male oder Optimierungsrichtungen vor3. Geeignete Rechtsinstitute sind von Rechtsprechung und Literatur mittlerweile entwickelt worden4. Sie erfassen Fallgruppen gleicher Rechtsproblematik und liefern typische Lösungen. Als Rechtstypus zeichnen sie den Tatbestand des Erlöschens dieser Ansprüche vor, verlangen aber noch die Bewertung im Einzelfall5. In Frage kommen die Rechtsinstitute der Verjährung, der Verwirkung, des venire contra factum proprium, des Verzichts, des Rechtsmissbrauchs und der unzulässigen Rechtsausübung.
II. Verjährung Die Verjährung von Forderungen bedarf grundsätzlich einer eindeutig positivierten Fristsetzung mit der Rechtsfolge des Erlöschens; Analogien sind – zumindest bei in der Verfassung enthaltenen Ansprüchen – unzulässig6. Derartige Verjährungsregelungen sehen vor allem §§ 194 ff. BGB im Zivil-, §§ 47, 169 ff. und 228 ff. AO im Steuer- und §§ 45 SGB I, 25, 27 SGB IV, 26, 28, 52 und 113 SGB X im Sozialrecht vor. Für Ansprüche aus Art. 104 a Abs. 2 GG existiert keine positive Verjährungsnorm. Aus der Summe der Verjährungsvorschriften der oben genannten Regeln ist kein allgemeines Rechtsinstitut der Verjährung zu bilden, denn sie sind jeweils sehr unterschiedlich ausgestaltet. Weder Zeitspanne noch Beginn der Verjährung sind identisch geregelt; im Zivil- und im Sozialrecht begründet die Verjährung grundsätzlich eine Einrede, im Steuerrecht erlöschen Ansprüche nach § 47 AO durch Verjährung. Rechtsprechung und Literatur sind sich jedoch einig, dass aus Gründen der Rechtssicherheit und des Rechtsfriedens7 irgendwann jedes relative Recht auf Befriedigung beendet sein muss; vor allem Geldleistungsansprüche müssen irgendwann erledigt sein8. Dann muss eine rechtsstaatliche Maximalfrist für Verjährung existieren. Dazu greift man auf die 30-jährige Frist des früheren Art. 195 BGB zurück9. Diese Technik führt keine Analogie trotz Notwendigkeit einer positivierten Regel durch, sondern erkennt in § 195 BGB a. F. die einfachgesetzliche Ausprägung des verfassungsrechtlichen Prinzips von Rechtssicherheit und Rechtsfrieden für das Zivilrecht und die längstmögliche Verjährungsfrist zur Wahrung dieser 3 F. Ossenbühl, in: Erichsen, Allg. Verwaltungsrecht, 11. Aufl. 1998, S. 174; F.-J. Peine, Allg. Verwaltungsrecht, 5. Aufl. 2000, S. 37. 4 F. Ossenbühl (Fn. 3), S. 173. 5 Z. B. BGHZ 146, S. 217, 224 f.; BVerwG, DVBl. 1987, S. 1276, 1277. 6 Str., so BVerfGE 102, S. 254, 295; 4, S. 31, 37; GemS, BGHZ 59, S. 396, 397 f.; a.M. BVerwGE 99, S. 101, 106; 97, S. 1, 7; BVerwG NVwZ 2002, S. 608; aber auch BVerwGE 75, S. 173, 179; 66, S. 251, 252 f.; NdsVBl 2002, S. 121, 126, 127, 128 f. 7 Z. B. BGHZ 113, S. 188, 195; 53, S. 222, 226. 8 Vgl. BVerfGE 60, S. 253, 267 ff. 9 F. Ossenbühl, Staatshaftungsrecht, 5. Aufl. 1998, S. 267, 284, 413 u. 435; Detterbeck / Windthorst / Sproll, Staatshaftungsrecht, 2000, S. 238 f.; 396, 449 f.
Das Erlöschen von Ansprüchen nach Art. 104 a Abs. 2 GG
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Prinzipien. § 195 BGB a. F. gab die äußerste Zeitspanne für eine rechtsstaatlich notwendige allgemeine Verjährungsfrist bei relativen Rechten auf allen Rechtsgebieten an. Das SchuldrechtsmodernisierungsG sieht jetzt nach § 195 BGB eine regelmäßige Verjährungsfrist von drei Jahren vor; es kann jedoch nicht das verfassungsrechtliche Geforderte einfachgesetzlich ändern. Es will zudem nur die Regelfrist setzen, während § 197 Abs. 1 BGB weiterhin die Maximalfrist mit 30 Jahren bestimmt. Heute spiegelt diese Norm das verfassungsrechtlich zur Wahrung des Rechtsfriedens und der Rechtssicherheit Geforderte mit der gleichen Zeitspanne wie bisher wieder. Das neue Recht kehrt lediglich das Regel-Ausnahmeverhältnis zwischen kurzer und langer Verjährung um. Auch die Ansprüche nach Art. 104 a Abs. 2 GG verjähren deshalb spätestens nach 30 Jahren. Ob nach dem Modell des Zivil- und Sozialrechts nach 30 Jahren der Forderung eine Einrede entgegensteht oder ob sie nach § 47 AO erlischt, ist ungeklärt. Der materielle Untergang des Anspruchs dürfte die rechtsstaatlich richtige Lösung sein. Eine Einrede gibt dem Schuldner Gestaltungsmöglichkeiten, die in zivilrechtlichen Ansprüchen privatautonom miteinander verkehrenden Rechtssubjekten zustehen; im Sozialrecht ist die Rechtsfolge der Einrede zutreffend, um den einem Erstattungsanspruch ausgesetzten Bürger zu schonen oder die Geltendmachung eines sozialrechtlichen Anspruchs seinem Willen zu überlassen. Ansprüche zwischen Bund und Ländern betreffen aber zu Sparsamkeit und Wirtschaftlichkeit verpflichtete Körperschaften, die regelmäßig alle Gestaltungsmöglichkeiten zur Beendigung des Rechts ausnutzen müssen. Für eine Einrede gesonderter Willensbetätigung ist kein Raum mehr. Nach Ablauf von 30 Jahren sind also Ansprüche aus Art. 104 a Abs. 2 GG erloschen, wenn sie nicht vorher geltend gemacht wurden10.
III. Verwirkung 1. Inhalt und Grundlagen Die Verwirkung eines Anspruchs beruht auf seiner illoyalen, verspäteten Geltendmachung11 zu einer Zeit, in welcher der Anspruchsgegner nicht mehr mit ihr rechnen musste und sich darauf eingestellt hatte, dass er nicht mehr erhoben wird. Das Rechtsinstitut ist allgemein im Zivilrecht12 und im Öffentlichen Recht13 aner10 Streitig ist in der Rechtsprechung aber noch, ob erst eine (Ab-) Rechnung die Verjährungsfrist in Gang setzt. Vgl. BGHZ 113, S. 188, 192 ff.; 79, S. 180, 181 f.; 73, S. 363, 367 ff.; 53, S. 222, 225 f.; aber auch 79, S. 176, 178. 11 Z. B. BVerfGE 32, S. 305, 308; BFHE 126, S. 130, 137; BVerwG, DVBl. 1966, S. 600, 601; BSGE 7, S. 199; 47, S. 194, 196; 54, S. 257, 258. 12 BGHZ 91, S. 62, 71 f. 13 BVerfGE 27, S. 231, 236; BVerwG, NVwZ 1991, S. 1182, 1184; BFHE 126, S. 130, 137; BSGE 47, S. 194, 196; 54, S. 257, 258.
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kannt. In zahlreichen spezialgesetzlichen Normen wird eine Verwirkung ausdrücklich angeordnet oder ausgeschlossen14. Auch der ausdrückliche Ausschluss durch Gesetz belegt, dass grundsätzlich eine Verwirkung in Frage kommt. Grundsätzlich können alle dispositiven oder ähnlichen Rechtspositionen, auch Erstattungsansprüche15, verwirkt werden16. Die Verwirkung tritt durch objektives Verhalten ein17; die Kenntnis oder ein Kennenmüssen des Inhabers der Rechtsposition bleibt ohne Belang. Ihre Tatbestandsmerkmale werden in der Betrachtung durch objektive Dritte festgestellt18. Die Verwirkung führt zum Erlöschen des Anspruchs19; wenn sogar die Verjährung im öffentlichen Schuldrecht nach §§ 232, 47 AO den materiellen Untergang des Rechts bewirkt, muss die Verwirkung, die neben einem Zeit- noch ein zusätzliches Verhaltensmerkmal verlangt, umso mehr zum Erlöschen führen. Das Rechtsinstitut beruht auf zwei Prinzipien des Rechtsstaats, nämlich auf der Rechtssicherheit20 und auf Treu und Glauben21. Zur Herstellung von Rechtssicherheit mündet die Nichtausübung in einem Untergang des Rechts. Nach dem Grundsatz von Treu und Glauben beruht diese Rechtsfolge auf dem Verhalten beider Beteiligter. Die Verwirkung stützt sich in bestimmten Fallgruppen auf zusätzliche Grundlagen, z. B. auf die intensive Bindung in Dauerschuldverhältnissen22 oder die Rücksichtnahmegebote des Nachbarschaftsverhältnisses im Baurecht23. Die Verwirkung von Ansprüchen nach Art. 104 a Abs. 2 GG wird vom Grundsatz der Z. B. §§ 21 MarkenG, 4 Abs. 2 Satz 2 TVG, 77 Abs. 4 Satz 3 BetrVG. BVerwGE 5, S. 136, 139; NJW 1974, S. 2247, 2248. 16 Z. B. BSGE 7, S. 199 u. 201; BVerwGE 7, S. 54, 56; VGH Bad.-Württ., VBlBW 1995, S. 433. Sonderfälle der Verwirkung im Arbeits- und im Gesellschaftsrecht, wo Verwirkung bereits bei einer groben Verletzung vertraglicher Treuepflichten wegen der intensiven Bindung zwischen den Beteiligten eintritt, ohne dass eine zeitliche Komponente der Verspätung hinzutreten muss, und die Verwirkung einer Vertragsstrafe nach § 339 BGB bleiben wegen ihrer besonderen Konstellation oder ihrer irreführenden Etikettierung außer Betracht. Z. B. J. Kokott, Missbrauch und Verwirkung von Souveränitätsrechten bei gravierenden Völkerrechtsverstößen, FS Rudolf Bernhardt, 1995, S. 135. 17 BFHE 83, S. 441, 445; U. Rath, Die Verwirkung im Steuerrecht, 1981, S. 57. 18 BGHZ 146, S. 217, 220. 19 BVerwG, NVwZ 1991, S. 1182, 1183; DÖV 1970, 498; M. Brenner, Grundrechtsschranken und Verwirkung von Grundrechten, DÖV 1995, S. 60, 62; C.H. Lohmann, Die Verwirkung eines Rentenanspruchs, SozVers. 1968, S. 167, 170. Unstreitige Ausnahme bei Art. 18 GG, G. Dürig, Die Verwirkung von Grundrechten nach Art. 18 des Grundgesetzes, JZ 1952, S. 513, 514. 20 BVerfGE 32, S. 305, 308; F. Ossenbühl, Verzicht, Verwirkung und Verjährung als Korrektive einer polizeilichen Ewigkeitshaftung, NVwZ 1995, S. 547, 550. 21 Z. B. BVerfGE 81, S. 97, 107; BVerwGE 115, S. 302, 310; 110, S. 226, 236; 48, S. 247, 251; 44, S. 294, 298 f.; BGHZ 146, S. 217, 220; BSGE 47, S. 194, 196; BFHE 126, S. 130, 137; 83, S. 441, 444; OVG M.-V., NVwZ-RR 2003, S. 15, 16. 22 BGHZ 91, S. 62, 72. 23 BVerwGE 44, S. 294, 299; BVerwG, NJW 1998, S. 329; OVG M.-V., NVwZ-RR 2003, S. 15, 16. 14 15
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Bundestreue mitgeprägt, der Bund und Länder trotz ihrer Eigenstaatlichkeit zu einem einverständlichen Zusammenwirken zum Wohle des Gesamtstaates verbindet. 2. Tatbestand a) Zeitmerkmal Ihr Tatbestand enthält ein Zeit- und ein Umstandsmerkmal24. Da die Verwirkung einen Rechtstypus bildet, können in der konkreten Subsumtion beide Merkmale unterschiedliches Gewicht erhalten25, sich im Extremfall sogar gegenseitig ersetzen. Das Zeitmerkmal verlangt, dass der Anspruch vom Inhaber nach seiner Entstehung innerhalb einer gewissen Zeitspanne nicht geltend gemacht wird, obwohl er es könnte26. Der Anspruch muss schon entstanden27 sein. Über die Dauer der für eine Verwirkung erforderlichen Zeit besteht Streit. Sie wird fast völlig vom Einzelfall bestimmt28; eine generelle Aussage ist nicht möglich29. Die Gerichte haben eine Verwirkung bereits angenommen, nachdem zwei Wochen verstrichen waren, aber auch ihren Eintritt nach Ablauf von 20 Jahren noch abgelehnt30. Die Verwirkung kann schon vor Verjährung eintreten31. Eine Verjährungsfrist währt grundsätzlich länger, denn sie beendet das Recht wegen bloßer Untätigkeit, während zur Verwirkung als zweites, konstitutives Tatbestandselement das Verhalten von Gläubiger und Schuldner hinzutritt. b) Umstandsmerkmal Neben dem Zeitmerkmal bedarf die Verwirkung noch der Erfüllung des Umstandsmerkmals, das sich aus vier Elementen zusammensetzt. aa) Verwirkungsverhalten Das erste Element bildet das Verwirkungsverhalten. Der Inhaber der Rechtsposition bleibt qualifiziert untätig32, d. h., er macht den Anspruch nicht geltend, ob24 BVerfGE 32, S. 305, 308; BVerwG, NVwZ 1995, S. 703; BFHE 147, S. 409, 412; BSGE 47, S. 194, 196; BGHZ 146, S. 217, 220. 25 BGHZ 146, S. 217, 224. 26 U. Rath (Fn. 17), S. 23. 27 BVerwGE 48, S. 247, 250. 28 U. Rath (Fn. 17), S. 39; OVG M.-V., NVwZ-RR 2003, S. 15, 16. 29 BVerwG, NVwZ 1991, S. 1182, 1183. 30 Zu den Fristen vgl. U. Rath (Fn. 17), S. 32 Fn. 1; A. Menzel, Grundfragen der Verwirkung, 1987, S. 71 m.w.Nachw. 31 Str.; so z. B. BGHZ 91, S. 62, 71 f.; OVG M.-V., NVwZ-RR 2003, S. 15, 16. 32 BFHE 123, S. 299, 304.
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wohl jeder Dritte vernünftigerweise dessen Befriedigung verlangt hätte33,34. Das Verwirkungsverhalten enthält also eine Obliegenheitsverletzung im Sinne eines objektiven35 Verschuldens gegen sich selbst36. bb) Qualifiziertes Unterlassen und Bundestreue Bei Ansprüchen aus Art. 104 a Abs. 2 GG prägt der Grundsatz der Bundestreue den Tatbestand qualifizierter Untätigkeit. Er verbindet die souveränen Gliedstaaten37 in einer dauerhaften Beziehung zum Bundesstaat38 und verpflichtet zu gegenseitiger Rücksichtnahme39. Der Grundsatz der Bundestreue gilt akzessorisch40. Er ruft keine selbständigen Pflichten hervor, sondern intensiviert vorhandene Bindungen. Der Anspruch aus Art. 104 a Abs. 2 GG bildet das Rechtsverhältnis, das vom Grundsatz der Bundestreue mit der wechselseitigen Pflicht zu bundesfreundlichem Verhalten versehen wird41. Einzelne Ausprägungen sind die Vorgaben zum Stil der Verhandlungen zwischen Bund und Ländern42, zum Ausschluss missbräuchlicher Interessenwahrnehmung43, zur zumutbaren Rücksicht auf das Gesamtinteresse des Bundesstaates bei der Wahrnehmung von Kompetenzen44 und zur Rücksichtnahme auf das gesamte Finanzgefüge von Bund und Ländern45. Die Pflicht zur Rücksichtnahme, insbesondere auf das Finanzgefüge, verbietet es den Ländern, ihren Erstattungsanspruch vor sich herzuschieben und nur an aktuellen Finanzbedürfnissen46 zu orientieren. Wenn sie einen Anspruch nach Art. 104 a Abs. 2 GG besitzen, müssen sie ihn unverzüglich beim Bund annoncieren und erheben. Wenn der Bund sogar mit formularmäßigen, periodischen Anfragen eventuelle Ansprüche abfragt, besteht eine Pflicht zur Antwort in adäquater Zeit. 33
BVerwGE 69, S. 227, 236 f.; BSGE 47, S. 194, 196; BayVGH, NVwZ-RR 1994, S. 241,
242. 34 Vgl. BVerfGE 32, S. 305, 308; BayVGH, NVwZ-RR 1994, S. 241, 243; R. Stich, Die Verwirkung im Verwaltungsrecht, DVBl. 1959, S. 234, 237; D. Carl, Die Verwirkung im Abgabenrecht, DStZ 1988, S. 529, 531. 35 Z. B. BFHE 83, S. 441, 445; U. Rath (Fn. 17), S. 23. 36 U. Rath (Fn. 17), S. 90. 37 H. Bauer, Die Bundestreue, 1992, S. 294 f. 38 BVerfGE 92, S. 203, 230 f.; 61, S. 149, 205; 12, S. 205, 254. 39 BVerfGE 61, S. 149, 205; VerfGH NRW, NVwZ 1988, S. 188, 189. 40 BVerfGE 42, S. 103, 117; 21, S. 312, 326; 13, S. 54, 75; NJW 1998, 219, 221; BVerwGE 50, S. 137, 148; H.J. Faller, Das Prinzip der Bundestreue in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, FS Theodor Maunz, 1981, S. 53, 62. 41 BVerfGE 92, S. 203, 230 f.; 61, S. 149, 205; 12, S. 205, 254. 42 BVerfGE 12, S. 205, 255. 43 BVerfGE 61, S. 149, 205. 44 BVerfGE 92, S. 203, 230 f.; 81, S. 310, 337; 43, S. 291, 348; 34, S. 216, 232; 32, S. 199, 218. 45 BVerfGE 12, S. 205, 254. 46 BVerwGE 50, S. 137, 148.
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cc) Qualifiziertes Unterlassen und Einnahmeerhebungsgebot Die Obliegenheit des Landes zur raschen Anmeldung seiner Ansprüche geht auch aus § 34 der Haushaltsordnungen47 und § 19 Abs. 1 HGrG hervor48. Bund und Länder müssen ihre Einnahmen rechtzeitig und vollständig erheben. Die Vorschrift betrifft sämtliche Einnahmen49 ohne Rücksicht auf ihre Herkunft. Diese zentrale Vorschrift50 dient der Wahrung der Wirtschaftlichkeit i. S. d. Art. 114 Abs. 2 GG und der Vermeidung überhöhten Kreditbedarfs51. Die Länder sind mithin objektiv-rechtlich gehalten, bestehende Ansprüche unverzüglich geltend zu machen. Eine Untätigkeit trotz bestehenden Anspruchs stellt demnach kein einfaches, sondern ein qualifiziertes Unterlassen dar, weil es gegen eine objektive Rechtspflicht verstößt. dd) Qualifiziertes Unterlassen und Auskunftspflicht Überdies fordert § 17 StWG, dass Bund und Länder sich gegenseitig die Auskünfte erteilen, die zur Durchführung einer konjunkturgerechten Haushaltswirtschaft und zur Aufstellung ihrer Finanzpläne notwendig sind. Diese Pflicht, Auskünfte zu erteilen, besteht nur auf Anfrage eines Beteiligten, erstreckt sich dann aber auf alle Fakten und Maßnahmen von finanzieller Relevanz52. Sie erlaubt jedem Gliedstaat die Anfrage an einen anderen zu den finanziellen Verhältnissen zwischen beiden, wenn sie zur Aufstellung oder Durchführung des Haushalts oder zur Finanzplanung erforderlich sind. Wenn der Bund zur Begleichung gliedstaatlicher Forderungen periodische Anfragen an die Länder richtet, sind sie nach § 17 StWG gehalten, diese zu beantworten. Ein Schweigen zeigt keine reine Untätigkeit, sondern ein qualifiziertes Unterlassen. ee) Vertrauensgrundlage Das Verwirkungsverhalten des Gläubigers schafft nach außen eine Sachlage, in der ein objektiver Dritter darauf vertrauen darf, dass der Anspruch nicht mehr geltend gemacht wird53. Diese Vertrauensgrundlage bildet sich ebenfalls nach den In Bund und Ländern mit gleichem Text. Ebenso Vorl. VV-BHO zu § 34. 49 E.A. Piduch, Bundeshaushaltsrecht, Erl. 2 zu § 34 BHO. 50 W. Patzig, Haushaltsrecht des Bundes und der Länder, Erl. 1 zu § 34 BHO. 51 E.A. Piduch (Fn. 49), ebd. 52 A. Möller, Komm. z. StWG, 2. Aufl. 1969, Erl. 2 zu § 17; Stern / Münch, StWG, 1967, Erl. 4 zu § 17. 53 BVerwG, NVwZ 1991, S. 1182, 1184; BVerwGE 115, S. 302, 310; BSGE 47, S. 194, 196; VGH Bad.-Württ., VBlBW 1992, S. 103, 104; BayVGH, NVwZ-RR 1994, S. 241, 252; OVG Thür., NVwZ-RR 2001, S. 623, 625; U. Rath (Fn. 17), S. 23; E. Jung, Verjährung, Ausschluss und Verwirkung von sozialrechtlichen Ansprüchen, ZfSH / SGB 1988, S. 16, 22; D. Carl, (Fn. 34), S. 529, 531. 47 48
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Umständen des Einzelfalls. Bei seiner Bewertung spielen die für den Fall einschlägigen Normen, die Verwaltungspraxis der Beteiligten und ähnliche Aspekte eine wichtige Rolle. Entscheidend ist, dass nach Treu und Glauben Dritte davon ausgehen durften, der Gläubiger würde nichts mehr fordern. ff) Vertrauenstatbestand Da die Verwirkung sich auf Treu und Glauben stützt, genügt das nach außen erkennbare, qualifizierte Verhalten des Rechtsinhabers nicht allein54. Der Schuldner muss sich auch tatsächlich darauf eingerichtet haben, dass der Anspruch nicht mehr eingefordert wird55. Dies betrifft seine innere Einschätzung der Vertrauensgrundlage; sie muss aber durch vertrauenskausale Dispositionen nach außen erkennbar werden56. gg) Nachteilstatbestand Zuletzt muss aus der verspäteten Geltendmachung dem Anspruchsgegner ein unzumutbarer, gegen Treu und Glauben verstoßender Nachteil entstehen57, denn ein Recht soll nur untergehen, wenn seine Betätigung den Schuldner belastet; anderenfalls besteht kein Interesse am Eintritt der Verwirkung.
3. Fälle der Verwirkung des Anspruchs aus Art. 104 a Abs. 2 GG nach Anfrage des Bundes a) Fehlanzeige des Landes auf Anfrage des Bundes Eine Verwirkung von Ansprüchen nach Art. 104 a Abs. 2 GG tritt ein, wenn ein Land auf die jährliche, formularmäßige Anfrage des Bundes, ob ein Anspruch geltend gemacht werde, mit einer ausdrücklichen Fehlanzeige antwortet. Zwar fällt BVerwG, DVBl. 1987, S. 1276, 1277. Z. B. BVerwGE 115, S. 302, 310; 69, S. 227, 236 f.; BFHE 126, S. 130, 138 f.; BSGE 7, S. 199, 201; BGHZ 146, S. 217, 220; BayVGH, NVwZ-RR 1994, S. 241, 242; OVG Thür., NVwZ-RR 2001, S. 623, 625; H. Schmid, Die Verwirkung im Abgabenrecht, KStZ 1980, S. 41, 43; E. Jung (Fn. 53), S. 16, 22; D. Carl (Fn. 34), S. 529, 531. Eines zusätzlichen Merkmals der Vertrauensbetätigung (so zuletzt OVG M.-V., NVwZ-RR 2003, S. 15, 16) bedarf es nicht mehr; es ist im Vertrauenstatbestand enthalten. 56 BVerwG, NVwZ 1991, S. 1182, 1184 f.; BSGE 7, S. 199, 201; 47, S. 194, 196; BFHE 147, S. 409, 412; 130, S. 90, 95 f.; 126, S. 130, 138 f.; 88, S. 42, 43; VGH Bad.-Württ., VBlBW 1992, S. 103, 104 (mit anderem Begriff). 57 BVerwG, NVwZ 1991, S. 1182, 1184; BGHZ 146, S. 217, 225; NVwZ 1998, S. 289, 290; BFHE 126, S. 130, 138 f.; BSGE 7, S. 199, 201; VGH Bad.-Württ. VBlBW 1992, S. 103, 104 (mit anderem Begriff); OVG Thür., NVwZ-RR 2001, S. 623, 625; U. Rath (Fn. 17), S. 23 u. 107; R. Stich (Fn. 34), S. 234, 237, E. Jung (Fn. 53), S. 16, 22 (mit anderem Begriff); ähnlich D. Carl (Fn. 34), S. 529, 531. 54 55
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bei pünktlicher Abgabe der Fehlanzeige im nächsten Haushaltsjahr das Zeitmerkmal klein aus; die besondere Bekundung wiegt es jedoch im Umstandsmerkmal wieder auf. Erklärt ein Land auf Anfrage dem Bund ausdrücklich, dass Kosten entweder nicht entstanden seien oder nicht angefordert würden, verneint es als Gläubiger im Erhebungsverfahren schriftlich gegenüber dem Schuldner den Anspruch; besteht er dennoch, so verletzt es die Obliegenheit, seine subjektiven Rechte durchzusetzen. Ein objektiver Dritter dürfte auf diese Erklärung vertrauen, denn sie wurde von der zuständigen Behörde im einschlägigen Verfahren mit eindeutigem Inhalt abgegeben. Eine Vertrauensgrundlage ist durch diese ausdrückliche Erklärung vorhanden. Der Vertrauenstatbestand fordert, dass der Verpflichtete tatsächlich auf die Nichtgeltendmachung vertraut hat und dies durch kausale Dispositionen nach außen bekundet. Eine Fehlanzeige beantwortet der Bund aber nicht. Er gibt jedoch bereits mit der Aufforderung zur Anmeldung von Erstattungsansprüchen zu erkennen, dass er sich auf deren Begleichung im laufenden Haushaltsjahr einrichtet. Sofern entsprechende Haushaltstitel für derartige Forderungen im Bundeshaushalt vorhanden sind, will er mit den dort bereitgestellten Mitteln die Erstattungsansprüche begleichen. Nach geltendem Recht verfallen grundsätzlich alle Haushaltstitel zu Ende des Haushaltsjahres. Seine Disposition im Haushalt geht fehl. Selbst wenn kein Titel für eventuelle Erstattungsforderungen im Bundeshaushalt bestünde, ist den beteiligten, dem Haushaltsrecht unterworfenen Gliedkörperschaften bewusst, dass wegen der Jährlichkeit des Haushalts58 und des Gesamtdeckungsprinzips alle in einem Jahr anfallenden Forderungen aus laufenden Haushaltsmitteln beglichen werden. Der Bundeshaushalt stellt grundsätzlich Mittel für alle laufenden Ausgaben des Jahres bereit; sie verfallen zu Ende des Jahres. Die Disposition des Bundes liegt also in der Bereitstellung der Gesamtmittel. Die sukzessive Abfolge von Anforderung, Erklärung und Begleichung in dem der Kostenentstehung folgenden Haushaltsjahr belegt, dass der Bund sich in seinem Finanzverhalten darauf einstellt, dass bis Ende des Jahres grundsätzlich alle bestehenden Forderungen beglichen werden; danach disponiert er seine gesamten Haushaltsmittel oder den entsprechenden Titel aufs Neue für andere Aufgaben. Diese im Gesamthaushalt und im Abfrageverfahren bekundete Disposition wird von der Fehlanzeige durchkreuzt. Der Vertrauenstatbestand durch kausale Dispositionen ist erfüllt. Ein für den Bund unzumutbarer Nachteil durch die verspätete Geltendmachung liegt in der Durchkreuzung seiner Haushaltsplanungen und seiner Haushaltsbeweglichkeit. Die Anfrage an die Länder, Erstattungsansprüche nach Art. 104 a Abs. 2 GG anzumelden, soll sicherstellen, dass eventuelle Forderungen aus dem laufenden Haushalt befriedigt werden. Wenn sie erst in späteren Haushaltsjahren, u. a. erst Jahrzehnte nach Kostenentstehung, erhoben werden, wird eine geordnete Planung unmöglich, denn sie ist auf Periodisierung in Jahreszyklen angelegt59. Das 58 59
Z. B. BVerfGE 87, S. 153, 179. BVerfGE 87, S. 153, 179; 81, S. 363, 385.
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Bundesverfassungsgericht hat den Grundsatz der Planbarkeit und Vorhersehbarkeit des Haushalts sogar als Verfassungsposition anerkannt. Es gesteht verfassungswidrigen Gesetzen über finanzielle Belastungen befristete Weitergeltung zu, damit sich der Haushaltsgesetzgeber auf die veränderte Einnahmenlage einstellen kann60. Der Grundsatz verhindert ferner, dass aktuelle Steuermittel einen Finanzbedarf aus früheren Haushaltsjahren ausgleichen. Laut Bundesverfassungsgericht ist das staatliche Finanzierungssystem nicht darauf angelegt, Altfälle monetär zu erledigen sondern den aktuellen Finanzbedarf des Staates mit gegenwärtigen Steuermitteln zu begleichen61. Eine verspätete Erhebung von Erstattungsansprüchen nach Art. 104 a Abs. 2 GG würde Finanzmittel aus laufendem Steueraufkommen zur Begleichung von Forderungen aus vergangenem Aufwand beanspruchen. Der gegenwärtige Bundeshaushalt wird durch die verspätete Geltendmachung belastet. Bei Abgabe einer Fehlanzeige ist ein Anspruch aus Art. 104 a Abs. 2 GG deshalb stets verwirkt.
b) Schweigen des Landes auf Anfrage des Bundes Erfolgt auf die Anfrage des Bundes überhaupt keine Reaktion, ist das Zeitmerkmal regelmäßig bereits nach Ablauf des folgenden Haushaltsjahres erfüllt, denn die formularmäßige, periodische Anfrage im Jahresrhythmus erwartet eine synchrone Antwort62. Zum Umstandsmerkmal gilt im Wesentlichen das zur Fehlanzeige Vorgetragene. Das Verwirkungsverhalten besteht in der Untätigkeit, d. h. der Nichterhebung der Forderung gegenüber dem Bund. Es wird qualifiziert zum einen durch dessen ausdrückliche Aufforderung, die eine baldige Antwort erheischt, aber nicht erhält. Jeder vernünftig handelnde Anspruchsinhaber reagiert, wenn sein Schuldner ihn bittet, den entstandenen Anspruch geltend zu machen. Bereits hierin liegt eine Obliegenheitsverletzung. Zum anderen darf ein Land im Erstattungsrechtsverhältnis nicht nur sein Interesse berücksichtigen, sondern muss auch auf die Belange des Schuldners Bund achten. Diesem liegt – wie bereits dargetan – wegen der Jährlichkeit des Haushalts und des Grundsatzes der planbaren und verlässlichen Finanzwirtschaft daran, dass eventuelle Ansprüche im auf die Entstehung folgenden Jahr beglichen werden. Er hat dies durch seine schriftliche Aufforderung bekundet und so eine Verwaltungspraxis schneller Feststellung der Erstattungsansprüche entwickelt. Das Schweigen eines Landes auf die Anforderung über den Ablauf des gegenwärtigen Haushalts60 Z. B. BVerfGE 86, S. 148, 277 ff. m. w. Nachw.; 72, S. 330, 422; 93, S. 121, 148; 97, S. 35, 48. 61 BVerfGE 87, S. 153, 178 f.; 81, S. 363, 385. 62 Der Ablauf längerer Zeitspannen von bis zu 30 Jahren könnte die Verwirkung sogar allein begründen; BGHZ 146, S. 217, 224 f.
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jahres hinaus verletzt den Grundsatz der Bundestreue. Das Schweigen enthält deshalb eine qualifizierte Untätigkeit. Die qualifizierte Untätigkeit entfällt nur, wenn besondere Sachgründe zur Verzögerung der Erklärung bestehen. Sie können in der Schwierigkeit der Ermittlung der Kosten oder in Meinungsverschiedenheiten zwischen Bund und Ländern über deren Erstattungsfähigkeit liegen. Im ersteren Fall besteht kein objektiver Verstoß gegen Bundestreue und Haushaltsrecht; dann ist aber hinsichtlich vom Land zumindest ein Zwischenbescheid zu erwarten. Im zweiten Fall würde kein Verwirkungsverhalten vorliegen, weil beide Teile wissen, dass das Land den Anspruch erheben will und sie sich noch über dessen Vorliegen streiten. Die Vertrauensgrundlage ergibt sich aus dem Eindruck, den der Gläubiger erweckt, keine Erstattungsanforderungen mehr geltend zu machen. Da die Beziehungen beider Beteiligter vom Grundsatz der Bundestreue sowie vom Haushaltsrecht allgemein geprägt sind, kann ein objektiver Dritter davon ausgehen, bei Ausbleiben der Antwort würde im Einzelfall kein Anspruch mehr erhoben. Vertrauens- und Nachteilstatbestand liegen aus den zur Fehlanzeige genannten Gründen vor. In der Regel führt somit ein Schweigen des Landes auf die Aufforderung des Bundes zur Anmeldung von Erstattungsansprüchen zu einer Verwirkung im Folgejahr. Eine spätere Nachmeldung kann die bereits eingetretene Verwirkung nicht mehr beseitigen63.
c) Unvollständige Kostenanzeige Die Antwort eines Landes auf die Aufforderung des Bundes Erstattungsforderungen anzumelden, kann auch unvollständig sein. Wenn nur ein Teil der tatsächlich angefallenen Kosten angemeldet wird, ist wie bei vollständig fehlender Reaktion der Fehlteil in der Regel verwirkt. Eine Teilanmeldung ohne Vorbehalt weiterer Anforderung gibt die Vertrauensgrundlage, dass nicht „noch mehr kommt“. Sie bestärkt sogar den Vertrauenstatbestand beim Bund, der bei der Anmeldung von Kostenpositionen ohne den Hinweis, dass später noch weitere angefordert würden, davon ausgeht, dass die Anmeldung vollständig ist. Erfasst eine Anmeldung alle Aufwendungen dem Grunde nach, beziffert, begründet oder belegt sie jene jedoch noch nicht abschließend, so tritt grundsätzlich keine Verwirkung ein. Es fehlt bereits das Verwirkungsverhalten, denn das Land gibt zu erkennen, dass es grundsätzlich die Erstattungsforderung erhebt; es fehlen nur einzelne Unterlagen oder Spezifikationen dazu. Der Bund weiß, dass die Anforderung noch konkretisiert wird. Eine Verwirkung könnte allenfalls dann angenommen werden, wenn die notwendige Spezifizierung verschleppt würde. Eigene 63 Eine eingetretene Verwirkung kann nicht durch spätere Ereignisse wieder beseitigt werden; BayVGH, NVwZ-RR 1994, S. 241, 242.
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Aufklärungsschwierigkeiten eines Landes bei der Anmeldung von Forderungen rechtfertigen oft eine Verzögerung. Verzögerungen in der Abwicklung von Erstattungsverfahren, die auf Meinungsverschiedenheiten zwischen Land und Bund beruhen, führen nicht zur Verwirkung. Dabei ist ohne Belang, ob sich der Dissens auf den Sachverhalt, dessen rechtliche Bewertung oder seine Belege bezieht. Die Forderungen sind angemeldet. Meinungsverschiedenheiten stellen klar, dass der Anspruch geltend gemacht werden soll. Es bleibt sogar bei längeren Rechtsstreitigkeiten vor Gericht ohne Bedeutung, dass unterschiedliche Ansichten über Tatsachen und ihre rechtliche Bewertung den Abschluss von Verfahren verzögern.
IV. Venire contra factum proprium nemini conceditur 1. Grundlagen, Tatbestand und Rechtsfolgen Das Rechtsinstitut des venire contra factum proprium ist ebenfalls ein von Literatur und Rechtsprechung aus rechtsstaatlichen Grundsätzen entwickelter Typusbegriff64. Es ergibt sich aus einem selbstwidersprüchlichen, sachlich unvereinbaren Verhalten einer Person65; ein Zeitelement ist nicht notwendig66. Das Rechtsinstitut ist situations- statt rechtsbezogen. Im Tatbestand erfordert es ein Vor- und ein Nachverhalten; beide werden mit Erklärungswert nach außen bekundet. Das Nachverhalten ist in der Person des Erklärenden67 sachlich unvereinbar mit ihrem Vorverhalten68. Auf der Seite des Verpflichteten oder Dritten, der sich auf das Verbot beruft, muss ein Vertrauen in das Vorverhalten entstehen, das tatsächlich betätigt wird, vom Vorverhalten verursacht wurde und schutzwürdig ist69. Das Verbot hat eine Bindung des Handelnden an das geäußerte Vorverhalten und damit eine Nichtberücksichtigung des widersprüchlichen Nachverhaltens zur Rechtsfolge70. Grundlagen des Verbots des venire contra factum proprium bilden die rechtsstaatlichen Prinzipien der Rechtssicherheit, vor allem der Kontinuität des Rechts in 64 Der ebenfalls oft anders benannt wird; z. B. VGH Bad.-Württ., NVwZ-RR 1996, S. 191; H. W. Dette, Venire contra factum proprium nemini conceditur, 1985, S. 31. 65 Z. B. BVerwGE 66, S. 256, 259; NVwZ 1991, S. 1182, 1185; VGH Bad.-Württ., VBlBW 1995, S. 433 m. w. Nachw.; Chr. Knödler, Mißbrauch von Rechten, selbstwidersprüchliches Verhalten und Verwirkung im öffentlichen Recht, 2000, S. 4 u. 200; H. Bauer (Fn. 37), S. 358. 66 Menzel, Grundfragen der Verwirkung, S. 13 f.; U. Rath (Fn. 17), S. 27; Chr. Knödler, (Fn. 65), S. 200. 67 BFH, DStR 1996, S. 1201. 68 Z. B. H. W. Dette (Fn. 64), S. 49 f. 69 Eine Auflistung der Tatbestandsmerkmale bei H.W. Dette (Fn. 64), S. 57 ff. 70 BVerwG, NVwZ 1995, S. 974, 975.
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der Zeit, das Vertrauen Dritter auf Rechtsbekundungen anderer und die rechtliche Bindungsfähigkeit eines Rechtssubjekts71. In Einzelfällen können wieder besondere Elemente hinzutreten, hier z. B. der Grundsatz der Bundestreue, auf den manche Autoren mittlerweile dieses Verbot sogar ausschließlich stützen72. Die Bindung an das Vorverhalten lässt Ansprüche, die ausdrücklich verneint wurden, erlöschen.
2. Anforderung von Kosten trotz früherer Fehlanzeige Ein Untergang der Erstattungsforderungen wegen Verstoßes gegen das Verbot des venire contra factum proprium kommt bei der Fehlanzeige und dem Schweigen eines Landes auf die Aufforderung des Bundes zur Anmeldung in Betracht, wenn die später dennoch erhobene Forderung ihm widerspricht. Gibt ein Land auf die jährliche Formularanfrage des Bundes nach Ansprüchen aus Art. 104 a Abs. 2 GG eine Fehlanzeige ab, so äußert es entweder in einer Wissenserklärung, dass kein Anspruch besteht, oder in einer Willenserklärung, dass es einen Anspruch nicht geltend machen will. Das Anschreiben des Bundes als Frage des Bundes an die Länder und die Fehlanzeige als korrespondierende Antwort der Länder an den Bund sowie die jährliche Praxis der Anforderungen lassen keinen Zweifel, dass sich in diesem Verfahren die Länder abschließend über das Bestehen derartiger Forderungen und den Wunsch nach Befriedigung äußern. Wenn sie später trotzdem Erstattungsansprüche anfordern, setzen sie sich dazu in sachlichen Selbstwiderspruch. Der Bund darf auf Fehlanzeigen, d. h. auf das Vorverhalten, vertrauen. Wie bereits zum Haushaltsrecht und zum Grundsatz der Bundestreue erläutert, bestehen in diesem Erstattungsverhältnis zwischen Bund und Ländern besondere Pflichten. Das Land unterliegt vor allem der Verpflichtung, auf die Aufforderung des Bundes vollständig und unverzüglich seine Ansprüche nach Art. 104 a Abs. 2 GG geltend zu machen. Wegen der besonderen staatsorganisationsrechtlichen Pflichtenbindung des Landes ist das Vertrauen des Bundes schutzwürdig. Ferner hat er ein ersichtliches Interesse an einer raschen Befriedigung eventueller Ansprüche im laufenden Haushaltsjahr. Der Bund hat sein Vertrauen mit Beginn eines neuen Haushaltsjahres und neuer Zuordnung der Ausgabetitel und Finanzmittel betätigt.
71 Terminologisch finden sich bei diesem Verbot fast alle topoi für Rechtsprinzipien, z. B. Treu und Glauben; BFH, DStR 1996, S. 1201; BSGE 57, S. 179, 181; VGH Bad.-Württ., VBlBW 1995, S. 433. 72 H. Bauer (Fn. 37), S. 358.
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3. Anforderung trotz vorangehenden Verschweigens Erklärt sich ein Land auf die Aufforderung des Bundes zur Anmeldung überhaupt nicht, so fehlt es an einem positiven Vorverhalten. Insoweit ist kein Widerspruch zu einer späteren Geltendmachung möglich. Anders wäre nur zu entscheiden, wenn man das Schweigen auf die Anforderung einem positiven Tun gleichsetzt. Grundsätzlich steht es jedoch nicht einer positiven Erklärung gleich. Es müssten vielmehr besondere Umstände hinzutreten, die das Schweigen auf dieselbe Stufe mit einer positiven Erklärung stellten. Wie bereits dargelegt, sind die Länder aufgrund Haushaltsrechts und des Grundsatzes der Bundestreue verpflichtet, im laufenden Haushaltsjahr der Anforderung auf eine Anfrage des Bundes zu reagieren. Dennoch ist die fehlende Reaktion nicht auch als widersprüchliches Vorverhalten zu werten, denn bloßes Abwarten trotz objektiver Erklärungspflicht gibt vielleicht Interesselosigkeit kund, äußert aber keine gegensätzlichen Interessen. Angelpunkt des Rechtsinstituts ist aber der Selbstwiderspruch, den der Erklärende hervorruft; die Nichterfüllung von Pflichten begründet zwar einen Rechtsverstoß, aber noch keinen Selbstwiderspruch.
V. Verzicht 1. Rechtsgrundlagen und Tatbestand Der Verzicht ist eine rechtsgeschäftliche 73, einseitige Aufgabe einer dispositiven74 Rechtsposition durch ihren Inhaber75. Er muss nach außen erklärt werden76. Die dogmatische Grundlage des allgemeinen Rechtsinstituts beruht je nach Einzelfall auf der Disposivität der Rechtsposition, der Vertragsfreiheit oder auf der allgemeinen Handlungsfreiheit nach Art. 2 GG. Bei Geldansprüchen zwischen Bund und Ländern wird die Verzichtsmöglichkeit durch ihre grundsätzliche Disposivität begründet. Sie wird in zahlreichen Normen positivrechtlich ausdrücklich anerkannt und normiert77. Für einige Rechtsgebiete wird freilich ein Verzicht vom Gesetz ausdrücklich ausgeschlossen78. Insbesondere auf bereits entstandene Geldansprüche kann verzichtet werden, während Rechte mit Persönlichkeitscharakter oder zur Sicherung von Freiheit und Gleichheit oftmals nicht dispositiv ausgestaltet sind, um eine dauerhafte Entrechtung zu verhindern. Schuldrechtliche, entstandene Z. B. D. Carl (Fn. 34), S. 529, 530. Zur Verzichtbarkeit von Rechtspositionen, z. B. F. Kirchhof, Private Rechtsetzung, 1987, S. 364 f. 75 Z. B. U. Rath (Fn. 17), S. 55; W. Böhmer, Die Verwirkung im öffentlichen Dienst, BayVBl. 1956, S. 129, 133 u. 173. 76 BVerwGE 84, S. 209, 212. 77 Im öffentlichen Geldschuldrecht z. B. in § 227 AO, im Zivilrecht z. B. in §§ 376, 397, 418, 773, 928, 959, 1165 ff., 1255, 1432 oder 2346 ff. BGB. 78 Z. B. in §§ 2 Abs. 3 Bundesbesoldungsgesetz und 3 Abs. 3 Beamtenversorgungsgesetz. 73 74
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Geldansprüche unterliegen grundsätzlich dem Verzicht, weil sie nur die Abwicklung finanzieller Interessen ohne weitergehende Folge für den Status oder die Freiheit einer Person betreffen.
2. Rechts- und Rechtsausübungsverzicht Ein Verzicht kann sich auf zwei Aspekte eines Rechtes beziehen. Möglich ist ein Verzicht auf das Recht selbst mit der Konsequenz, dass es untergeht79. So kann ein Rechtssubjekt z. B. auf sein Erbrecht oder auf eine ihm vertraglich zustehende Rechtsposition verzichten. Der Verzicht kann sich aber auch auf die Ausübung des Rechts beschränken, indem sein Inhaber erklärt, zeitweise gegenüber der Allgemeinheit oder gegenüber bestimmten Personen von seinem Recht keinen Gebrauch machen zu wollen. Typische Fälle des bloßen Rechtsausübungsverzichts stellen Duldungserklärungen dar, die z. B. dem Nachbarn für Bauzwecke das Betreten eines Grundstücks oder Polizeibeamten das Betreten eines Hauses ermöglichen. Das Hausrecht des Besitzers bleibt bestehen; er übt es aber nicht aus. Im Grundrechtsbereich ist nach herrschender Lehre nicht der Verzicht auf das Grundrecht selbst, sondern nur auf die zeitweise Ausübung dieses Rechtes zulässig.
3. Erfüllung des Verzichtstatbestands Ein Verzicht liegt beim Schweigen auf die Anfrage des Bundes nicht vor. Fehlende Reaktionen auf eine Aufforderung enthalten überhaupt keine Erklärungen, schon gar keine Willenserklärungen des Inhalts, dass der Inhaber seine Rechtsposition aufgeben wolle. In Frage käme für einen Verzicht allenfalls die Fehlanzeige. Soweit sie formularmäßig oder in einem besonderen Antwortschreiben eines Landes an den Bund nur die Aussage enthält, dass die rechtlichen oder tatsächlichen Voraussetzungen eines Erstattungsanspruchs nicht vorliegen, handelt es sich um eine Wissens-, nicht um eine Willenserklärung. Letztere wäre aber für einen Verzicht erforderlich. Ob eine Fehlanzeige zusätzlich den Willen bekunden kann, einen an sich bestehenden Anspruch aufzugeben oder nicht geltend zu machen, bleibt im Zweifel. Die Praxis der Erstattungsverfahren spricht gegen einen Willen, Erstattungsansprüche aufgeben zu wollen. Der Grundsatz der Sparsamkeit und Wirtschaftlichkeit sowie das Haushaltsrecht gebieten, entstandene Ansprüche geltend zu machen. Ein Rechtsausübungsverzicht ist bei Geldforderungen wenig sinnvoll. Die Differenzierung zwischen Rechts- und Ausübungsverzicht ergibt nur bei Persönlichkeits-, Grund- oder Gestaltungsrechten und bei öffentlich-rechtlichen Dauerbefugnissen 79 VGH Bad.-Württ., VBlBW 1990, S. 188, 189; OVG NRW, NJW 1987, S. 1965; D. Carl (Fn. 34), S. 529, 530.
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einen Sinn. Geldleistungsansprüche, die durch einmalige Befriedigung erlöschen, benötigen nur in Ausnahmefällen die Differenzierung zwischen Rechts- und Ausübungsverzicht. Grundsätzlich käme hier nur der völlige Verzicht auf das Recht selbst in Frage. Die Versendung von Anforderungsformularen und die Abgabe einer Fehlanzeige zielt aber eher auf das Erhebungsverfahren80 zur Durchsetzung von Forderungen statt auf deren materielle Konstituierung. Die Antwort in Form einer Fehlanzeige dürfte deshalb in der Regel ebenfalls keine materielle Willenserklärung über einen Anspruch enthalten. In der Regel scheidet somit ein Verzicht aus. Es ist aber möglich, dass ein Land ausdrücklich auf eine entstandene Erstattungsforderung nachträglich verzichtet; in Vergleichssituationen wäre es sogar haushaltsrechtlich zulässig.
VI. Rechtsmissbrauch 1. Begriff und Merkmale a) Funktionswidriger Einsatz einer zu weit gefassten Norm Der Rechtsmissbrauch hindert die Ausübung eines Rechts. Rechtsprechung und Lehre erfassen mit diesem allgemeinen topos81 verschiedene Aspekte einer von der Rechtsordnung missbilligten Rechtsbetätigung82; sogar Verwirkung, Verzicht und Verbot des venire contra factum proprium werden als Unterfälle des Rechtsmissbrauchs angesehen83. Institutionelle Eigenständigkeit und Kontur gewinnt er nur, wenn man ihn auf Fallgestaltungen ausrichtet, die von diesen anderen Rechtsinstituten noch nicht abgedeckt werden. Trotz unterschiedlicher Ausgestaltung in den Einzelheiten84 bieten vor allem Art. 18 GG – Grundrechtsmissbrauch – und § 42 AO – Steuerumgehung – generelle Anhaltspunkte dafür, was unter einem Rechtsmissbrauch zu verstehen ist. Begrifflich besteht er in einer fehlerhaften, nämlich funktionswidrigen Verwendung eines Rechts. Der Rechtsmissbrauch beginnt also bei der Verwendung des Rechts entgegen seiner ratio legis85. Im Fall des Art. 18 GG liegt die Zweckwidrigkeit in der Ausnutzung von Freiheitsrechten zum Kampf gegen die freiheitlich-demokrati80 I.S.d. Steuerrechts als typischem Geldleistungsrecht. Dort wird zwischen dem Festsetzungsverfahren für Steuern (§§ 155 ff. AO) und dem Erhebungsverfahren (§§ 218 ff. AO) zur Verwirklichung entstandener Steueransprüche unterschieden. 81 J. Isensee, Verfassungsnorm in Anwendungsnöten: Artikel 18 des Grundgesetzes, FS Karin Graßhoff, 1998, S. 289, 294 u. 297; Chr. Knödler (Fn. 65), S. 2 f. u. 52 f. 82 Vgl. z. B. BayVGH, DÖV 1989, S. 403. 83 BVerwGE 90, S. 287, 292; NVwZ 1998, S. 289; NJW 1974, S. 2247, 2248; W. Böhmer (Fn. 75), S. 129, 133 u. 173. 84 Zu den Unterschieden bei Art. 18 GG z. B. J. Isensee (Fn. 81), S. 289, 297 ff. 85 BayVGH, DÖV 1989, S. 403.
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sche Grundordnung, bei § 42 AO im Fehlgebrauch von zivilrechtlichen Dispositionsmöglichkeiten zur Aushebelung von Steuervorschriften. Die weite Textfassung der rechtsbegründenden Norm ermöglicht eine Rechtsfolge, die ihrer ratio legis widerspricht. Mit diesen Tatbestandsmerkmalen gewinnt der Rechtsmissbrauch die Eigenständigkeit eines Rechtsinstituts.
b) Zusätzliche Tatbestandsmerkmale? In der Literatur wird zuweilen als weiteres Tatbestandsmerkmal gefordert, dass die Rechtsposition ohne berechtigte eigene Interessen ausgenutzt wird86. Dieser Ansicht ist nicht beizupflichten. Es handelt es sich vielmehr nur um einen Unterfall des funktionswidrigen Gebrauchs von Rechten, die generell nur bei berechtigtem Eigeninteresse ausgeübt werden dürfen. Als zusätzliches Tatbestandsmerkmal ist es unnötig. Beim Missbrauch von Rechten, die eine Person im Interesse anderer ausübt, oder von objektiven Befugnissen ist es ersichtlich zu eng gefasst. Dort müssten zumindest fremde Interessen oder objektive Belange einbezogen werden. Damit kehrt man aber wieder zu der schon im Tatbestand enthaltenen ratio legis zurück. Dieses Zusatzmerkmal könnte sogar etliche Missbrauchsfälle, z. B. die typischen Konstellationen der Art. 18 GG und § 42 AO, in Frage stellen, in denen Eigeninteressen bestehen; die unsichere Bewertung über deren Berechtigung müsste über einen Rechtsmissbrauch entscheiden. In der Literatur wird ferner ein Rechtsmissbrauch angenommen, wenn eine Rechtsbetätigung zu schweren Störungen der Rechtsordnung führen würde87 oder mit Rechten Dritter unvereinbar ist88. Für diese Sachverhalte benötigt man die Rechtsfigur aber nicht. Wenn eine Rechtsbetätigung die Rechtsordnung an anderer Stelle gravierend stört oder Rechte Dritter verletzt, wird in objektives Recht oder subjektive Rechtspositionen eingegriffen. Solche Fälle werden durch Abwägung der gegenseitigen Rechtspositionen gelöst. Die zusätzlichen Merkmale führen nur zur Verwirrung oder zur unnötigen Einengung des Rechtsmissbrauchs. Man sollte auf diese Zutaten verzichten.
c) Rechtsfolge Ein Rechtsmissbrauch verhindert die Ausübung des Rechts. Er führt nicht dessen Untergang herbei, sondern verhindert nur die Betätigung in einer bestimmten Zielrichtung. Da ein Recht zur Betätigung entgegen der ratio legis überhaupt nicht besteht, sondern nur eine zu weite Textfassung der Norm semantisch ihren zweck86 87 88
H. Bauer (Fn. 37), S. 35. H. Bauer (Fn. 37), S. 357. J. Kokott (Fn. 16), S. 133, 139; H. Bauer (Fn. 37), S. 357.
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widrigen Einsatz erlaubt, geht es durch die zweckwidrige Anwendung nicht unter, sondern bleibt nur in dieser Hinsicht ausgeschlossen. Das Recht als solches bleibt für eine zweckentsprechende Verwendung weiter bestehen.
2. Rechtsmissbrauch bei Fehlanzeige oder verspäteter Anforderung von Aufwendungen Die spätere Anmeldung von Erstattungsforderungen nach Art. 104 a Abs. 2 GG trotz vorherigen Schweigens oder der Abgabe einer Fehlanzeige sind niemals rechtsmissbräuchlich. Bei der späten Anmeldung wird Art. 104 a Abs. 2 GG nicht entgegen seiner ratio legis eingesetzt. Die Länder entsprechen vielmehr exakt der Zielsetzung des Art. 104 a Abs. 2 GG, wenn sie ihnen entstandene Kosten aus der Bundesauftragsverwaltung beim auftraggebenden Bund einfordern. Sie handeln zwar verspätet, widersprüchlich oder nachlässig, aber niemals zweckwidrig. Die Ausübung dieses Anspruchs wird deshalb niemals durch Rechtsmissbrauch ausgeschlossen. VII. Vertrauensschutz, Treu und Glauben; unzulässige Rechtsausübung 1. Vertrauensschutz, Treu und Glauben Vertrauensschutz sowie Treu und Glauben89 bilden allgemein anerkannte Grundsätze des Verwaltungsrechts90. Bei der Verwirkung und beim Verbot des venire contra factum proprium tauchen sie als deren Tatbestandsmerkmal auf. Auch als selbständige Rechtsinstitute mit präziser Rechtsfolge sind sie teilweise durchaus anerkannt91. Sie zielen dann aber auf die Begründung und die Erhaltung eines Rechts, während sich hier die Frage stellt, ob entstandene Ansprüche durch allgemeine Rechtsinstitute beendet werden. Rechtsbeendende Folgen bewirken diese rechtsbewahrenden Institute aber nicht. Überdies wäre bei Ansprüchen zwischen Bund und Ländern zu beachten, dass ein personenbezogener Vertrauensschutz allein natürlichen Personen zusteht und sich nur bei ihren subjektiven Rechten auswirken kann. Der staatliche Bereich wird von Kompetenzen, Befugnissen und objektivem Recht für Organisationen und Be89 Z. B. BFH, DStR 1996, S. 1201; BVerwGE 92, S. 8, 20 f. m.w.Nach.; H. Bauer (Fn. 37), S. 245. 90 Z. B. BVerwGE 111, S. 162; BFH, BB 1989, S. 2321; zweifelnd G. Püttner, VVDStRL 32, S. 200, 206. 91 Vgl. aber auch BFH, BB 1989, S. 2321. Als Rechtsfolgen eines Verstoßes gegen Treu und Glauben kommen z. B. Übergangsregeln, Bindung an die Vertrauensgrundlage oder allgemein die Vermeidung von Rechtsnachteilen in Frage; vgl. B. Weber-Dürler, Vertrauensschutz im öffentl. Recht, 1983, S. 146.
Das Erlöschen von Ansprüchen nach Art. 104 a Abs. 2 GG
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hörden beherrscht, dem besondere Schutzgründe, die sich auf individuelles, persönliches Vertrauen stützen, fremd sind. Im Ergebnis würde ein Vertrauensschutz als eigenständige Rechtsfigur zugunsten des Staates seine Kompetenzen und Befugnisse erweitern oder perpetuieren. Die Verwaltung soll aber von Verfassungs wegen durch gesetzliche, parlamentarische Vorgaben gesteuert werden, sachkundige Entscheidungen treffen und die Staatsaufgaben nach objektiven Normvorgaben bewältigen. Gründe der Rechtssicherheit, des Rechtsfriedens u.ä. als objektive Bestandteile des Rechtsstaats können hierbei zwar grundsätzlich auf ihre Befugnisse einwirken. Vertrauensschutzerwägungen als subjektive, über das positivierte Recht hinausgehende Schutztatbestände zielen dagegen auf individuelle Personen und Grundrechtsinhaber. Insoweit kann die öffentliche Hand keinen Vertrauensschutz für sich reklamieren92. Vertrauensschutz und Treu und Glauben können mithin als eigenständige Rechtsfiguren nichts zur Lösung der Erstattungsfälle beitragen.
2. Unzulässige Rechtsausübung Die unzulässige Rechtsausübung bildet kein eigenständiges Rechtsinstitut mit ausformuliertem Tatbestand und exakter Rechtsfolge. Mit diesem topos werden vielmehr verschiedene Sachverhalte nach ihrer Rechtsfolge beschrieben93, ohne Vorgaben für den Tatbestand zu machen. Mit dem Begriff wird letztlich nur festgestellt, dass ein Recht besteht, aber aus irgendwelchen Gründen nicht geltend gemacht werden kann. Zudem beschränkt der Begriff die Verhinderung im Recht nur auf die Fälle der Unzulässigkeit seiner Ausübung. Materielle Einwendungen oder Hemmnisse sowie der Untergang eines Rechts werden begrifflich gar nicht erfasst. Deshalb taugt er nicht einmal dazu, Verwirkung und Verbot des venire contra factum proprium als Oberbegriff zu erfassen94, denn beide Rechtsinstitute führen zum materiellen Untergang des Anspruchs. Alle drei genannten Rechtsfiguren stehen deshalb bei isolierter Anwendung den Erstattungsansprüchen aus Art. 104 a Abs. 2 GG nicht entgegen. Sie können sich allerdings als Einzelmerkmale dieser Rechtsinstitute nach näherer Detaillierung auf den Anspruch auswirken.
92 Ebenso BVerwGE 23, S. 25, 30 f.; U. Rath (Fn. 17), S. 16 f.; J. Beermann, Verwirkung u. Vertrauensschutz im Steuerrecht, 1991, S. 31 f.; anders die wohl h.M., z. B. BFH, BB 1989, S. 2321, 2322, die den persönlichen Charakter des Vertrauensschutz nicht berücksichtigt; G. Kisker, Vertrauensschutz im Verwaltungsrecht, VVDStRL 32, S. 149, 168 ff. 93 Vgl. z. B. BVerwGE 111, S. 162, 173 f.; BSGE 2, S. 284, 288. 94 Dennoch so BVerwGE 90, S. 287, 292; 66, S. 256, 259; 7, S. 54, 56.
Steuersubventionen Von Paul Kirchhof
I. Die Steuersubvention als aktuelles Verfassungsproblem Peter Selmer hat in seiner Habilitationsschrift1 die verfassungsrechtliche Fragwürdigkeit der Steuerintervention eingehend dargestellt und begründet, dabei den Zusammenhang zwischen Steuer und Staatsverfassung historisch entwickelt, den Begriff der Steuer als Finanzierungs- und Gestaltungsmittel für die Abgabenordnung und das Grundgesetz entfaltet, die Gefährdungen der bundesstaatlichen Kompetenzordnung durch eine Lenkungsteuer nachdrücklich und aktuell dargestellt, die rechtsstaatliche Problematik einer lenkenden und intervenierenden Steuer vor allem am Maßstab von Berufsfreiheit, Eigentumsgarantie und Gleichheitssatz bewusst gemacht. Seitdem2 steht die Steuerintervention unter stetiger, gerade gegenwärtig wachsender Kritik, die immer wieder den Abbau von Steuersubventionen fordert, jedoch meist nicht hinreichend politische Kraft zur Durchsetzung dieses Postulats aufbringt. 1. Der Gesetzgeber § 12 StabG fordert eine Liste der abzubauenden Steuervergünstigungen: Die deshalb vorgelegten Subventionsberichte der Bundesregierung nennen die Steuervergünstigungen jedoch nur unvollständig, erfassen diese nur als „spezielle steuerliche Ausnahmeregelungen, die für die öffentliche Hand zu Mindereinnahmen führen“3. Der Subventionsbericht schließt – seit dem 6. Bericht – in der Anlage III 69 Positionen aus dem Vergünstigungsbegriff aus, weil die „weit überwiegende Mehrzahl der Steuerpflichtigen“ diese Vorteile empfange4. Der Subventionsnachweis P. Selmer, Steuerinterventionismus und Verfassungsrecht, 1971. Vgl. z. B. meine Besprechung von Steuerinterventionismus und Verfassungsrecht in DÖV 1973, 467 sowie meine Kritik am gegenwärtigen Steuerrecht in Kirchhof (Hrsg.), EStG Kompaktkommentar, 3. Aufl., 2003, Einleitung, Rn. 18. 3 18. Subventionsbericht der Bundesregierung über die Entwicklung der Finanzhilfen des Bundes und der Steuervergünstigungen für die Jahre 1999 bis 2002, August 2001, S. 10, Rn. 2.3, Gesetzliche Grundlagen und Subventionsbegriff, 6. 4 Kritisch dazu insbesondere K. Tipke, Die Steuerrechtsordnung, Band I, 2. Aufl., 2000, S. 82; H. Zitzelsberger, Über die Schwierigkeiten mit dem Abbau von Steuersubventionen, StuW 1985, 197 (199). 1 2
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„konzentriere“ sich auf Hilfen für private Unternehmen und Wirtschaftszweige, verschweige also die steuerrechtlichen Sonderregelungen, die nicht nur eine Minderheit der Steuerpflichtigen betreffen5. Allgemeine Steuerentlastungen wie Tariffreibeträge oder der Sparerfreibetrag seien daher nicht als Subventionen anzusehen6. Aus dem Subventionsabbau wird eine Differenzierung nach Subventionsberechtigten, die eine Steuersubvention mit Breitenwirkung von der Kritik auszunehmen sucht. Das Gesetz zum Abbau von Steuervergünstigungen und Ausnahmeregelungen vom 16. Mai 20037 verheißt in seinem Titel einen Verzicht auf Steuerinterventionen und eine Wiederherstellung steuerlicher Gleichheit, verfolgt dieses Ziel im Ergebnis allerdings nur zaghaft. Geplant waren insbesondere Einschränkungen bei der AfA, die Erhöhung des pauschalen Nutzungsanteils von Dienstfahrzeugen, die Einführung einer Pauschalsteuer auf Veräußerungsgewinne aus Aktien, Immobilien und sonstigen Gegenständen des nichttäglichen Gebrauchs, die Einschränkung des Verlustvortrags und die Festschreibung einer Mindestmiete. Diese Gesetzgebungspläne wurden nicht in das Gesetz aufgenommen. Die Bundesregierung hat jedoch bei Verabschiedung des Vermittlungsergebnisses zusätzlich eine Protokollerklärung abgegeben, wonach verschiedene Maßnahmen auf den gesetzgeberischen Weg gebracht und spätestens zum 1. 1. 2004 im Gesetzblatt verkündet werden sollen. Der Subventions- und Privilegienabbau bleibt also ein Vorhaben des langen Atems. 2. Das Bundesverfassungsgericht Das Bundesverfassungsgericht hat in neuerer Zeit die verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Steuerlenkung verdeutlicht und vermehrt in das Bewusstsein gerückt. Im Vermögensteuerurteil8 anerkennt das Gericht weiterhin, dass eine steuerliche Verschonung, die einer gleichmäßigen Belastung der jeweiligen Steuergegenstände innerhalb einer Steuerart widerspricht, vor dem Gleichheitssatz gerechtfertigt sein könne, wenn der Gesetzgeber dadurch das wirtschaftliche und sonstige Verhalten des Steuerpflichtigen aus Gründen des Gemeinwohls fördern und lenken wolle. Eine solche Intervention, die das Steuerrecht in den Dienst außerfiskalischer Verwaltungsziele stellt, setze aber eine erkennbare Entscheidung des Gesetzgebers voraus, mit dem Instrument der Steuer auch andere als bloße Ertragswirkungen erzielen zu wollen. Würde allein eine tatsächliche Entwicklung – dort die Wertentwicklung bestimmter Wirtschaftsgüter – ein Steuergesetz in den Dienst auch außerfiskalischer Zwecke stellen können, so würden ohne erkennbare Verantwortlichkeit des Gesetzgebers über die besondere Gesetzgebungskompetenz 5 6 7 8
Subventionsbericht (Fn. 3), S. 129, Anhang 8. Subventionsbericht a. a. O. BGBl. I 2003, 660. BVerfGE 93, 121 (147 f.).
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zur Besteuerung (Art. 105 GG) Verwaltungsziele geregelt, Vergünstigungen zu Lasten der Ertragshoheit der Länder (Art. 106 Abs. 2 Nr. 1 GG) angeboten, unter Umständen Länderverwaltungskompetenzen überspielt und in den tatsächlichen Lenkungswirkungen auch Grundrechte berührt. Der Gesetzgeber müsse deshalb für die Steuerintervention gesondert prüfen, ob er das Handlungsmittel der Besteuerung für außerfiskalische Zwecke einsetzen darf und will. Im Beschluss über die Steuerfreiheit von Aufwandsentschädigungen aus öffentlichen Kassen9 versagt das Gericht der Steuerfreiheit für „Aufwandsentschädigungen“ die Anerkennung als Steuersubvention, weil der dieser Zulage innewohnende Lenkungszweck gesetzlich nicht einmal angedeutet, geschweige denn tatbestandlich vorgezeichnet sei. Außerdem wäre eine solche Lenkungsbefreiung auch nicht verfassungsgemäß ausgestaltet, weil sie in Tatbestand und praktischer Handhabung Werbungskosten, Auslagenersatz und Kosten persönlicher Lebensführung umschließe, bei diesen fließenden Übergängen also nicht erkennbar sei, wie weit die Vereinfachungsbefreiung reiche und wo die Subvention beginne. Damit könne insbesondere nicht festgestellt werden, welche Werbungskosten durch die Aufwandsentschädigung abgegolten seien und welcher Betrag zusätzlich eine Subvention gewähre. Schließlich könne auch die haushaltsrechtliche Erwägung, bei Besteuerung der Stellenzulage müsse die Zulage in ihrer Anreizfunktion entsprechend höher bemessen werden, nicht anerkannt werden, weil die Stellenzulage in voller Höhe aus dem Bundeshaushalt gezahlt, die Steuerfreiheit hingegen hälftig zu Lasten der Länderhaushalte gewährt werde (Art. 106 Abs. 3 Satz 1 und 2 GG). Im Urteil zur unterschiedlichen Besteuerung der Altersbezüge10 bekräftigt das Gericht, dass die zu geringe Ertragsanteilsbesteuerung nur dann als „Rentensubvention“ hätte qualifiziert werden können, wenn eine steuerliche Begünstigung der Sozialversicherungsrenten gesetzlich bezweckt und von einer hinreichend klar erkennbaren gesetzgeberischen Entscheidung getragen wäre. Zudem könne eine steuerliche Vergünstigung nur durch ein außersteuerlich (dort: versorgungsrechtlich) bedingtes Kompensationsbedürfnis gerechtfertigt werden, wenn auch „ein Mindestmaß an zweckgerechter Ausgestaltung des Vergünstigungstatbestandes gewährleistet sei“. Dort allerdings fehlte ein Mindestmaß an gegenseitiger Abstimmung zwischen ausgleichsbedürftigen Nachteilen einerseits und begünstigenden Ausgleichwirkungen andererseits; damit entfalle der nachvollziehbare Grund für eine ungleich wirkende steuerliche Vergünstigung.
3. Das Europarecht Auch das Europarecht rüstet sich zur Gegenwehr gegen übermäßige Steuersubventionen. Der Gemeinsame Binnenmarkt hat zu einem „Wettbewerb“ unter den 9 10
BVerfGE 99, 280 (296 f.). BVerfG BStBl II 02, 618 (632 f.).
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Mitgliedstaaten um Unternehmen und Investitionen geführt, die sich vielfach auch der Steuervergünstigung als Anreizmittel bedienen11. Dieser „schädliche Wettbewerb“ vermindert die Steuerbelastung der mobilen Besteuerungsgrundlagen, insbesondere der Kapitalerträge, und steigert die Steuerbelastung der immobilen Besteuerungsgrundlagen, insbesondere der Arbeit und der standortgebundenen Kleinunternehmer und Verbraucher12. Niedrigsteuerländer (sogenannte „Steueroasen“) locken mit Steuervergünstigungen Kapital und Finanzleistungen zur Begründung eines formalen Firmensitzes, beanspruchen damit die Steuerhoheit über diese Ertragsquelle, ohne die Kosten für die produktionsnotwendigen Infrastrukturen zu übernehmen13. Die Europäische Union sucht diese Steuererleichterungen durch einen – politisch wirksamen – Verhaltenskodex für Unternehmensbesteuerung14 und durch das Beihilferecht zu mäßigen, für das ein halbjährlich erscheinender Beihilfenanzeiger zu mehr Transparenz beitragen und das Bewusstsein für die Beihilfenkontrolle schärfen soll15. Auf dieser Grundlage sollen insbesondere der Vollzug neuer Beihilfen verboten und bestehende Beihilfen durch ein originäres Initiativrecht der Kommission unterbunden werden16. Diese Gegenwehr gegen alle für einen „fairen Wettbewerb“ schädlichen Maßnahmen ist ein erster Schritt gegen ein der Idee des Binnenmarktes (Art 14 EGV) widersprechendes Unterbieten wechselseitiger Steuerbelastungen, verfehlt aber im Gedanken des „Wettbewerbs“ sowohl die Erfordernisse des Steuerrechts wie der Statusgleichheit der Mitgliedstaaten: Wettbewerb zielt auf Gewinnmaximierung, Steuerrecht ist auf Mäßigung der Steuerbelastung und damit des Steuerertrages angelegt. Wettbewerb sucht den Mitbewerber am Markt einzuschränken und möglichst zu verdrängen, während die Statusgleichheit der Mitgliedstaaten und die Garantie ihrer nationalen Identität (Art 6 III EUV) einen solchen Verdrängungswettbewerb schlechthin ausschließt. Im Übrigen könnte das Steuerrecht in einem Standortwettbewerb auch nicht als variabler Preis dienen, weil das Steuerrecht nicht je nach Steuergefälle unter den Mitgliedstaaten und den daraus sich ergeben11 Veröffentlichung der Europäischen Kommission, Steuerpolitik in der Europäischen Union, Reihe: Europa in Bewegung, 2000, S. 4 ff. 12 Veröffentlichung der Europäischen Kommission, a. a. O., S. 9, 30 ff.; L. Wartenburger, Die Bedeutung des Gemeinschaftsrechts für innergemeinschaftliche Steueroasen, IStR 2001, S. 397. 13 Wartenburger, IstR 2001, S. 397 (400); Ivo Gross, Subventionsrecht und „schädlicher Steuerwettbewerb“: Selektivität von Steuervergünstigung als gemeinsames Kriterium, RIW 2002, S. 46 (48). 14 Entschließung des Rates und der im Rat vereinigten Vertreter der Regierungen der Mitgliedstaaten vom 1. 12. 1997, Amtsblatt C / 2 vom 6. 1. 1998; Entschließung des Europäischen Parlaments zu der Mitteilung der Kommission über ein „Maßnahmepaket zur Bekämpfung des schädlichen Steuerwettbewerbs in der Europäischen Union“, KOM (97) 0564 – C4 – 0333 / 98, Amtsblatt C 210 / 227. 15 Pressemitteilung der Kommission vom 7. 1. 2002, Dokumentennummer IP / 02 / 12. 16 Wolfgang Schön, Steuerliche Beihilfen, Aktuelle Fragen des EG-Beihilfenrechts, Beiheft 69 zur ZHR 2001.
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den Unternehmensreaktionen vereinbart, sondern rechtsstaatlich als maßvolle und gleichmäßige Last bemessen werden muss. Die steuerliche Schaffung von Standortvorteilen17 verstößt deshalb gegen das im Verhaltenskodex verdeutlichte Beihilfeverbot des Art 87 I EGV und ebenso gegen die verfassungsrechtlichen Prinzipien der Besteuerungsgleichheit. Die Kommission hat inzwischen wegen der Höhe der – direkten und indirekten – Beihilfen verschiedene förmliche Prüfungsverfahren eröffnet, so für die Investitionshilfe von 418,6 Millionen Euro auf ein Investitionsvolumen von 1,2 Milliarden Euro für die Gründung eines Produktionswerkes von BMW in Leipzig18. Die Verlängerung von Sondervergünstigungen nach dem Investitionszulagengesetz galten vor allem den Investitionen der ELF – Tochter Mitteldeutsche Erdöl-Raffinerie GmbH in Leuna und hat insoweit zu einer Auseinandersetzung zwischen der Bundesregierung19 und der Kommission20 geführt. Eine grundlegende Harmonisierung der direkten Unternehmensbesteuerung trifft auf das Einstimmigkeitserfordernis des Art. 94 GG21, dürfte also gegenwärtig kaum zum Erfolg führen22. Versuche, die Körperschaftsteuersysteme (1975), die Vorschriften über den Verlustvortrag (1984 und 1985) und die Unternehmensbesteuerung (1988) zu harmonisieren, sind fehlgeschlagen23.
4. Die veröffentlichte Meinung Auch die veröffentlichte Meinung24 beanstandet inzwischen nachdrücklich die Steuersubventionen, weil sie – insbesondere im Wohnungsbau, im Verkehrswesen, 17 Coordination Centers in Belgien, Konzernfinanzierungsgesellschaften in den Niederlanden, Dublin International Financial Service Center in Irland, Offshore Geschäftszentrum im portugiesischen Madeira. 18 Pressemitteilung der Europäischen Kommission vom 3. 4. 2003, Dokumentennummer IP / 02 / 492. 19 Stellungnahme der Bundesregierung, Entscheidung der Kommission vom 1. 10. 1997 betreffend die Verlängerung der 8 %-igen Investitionszulage für Investitionen in den neuen Bundesländern durch das Jahressteuergesetz 1996, ABl. 1998, L 73 / 38 (89). 20 Entscheidung der Kommission vom 1. 10. 1997 betreffend die Verlängerung der 8 %-igen Investitionszulage für Investitionen in den neuen Bundesländern durch das Jahressteuergesetz 1996, ABl. 1998, L 73 / 38 (40). 21 Art. 95 Abs. 1 ist nach ausdrücklicher Anordnung des Abs. 2 auf Bestimmungen über Steuern nicht anwendbar. 22 Zu den indirekten Steuern vgl. Art. 19 ff. und dazu C. Waldhoff, in: Calliess / Ruffert (Hrsg.), Kommentar zu EU-Vertrag und EG-Vertrag, 2. Aufl., 2002, Art. 90 Rn. 5 ff.; Art. 93 Rn. 4 ff. 23 Veröffentlichung der Europäischen Kommission, Steuerpolitik in der Europäischen Union, Reihe: Europa in Bewegung, 2000, S. 25. 24 Pfeiffer, FAZ vom 20. 7. 2001, Nr. 166, S. 54; Eckhoff, FAZ vom 20. 4. 2001, Nr. 92, S. 55; Heuser, Die ZEIT, Nr. 44, 24. 10. 1997 – Wirtschaft –; Herz, Die ZEIT, Nr. 35, 20. 8. 1998 – Wirtschaft –; Vorholz, Die ZEIT, Nr. 5, 27. 1. 2000 – Wirtschaft –.
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bei Ökologie und Energie – Kapital fehlleite und vernichte, die Vermögenden begünstige und die Bedürftigen benachteilige, die wirtschaftlichen Freiheiten beeinträchtige und das System von parlamentarischer Demokratie und Bundesstaatlichkeit störe. Bei diesem immer dringlicher werdenden Ruf nach rechtlicher Subventionsdisziplin gegenüber politischen Förderungsinteressen überrascht es, wenn der Abbau von Steuervergünstigungen als eine „verfassungsrechtliche terra incognita“ bezeichnet wird25. Das Feld der Subventionen ist rechtlich sorgfältig ausgeleuchtet, verharrt aber im Schatten einer Politik, die Interessentenbegünstigung, hergebrachte Privilegien, kurzfristige Reaktionen bevorzugt und das Prinzip der folgerichtigen und widerspruchsfreien, deswegen gleichheitsgerechten und freiheitswahrenden Besteuerung26 vernachlässigt. Deswegen erscheint es geboten, die klaren und einprägsamen Grundprinzipien der Steuersubventionen rechtlich zusammenzufassen und ihre Grenzen so zu verdeutlichen, dass der allgemein geäußerte Wille nach Abbau der Steuersubventionen prägnante rechtliche Handlungsmaximen vorfindet.
II. Die verfassungsrechtliche Rechtfertigungsbedürftigkeit der Steuersubvention 1. Der Subventionsbegriff a) Lenkende Ausnahme von einer Belastungsregel Die Steuersubvention entlastet den Steuerpflichtigen von einer Regelsteuerlast, durchbricht also ein gesetzliches Besteuerungsprinzip und ist deshalb als Ausnahme rechtfertigungsbedürftig. Die rechtliche Funktion dieser Ausnahme ist allerdings noch nicht hinreichend begrifflich erfasst. Die rechtfertigungsbedürftige Ausnahme wird teilweise „Verschonungssubvention“ genannt27, deutet im Begriff des „Verschonens“ aber eher die Ausnahme von der unerwünschten Regelsteuerlast als das Privileg gegenüber der steuerlichen Gemeinlast an. Die Bezeichnung der Steuersubventionen als „Sozialzwecksteuern“28 beansprucht sprachlich den Sympathiewert des „Sozialen“, obwohl die Steuervergünstigungen in der Regel nicht den Schwachen und Bedürftigen zugute kommen, verschweigt im Übrigen die dirigistische, interventionistische, freiheitsverengende Wirkung dieser Steuern. 25 J. Hey, Abbau von Direktsubventionen und Steuervergünstigungen – verfassungsrechtliche terra incognita, StuW 1998, S. 298. 26 BVerfGE 84, 239 (275 f., 284) – Zinsbesteuerung –; 87, 153 (170) – Grundfreibetrag –; 93, 121 (136) – Vermögensteuer –; 98, 83 (97 f.) – Landesabfallabgaben –; 98, 106 (118 f.) – Verpackungsteuer –; 99, 246 (260) – Familienleistungsausgleich –; P. Kirchhof, Besteuerung im Verfassungsstaat, 2000, S. 43 f. 27 H. Zacher, Verwaltung durch Subventionen, VDStRL 25 (1966), 308 (317 f.). 28 K. Tipke, Die Steuerrechtsordnung, Band I, 2. Aufl., 2000, S. 77; Tipke / Lang, Steuerrecht, 17. Aufl., 2002, § 4 Rn. 21 f.
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Die Kennzeichnung der Steuersubvention als „mittelbare“ oder „indirekte“ Subvention29 macht zwar einen rechtserheblichen Unterschied zur Leistungssubvention bewusst, begreift aber ebenfalls nicht das Problem der Steuersubvention als rechtfertigungsbedürftige Ausnahme. Auch der Begriff der „negativen Staatsleistung“30 hat eher das Handlungsmittel als den Rechtfertigungsbedarf im Blick. Anschaulich spricht § 12 Abs. 3 StabG von „Steuervergünstigungen“, deutet damit Gunst, Vorzug, Privileg und Steuergeschenk31 an, akzentuiert dadurch aber – in der Funktion des in § 12 StabG vorgesehenen Subventionsberichts folgerichtig – den Tatbestand des Bevorzugens so deutlich, dass dieser kaum noch als Ausnahme zu rechtfertigen ist. Die rechtliche Analyse eines Problemtatbestandes, der nicht zur Regel werden darf, wohl aber als Ausnahme gerechtfertigt werden kann, sollte deshalb am Subventionsbegriff festhalten, mit diesem jede finanzielle Zuwendung der öffentlichen Hand bezeichnen, die den Empfänger zu einem bestimmten, dem Subventionsgeber erwünschten Verhalten veranlassen soll32. Sie benennt sodann im Zusatz „Steuer“ die Handlungsform der Steuerentlastung, die ähnliche Anreize und Lenkungswirkungen erreicht wie die Leistungssubvention. Die Steuersubvention allerdings ist – anders als die Leistungssubvention – nicht in einem Zuwendungsakt erkennbar, sondern vermindert die Regelsteuerbelastung. Der Tatbestand der Steuersubvention bestimmt sich also inhaltlich als Ausnahme von der Besteuerungsregel, ohne dass die Ausnahme verfahrensförmlich festgestellt würde. Der Steuerpflichtige teilt sich die Subvention durch Erfüllung des entlastenden Tatbestandes selbst zu.
b) Erkennbarkeit der Ausnahme Der Ausnahmetatbestand der Steuersubvention wird meist in Sondertatbeständen, insbesondere in einer Steuerbefreiung, einer nur teilweisen Erfassung des Besteuerungsgegenstandes, in Bewertungs- und Abschreibungsvergünstigungen, in der Zulassung von steuerfreien Rücklagen, in Sonderausgabenabzügen, in Steuersatz- und Steuerschuldermäßigungen, in Vergütungs- und Steuererstattungsansprüchen sichtbar. Dennoch bleibt in Einzelfällen das Problem, die Regel von der Ausnahme zu unterscheiden. Hier bewährt sich das verfassungsrechtliche Prinzip, dass der Steuergesetzgeber bei der Erschließung von Steuerquellen sowie bei V. Götz, Recht der Wirtschaftssubventionen, 1966, S. 13 f. K.-H. Friauf, Verfassungsrechtliche Grenzen der Wirtschaftslenkung und Sozialgestaltung durch Steuergesetze, 1966, S. 20. 31 K.-G. Loritz, Die systemgerechte Einkommensteuer – Ein unerreichbares Ziel, StuW 1986, S. 9 (13 f.). 32 Vgl. etwa § 264 Abs. 6 StGB, Art. III Abs. 8 b und Art. XVI Abs. A GATT; Meinhold, Subventionen, HDSW Band X, 1959, S. 236 f.; F. Rittner, Wirtschaftsrecht, 2. Aufl. 1987, § 24 Rn. 1. 29 30
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der Bestimmung von Steuersatz und Steuertarif einen Entscheidungs- und Gestaltungsraum hat33, er dann aber die einmal getroffene Belastungsentscheidung grundsätzlich folgerichtig und widerspruchsfrei ausgestalten und umsetzen muss34. Ist die Einkommensteuer als staatliche Teilhabe an dem individuell verfügbaren Erfolg der Erwerbstätigkeit am Markt verstanden, die Umsatzsteuer als Zugriff auf die am Markt eingesetzte Kaufkraft des Endverbrauchers begriffen, so lassen sich Regel und Ausnahme deutlich unterscheiden. Die einkommensteuerliche Regel lautet: steuerbar ist das Martkeinkommen . / . erwerbssichernder Aufwand . / . existenzsichernder Aufwand . / . ein begrenzter Betrag gemeinnütziger Zuwendungen. Die umsatzsteuerliche Regel lautet: Steuerbar ist das Entgelt für Leistungen eines Unternehmens im Inland. Ist dieser Maßstab der Regelbesteuerung gewonnen, ergibt sich aus der Regeldurchbrechung die Subvention35: Hat der Gesetzgeber erkennbar die Ausnahme in den Dienst eines Subventionsprogramms gestellt, kann dieses die Ausnahme rechtfertigen, andernfalls ist sie gleichheitswidrig.
c) Umdeutung von Regel und Ausnahme? Allerdings werden Interessenten durch einen geplanten Sprachgebrauch Ausnahmen zur Regel, Regeln zur Ausnahme machen wollen. Wenn die Kilometerpauschale des § 9 Abs. 1 Nr. 4 die „Aufwendungen des Arbeitnehmers“ für die Wege zwischen Wohnung und Arbeitsstätte berücksichtigt, so mag die Abziehbarkeit dieser Aufwendungen fragwürdig sein. Das deutsche Recht anerkennt diese Wegekosten als erwerbssichernde Aufwendungen, weil der Arbeitnehmer von seiner Wohnung zur Arbeitsstätte und zurück fährt36, während das amerikanische Recht37 dieselben Wegekosten als durch eine Fahrt von der Arbeitsstätte zur Wohnung und zurück veranlasst sieht, sie also als private Aufwendungen deutet. Wenn dann aber § 9 Abs. 1 Nr. 4 Satz 2 zur Abgeltung dieser Aufwendungen eine Pauschale von 0,36 Euro für die ersten zehn Kilometer und 0,40 Euro für jeden weiteren Kilometer ansetzt und diese Pauschale unabhängig von der tatsächlichen Benutzung eines Kraftfahrzeugs gewährt, so ist der teilweise fiktive Aufwand ersichtlich eine begünstigende Regeldurchbrechung, die abgestufte Pauschalierung in gleicher Offensichtlichkeit eine belastende Regeldurchbrechung, weil der tatsächliche Auf33 BVerfGE 84, 239 (271) – Zinsbesteuerung –; 93, 121 (136) – Vermögensteuer –; 93, 165 (175) – Erbschaftsteuer –; 99, 88 (95) – Verlustabzug –. 34 Vgl. oben Fn. 26. 35 Vgl. für das EStG die Übersicht bei P. Kirchhof u. a., Karlsruher Entwurf zur Reform der Einkommensteuer, 2000, S. 59 ff. 36 Vgl. von Beckerath, in: Kirchhof (Hrsg.), EStG Kompaktkommentar, 3. Aufl., 2003, § 9 Rn. 173 f. 37 Vgl. O. L. Walter, Die Abgrenzung der Berufsphäre von der Privatsphäre im amerikanischen Steuerrecht, DStJG 3 (1980), S. 380 (386).
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wand bei Nutzung eines Kraftfahrzeugs die Pauschale meist übersteigt. Die Kilometerpauschale enthält also einen begünstigenden Ausnahmetatbestand (fingierter Aufwand), veranlasst damit die Frage der Steuersubvention, regelt aber zugleich eine steuerliche Sonderlast (begrenzte Berücksichtigung tatsächlicher Aufwendungen), schafft also Anreiz und Abreiz zugleich. Der 11. Subventionsbericht38 ordnet den Abzug der Kirchensteuer als Sonderausgabe (§ 10 Abs. 1 Nr. 4 EStG) als Steuerbegünstigung ein, obwohl die Kirchensteuerzahlung des Kirchenmitglieds zu dessen kulturellem Existenzminimum gehört39, im Übrigen eine Steuerkonkurrenzlehre bewusst macht, dass ein für eine Steuer bereits aufgewendeter Euro für eine andere Steuer nicht mehr zur Verfügung steht, also dort von der Bemessungsgrundlage abgezogen werden muss. Der Abzug gemeinnütziger Spenden nach § 10b lässt sich nicht mit der für die Sonderausgaben charakteristischen realen oder zumindest typisierten Zwangsläufigkeit rechtfertigen, berücksichtigt vielmehr das freiwillige altruistische Vermögensopfer, das zur selbstlosen Finanzierung öffentlicher Aufgaben verwendet wird. Diese Entlastung für ein Einkommen, das der Berechtigte zu 100 % für gemeinnützige Zwecke verwendet, die andernfalls weitgehend von der öffentlichen Hand finanziert werden sollten, kann der Gesetzgeber als Regelentlastung qualifizieren, ebenso aber um der stetigen Haushaltseinnahmen willen durch Höchstbeträge begrenzen40. Die steuerliche Entlastung von Zuwendung an politische Parteien nach § 10b Abs. 2 hingegen durchbrechen die verfassungsrechtliche Regelvorgabe der Staatsfreiheit der Parteien, des Rechtes der Parteien auf Chancengleichheit und des Rechtes des Bürgers auf gleiche Teilhabe an der politischen Willensbildung. Sie sind deshalb eine rechtsfertigungsbedürftige Ausnahme und nur in einer Höhe zulässig, die für den durchschnittlichen Einkommensempfänger erreichbar ist, also dem einkommensstarken Spender kaum größere Abzugsmöglichkeiten bietet als dem einkommensschwachen41 (Normalspende). Die Nichtaufdeckung stiller Reserven bei Umstrukturierungen des notwendigen Anlagevermögens in §§ 6 b, 6 c EStG werden von dem Gesetzgeber als Steuersubventionen qualifiziert und – seit 1990 – auch eingeschränkt. Sie lässt sich aber mit dem einkommensteuerlichen Grundprinzip der Besteuerung des Erfolges aus der Nutzung von Erwerbsgrundlagen vereinbaren, weil die einkommensteuerliche Leistungsfähigkeit sich beim bloßen Tausch nicht erhöht und die stille Reserve später erfasst werden kann42. Das Problem liegt im Entstehen stiller Reserven, nicht im Aufschub der Besteuerung dieser Reserven. Derartige ScheinsubventioBR-Drs. 530 / 87, S. 197, Anlage 3, Nr. 3. Zum Diskussionsstand: Söhn, in: Kirchhof / Söhn / Mellinghoff, Einkommensteuergesetz, Kommentar, § 10 Rn. G 4 (2001), m.N. 40 P. Kirchhof in: Kirchhof / Söhn / Mellinghoff, Einkommensteuergesetz, Kommentar, § 10b (1997) A 379. 41 BVerfGE 85, 264 (316) – Parteienfinanzierung VI –. 42 Tipke (Fn. 4), S. 81 f. 38 39
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nen43 kann trotz gesetzgeberisch gegenteiliger Qualifikation als Regelbesteuerung aufrechterhalten werden, wenn sie dem die Einkommensteuer prägenden Leistungsfähigkeitsprinzip entspricht. Das Ehegattensplitting der §§ 26, 26 b EStG wendet auf Ehegatten die allgemeine Regel an, dass für Zwecke der Individualbesteuerung das in einer Erwerbsgemeinschaft gemeinsam erwirtschaftete Einkommen individuell aufgeteilt („gesplittet“) werden darf. Diese ist keine Steuersubvention44. Wenn jede Erwerbsgemeinschaft, etwa die OHG, KG oder GmbH, den gemeinsamen Gewinn für die Individualbesteuerung nach Gesellschaftsvertrag aufteilen darf, gilt gleiches für die eheliche Erwerbsgemeinschaft, an der dem Grundgesetz nach Art. 6 Abs. 1 GG in besonderer Weise gelegen ist45.
2. Die grundrechtserhebliche Wahlschuld Wenn eine gesetzlich vorgesehene Steuersubvention dem Adressaten die Alternative anbietet, sich entweder im Rahmen des Subventionsprogramms zu binden oder aber die Steuer zu zahlen, stellt das Gesetz ihn vor eine Wahlschuld. Er muss entweder einen Verlust an Handlungsfreiheit hinnehmen oder aber die Zahllast tragen. Bietet eine umweltpolitische Subventionsnorm dem Steuerpflichtigen eine Steuerersparnis von 100 Euro an, wenn er 1.000 Euro für eine umweltwirksame Investition aufgewandt hat, so stellt das Gesetz den Grundrechtsberechtigten vor die Frage, entweder seine Verfügungsfreiheit über die 1.000 Euro aufzugeben und dieses Kapitel in den Dienst eines staatlichen Umweltprogramms zu stellen oder aber 100 Euro Steuern zu zahlen. Der Freiheitsberechtigte wird dabei in der Regel zu einem Investitionsverhalten veranlasst, dass er ohne den Steueranreiz so nicht wählen würde; andernfalls wäre das Subventionsangebot nicht sinnvoll und böte einen ungerechtfertigten Steuervorteil. Schlägt der Steuerpflichtige das Subventionsangebot aus und wählt die Regelsteuerlast, steht er zwar nicht schlechter als die Allgemeinheit der Steuerpflichtigen, empfindet diese Regellast aber als Grundrechtseingriff, deren Beschwer dadurch gesteigert wird, dass er statt der unvermeidlichen nunmehr eine vermeidbare Last zu tragen hat. Die „in das Gewand eines Steuergesetzes gekleidete wirtschaftliche Lenkungsmaßnahme“46, diese „motivationsbestimmend“ wirkende Lenkungsteuer47 erreicht eine „erzieherische“ Wirkung48. Der Freiheitsberechtigte ist aber nicht Subjekt 43 Tipke (Fn. 4), S. 82, spricht in Anlehnung an den strafrechtlichen Begriff des Wahndelikts von einer „Wahnvergünstigung“. 44 A.A. U. Sacksofsky, Steuerung der Familie durch Steuern, NJW 2000, 1896. 45 BVerfGE 61, 319 (347). 46 BVerfGE 16, 147 (161) – Werkfernverkehr –. 47 BVerfGE 13, 181 (186) – Schankerlaubnissteuer –. 48 BVerfGE 6, 55 (70 f.) – § 26 EStG 1956 –.
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staatlicher Erziehung, sondern den Staat gestaltender freiheitsberechtigter Bürger. Wirkt die Steuer weniger als eine die Staatsaufgaben finanzierende Gemeinlast und mehr als „Zwangsgeld“, das wegen Nichtbeachtung des steuerlich überbrachten Verhaltensbefehls erhoben wird, ist diese Wahlschuld in beiden Alternativen vor den Grundrechten der Betroffenen zu rechtfertigen.
a) Die Beeinträchtigung der Handlungsfreiheit Lenkt die Steuer den Pflichtigen in Wahrnehmung seiner Berufsfreiheit, hängt es von der Intensität des Lenkungsdrucks ab, ob die Berufswahl- oder die Berufsausübungsfreiheit berührt ist49. Zielt der Subventionstatbestand auf die Wahrnehmung der Eigentümerfreiheit, etwa bei der umweltgerechten oder denkmalrechtlich erwünschten Ausgestaltung eines Hauses, so ist diese Lenkung an Art. 14 GG zu messen. Drängt die Subvention den Freiheitsberechtigten, eine privatrechtliche Vereinigung in bestimmter Form zu gründen, ihr beizutreten oder ihr fernzubleiben, schützt Art. 9 Abs. 1 GG diese Entscheidungsfreiheit50. Der lenkungsbetroffene Bürger ist ebenso in seinem Grundrecht auf Gleichheit (Art. 3 Abs. 1 GG) berührt. Die Steuer begründet grundsätzlich in ihrer Unausweichlichkeit51 einen allgemeinen Belastungsrahmen, der den Staat am Erfolg privaten Wirtschaftens je nach Höhe dieses Erfolges teilhaben lässt. Setzt der Gesetzgeber nunmehr bewusst steuerliche Bevorzugungen lenkend für außerfiskalische Verwaltungsziele ein52, so muss dieses Angebot einer steuerlichen Bevorzugung bei einem bestimmten Freiheitsverzicht auch vor dem Gleichheitssatz gerechtfertigt werden. Der Grundsatz der gleichen Finanzierung der staatlichen Aufgaben je nach finanzieller Leistungsfähigkeit53 kennt grundsätzlich nicht die Alternative von steuerlicher Zahlung oder subventionsrechtlicher Unterwerfung. Jedes privilegierende Angebot bedarf deshalb der Rechtfertigung durch den Subventionszweck.
49 BVerfGE 16, 147 (162 ff.) – Werkfernverkehr –; 13, 181 (186 f.) – Schankerlaubnissteuer –; 29, 227 (333) – Schankerlaubnissteuer für Zweitbetriebe –; 37, 1 (17 f.) – Weinwirtschaftsabgabe –; 38, 61 (79) – Straßengüterverkehrsteuer –; 47, 1 (21) – Aufwendungen für Haushaltsgehilfin –. 50 Vgl. BVerfGE 10, 89 (102) – Erftverband –; 38, 281 (297 f.) – Arbeitnehmerkammer –; 50, 290 (354) – Mitbestimmungsgesetz –; das Postulat der rechtsformneutralen Besteuerung leitet BVerfGE 101, 151 (156 f.) – Schwarzwaldklinik – bereits aus Art. 3 Abs. 1 GG ab, hat damit keinen Anlass zur Erörterung des Art. 9 GG. 51 BVerfGE 96, 1 (6 f.) – Arbeitnehmerfreibetrag –; 101, 97 (309) – Arbeitszimmer –. 52 BVerfGE 93, 171 (176 f.) – Vermögensteuer –; 98, 106 (117) – Verpackungsteuer –. 53 BVerfGE 84, 239 (269) – Zinsbesteuerung –.
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b) Die Zahllast Ebenso ist der steuerliche Entzug von Geld ein rechtfertigungsbedürftiger Eingriff in den Eigentumsschutz des Art. 14 GG. Das Bundesverfassungsgericht beginnt seine Steuerrechtsprechung mit der Frage nach der enteignenden Wirkung einer Steuer54, bestätigt sodann in der Formel, eine Geldleistungspflicht verletze die Eigentumsgarantie grundsätzlich nicht55, die prinzipielle Vereinbarkeit von Eigentumschutz und Steuerrecht. Die Steuer ist notwendige Bedingung einer Rechtsordnung, die die Produktionsfaktoren Kapital (Art. 14 GG) und Arbeit (Art. 12 GG) prinzipiell in private Hand gibt, darf aber nach Art. 14 GG nicht die Intensität eines „erdrosselnden Eingriffs“ erreichen56. Die Besteuerung darf im Ergebnis nicht zu einer – auch schrittweisen – Konfiskation führen, die den Steuerpflichtigen übermäßig belasten und seine Vermögensverhältnisse grundlegend beeinträchtigen würde57. Die Steuer greift in die Handlungsfreiheit der Steuerpflichtigen ein, die in der Verfügungsgewalt und Nutzungsbefugnis über ein Vermögen angelegt ist und den Pflichtigen gerade in deren Ausprägung als persönliche Entfaltung im vermögensrechtlichen Bereich (Art. 14 GG) trifft58. Der in der Eigentumsgarantie gesicherte Schutz der privat verfügbaren ökonomischen Grundlage individueller Freiheit gilt auch und insbesondere für das Geld als „geprägte Freiheit“59; er umfasst alle vom Berechtigten durch Leistung erworbenen und nach eigenverantwortlicher Entscheidung privat nutzbaren Geldforderungen60. Nach dieser Gewährleistung muss der Gesetzgeber dem Einzelnen das für das Existenzminimum benötigte Einkommen61 und das Lebensführungsvermögen62 belassen und beim Zugriff auf den Sollertrag in der Gesamtsteuerlast „in der Nähe einer hälftigen Teilung zwischen privater und öffentlicher Hand“ verbleiben und 54 BVerfGE 2, 237 (241) – Gebäudeentschuldung –; 10, 141 (177) – Feuerversicherungsabgabe –; 16, 147 (187) – Werkfernverkehr –. 55 BVerfGE 4, 7 (17) – Investitionshilfe –; 6, 290 (298) – Ersatzvermögensabgabe –; 8, 274 (330) – Preisgesetz –; 10, 354 (371) – Bayerische Ärzteversorgung –. 56 Bereits seit BVerfGE 14, 221 (241) – Fremdrenten –; 19, 119 (129) – Couponsteuer – st.Rspr. 57 BVerfGE 14, 221 (241) – Fremdrenten –; 82, 159 (190) – Absatzfonds –; BVerfGE 105, 17 (48) – Sozialpfandbriefe –. 58 BVerfGE 93, 121 (137) – Vermögensteuer -, BVerfGE 105, 17 (48) – Sozialpfandbriefe –. 59 BVerfGE 97, 350 (370) – Euro –. 60 BVerfGE 45, 142 (179) – Kaufpreisanspruch –; 51, 193 (216 f.) – Warenzeichen –; 70, 278 (286) – Steuerlicher Erstattungsanspruch –; 78, 58 (71) – Ausstattungschutz –; 79, 174 (191) – Erbbaurecht –; 83, 201 (209) – Vorkaufsrecht –; 89, 1 (6) – Mieterrecht –; vgl. auch 70, 191 (199) – Fischereirechte –. 61 BVerfGE 87, 153 (169 f.) – Grundfreibetrag –. 62 BVerfGE 93, 121 (140 f.) –Vermögensteuer –; vgl. auch BVerfGE 93, 165 (177 f.) – Erbschaftsteuer –.
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insgesamt Belastungsergebnisse vermeiden, die einer vom Gleichheitssatz gebotenen Lastenverteilung nach Maßgabe finanzieller Leistungsfähigkeit zuwiderlaufen63. Diese quantifizierende Leitlinie verdeutlicht das Verbot enteignender Steuern. Bietet die Lenkungsteuer also die Regelbelastung als eine Alternative an, greift diese ebenfalls in Grundrechte ein. Dieser Eingriff steigert die Belastungswirkung, weil der Betroffene nicht mehr nur eine steuerliche Gemeinlast zu tragen hat, die sich wie Regen oder Schneefall ereignet, sondern sich willentlich dem – bei entsprechendem Freiheitsverzicht vermeidbaren – Regen oder Schneefall aussetzen muss. c) Das Subventionsrechtsverhältnis Das Steuersubventionsverhältnis begründet ein – vertragsähnliches – Rechtsverhältnis auf Gegenseitigkeit, das zu einem Zusammenwirken im Subventionsprogramm verpflichtet, nicht aber verfestigte Rechtspositionen entstehen lässt. Nimmt der Steuerpflichtige das Angebot einer Steuersubvention durch Tatbestandserfüllung an, erwirbt er keine durch Einsatz von Arbeit oder Kapital erworbene Rechtsposition, folglich kein durch Art. 14 Abs. 1 GG geschütztes Eigentum64. Ebenso verfestigt die in Art. 2 Abs. 1 und Art. 12 Abs. 1 GG gewährleistete Unternehmerfreiheit nicht eine zur Dispositionsgrundlage eines Unternehmers gewordene Gesetzeslage zu einem grundrechtlich geschützten Bestand65. Zwar versprechen Gesetze in ihrer Allgemeingültigkeit grundsätzlich ein hohes Maß an Beständigkeit66, bieten deshalb eine schützenswerte Vertrauensgrundlage67, begründen jedoch „keinen abwägungsresistenten“ Vertrauensschutz zugunsten des Steuerpflichtigen, sondern machen diesem bewusst, dass der Gesetzgeber zwischen der Bedeutung des gesetzgeberischen Anliegens für das Gemeinwohl einerseits und der Betroffenheit des in seinem Vertrauen geschützten Steuerpflichtigen in seinen Grundrechtspositionen andererseits abwägen wird68. Jedenfalls bei unbefristeten und über Jahrzehnte wirkenden Steuersubventionen kann der Steuerpflichtige nicht erwarten, dass die gesetzlichen Rahmenbedingungen nicht mehr zu seinen Lasten verändert werden dürfen69. Gerade innerhalb eines zur wechselseitigen Rücksichtnahme verpflichtenden Subventionsrechtsverhältnisses muss der Steuerpflichtige seine langfristigen Dispositionen auch auf die sich wandelnden Anliegen des Staates und seiner demokratischen Gesetzgebung einrichten70. Will der Gesetzgeber erkennbar 63 64 65 66 67 68 69
BVerfGE 93, 121 (138) – Vermögensteuer –. BVerfGE 97, 67 (83) – Schiffsbausubvention –. BVerfGE a. a. O. BVerfGE a. a. O.; BVerfGE 105, 17 (48) – Sozialpfandbriefe –. BVerfGE 97, 67 (80). BVerfGE a. a. O.; BVerfGE 105, 17 (48) – Sozialpfandbriefe –. BVerfGE 105, 17 (48) – Sozialpfandbriefe –.
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eine Subvention aufgeben, muss der Steuerpflichtige seinen steuerveranlassten Kapitaleinsatz bewusst als Einsatz von Risikokapital bemessen, gegebenenfalls vertragliche Vorbehalte und Kündigungsrechte vorsehen71. Im Rahmen eines Steuersubventionsverhältnisses finden das Verhältnismäßigkeitsprinzip und der Gleichheitssatz in dem Lenkungsziel ihren Rahmen. Die Steuerentlastung muss in ihrem jeweiligen Zweck gerechtfertigt werden, die Intensität der Entlastung für das Erreichen dieses Zwecks geeignet, erforderlich und angemessen sein.
d) Verfassungsflüchtigkeit der „Quersubventionierung“ Gesetzliche Subventionen gewinnen eine besondere Distanz zu ihren verfassungsrechtlichen Bindungen, wenn das Gesetz einen Grundrechtsberechtigten verpflichtet, einen anderen teilweise zu finanzieren (sogenannte Quersubventionierung)72. Bei dieser Form der Subvention nimmt der Staat nicht eine Abgabe entgegen und wendet den Ertrag dem Subventionsempfänger zu, sondern wählt den abgekürzten Weg der unmittelbaren Zuwendung des Abgabenschuldners an den Subventionsempfänger. Das Erneuerbare Energie – Gesetz73 sieht in § 3 eine Abnahme- und Vergütungspflicht von regenerativ erzeugtem Strom durch die Netzbetreiber vor. Dadurch werden die Netzbetreiber verpflichtet, die Erzeuger regenerativer Energien zu subventionieren. Die Abgabe begründet kein Subventionsangebot, sondern eine Subventionspflicht, die unmittelbar unter Privaten zu erfüllen ist. Der Staat regelt eine Leistungspflicht und weist die Begünstigung zwangsweise zu, scheint sich so durch die Handlungsform der Quersubventionierung aller verfassungsrechtlichen Verantwortlichkeit für diese Doppelregelung entziehen zu wollen. In ähnlichen Handlungsformen sucht das Beitragssicherungsgesetz74 die Krankenkassen zu subventionieren. Das Gesetz sieht vor, dass die Krankenkassen von den Apotheken einen Abschlag vom maßgeblichen Arzneimittelabgabepreis von bis zu 10% erhalten, verpflichtet dann aber die pharmazeutischen Unternehmen, den Apotheken den Abschlag zu erstatten. Diese Quersubventionierungen stützen sich zwar auf die Sachkompetenzen der Art. 70 ff. GG, greifen aber abgabenrechtlich auf private Zahlungskraft zu, um diese einem anderen Privaten zuzuwenden. Sie verfolgen dabei Gemeinwohlbelan70 BVerfGE 72, 200 (254 f.) – Deutsch-schweizerisches Doppelbesteuerungsabkommen –; 97, 67 (78 f.) – Schiffsbausubvention –; 105, 17 (38 f., 40 f.) – Sozialpfandbriefe –. 71 BVerfGE 97, 67 (82 f.). 72 Vgl. dazu H. Kube / U. Palm / Chr. Seiler, Finanzierungsverantwortung für Gemeinwohlbelange, NJW 2003, S. 927. 73 vom 1. 4. 2000, BGBl. I 2000, 305. 74 vom 23. 12. 2002, BGBl. I 2002, 4637.
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ge, die außerhalb des im jeweiligen Privatrechtsverhältnis vereinbarten Interessenausgleichs liegen, erreichen das ökologische Ziel einer Stärkung erneuerbarer Energien oder das gesundheitspolitische Ziel einer Begrenzung der Beitragspflichten ohne Abgabenschuldverhältnis, Haushaltswirkung und Subventionsrechtsverhältnis. Sie bleiben damit in ihrer verfassungsrechtlichen Sichtbarkeit, der Zuordnung von Verantwortlichkeiten zu Kompetenz- und Befugnisnormen, auch in ihrer Haushaltsflüchtigkeit hinter den Sonderabgaben zurück, die das Bundesverfassungsgericht nur als seltene Ausnahme zulässt75. Sieht man diese Quersubventionierung im Zusammenwirken mit den Sonderabgaben und auch den sonstigen Abgaben76, etwa der Fehlbelegungsabgabe77, die eine dem Bauherren gewährte, von diesem aber an den Mieter weiterzugebende Subvention bei Wegfall der Wohnberechtigung nach den Maßstäben des sozialen Wohnungsbaus vom Mieter zurückfordert, so wird eine Entwicklung des Abgabenrechts sichtbar, die grundsätzlichen verfassungsrechtlichen Bedenken begegnet, weil sie die im Grundgesetz vorgesehenen Formen und Verfahren der Abgabenerhebung verlassen, die Kompetenzordnung unterlaufen, eine Haushaltsflüchtigkeit organisieren und die Maßstäbe von Lastengleichheit und Übermaßverbot zu verfremden drohen.
3. Fremdkörper in der Finanzverfassung Die Steuersubvention ist auch im System der Finanzverfassung ein Fremdkörper. Sie beansprucht die Steuergesetzgebungskompetenz für Verwaltungszwecke, regelt also in der Form eines Finanzierungsinstruments eine Verhaltenslenkung. Damit stellt sich die Frage, ob für dieses finanzierende und ordnende Gesetz eine Steuerund eine Verwaltungskompetenz notwendig ist78. Das Bundesverfassungsgericht anerkennt die Steuersubvention als Regelung der jeweiligen Steuerart – der Einkommensteuer, der Körperschaftsteuer, der Kraftfahrzeugsteuer –, fordert also keine Zusatzgesetzgebungskompetenz für die verwaltungsrechtlichen Regelungswirkungen, setzt allerdings voraus, dass das Lenkungsteuerrecht und das lenkungsbetroffene Verwaltungsrecht so aufeinander abgestimmt sind, dass den Normadressaten keine gegenläufigen Regelungen erreichen, die Rechtsordnung also folgerichtig und widerspruchsfrei bleibt79. Der Steuergesetzgeber muss also, wenn er eine Steuer als Verwaltungsmittel einsetzen will und damit in den Kompetenzbereich des Sachgesetzgebers übergreift, die beabsichtigte Lenkung der Gesamtkonzeption der sachlichen Regelung und deren konkreten Regelungen anpassen; BVerfGE 82, 159 (181) – Absatzfonds –; 91, 186 (201 f.) – Kohlepfennig –. Vgl. dazu P. Kirchhof, Staatliche Einnahmen, HStR Band IV, 1990, § 88 Rn. 269 f. 77 BVerfGE 78, 249 (266 ff., 277 ff.). 78 Vgl. P. Selmer, Steuerinterventionismus und Verfassungsrecht, S. 138 f. 79 BVerfGE 98, 106 (118 f.) – Verpackungsteuer –; 98, 83 (97 f., 104 f.) – Landesabfallabgabe –. 75 76
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andernfalls verstößt das lenkende Abgabengesetz gegen die grundgesetzliche Kompetenzordnung80. Sodann erscheint die Steuersubvention als bloße Minderung der Steuererträge (Art. 106 GG), nicht als Geldleistung (Art. 104 a Abs. 3 GG) und Ausgabentragung (Art. 104 a Abs. 1 GG). Für die Landesertragsteuern (Art. 106 Abs. 2 GG) und die Gemeinschaftsteuern (Art. 106 Abs. 3 GG) stellt sich damit die Frage, ob der Bundesgesetzgeber durch die Wahl der Steuersubvention den eigenen Haushalt schonen und die Subventionslasten ganz oder teilweise den Landes- und Gemeindehaushalten zuweisen kann81. Die Ertragsverteilungsnorm des Art. 106 GG handelt allein von dem Steueraufkommen, das verfügbar ist; die Lastenverteilungsnorm des Art. 104 a GG regelt die Ausgabenverantwortung, ohne nach der Herkunft der Mittel zu fragen. Ausgabenpolitik mit dem Instrumentarium der Steuergesetzgebung sucht also einen verfassungsflüchtigen Sonderweg der Gesetzgebung zwischen Art. 104 a GG und Art. 106 GG. Auch der Finanzausgleich zwischen Bund und Ländern (Art. 106 Abs. 3 Satz 3 ff. und Abs. 4 und 5 GG) sowie zwischen den Ländern (Art. 107 GG) baut auf eine unzureichende Bemessungsgrundlage, wenn der Bund durch aufkommensverkürzende Steuersubventionen bereits einen Teil des durch Regelbesteuerung verfügbaren Steueraufkommens verwendet hat, ohne dass dieses beim Finanzausgleich bereits als vorweggenommene Wahrnehmung der Finanzkraft des Bundes dokumentiert würde. Deshalb sind Steuersubventionen allenfalls in dem Umfang zulässig, in dem der durch sie veranlasste Ertragsausfall die Ausgewogenheit der verfassungsrechtlichen Ertragsverteilung und des gesetzlichen Finanzausgleichs nicht stören. Wenn Steuersubventionen ähnlich wie Leistungssubventionen wirken, berühren sie auch die Budgethoheit des Parlaments (Art. 110 GG), das über die Verwendung des Steueraufkommens jeweils neu für das Haushaltsjahr entscheidet. Die Steuersubvention hingegen verstetigt den Subventionsanspruch über die Haushaltsjahre hinweg, unterbindet also eine jährliche Überprüfung von Dringlichkeit und Wirksamkeit der Subvention. Bei Landesertrag- und Gemeinschaftsteuern verfügt der Bundesgesetzgeber zudem vorweg über einen Teil des Landes- und Kommunalbudgets, dirigiert also in den Autonomiebereich eines anderen autonomen Organs hinein. Auch insoweit wirkt die Steuersubvention als parlamentsrechtliche und bundesstaatliche Intervention, unterliegt auch deshalb den Postulaten der Mäßigung und des Subventionsabbaus. Vielfach bleiben Parlament und Öffentlichkeit auch über die Höhe des Steuersubventionsvolumens im Unklaren, weil dieses Subventionsvolumen in keinem Budget ausgewiesen ist, eine wirksame Sparsamkeits- und Wirtschaftlichkeitskontrolle damit wesentlich erschwert ist. BVerfGE 98, 83 (97 f., 104 f.). Vgl. dazu W. Höfling, Verfassungsfragen einer ökologischen Steuerreform, Zur Jahrestagung „Umweltabgaben“ der Deutschen Steuerjuristischen Gesellschaft am 3. / 4. 9. 1992, StUW 1992, S. 242 (246). 80 81
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Damit werden auch die Aussagen über den Anteil von öffentlicher und privater Hand am Bruttoinlandsprodukt (die „Staatsquote“) fragwürdig. Wenn der Bundesgesetzgeber Steuersubventionen durch Steuermindereinnahmen finanziert, übt er finanzwirtschaftlich ein Herrschaftsinstrument aus, das ihm Einfluss auf das in dem Steuersubventionsprogramm gebundene Privatkapital und die dort garantierten Verhaltensfreiheiten vermittelt. Diese Herrschaftsausweitung erscheint formal als Einnahmenverzicht, also als Rücknahme der „Staatsquote“. Aussagen über diese Quote sind deshalb nur beachtlich, wenn sie das Phänomen der Steuersubvention zur Kenntnis nehmen und quantifizieren. Die Steuersubvention ist nur zur Verwirklichung eines Verwaltungsprogramms geeignet, dessen Erfolg letztlich verzichtbar ist. Das steuerliche Subventionsangebot erlaubt dem Adressaten, sich durch Steuerzahlung von der Verwaltungspflicht „freizukaufen“, sich also dem steuerlich empfohlenen Verwaltungsprogramm durch Steuerzahlung zu entziehen. Die Steuersubvention ist deshalb jedenfalls bei den unverzichtbaren Verwaltungsaufgaben, insbesondere der inneren und äußeren Sicherheit, der Grundversorgung und der Bildung, als Handlungsmittel nicht geeignet. Der Vollzug der im Steuergesetz überbrachten Steuersubvention obliegt den Finanzbehörden, macht diese also je nach Subventionszweck zu Verwaltungsbehörden des Umweltschutzes, der städtebaulichen Entwicklung, der Bildungs- und Kulturförderung. Deswegen liegt es nahe, bei Feststellung der Subventionsvoraussetzungen und ihres Fortbestandes die jeweiligen Verwaltungsbehörden förmlich zu beteiligen82. Für Streitigkeiten über Bescheide, die Steuersubventionen gewähren, sind grundsätzlich die Finanzgerichte zuständig. Soweit sich eine Steuervergünstigung allerdings auf Bescheinigungen der zuständigen Verwaltungsbehörden stützen, ist regelmäßig der Verwaltungsrechtsweg gegeben83. Schließlich müssen in einer widerspruchsfreien und folgerichtigen Rechtsordnung84 auch etwaige Gegenläufigkeiten von Steuersubvention und Sondersteuerlast geprüft werden. Wenn gegenwärtig einerseits die Energie subventioniert wird, der Staat also zum Energieverbrauch anregt, dieser andererseits durch die Ökosteuer sonderbelastet wird, der Staat also den Energieverbrauch bewusst erschwert, so leidet die Rechtsordnung unter einem systemimmanenten Widerspruch. Wird die Ökosteuer sodann erhoben, um die Lohnnebenkosten zu senken und einen Teil der Rentenbeiträge zu finanzieren, soll die Ökosteuer andererseits den Energieverbrauch so verteuern, dass der Steuerpflichtige auf den Verbrauch verzichtet, so ist auch diese Regelung in sich widersprüchlich: Ist der Finanzminister in seinen Er82 Vgl. BFH, BFH / NV 1989, 413; M. Rodi, Die Subventionsrechtsordnung, 2000, S. 658 ff.; 698 f. 83 BVerwG, BB 1987, 166 – Bescheinigung für Umweltschutzabschreibung –. 84 Vgl. oben Fn. 26.
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tragserwartungen erfolgreich, erbringt die Ökosteuer also auf der Grundlage stetigen oder wachsenden Energieverbrauchs gleichmäßige oder steigende Erträge, so wird das Umweltschutzziel verfehlt. Ist der Umweltminister in seinen Vermeidungsstrategien erfolgreich, sinkt der Energieverbrauch und damit das Steueraufkommen, die beabsichtigte Senkung der Lohnnebenkosten kann jedenfalls in der vorgesehenen Höhe nicht erreicht werden. Finanzminister und Umweltminister geraten in eine institutionelle Befangenheit. Damit fehlt es auch an dem Erfordernis eines hinreichend bestimmten, die steuerliche Sonderlast rechtfertigenden Lenkungszwecks85.
III. Europarechtliche Maßstäbe Das Europarecht regelt eine grundsätzlich wettbewerbsneutrale Rechtsordnung, stellt also dem auf das Binnensystem einer Steuer bezogenen verfassungsrechtlichen Gebot der Folgerichtigkeit einen marktorientierten Maßstab zur Seite. Dabei verfügt die Gemeinschaft kaum über Kompetenzen und Befugnisse, um selbst Steuersubventionen zu regeln. Sie hat begrenzt die Möglichkeit, die mitgliedstaatlichen Regelungen über Steuersubventionen zu harmonisieren. Praktisch bedeutsam sind die materiellen Schranken des Beihilfeverbots, der Diskriminierungsverbote und der Freiheitsrechte.
1. Keine Steuerhoheit der Gemeinschaft Die Gemeinschaft hat – abgesehen von der Besteuerung eigener Bediensteter – keine eigene Steuerertragshoheit. Auch die Mehrwertsteuereigenmittel begründen keine eigenen Steuereinnahmen der EG, sondern vermitteln der EG die Teilhabe am Aufkommen mitgliedstaatlicher Steuereinnahmen86. Die EG erhält nicht einen prozentualen Anteil am mitgliedstaatlichen Mehrwertsteueraufkommen, sondern einen Beitrag der Mitgliedstaaten, der nach den mitgliedstaatlichen Steuereinnahmen bemessen wird. Die Mehrwertsteuerpflicht des Steuerpflichtigen wird allein von den Mitgliedstaaten begründet, die Eigenmittel der Gemeinschaft werden in ihrer Art und Höhe gemäß Art. 269 Abs. 2 EG letztlich durch die Entscheidung der Mitgliedstaaten definiert87. Die Gemeinschaft könnte hier also keine gemeinschaftseigenen Steuersubventionen einführen.
Vgl. BVerfGE 93, 121 (178) – Vermögensteuer –; 99, 280 (296 f.) – Zulage Ost –. Eckhoff, in: D. Birk (Hrsg.), Handbuch des europäischen Steuer- und Abgabenrechts, 1995, § 7 Rn. 11; K. Vogel / Waldhoff, in: Bonner Kommentar, Vorbemerkung zu Art. 104 a bis 115 Rn. 648; a.A. Hidien, in: Bonner Kommentar, Art. 106 Rn. 1524 f.; Heun, in: H. Dreier, Grundgesetz, Kommentar, Band III, 2000, Art. 106 Rn. 6. 87 Vogel / Waldhoff a. a. O. Rn. 650. 85 86
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2. Harmonisierung des mitgliedstaatlichen Steuerrechts Im Recht der Europäischen Gemeinschaften ist Steuerrecht Sache der Mitgliedstaaten, die sowohl über die Gesetzgebungs- wie auch über die Ertragshoheit verfügen. Art. 93 EGV sieht eine Harmonisierung der indirekten Steuern vor. Für die direkten Steuern gilt Art. 94 EGV, der zu einer - im Vergleich zur Harmonisierung einen geringeren Grad der Vereinheitlichung fordernden - Angleichung ermächtigt. Die Angleichung beschränkt sich auf Regelungen, die für den freien Verkehr innerhalb des Binnenmarktes bei grenzüberschreitenden Tätigkeiten unerlässlich sind88.
a) Harmonisierung und Angleichung Nach Art. 93 EG kann der Rat einstimmig Bestimmungen zur Harmonisierung von Rechtsvorschriften über Umsatzsteuern, Verbrauchsabgaben und die sonstigen indirekten Steuern erlassen, soweit diese Harmonisierung für die Errichtung und das Funktionieren des Binnenmarktes notwendig ist. Diese Ermächtigung zur Rechtsangleichung berechtigt, vorgefundene Unterschiede zu verringern89. Dabei gestattet Art. 93 EG in Verbindung mit dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung (Art. 5 Abs. 1 EG) nur Harmonisierungsmaßnahmen, die für die Errichtung und das Funktionieren des Binnenmarktes notwendig, also zur Beseitigung von Wettbewerbsverzerrungen geboten sind90. Eine Harmonisierung wird deshalb in der Regel nur in Betracht kommen, wenn die von den Mitgliedstaaten angebotenen Steuersubventionen den Wettbewerb und damit die Grundfreiheiten beeinträchtigen. Dabei wird der Freiheitseingriff gegenüber dem Freiheitsberechtigten nicht deshalb verneint werden können, weil die Subvention nur begünstige; sie kauft dem Adressaten – motivationsbestimmend – ein Stück seiner Handlungsfreiheit ab91 und muss deshalb auch im Europarecht sensibler als Freiheitsproblem erkannt und gehandhabt werden. Für die Angleichung der direkten Steuern steht nur die allgemeine Angleichungsermächtigung des Art. 94 EG zur Verfügung. Deren Voraussetzungen sind enger: Eine Angleichung kommt nur in Betracht, wenn eine steuerrechtliche Regelung sich tatbestandlich greifbar auf Freiheitsrechte, die Marktgleichheit oder die Wettbewerbsfreiheit, auswirkt. Praktisch wirkt dieses Diskriminierungsverbot insbesondere, wenn Mitgliedstaaten gezielt Steuersubventionen anbieten, um ausländische Investoren anzulocken. Dadurch wird der innergemeinschaftliche StandortVgl. Herrnfeld, in J. Schwarze: EU-Kommentar, 2000, Art. 94 Rn. 11, 16 Zur Frage, ob die Harmonisierung auf die Vereinheitlichung („Vollharmonisierung“) meint, vgl. Stockmann, Möglichkeiten und Grenzen der Steuerharmonisierung in der Europäischen Gemeinschaft, FR 1996, S. 693 (694 f.). 90 Vgl. EuGH vom 5. 10. 2000, RS. C 376 / 98, Slg. 2000, I 8419, Tz. 106 f. (Deutschland / Parlament und Rat – Tabakwerberichtlinie –). 91 Vgl. oben II. 2. a). 88 89
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wettbewerb durch eine staatliche Maßnahme verzerrt, der mitgliedstaatlichen Rechtsordnung also Einfluss auf die ökonomischen Entscheidungen der Marktteilnehmer eingeräumt. Die Wettbewerbsbedingungen werden so verfälscht92; der Wettbewerb wird „schädlich“93. b) Subsidiarität und Erforderlichkeit Eine Harmonisierung der Steuervergünstigungen durch Gemeinschaftsrecht findet seine Grenze auch in den Prinzipien der Subsidiarität (Art. 5 Abs. 2 EG) und der Verhältnismäßigkeit (Art. 5 Abs. 3 EG), das – anders als das deutsche Verfassungsrecht94 – nicht nur Freiheitseingriffe mäßigt, sondern die Gemeinschaftskompetenz auch bei Eingriffen in den Interessenbereich der Mitgliedstaaten begrenzt95. Das Subsidiaritätsprinzip, das auch bei der steuerrechtlichen Harmonisierung anwendbar ist96, gestattet eine Ausübung der – nicht ausschließlichen – Zuständigkeit durch Gemeinschaftsorgane nur, wenn und soweit die Ziele der jeweiligen Maßnahmen durch Handeln der Mitgliedstaaten nicht ausreichend verwirklicht und daher wegen ihres Umfangs oder ihrer Wirkungen besser durch Gemeinschaftsorgane erreicht werden können. Diese Kompetenzausübungsschranke hat wegen ihres formalen Gehalts bisher die Kompetenzen der Mitgliedstaaten kaum stärken können, weil letztlich die EG als größere Einheit entscheidet, ob sie die jeweiligen Aufgaben wirksamer erfüllen könne als die Mitgliedstaaten. Für die Steuervergünstigungen könnte das Prinzip jedoch konkretere Tatbestandlichkeit gewinnen: Eine gemeinschaftsrechtliche Regelung ist allenfalls dann erforderlich, wenn durch unterschiedliche nationale Steuervergünstigungen Hemmnisse im Binnenmarkt entstehen würden. Eine gemeinschaftsrechtliche Steuervergünstigung ist demnach – soweit materiell im Einklang mit Gemeinschaftsrecht – nur möglich, wenn mitgliedstaatliche steuerliche Regelungen wettbewerbsverzerrend wirken würden. Die Kompetenzausübungsschranke der Erforderlichkeit regelt demgegenüber – dem Subsidiaritätsprinzip nahe verwandt – Intensität und Dichte der gemeinschaftlichen Regelungen97. Der schonende Ausgleich ist zwischen dem Integrationsinteresse der EG und der nationalen Identität des Mitgliedstaates herzustellen98. Im Ergebnis führt das Erforderlichkeitsprinzip zu einer steuerlichen HandlungsEuGH, vom 11. 6. 1991, Rs. 300 / 89, Slg. 1991, I 2867, Tz. 14 – Titandioxid –. Vgl. dazu oben Fn. 13, 14. 94 BVerfGE 84, 25 ff. – Schacht Konrad –. 95 J. Schwarze, Europäisches Verwaltungsrecht, Band II, 1988, S. 841. 96 EuGH vom 10. 12. 2002, Rs. C 491 / 01, Tz. 179 (Queen / BAT und Imperial Tabacco). 97 Callies, in: ders. / Ruffert, (Hrsg.), Kommentar zum EU-Vertrag und EG-Vertrag, 2. Aufl., 2002, Art. 5 Rn. 45. 98 Callies, Subsidiaritäts- und Solidaritätsprinzip in der Europäischen Union, 2. Aufl., 1999, S. 127. 92 93
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kompetenz der EG, die auf das unerlässliche Mindestmaß für das Funktionieren des Binnenmarktes beschränkt ist99. Daraus ergibt sich, dass materielle Prinzipien (Grundfreiheiten, Beihilfeverbot) vor der Harmonisierung durchzusetzen sind, die Empfehlung der verbindlichen Regelung vorgeht, die Richtlinie vor der Verordnung, der rechtliche Rahmen vor der Detailregelung zu wählen ist100. Europarechtliche Steuervergünstigungen sind deshalb das letzte Mittel zur Erreichung gemeinschaftsrechtlicher Ziele. 3. Materielle Grenzen mitgliedstaatlicher Steuervergünstigungen Während gemeinschaftsrechtliche Steuervergünstigungen und ebenso sekundärrechtliche Harmonisierungen für die Steuersubvention nur von geringer Bedeutung sind, begründen die materiellen Maßstäbe des primären Europarechts deutliche Grenzen für das mitgliedstaatliche Steuersubventionsrecht. a) Die Diskriminierungsverbote Die Arbeitnehmerfreizügigkeit (Art. 39 EG), die Niederlassungs- (Art. 43 EG) und die Dienstleistungsfreiheit (Art. 49 EG), sind auch als Diskriminierungsverbote ausgestaltet. Auch die Kapitalverkehrsfreiheit ist zwar als Beschränkungsverbot formuliert, regelt in diesem allgemeinen Verbot aber auch den besonderen Fall der diskriminierenden Beschränkung. Daneben gelten die besonderen abgabenrechtlichen Diskriminierungsverbote für die indirekten Steuern (Art. 90 bis 92 EG), die insoweit der allgemeinen Gewährleistung von Grundverkehrsfreiheiten vorgehen. Sie verbieten den Mitgliedstaaten und den Gemeinschaftsorganen101, Waren aus anderen Mitgliedstaaten durch diskriminierende oder protektionistische Abgaben zu belasten. Der Gedanke dieses besonderen und des allgemeinen Diskriminierungsverbots (Art. 12 EG) untersagt auch Regelungen, die Lieferungen und Leistungen aus anderen Mitgliedstaaten (regel) belasten, die Rechtssubjekte im eigenen Mitgliedstaat aber entlasten. Ungeachtet der einzelnen Rechtsfolgen dieser Diskriminierungsverbote ist jede wettbewerbsintervenierende und diskriminierende Steuersubvention unzulässig. Der Vertrag verbietet Diskriminierungen aus Gründen der Staatsangehörigkeit, lässt also nur Steuersubventionen zu, die in der Rechtsordnung jedes Mitgliedstaates unabhängig von der Staatsangehörigkeit des jeweiligen Adressaten gelten. 99 Kuntze, Die Kompetenzen der Europäischen Gemeinschaft auf dem Gebiet des Steuerrechts, 1999, S. 253. 100 Vgl. Europäische Kommission, Bericht des unabhängigen Sachverständigenausschusses zur Unternehmensbesteuerung (Rudin-Kommission), 1992, S. 213; K. Vogel, Harmonisierung des internationalen Steuerrechts in Europa als Alternative zur Harmonisierung des (materiellen) Körperschaftsteuerrechts, StuW 1993, S. 380 (385). 101 EuGH vom 5. 5. 1982, Rs. 15 / 81, Slg. 1982, 1409, Tz. 42 – Gaston Schul –.
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Darüber hinaus muss die Steuersubvention so gestaltet werden, dass sie im innergemeinschaftlichen grenzüberschreitenden Verkehr wettbewerbsneutral bleibt. Deswegen ist die Subvention im Dienst allgemeiner Lenkungsziele, etwa der Sozialpolitik und des Umweltschutzes, zulässig, darf aber nicht den EU-Steuerausländer diskriminieren102.
b) Die Beihilfeverbote der Art. 87 – 89 EG Nutzt ein Steuerpflichtiger die Vorteile unterschiedlicher Steuersysteme in den Mitgliedstaaten, indem er Produktion, Kapital, Arbeitsplatz oder Wohnsitz steuerbewusst verlagert, nimmt er die in den Marktfreiheiten angelegte Chance, Steuerlasten zu senken, in Anspruch. Diese Inanspruchnahme von Grundfreiheiten ist kein Freiheitsmissbrauch, rechtfertigt deshalb auch keine missbrauchsabwendende Ungleichbehandlung103. Die Mitgliedstaaten sind jedoch durch das Verbot staatlicher oder aus staatlichen Mitteln gewährter Beihilfen (Art 87 I EGV) gebunden. Der Verlust von Steuereinnahmen steht dabei einer direkten Gewährung öffentlicher Mittel gleich104. Steuersubventionen sind deshalb regelmäßig Beihilfen im Sinne von Art. 87 Abs. 1 EG105. Die Steuersubvention wendet freiwillig einen finanziellen Vorteil zu, wird aus staatlichen Mitteln gewährt und belastet die öffentlichen Haushalte, begünstigt bestimmte Unternehmen oder Produktionszweige106. Das Beihilfeverbot ist ein materielles Prinzip, keine Schranke der Harmonisierung. Ob eine bestimmte Regelung ein Besteuerungsprinzip verdeutlicht oder aber – selektiv – durchbricht107, bestimmt sich letztlich nach den jeweiligen nationalen Besteuerungsprinzipien, also nach dem Prinzip von Widerspruchsfreiheit und Folgerichtigkeit108. Beihilfen sind aber nicht generell verboten, sondern dürfen nur nicht den Wettbewerb verfälschen und den Handel beeinträchtigen. Das Verbot wettbewerbsverfälschender Beihilfen trifft aber nur besondere, auswählend bevorzugende Regelungen, die bestimmte Unternehmen oder Produktionszweige begünstigt109. Die allgemeine Befugnis eines Mitgliedstaates, seine Steuerpolitik au102 Vgl. A. Cordewener, Europäische Grundfreiheiten und nationales Steuerrecht, 2002, 976 f.; für eine Übersicht: P. Kirchhof, in: ders. (Hrsg.), Einkommensteuergesetz, Kompaktkommentar, 3. Aufl., 2003, Einleitung Rn. 60 f. 103 Vgl. M. Lehner, Grundfreiheiten im Steuerrecht der EU-Staaten, 2000, S. 63. 104 Mitteilung der Kommission über die Anwendung der Vorschriften über staatliche Beihilfen auf Maßnahmen im Bereich der direkten Unternehmensbesteuerung, ABl EG 98 Nr C 384, 3 (4) 105 EuGH vom 19. 9. 2000, Rs. C-156 / 98, Slg. 2000, I-6857, Tz. 25 – 28 Deutschland / Kommission; W. Cremer, in: Callies / Ruffert (Fn. 97), Art. 87 EGV Rn. 18. 106 P.-C. Müller-Graff, Die Erscheinungsformen der Leistungssubventionstatbestände aus wirtschaftsrechtlicher Sicht, ZHR 152 (1988), S. 403 (415 f.). 107 Müller-Graff (F. 106), S. 403 (418). 108 Vgl. oben Fn. 26.
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tonom zu gestalten, bleibt unberührt. Deswegen stellen die Festlegung von Steuersätzen, die Bestimmungen über Wertminderungen, Abschreibungen, Verlustvorund -rücktrag keine staatlichen Beihilfen dar, wenn sie für alle Unternehmen und Produktionszweige gleichermaßen gelten. Auch die Verfolgung allgemeiner politischer Ziele durch Steuerlenkung, insbesondere zur Förderung von Beschäftigung, Ausbildung, Forschung und Entwicklung in einem Mitgliedstaat ist zulässig110. Die Mitgliedstaaten haben einen „Verhaltenskodex für die Unternehmensbesteuerung und über steuerliche Beihilfen“111 vereinbart, in dem sie sich politisch verpflichten, sich jeglicher Maßnahmen zu enthalten, die im sogenannten Steuerwettbewerb schädliche Auswirkungen entfalten (Stillhalteverpflichtung), und ihre geltenden Vorschriften zu überprüfen und erforderlichenfalls zu ändern (Rücknahmeverpflichtung). Die Vereinbarung bietet Kriterien für die Ermittlung „schädlicher“ steuerlicher Maßnahmen insbesondere in einer gegenüber dem üblicherweise im Mitgliedstaat geltenden Besteuerungsniveau deutlich geringeren Effektivbesteuerung und sieht ein Beurteilungsverfahren für solche Maßnahmen vor112. Steuersubventionen stehen unter Genehmigungsvorbehalt durch die Kommission (Art. 88 EG)113. Eine gesetzlich angebotene Steuersubvention darf jedenfalls nicht vollzogen werden, bis die Kommission genehmigt hat. Stellt die Kommission fest, dass die Steuersubvention mit der Beihilferegelung des EG-Vertrages unvereinbar ist, müssen vollzogene Bescheide rückabgewickelt werden. Das Europarecht verlangt die Rückforderung gemeinschaftsrechtswidriger Vergünstigungen; die Abgabenordnung zeigt bei europarechtskonformer Anwendung des § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO (rückwirkendes Ereignis) oder des § 173 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO (nachträgliches Bekanntwerden erheblicher Tatsachen) den Weg zum mitgliedschaftlichen Vollzug dieser Vorgaben.
c) Die Freiheitsrechte Auch europarechtlich finden die Steuersubventionen eine Grenze in den Freiheitsrechten, zunächst in den vier Marktfreiheiten, dann aber auch in den allgemeinen Menschenrechten, wie sie in der Menschenrechtskonvention und der Verfassungsüberlieferung der Mitgliedstaaten gewährleistet sind (Art. 87 EGV).
109 Mitteilung der Kommission über die Anwendung der Vorschriften über staatliche Beihilfen auf Maßnahmen im Bereich der direkten Unternehmensbesteuerung (Fn. 104). 110 Mitteilung der Kommission über die Anwendung der Vorschriften über staatliche Beihilfen auf Maßnahmen im Bereich der direkten Unternehmensbesteuerung (Fn. 104). 111 ABl EG 98 Nr C 2, 1 ff. 112 Vgl. Entschließung des Rates und der im Rat vereinigten Vertreter der Regierungen der Mitgliedstaaten vom 1. 12. 97 über einen Verhaltenskodex für die Unternehmensbesteuerung ABl EG 98 Nr C 2, 3 f. 113 Vgl. im einzelnen W. Cremer (Fn. 105), Art. 88 EGV, Rn. 1 f.
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aa) Die Freiheitsrechte des Begünstigten Im Gemeinschaftsrecht wird noch mehr darum gerungen werden müssen, die motivationsbestimmende Lenkung als Freiheitseingriff zu verstehen. Wenn die Grundfreiheiten vor allem als Diskriminierungsverbote – als Gebot der Ausländerund Inländergleichbehandlung – verstanden und gehandhabt werden, so sichern diese Rechte eine Teilhabe an einem Steuervorteil, schirmen die Freiheitswahrnehmung aber weniger gegen die subventionsrechtliche Intervention ab. Auf der Grundlage des Art. 95 EG können nur Regelungen erlassen werden, die vorrangig der Verwirklichung des Binnenmarktes dienen und in diesen Zielsetzungen das Instrument der Steuervergünstigung nutzen. Allerdings schützen die Grundfreiheiten grenzüberschreitende Betätigungen, erfassen also nur steuerliche Lenkungen, die den Begünstigten zur Grenzüberschreitung veranlassen oder daran hindern wollen. Demgegenüber erfassen die allgemeinen Grundrechte zwar auch die allgemeine Betätigungsfreiheit, verpflichten aber nur die Union114. bb) Die Freiheitsrechte der Nichtbegünstigten Die Freizügigkeit, die Niederlassungsfreiheit, die Dienstleistungsfreiheit und die Kapitalverkehrsfreiheit begründen ein Diskriminierungsverbot, insbesondere aufgrund der Staatsangehörigkeit, heben aber im übrigen alle Beschränkungen für den Freiheitsberechtigten aus einem anderem Mitgliedstaat oder auch für den Inländer auf115. Steuersubventionen dürfen deshalb tatbestandlich nicht so angeboten werden, dass das Subventionsangebot bei grenzüberschreitenden Betätigungen nicht oder nicht im gleichen Umfang gilt. Das Angebot darf insbesondere nicht entfallen, wenn der Adressat von seiner Freizügigkeit Gebrauch macht116. Im Ergebnis organisiert auch das Gemeinschaftsrecht keine prinzipielle Gegenwehr gegen Steuersubventionen, entwickelt aber in seiner Marktorientierung Erfordernisse der Wettbewerbsneutralität, die den Subventionsraum eng umgrenzen. Jede Rechtsordnung, die auf Grundfreiheiten und Menschenrechte setzt, trifft auf die Frage, ob Prosperität und allgemeine Versorgungssicherheit am ehesten aufgrund der individuellen freiheitlichen Anstrengung oder aber der subventionsrechtlichen Lenkung erreichbar ist. Diese Frage ist seit Jahrzehnten, nicht zuletzt durch das Werk von Peter Selmer, beantwortet.
114 Art. II – 51 des Entwurf eines Vertrags über eine Verfassung für Europa, dem Europäischen Rat auf seiner Tagung in Thessaloniki am 20. Juni 2003 überreicht, COMV 820 / 03, = Art. 51 der Charta der Grundrechte der Union. 115 Vgl. Cordewener (Fn. 102), S. 104 ff. 116 Vgl. EuGH, Urteil v. 19. 9. 2000, Rs. C-156 / 98, BStBl. II 2001, 47 (53); Cordewener (Fn. 102), S. 243 f.
Umweltabgaben in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Von Hans-Joachim Koch
I. Themenstellung Die staatliche Steuerung in modernen Industriegesellschaften steht vor außerordentlichen Herausforderungen, zu denen insbesondere der Erhalt der natürlichen Lebensgrundlagen gehört, eine Aufgabe, die bezeichnenderweise zum Staatsziel in Art. 20a Grundgesetz bestimmt worden ist. Nicht nur die Wirtschaftsbeziehungen, sondern auch die Umweltprobleme sind wesentlich von Globalisierungstendenzen geprägt und verlangen daher vielfach globale Antworten der Völkergemeinschaft. Hier sind neue Problemlösungen gefragt, wie sie beispielsweise mit dem Treibhausgashandel aus Gründen des Klimaschutzes versucht werden1. Aber auch national geprägte, hartnäckig ungelöste Probleme wie etwa der Flächen-“Verbrauch“ verlangen neue Lösungsansätze, vielleicht handelbare Flächenverbrauchsrechte (Zertifikate)2. Im Abfallwirtschaftsrecht fordert der Rat von Sachverständigen für Umweltfragen (SRU) seit langem und vergeblich die Einführung von Umweltabgaben3. So wird nun seit gut 20 Jahren mit zunehmender Intensität und wachsender Interdisziplinarität nach neuen staatlichen Steuerungsinstrumenten gesucht, wobei insbesondere wirtschaftliche Anreizinstrumente wie Umweltabgaben und Umweltzertifikate eine herausgehobene Rolle im diskutierten „Instrumentenmix“ spielen4. Diese Favoriten der Umweltökonomie stoßen auf deutliche Reserve in der rechtswissenschaftlichen, insbesondere auch in der finanzverfassungsrechtlichen DebatK. Sach / M. Reese, Das Kyoto-Protokoll nach Bonn und Marrakesch, ZUR 2002, S. 65 ff. SRU, Für eine Stärkung und Neuorientierung des Naturschutzes, Sondergutachten 2002, Tz. 168 ff.; M. Schmalholz, Zur rechtlichen Zulässigkeit handelbarer Flächenausweisungsrechte, ZUR 2002, S. 158 ff. 3 SRU, Sondergutachten Abfallwirtschaft, 1991, Tz. 442 ff., 905 ff. 4 S. nur Lübbe-Wolff, Instrumente des Umweltrechts – Leistungsfähigkeit und Leistungsgrenzen, NVwZ 2001, S. 481 ff.; R. Hendler, Zur Entwicklung des Umweltabgabenrechts, NuR 2000, S. 661; U. Sacksofsky, Umweltschutz durch nicht-steuerliche Abgaben, 2000, S. 6 ff.; J. Weimann, Umweltökonomik, 3. Aufl., 1995, S. 176 ff., 226 ff.; P. Michaelis, Ökonomische Instrumente in der Umweltpolitik, 1996, S. 28 ff.; L. Wicke, Umweltökonomie, 4. Aufl., 1993, S. 382 ff.; E. Gawel, Umweltabgaben zwischen Steuer – und Gebührenrecht, NuR 2000, S. 669. 1 2
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te. Peter Selmer hat als einer der führenden Finanzverfassungsrechtler die Entwicklung von Beginn an intensiv, mit aufgeschlossener Skepsis und mit Verständnis für die staatlichen Steuerungsbedarfe im Bereich des Umweltschutzes mitgeprägt5. Insgesamt wird man aber konstatieren müssen, dass die finanzverfassungsrechtliche Debatte mit einer bemerkenswerten Distanz zu den zu bewältigenden Sachaufgaben einerseits und einer stark ausgeprägten Sorge um das so genannte Steuerstaatsprinzip des Grundgesetzes andererseits zu einer eher ablehnenden Haltung insbesondere gegenüber Umweltabgaben gelangt ist6. Auf diesen Kurs scheint das Bundesverfassungsgericht eingeschwenkt zu sein. Bislang ist jedenfalls nur der „Wasserpfennig“ vom Bundesverfassungsgericht „gehalten“ worden7, während die Sonderabfallabgaben8, die kommunale Verpackungssteuer9 und das Lizenzentgelt für Sonderabfallbeseitigung10 dem Verdikt der Verfassungswidrigkeit unterfallen sind. Man muss gespannt sein, wie es dem Solidarfondsabgabe „Abfallrückführung“ ergehen wird11. Diese auffallende Diskrepanz zwischen dem mit Entschiedenheit insbesondere von Ökonomen geforderten Wandel im Einsatz staatlicher Steuerungsinstrumente einerseits und der restriktiven rechtlichen Bewertung auch in der maßgeblichen Judikatur des Bundesverfassungsgerichts andererseits soll im folgenden nachgegangen werden. Einer knappen Erläuterung der Bedeutung namentlich von Lenkungsabgaben (II.) folgt eine Analyse der tragenden Gründe der verfassungsrechtlichen Judikatur zu den so genannten nicht-steuerlichen Abgaben und insbesondere zu Umweltabgaben (III.). Im Ergebnis ist festzuhalten, dass weder das Steuerstaatsprinzip noch das Kooperationsprinzip und auch nicht eine überlieferte Abgabentypologie dem Einsatz ökonomischer Steuerungsinstrumente, insbesondere dem Einsatz von Lenkungsabgaben entgegenstehen (IV.).
5 P. Selmer, Finanzierung des Umweltschutzes und Umweltschutz durch Finanzierung, in: Thieme (Hrsg.), Umweltschutz im Recht, 1988, S. 25 ff.; ders., Verfassungsrechtliche und finanzrechtliche Rahmenbedingungen, in: UTR Bd. 16 (1992), S. 15 ff.; ders., Sonderabfallabgaben und Verfassungsrecht, 1996; ders. / C. Brodersen, Die Verfolgung ökonomischer, ökologischer und anderer öffentlicher Zwecke durch Instrumente des Abgabenrechts, DVBl. 2000, S. 1153. 6 Repräsentativ z. B. C. Trzaskalik, Der instrumentelle Einsatz von Abgaben, StuW 1992, S. 135; P. Kirchhof, Verfassungsrechtliche Grenzen von Umweltabgaben, in: ders. (Hrsg.), Umweltabgaben im Abgaben- und Steuerrecht, 1993, S. 3 ff.; F. Kirchhof, Die Tauglichkeit von Abgaben zur Lenkung des Verhaltens, DVBl. 2000, S. 1166 ff. 7 BVerfGE 93, S. 319. 8 BVerfGE 98, S. 83. 9 BVerfGE 98, S. 106. 10 BVerfGE 102, S. 99. 11 S. dazu einerseits F. Ossenbühl, Verfassungsrechtliche Fragen zum Solidarfonds Abfallrückführung, BB 1995, S. 1805 ff.; anderseits H.-J. Koch / M. Reese, Zur Verfassungsmäßigkeit des Solidarfonds „Abfallrückführung“, DVBl. 1997, S. 85 ff.
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II. Staatliche Steuerung durch Lenkungsabgaben: flexibel, effizient, innovativ Die Vorteile, Chancen und Risiken des Einsatzes von Lenkungsabgaben sind vielfach beschrieben worden12. Eine Zusammenfassung in aller Kürze mag hier daher genügen. Durch die juristische Brille betrachtet empfiehlt sich die Wahl einer Lenkungsabgabe dann, wenn (1) die ordnungsrechtliche Normierung eines Standes der Technik wegen Unsicherheiten über das technische „Machbare“ nicht zweckmäßig erscheint, (2) über einen etablierten Stand der Technik hinaus weitere technische Innovationen ausgelöst werden sollen oder / und (3) den Unternehmen aus wirtschaftlichen Gründen eine flexible Reaktion auf Umweltschutzanforderungen ermöglicht werden soll, so dass die Unternehmen entweder die Abgabe bezahlen oder Investitionen in den Umweltschutz tätigen können. Aus ökonomischer Perspektive ist zunächst der letztgenannte Aspekt entscheidend, denn (4) die Flexibilität ermöglicht den Unternehmen, nach ihrer individuellen Kostenstruktur zu entscheiden, so dass gerade diejenigen zum Umweltschutz beitragen werden, für die das kostengünstig – gemessen an der Abgabenhöhe – möglich ist. Aus ökonomischer Sicht kommt ein grundlegender volkswirtschaftlicher Gesichtspunkt hinzu: (5) Mit Hilfe einer Umweltabgabe kann erreicht werden, dass die Kosten der negativen externen Effekte der Produktion – hier der Umweltschäden – den Unternehmen mit der Folge angelastet werden, dass nunmehr kostengerechte Preise auf dem Markt durchgesetzt werden müssen und die darauf reagierende Nachfrage zu einer optimalen Faktorallokation führt. Auch wenn längst in der Ökonomie erkannt ist, dass die „richtige“ Höhe einer solchen Pigou-Steuer13 nicht angegeben werden kann14 und die Pigou-Steuer auch nicht generell die beste Methode zur Gewährleistung der Allokationseffizienz darP. Michaelis (Fn. 4), S. 34 ff., 107 ff.; G. Lübbe-Wolff (Fn. 4), S. 486 ff. A. C. Pigou, The Economics of Welfare, 4. Aufl., 1932, Nachdruck 1960, S. 172 ff. 14 S. schon E. Rehbinder, Politische und rechtliche Probleme des Verursacherprinzips, 1973, S. 21 ff., 135 ff.; ferner: J. Weimann (Fn. 4), S. 190 ff., mit reduzierter Zielsetzung S. 223: „kostenminimale Realisierung eines endogen vorgegebenen Umweltstandards“; ebenso D. Ewringmann, Ökonomisch rationale Umweltpolitik – rechtswidrig ?, in: E. Gawel / G. Lübbe-Wolff (Hrsg.), Rationale Umweltweltpolitik – rationales Umweltrecht, 1999, S. 387, 389 ff. 12 13
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stellt15, behält die Grundüberlegung ihre Berechtigung: Wenn und weil Umweltressourcen als „öffentliche Güter“ keinen Preis haben und daher nicht in die betriebswirtschaftliche Kostenrechnung eingehen, ist ihr Verbrauch für die Wirtschaftssubjekte besonders vorteilhaft, zugleich aber volkswirtschaftlich schädlich. Negative externe Effekte sind Ausdruck eines korrekturbedürftigen Marktversagens. Schließlich spricht für das Instrument einer Umweltabgabe auch noch der Umstand, dass (6) jedenfalls grundsätzlich eine eher einfache Regelung möglich ist. Das zeigt der Vergleich mit anderen indirekten Steuerungsinstrumenten wie beispielsweise der Zwangsbepfandung von Einwegverpackungen zur Stützung von Mehrwegsystemen. Abgesehen von deutlichen prognostischen Problemen hinsichtlich der Reaktion von Handel und Kunden muss auch ein erheblicher Aufwand getrieben werden. Eine Verpackungsabgabe wäre einfach und wenig aufwendig gestaltbar16, wenngleich jedes Instrument der lobbyistischen Deformation unterliegt. Die vorstehenden Bemerkungen über Vorzüge von Umweltabgaben haben eher modellhaften Charakter. Ob und inwieweit das Potential dieses Steuerungsinstruments zur Entfaltung gelangen kann und ob unter Umständen mit negativen Nebenfolgen zu rechnen ist, hängt von den konkreten Rahmenbedingungen einer solchen Regelung ab. So plädiert der SRU beispielsweise gegen eine „Flächenverbrauchs“-Abgabe und stattdessen für den Einsatz einer Mengensteuerung mit Hilfe von Nutzungszertifikaten. Grund dafür ist die Prognose, dass eine Steuerung über den Preis mit einer Umweltabgabe erst bei einer Abgabenhöhe wirksam werden würde, die mit Blick auf erwünschte Nutzungen und unter Gesichtspunkten der Verteilungsgerechtigkeit nicht akzeptabel erscheint17. Die Abwasserabgabe gemäß AbwAG – oft analysiert, viel gescholten18 – entspricht grundsätzlich dem beschriebenen Modell einer Umweltlenkungsabgabe19. Insbesondere wird die Abgabe für solche Einleitungen erhoben, die trotz Einhaltung des Standes der Technik nicht vermieden werden können. Vielfach und zutreffend sind die niedrigen Abgabensätze sowie die Regelung kritisiert worden, derzufolge die Abgabe auch noch um 50% reduziert wird, wenn der gemäß § 7a 15 R. A. Coase, The Problem of Social Cost, in: Journal of Law & Economics 3 (1960), S. 1 ff.; s. dazu J. Weimann (Fn. 4), S. 38 ff. 16 S. die Vorschläge des SRU, Umweltgutachten 2000, Tz. 870 ff.; SRU, Umweltgutachten 2002, Tz. 972. 17 SRU (Fn. 2), Tz. 171 ff. 18 S. nur SRU, Umweltgutachten 1978, BT-Drs. 8 / 1938, Tz. 414 ff. sowie die kritische Zwischenbilanz in SRU, Umweltgutachten 1996, BT-Drs. 13 / 4108, Tz. 335 ff.; ferner M. Böhm, Die Wirksamkeit von Umweltlenkungsabgaben, 1993, S. 47 ff.; aktueller Überblick bei J. Karstens, Die Rechtsprechung zum Wasserrecht, ZUR 2000, S. 226, 229. 19 S. die eine Anreizwirkung der Abgabe betonende Gesetzesbegründung in BT-Drs. 10 / 5533, S. 1.
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WHG konkretisierte Stand der Technik eingehalten wird. Damit wird die Abgabe zum Teil auf die Funktion einer „Vollzugshilfe“ für die Durchsetzung des maßgeblichen Ordnungsrechts „reduziert“. Dies und die niedrigen Abgabensätze widerstreiten der reinen Lehre. Gleichwohl handelt es sich um eine Umweltlenkungsabgabe, deren Lenkungswirkungen auch empirisch belegt sind20. Das Spezifische an der Abwasserabgabe liegt im kombinierten Ansatz, in dem „Instrumentenverbund“21 aus ordnungsrechtlichen Einleitungsbeschränkungen in Verbindung mit dem verstärkendem und verschärfendem wirtschaftlichen Anreizinstrument. Mit Umweltlenkungsabgaben wird stets ein Abgabenaufkommen erzielt, wie dies auch bei der Abwasserabgabe der Fall ist. Denn es ist dem Funktionsmodus einer Lenkungsabgabe inhärent, dass sich nicht alle Adressaten zu Vermeidungsinvestitionen motivieren lassen. In dieser Flexibilität liegt eine wesentliche, wenngleich nicht die alleinige Rechtfertigung für den Einsatz dieses Instruments. Denn es soll aus betriebswirtschaftlichen und volkswirtschaftlichen Gründen Rücksicht auf die Kostensituation der Unternehmen genommen werden. Gleichwohl sind Umweltlenkungsabgaben auf Verhaltenssteuerung und nicht auf die Erzielung eines Finanzvermögens gerichtet. Das muss nachdrücklich betont werden, weil bekanntlich in Rechtsprechung und Lehre das Abgabenaufkommen zum Anlass finanzverfassungsrechtlicher Zweifel genommen wird. Das Abgabenaufkommen wird als verfassungsrechtlich potentiell fragwürdig eingeordnet, weil damit der Steuerbürger – vermeintlich – zum zweiten Mal und somit doppelt zur Finanzierung der Staatsaufgaben herangezogen werde. Im übrigen müssten in Deutschland entsprechend dem sogenannten Steuerstaatsprinzip die Staatsaufgaben im wesentlichen aus Steuern und nicht aus sonstigen „Töpfen“ finanziert werden. Demgegenüber soll hier als These vorab festgestellt werden: Ob und mit welcher Durchsetzungskraft im Grundgesetz ein Steuerstaatsprinzip verankert ist, kann im vorliegenden Zusammenhang letztlich auf sich beruhen. Die Funktion von Umweltlenkungsabgaben wird a priori und fundamental verfehlt, wenn man das Abgabeaufkommen aus der Perspektive der Finanzverfassung betrachten will. Wenn eine Lenkungsabgabe einer grundrechtlichen Prüfung standhält – wobei gewiss auch die Abgabenhöhe zu beachten ist –, so ist der Umstand verfassungsrechtlich irrelevant, dass überhaupt ein Abgabenvolumen entsteht, das natürlich in verfassungskonformer Weise zur Erfüllung von Staatsaufgaben einzusetzen ist.
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S. den Überblick dazu bei L. Wicke (Fn. 4), S. 403 ff. So M. Kloepfer, Umweltrecht, 2. Auf. 1998, § 13 Rn. 209.
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III. Maßstäbe für Umweltabgaben in der Judikatur des Bundesverfassungsgerichts 1. Überblick In scharfem Kontrast zur ausufernd-üppigen wissenschaftlichen Debatte über neue Instrumente staatlicher Steuerung, insbesondere auch über sogenannte ökonomische Instrumente wie Umweltabgaben, steht die Staatspraxis, in der Lenkungsabgaben eine geringe Rolle spielen. Dementsprechend finden sich auch in der Judikatur des Bundesverfassungsgerichts nur wenige Entscheidungen zu Umweltabgaben. Die steuerungstheoretisch und verfassungsrechtlich besonders interessante Abwasserabgabe stand noch gar nicht explizit auf dem Prüfstand des Gerichts. Die Verfassungsmäßigkeit der Wasserentnahmeentgelte Baden-Württembergs und Hessens ist bestätigt22, die Sonderabfallabgaben Baden-Württembergs, Hessens und Niedersachsens sind ebenso für verfassungswidrig erklärt worden23 wie die kommunale Verpackungssteuer Kassels24 und das Lizenzentgelt für die Sonderabfallentsorgung in Nordrhein-Westfalen25. Die naturschutzrechtliche Ausgleichsabgabe hat zwar – und sogar zweimal – den Segen des Bundesverwaltungsgerichts erhalten26, stand jedoch noch nicht auf dem Prüfstand in Karlsruhe. In diesen Entscheidungen spielen bekanntlich zwei Maßstäbe eine zentrale Rolle, nämlich einerseits das Steuerstaatsprinzip und andererseits das Kooperationsprinzip. Bedeutungsgehalt und Anwendung beider Prinzipien sollen nachfolgend unter Berücksichtigung anderer Judikate aus der jüngeren abgaberechtlichen Entscheidungssequenz des Bundesverfassungsgerichts kritisch geprüft werden.
2. Das Steuerstaatsprinzip als verfassungsrechtlicher Maßstab für (Lenkungs-)Abgaben Die neue Zeitrechnung in der Abgabenjudikatur des Bundesverfassungsgerichts hat bekanntlich mit der Entscheidung zur Berufsausbildungsabgabe begonnen27. BVerfGE 93, 319. BVerfGE 98, S. 83; entsprechend auch zur Grundwasserentnahmeabgabe in SchleswigHolstein: BVerfG NVwZ 2003, S. 467. 24 BVerfGE 98, S. 106. 25 BVerfGE 102, S. 99. 26 BVerwGE 74, 308; 21, S. 220. 27 BVerfGE 55, 274; s. ferner: BVerfGE 57, S. 139 (Schwerbehindertenabgabe); BVerfGE 67, S. 256 (Zwangsanleihe); BVerfGE 75, S. 108 (Künstlersozialversicherung); BVerfGE 78, S. 249 (Fehlbelegungsabgabe); BVerfGE 82, S. 159 (Absatzförderungsfonds); BVerfGE 91, S. 186 (Kohlepfennig); BVerfGE 93, S. 319 (Wasserpfennig); zur Entwicklung der Rechtsprechung s. näher Sacksofsky, Umweltschutz durch nicht-steuerliche Abgaben, 2000, S. 56 ff. 22 23
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Aus dieser Abgabe, die von solchen Unternehmen erhoben worden ist, die eine hohe Beschäftigungszahl und eine geringe Ausbildungsleistung aufwiesen, sollten Förderungen an Ausbildende derart gewährt werden, dass zusätzliche Ausbildungsplätze bereitgestellt werden. Das Bundesverfassungsgericht, das bis dahin vergleichbare Geldleistungspflichten als „Sonderabgaben“ auf der Grundlage der Sachkompetenzen gemäß Art. 73 ff. GG für zulässig erachtet hatte28, formuliert nun erstmals restriktive Bedingungen für Sonderabgaben zum Schutz einerseits der Finanzverfassung des GG, die die Steuer als alleiniges Mittel zur Deckung des allgemeinen Finanzbedarfs vorsehe29 („Steuerstaatsprinzip“ 30); und andererseits zum Schutz der Abgabepflichtigen, die zugleich Steuerpflichtige seien und nicht doppelt und somit unter Verstoß gegen den Gleichheitssatz in Anspruch genommen werden dürften31. Die diesen Schutzzielen dienenden Zulässigkeitsbedingungen für Sonderabgaben werden im wesentlichen schon in dieser Entscheidung herausgearbeitet:32 (1) Es muss eine über die Mittelbeschaffung hinausgehende Sachaufgabe vorliegen33. (2) Die Abgabenschuldner müssen a) eine homogene Gruppe bilden und b) eine besondere Gruppenverantwortung für die Erfüllung des verfolgten Zweckes haben. (3) Die Finanzmittel müssen gruppennützig verwendet werden. (4) Die Abgabe ist grundsätzlich temporär, so dass ihre Legitimation ständig zu überprüfen ist. Die Zusammenschau der Rechtfertigungsgründe für eine Sonderabgabe ergebe, dass dieses Instrument gegenüber der Steuer „die seltene Ausnahme zu sein hat“34. Neue Instrumente staatlicher Steuerung wie Lenkungsabgaben sollen eine „seltene Ausnahme“ sein? Das klingt jedenfalls in den Ohren der von ökonomischer Theorie „infizierten“ Reformer nicht gut. Hier geben zunächst Widersprüche in der zitierten Rechtsprechung Hoffnung: Bekanntlich hat der I. Senat des Bundesverfas28 Grundsätzliche Kritik bei P. Selmer, Steuerinterventionismus und Verfassungsrecht, 1972, S. 183 ff. 29 BVerfGE 55, S. 274, 299. 30 Der „Schutz der Finanzverfassung“ wird in späteren Judikaten zur Bewahrung des „Steuerstaatsprinzips“: BVerfGE 78, S. 249, 267; BVerfGE 93, S. 319, 342. 31 BVerfGE 55, S. 74, 302. 32 BVerfGE 55, S. 274, 304 ff.; s. auch für eine umfängliche Darstellung der Zulässigkeitsbedingungen BVerfGE 82, S. 159, 179 ff. und BVerfGE 93, S. 319, 349 ff. 33 In E 55, S. 244, 304 ist noch von einem „besonderen Zurechnungsgrund“ die Rede; später wird die oben zitierte Formulierung verwendet: BVerfGE 82, S. 159, 179; BVerfGE 93, S. 319, 343. 34 BVerfGE 55, S. 274, 308; ebenso BVerfGE 82, S. 159, 181.
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sungsgerichts in der Entscheidung zur Schwerbehindertenabgabe die vorangehende grundlegende Entscheidung des II. Senats zur Berufsausbildungsabgabe zunächst wesentlich relativiert: Die vom II. Senat entwickelten Zulässigkeitskriterien für Sonderabgaben seien ersichtlich für Abgaben mit „primärer“ Finanzierungsfunktion entwickelt worden. Bei Abgaben, bei denen nicht die Finanzierung einer besonderen Aufgabe „Anlass“ gebe, könnten die genannten Maßstäbe daher nicht uneingeschränkt gelten. Gerade bei der Schwerbehindertenabgabe gehe es um die Antriebs- und die Ausgleichsfunktion, denen gegenüber die Finanzierungsfunktion wesentlich zurücktrete. Es gehe eben primär darum, die Unternehmen zur Einstellung von Behinderten zu motivieren und außerdem einen finanziellen Ausgleich zwischen denen herzustellen, die ihre Pflichtplatzquote für behinderte Beschäftigte erfüllen, und denen, die das verweigerten. Ob die Verwendung der Abgabe vollen Umfanges gruppennützig erfolge, sei nach allem unerheblich35. Die Antwort des II. Senats in der Zwangsanleihe-Entscheidung lautet bekanntlich, dass die Zulässigkeitsanforderungen für Sonderabgaben stets uneingeschränkt Anwendung finden müssten, wenn der Finanzierungszweck als Hauptoder auch nur als Nebenzweck verfolgt werde36. Diese Sicht erscheint problematisch37, denn jeder Gesetzgeber, der mit einem Abgabeaufkommen rechnen muss, wird auch einen Verwendungszweck in Erwägung ziehen und unter Umständen sogar ausdrücklich normieren, wie beispielsweise im Abwasserabgabengesetz. So gesehen scheint eine Unterscheidung zwischen Finanzierungs- und Lenkungsabgaben gar nicht möglich, denn stets ist die Finanzierung mindestens Nebenzweck. Damit wird definitorisch die Existenz von Lenkungsabgaben ausgeschlossen. Das ist verfehlt. Die Entwicklung der Rechtsprechung zur Rolle des Abgabenaufkommens ist nach wie vor nicht konsolidiert. In der Wasserpfennig-Entscheidung des II. Senats heißt es zum Hinweis des Beschwerdeführers, dass das Wasserentnahmegeld „in Wahrheit“ der Finanzierung von Ausgleichszahlungen an Landwirte wegen Nutzungseinschränkungen in Wasserschutzgebieten dienen solle, dieses möge ein „politisches Motiv“ für die Erhebung der Abgabe gewesen sein. Das berühre jedoch die finanzverfassungsrechtliche Rechtfertigung der Abgabe nicht, da die Abgabe nicht zweckgebunden sei. Damit scheint nun gar eine Unterscheidung zwischen Motiv, Nebenzweck und Hauptzweck geboten. Aber was unterscheidet ein Motiv vom Zweck der Regelung? Anscheinend die Rechtsverbindlichkeit der Festlegung eines Verwendungszweckes. Das ist wenig überzeugend, wird doch der Gesetzgeber dadurch abgehalten, eine sachgerechte Mittelverwendung festzuschreiben. Dabei würde doch im Fall des Wasserentnahmeentgelts die Förderung der Reduktion des Düngemitteleinsatzes in Wasserschutzgebieten gerade der Förderung eines angemessenen Was35 36 37
BVerfGE 57, S. 139, 167 ff. BVerfGE 67, S. 256, 278. S. die Kritik bei Koch, Bodensanierung nach dem Verursacherprinzip, 1985, S. 111.
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serdargebots dienen und insofern sachlich im Zusammenhang mit dem Wasserentnahmeentgelt stehen. Fast man die Judikatur zu den entscheidenden Punkten zusammen, so soll die konsequente Anwendung der dem Steuerstaatsprinzip geschuldeten Zulässigkeitskriterien für Sonderabgaben wesentlich davon abhängen, ob das entstehende Abgabenaufkommen Hauptzweck, Nebenzweck, Anlass oder bloßes Motiv der Abgabenregelung ist. Das führt nicht zu sachgemäßen Lösungen. Vielmehr ist gerade mit Blick auf die grundsätzliche Sinnhaftigkeit von Lenkungsabgaben der Ansatzpunkt der neueren Abgabenjudikatur des Bundesverfassungsgerichts am so genannten Prinzip des Steuerstaats grundsätzlich auf seine Rechtfertigungskraft zu befragen. Dabei sind mindestens zwei Fragen zu stellen, von denen hier nur die zweite näher thematisiert werden kann: (1) Liegt der Finanzverfassung des Grundgesetzes überhaupt ein „Prinzip des Steuerstaats“ des Inhalts zugrunde, „dass die Finanzierung der staatlichen Aufgaben in Bund und Ländern einschließlich der Gemeinden in erster Linie aus dem Ertrag der in Art. 105 ff. GG geregelten Einnahmequellen erfolgt“38? (2) Inwiefern kann ein Steuerstaatsprinzip des angedeuteten Inhalts überhaupt der Einführung von (Umwelt-)Lenkungsabgaben entgegenstehen? Das „Prinzip des Steuerstaates“ als Grundlage der Finanzverfassung des Grundgesetzes hat in den 70er Jahren Karriere gemacht39. Den Höhepunkt der Wertschätzung erlangte das Prinzip als (vermeintliches) Element der Ewigkeitsgarantie des Art. 79 Abs. 3 GG40. Inzwischen hat eine gewisse Entzauberung begonnen41. Gewiss ist, dass jedes Prinzip auch der Beschränkung durch gegenläufige Prinzipien unterliegt. Daher ist es auch durchaus zutreffend, wenn das Bundesverfassungsgericht feststellt, dass nicht-steuerliche Abgaben verschiedener Art zulässig seien und das Grundgesetz keinen abschließenden Katalog zulässiger Abgabentypen enthalte42. Die Debatte um das Steuerstaatsprinzip kann hier nicht allgemein vertieft werden. Dieser Verlust ist allerdings mit Blick auf das Thema leicht zu verkraften. Denn hier geht es nur um die These, dass ein Steuerstaatsprinzip mit dem skizzierten Inhalt – falls es in der Tiefenstruktur des Grundgesetzes existieren sollte – der Normierung von (Umwelt-)Lenkungsabgaben grundsätzlich nicht entgegenstehen kann. Dies hat auch das Bundesverfassungsgericht in der Wasserpfennig-Entscheidung vorsichtig erwogen, aber nicht entschieden:
BVerfGE 93, S. 319, 342; BVerfGE 78, S. 249, 266 f. Wichtige Ansätze schon bei P. Selmer (Fn. 28), S. 185 ff. 40 J. Isensee, Steuerstaat als Staatsform, in: FS Ipsen 1977, S. 409. 41 R. Hendler, Umweltabgaben und Steuerstaatsdoktrin, AöR 115 (1990), S. 577; U. Sacksofsky (Fn. 4), S. 153 ff.; W. Heun, Die Entwicklung des Steuerstaatsprinzips in thematischer und tatsächlicher Hinsicht, in: Sacksofsky / Wieland (Hrsg.), Vom Steuerstaat zum Gebührenstaat, 2000, S. 10 ff. 42 BVerfGE 93, S. 319, 342. 38 39
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„Die Erhebung von Wasserentnahmeentgelten ist gegenüber dem Prinzip des Steuerstaats sachlich legitimiert. Es kann dahinstehen, ob dies bereits aus der Lenkungsfunktion dieser Abgabe erfolgt“43.
Hier erscheint eine definitive Klarstellung dringend erforderlich, um dem Gesetzgeber Sicherheit für innovative Abgabenlösungen, wie sie vielfach im ökonomisch-juristischen Diskurs vorgeschlagen werden, zu geben. Entscheidend ist, dass Lenkungsabgaben eine Verhaltenssteuerung in einem Handlungsfeld anstreben und gerade nicht auf die angemessene Finanzausstattung des Staates zielen. Der Funktionslogik einer Lenkungsabgabe entspricht es, dass möglichst viele Abgabenschuldner die Abgabe durch Investitionen zu vermeiden suchen. Denn das Ziel einer Lenkungsabgabe besteht gerade darin, bestimmte sachliche Anliegen, wie etwa die Reinhaltung der Gewässer, die Schaffung von Ausbildungsplätzen und die Beschäftigung von Schwerbeschädigten zu fördern. Das Instrument der Abgabe soll – wie näher beschrieben – insbesondere aus ökonomischen Gründen den Abgabepflichtigen eine flexible Reaktion erlauben, allerdings nur in dem Maße, dass die Sachziele noch hinreichend verwirklicht werden können. Insofern müssen die Abgaben hinsichtlich ihrer Höhe auch nicht an irgendwelchen Einnahmebedarfen des Staates, sondern an ihrer potentiellen Lenkungswirkung orientiert werden. Auch wird der Abgabenpflichtige nicht etwa in irgendeinem Sinne „doppelt“ und damit gleichheitswidrig belastet. Belastungsgrund ist nämlich, dass sich der Abgabenschuldner nicht hinreichend an der Erfüllung einer Gemeinwohlaufgabe beteiligt und durch eine Abgabe entsprechend „motiviert“ werden soll. Dieser Funktionsmechanismus hat mit den voraussetzungslos und nach Leistungsfähigkeit zu entrichtenden Steuern nichts zu tun. Kurz: Das Prinzip der Verhaltenssteuerung durch Abgaben kollidiert grundsätzlich nicht mit dem Prinzip des Steuerstaats, so dass in der Regel nicht einmal abwägend ein Ausgleich herzustellen ist.
3. (Umwelt-)Lenkungsabgaben und das Kooperationsprinzip im Recht Zur allseitigen Überraschung hat das Bundesverfassungsgericht in den Entscheidungen über die kommunale Verpackungssteuer der Stadt Kassel44 und über Abfallabgaben verschiedener Bundesländer45 einen neuen rechtlichen Maßstab zur Beurteilung von (Umwelt-)Lenkungsabgaben, nämlich das Kooperationsprinzip, kreiert. Ausgerechnet das Kooperationsprinzip – möchte man hinzufügen! Dessen Inhalt verflüchtigt sich beim Versuch ihn zu erfassen46. BVerfGE 93, S. 319, 345. BVerfGE 98, S. 106. 45 BVerfGE 98, S. 83. 46 S. den Überblick über vielfältige Bemühungen bei H.-J. Koch, Das Kooperationsprinzip im Umweltrecht – ein Mißverständnis?, NuR 2001, S. 541. 43 44
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Die beiden Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, die in der Literatur ganz überwiegend auf Ablehnung gestoßen sind47, beruhen auf jeweils drei Begründungselementen, nämlich – auf sehr vagen steuerungstheoretischen Überlegungen zum Begriff der Kooperation, – auf Behauptungen darüber, dass das maßgebliche einfache Recht das Kooperationsprinzip wesentlich enthalte, und – auf der These, dass die Abgabenregelungen jeweils mit der Folge ihrer Verfassungswidrigkeit im Widerspruch zu dem einfach-rechtlich verankerten Kooperationsprinzip stünden.
a) Die Entscheidung zur Kasseler Verpackungssteuer liest sich weithin wie ein verwaltungswissenschaftlicher Beitrag zur so genannten neuen Steuerungsdebatte. Eine prägnante rechtsdogmatische Entscheidungsbegründung ist demgegenüber nur in Bruchstücken erkennbar. Die diskursiven Reflektionen werden nicht zu präzisen Rechtssätzen verdichtet. Die entscheidungstragende These, dass ein dem alten Abfallrecht ebenso wie dem Kreislaufwirtschafts- und Abfallgesetz inhärentes Kooperationsprinzip durch die Einführung einer kommunalen Verpackungssteuer verletzt werde, entbehrt letztlich des unverzichtbaren deduktiven Begründungskerns. Im einzelnen ist folgendes anzumerken: Im steuerungstheoretischen Teil der Entscheidungsbegründung wird zunächst der Begriff des Kooperationsprinzips erläutert. Das Kooperationsprinzip begründe „eine kollektive Verantwortung verschiedener Gruppen mit unterschiedlichen fachlichen, technischen, personellen und wirtschaftlichen Mitteln, in eigenständiger Aufgabenteilung und Verhaltensabstimmung das vorgegebene oder gemeinsam definierte Ziel zu erreichen“. Eine Kooperation verzichte selbst bei Zielverfehlung auf eine Sanktion. Gerade das unterscheide die Kooperation von einer steuerlichen Lenkung: Wer nämlich der steuergesetzlich überbrachten Verhaltensempfehlung nicht folge, habe die rechtsverbindliche Zahlungspflicht zu erfüllen. Insofern „kollidiere“ eine steuerliche Lenkung mit der „Offenheit, Gegenseitigkeit und Nachhaltigkeit der Kooperation, wenn der Kooperationspartner seinen Sachverstand, seine technischen und ökonomischen Kenntnisse und seine umweltrechtlich nutz47 Aus der Vielzahl der weitgehend kritischen Besprechungen vgl. nur M. Bothe, Zulässigkeit landesrechtlicher Abfallabgaben, NJW 1998, S. 2333; M. Führ, Widerspruchsfreies Recht im uniformen Bundesstaat, KJ 1998, S. 503; H. D. Jarass, Bemerkenswertes aus Karlsruhe: Kooperation im Immissionsschutzrecht und vergleichende Analyse von Umweltschutzinstrumenten, UPR 2001, S. 5 ff.; H.-J. Koch (Fn. 45), S. 545 ff.; J. Lege, Kooperationsprinzip contra Müllvermeidung, JUR 1999, S. 125; Schmidt / Diederichsen, Anmerkung, JZ 1999, S. 37; H. Sendler, Grundrecht auf Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung? – Eine Reise nach Absurdistan?, NJW 1998, S. 2875; Schrader, Gebot der Widerspruchsfreiheit, Kooperationsprinzip und die Folgen, ZUR 1998, S. 152; zustimmend: Frenz, Das Prinzip widerspruchsfreier Normgebung und seine Folgen, DÖV 1999, S. 140; Konrad, Umweltlenkungsabgaben und abfallrechtliches Kooperationsprinzip, DÖV 1999, S. 12; Westphal, Das Kooperationsprinzip als Rechtsprinzip, DÖV 2000, S. 996.
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bare Organisationskraft nicht mehr allein nach Maßgabe des Umweltrechts nutzt“48. Hierzu ist dreierlei anzumerken: (1) Der Verzicht auf Sanktionen ist für kooperatives Handeln keineswegs zwingend, wie etwa die verwaltungsrechtlichen Verträge zeigen. (2) Dass „zwanglose“ Kooperation und (Lenkungs-)Abgaben kollidierten, leuchtet keineswegs ein: In welchem Sinne des Wortes liegt eine „Kollision“ vor, wenn der Staat in einem Aufgabenfeld einerseits versucht die Wirtschaftssubjekte zu gemeinsamen Anstrengungen rechtlich unverbindlich zu animieren, und andererseits im Interesse gewisser notwendiger Erfolge das „weiche“, weil die individuelle Situation des Pflichtigen berücksichtigende Mittel einer durch Umweltschutzanstrengung vermeidbaren Steuer einsetzt? Die „Kombination“ eines sanktionslosen Instruments mit einem Rechtsverbindlichkeit beanspruchenden Instrument ist doch nicht schon – sprachlich oder sonstwie – ein Widerspruch in sich, sondern kann durchaus eine vernünftige Strategie darstellen. Gerade bei realistischer Betrachtung der Erfolgsaussichten von Selbstverpflichtungen drängt sich auf, durch verbindliche flankierende Maßnahmen wenigstens gewisse Erfolge sicherzustellen. (3) Schließlich enthalten die Erwägungen des Gerichts eine implizite rechtstheoretische Prämisse, die einer kritischen Prüfung nicht standhält: Es wird nämlich angenommen, dass die Verpackungsabgabe wegen der „Kollision“ mit dem gesetzlich normierten Kooperationsprinzip nichtig sei. Damit wird aber das spezifische Kollisionsverhalten von Prinzipien verkannt:49 Die Entscheidung zwischen kollidierenden Prinzipien ist im Wege einer Abwägung zu treffen. Daran aber lässt es die Entscheidung gänzlich fehlen, obwohl das Abfallrecht neben den vom Bundesverfassungsgericht behaupteten kooperativen Elementen zweifellos auch reichlich striktes Recht enthält und insofern zumindest von kollidierenden Grundprinzipien getragen wird. Damit ist nun auch der abfallrechtliche Teil der Entscheidungsgründe angesprochen: Nach der Grundentscheidung des Gesetzgebers sowohl des alten Abfallgesetzes wie auch des neuen KrW- / AbfG sollen – so meint das Gericht – die Ziele der Abfallvermeidung und -verwertung von Verpackungen nach dem Kooperationsprinzip verfolgt werden50. Zum Beleg werden eine Reihe von Äußerungen im Gesetzgebungsverfahren insbesondere anlässlich der 1986er Novelle zitiert, denen zufolge anstelle staatlicher Gebots- und Verbotsregelungen soweit wie möglich auf das Kooperationsprinzip gesetzt werden sollte51. Zutreffend, wenngleich mit größter Zurückhaltung, stellt das Bundesverfassungsgericht schließlich fest, dass die 48 49 50 51
BVerfGE 98, S. 106, 121 f. S. m. w. N. H.-J. Koch (Fn. 45), S. 548 f. BVerfGE 98, S. 106, 126. BVerfGE 98, S. 106, 127 f.
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kooperativen Bemühungen „nicht den gewünschten Erfolg“ hatten, so dass der Verordnungsgeber ordnungsrechtliche Regelungen getroffen habe. Mit diesen ordnungsrechtlichen Regelungen meint das Verfassungsgericht eindeutig die VerpackVO, die jedoch sodann – erstens – als „Ergebnis der kooperativen Beteiligung getroffener Kreise“ eingestuft wird und deren Inhalt – zweitens – als „auf Kooperation angelegt“ beschrieben wird. Das inhaltliche Kooperationselement sieht das Gericht darin, dass die VerpackVO „ein weitergehendes Zusammenwirken insbesondere auch unter Einbeziehung der Hersteller von Verpackungen“ fordere52. Diesen richterlichen Bemühungen, das Abfallrecht – soweit es die Vermeidung und Verwertung von Verpackungen betrifft – als vom Kooperationsprinzip geprägt einzuordnen, kann aus einer Reihe von Gründen nicht gefolgt werden. Die VerpackVO als maßgebliches Steuerungsinstrument ist deshalb eingeführt worden, weil die Kooperationsbemühungen kläglich gescheitert sind. In einem – wie üblich – handfesten, um nicht zu sagen hemdsärmeligen Lobbyismus ist die zunächst angedachte Verpackungsabgabe53 zugunsten des Konzepts der Rücknahmepflichten aufgegeben worden. Dieses Konzept ist durch die Abwendungsbefugnis hinsichtlich der individuellen Rücknahme für Verkaufsverpackungen im Wege eines „kollektiven“ Sammel- und Verwertungssystems, des Dualen Systems, modifiziert worden. Man mag diesen Entstehungsprozess kooperativ nennen. Er macht jedoch weder die individuelle Rücknahmepflicht noch das mit detaillierten Zielvorgaben und Sanktionsregelungen bei Zielverfehlung ausgestattete Abwendungsmittel eines kollektiven Rücknahmesystems zu einem Instrument staatlicher Steuerung durch Kooperation. Insbesondere hat auch der Umstand, dass das Abwendungsinstrument des kollektiven Sammelsystems eine Kooperation zwischen Privaten voraussetzt, gar nichts damit zu tun, ob der Staat kooperativ handelt. Die VerpackVO ist intelligentes Ordnungsrecht, regulierte Selbstregulierung, und in keiner Weise Verwirklichung des dem Abfallrecht möglicherweise auch zugrunde liegenden Kooperationsprinzips54. Abgesehen davon, dass die These vom Kooperationsprinzip als Fundament der VerpackVO unzutreffend ist, bleibt die Analyse des Gerichts obendrein in einem entscheidenden Punkt unvollständig: Jedenfalls seit der 1986er Novelle enthält das Abfallrecht gerade auch für Vermeidung und Verwertung von Verpackungsabfällen sowohl (wenige) Elemente, die dem Kooperationsgedanken geschuldet sind, wie auch und zugleich – wenn man so will: gegenläufig – Elemente, die der Idee des mit Verboten und Geboten operierenden Ordnungsrechts zugehören. Das zeigen doch gerade die alte und die neue Verordnungsermächtigung für die Normierung zwingender Rücknahmepflichten. Das Abfallrecht war und ist eben – wie das für viele, wenn nicht für alle Rechtsgebiete gilt – von einer Mehrzahl unter Umständen auch kollidierender Prinzipien geprägt, in deren Spannungsfeld konkrete Regelung 52 53 54
BVerfGE 98, S. 106, 130. SRU, Sondergutachten Abfallwirtschaft, 1991, Tz. 158. S. m. w. N. H.-J. Koch (Fn. 45), S. 544.
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stehen können. Angesichts dieses zumindest Prinzipiendualismus im Abfallrecht ist es a priori unzutreffend, eine Regelung wegen Widerspruchs gegen eines der Prinzipien für nichtig zu erklären, wenn diese Regelung zugleich mit einem anderen – eventuell gegenläufigen – Prinzip in Einklang steht. Insgesamt vermögen weder die steuerungstheoretischen Überlegungen, noch die rechtstheoretischen Prämissen, noch die einfachrechtliche Auslegung des KrW- / AbfG zu überzeugen. b) Auch das am gleichen Tage wie die Entscheidung zur Verpackungssteuer ergangene Urteil über einige Landesabfallabgabengesetze beruht auf der Behauptung eines Widerspruchs der Abgabenregelungen zum gesetzlich verankerten Kooperationsprinzip. In diesem Falle soll das Kooperationsprinzip im BImSchG normiert sein. Unter Hinweis auf § 5 Abs. 1 Nr. 3 BImSchG (a.F.), der die abfallrechtlichen Pflichten der Betreiber u. a. von dem technisch Möglichem und dem wirtschaftlich Zumutbaren abhängig macht, vertritt das Gericht die Auffassung, dass damit eine individualisierende Betrachtung geboten sei, die nach der Vorstellung des Gesetzgebers in einem Zusammenwirken von Behörde und Betreiber zu erfolgen habe. Deshalb fänden sich in der 9. BImSchV u. a. auch Normierungen der behördlichen Beratungspflicht sowie die Regelung vielfältiger Darlegungslasten des Antragstellers. Die Behörde habe insofern nur die Aufgabe einer „nachvollziehenden Amtsermittlung“. Insgesamt stellten sich die Regelungen des BImSchG zur Konkretisierung der abfallrechtlichen Pflichten als „billigende Programmierung von kooperativem Verwaltungshandeln“ dar55. Auf der Basis dieser – einschlägigen Publikation entnommenen – steuerungstheoretischen Begrifflichkeit gelangt das Bundesverfassungsgericht ohne weitere Argumente zu dem entscheidungstragenden Maßstab: „Dieses Kooperationskonzept bestimmt den Maßstab, dem eine in den Anwendungsbereich des Bundes-Immissionsschutzrechts einwirkende Lenkungsabgabe nicht zuwiderlaufen darf56“. Schiebt man den Schleier modischer Begrifflichkeit57 zur Seite, so ergibt sich ein ernüchternder Befund: Das Genehmigungsverfahren des BImSchG enthält – nachgerade selbstverständliche – kooperative Elemente und hat diese aus den immer schon praktizierten informalen Abläufen herausgehoben und mit rechtlicher Verbindlichkeit ausgestaltet. Die Behörde muss beraten, der Betreiber hat erhebliche Darlegungslasten zu erfüllen. Über die für die Genehmigungserteilung maßgeblichen Anforderungen der technischen Möglichkeit und der wirtschaftlichen Zumutbarkeit von Maßnahmen der Abfallvermeidung und Abfallverwertung entscheidet jedoch die Behörde allein und abschließend. Dass die Behörde dabei dem BVerfGE 98, S. 83, 99. BVerfGE 98, S. 83, 101. 57 „Das Gericht erliegt hier der Faszination und dem vermeintlichen Neuigkeitswert des Kooperationsparadigmas“: Voßkuhle, Das Kooperationsprinzip im Umweltrecht, ZUR 2001, S. 23, 27. 55 56
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Betreiber keine „Optionen“ untersagen darf, die den gesetzlichen Anforderungen entsprechen, ist selbstverständliche Konsequenz des materiell-rechtlichen Regelungsprogramms, ändert aber nichts daran, dass allein die Behörde über Auslegung und Anwendung dieses Regelungsprogramms entscheidet. Damit stellt sich die Frage, wie aus der rechtsverbindlichen kooperativen Ausgestaltung des immissionsschutzrechtlichen Genehmigungsverfahrens auf die Unvereinbarkeit von Abfalllenkungsabgaben mit dem Kooperationsprinzip des BImSchG geschlossen werden könnte. Dafür ist nichts ersichtlich und vom Bundesverfassungsgericht auch nichts dargetan: In der „Anwendung“ der eingangs entwickelten steuerungstheoretischen Sicht meint das Bundesverfassungsgericht, das BImSchG verlange zusammen mit der 9. BImSchV ein „Kooperationsverfahren, in dem die abfallrechtlichen Pflichten näher ausgestaltet werden“58. Auch diese unscharfe Aussage führt nicht darum herum, dass allein die Behörde die Verantwortung für Auslegung und Anwendung der gesetzlichen Maßstäbe trägt. Dies ist auch gegenüber der nachfolgenden These entschieden zu betonen, derzufolge das BImSchG die Vermeidung und Verwertung der Abfälle so geregelt habe, „dass mitwirkungsoffene Tatbestände auf eine individualisierende Verhältnismäßigkeit ausgerichtet“ seien „und dem Kooperationspartner ausdrücklich Wahlrechte einräumen“59. Von weiteren Einzelheiten der Entscheidungsbegründung kann abgesehen werden. Sie bringen keine neuen Gesichtspunkte. Insgesamt bleibt festzustellen, dass ein „Widerspruch“ zwischen den ordnungsrechtlichen Vorgaben des BImSchG einerseits und einer Abfallabgabe andererseits grundsätzlich nicht erkennbar ist. Die Kombination von ordnungsrechtlichen Anforderungen, die gleichsam das Nötige vorschreiben, und finanziellen Anreizen, die die Entwicklung weiter vorantreiben sollen, ist in keinem erkennbaren Sinne widersprüchlich. Das Gewässerschutzrecht bietet mit der Kombination von Einleitungsbescheid (WHG) und Restverschmutzungsabgabe (Abwasserabgabengesetz) ein – obendrein durchaus erfolgreiches – Beispiel. Wenngleich also die Begründung die getroffene Entscheidung nicht trägt, vermitteln die Entscheidungsgründe als Ganzes und sozusagen zwischen den Zeilen insgesamt eine Botschaft, die zwar mit dem Kooperationsprinzip nichts zu tun hat, dafür aber wesentlich eher die Entscheidung stützen könnte, nämlich die These, dass die Maßstäbe des BImSchG vom Bundesgesetzgeber als abschließend gewollt seien. 4. Vom Abgabenkanon zur Rechtfertigungstypologie: Eine neue Vielfalt? a) Wenngleich die Steuerstaatsdoktrin und neuerdings auch das Kooperationsprinzip die maßgeblichen Leitlinien für die Abgabenjudikatur des Bundesverfas58 59
BVerfGE 98, S. 83, 101. BVerfGE 98, S. 83, 102.
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sungsgerichts zu sein scheinen, hat sich doch entgegen diesem Anschein gleichsam im Schatten des Steuerstaatsprinzips eine zulässige Abgabenvielfalt mit ebenso vielfältigen Rechtfertigungstopoi entwickelt. Das Bundesverfassungsgericht hat zwar einerseits restriktive Bedingungen für die sogenannte Sonderabgabe entwickelt und daran sogar das schon erwähnte Postulat geknüpft, diese Abgaben müssten eine „seltene Ausnahme bleiben“. Zugleich hat das Gericht jedoch auch betont, dass der finanzverfassungsrechtliche Ausnahmetatbestand der Sonderabgaben kein Ausschlusstatbestand für sonstige nicht-steuerliche Abgaben sei60. Diese „Öffnungsklausel“ für nicht steuerliche Abgaben hat auch in konkreten Fallgestaltungen Anwendung gefunden. So hat das Gericht in der Entscheidung zur Künstlersozialversicherung festgestellt, dass es sich dabei nicht um eine – nur unter den bekannt restriktiven Bedingungen zulässige – Sonderabgabe handele. Vielmehr umfasse die Sachgesetzgebungskompetenz für die „Sozialversicherung“ (Art. 74 Nr. 12 GG) auch die Ermächtigung zur Regelung der erforderlichen Finanzierung61. Auch für die Fehlbelegungsabgabe im sozialen Wohnungsbau wird zunächst festgestellt, dass es sich nicht um eine Sonderabgabe handele und sodann wird eine neue Rechtfertigung für diese Abgabe in ihrer Abschöpfungsfunktion hinsichtlich der zuvor gewährten Subventionen gefunden62. b) Die in der Anerkennung einer Abgabenvielfalt liegende Relativierung der restriktiven Sonderabgabenjudikatur fasst das Bundesverfassungsgericht in der Wasserpfennig-Entscheidung bilanzierend zusammen und wirft dabei die begrifflichen Fesseln der überlieferten Abgabensystematik anscheinend über Bord, um sich ganz auf die zukunftsoffene Suche möglicher Rechtfertigungsansätze für nicht-steuerliche Abgaben zu konzentrieren. So wird zunächst ausdrücklich bestätigt, dass „die Finanzverfassung des Grundgesetzes keinen abschließenden Katalog zulässiger Abgabentypen“ enthalte63. Sodann werden die in der Rechtsprechung anerkannten nicht-steuerlichen Abgaben mit ihrer jeweiligen Rechtfertigung aufgeführt:64 (1) Gebühren und Beiträge als Vorzugslasten seien durch ihre Ausgleichsfunktion legitimiert. (2) Andere Abgaben wie die Künstlersozialversicherungsbeiträge seien bereits aus dem Sachkompetenztitel für den jeweiligen Gegenstandsbereich heraus gerechtfertigt. (3) Die Sonderabgaben fänden ihre Begründung letztlich in der Sachnähe des Abgabepflichtigen, müssten jedoch wegen der großen Nähe zur Steuer restriktiven Bedingungen unterworfen werden. (4) Letztlich gebe es weitere zulässige Abgaben wie etwa die Schwerbehindertenabgabe, die sich aus der Antriebs- und Ausgleichsfunktion rechtfertige, und die Fehlbelegungsabgabe, die ihre Legitimität aus der Rückabwicklung von Subventionen beziehe. 60 61 62 63 64
BVerfGE 82, S. 159, 181 (Absatzförderungsfonds). BVerfGE 75, S. 108, 146 f. BVerfGE 78, S. 249, 267 ff. BVerfGE 93, S. 319, 342. BVerfGE 93, S. 319, 344 ff.
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Das Gericht beschließt diesen Überblick mit einem bekannten Satz, der in den Entscheidungsbesprechungen für einige Aufregung gesorgt hat: „Diese Rechtsprechung zeigt, dass es für die kompetenzrechtliche Zulässigkeit einer nicht-steuerlichen Abgabe nicht auf deren begriffliche Zuordnung, sondern allein darauf ankommt, ob sie den Anforderungen standhält, die sich aus der bundesstaatlichen Finanzverfassung ergeben“65. Solchermaßen von begrifflichen Zwängen befreit wird sodann für die Wasserentnahmeentgelte – ohne Zuordnung zu einem Abgabentyp – eine Rechtfertigung als Lenkungsabgaben erwogen, eine Legitimation als Vorteilsabschöpfungsabgabe definitiv angenommen66. c) Diese Rechtsprechung ist gewiss insofern zu begrüßen, als sie der sachlich bedingten Vielfalt von Abgaben Rechnung zu tragen versucht und dabei zu Recht die Relevanz des Steuerstaatsprinzips reduziert. Die offene und in manchen Punkten auch vage Rechtfertigungstypologie vermag jedoch nicht zu befriedigen, da sie den handelnden Akteuren viel zu wenig Orientierung gibt. Hinzu kommt, dass eine Rechtfertigungstypologie natürlich auch in einer adäquaten Abgabentypologie und damit gleichsam in Form einer Tatbestandsbildung handhabbar gemacht werden kann. Ein wenig hat es den Anschein, als wage das Gericht noch nicht, den Bruch mit den überlieferten Leitbildern der öffentlich-rechtlichen Abgaben in begrifflicher Schärfe zum Ausdruck zu bringen: Es geht im Grunde um zwei Entwicklungstendenzen, die auch durchaus mit dem Grundgesetz vereinbar sind, nämlich (1.) um die Entwicklung staatlichen Handelns von regulativer Politik zu mehr Anreizpolitik und (2.) um die Entwicklung vom Steuerstaat hin zu mehr Elementen eines Gebührenstaates. Darauf ist abschließend einzugehen. IV. Ausblick: Abgaben im modernen Staat 1. Staatliche Steuerung zwischen Regulierung und Anreiz Im interdisziplinären Diskurs hat sich in hohem Maße eine übereinstimmende Überzeugung darüber gebildet, dass die Komplexität staatlicher Aufgaben und die Rahmenbedingungen der Aufgabenerfüllung ein breites Spektrum an Instrumenten erfordern, in dem das tradierte Ordnungsrecht zwar weiterhin eine maßgebliche Rolle zu spielen hat, aber insbesondere Anreizinstrumente unterschiedlicher Art, namentlich eine Mengensteuerung über Zertifikate (Beispiel Emissionshandel) und eine Preissteuerung mit Lenkungsabgaben (Beispiel Abwasserabgaben) je nach Lage der Dinge im Instrumentenmix Anwendung finden müssen. Diese Neuausrichtung staatlicher Steuerungsmittel steht nicht im Widerspruch zur Finanzverfassung des Grundgesetzes, sondern hat mit finanzverfassungsrecht65 BVerfGE 93, S. 319, 345; kritisch zu dem Verzicht auf begriffliche Klarheit: P. Selmer / C. Brodersen (Fn. 5), S. 1155 m. w. N. 66 BVerfGE 93, S. 319, 345.
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lichen Fragen im Grunde wenig zu tun. Die in der Rechtsprechung aufgestellte Behauptung einer großen Nähe von Steuern und Sonderabgaben, weil auch letztere „voraussetzungslos“67 geleistet werden müssten und ein staatliches Abgabenaufkommen entstehe, ist eher assoziativ als wohl begründet. Die These steht auch im klaren Widerspruch dazu, dass das Bundesverfassungsgericht im übrigen annimmt, dass die Legitimation der Sonderabgaben letztlich in der besonderen Sachnähe der Abgabenpflichtigen für die zu bewältigende Aufgabe liege68. Das Bundesverfassungsgericht hat mehrfach die Rechtfertigung durch den Lenkungszweck einer Abgabe angesprochen, hinsichtlich der Schwerbehindertenabgabe bejaht und bezüglich des Wasserentnahmeentgelts jedenfalls in Betracht gezogen. Hier ist nun ein „Durchbruch“ wünschenswert: Lenkungsabgaben als ein Element staatlicher Anreizpolitik, die an der spezifischen Verantwortung der Abgabepflichtigen für die Bewältigung einer Sachaufgabe anknüpfen, sind nicht am Maßstab der Finanzverfassung zu messen69. Etwas anderes gilt konsequenterweise für Finanzierungsabgaben wie etwa den Absatzförderungsfonds der deutschen Landwirtschaft, den das Bundesverfassungsgericht zutreffend an den restriktiven Bedingungen für Finanzierungssonderabgaben gemessen hat. Wenn der Staat Finanzmittel außerhalb der Steuern beschafft, müssen die Mittel im Interesse der doppelt Belasteten eingesetzt werden.
2. Die Finanzierung der Staatsaufgaben zwischen Steuern und Gebühren Die Gebühr stellt nach tradierter Abgabensystematik ein spezielles Entgelt für eine dem einzelnen individuell erbrachte staatliche Leistung dar. Sie dient anstelle des Einsatzes von Haushaltsmitteln der Kostendeckung und wird daher auch nach den entsprechenden gesetzlichen Regelungen durchweg am Kostendeckungsprinzip und am Äquivalenzprinzip gemessen, die beide als gebührenspezifische Ausprägungen des verfassungsrechtlichen Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes angesehen werden70. Unbestritten dürfen Gebühren auch in der Absicht der Verhaltenslenkung eingesetzt und die Gebührenhöhe auch an dieser Zielsetzung orientiert werden71. Gerade deshalb werden Gebühren auch als eigene mögliche Form von Umweltlenkungsabgaben intensiv diskutiert72. 67 BVerfGE 67, S. 256, 275 (Zwangsanleihe); BVerfGE 55, S. 274, 298 (Berufsausbildungsabgabe). 68 BVerfGE 93, S. 319, 345. 69 Im Ergebnis ebenso Sacksofsky (Fn. 4), S. 189 ff. 70 BVerfGE 50, S. 217, 227. 71 S. nur grundlegend R. Wendt, Die Gebühr als Lenkungsmittel, 1975; U. Sacksofsky (Fn. 4), S. 118 ff.; BVerfGE 50, S. 217, 226. 72 S. U. Sacksofsky (Fn. 4), S. 196 ff.; E. Gawel, Das Rechtskleid für Umweltabgaben – Abgabengestützte Umweltlenkung zwischen Steuern- und Gebührenlösung, in: Sacksofsky, Wieland (Hrsg.), Vom Steuerstaat zum Gebührenstaat, 2002, S. 108 ff.
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Die Wasserentnahmeentgelte einiger Bundesländer haben eine umfängliche Debatte um einen neuen Typus der Ressourcennutzungsgebühren ausgelöst73. Die Kritiker vermissen eine individuell zurechenbare Leistung des Staates an die Gebührenschuldner74 und meinen, dass eine solche „Verleihungsgebühr“ den Grundrechtsgebrauch kommerzialisiere75. Das Bundesverfassungsgericht hat sich – wie schon dargelegt – nicht auf die Einordnung der Wasserentnahmeentgelte als Gebühren und erst recht nicht auf die Kreation des Typus der Ressourcennutzungsgebühr eingelassen. Der Sache nach sieht das Gericht die Legitimation der Wasserentnahmeentgelte in der Vorteilsabschöpfung bei der individuellen Nutzung eines knappen natürlichen Gutes und damit durchaus in der individuellen Inanspruchnahme einer Ressource. Die Einordnung der Wasserentnahmeentgelte als Gebühren erfordert, dass man entweder den Sondervorteil des Wasserentnehmens als individuell erbrachte staatliche Leistung ansieht, was durchaus begründbar erscheint, oder dass man den Gebührenbegriff dahin modifiziert, dass eine individuelle staatliche Leistung nicht notwendige Voraussetzung einer Gebührenerhebung ist, sondern ein durch staatliches Handeln individuell erlangter Vorteil ausreicht. Genau diese Legitimation und die damit verbundene Begriffskorrektur wird hier als sachgerecht und verfassungsgemäß sowohl für eher lenkende wie auch für Finanzierungsgebühren vorgeschlagen76. Die Wasserentnahmeentgelte lassen sich also durchaus als Gegenleistung für die individuelle Ausnutzung der staatlichen Verwaltung des Wasserhaushalts einordnen. Vorrangig ist aber doch der Lenkungsaspekt: Entscheidend ist die Steuerung der Inanspruchnahme eines knappen öffentlichen Gutes.77 Etwas anders als in diesen – umweltpolitisch besonders wichtigen – Fällen der Ressourcennutzung liegen die zunehmenden Fälle einer „Verschiebung“ von der Steuerfinanzierung staatlicher Leistungen zur Gebührenfinanzierung. Diese Tendenzen werden neuerdings unter dem Topos „Vom Steuerstaat zum Gebührenstaat“78 kontrovers erörtert. In diesem Zusammenhang stellt sich u. a. auch wieder die wichtige Frage nach der individuell erbrachten staatlichen Leistung. Hierfür ist 73 D. Murswiek, Die Ressourcennutzungsgebühr, NuR 1994, S. 170 ff.; J. Pietzcker, Abgrenzungsprobleme zwischen Benutzungsgebühr, Verleihungsgebühr, Sonderabgabe und Steuer – Das Beispiel „Wasserpfennig“, DVBl. 1987, S. 774; J. Heimlich, Die Anerkennung der Verleihungsgebühr durch den „Wasserpfennig-Beschluss“ des BVerfGs, DÖV 1997, S. 996; U. Sacksofsky (Fn. 4), S. 188 ff., 196 ff. 74 A. v. Mutius / S. Lünenburger, Öffentliche Abgaben für Wasserentnahmen kraft Landesrechts, DVBl. 1995, S. 1205, 1209. 75 v. Mutius / Lünenburger (Fn. 74), S. 1207. 76 So auch Sacksofsky (Fn. 4), S. 198 ff.; skeptisch E. Gawel (Fn. 72), S. 127 ff. 77 So auch aus ökonomischer Perspektive Gawel (Fn. 22), S. 137 ff. 78 So der Titel des instruktiven, von Sacksofsky und Wieland herausgegebenen Sammelbandes (Fn. 41).
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der Rechtsstreit um den Solidarfonds Abfallrückführung gemäß § 8 AbfVerbrG ein anschauliches Beispiel: Der Solidarfonds, der für diejenigen Rückführungsfälle eingerichtet ist, in denen der Verantwortliche nicht in Anspruch genommen werden kann, wird von den legal Exportierenden bei der Notifizierung ihrer Exporte durch eine Abgabe finanziert. Sie zahlen – wie es manchen scheint – für die „schwarzen Schafe“ ihrer Branche und haben selbst nichts davon. Das ist jedoch eine vordergründige Betrachtung. Die „Tiefenstruktur“ der Interessenbeziehungen sieht gänzlich anders aus: Deutschland musste als Signatarstaat des Baseler Abkommens eine staatliche Garantenstellung für die Rückführung illegaler Abfallexporte übernehmen. Diese Garantenstellung öffnet der Abfallbranche die Exportmärkte. Die Garantenstellung liegt daher allein im Interesse derjenigen Wirtschaftssubjekte, die legal konkrete Abfallexporte tätigen. Mit der Finanzierung der Rückholung illegaler Exporte finanzieren die legal Handelnden also ihre eigenen Exportchancen. Den legal handelnden Exporteuren wird somit durch die staatliche Garantenstellung ein individueller Sondervorteil in Form der konkreten Exportmöglichkeit zugewendet, der durch eine Gebührenerhebung finanziert werden darf79. Zur Wahrung des Kostendeckungsprinzips werden übrigens diejenigen Gebühren zurückerstattet, die nicht benötigt worden sind. Das waren zuletzt mehr als 80% des Gebührenaufkommens, was die Vermutung nahelegt, dass die Gebührenfinanzierung einer staatlicher Leistung anscheinend „Selbstreinigungskräfte“ der beteiligten Wirtschaftskreise mobilisiert hat. Gegen den Solidarfonds ist auch eingewendet worden, dass es eigentlich um die Erfüllung typischer Staatsaufgaben gehe, nämlich die Bekämpfung von Umweltkriminalität, und dass im übrigen die Eröffnung von Exportchancen durch staatliche Garantien wesentlich im Interesse der Allgemeinheit liege. Ganz abgesehen davon, dass staatliche Exportförderung zu den Subventionstatbeständen rechnet, ist die Argumentation mit der „typischen Staatsaufgabe“ grundsätzlich nicht geeignet, eine Klärung herbeizuführen. Denn die staatliche Zuwendung individueller Vorteile setzt ohnehin und stets voraus, dass dies auch eine Aufgabe der Allgemeinheit ist. Dieses allgemeine Interesse an der Zuwendung individueller Vorteile schließt deren Gebührenfinanzierung daher nicht aus80.
79 Leider hat der EuGH die Erläuterung der verklagten Bundesrepublik hinsichtlich der Tiefenstruktur der Interessenbeziehungen nicht thematisiert und daher eine individuelle, gebührenfähige staatliche Leistung nicht erkannt: EuGH Rs-389 / 00, Urt. vom 27. 02. 2003 Rn. 35. 80 So auch BVerwGE 95, S. 188 zur Flugsicherheitsgebühr; bestätigt von BVerfG 1 BvR 1270 / 98, Urt. vom 11. 08. 1998.
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3. Staatliche Steuerung und die Staatsaufgabe „Umweltschutz“ In der forcierten Debatte um das so genannte Prinzip des Steuerstaats ist vielfach aus dem Blick geraten, dass die Finanzverfassung nicht Selbstzweck ist, sondern eine dienende Funktion hat: Sie soll die Erledigung von staatlichen Sachaufgaben ermöglichen. Zu diesen Sachaufgaben gehört – und zwar mit dem entsprechend hohen Gewicht – die grundgesetzlich verankerte Staatsaufgabe des Erhalts der natürlichen Lebensgrundlagen. Dies ist bei der Auslegung und Konkretisierung von sonstigem Verfassungsrecht zu berücksichtigen. Dabei gilt es, neue Herausforderungen für das staatliche Handeln ebenso wie Einsichten z. B. der Ökonomie über Handlungsinstrumente zu bedenken. Die Erfüllung der Staatsaufgabe Umweltschutz verlangt bei konsistenter Auslegung der Verfassung („praktische Konkordanz“) eine Interpretation der Finanzverfassung, der zu Folge das Marktversagen in Form externer Effekte durch Instrumente der Kosteninternalisierung korrigiert werden darf. Daher ist es zu begrüßen, dass das Bundesverfassungsgericht insbesondere in der Entscheidung zu den Wasserentnahmenentgelten die Offenheit der Finanzverfassung für neue Abgabentypen betont und auf der Suche nach neuen Rechtfertigungsansätzen die Lenkungsfunktion erwähnt und den Gesichtspunkt der Vorteilsabschöpfung bei knappen natürlichen Ressourcen als Abgaberechtfertigung entscheidungstragend anerkannt hat. Die Entscheidungen zu den Sonderabfallabgaben und der Verpackungssteuer sind allerdings als äußerst fragwürdige Stagnation anzusehen. Der erstaunliche Mut, der darin zum Ausdruck kommt, eine vage und kontroverse politische Maxime, nämlich das Kooperationsprinzip, überraschend zum Rechtsprinzip zu erheben, hätte nutzbringender eine Fortentwicklung des notwendigen Instrumentariums der Umweltabgaben tragen können.
Russlands Finanzverfassung zwischen Unitarismus und Budgetföderalismus Von Otto Luchterhandt
I. Russlands bundesstaatlicher Anfang unter der Last extremer Inhomogenität Der Jubilar hat in seinem Bericht vor der Staatsrechtslehrertagung 1992 in Bayreuth über die Grundsätze der Finanzverfassung des vereinten Deutschlands1 eindrücklich das ordnungspolitische Dilemma herausgearbeitet, vor welchem Deutschland nach der Wiedervereinigung steht: Einerseits war in der alten Bundesrepublik längst die Zeit dafür herangereift, die stark geschwächte Autonomie der Länder durch eine grundlegende Reform der föderalen Finanzverfassung auf neue, kräftigere Füße zu stellen. Dies hätte nur durch eine Entflechtung der vielfältig verklammerten, verwobenen und verfilzten Aufgaben- und Ausgabenverantwortung von Bund, Ländern und Gemeinden, durch wieder deutlicher markierte Scheidelinien zwischen ihnen im Finanzgefüge des Gesamtstaates geschehen können. Die Wiedervereinigung veränderte indes die Voraussetzungen und Rahmenbedingungen für eine Reform der Finanzverfassung wesentlich. Zwar hätte der fiskalpolitische Ansatz der Bund-Länder-Entflechtung auf den ersten Blick als „Königsweg“ für die Lösung der ordnungspolitischen Integrationsprobleme der neuen Bundesländer erscheinen können, aber die extrem unterschiedlichen Entwicklungsstandards zwischen der ehemaligen DDR und der ehemaligen Bundesrepublik zum Zeitpunkt der Wiedervereinigung boten dafür, wie der Jubilar überzeugend dargelegt hat, auf überschaubare Zeit weder eine politisch faire, geschweige denn durchsetzbare noch auch eine verfassungsrechtlich zulässige Möglichkeit der Verwirklichung; erst musste und muss im Beitrittsgebiet das unerlässliche Mindestmaß einer Angleichung an die Leistungsstandards „im Westen“, ein Mindestmaß an Homogenität in der ganzen Bundesrepublik erreicht sein, bevor an die Reform der Finanzverfassung mit der besagten Stoßrichtung und allen ihren Konsequenzen herangegangen werden kann2. Von einer höheren Warte aus betrachtet, handelt es sich hier um einen Fall des aus der Geschichte des Föderalismus wohlbekannten Problems, wie man im Bun1 2
P. Selmer, VVDStRL Heft 52 (1993), S. 10 – 70. P. Selmer, Grundsätze der Finanzverfassung (Fn. 1), S. 66 (Leitsatz 15).
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desstaat mit mehr oder weniger stark ausgeprägten, unter Umständen sogar extremen regionalen Ungleichheiten, Ungleichgewichten, Sonderlagen und Entwicklungsunterschieden und mit den von ihnen unausweichlich verursachten Spannungen und Gegensätzen umgeht und zurechtkommt. Dabei lehrt die historische Erfahrung, dass die Chancen dafür desto ungünstiger sind, je größer die Inhomogenität des Staates ist. Für Deutschland stellt das Problem keine ernste Gefahr dar. Die durch die Wiedervereinigung bewirkte Lage ist nur ein zeitweiliges Dilemma, dessen Bewältigung trotz aller Widrigkeiten und trotz der dramatisch verschlechterten fiskalischen Rahmenbedingungen zu Beginn des neuen Jahrhunderts grundsätzlich im Rahmen der erprobten föderalen Ordnung des Grundgesetzes auf dem Wege und für die Zukunft wohl auch zu erwarten ist, um dann wieder in eine, freilich neu geordnete „normale Lage“ (Ferdinand Kirchhof)3 relativer gesamtstaatlicher Homogenität der Leistungsfähigkeit und Leistungsstandards einzumünden. Bei flüchtigem Blick ähnlich, tatsächlich aber ganz anders stellt sich die Lage der Russländischen Föderation4 dar. Tu felix Germania foederalis! können Politiker und Staatsrechtler Russlands denken. Denn im Falle ihres Landes ist die hochgradige Inhomogenität die den Staat prägende Normalität! Natur und Geschichte haben Russlands Nation, seinen Völkern eine Mitgift auf den Weg gegeben, wie man sie sich für den Aufbruch in eine föderale Ordnung schwieriger und belastender kaum vorstellen kann. Dieser größte Neustaat Europas, als RSFSR Kernrepublik der UdSSR und ihr wichtigster Nachfolgestaat, hat sich unter der Bezeichnung „Russländische Föderation“ am 12. Dezember.1993 zwar eine bundesstaatliche Verfassung gegeben5, aber ihrer Annahme war in den beiden ersten seit dem Ende der Sowjetunion (25. 12. 1991) verflossenen Jahren, die das Land an den Rand von Bürgerkrieg und Zerfall brachten, keine territorialpolitische Neuordnung vorausgegangen6. Im Gegenteil, die Föderationsverfassung zementierte die aus der Sowjetepoche stammende, von macht- und nationalitäten- sowie planwirtschaftlichen Interessen geformte ethno-territoriale Verwaltungsgliederung durch namentliche Aufzählung seiner Gebietseinheiten (Art. 65 Abs. 1). Am prägendsten für Russland als Bundesstaat überhaupt ist kraft dieses sowjetischen Erbes die Zweiteilung der „Subjekte der Föderation“ (die cum grano salis den Bundesländern entsprechen) in territorial titulierte, de facto russische und ethno- bzw. national-territorial titulierte 3 Vgl. seinen Mitbericht auf der betreffenden Staatsrechtslehrertagung: Grundsätze der Finanzverfassung des vereinten Deutschlands, in: VVDStRL Heft 52 (1993), S. 71 – 110 (75 f.). 4 Art. 1 Abs. 2 der Föderationsverfassung lautet: „Die Bezeichnungen Russland (Rossija) und Russländische Föderation (Rossijskaja Federacija) sind gleichbedeutend.“ 5 Deutscher Text bei D. Frenzke, Die russischen Verfassungen von 1978 und 1993. Eine texthistorische Dokumentation mit komparativen Sachregistern, 1995, S. 270 ff. 6 Dazu im Kontext A. Heinemann-Grüder, Der heterogene Staat. Föderalismus und regionale Vielfalt in Russland, Berlin 2000, S. 158 ff. Die 89 Gliedstaaten gliedern sich auf in 21 nichtrussisch titulierte nationale „Republiken“, 11 nichtrussisch titulierte nationale „Autonome Gebiete“ bzw. „Bezirke“, 6 nur territorial definierte „Grenzmarken“ (kraja), die in vielen Darstellungen auch als „Regionen“ bezeichnet werden, 49 nur territorial definierte „Gebiete“ (oblasti) und die beiden „Hauptstädte“ Moskau und St.-Petersburg.
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(nichtrussische) Gliedstaaten. Zwischen ihnen besteht ein Zahlenverhältnis von zwei Dritteln zu einem Drittel. Gebiete, deren fremdländische Bevölkerung infolge kolonialer Eroberung erst seit etwa 140 bis 200 Jahren unter der Herrschaft Moskaus leben wie namentlich der Nordkaukasus, liegen neben den Kerngebieten Russlands, nichtrussische Ethnien, die ihre autochtonen, nichteuropäischen Kulturund Alltagstraditionen, meist kraft ihrer Bindungen an Islam, Buddhismus oder Schamanismus bewahrt haben, koexistieren mit den sich in christlich-europäischen Kulturtraditionen sehenden Bevölkerungsteilen des Landes. Die 897 Subjekte der Föderation (künftig: Gliedstaaten) hatten sich zwar seit der spontanen Emanzipationsprozessen förderlichen „Perestrojka“ Michail Gorbatschows statusmäßig, de jure noch mehr als de facto, stark ausdifferenziert, am weitesten die selbstbewussten nationalen Republiken, voran Tatarstan (Kazan’) und Baškortostan (Ufa), aber die Föderationsverfassung von 1993 korrigierte diese Entwicklung und verlieh allen Gliedstaaten bis auf wenige prestigeträchtige, symbolische Unterschiede zugunsten der Republiken („Staat“; Staatssprache; „Verfassung“ statt „Statut“) denselben Rechtsstatus (Art. 5 Abs. 1)8. Die formale Gleichberechtigung kann freilich nicht über ihre weit auseinander klaffenden Unterschiede, angefangen mit ihrer territorialen Ausdehnung, Bevölkerungszahl und nationalen Zusammensetzung hinwegtäuschen: Die Ausdehnung der Gliedstaaten schwankt zwischen 3 Mio qkm der Republik Sacha / Jakutien (oder 2, 3 Mio der Grenzmark Krasnojarsk) und ca. 8000 qkm der Republik Adygeja / Nordkaukasus9, die Gliedstaatsbevölkerung zwischen den 8, 6 Mio der Stadt Moskau und den 28.000 Einwohnern im Autonomen Bezirk der Korjaken der Halbinsel Kamtschatka, die Bevölkerungsdichte zwischen den übervölkerten Stadtstaaten – Moskau: 8, 6 Mio Einwohner auf 994 qkm – und fast menschenleeren Flächenstaaten im Falle Jakutiens (980.000 Einwohner auf 3, 1 Mio qkm). Der Anteil der Titularnation an der Gliedstaatsbevölkerung schwankt zwischen nahezu 100% im Falle Tschetscheniens und zwischen 1% und 2% im Autonomen Bezirk der Chanten und Manten im territorialen Rahmen des Gebietes Tjumen’ / Westsibirien. Immens sind die Unterschiede der Wirtschaftskraft, Infrastrukturentwicklung und der sozio-kulturellen Modernität der Gliedstaaten. Rohstoffreiche, aber klimatisch stark benachteiligte Zonen stehen neben hochindustrialisierten, aber unter technisch veralteten Betriebsstätten leidenden Regionen, unterentwickelte, technologisch rückständige oder zurückgefallene Landwirtschaftsregionen neben aufstrebenden Dienstleistungszentren, die Anschluss an die Weltwirtschaft gefunden haben. 7 In diese Zahl eingeschlossen ist die seit 1999 gewaltsam in ihren Kreis zurückgezwungene Republik Tschetschenien. 8 Näheres bei O. Luchterhandt, Zum Entwicklungsstand des Föderalismus in Russland, in: Kappeler, Andreas (Hrsg.): Regionalismus und Nationalismus in Russland, 1996, S. 243 – 268 (249). 9 Zahlen bei V. A. Krjazˇkov, Konstitucionnoe pravo sub-ektov Rossijskoj Federacii, Moskau 2002, S. 623 ff.; vgl. ferner allgemein R. Götz / U. Halbach: Politisches Lexikon Rußland, 1994, S. 55 ff.
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Dementsprechend groß sind die Unterschiede des jeweiligen Bruttoregionalprodukts: (bei einem Durchschnitt von 100) liegen die Werte zwischen 19,5% (Republik Ingušetien / Nordkaukasus) und 414,5% (Gebiet Tjumen’ / Westsibirien) pro Kopf der Regionalbevölkerung. In ca. 70 Gliedstaaten liegt das Pro-Kopf-Einkommen unter dem föderalen Durchschnitt. Dabei wirken verschiedene Faktoren zusammen, unter denen der Prozentsatz von Unternehmen, die laufend mit mehr oder weniger großen Verlusten arbeiten und nur durch staatliche Subventionen am Leben gehalten werden, eine herausragende Rolle spielt. Bei einer repräsentativen Durchschnittsberechnung für 1997 lag ihr Anteil bei über 40% aller Unternehmen, wobei die von ihnen gemachten Verluste über 40% des Gewinns der rentablen Unternehmen ausmachten10. In den strukturschwächsten Gliedstaaten (Republik Tyva / Tannu Tuwa sowie Teilen der Fernostregion im Gebiet der Evenken und Tschuktschen) übersteigt ihr Anteil sogar 70%! So kommt es, dass in ca. 25 Gliedstaaten die Verluste der auf ihrem Territorium gelegenen Wirtschaftsbetriebe die Gewinne der rentablen Betriebe übersteigen. Wegen solcher Disproportionen ist auch die Steuerleistung regional extrem unterschiedlich verteilt: 42% der Steueraufkommen entfallen auf lediglich 5 Gliedstaaten mit einem Anteil von nur 14% der Bevölkerung Russlands. Allein auf die Stadt Moskau entfallen dabei 20%! Am anderen Ende der Skala befinden sich 50 Gliedstaaten mit 28% der Bevölkerung, aber einem Steueraufkommen von nur 14%!11 Nachdem Russland Jahrhunderte hindurch durch eiserne unitarische Klammern zusammengehalten worden war, durch die Autokratie der Zaren im „Russländischen Imperium“, durch die totalitäre Herrschaft der KPdSU in der Sowjetunion, stellt die „Russländische Föderation“ den wahrlich historisch zu nennenden Versuch dar, die Staatlichkeit von dem diametral entgegengesetzten Pol, nämlich vom föderalen, bündischen Prinzip her zu organisieren, die für den Bundesstaat typische vertikale Aufgliederung der Staatsgewalt als einen bislang nicht gegangenen Weg, eine nicht genutzte politische Ressource zu erschließen, um in organisch-normativer Verbindung mit den für Russland ebenso neuen, revolutionären Verfassungsprinzipien der Menschenrechte, des Rechtsstaates und der Demokratie sowohl der horizontalen Weite des Landes als auch seiner ungewöhnlichen Vielfalt und Heterogenität offen, aufnahmebereit und produktiv zu begegnen und ihnen institutionell Rechnung zu tragen. Russlands Weg in die Bundesstaatlichkeit ist wesentlich durch Amtszeit und Regierungsstil Präsident Jelzins geprägt worden. Angewiesen auf Verbündete im Machtkampf mit dem neuen Parlament, suchte er die Unterstützung vor allem der 10 A. Andreev, Sovremennye problemy vzaimootnošenij bjudz ˇ etov v Rossijskoj Federacii, in: Federalizm 2001, Nr. 1, S. 43 – 66 (49 ff.). 11 A. M. Lavrov, Finansovye vzaimootnošenija federal’nogo centra i regionov, in: Federalizm 2002, Nr. 2, S. 163 – 194 (176). Die Kluft der Steuerkraft öffnet sich proportional bis zum 30fachen. Durch diverse Finanzausgleichsleistungen von Seiten der Föderation kann sie in den Extremfällen auf das 4fache reduziert werden. Ausführlich dazu weiter unten.
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Präsidenten der nichtrussisch titulierten Republiken. Er hatte damit Erfolg, freilich um den Preis erheblicher machtpolitischer und wirtschaftlich-fiskalischer Zugeständnisse, später solche auch an die Gouverneure der starken „russischen“ Gliedstaaten, etwa an das Gebiet Sverdlovsk. Den legalen Weg dazu eröffnete die Verfassung durch die Bestimmung, dass die Kompetenzverteilung zwischen der Föderation und ihren Gliedern durch Sonderverträge geregelt werden dürfe (Art. 11 Abs. 3). Die daraus resultierende Statusungleichheit der Gliedstaaten hat Russland von Anfang an den Stempel mit der Bezeichnung eines „asymmetrischen Bundesstaates“ aufgedrückt12. Seit der Übernahme des Präsidentenamtes durch Putin (1. Januar 2000) ist allerdings nicht mehr ganz sicher, ob diese Bezeichnung noch gerechtfertigt ist, denn der Wechsel im Amt ist, wie sich innerhalb weniger Monate zeigen sollte, mit einem Regimewechsel einhergegangen, in dessen Zuge das Verhältnis zwischen der Föderation und den Gliedstaaten durch einen scharfen Rezentralisierungskurs einschneidend umgestaltet wurde13. Welche Rolle spielt nun in dem schwierigen Entstehungsprozess Russlands als Föderation die Finanzverfassung14? Welche Tendenzen und Spannungen sind für sie kennzeichnend? Wie haben sich die Ungleichheiten und Ungleichgewichtigkeiten auf die Finanzordnung des Landes ausgewirkt? In welchem Verhältnis mischen sich Unitarismus und Föderalismus in ihr? Diese Fragen stehen hinter dem folgenden Überblick über einige Grundzüge der Finanzordnung im heutigen Russland.
II. Die rechtlichen Grundlagen der föderalen Finanzordnung im Überblick und Längsschnitt Im Unterschied zum deutschen Grundgesetz macht die Verfassung Russlands über die Finanzordnung kaum Aussagen, obwohl im Entstehungsprozess der Verfassung einschlägige Vorschläge gemacht worden waren15. Wenn sie wirkungslos 12 P. Kirkow, Roulette zwischen Zentrum und Regionen. Russlands asymmetrischer Föderalismus, in: Osteuropa 1995, S. 1004 ff.; Heinemann-Grüder (Fn. 6), S. 201 ff., jeweils m. w. N. 13 Dazu ausführlich O. Luchterhandt, Der Ausbau der föderalen Vertikale unter Putin: Das Ende der Dezentralisierung?, in: G. Brunner (Hrsg.): Der russische Föderalismus. Bilanz eines Jahrzehnts, Münster usw. 2004. 14 Eine monografische Darstellung der Finanzverfassung Russlands steht noch aus. Ein erster, früher, finanzwissenschaftlich ansetzender Versuch ist: C. Bell, Der fiskalische Föderalismus in der Russländischen Föderation, 1998. Es existieren vorläufig nur Aufsätze und kurze Abschnitte in Gesamtüberblicken über Russlands Föderalismus. Vgl. insbesondere (jeweils mit weiteren Nachweisen): J. Strzebniok, Die verfassungsrechtliche Stellung der Subjekte der Russischen Föderation in Geschichte und Gegenwart, Moskau 1999 (Dissertation Hamburg 2000), S. 336 – 361; Heinemann-Grüder (Fn. 6), S. 359 – 392; I. Kalinina / E. Malieva, Problems of fiscal federalism: the case of Moscow. Probleme des fiskalischen Föderalismus: der Fall Nizˇnij Novgorod, in: Forschungsstelle Osteuropa Bremen (Hrsg.): Arbeitspapiere Nr. 33, November 2001.
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verhallten, dann wegen einer ganzen Reihe von Schwierigkeiten, die Russlands Start in die Bundesstaatlichkeit schwer belasteten und noch belasten: Russland als größte Unionsrepublik war völlig verwoben mit der unitarischen Staatsordnung der UdSSR; die RSFSR besaß keinen vollwertigen Regierungsapparat und erlangte eine echte Gliedstaatlichkeit innerhalb der Sowjetunion erst kraft ihrer einseitigen „Souveränitätserklärung“ (12. Juni 1990); sie war gerade erst ein gutes Jahr unabhängig und ein souveränes Völkerrechtssubjekt, als die Arbeit an seiner Verfassung in die entscheidende Phase trat; die Umbildung der RSFSR zur Russländischen Föderation geschah 1992 in den Föderationsverträgen mit allen Gebietseinheiten(30. März) und wurde in der Totalrevision der alten RSFSR-Verfassung vom 12. April 1978 nur nachvollzogen. Ein weiterer wesentlicher Faktor war, dass die föderalen Verfassungsorgane im Streit über Russlands künftiges Regierungssystem – Präsidialdemokratie oder parlamentarische Regierung – gespalten, Präsidialexekutive und Parlament in einen Machtkampf verwickelt waren, den Jelzin im September 1993 durch seinen Staatsstreich (Parlamentsauflösung; Suspension des Verfassungsgerichts; Auflösung der Provinzparlamente; Verhaftung der Führer der Opposition) gewaltsam beendete. Der Sieg der Präsidialexekutive und die im Finanzwesen befolgte Praxis, welche der Moskauer Zentrale ein Höchstmaß an politischer Entscheidungsfreiheit über die Verteilung der Staatseinkünfte erlaubte, hat prägend gewirkt, denn den marginalen finanzrechtlichen Festlegungen der Verfassung wohnt eine starke unitarische Tendenz inne16. Die Rechtsgrundlagen zu einem „Budgetföderalismus“ wurden noch während der Auflösung des Sowjetstaates in Angriff genommen, und zwar in Gestalt von „Grundlagen“, d. h. Rahmengesetzen zum einen über die Struktur des Haushaltswesens und die Haushaltsführung in der RSFSR vom 10. Oktober 199117, zum anderen über das Steuer- und Abgabenwesen in der Russländischen Föderation 15 Darauf weist im Rückblick nachdrücklich der russische Finanzrechtler E. Buchval’d hin (vgl. Al’ternativy rossijskoj modeli bjudzˇetnogo federalizma, in: Federalizm 2001, Nr. 3, S. 143 – 166 [162]). Der von der Opposition gegen Präsident Jelzin getragene Verfassungsentwurf des Obersten Sowjets vom Mai 1993 sah zwar ein Kapitel (XX.) über „Finanzen und Haushalt“ (Art. 115–119) vor, doch berührte er außer der Garantie der „Haushaltsautonomie“ der Subjekte der Föderation die Kompetenzverteilung im Finanzwesen nicht (vgl. den Text in: Rossijskaja gazeta vom 8. Mai 1993). Bezeichnend für das mangelnde Problembewusstsein ist auch die Tatsache, dass der damalige Sekretär der Verfassungskommission, Oleg Rumjancev, in seinen Reflektionen zur Verfassung Russlands und ihrer Entstehung Finanzfragen nur streift. Vgl. O. G. Rumjancev, Osnovy konstitucionnogo stroja Rossii, Moskau 1994, S. 184, 271 (Fn. 173). 16 Wer sich über die dürftigen Aussagen zur Finanzverfassung wundert, sollte auch berücksichtigen, dass das Land damals über keinerlei praktische Erfahrung mit einem Finanzföderalismus und auch kaum über Spezialisten des Finanzrechts verfügte; diese Materie fristete zur Sowjetzeit ein Schattendasein. Das alles bedeutet natürlich nicht, dass der russische Gesetzgeber jenes „Neuland“ nicht betreten hätte. 17 Vedomosti s-eszda narodnych deputatov RSFSR i Verchovnogo Soveta RSFSR 1991 Nr. 46, Pos. 1543.
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vom 27. Dezember 199118. Die Regelungen standen noch in der unitarisch-zentralistischen Staatstradition der UdSSR. Zwar bekannte man sich zu dem Grundsatz der Selbständigkeit der Haushalte der Föderation und ihrer „Subjekte“, auch waren die Steuern vertikal aufgegliedert, aber die Einnahmen der subnationalen Haushalte stammten bis zu 97% aus von der Föderation kontrollierten Finanzquellen. Die Verteilung der föderalen Finanzmittel an und auf die Gliedstaaten erfolgte in den ersten Jahren teils aufgrund einseitig von der föderalen Regierung getroffenen Entscheidungen, teils und dies ganz überwiegend durch Vereinbarungen mit den Regionalregierungen. Als „Gemeinschaftssteuern“ waren zunächst nur die Einkommenssteuer und die Unternehmensgewinnsteuer vorgesehen. Da deren Aufkommen aber wegen der sich katastrophal verschlechternden Wirtschaftsverhältnisse bei weitem zu gering war, erweiterte man schon bald den Kreis der aufzuteilenden Gemeinschaftssteuern. Tatarstan, Baškortostan (Baškirien) und die Republik Sacha / Jakutien, die zu den wirtschaftlich starken, vergleichsweise prosperierenden Gliedstaaten rechnen, dem Geist der Zeit folgend nach nationaler Selbstbestimmung strebten und daher während der Perestrojka versucht hatten, aus der RSFSR auszuscheiden, um gleichberechtigte Unionsrepubliken innerhalb der UdSSR zu werden19, konnten sich in jenen Jahren dem „einheitlichen Haushaltssystem“20 der Föderation entziehen. Sie erlangten de facto die Steuerertragshoheit, beschränkten sich auf die Abführung eher symbolischer „Matrikularbeiträge“ an die Moskauer Zentrale und verzichteten auf föderale Transfers zur Finanzierung der ihr Territorium einschließenden föderalen Förderungsprogramme. Die Föderation entledigte sich zur gleichen Zeit zunehmend der Verantwortung für die Erfüllung wichtiger öffentlicher Aufgaben in finanzintensiven Bereichen, voran dem Wohnungswesen, der Bildung, dem Gesundheitswesen und Sozialleistungen21, und übertrug sie im wesentlichen den örtlichen Staats- und Selbstverwaltungsorganen, denen damit auch die Ausgabenverantwortung zufiel. Im Ergebnis profitierten davon eher die Gliedstaaten, deren Anteil an den gesamtstaatlichen Einnahmen von 24% in 1991 auf ca. 55% in 1996 anwuchs, von denen sie nur 10% an die Haushalte der auf ihren Territorien gelegenen örtlichen Verwaltungseinheiten weitergaben22. So öffnete sich auf der örtlichen Ebene eine weite Kluft zwischen den Aufgaben bzw. Ausgaben und den völlig unzureichenden Finanzmitteln zu ihrer Deckung.
Vedomosti 1992 Nr. 11, Pos. 527. Tschetschenien war diesen Weg 1990 / 91 konsequent gegangen. 20 So Art. 8 der Grundlagen über die Struktur des Haushaltswesens von 1991. 21 Betroffen waren ca. 80% der sozialen Leistungsprogramme, ca. 80% der Bildungsausgaben, 66% der Kulturausgaben, 88% der Kosten der Gesundheitseinrichtungen. Vgl. dazu V. Goregljad, Finansovye problemy regional’noj politiki v Rossii, in: Federalizm 2002, Nr. 4, S. 5 – 38 (27). 22 V. N. Leksin / A. N. Švecov, Gosudarstvo i regiony. Teorija i praktika gosudarstvennogo regulirovanija territorial’nogo razvitija, Moskau 1997, S. 203. 18 19
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Die chaotisch zu nennende Entwicklung jener Zeit hat das Haushaltswesen zwischen 1991 und 1994 zu einem undurchschaubaren Geflecht von interbudgetären Finanzbeziehungen zwischen den drei Ebenen des Staatsaufbaus gemacht, das von politisch, ökonomisch und fiskalisch motivierten Sonderregelungen und Sonderverhältnissen beherrscht war. In technischer Hinsicht schlug sich die Verfilzung der Haushalte darin nieder, dass der Ausgleich zwischen ihnen damals beinahe zu 80% im Wege wechselseitiger Verrechnungen für Aufgabenerfüllungen und erbrachte Leistungen erfolgte. Von der neuen Verfassung (1993) gingen kaum Reformimpulse aus. Auf dem Gebiet der Gesetzgebung erhielt die Föderation die wesentlichen Kompetenzen23: Ausschließlich ist ihr vorbehalten, die Rechtsgrundlagen von Finanzen, Währung, Kredit, Zoll, Geldemission und Preispolitik zu regeln. Dazu treten die Aufstellung des föderalen Haushalts, die Bestimmung der föderalen Steuern und Abgaben, die Aufstellung eines föderalen Fonds der regionalen Entwicklung (Art. 71 lit. g und h). Teil der „gemeinsamen“ Kompetenzen von Föderation und Gliedstaaten24 ist die „Bestimmung der allgemeinen Prinzipien der Steuerveranlagung und der Abgabenerhebung in der Russländischen Föderation“ (Art. 72 Abs. 1 lit. i). Art. 75 Abs. 3 bekräftigt, dass das „System der für den föderalen Haushalt erhobenen Steuern und die allgemeinen Prinzipien der Steuerveranlagung“ durch föderales Gesetz „bestimmt“ würden25. Gleiches gilt für das Verfahren der Ausgabe von Staatsanleihen (Art. 75 Abs. 4). 23 Zum folgenden vgl. auch den Überblick von I. Umnova, Konstitucionno-pravovye aspekty bjudzˇetno-finansovogo federalizma, in: Federalizm 1999, Nr. 1, S. 135 – 154. 24 Anders als es ihre Bezeichnung vermuten lassen könnte, haben die gemeinsamen Kompetenzbereiche keine Ähnlichkeit mit den sogenannten Gemeinschaftsaufgaben des deutschen Grundgesetzes (Abschnitt VIII a, Art. 91 a und 91 b), wohl aber mit der Rahmenkompetenz des Bundes (Art. 75 GG). Unter Berücksichtigung von Entscheidungen des Verfassungsgerichts der Russländischen Föderation bestimmt Art. 12 Abs. 2 des Föderalen Gesetzes über die Prinzipien und das Verfahren der Abgrenzung der Gegenstände der Sachkompetenzen und (funktionalen) Befugnisse zwischen den Organen der Staatsgewalt der Russländischen Föderation und den Organen der Staatsgewalt der Subjekte der Russländischen Föderation vom 24. Juni 1999 (Text: Sobranie zakonodatel’stva Rossijskoj federacii —SZ RF 1999, Nr. 26, Pos. 3176), dass die auf den Gebieten der gemeinsamen Kompetenzen zu erlassenen föderalen Gesetze sich nur auf die Regelung dreier Fragen erstrecken dürfen: 1. „die Grundlagen (allgemeine Prinzipien) der rechtlichen Regelungen“ des betreffenden Sachgebiets, 2. die konkrete Abgrenzung der funktionalen Befugnisse der für die betreffenden Sachgebiete zuständigen föderalen und regionalen Verfassungsorgane und 3. die Aus- und Durchführung des so definierten föderalen Anteils an den gemeinsamen Kompetenzgebieten. Das Gesetz stellt ferner klar, dass die Gliedstaaten berechtigt sind, bis zum Erlass einschlägiger föderaler Gesetze die Sachgebiete gemeinsamer Kompetenz selbständig und in einem Umfang nach ihrem Ermessen zu regeln. Sobald aber ein föderales Gesetz vorliegt, müssen die Gliedstaaten ihre Rechtsvorschriften mit ihm harmonisieren. Die Ähnlichkeit mit Art. 75 Abs. 1 i. V. mit Art. 72 Abs. 1 GG und Art. 75 Abs. 3 GG ist unverkennbar. 25 Wenn man in Art. 75 Abs. 3 den Akzent auf „föderal“ und nicht auf „Gesetz“ legt, dann öffnet sich ein Widerspruch zu Art. 72 Abs. 1 lit. i) der Verfassung, da diese Bestimmung auch Gesetze der Gliedstaaten zulässt.
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Während föderale Steuern – als solche – immerhin erwähnt sind, ist von Steuern der Gliedstaaten an keiner Stelle die Rede26. Die typischen Grundzüge einer bundesstaatlichen Finanzverfassung, nämlich eine primär nach den Prinzipien der Äquivalenz und Konnexität vorgenommene Verteilung der Verantwortung für die Erfüllung staatlicher Aufgaben, der Ausgabenzuständigkeit und der Einnahmenhoheit zwischen dem Zentralstaat, den Gliedstaaten und den örtlichen Selbstverwaltungskörperschaften27, sind nicht einmal ansatzweise vorhanden. Wenige Tage vor dem Ende seines verfassungslosen Regimes dekretierte Präsident Jelzin die Einrichtung eines „Föderalen Fonds zur finanziellen Unterstützung der Regionen“ im föderalen Haushalt für 199428, um den Umfang der finanziellen Hilfe für die Gliedstaaten nunmehr „nach einheitlichen Regeln zu bestimmen“. Das war nicht ohne Erfolg, denn das damit erstmals förmlich in die Finanzordnung Russlands eingeführte Rechtsinstitut des horizontalen Finanzausgleichs drängte die bisherige Methode der Budgetverrechnung sofort massiv zurück (1995 auf 40%; heute: 2%)29. Kodifikatorische Schritte zur Festigung und Rationalitätssteigerung der Finanzordnung machte die Föderation im Sommer 1998. Eingefügt in eine Konzeption zur Reform der interbudgetären Beziehungen für die Jahre 1999 – 200030 verabschiedete der Gesetzgeber ein Haushaltsgesetzbuch31 und den Ersten Teil eines Steuergesetzbuches (beide vom 31. Juli)32, dem zwei Jahre später der Zweite Teil folgte33. Stufenweise34, endgültig am 1. 1. 2001 ist das gesamte Paket in Kraft getreten. Das Haushaltsgesetzbuch regelt das Haushaltssystem Russlands als ein integriertes Ganzes im Verbund der drei Ebenen des Staatsaufbaus – Föderation, Gliedstaa26 Demgegenüber erkennt Art. 132 Abs. 1 das Recht der Organe örtlicher Selbstverwaltung an, „selbständig . . . örtliche Steuern und Abgaben zu bestimmen“. 27 Statt vieler vgl. K. Vogel, Grundzüge des Finanzrechts des Grundgesetzes, in: Isensee / Kirchhof, HdbStR, Bd. IV, 1990, § 87. 28 Vgl. Punkt 8 des Dekretes vom 22. Dezember 1993 über die Aufstellung des Republikshaushaltes der Russländischen Föderation und die Wechselbeziehungen mit den Haushalten der Subjekte der Russländischen Föderation im Jahre 1994, Text. Sobranie aktov prezidenta i pravitel’stva Rossijskoj federacii (SAPP) 1993, Nr. 52, Pos. 5074; Einzelheiten dazu bei Leksin / Švecov, Gosudarsto i regiony (Fn. 22), S. 210 ff. 29 Lavrov, A. M. (u. a.): Finansovye vzaimootnošenija federal’nogo centra i regionov, in: Federalizm 2002, Nr. 2, S. 163 – 194 (177 – Tabelle). 30 Verordnung der Regierung vom 30. 7. 1998, Text: SZ RF 1998, Nr. 32, Pos. 3905 (S 7505 – 7519). 31 SZ RF 1998, Nr. 31, Pos. 3823. 32 SZ RF 1998, Nr. 31, Pos. 3825. 33 Gesetz vom 5. 8. 2000: SZ RF, Nr. 32, Pos. 3341. 34 Teil 1 des Steuergesetzbuches trat am 1. Januar 1999, das Haushaltsgesetzbuch am 1. Januar 2000 (Einführungsgesetz vom 9. 7. 1999 – SZ RF 1999, Nr. 28, Pos. 3487), der Teil 2 des Steuergesetzbuches am 1. Januar 2001.
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ten, örtliche Selbstverwaltungskörperschaften (Art. 10 ff.). Einbezogen sind erstmals auch die – föderalen und regionalen – außerbudgetären sozialen Sonderfonds für Rentenversorgung, Sozialversicherung, Arbeitslosenunterstützung, Gesundheitsschutz und medizinische Hilfe (Art. 13). Daneben schuf das Haushaltsgesetzbuch eine Grundlage für die Einrichtung zweckgebundener Sonderfonds innerhalb des Haushalts (Art. 17). Zwar bekennt sich das Haushaltsgesetzbuch zum Grundsatz der Selbständigkeit der Haushalte aller Ebenen (Art. 31), aber es ordnet ihn dem an erster Stelle der haushaltsrechtlichen Prinzipien stehenden Prinzip der „Einheit des Haushaltssystems“ unter (Art. 28). „Einheit“ wird allerdings primär im Sinne der Verbindlichkeit allgemein üblicher und anerkannter Haushaltsgrundsätze verstanden (Art. 29)35. Gleichwohl arbeitet das Haushaltsgesetzbuch aber auch mit der Vorstellung eines Budgets des Gesamtstaates, nämlich unter dem Begriff des „konsolidierten Haushalts der Russländischen Föderation“ (Art. 16). Er fasst den föderalen Haushalt und die „konsolidierten“ Haushalte der Gliedstaaten, die ihrerseits Zusammenfassungen ihrer eigenen Haushalte und der Haushalte der auf ihrem Territorium gelegenen örtlichen Selbstverwaltungseinheiten sind (Art. 15 Abs. 2 Haushaltsgesetzbuch), zusammen. Rein geschichtlich gesehen trat das konsolidierte Budget der Russländischen Föderation zwar an die Stelle des einheitlichen, integrierten Haushalts der RSFSR als Teil des Staatshaushaltes der UdSSR36, aber rechtlich unterscheidet sich beides grundlegend: Die konsolidierten Haushalte sind keine Rechtsakte; sie haben auch keine normative rechtliche Bedeutung, sondern sie sind ein haushaltstechnisches Arbeitsmittel für die am Budgetprozess auf allen Ebenen beteiligten Instanzen, um ihnen die Analyse und das Verständnis der Zusammenhänge im Haushaltswesen des Gesamtstaates zu erleichtern, die interbudgetären Beziehungen und insbesondere wechselseitige Abrechnungen zwischen den Haushalten zu erleichtern und die statistische Datengrundlage für die gesamtstaatliche Fiskal-, Wirtschafts- und Sozialpolitik zu verstärken37. Wenige Wochen nach dem Amtsantritt Putins (Mai 2000) wurde im Zusammenhang mit dem Zweiten Teil des Steuergesetzbuches eine weitreichende Steuerreform durchgeführt, die eine erhebliche Reduktion der Steuerbelastung von Bürgern und Unternehmern bedeutete38. Insbesondere die Senkung der Lohn- und Einkom35 Dazu zählen u. a. die Einheit der Rechtsgrundlagen, des Geldsystems, der Haushaltstechnik, des Haushaltsverfahrens von der Aufstellung über die Ausführung bis zur Kontrolle, der Formen der Ausgabenfinanzierung. Gewisse Gemeinsamkeiten mit dem Haushaltsgrundssätzegesetz der Bundesrepublik Deutschland vom 19. 8. 1969 sind zwar erkennbar, doch geht der Regelungsrahmen des Haushaltsgesetzbuches Russlands weit darüber hinaus. _ 36 Art. 4 der Grundlagen des Haushaltswesens vom 10. Oktober 1991; N. D. Eriašvili, Finansovoe pravo. Ucˇebnik, Moskau 2000, S. 134. 37 O. N. Gorbunov (Hrsg.), Finansovoe pravo, Moskau 1996, S. 103. 38 Einzelheiten mit ausführlichen Nachweisen bei J. Fruchtmann, Steuern durch Macht – Macht durch Steuern. Die russische Steuerpolitik unter Putin, Osteuropa 2002, S. 346 – 361.
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mensteuer auf linear 13% (statt bisher progressiv bis 30%) und der Gewinnsteuer von ca. 35% auf 25% erfolgte dabei ganz einseitig auf Kosten der Gliedstaaten. Die Hoffnung, die Verluste würden durch eine bessere „Steuermoral“ und letztlich höhere Einnahmen mehr als wettgemacht, hat sich bislang nicht erfüllt. Die stürmische, chaotische Entwicklung der 90er Jahre hat – als positive Begleiterscheinung – zum Aufschwung der Finanzwissenschaft und insbesondere, eng verbunden mit dem Staatsrecht, zur Entstehung einer Finanzrechtswissenschaft in Russland geführt, die mit einer gewissen zeitlichen Verzögerung nun immer qualifizierter und kritischer Normenausstattung und Realien des „Budgetföderalismus“ analysiert und kommentiert39.
III. Die Aufgabenverteilung zwischen der Föderation und den Gliedstaaten Noch die ausführlichsten Regelungen trifft die Verfassung über die Verteilung der Aufgaben zwischen der Föderation, den Gliedstaaten und den örtlichen Selbstverwaltungseinheiten (Art. 71 – 78). Allerdings sind die Bestimmungen weitgehend missglückt. Zwar folgt auch die Verfassung Russlands dem klassischen Ansatz der Aufgliederung der Staatsgewalt im Bundesstaat, indem sie „ausschließliche“ Kompetenzen der Föderation, „gemeinsame“ Kompetenzen von Föderation und Gliedstaaten und ausschließliche Kompetenzen der Gliedstaaten voneinander unterscheidet. Aber die Bestimmung der betreffenden Materien folgt keinem einheitlichen Ansatz, sei es durch eine sachliche Bezeichnung gegenständlicher Politikbereiche (z. B. „Gesundheitswesen“) und / oder der Zuweisung funktionaler Entscheidungs- bzw. Gestaltungsformen (Gesetzgebung, Vollziehung, Rechtsprechung, Kontrolle). Die geringsten Fragen wirft noch die Bestimmung über die ausschließlichen Kompetenzen der Gliedstaaten auf, denn sie sind ebenso wie in Deutschland und einer verbreiteten internationalen Praxis folgend, als Residualbereich bestimmt, d. h. in ihre alleinige Zuständigkeit fallen alle Aufgaben, sofern sie nicht ausdrücklich der Föderation vorbehalten oder Föderation und Gliedstaaten zur „gemeinsamen“ Erfüllung zugewiesen sind (Art. 73). Die Bestimmung der ausschließlichen Kompetenzen des Zentralstaates knüpft nur ausnahmsweise an Politikfelder als solche an (Art. 71 lit. m – „Verteidigung und Sicherheit“); im Regelfall verfährt sie tautologisch („Bestimmung des Systems der föderalen Staatsorgane . . .“ – lit. d); föderale „Energiesysteme“ (lit. i), „föderaler“ Haushalt, föderale „Steuern und Abgaben“ (lit. h) und provoziert damit die Schlussfolgerung, dass dieselben Sachgebiete, nur „regional“ tituliert, in die ausschließliche Kompetenz der Gliedstaaten fallen. Außerdem, und dies ist eine wei39 Wenn man bedenkt, dass das Land, wie bemerkt, hier fast „bei Null“ anfangen musste, kann man diesen Aufschwung binnen kurzer Frist nur als imponierend bezeichnen.
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tere Quelle von Unklarheiten und Unstimmigkeiten, beziehen sich die so bestimmten Gegenstände der ausschließlichen Kompetenz der Föderation teils ausdrücklich nur auf die Rechts- bzw. Normsetzung („Bestimmung der Rechtsgrundlagen des einheitlichen Marktes“ – lit. g), teils auf Rechtsetzung und Vollziehung („föderales Staatseigentum und seine Verwaltung“ – lit. e). Immerhin lässt Art. 76 Abs. 1 aber keinen Zweifel daran, dass die Föderation die alleinige Rechtsetzungszuständigkeit im Bereich ihrer ausschließlichen Kompetenzen hat und in Bezug auf ihre Ausführung über die föderalen Zentralorgane hinaus auch territoriale (föderale) Exekutivorgane bilden kann (Art. 78 Abs. 1). Was die Rechtsprechung anbelangt, ist das Gerichtswesen – mit Ausnahme lokaler Friedensgerichte und der Verfassungsgerichte der Gliedstaaten – ausschließlich Sache der Föderation (Art. 71 lit. o; Art. 118 Abs. 3; Art. 128 Abs. 2 und 3). Der Hauptschwachpunkt bei der Aufgabenabgrenzung zwischen der Föderation und ihren „Subjekten“ sind die gemeinsamen Kompetenzen (Art. 72). Der in 14 Punkten zusammengefasste, aber aus fast 60 einzelnen Sachgebieten und Politikfeldern bestehende Katalog erfasst die Hauptmasse möglicher Staatsaufgaben. Wie bei den ausschließlichen Kompetenzen der Föderation wird auch hier ihre präzise inhaltliche Erfassung dadurch erschwert, dass er die Aufgabengebiete teils funktional definiert werden („Koordination auf dem Gebiet des Gesundheitswesens“; „Bestimmung der allgemeinen Prinzipien der Steuerveranlagung und der Abgaben in der Russländischen Föderation“; Gesetzgebung über das Bergwesen), teils sachpolitisch („Katastrophenschutz“; „Notariat“), teils durch Kombination beider Ansätze („Schutz der Rechte nationaler Minderheiten“). Darüber, wie Föderation und Gliedstaaten ihre „gemeinsamen“ Kompetenzen abgrenzen sollen, enthält die Verfassung nur einige allgemeine und folglich umstrittene Grundsätze. Sie geben der Föderation ein deutliches Übergewicht auf den Feldern der gemeinsamen Kompetenzen, doch konnte sie es während der Amtszeit Jelzins nicht vollauf nutzen, denn die Verfassung räumt der föderalen Exekutive (Staatspräsident; Regierung) nur schwache Interventionsinstrumente gegenüber den Exekutivbehörden der Gliedstaaten ein. Präsident Jelzin hat von ihnen kaum Gebrauch gemacht, sondern – was ihm die Verfassung auch nahe legt (Art. 85 Abs. 1), den Weg der Absprache und der Einigung mit den Chefs der Regionalexekutiven beschritten, insbesondere das Instrument des Kompetenzabgrenzungsvertrages (Art. 11 Abs. 3) intensiv genutzt40. Gegen Ende seiner Amtszeit existierten mit über 40 Gliedstaaten solche Verträge und weitere etwa 200 Durchführungsvereinbarungen. Gemeinsam war ihnen durchgehend die Tendenz, den Anteil der Gliedstaaten an den Staatseinnahmen nachhaltig zu erhöhen41. 40 Den Weg dahin hatten die Verträge mit den auf nationale Souveränität bedachten eigenwilligen, widerspenstigen nichtrussischen Titularrepubliken Tatarstan (15. Februar 1994), Baškortostan (3. August 1994) und Sacha / Jakutien (29. Juni 1995) gewiesen. Texte der Verträge bei M. N. Guboglo (Red.), Federalizm vlasti i vlast’federalizma, Moskau 1997, S. 247 ff., 259 ff., 270 ff.
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Ohne die Bedeutung der Verträge unterschätzen zu wollen, – die hauptsächliche Form, in welcher die Aufgabenverteilung und Aufgabenabgrenzung bei den gemeinsamen Kompetenzen vollzogen wurde, war und ist die Einfügung von Vorschriften über die Zerlegung der föderalen und gliedstaatlichen Befugnisse in den einschlägigen föderalen Fachgesetzen über Wirtschaft und Umwelt, Kultur und Wissenschaft, Bildung und Erziehung, Energiewesen, Verkehr usw. Freilich waren auch diese Bestimmungen kein einseitiges föderales „Diktat“, sondern mehr oder weniger das Ergebnis eines politischen Handels hinter den Kulissen, bei welchem der Föderationsrat, die Kammer der Gliedstaatenvertreter in der Föderalversammlung, seine Rolle spielte42. Insgesamt waren und sind die Ansätze, Wege und Methoden, die Aufgabenfelder der „gemeinsamen Kompetenzen“ macht- und interessengerecht aufzuteilen, vielfältig, freilich um den Preis größter, ja äußerster Unübersichtlichkeit. Erst gegen Ende der Amtszeit Jelzins fand der föderale Gesetzgeber die Kraft, Grundsätze und Verfahren der Kompetenzabgrenzung durch ein Gesetz zu regeln43. Sein Hauptziel war es, die eigentlich problematische, im Vertragswege erfolgende Kompetenzabgrenzung – endlich – an ein bestimmtes Verfahren zu binden und sie zugleich nachhaltig zu erschweren, wenn nicht gar unmöglich zu machen. Dieses 41 Schwerpunktmäßig drehen sich die Vereinbarungen darum, 1. dass die auf dem Territorium des Gliedstaates eingenommenen und bei der Dienststelle des föderalen Finanzministeriums (Schatzamt – kaznacˇejstvo) verbuchten föderalen Steuern nicht an Moskau abgeführt, sondern im Gliedstaat verbleiben und hier unmittelbar insbesondere zur Finanzierung föderaler Infrastrukturprogramme der Förderung einzelner sozialer und ökonomischer Sektoren (Gesundheitswesen, Bildung, Kultur usw.) verwendet werden, 2. um die Sicherung eines größeren Anteils am Ertrag der Ausbeutung von Bodenschätzen, die im Gliedstaat abgebaut werden (Edelmetalle, fossile Brennstoffe, Holz usw.), 3. um größere Bewegungsfreiheit bei der Aufnahme von Krediten, Ausgabe von Schuldverschreibungen usw. unter Durchbrechung der insofern vom Haushaltsgesetzbuch der Föderation errichteten Schranken (Art. 89 ff. – Auf das wichtige Problem, in welchem Umfang Regionen Deckungslücken durch Kredite, Anleihen usw. ausgleichen dürfen, kann hier nicht weiter eingegangen werden.), 4. um verbindliche Zusagen der Föderation zur Förderung von Investitionen im Gliedstaat, sei es durch Beihilfen oder durch Einräumung des Rechts zum Erlass von Sondervorschriften, 5. um stärkere föderale Unterstützung der Konversion von Militärbetrieben, 6. um höhere Subventionen für Landwirtschaftsbetriebe der Region, für den Umweltschutz, 7. um bessere Positionen bei der Übertragung von auf dem Territorium des Gliedstaates gelegenen föderalen Eigentum, 8. um garantierte bevorzugte und subventionierte Belieferung mit Elektro- und Wärmeenergie, 9. um Zollanteile der an den Außengrenzen Russlands liegenden Gliedstaaten; 10. um die Erweiterung von Entscheidungsbefugnissen im Außenhandel. 42 Zum Föderationsrat grundlegend M. Wiest, Russlands schwacher Föderalismus und Parlamentarismus. Der Föderationsrat, 2003. 43 Föderales Gesetz über die Prinzipien und das Verfahren der Abgrenzung der Gegenstände der Sachkompetenzen und funktionalen Befugnisse (vgl. Fn. 24).
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Ziel ist auch bald darauf erreicht worden, freilich nicht durch Anwendung des Gesetzes, sondern durch jenen einschneidenden Regimewechsel, den Putin unmittelbar nach seiner Wahl zum Präsidenten einleitete und dessen wichtigste Auswirkung die Rezentralisierung im föderalen Gefüge, die Teilentmachtung der Provinzfürsten, die nachhaltige, strategische Schwächung der Gliedstaaten und ihres Vertretungsorgans, des Föderationsrates, ist44.
IV. Die Ausgabenverteilung zwischen Föderation und Gliedstaaten Die Schwierigkeit, ja Unmöglichkeit, die vertikale Aufgabenverteilung zwischen den staatlichen Ebenen in Russland zu durchschauen, setzt sich bei der Verantwortlichkeit für die öffentlichen Ausgaben fort. Freilich folgt auch das russische Recht grundsätzlich dem klassischen Ansatz des Budgetföderalismus, dass die Ausgabenverantwortlichkeit der Aufgabenkompetenz folgt45. Die Aufgaben, die gemäß Art. 84 Haushaltsgesetzbuch „ausschließlich“ aus dem Föderationshaushalt zu bezahlen sind, knüpfen offensichtlich an die Verwaltungskompetenz und die praktische Durchführungslast in Bezug auf die Aufgaben an46. Wie die Ausgabenverantwortung zwischen Föderation, Gliedstaaten und örtlichen Selbstverwaltungskörperschaften zu verteilen ist, sagt das Haushaltsgesetzbuch nicht. Es gibt nur den vagen Hinweis, dass dies durch Vereinbarung zwischen Föderation und Gliedstaaten bzw. zwischen den Gliedstaaten und örtlichen Selbst44 Die Kompetenzabgrenzungsverträge sind seit 2001 Gegenstand eines schwierigen Neuverhandlungsprozesses, den die Föderation den Gliedstaaten mit dem Ziel der Abschaffung aufgezwungen hat (zum folgenden Luchterhandt, [Fn. 13] bei Fn. 76 ff.). Im Regelfall sind die Verträge bislang in der Tat aufgehoben worden. Ob bzw. von welchen internen föderalen Zusagen die Aufhebung begleitet wird, ist bislang nicht durchgesickert. Die stärkeren nichtrussischen Republiken wie Tatarstan und Baškortostan haben zwar im Prinzip ihre Kompetenzabgrenzungsverträge „retten“ können, aber nur um den Preis erheblicher Abstriche am Vertragsinhalt. Das gilt auch und gerade für die „Diamanten-Republik“ Sacha / Jakutien. Der mit ihr am 26. September geschlossene Änderungsvertrag (Text: SZ RF 2002, Nr. 4 – Anhang, S. 9711) ist gerade aus fiskalischer Sicht besonders aufschlussreich. Die von Sacha im Bereich der ausschließlichen Finanzkompetenzen (Art. 1 des Vertrages) nun erlittenen Verluste betreffen (u. a.): 1. die Bestimmung der Steuersätze für die regionalen und lokalen Abgaben, 2. die Aufstellung und Nutzung des Republiksfonds von Edelmetallen und Edelsteinen, 3. die Lizenzierungs- und Quotierungsentscheidungen im Republiksmaßstab. 45 Vgl. Kapitel 11 über die Verteilung der Ausgabenkompetenzen (Art. 84 – 88) im Haushaltsgesetzbuch vom 17. 7. 1998 (Fn. 31). 46 Es handelt sich um: Gewährleistung des sozialen Schutzes der Bevölkerung; Gewährleistung des Natur-, Umwelt- und Ressourcenschutzes; Gewährleistung der Vorbeugung und Beseitigung der Folgen von Notständen und Unglücksfällen überregionalen Maßstabes; Entwicklung von Marktstrukturen; Gewährleistung der Entwicklung der föderalen und nationalen Beziehungen in Russland; Gewährleistung der Tätigkeit der regionalen Wahlkommissionen; Gewährleistung der Tätigkeit von Masseninformationsmitteln.
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verwaltungskörperschaften bestimmt und durch Gesetz bestätigt werden solle (Art. 85 Abs. 2). In der „Konzeption zur Reform der interbudgetären Beziehungen in Russland für 1999 – 2001“, welche die Regierung zusammen mit der Verabschiedung des Haushaltsgesetzbuches erlassen hatte47, war eine sofortige Bestandsaufnahme der „Ausgabenbefugnisse“ (raschodnye polnomocˇija) und ihrer Rechtsgrundlagen sowie eine bis zum Jahre 2000 abzuschließende „Konkretisierung“ der Ausgabenkompetenzabgrenzung angekündigt worden48. Im August 2001 musste die Regierung in ihrem Programm der Entwicklung des Budgetföderalismus bis 2005 förmlich eingestehen, dass man auf dem Wege keinen wesentlichen Schritt vorangekommen war49. Die Instabilität des Zustandes und seine Unberechenbarkeit für die Gliedstaaten steigt dadurch, dass der föderale Gesetzgeber laufend auf den verschiedensten Gebieten den Aufgaben- und Ausgabenumfang zu Lasten der Gliedstaaten und der örtlichen Selbstverwaltungskörperschaften verändert. Zwar sind die Gliedstaaten über den Föderationsrat am Gesetzgebungsverfahren nicht nur marginal beteiligt, aber der Föderationsrat hat sich bisher weitgehend als unfähig erwiesen, der Verlagerung der Aufgaben- und Ausgabenverantwortung auf die unteren Ebenen des Staatsaufbaus entgegenzutreten. Auf breiter Front geschah dies für soziale Leistungen, deren Erfüllung wegen des Kreises der Leistungsempfänger eigentlich eine gesamtstaatliche Aufgabe war: Kriegsteilnehmer des Zweiten Weltkrieges und des Afghanistan-Krieges, Invalide, Familien mit Kindern.50. Die bittere, zum geflügelten Wort gewordene Sentenz, Moskau verfahre nach dem Schema ,Ausgaben nach unten, Einnahmen nach oben‘ (raschody vniz, dochody vverch), traf die Lage51. Obwohl heftig kritisiert, hält der Zustand bis heute an.
47 O koncepcii reformirovanija mez ˇ bjudzˇetnych otnošenij v Rossijskoj Federacii v 1999 – 2001 godach vom 30. 7. 1998, Text: SZ RF 1998, Nr. 32, Pos. 3905. 48 Punkt 3.1 (S. 7510 oben). 49 Zwar fügte die Regierung dem Programm im Anhang ein „Schema“ für die Abgrenzung der Ausgabenverantwortung der drei Budgetebenen bei, jedoch in so allgemeiner und vager Form, dass es nicht mehr als eine grobe Richtung weisen kann; für eine operative Steuerung der Praxis ist es ungeeignet, selbst wenn der Akt einen höheren Grad normativer Verbindlichkeit besäße. 50 Eine Untersuchung des Finanzministeriums Russlands legte 1998 offen, dass die sogenannten „föderalen Mandate“, die fast 60% der Ausgaben der „konsolidierten“ regionalen Haushalte (d. h. Gliedstaatshaushalt plus Gemeindehaushalte des Territoriums) ausmachten, nur durchschnittlich zu 30% durch föderale Finanzzuweisungen gedeckt waren. A. M. Lavrov, Finansovye vzaimootnošenija federal’nogo centra i regionov, in: Federalizm 2002, Nr. 2, S. 163 – 194 (174 f.). 51 V. Kirpicˇnikov / B. Bargandzˇija, Formirovanie e _ ffektivnosti sistemy vlasti i upravlenija v ramkach dejstvujušcˇej konstitucii Rossii, in: Federalizm 2001, Nr. 1, S. 11 – 42 (18).
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V. Die Einnahmenverteilung zwischen Föderation und Gliedstaaten. Der Finanzausgleich 1. Steuer- und Abgabenerhebungsrecht: Vertikaler Finanzausgleich Nur indirekt erkennt die Föderalverfassung auch eine Steuerhoheit der Gliedstaaten an, nämlich kraft des Grundsatzes, dass die nicht ausdrücklich der Föderation vorbehaltenen Kompetenzen bei den Subjekten der Föderation liegen52. Davon waren bereits die Grundlagen des Steuersystems von 1991 mit ihrer kategorialen Unterscheidung von föderalen, regionalen und örtlichen Steuern bzw. Abgaben ausgegangen53. Das geltende Steuergesetzbuch von 1998 hat das zwar bekräftigt, aber mit einer einschneidenden Einschränkung für das Steuererfindungsrecht. Es listet nämlich die betreffenden Steuern in abschließenden Katalogen auf (Art. 12 – 15) und verbietet den Gliedstaaten und den örtlichen Selbstverwaltungskörperschaften ausdrücklich, sonstige nicht vom Steuergesetzbuch namentlich genannte Steuern bzw. Abgaben zu erheben (Art. 12 Abs. 5)54. Diese einschneidende Beschränkung ihrer Steuer- und Abgabenhoheit ist von einigen Gliedstaaten im Normenkontrollverfahren beim Verfassungsgericht Russlands angegriffen worden, aber ohne Erfolg55.
52 Dazu ausführlich E. M. Ašmarina, Nekotorye voprosy razgranic ˇ enija nalogovoj kompetencii, in: Gosudarstvo i Pravo 2002, Nr. 12, S. 48 – 54 (51). 53 Nachweis der Grundlagen in Fn. 18. ˇ asti pervoj 54 S. D. Šatalov, Kommentarij k nalogovomu kodeksu Rossijskoj Federacii, C (postatejnyj), Moskau 1999, S. 81. 55 Entscheidung vom 21. März 1997 zur Prüfung der Verfassungsmäßigkeit von Art. 18 Abs. 2 und Art. 20 des Gesetzes der Russländischen Föderation vom 27. Dezember 1991 über die Grundlagen des Steuersystems in der Russländischen Föderation (Text: SZ RF 1997, Nr. 13, Pos. 1602). Das Gericht bestätigte in dieser Grundsatzentscheidung zwar, dass auf dem Gebiet der „gemeinsamen Kompetenzen“ (Art. 72) die Subjekte der Föderation grundsätzlich berechtigt seien, bei Fehlen einer föderalen Regelung bzw. bis zu deren Erlass die Lücke mit eigenen Gesetzen zu füllen, macht davon jedoch für den Bereich der Finanzordnung eine Ausnahme. Die Verfassung garantiere die Einheit des Wirtschaftsraumes (Art. 8 Abs. 1), weise der Föderation bzw. ihrer Regierung als Kompetenz die Führung einer „einheitlichen Finanz-, Kredit- und Geldpolitik“ (Art. 114 Abs. 1 lit. b) zu, sie vertrete das Prinzip einer gleichen steuerlichen Belastung der Bürger (Art. 19 und 57 – Steuerpflicht) und lasse daher im Steuerwesen dem regionalen Gesetzgeber von vornherein nur Raum für die Ausfüllung föderaler Vorgaben: „Dabei besitzt das Recht der Subjekte der Russländischen Föderation auf Bestimmung der Steuern immer Ausführungscharakter (proizvodnyj charakter), weil die Subjekte der Föderation an diese allgemeinen Prinzipien gebunden sind.“ Mit demselben restriktiven Interpretationsansatz hat das Verfassungsgericht bei der Auslegung von Art. 132 Abs. 1 der Föderalverfassung (“ . . . Recht, örtliche Steuern und Abgaben zu bestimmen“) ein Abgabenerfindungsrecht der örtlichen Selbstverwaltungskörperschaften verneint. Vgl. Entscheidung vom 5. Februar 1998, Text: Vestnik konstitucionnogo suda Rossijskoj Federacii 1998, Nr. 3, S. 30 – 34; kritisch zu der Rechtsprechung I. Umnova, Konstitucionno-pravovye aspekty bjudzˇetno-finansovogo federalizma, in: Federalizm 1999, Nr. 1, S. 135 – 154 (142 f.).
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Die Föderation hat die wichtigsten Steuern bzw. Abgaben ihrer Ebene zugeordnet, namentlich die Mehrwertsteuer, Einkommensteuer, Kapitalertragsteuer, Gewinnsteuer (von Organisationen), Verbrauchsteuern, Steuern auf bzw. Abgaben für die Nutzung der wichtigsten Naturressourcen (Bodenschätze, fossile Brennstoffe, Wasser, Forsten, Ökosysteme usw.), für bedeutsame Lizenzen sowie ferner die den außerbudgetären Fonds zufließenden Sozialabgaben.
Das gesamte Aufkommen dieser (16) Arten von Steuern und Abgaben fließt über die örtlichen und regionalen Dienststellen der föderalen Steuerkasse den bei der Bank Russlands eingerichteten Haushaltskonten der Föderation zu56. Regionalsteuern bzw. -abgaben sind demgegenüber: das Vermögen von Organisationen, Immobiliensteuer, Chaussee-(Fernstraßen-)steuer, Transportsteuer, Verkaufssteuer, Geschäfte mit Spielen, Lizenzgebühren regionaler Bedeutung.
Der Katalog der örtlichen Abgaben enthält folgende fünf Positionen: Grundsteuer, Steuer auf das Vermögen natürlicher Personen, Reklamesteuer, Erbschaft- oder Schenkungsteuer, Lizenzgebühren örtlicher Bedeutung.
In Bezug auf die vertikale Verteilung der gesamtstaatlichen Einnahmen hat sich der Gesetzgeber allerdings nur scheinbar für das Trennsystem entschieden. Tatsächlich ist auch Russlands Finanzverfassung von einer Kombination aus Trennsystem und Verbundsystem, also von einem Mischsystem geprägt, in dem das Ele_ 56 Art. 243 ff. Haushaltsgesetzbuch von 1999 (Nachweis: Fn. 31); dazu auch N. D. Erias ˇvili, Finansovoe pravo, Moskau 2000, S. 59 ff.
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ment des Steuerverbundes dominiert. Anders als in Deutschland ist das Vorgehen im Verbundsystem aber nicht für von der Verfassung konkret bestimmte Steuern geregelt (Art. 106 Abs. 3 GG – „Gemeinschaftssteuern“)57, sondern kann sich nach Maßgabe des jährlichen föderalen Haushaltsgesetzes im Prinzip auf alle Steuern bzw. Abgabearten erstrecken. Nicht darunter fallen lediglich die Einnahmen aus der Nutzung des öffentlichen Eigentums und aus den entgeltlichen Dienstleistungen der Gliedstaaten bzw. der örtlichen Selbstverwaltungskörperschaften (Art. 55 Abs. 2 bzw. Art. 60 Abs. 2 Haushaltsgesetzbuch). Zu welch einem Anteil bei diesem primären vertikalen Finanzausgleich die Erträge der betreffenden Steuern bzw. Abgaben ausschließlich dem föderalen Haushalt zufließen, legt der föderale Gesetzgeber jährlich im Haushaltsgesetz fest (Art. 56 Haushaltsgesetzbuch). Am Beispiel der folgenden vier – im Prinzip – bedeutenden föderalen Steuern sei dies aufgezeigt: 1. Die Mehrwertsteuer fließt im Haushaltsjahr 200358 zu 100% dem föderalen Haushalt zu (2002: 100%59; 2001: 100%60; 2000: 85%61); 2. die Einkommenssteuer fließt 2003 zu 100% dagegen den regionalen Haushalten zu (2002: 100%; 2001: 99%)62; 3. die Mineralölsteuer fließt 2003 zu 100% der Föderation zu (2002: 100% sowie ebenso in den früheren Haushaltsjahren); 4. die Verbrauchssteuern, namentlich die außerordentlich bedeutsamen Alkohol-, Spirituosen-, die Tabak- und anderen Genussmittelsteuern, sind zu kleineren Teilen 50:50 bzw. 40:60 (zugunsten der regionalen Haushalte) aufgeteilt, überwiegend aber fließen sie vollständig dem föderalen Haushalt zu. Zwar sind die Gliedstaaten darin frei zu entscheiden, ob sie die Regionalsteuern bzw. eine Regionalsteuer einführen oder nicht; wenn sie dies aber tun, dann sind sie vom föderalen Gesetzgeber nur dazu ermächtigt, einzelne Elemente der Steuererhebung zu bestimmen, nämlich (in gewissen Grenzen) die Steuersätze, das Verfahren und die Fristen der Steuerentrichtung sowie die Formen der RechenschaftsIm Einzelnen Vogel (Fn. 27), Rn. 27 ff. Haushaltsgesetz für 2003 vom 24. Dezember 2002, Text: SZ RF 2002, Nr. 52, Pos. 5132 (Anlage 2). 59 Haushaltsgesetz vom 30. Dezember 2001, Text: SZ RF 2001, Nr. 53, Po. 5030. 60 Haushaltsgesetz vom 27. Dezember 2000, Text: SZ RF 2001, Nr. 1, Po. 2. 61 Haushaltsgesetz vom 31. Dezember 1999, Text: SZ RF 2000, Nr. 1, Po. 1. Im Haushaltsjahr 1999 schwankte der Satz zwischen 75% und 85%. 62 Für das Haushaltsjahr 1999 lautete der Satz 84% (Art. 9 Haushaltsgesetz 1999 vom 22. Februar 1999, Text: SZ RF 1999, Nr. 9, Po. 1093). In den 90er Jahren hat die Einkommenssteuer auf natürliche Personen unter den Einnahmen des Staates wegen der Kümmerlichkeit des Einkommensniveaus nur eine marginale Rolle gespielt, und eine durchgreifende Besserung ist bis heute nicht eingetreten. Aus diesem Grunde ist, zumindest vorläufig, das fiskalische Interesse der Föderation an dieser Steuerart nur gering. Anders steht es mit der Mehrwertsteuer! 57 58
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legung für die betreffende Steuer. Außerdem können sie Steuerbefreiungen vorsehen (Art. 12 Abs. 3 Steuergesetzbuch)63. Entsprechendes gilt für die örtlichen Selbstverwaltungskörperschaften (Abs. 4). Wie sich zeigt, setzt sich das bereits bei der Aufgaben- und der Ausgabenverteilung zwischen Föderation und Gliedstaaten entstandene Bild auf der Einnahmenseite fort. Auch hier gibt es keine stabile Abgrenzung, nicht einmal auf der Ebene des Gesetzes, geschweige denn der Verfassung64. Angesichts des dichten Nebels über der Zukunft der Wirtschaftsentwicklung in Russland, der Unklarheit über die Erträge der einzelnen Steuerarten und ihre Dynamik dürfte eine vertikale Zuweisung bestimmter Anteile an die Haushalte allerdings eher unzweckmäßig sein.
2. Horizontaler (primärer und sekundärer) Finanzausgleich Wie jede föderal gestaltete Staatsordnung kennt auch die Finanzordnung Russlands die Einrichtung des horizontalen Finanzausgleiches zwischen den Gliedstaaten, aber sein Profil ist weitaus weniger ausgeprägt als im Falle Deutschlands. Die wichtigste Einrichtung ist der Föderale Fonds zur finanziellen Unterstützung der Regionen65. Seine Grundzüge sind seit 1998 in dem Haushaltsgesetzbuch geregelt (Art. 129 – 142: „Interbudgetäre Beziehungen“). Zweck der Vergabe seiner Mittel ist es, den Haushalten der Gliedstaaten eine Mindestausstattung zu gewährleisten, die sie in die Lage versetzt, die notwendigen, d. h. gesetzlich fixierten Ausgaben gemäß den von der Regierung durch Verordnung konkretisierten sozialen Mindeststandards zu tätigen (Art. 132; Art. 135)66. Die Finanzquellen des Fonds sind vom Gesetzgeber nicht definitiv geregelt; vielmehr wechseln sie fast von Jahr zu Jahr: Waren es zunächst 22%, dann 27% des (um einige Warenkategorien reduzierten) Mehrwertsteueraufkommens, so – ab 1996 – statt dessen 15% des gesamten föderalen Steueraufkommens (abzüglich Einkommenssteuer und Einfuhrzölle). Zwar versprach der föderale Gesetzgeber 1999, den horizontalen Finanzausgleich durch ein Gesetz zu regeln, aber die für 63 Ašmarina (Fn. 52);zu den Spielräumen regionaler Steuergesetzgebung siehe J. A. Krochina, Pravotvorcˇestvo sub-ektov Rossijskoj federacii v bjudzˇetnoj sfere, in: Zˇurnal Rossijskogo prava 2001, Nr. 5, S. 70 – 76; O. A. Tarasenko, Unifikacija zakonodatel’stva sub-ektov federacii o nalogach i sborach, in: Gosudarstvo i Pravo 2002, Nr. 11, S. 116 – 121. 64 In dem Entwurf des föderalen Haushaltsgesetzbuches von 1998 waren noch Bestimmungen enthalten, welche die Steuerertragshoheit auf die Föderation und ihre Gliedstaaten zahlenmäßig aufteilten; sie wurden gestrichen. So der Stellvertretende Vorsitzende des Föderationsrates und Haushaltsfachmann Valerij Goregljad: Formirovanie sovremennoj modeli bjudzˇetnogo federalizma v Rossii: Voprosy metodologii, in: Federalizm 2002, Nr. 1, S. 61 – 84 (75). 65 Siehe oben bei Fn. 28. 66 Vgl. dazu z. B. die Regierungsverordnung vom 19. November 2001 über die föderalen Standards im Übergang zu dem neuen System der Zahlung von Wohnraum und kommunalen Dienstleistungen im Jahre 2002 (SZ RF 2002, Nr. 48, Pos. 4519).
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die Übergangszeit bis dahin erfolgende jährliche Regelung im Haushaltsgesetz besteht unverändert fort67. Selbst der Vorschlag, die Bestimmungen über den Umfang und die Verteilung des Fonds mittelfristig stabil zu halten, ließ sich bislang nicht verwirklichen68. Die Kriterien, welche das Recht begründen, Leistungen aus dem Fonds zu erhalten, sind das Steuerpotential des Gliedstaates, die Zahl seiner Bürger (Einwohner) und die geschätzten Mindestausgaben des Haushaltes69. Der Status der Unterstützungsbedürftigkeit eines Gliedstaates hängt davon ab, ob das – bezogen auf das allgemein zugrunde gelegte Ausgangsjahr – nach diesen Kriterien und auf der Grundlage seiner Haushaltseinkünfte errechnete70 durchschnittliche Pro-Kopf-Einkommen des Gliedstaatsbürgers hinter dem durchschnittlichen Pro-Kopf-Einkommen aller Regionalhaushalte Russlands zurückbleibt. Die Berechnung orientiert sich also primär am Einwohnerschlüssel. Die Höhe der dann fälligen Transferleistung71 aus dem Fonds richtet sich nach der Differenz der beiden „Pro-Kopf-Ziffern“. Ein unterstützungsbedürftiger Gliedstaat erlangt darüber hinaus zusätzlich den Status der „besonderen Unterstützungsbedürftigkeit“, wenn die Anhebung auf das durchschnittliche föderale Pro-Kopf-Einkommen72 nicht ausreicht, um die im Haushalt für das laufende Jahr ausgewiesenen Mindestausgaben abzudecken. Zur Förderung der „depressiven“ Regionen wurden 2001 die Mittel des Fonds zur Unterstützung der Regionen im Verhältnis von 80% zu 20% aufgegliedert, wobei in der Praxis der 20%-Teil als Fondsreserve für die Qualifizierung des Ausgleichs bei der Schlussabrechnung mit den Gliedstaaten verwendet wird73. 67 Art. 4 Einführungsgesetz zum Haushaltsgesetzbuch vom 9. Juli 1999 (SZ RF 1999, Nr. 28, Pos. 3492) i. V. m. Art. 134 Abs. 4 Haushaltsgesetzbuch. 68 So Punkt 6 des Programms für die Entwicklung des Budgetföderalismus in der Russländischen Föderation für die Zeit bis 2005 vom 15. 8. 2001, Text: SZ RF 2001, Nr. 34, Pos. 3503 – S. 7428. 69 Leksin / Švecov (Fn. 22), S. 212; vgl. ferner die Darstellung des Fonds in Punkt 3.3 der Konzeption zur Reform der interbudgetären Beziehungen in Russland 1999 – 2001 vom 30. 7. 1998 (Fn. 30), 70 Grundlage sind nicht alle Einkünfte von Föderation und Gliedstaaten, sondern nur das jeweilige Aufkommen der Mehrwertsteuer, der Unternehmensgewinnsteuer, der Einkommenssteuer, der Verbrauchssteuern und der sonstigen in das regionale Budget fließenden Abgaben. 71 Der bisher für die Zahlungen aus dem Fonds übliche Begriff der „Transferleistung“ (transfert) wurde bei der Regelung im Haushaltsgesetzbuch durch den Begriff der „Dotation“ (dotacija) ersetzt, d. h. eine unentgeltliche, nicht rückzahlbare Leistung zur Tätigung laufender Ausgaben. So Art. 132 Haushaltsgesetzbuch i. V. m. der Definition im „Terminologie-Artikel“ 6. 72 Tatsächlich bleibt bei der Berechnung der Koeffizient etwas unter 1,0, nämlich bei 0,95, um den betreffenden Gliedstaat einen Ansporn zur Stärkung seiner Steuer- bzw. Finanzkraft zu geben. 73 So E. Buchval’d / A. Igudin, Mez ˇ bjudzˇetnoe regulirovanie v Rossii: Vremja al’ternativ bjudzˇetnogo federalizma, in: Federalizm 2000, Nr. 4, S. 113 – 136 (119).
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Eine spezielle Kategorie von besonders unterstützungsbedürftigen Gliedstaaten sind Territorien, die große Sonderlasten teils aus Gründen föderalen Interesses, teils wegen besonders hoher klimatischer Benachteiligung zu tragen haben. Zu ersteren rechnen die aus militärischen Sicherheitsgründen gesperrten „geschlossenen territorialen Verwaltungseinheiten“, ferner der von der föderalen Regierung schwerpunktmäßig als Erholungsgebiet in Anspruch genommene Teil der Schwarzmeerküste um die Stadt Socˇi, Moskau wegen ihrer Hauptstadtfunktionen und die Tschetschenien benachbarte Republik Dagestan, zu letzteren die unwirtlichen, extrem benachteiligten Zonen des Hohen Nordens, von Teilen Sibiriens, des Fernen Ostens74. Um den Gliedstaaten einen Anreiz zu geben, Anstrengungen zur Erhöhung ihrer Einkünfte zu unternehmen, bleiben die Transferleistungen 5% unter dem föderalen Durchschnittswert. Die Gewährleistung der Finanzhilfe setzt auf Seiten des Empfängers Schritte voraus, die ihn gewissen föderalen Kontroll- und Einwirkungsmechanismen unterwerfen. Er muss sich insbesondere damit einverstanden erklären, die Ausführung bzw. den Vollzug seines Haushaltes über die Föderale Kassenorganisation (federal’noe kaznacˇejstvo) abzuwickeln (Art. 134 Abs. 1 Haushaltsgesetzbuch). Die zahlenmäßige Bedeutung des Unterstützungsfonds, sein Anteil am föderalen Gesamthaushalt, ist nach dem Höhepunkt 1997 (10%) gesunken und hat sich seit 2001 bei etwa 8% stabilisiert, d. h. ca. 173.000.000,00 von 2.345.000.000,00 Rubel in 200375. Der Föderale Unterstützungsfonds hat bislang nicht dazu beigetragen, die Haushaltsselbständigkeit der Gliedstaaten zu stärken, ihre Wirtschafts- und Steuerkraft zu heben und insgesamt ihre Abhängigkeit von den Finanzausgleichsleistungen zu verringern. Im Gegenteil: Nachdem im Startjahr 1994 (1.4. – 31.12.) auf Anhieb 66 von 89 Gliedstaaten als unterstützungsbedürftig eingestuft worden waren, stieg ihre Zahl 1995 auf 77 und hat sich seither praktisch unverändert auf diesem hohen Niveau, d. h. zwischen 70 und 80, gehalten76. Die Gruppe der stark unterstützungsbedürftigen Gliedstaaten schwankt zwischen einem Viertel und einem Drittel aller Gliedstaaten.
74 Kraft spezieller Haushaltstitel werden sie im Rahmen des Unterstützungsfonds durch Subventionen und Subsidien für den Güterverkehr und die Versorgung mit Elektroenergie, Brennstoffen, Lebensmitteln usw. zusätzlich gefördert. Art. 63 ff. des Föderalen Haushaltsgesetzes 2003; kritisch dazu A. Cˇebanova, Finansovaja pomošcˇ’ bjudzˇetam drugich urovnej, in: Federalizm 2001, Nr. 4, S. 141 – 154 (152). 75 Vgl. Lavrov (Fn. 29), S. 174 (Tabelle). 35 Rubel entsprechen einem Euro. 76 Vgl. dazu die einschlägigen Anlagen zu den Haushaltsgesetzen seit 1995. Für das Jahr 2003: SZ RF 2002, Nr. 52, Pos. 5132. Die tatsächliche Unterstützungsbedürftigkeit, d. h. der Kreis der Gliedstaaten nach der Haushaltsabrechnung, soll eher noch darüber liegen. So A. Andreev, Sovremennye problemy vzaimootnošenij bjudzˇetov v Rossijskoj Federacii, in: Federalizm 2001, Nr. 1, S. 43 – 66 (44); für das Jahr 2000 im Haushaltsansatz: 71, tatsächlich: 79!
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Die Reform der Finanzgrundlagen von 1998 hat also die strukturelle Abhängigkeit der Gliedstaaten von der Föderation nicht verringert; sie hat den bestehenden Zustand nur auf eine äußerlich besser geordnete rechtliche Grundlage gestellt. Freilich war die keinen Monat später über Russland hereinbrechende Finanz- und Rubelkrise, die den Staat vorübergehend zahlungsunfähig machte77, alles andere als geeignet, die Finanzkräfte der Regionen gegenüber dem Zentralstaat zu stärken. Unabhängig davon leiden die geltende Ordnung und praktische Durchführung des Finanzausgleichs unter Strukturschwächen, die sich höchst nachhaltig auf Haushalte und Finanzwirtschaft der Gliedstaaten auswirken: 1. schränkt die jährliche Änderung des Verfahrens, in welchem der Unterstützungsfonds gebildet wird, erheblich die Fähigkeit der Regionen ein, ihre Einnahmen selbst kurzfristig zu prognostizieren78; von einer mittelfristigen Finanzplanung kann von vornherein keine Rede sein; 2. ist die im Ansatz schematische Gleichbehandlung aller Regionen bei der Teilhabe am Fonds angesichts der zwischen ihnen bestehenden Strukturunterschiede wohl nicht die richtige, geeignete Methode für eine optimale Wirkung des Fondsmitteleinsatzes; 3. werden die Dotationen des Fonds nicht rechtzeitig und nicht vollständig an die Empfängerregionen ausgezahlt, was bei ihnen zu Defiziten führt, die sie durch Kreditaufnahmen auszugleichen versuchen; 4. ist die Berechnung der Dotationen durch das Finanzministerium schwer zu durchschauen, weichen die tatsächlichen Zuweisungen von den im föderalen Haushalt des betreffenden Jahres ausgewiesenen Ansätzen teils nach oben (für 2000: 132% für das Gebiet Bel’gorod), teils nach unten (2000: 89% für das Gebiet Smolensk) stark voneinander ab; 5. existiert keine klare, durchsichtige Verfahrensregelung für die Nachzahlungen der von der Föderation in den Vorjahren nicht vollständig geleisteten Dotationen. Im Föderalen Budget sind diese Beträge auf der Ausgabenseite nicht besonders ausgewiesen. Aus Mangel spezieller Regelungen erfolgen die Nachzahlungen im allgemeinen Rahmen der quartalsweise von der Föderation an die Regionen zu überweisenden Geldmittel.
77 O. Hishow, Finanzieller Zusammenbruch des russischen Staates. Problemlösung aus eigener Kraft erforderlich, in: Aktuelle Analysen des Bundesinstituts für ostwissenschaftliche und internationalen Studien / Köln 1998, Nr. 33 (20.8.); R. Götz, Der wirtschaftliche Politikwechsel in Russland. Ursachen und Folgen, in: Aktuelle Analysen 1998, Nr. 43 (27.10.). 78 Kritisch dazu Buchval’d / Igudin (Fn. 73), S. 117 f.
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3. Ergänzende Mittelzuweisungen aus Spezialfonds Das Bild des horizontalen Finanzausgleichs wäre unvollständig, blieben einige Institutionen bzw. Instrumente außer Betracht, welche die Föderation vor allem zur – unmittelbaren oder mittelbaren – Verringerung der Disproportionen sowohl kurzfristig als auch strukturell im Laufe der Jahre geschaffen hat79, nämlich weitere in den föderalen Haushalt eingestellte Spezialfonds80. Im Unterschied zum regionalen Unterstützungsfonds sind ihre Mittel durchweg zweckgebunden. Im einzelnen handelt es sich um den Kompensationsfonds (fond kompensacij), in 2003 dotiert mit ca. 47.000.000,00 Rubel, Fonds zur Ko-Finanzierung sozialer Ausgaben (2003: 5.000.000,00 Rubel), Fonds für regionale Entwicklung (2003: 25.000.000,00 Rubel), Fonds zur Reform der regionalen Finanzen.
a) Der Kompensationsfonds wurde 2001 eingerichtet. Er ist zur Finanzierung von gesetzlichen Sozialleistungen bestimmt, welche die Föderation u. a. Kriegsteilnehmern (Veteranen), Opfern der Katastrophe von Cˇernobyl, Politisch Verfolgten des Sowjetregimes, Invaliden und Familien mit Kindern (über die Regionalbehörden) gewährt. Gebildet wird der Fonds aus dem 15ïgen Anteil der Mehrwertsteuer, der bis zum Haushaltsjahr 2000 den Gliedstaaten pauschal zufloss81. Es hat allerdings den Anschein, dass nur ca. 75% von jenem 15%-Anteil über den Fonds zurückfließen82. Die Leistungen aus dem Fonds haben teilweise den Charakter von Subventionen (subvencii), d. h. von Haushaltmitteln, die der niedrigeren Ebene im Haushaltssystem unentgeltlich und nicht rückzahlbar für einen bestimmten Zweck gezahlt werden, teils von „Subsidien“ (subsidii), die eine anteilsmäßige Finanzierung darstellen83. b) Der Fonds zur Ko-Finanzierung sozialer Ausgaben wird seit 2003 aufgebaut. Er hat den Zweck, auf der Grundlage der einschlägigen Gesetze anspruchsberechtigten Bürgern Beihilfen zur Finanzierung von Wohnungsmieten und kommunalen Versorgungsleistungen zu gewähren84. 79 Zur Bedeutung der Fonds im budgetären Gesamtkonzept siehe das Entwicklungsprogramm des Budgetföderalismus in der Russländischen Föderation in der Periode bis 2005 vom 15. 8. 2001 (Fn. 68), 80 Siehe dazu den Punkt 6 „Finanzhilfe an die Budgets anderer Ebenen im Entwicklungsprogramm des Budgetföderalismus in Verbindung mit der Anlage 3 zu dem Programm, a. a. O.; vgl. ferner Art. 46 und 52 des föderalen Haushaltsgesetzes für 2003 (und ebenso die betreffenden Bestimmungen der vorangegangenen Haushaltsgesetze); ferner Cˇebanova (Fn. 74). 81 Lavrov (Fn. 29), S. 175. 82 Kritisch jedenfalls Cˇebanova (Fn. 74), S. 150 f. 83 Art. 136 Abs. 1 i. V. mit Art. 6 Haushaltsgesetzbuch. 84 Vgl. Art. 55 und Art. 56 Föderales Haushaltsgesetz 2003.
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c) Der Fonds für regionale Entwicklung besteht seit dem Jahr 2000. Unter seiner Bezeichnung fasst das jährliche Haushaltsgesetz der Föderation die Finanzmittel (Haushaltsansätze) aller jener „Zielprogramme“ zusammen, welche die föderale Regierung seit 1995 für einzelne Politikbereiche (Wohnungswesen, Transportwesen, Landwirtschaft, Energiewirtschaft, Jugendförderung usw.) aufgelegt hat, um gezielt durch Investitionen die regionalen Infrastrukturen zu stärken85. Die Zahl der Programme wuchs von 20 (1996) auf über 40 (bis heute), ohne dass die dafür bereitgestellten Mittel in gleichem Tempo mitgewachsen wären86. d) Der Fonds zur Reformierung der regionalen Finanzen wurde 2001 mit einer Laufzeit von vier Jahren eingerichtet87. Seine Mittel stammen aus einem Kredit der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (EBRD) / London und werden im Wege von Ausschreibungen und Wettbewerb vergeben88. Rechnet man alle Haushaltstitel zusammen, welche unmittelbare Transferleistungen vom föderalen Haushalt in die Haushalte der Regionen vorsehen, dann kommt man für das Haushaltsjahr 2003 auf ungefähr 300.000.000,00 Rubel, d. h. knapp 14% der Gesamtausgaben des Föderalhaushaltes89.
VI. Positionen im Streit um die „richtige“ Finanzverfassung Angesichts der stabilen Inhomogenität Russlands kann es nicht überraschen, dass anhaltend um die Gestaltung des „Budgetföderalismus“ gerungen wird. Zwei „Fraktionen“ stehen einander gegenüber: die „Unitaristen“, die aus ganz unterschiedlichen Erwägungen bei aller Kritik an ihr die geltende Finanzordnung im Prinzip für richtig, jedenfalls für unausweichlich halten, und jene, die einen „echten“ Budgetföderalismus einfordern und ihn trotz der ungünstigen Voraussetzungen schon heute anstreben – die „Föderalisten“90. Kennzeichnend für Letztere ist, 85 Ausführliche Beschreibung des Fonds unter Punkt 3.4 der Konzeption zur Reform der interbudgetären Beziehungen in der Russländischen Föderation 1999 – 2001 vom 30. 7. 1998 (SZ RF 1998, Nr. 32, Pos. 3905). 86 Kritisch dazu Andreev (Fn. 76), S. 56 f. Zu den Zielprogrammen siehe Anlage 21 des Haushaltsgesetzes 2003 (S. 12415). 87 Ausführliche Beschreibung des Fonds unter Punkt 4.3 der Konzeption zur Reform der interbudgetäre Beziehungen (Fn. 30), 88 Verfahrensordnung zur Vergabe der Fondsmittel vom 8. 5. 2002 (Text: SZ RF 2002, Nr. 20, Pos. 1858). 89 Das föderale Haushaltsgesetz 2003 beziffert die Gesamtsumme der Budgettransfers mit knapp 715.000.000,00 Rubel, rechnet dahinein aber die ca. 415.000.000,00 Rubel an Zuschüssen zu den außerbudgetären Spezialfonds (Renten, Sozialversicherung, Sozialhilfe usw.). 90 Einer der prominentesten Kritiker der Verhältnisse und zugleich profilierten Budgetföderalisten ist der Stellvertretende Vorsitzende des Föderationsrates, Valerij P. Goregljad. Er hat seine Positionen in einer Reihe von Aufsätzen der letzten Zeit dargelegt. Vgl. Formirovanie sovremennoj modeli bjudzˇetnogo federalizma v Rossii: voprosy metodologii, in: Federa-
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dass sie der autonomen Entscheidungsfähigkeit und politischen Gestaltungskraft der Gliedstaaten einen hohen Stellenwert beimessen und durchweg mehr Selbständigkeit gegenüber dem Zentralstaat verlangen91. Die Fiskalpolitik müsse so gestaltet werden, dass einerseits die wirtschaftlich starken Regionen nicht durch rücksichtslosen, überproportionalen Entzug von auf ihrem Territorium erwirtschafteten Mitteln geschwächt, demotiviert, „bestraft“ würden. Vielmehr müssten die leistungsschwächeren Gliedstaaten dazu stimuliert werden, ihre Wirtschaftskraft im territorialen Maßstab durch Reformen und rationellen Mitteleinsatz zu erhöhen, um damit langsam aus der Finanzschwäche herauszukommen. Die hauptsächliche Orientierung der Föderation, bei der Gestaltung der interbudgetären Beziehungen die Einkünfte der Haushalte aller Ebenen anzugleichen, hänge in der Luft, da es keine rationale, d. h. die Interessen der Gliedstaaten und der örtlichen Selbstverwaltungskörperschaften genügend reflektierende (vertikale) Aufteilung der Ausgabefunktionen der Haushalte gebe. Versuche, so viel wie möglich aus den Regionen herauszupressen, um das föderale Budget auszugleichen, führten unvermeidlich zu einer allgemeinen Destabilisierung der Wirtschaftslage, denn im Ergebnis seien die Regionalbehörden gezwungen, bei erfolgloser Mittelbeschaffung bei föderalen Stellen zum Stopfen der Löcher Bankkredite aufzunehmen, Schulden anzuhäufen oder den Umfang der außerbudgetären Finanzierung durch Schattenhaushalte auszudehnen und zu sonstigen illegalen Methoden der Beschaffung von Nebeneinnahmen zu greifen92. Die Unitaristen sind primär an dem sozialpolitischen Ziel orientiert, die Bürger unabhängig von ihrem Wohnort möglichst auf gleichem Mindestniveau mit öffentlichen Dienstleistungen zu versorgen und dementsprechend die Haushalte der Gliedstaaten zur Abdeckung der Mindestausgaben gleichmäßig in die Lage zu versetzen. Sie rechnen vor, dass, wenn das Verhältnis zwischen Föderation und Gliedstaaten auf der Einnahmenseite 60:40 – und nicht, wie von Art. 48 des Föderalen Haushaltsgesetzbuches vorgeschrieben 50:50 – betrage, sich dann der Abstand zwischen den Budgets der einkommensstärksten Gliedstaaten zum Durchschnittsbudget aller Gliedstaaten (= 1) von 4,3 auf 3,5 verringere, das einkommensschwächste Budget hingegen von 0,58 auf 0,81 ansteige; wenn aber das Verhältnis 70:30 sei und die Föderation noch stärker umverteilen könne, dann näherten sich die Werte noch weiter an, nämlich auf 2,6 einerseits, 0,91 andererseits93. Die tatsächliche Entwicklung strebt diesem Punkt seit einigen Jahren bereits stabil zu94. lizm 2002, Nr. 1, S. 61 – 84; Finansovye problemy regional’noj politiki v Rossii, in: Federalizm 2002, Nr. 4, S. 5 – 38. 91 Vgl. zum folgenden auch Buchval’d (Fn. 15). 92 Goregljad (Fn. 90), S. 23; 25; zu solchen außerbudgetären Finanzierungsmethoden vgl. auch Lavrov (Fn. 52), S. 193. 93 Lavrov (Fn. 52) Finansovye vzaimootnošenija, S. 176 f. 94 Die Anteile der Föderation und der Gliedstaaten weisen nämlich folgende Relation aus: 1999 – 50:50; 2000 – 55:45; 2001 – 60:40; 2002 – 64:36 Die durch Art. 48 Föderales Haus-
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Zwar wandert ein großer Teil des staatlichen Gesamtaufkommens, worauf die Unitaristen zur Rechtfertigung gerne verweisen95, wieder „nach unten“, aber dies geschieht um den Preis der föderalen Reglementierung der Budgetausführung durch die Regionen und der föderalen Kontrolle über sie, geht also einher mit schweren Verlusten an Selbständigkeit der Gliedstaaten. Russlands Entwicklung zum Bundesstaat, so die Föderalisten, werde dadurch gehemmt, die Staatskonstruktion insgesamt deformiert. Ihre Kritik wird an dieser Stelle aber noch grundsätzlicher96: In dem Maße, wie sich im Bundesstaat Aufgabenverantwortung und Ausgabenverantwortung deckten und die Gliedstaaten auch die Verantwortung dafür trügen, die nötigen Einnahmen zur Deckung der Ausgaben primär selbst zu gewährleisten, würden die daraus resultierenden Lasten für die Bürger der Gliedstaaten unmittelbar spürbar. Naturgemäß steige damit ihr Interesse an der demokratischen Mitbestimmung, Mitgestaltung und Kontrolle gegenüber der Fiskal- und Abgabenpolitik ihrer regionalen Verfassungsorgane. Das bedeute aber umgekehrt: In dem Maße, wie die Autonomie des Gliedstaates auf der Einnahmenseite geschwächt werde, er seine Einnahmen ganz überwiegend von der Föderation infolge eines kollektiven, anonymen Verteilungsmechanismus erhalte und folglich fast alles davon abhänge, wie erfolgreich der Gliedstaat bei der Föderation um seinen Anteil bei der Verteilung kämpfe, trete nicht nur das ökonomische, fiskalische Eigeninteresse an einer Steigerung der Steuerkraft des Gliedstaates in den Hintergrund, sondern es werde auf seiner Ebene auch der demokratische Legitimationszusammenhang zwischen den Ausgaben und den Einnahmen unterbrochen – mit allen negativen politischen, ökonomischen, psychologischen Folgen. Die föderale Regierung hat auf den Streit bislang mit einem zweifelhaften Sowohl-als-auch regiert. Ihre beiden Programme zur Reform der interbudgetären Beziehungen bekennen sich zwar ausdrücklich und wortreich zu den von den Föderalisten vertretenen Grundsätzen97, aber ihre teils halbherzigen, teils Lücken lassenhaltsgesetzbuch vorgeschriebene Relation 50:50 entfaltet offensichtlich keine normative Kraft. 95 Vgl. dazu die Analyse einer von A. M. Lavrov geleiteten Arbeitsgruppe: Federal’nyj bjudzˇet i regiony: opyt analiza finansovych potokov, in: Federalizm 2000, Nr. 1, S. 105 – 132. 96 Vgl. Goregljad, Finansovye problemy regional’noj politiki (Fn. 90), S. 31. 97 In dem Entwicklungsprogramm des Budgetföderalismus in Russland für die Zeit bis 2005 (Fn. 68) heißt es in dem Abschnitt über die „Strategie“: „Ziel des Programms ist die Formierung und Entwicklung der Struktur eines Haushaltswesens, die es den Organen der Staatsgewalt der Subjekte und der örtlichen Selbstverwaltung gestattet, eine selbständige Steuer- und Haushaltspolitik im Rahmen der gesetzlich bestimmten Abgrenzung der Befugnisse und der Verantwortlichkeit zwischen den Organen der Staatsgewalt verschiedener Ebenen zu führen. Dieses System muss sicherstellen: – ökonomische Effektivität . . . , – Haushaltsverantwortlichkeit . . . , – soziale Gerechtigkeit . . . , – politische Konsolidierung . . . , – territoriale Integration. ... Ausgehend davon sind die Hauptaufgaben des Programms: 1. in Ordnungbringung des Haushaltswesens der Subjekte der Russländischen Föderation; 2. strikte Abgrenzung der Ausgabenbefugnisse und Verringerung der „nicht finanzierten Mandate“; 3. strikte und sta-
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den Vorschläge machen den Gliedstaaten wenig Hoffnung auf eine Änderung des von der Föderation tatsächlich verfolgten zentralistischen Kurses.
VII. Schlussbetrachtung: Russlands heutige Finanzordnung aus vergleichender Sicht Wenn man die im Entstehen begriffene Finanzverfassung der Russländischen Föderation in Vergleich setzen möchte, was angesichts der gerade bei föderal organisierten Staatswesens besonders stark zu Buche schlagenden nationalgeschichtlichen Eigentümlichkeiten nur mit größten Vorbehalten geschehen kann, dann bietet sich nicht so sehr die Bundesrepublik Deutschland an, wenngleich der ,deutsche Fall‘ eine herausragende Rolle in der Föderalismus-Diskussion Russlands spielt!98, als vielmehr die Bundesrepublik Österreich, weil ihrer Finanzordnung noch mehr als der deutschen „stark unitarische und zentralistische Züge“ (Herbert Schambeck) anhaften99. Anders als in Österreich ist freilich das kompetentielle Übergewicht des Zentralstaates in Russland weitaus schwächer rechtlich eingehegt, sind die Verfassungs- und gesetzlichen Vorgaben grobmaschiger, verschwommener und dementsprechend die Entscheidungsspielräume der Zentralorgane weitaus größer. Es wäre gewiss ungerecht, darin nur eine weitere Bestätigung bekannter Rechtsstaatsdefizite zu sehen. Der für den heutigen Entwicklungsstand der Finanzverfassung Russlands kennzeichnende geringe Grad an struktureller, normativer Stabilität, ihre hohe Flexibilität ist wohl in erster Linie einer sozialen, ökonomischen und politischen Lage geschuldet, in welcher so gut wie alles neu, schwankend, ungewiss, wenig bekannt bis unbekannt ist: das Tempo der Umstrukturierung von Industrie und Landwirtschaft, der Gesundung der Unternehmen, ihre erfolgreiche Anpassung an marktwirtschaftliche Grundsätze und internationale Konkurrenz, die Einkommensentwicklung der Bevölkerung, die Dynamik von Auslandsinvestitionen im Lande, aus alledem folgend die reale Bedeutung und Dynamik der einzelnen Abgabenarten bis hin, und dies nicht zuletzt, zu dem sich rasch ändernden Finanzrecht, mit welchem die es anwendenden Finanzbehörden sowie die mit ihnen lernenden Unternehmen und Bürger überfordert sind. Was eine solche historische Lage recht eigentlich bedeutet, kann man nicht einmal auf dem Territorium der früheren DDR erleben, weil den neuen Bundesländern bile Abgrenzung der Steuerbefugnisse und Festigung der Einnahmequellen für die Haushalte verschiedener Ebenen; 4. Formierung und Entwicklung von objektiven und transparenten Mechanismen der finanziellen Unterstützung der regionalen und örtlichen Haushalte; 5. Erhöhung der Qualität bei der Verwaltung der öffentlichen Finanzen auf regionaler und örtlicher Ebene.“ 98 Typisch insoweit Goregljad, Finansovye problemy regional’noj politiki (Fn. 90), S. 31. 99 Länderbericht Österreich, in: F. Ossenbühl (Hrsg.): Föderalismus und Regionalismus in Osteuropa, 1990, S. 55 – 115 (83). 52 FS Selmer
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das bundesdeutsche Finanz- und Abgabensystem unter Einschluss der Verwaltungskompetenz so gut wie vollständig implantiert wurde. Was sich in Russland heute auf dem Gebiet der Finanzordnung vollzieht, lässt sich vielleicht noch am ehesten mit dem Entstehungsprozess der Finanzverfassung in der Weimarer Republik vergleichen, als nach dem Zusammenbruch der ausgeprägt föderalistischen Finanzverfassung des Kaiserreiches, nach Inflation und unter drückenden Reparationen Finanzrecht und Finanzverwaltung des Reiches faktisch vor einem völligen Neuanfang standen100. Aber selbst dieser Vergleich hinkt, weil damals immerhin die Länder hochqualifizierte Finanzbehörden besaßen, die über langjährige intime Erfahrungen mit der Administrierung einer bundesstaatlichen Finanzverfassung verfügten. Freilich, die für die Zeit der Weimarer Republik typischen Kennzeichen der sozio-ökonomischen Instabilität, der großen Strukturunterschiede und Disproportionen zwischen den Ländern allgemein ebenso wie hinsichtlich ihrer Wirtschafts- und Finanzkraft lieferten Fachleuten und Politikern auch damals einleuchtende Argumente für eine sich eher zum Pol des Unitarismus hinneigende Finanzverfassung101. Peter Selmer brachte das Dilemma einer mit dem Ziel der Stärkung der Finanzautonomie der Länder gegenüber dem Bund betriebenen Finanzverfassungsreform 1992 auf die paradoxe Formel, eine solche Reform komme zu spät und zu früh zugleich: zu spät, weil sie längst fällig, nicht ernsthaft betrieben, nun aber der Zeitpunkt für sie wegen der durch die Einheit entstandenen Lage verpasst worden sei; zu früh, weil eine solche Reform die Disparitäten zwischen den Bundesländern noch vergrößern müsste102. In dem Dilemma eines gleichzeitigen Zu spät und zu früh befindet sich Russland gewiss nicht. Wohl aber steht es vor der ernsten Alternative, ob es eher früher als später von der derzeitigen unitarischen zu einer mehr föderal geprägten Finanzverfassung übergehen soll. Es muss sich entscheiden, ob es trotz der damit verbundenen sozialen und politischen Gefahren das Wagnis eingehen soll, anstelle des bisherigen Kurses einer nivellierenden gesamtstaatlichen Haushaltspolitik der sozialen Umverteilung auf einen Kurs zu setzen, welcher die volle wirtschaftliche Entfaltung jenes guten Drittels von mehr oder weniger starken Regionen mit Vorrang versieht, die schon heute im großen und ganzen die Kraft zur Finanzierung ihrer Haushalte haben, um dann später unter verbesserten ökonomischen Rahmenbedingungen die Lage auch der schwächeren Gliedstaaten nachhaltig zu verbessern. In der Sache würde das eine politische Annäherung an die Fraktion der Budgetföderalisten bedeuten, für die föderale Präsidialexekutive aber den Preis einschließen, den seit 2000 gefahrenen straffen Zentralisierungskurs
100 Dazu eindrucksvoll aus berufener Feder J. Popitz, Die staatsrechtlichen Grundlagen des öffentlichen Finanzwesens, unter besonderer Berücksichtigung des Finanzausgleichs zwischen Reich und Ländern, in: B. Harms (Hrsg.): Recht und Staat im Neuen Deutschland. Erster Band. Berlin 1929, S. 176 – 206. 101 So Popitz (Fn. 100), S. 198. 102 P. Selmer (Fn. 1), S. 66 (Leitsatz 14).
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zu korrigieren. Vielleicht ist dies Putins Dilemma – sich zwischen einem eigentlich ersehnten, ökonomische Vorteile versprechenden, aber der Präsidialexekutive Machteinbußen bescherenden Budgetföderalismus und einem politisch für die Präsidialexekutive vorteilhaften, aber gesamtwirtschaftlich eher nachteiligen (faktischen) Budgetunitarismus entscheiden zu müssen.
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Die Rundfunkgebühr: Ein verfassungsrechtlich unhaltbares Fossil? Von Ingo von Münch 1. Die Bundesrepublik Deutschland befindet sich derzeit in einer Phase tiefgreifender Veränderungen. Stichworte wie „Rentenreform“, „Steuerreform“, „Gesundheitsreform“, „Arbeitsmarktreform“, „Wehrreform“ und „Föderalismusreform“ zeigen die Weite des Veränderungsbereiches. Unabhängig von der – heute noch nicht beantwortbaren – Frage, was am Ende der verschiedenen Reformprozesse herauskommen wird, so lässt sich jedenfalls eine Feststellung wagen: Am Ende des ersten Jahrzehnts des zweiten Jahrtausends wird in Deutschland – gemessen am heutigen Zustand – weniges unverändert sein. „Alles ist im Fluß“ wusste schon Heraklit; der griechische Philosoph kannte allerdings nicht die deutsche Rundfunkgebühr. Bei der Rundfunkgebühr erlebt zwar die Höhe der Gebühr eine immer wiederkehrende Veränderung, und zwar insoweit ähnlich der aus dem früheren italienischen Löhne- und Gehälterwesen bekannten „scala mobile“ – stets nach oben1; aber die Existenz der öffentlichrechtlichen Rundfunkgebühr als solcher erscheint dem Betrachter wie ein erratischer (Beton-)Block. 2. Die gesetzliche Verankerung der Rundfunkgebühr ist bekannt2. Die aus der Grundgebühr und (für Fernseher) aus der Fernsehgebühr zusammengesetzte Rundfunkgebühr3 knüpft an das „zum Empfang bereitgehaltene Rundfunkempfangsgerät“ an (§ 2 Abs. 2 Satz 1 RGebStV). Rundfunkteilnehmer ist danach, „wer ein Rundfunkempfangsgerät zum Empfang bereithält“ (§ 1 Abs. 2 Satz 1 RGebStV).
1 Zur Diskussion im Jahre 2003 über die von den Anstalten geforderte Rundfunkgebührenerhöhung vgl. z. B. M. Hanfeld, Es reicht, FAZ Nr. 134 vom 12. 06. 2003, S. 1; R. Conrad, Daran geht keine Anstalt zugrunde (Interview), Die Welt vom 14. 07. 2003, S. 30. 2 Staatsvertrag über die Regelung des Rundfunkgebührenwesens (Rundfunkgebührenstaatsvertrag) vom 05. 12. 1974, mehrmals geändert. Vgl. auch Art. 3 Staatsvertrag zur Neuordnung des Rundfunkwesens (Rundfunkstaatsvertrag) vom 1. / 3. 04. 1987, ebenfalls mehrmals geändert. 3 Zur Rundfunkgebühr allgemein vgl. H. Gersdorf, Grundzüge des Rundfunkrechts, 2003, Rn. 355 ff.; G. Herrmann, Rundfunkrecht, 1994, § 13 Rn. 13 ff.; M. Opitz, Vergaberechtliche Staatsgebundenheit des öffentlichen Rundfunks, NVwZ 2003, 1087 ff. (1089). – Monografien: Chr. Dargel, Die Rundfunkgebühr. Verfassungs-, finanz- und europarechtliche Probleme ihrer Erhebung und Verwendung, 2002; Anna-Katharina Lohbeck, Die Verfassungsmäßigkeit der Rundfunkgebühr in ihrer gegenwärtigen Gestalt in der gegenwärtigen und zukünftigen Rundfunkordnung, 2000.
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Kürzer formuliert: Der Rundfunkteilnehmer ist nach geltendem Recht ein Appendix zum Rundfunkempfangsgerät4. Gegen die Anknüpfung der Rundfunkgebühr an das „Bereithalten“ eines Rundfunkgerätes war so lange nichts einzuwenden, wie das Rundfunkmonopol der öffentlichrechtlichen Rundfunkanstalten bestand: Die Gebühr wurde in dieser Zeit für den Empfang der Sendungen der öffentlichrechtlichen Rundfunkanstalten bezahlt, also für eine Leistung, die nur diese Anstalten für den Rundfunkteilnehmer erbrachten. Inzwischen existieren seit etlichen Jahren in Deutschland (wie auch im Ausland) neben den öffentlichrechtlichen Anstalten private Rundfunkanbieter5. Aus dem Fernsehgerät sprudeln seit dem Ende des Rundfunkmonopols der öffentlichrechtlichen Rundfunkanstalten nicht nur deren Programme (in wachsender Zahl), sondern eben auch die Programme der privaten Rundfunkanbieter. Trotzdem fließen die Rundfunkgebühren ausschließlich den öffentlichrechtlichen Rundfunkanstalten zu (der Anteil, der davon an die Landesmedienanstalten abzuführen ist6, kann wegen seiner geringen Höhe hier außer Betracht bleiben, ebenso der sogenannte „Kabelgroschen“7), aber überhaupt nicht den privaten Rundfunkanbietern. Diese Form der Verteilung des Gebührenaufkommens – nämlich, alles den einen, nichts den anderen – entspricht weder dem Wesen einer Gebühr noch dem Prinzip der Gerechtigkeit8, die ein essentielles Merkmal des Rechtsstaates bildet9. Verschärft wird der Verstoß gegen das Gerechtigkeitsprinzip noch zusätzlich dadurch, dass die Finanzierung der öffentlichrechtlichen Rundfunkanstalten nicht nur durch die Erhebung der Rundfunkgebühr, sondern auch durch Einnahmen aus Werbung im Rundfunk gespeist wird. Für die öffentlichrechtlichen Anstalten ist das System dieser Mischfinanzierung verständlicherweise höchst angenehm: Mit dem Aufkommen aus der Gebühr besitzen die öffentlichrechtlichen Anstalten ein sicheres finanzielles Polster, zumal die Zahl der angemeldeten Rundfunkempfangsgeräte von Jahr zu Jahr nur relativ geringfügig schwankt. Nicht konstant sind die Einnahmen aus der Werbung im Rundfunk; für die öffentlichrechtlichen Anstalten sind die Einnahmen aus der Werbung in ihrer Höhe zwar nicht unbeträchtlich, aber eben nur ein „Zubrot“. Umgekehrt leben die privaten Rundfunkanstalten ausschließlich von ihren Einnahmen aus der Werbung, deren Umfang zudem vom GeIngo von Münch, Der Rundfunkteilnehmer – ohnmächtig und sprachlos, ZRP 1981, 126. Sogenanntes „duales System“. Dieses System ist allerdings vom Grundgesetz nicht festgeschrieben: Den insoweit „breiten Gestaltungsraum“ des Gesetzgebers betont BVerfGE 90, 60 (94). 6 Dazu BVerwGE 108, 108 (117 ff.). 7 Vgl. dazu BVerfGE 90, 60 (105 ff.). 8 Zu diesem unerschöpflichen Thema neuestens: W. Schur, Sphären der Gerechtigkeit und die Idee der Gerechtigkeit, ZRph 1 (2003), 42 ff.; M. Kriele, Gesetzestreue und Gerechtigkeit in der richterlichen Rechtsfindung, ZRph 1 (2003), 51 ff. 9 Vgl. dazu Ph. Kunig, Das Rechtsstaatsprinzip. Überlegungen zu seiner Bedeutung für das Verfassungsrecht der Bundesrepublik Deutschland, 1986, insbesondere S. 333 ff. („Rechtsstaatlichkeit als Gerechtigkeit“). 4 5
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setzgeber reglementiert wird. Eine solche Ungleichbehandlung ließe sich allenfalls dann rechtfertigen, wenn die Programminhalte der öffentlichrechtlichen Rundfunkanstalten sich wesensmäßig von den Programminhalten der privaten Rundfunkanbieter unterscheiden würden. Ohne dass hier die unterschiedliche Gewichtung von Nachrichtensendungen übersehen werden soll, bleibt als unbestreitbare Tatsache festzustellen, dass ein erheblicher Teil der Programminhalte – in Sendezeit gesehen vermutlich überwiegend – von der Programmart her identisch ist, nämlich der gesamte Bereich der Unterhaltung, der Kriminalfilme, des Sportes und der sogenannten programmbegleitenden Tätigkeiten. Ein Finanzierungssystem, das diese Gleichheit ignoriert, d. h. trotz dieser Gleichheit von wesentlichen Teilen der Programminhalte eine absolut unterschiedliche Finanzierung vorschreibt, ist unter dem Aspekt des Gleichheitsgrundsatzes (Art. 3 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 19 Abs. 3 GG) in hohem Maße verfassungsrechtlich bedenklich. Medienrecht und Medienpolitik müssen neu bestimmt werden10. 3. In seiner derzeitigen Form ist das Finanzierungssystem des Rundfunks nicht mehr zu halten11. Es bedarf keiner prophetischen Gaben, um vorherzusagen, dass die Kritik an der Mehrfachfinanzierung der öffentlichrechtlichen Rundfunkanstalten durch Gebühren plus Werbung wachsen wird. Eine permanente Kritik ist naturgemäß, wie schon bisher, von den privaten Rundfunkveranstaltern und deren Interessenverbänden zu erwarten. Im vorliegenden Beitrag sollen jedoch nicht primär die verfassungsrechtlichen Fragen erörtert werden, die sich aus dem Nebeneinander von öffentlichrechtlichen Anstalten einerseits und privaten Rundfunkanbietern andererseits und dem daraus resultierenden Konkurrenzverhältnis ergeben. Deshalb wird in diesem Beitrag auch nicht auf die – nicht nur europarechtlich interessante – Frage nach dem eventuellen Charakter der Rundfunkgebühr in Deutschland als Beihilfe im Sinne des EG-Rechtes eingegangen, insbesondere auch nicht auf die „Mitteilung der Kommission über die Anwendung der Vorschriften über staatliche Beihilfen auf den öffentlich-rechtlichen Rundfunk“ vom 17. Januar 2001. Das Thema der EG-Beihilfen ist schon vorher im rechtswissenschaftlichen Schrifttum, auch von Peter Selmer12, erörtert worden13. Der vorliegende Beitrag beschränkt sich 10 Überzeugende Erwägungen dazu bei Chr. Degenhart, Medienrecht und Medienpolitik im 21. Jahrhundert, K & R 2000, 49 ff. 11 „Konzepte für eine überfällige Reform“ hat die Arbeitsgemeinschaft Selbständiger Unternehmer (ASU) bereits 1986 unter dem Titel „Mehr Marktwirtschaft bei Funk und Fernsehen“ entwickelt. 12 P. Selmer / H. Gersdorf, Die Finanzierung des Rundfunks in der Bundesrepublik Deutschland auf dem Prüfstand des EG-Beihilferegimes, 1994. 13 Vgl. z. B. dazu A. Bartosch, Öffentlichrechtliche Rundfunkfinanzierung und EG-Beihilfenrecht – eine Zwischenbilanz, EUZW 1999, 176 ff.; C.-E. Eberle, Die Rundfunkgebühr auf dem EU-Prüfstand, AfP 2001, 477 ff.; M. Wittig-Terhardt, Zur Situation des öffentlich-rechtlichen Rundfunks im Lichte des Amsterdamer Protokolls Nr. 23, in: Liber amicorum Thomas Oppermann, 2001, S. 755 ff. Neuestens und überzeugend St. Pelny, Das Verfahren der EUKommission gegen Dänemark: Ein Menetekel für die Länderregierungschefs in Deutschland?, ZUM 2003, 643 ff. (647).
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vielmehr auf das zwar zahlenmäßig stärkste, aber politisch und rechtlich schwächste Glied in der Rundfunkrechtskette: den Gebührenzahler. Unter der Überschrift „Wie lange noch Rundfunk-Zwangsgebühr“? ist das Problem der Rundfunkgebühr schon früher vom Verfasser untersucht worden14. Von den Verfechtern der Gebührenregelung, insbesondere von den Repräsentanten der öffentlichrechtlichen Rundfunkanstalten, ist der Ausdruck „Zwangsgebühr“ kritisiert worden. So hat der Intendant des Hessischen Rundfunks, Klaus Berg, in der öffentlichen Anhörung zum Thema „Rundfunkgebühren“ im Hauptausschuss des Hessischen Landtages am 6. März 2002 behauptet: „Eine Zwangsgebühr gibt es nicht. Jede Gebühr ist eine Zwangsgebühr, oder sie ist keine Gebühr“15. Diese Behauptung klingt gut, geht aber hinsichtlich der Rundfunkfinanzierung am Kern der Sache vorbei: Der Zwang liegt ja bei der deutschen Rundfunkfinanzierung nicht in dem Zwang, überhaupt eine Gebühr für den Empfang von Rundfunksendungen zu entrichten, sondern in dem Zwang, die Gebühren ausschließlich an einzelne bestimmte Rundfunkanbieter – nämlich die öffentlichrechtlichen Anstalten – zu zahlen16, obwohl zahlreiche Sendungen anderer Rundfunkanbieter vom Rundfunkteilnehmer gehört und / oder gesehen werden. Der Rundfunkteilnehmer muss also die öffentlichrechtlichen Anstalten auch dann finanzieren, wenn er deren Programme – aus welchen Gründen auch immer – nicht hören oder sehen will. Der Charakter der Zwangsgebühr17 zugunsten der öffentlichrechtlichen Anstalten ist schließlich unübersehbar, wenn durch technische Vorrichtungen (Einbau sogenannter „Programmblocker“ in das Rundfunkempfangsgerät) der Empfang der Rundfunksendungen der öffentlichrechtlichen Anstalten gar nicht möglich ist. In einer solchen Konstellation ist die Erhebung einer Gebühr im deutschen Verwaltungsrecht absolut ungewöhnlich, weil dem rechtlichen Wesen der Gebühr absolut widersprechend. Selbst für einen erdachten Parallelfall findet man kaum ein Beispiel. Zu denken wäre allenfalls an ein teilprivatisiertes Telekommunikationssystem, in welchem die Gebührenzahlungen der Fernsprechteilnehmer ausschließlich an die öffentlichrechtliche Telefongesellschaft fließen würden, die privaten Anbieter dagegen leer ausgehen, und zwar gleichgültig, welchen Fernsprechdienstanbieter der Kunde in Anspruch nimmt. Als Zwischenergebnis bleibt festzuhalten: Auch wenn die Repräsentanten der öffentlichrechtlichen Rundfunkanstalten dies bestreiten: Die Rundfunkgebühr ist Ingo von Münch, Wie lange noch Rundfunk-Zwangsgebühr?, NJW 2000, 634. Hessischer Landtag, 15. Wahlperiode, 39. Sitzung des Hauptausschusses. Stenografischer Bericht, S. 32. 16 Zutreffend in der erwähnten Anhörung des Hessischen Landtages (Fn. 15), S. 34, F. von Zezschwitz: „Wir müssen jedoch klar sehen, dass es sich hier (gemeint ist bei den öffentlichrechtlichen Sendern, d. Verf.) um Zwangsbeglückungen handelt, die von Seiten der öffentlichen Hände den Bürgern nahe gebracht und durch Zwangsgebühren dann entsoldet werden“. 17 Von „Zwangsgebühren“ sprechen auch K.-H. Hartwig / G. Schröder. Bei uns zahlen Sie in der ersten Reihe. ARD und ZDF sollten sich auch ohne Zwangsgebühren im Wettbewerb auf dem Fernsehmarkt bewähren. Das Programm ist zu breit und zu teuer, FAZ Nr. 265 vom 14. 11. 1998, S. 15. 14 15
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und bleibt eine Zwangsgebühr, solange der Rundfunkteilnehmer mit eben jener Gebühr Anstalten finanzieren muss, deren Programme er nicht empfangen will und bei Verwendung entsprechender Programmblocker auch überhaupt nicht empfangen kann. Insoweit hat der Fall Grupp exemplarische Bedeutung18. 4. Die Programminhalte sowohl der öffentlichrechtlichen Rundfunkanstalten als auch der privaten Rundfunkanbieter könnten allerdings dann unbeachtlich sein, wenn die Erhebung der Rundfunkgebühr von den Rundfunkprogrammen rechtlich total abgekoppelt wäre. Eine solche Abkopplung könnte aus der gesetzlichen Grundlage der Rundfunkgebühr folgen; denn § 2 Abs. 2 S. 1 RGebStV knüpft, wie bereits oben erwähnt, die Rundfunkgebühr an das „zum Empfang bereitgehaltene Rundfunkgerät“ an. Obgleich der RGebStV selbst keine Legaldefinition des ZumEmpfang-Bereithaltens enthält, ist unbestritten, dass dafür schon der Besitz eines betriebsfähigen Gerätes (im Normalfall also eines an das Stromnetz angeschlossenen Gerätes) genügt. Beginn und Ende des Bereithaltens eines Rundfunkgerätes zum Empfang sind gem. Art. 4 Abs. 1 Satz 1 RGebStV „unverzüglich der Landesrundfunkanstalt anzuzeigen, in deren Anstaltsbereich der Rundfunkteilnehmer wohnt, sich ständig aufhält oder ständig ein Rundfunkempfangsgerät bereithält . . .“. Für die Rundfunkgebührenpflicht kommt es also nicht auf die tatsächliche Nutzung an, sondern nur auf die vorhandene Möglichkeit der Nutzung. Wer sein Rundfunkempfangsgerät nicht abmeldet, bleibt auch dann gebührenpflichtig, wenn er – z. B. wegen eines längeren Urlaubs, eines längeren Krankenhausaufenthaltes o.ä. – sein Gerät nicht tatsächlich benutzt. Auch der von niemand geringerem als dem ehemaligen Bundeskanzler Helmut Schmidt einst geforderte „fernsehfreie Tag“ hätte nicht von der Gebührenpflicht an diesem Tage befreit. Die Anknüpfung der Rundfunkgebührenpflicht an das Bereithalten eines Rundfunkempfangsgerätes kann allerdings nicht von vornherein als sachwidrig angesehen werden. Mit der allgemeinen Lebenserfahrung kann davon ausgegangen werden, dass derjenige, der ein Rundfunkgerät zum Empfang bereithält, auch gewillt ist, Rundfunkprogramme zu empfangen, also tatsächlich Rundfunkteilnehmer zu werden. Von dieser Vermutung durfte der Gesetzgeber ausgehen. Solange die Rundfunkprogramme nur von öffentlichrechtlichen Rundfunkanstalten gesendet wurden19, war es auch logisch, dass die Gebühren nach einem gesetzlich festgelegten Verteilungsschlüssel den öffentlichrechtlichen Rundfunkanstalten zuflossen. Nachdem – bekanntlich gegen den zunächst erbitterten Widerstand der öffentlichrechtlichen Anstalten20 – auch private Rundfunkanbieter Rundfunkprogramme senden, die mit demselben Rundfunkgerät empfangen werden wie die Rundfunk18 Vgl. dazu BVerfG NJW 2000, 649 = JZ 2000, 565 f. mit zustimmender Anm. von H. Goerlich, S. 566 f. Den Kammerbeschluss ablehnend Ingo von Münch, (Fn. 14), S. 634. 19 Auf diesen geschichtlichen Ursprung hat F. von Zezschwitz in der Anhörung im Hauptausschuss des Hessischen Landtages (Fn. 15) zutreffend hingewiesen (S. 34). 20 Vgl. dazu z. B. die medienpolitische Erklärung des damaligen Intendanten des ZDF, K.-G. von Hase, veröffentlicht unter der Überschrift „Bevor Vielfalt zur Einfalt wird. Plädoyer für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk“, SZ Nr. 249 vom 27. / 28. 10. 1979, S. 13.
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sendungen der öffentlichrechtlichen Rundfunkanstalten, ist die geltende gesetzliche Regelung mit ihrer Ausschließlichkeitsklausel zugunsten der öffentlichrechtlichen Rundfunkanstalten sinnwidrig geworden. Dies folgt schon daraus, dass die öffentlichrechtlichen Rundfunkanstalten seit Einführung des Privatrundfunks mit den Rundfunkempfangsgeräten nicht mehr und nichts anderes zu tun haben wie die privaten Rundfunkanbieter. Die Rundfunkempfangsgeräte stehen in keiner besonderen Obhut der öffentlichrechtlichen Rundfunkanstalten: Die Geräte werden weder von den öffentlichrechtlichen Rundfunkanstalten hergestellt noch von ihnen gewartet oder repariert noch von ihnen entsorgt. Die öffentlichrechtlichen Rundfunkanstalten tun also mit Bezug auf das Rundfunkempfangsgerät nicht mehr und nicht weniger als die privaten Rundfunkanbieter21: Beide beschicken die Rundfunkempfangsgeräte mit ihren jeweiligen Rundfunksendungen. Warum wird aber in dieser gleichen Situation der Rundfunkteilnehmer gezwungen, die Rundfunkgebühr nur an die öffentlichrechtlichen Anstalten zu entrichten? 5. Vordergründig könnte allerdings eingewendet werden, dass es dem Rundfunkgebührenzahler doch gleichgültig sein könne, an wen er seine Rundfunkgebühr bezahlt. Eine solche „Wurstigkeit“ verkennt aber die politische Dimension des Problems; denn die öffentlichrechtlichen Rundfunkanstalten stehen nicht außerhalb des politischen Geschehens (auch nicht des parteipolitischen!), sondern mitten drin. So ist die Einflussnahme von Regierungen und Parteien auf die Organisation der öffentlichrechtlichen Rundfunkanstalten unbestreitbar, hier insbesondere auf wichtige Personalentscheidungen – gebräuchlich ist heute der Ausdruck „programmprägende Persönlichkeiten“. Wer nach dem monatelangen politischen Geschacher um die Wahl des Intendanten des ZDF im Jahre 2003 von „Staatsferne“ der öffentlichrechtlichen Rundfunkanstalten spricht, unterscheidet offensichtlich nicht mehr zwischen Ferne und Nähe22. Der Intendant des NDR, Peter Schiwy, musste trotz noch laufenden Vertrages vorzeitig gehen, weil die parteipolitischen Mehrheiten in den Gremien dieser öffentlichrechtlichen Anstalt sich verändert hatten23. Wie viele (wohl richtiger gefragt: Wie wenige) Intendanten von öffentlichrechtlichen Anstalten gehören keiner politischen Partei an oder stehen zumindest keiner politischen Partei nahe? Natürlich erwarten Regierungen und Parteien sich etwas von „ihrem“ Kandidaten – wie sonst wäre ihr nachhaltiger Einsatz für den Betroffenen zu verstehen? Unübersehbar sind auch die politischen Präferenzen in Programminhalten, 21 Die Tätigkeit der „Gebühreneinzugszentrale der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten in der Bundesrepublik Deutschland“ (GEZ) beschäftigt sich zwar vordergründig mit dem Aufspüren von Rundfunkgeräten, dies jedoch nur im Zusammenhang mit der Rundfunkgebührenpflichtigkeit. Bedenkenswerte, kritische Bemerkungen zur „Rasterfahndung“ der GEZ bei F. von Zezschwitz, (Fn. 15), dem hessischen Datenschutzbeauftragten, S. 23, S. 31. 22 Das Gezerre um diese Wahl beschäftigte Monate lang die deutsche Presse. Vgl. dazu z. B. Marcel Rosenbach, Der Intendanten-Stadl. Geschacher, Geschrei und Gremienwahn: Die Suche nach einem Nachfolger für ZDF-Chef Dieter Stolte gerät zum peinlichen PolitTheater. Die Parteien haben den öffentlich-rechtlichen Sender derart fest im Griff, dass Kritiker eine grundlegende Reform fordern. Der Spiegel Nr. 45 / 2001, S. 120 ff. 23 Nachweise dazu bei Ingo von Münch, (Fn. 14), S. 635.
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so wie sie vor der Bundestagswahl 2002 besonders deutlich geworden sind. Im Hinblick auf die politische Berichterstattung vor der Wahl hat Hans Mathias Kepplinger (Universität Mainz) in einer Medieninhaltsanalyse von einer „rot-grünen Auferstehung im deutschen Fernsehen“ gesprochen24. Der „gnadenlose Absturz“ der CDU innerhalb weniger Wochen vor der Wahl sei mitherbeigeführt worden durch eine besonders in den öffentlichrechtlichen Anstalten einseitige Berichterstattung zugunsten von Schröder. Insbesondere in der Nachrichtenredaktion des ZDF habe „ein Konsens geherrscht, dass man alles unternehmen müsse, um einen Wahlsieg Stoibers zu verhindern“. Am Ende habe das ZDF zehn mal häufiger positiv über Schröder berichtet als über Stoiber. Ähnlich tendenziös habe sonst nur noch n-tv agiert. Meine eigenen Eindrücke sind, dass das ZDF jedenfalls in seiner Hauptnachrichtensendung „Heute“ in der Tat seit etlichen Jahren auffallend regierungsfreundlich berichtet. Andere Fernsehzuschauer mögen dies anders sehen. Entscheidend ist aber nicht die Richtigkeit dieser Eindrücke, sondern die unbestreitbare Tatsache, dass die öffentlichrechtlichen Rundfunkanstalten (wie die privaten Rundfunkanbieter auch) mit ihren Programminhalten politische Meinungen beeinflussen, also Politik machen, und dass jeder, der ein Rundfunkempfangsgerät bereithält, die politische Ausrichtung der öffentlichrechtlichen Rundfunkanstalten zwangsweise (nämlich mit der von ihm entrichteten Rundfunkgebühr) auch dann finanzieren muss, wenn er jene politische Ausrichtung nicht nur nicht teilt, sondern sogar ablehnt25. An dieser Stelle sei noch mal daran erinnert, dass es heute – anders als früher – durchaus technisch möglich ist, durch die Installation von Programmblockern den Empfang der Sendungen der öffentlichrechtlichen Rundfunkanstalten auszuschließen. Bemerkenswert ist dazu aus rundfunkrechtlicher Sicht, dass selbst ein so engagierter Befürworter der Rundfunkgebühren wie Helmut Goerlich zu der im Grupp-Fall aufgeworfenen Frage, ob eine Empfangssperre für den Empfang der Programme der Anstalten die Gebührenpflichtigkeit ausschließt, antwortet: „Das hängt von der technischen Entwicklung sowie von dem verwaltungstechnischen Problem der Überwachung solcher Sperrmechanismen ab. Letzteres falls sie leicht aufgehoben werden können“26. Jedenfalls bleibt das nicht wegzuleugnende Faktum bestehen, dass das in Deutschland geltende Rundfunkgebührensystem jeden Rundfunkteilnehmer ohne rechtliche Ausweichmöglichkeit dazu zwingt, Programminhalte zu finanzieren und damit aktiv zu unterstützen, die seiner eigenen politischen Meinung entgegen24 Zitiert nach Guido Heinen, Und plötzlich kippte das Meinungsklima. Die Wahl 2002 beschäftigt weiter die Demoskopen, Die Welt vom 04. 04. 2003, S. 6. Die Analyse von Kepplinger wird veröffentlicht werden in E. Noelle-Neumann / M. Kepplinger / W. Donsbach, Die Welle, 2004. 25 Eine mit zahlreichen diesbezüglichen Aussagen begründete Verfassungsbeschwerde hat das BVerfG durch Kammerbeschluss vom 13. 06. 2002 gem. § 93 b i.V.m. § 93 d BVerfGG nicht zur Entscheidung angenommen (Fall Rüve). 26 H. Goerlich, Anmerkung zu BVerfG Kammerbeschluss vom 06. 09. 1999, JZ 2000, 566 f. (S. 566 Fn. 4); dort auch zu den von Goerlich abgelehnten Alternativen einer Steuer, einer Geräteabgabe und einer Sonderabgabe (Bürgerabgabe).
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gesetzt sind. Eine solche Situation gibt es weder im Parteienrecht hinsichtlich der Parteienfinanzierung (der Wähler finanziert über die staatliche Wahlkampfkostenerstattung bekanntlich nur „seine“, d. h. die von ihm gewählte Partei), noch im Bereich der Printmedien, in dem der Leser ebenfalls nur die von ihm mit seiner Kaufentscheidung ausgewählte Zeitung oder Zeitschrift finanziert. Dass zwischen der Rundfunkgebührenpflicht einerseits und der Steuerpflicht auch für Pazifisten, die unter Berufung auf das Grundrecht der Gewissensfreiheit mit Steuern finanzierte Rüstungsausgaben oder bestimmte Bundeswehreinsätze ablehnen, andererseits keine Parallele besteht, ist evident; denn eine Steuer ist – wie das Bundesverfassungsgericht zutreffend entschieden hat – „ein Finanzierungsinstrument des Staates, aus dessen Aufkommen die Staatshaushalte allgemein – ohne jede Zweckbindung – ausgestattet werden“, und hinsichtlich derer die „strikte Trennung von Steuererhebung und haushaltsrechtlicher Verwendungsentscheidung“ gilt27. 6. Das geltende Rundfunkgebührenrecht ist vom Bundesverfassungsgericht unter Hinweis auf die dem öffentlichrechtlichen Rundfunk zur Erfüllung seiner Aufgabe im dualen System erforderlichen Mittel abgesegnet worden. Besonders ausführlich hat das Bundesverfassungsgericht sich zum Verfahren der Gebührenfestsetzung im sogenannten „Rundfunkgebühren-Urteil“ vom 22. Februar 1994 geäußert28, aber auch schon früher29. Leitmotiv dieser Rechtsprechung ist „das Erfordernis funktionsgerechter Finanzierung des öffentlichrechtlichen Rundfunks“. Damit der öffentlichrechtliche Rundfunk „funktionstüchtig bleibt“, sei es auch weiterhin gerechtfertigt, die Gebührenpflicht ohne Rücksicht auf die Nutzungsgewohnheiten der Empfänger allein an den Teilnehmerstatus zu knüpfen, der durch die Bereithaltung seines Empfanggerätes begründet wird“30. Eingebettet ist diese Begründung des Rundfunkgebührensystems in eine Konzeption des Rundfunkverfassungsrechts, die vom Bundesverfassungsgericht auf Konstruktionen gestützt wird, die das Gericht aus der in Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG enthaltenen Freiheit der Berichterstattung durch Rundfunk entwickelt hat, nämlich die Konstruktion der Rundfunkfreiheit als „dienender Freiheit“31, die „Grundversorgung“32, eine „Bestands- und Entwicklungsgarantie“33 und die Vorstellung eines öffentlichrechtlichen „Programmauftrages“34. BVerfG (Kammerbeschluss) NJW 2003, 2600 – Bundeswehreinsatz in Jugoslawien. BVerfGE 90, 60 ff. (91). 29 So z. B. in BVerfGE 87, 181 ff. (201). 30 BVerfGE 90, 60 (91). 31 So z. B. in BVerfGE 73, 118 (152 ff.); 74, 297 (323 f.); 83, 238 (283 ff.). Kritisch dazu Chr. Degenhart (Fn. 10), S. 50, 52; O. Klein, Fremdnützige Freiheitsgrundrechte. Analyse eines vermeintlich besonderen Grundrechtstypus, 2003. 32 So z. B. – außer den in Fn. 31 genannten Entscheidungen – BVerfGE 87, 181 (203); 90, 60 (93). Kritisch zur „Unklarheit dieses Begriffs“ H. Gersdorf, Die Rundfunkgebühr als „politischer Preis“? Einige kritische Anmerkungen zur Rundfunkgebührentscheidung des Bundesverfassungsgerichts, AfP 1994, 108 ff. (110). Ausführlich: Chr. Starck, „Grundversorgung“ und Programmauftrag des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, in: FS Klaus Stern, 1997, S. 777 ff. 33 BVerfGE 73, 118 (158); 74, 297 (324 f.); 83, 238 (298); 90, 60 (91). 27 28
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Im vorliegenden Rahmen soll die sich aufdrängende Frage nicht beantwortet werden, ob das Bundesverfassungsgericht sich mit dieser seiner Rechtsprechung zum Rundfunkverfassungsrecht noch innerhalb der gebotenen Auslegung der Verfassung gehalten hat oder ob das Gericht sich nicht bereits rechtsschöpferisch, d. h. in Wahrheit als Ersatz-Verfassungsgesetzgeber betätigt hat. Vieles spricht dafür, dass letzteres der Fall ist. Wenn in einigen Jahren (wieder) einmal eine Bilanz der Rechtsprechung des im In- und Ausland hoch geachteten obersten deutschen Gerichts gezogen werden wird, so gehört die Rechtsprechung zum Rundfunkverfassungsrecht mit Sicherheit nicht zu den Ruhmesblättern des Bundesverfassungsgerichts. Selbst wenn man aber – entgegen der hier angedeuteten Kritik an der Ausdeutung des Grundrechts der Rundfunkfreiheit durch das Bundesverfassungsgericht – die vom Bundesverfassungsgericht vertretene Auffassung im Grundsatz für richtig hält, so müssen damit nicht auch die Details der derzeitigen Ausgestaltung des Rundfunkgebührenrechtes für verfassungsrechtlich geboten gehalten werden. So lassen sich zwar unter die Begriffe „Funktionssicherung“, „Grundversorgung“ und „öffentlicher Programmauftrag“ Nachrichten, Kulturprogramme und Minderheitenprogramme ohne Schwierigkeiten subsumieren; aber schon bei Unterhaltungssendungen, z. B. „Krimis“ und vollends natürlich bei Werbesendungen im öffentlichrechtlichen Rundfunk werden jedenfalls „Grundversorgung“ und „öffentlicher Auftrag“ zu einem Schauspiel aus Absurdistan. Am Abend vor der öffentlichen Anhörung in der Sitzung des Hauptausschusses des Hessischen Landtages zum Thema Rundfunkgebühr am 6. März 2002 versorgte das ZDF sein Publikum zur besten Sendezeit um 20.15 Uhr mit dem „Polizeithriller“ „Auf schmalem Grat“, um 22.15 Uhr mit dem „Psychothriller“ „Arlington Road“, um 00.20 Uhr mit dem „Krimidrama“ „Pizza King“ und um 02.35 Uhr mit dem Çomedy Talk“ „Blond am Freitag“. Kann jemand im Ernst eine „Funktionserfüllung“ der öffentlichrechtlichen Anstalten behaupten, wenn über die ZDF-Talkshow „Wetten dass . . . ?“ von Thomas Gottschalk wie folgt berichtet wurde: „Dieser nicht mehr ganz junge, dennoch sehr blonde Zeitgenosse, der in Leipzig aus der Kulisse vor die Kameras trat, schien sein größtes Gefallen an Anzüglichkeiten zu finden. Der Olympiasiegerin Anni Friesinger begrabschte er den ,Eislaufhintern‘, der seiner Auskunft nach ein ganz besonderer sei. Von den anderen anwesenden Olympioniken, darunter die Skiläuferin Evi Sachenbacher, begehrte er zu wissen, ob sie den männlichen Sportlern gern auf die ,Knackärsche‘ schauten. Die Deckel von Kaffeekannen, die bei einer dieser Wetten der grotesken Art eine Rolle spielten, hielt er sich als Imitation eines Busens vor die eigene Brust.“35 Frauenverachtendes Geblödel als „Grundver34 BVerfGE 73, 118 (158); 90, 60 (90). Dazu auch Chr. Starck (Fn. 32), mit dem kritischen Hinweis, dass diesem Begriff keinerlei begrenzende Funktion zukomme (S. 788). Früher schon BVerfG (Kammerbeschluss) NJW 1993, 455 f. (456). 35 Zitiert nach Frank Olbert, Der doppelte Gottschalk. Warum Sarah Connor im Anzug erschien und Gerard Depardieu einfach nach Hause ging: Im Zirkus von „Wetten dass . . . ?“, FAZ Nr. 53 vom 04. 03. 2002, S. 49.
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sorgung“ und „öffentlicher Auftrag“? Zurückhaltender formuliert: Wenn Sendungen im öffentlichrechtlichen Rundfunk und Sendungen im Privatfunk konvergent sind – wie lässt sich dann die Inkonvergenz der Gebührenregelung rechtfertigen? 7. Die erste Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Rundfunkgebührenrecht, auf die heute noch verwiesen wird, stammt aus dem Jahre 198636, ist also inzwischen bald 20 Jahre alt. Seitdem haben nicht nur tiefgreifende technische Entwicklungen im Rundfunkwesen stattgefunden, sondern auch im staatlichen Organisationsbereich überhaupt. Deregulierung und Privatisierung sind die bestimmenden Merkmale der Gegenwart, nicht nur in der Bundesrepublik Deutschland, sondern weltweit. Telekommunikation, Post, Verkehr, Luftsicherheit, Energieversorgung sind Beispiele solcher entstaatlichten Bereiche. Im Bildungswesen gibt es neben den staatlichen Hochschulen mehr und mehr Hochschulen in privater Trägerschaft37; die „International University“ in Bremen und die „Bucerius Law School“ in Hamburg sind nur zwei Beispiele dafür von vielen anderen. Das Nebeneinander von öffentlichrechtlichen und privaten Einrichtungen, das immer auch einen Wettbewerb beinhaltet, muss sich auch in der Finanzierung niederschlagen. Im Hochschulbereich käme niemand auf die Idee, dass alle Studenten aller Hochschulen (also auch der privaten) Einschreibgebühren bezahlen müssen, deren Erträgnisse aber nur den staatlichen Hochschulen zufließen. Im Kulturbereich käme niemand auf den Gedanken, dass die Besucher aller Theater (also auch der Privattheater) mit dem Kauf ihrer Eintrittskarte ausschließlich die Staatstheater zu finanzieren haben. Selbst für die politischen Parteien, deren öffentlicher Auftrag (trotz ihrer privatrechtlichen Rechtsform) in einem demokratischen Gemeinwesen gewiss noch selbstverständlicher ist als derjenige der öffentlichrechtlichen Rundfunkanstalten, gibt es zu Recht keinen Zwangsbeitrag der wahlberechtigten und wählbaren Staatsbürger. 8. Die außerordentliche hohe Problematik des gegenwärtigen Rundfunkgebührensystems in der Bundesrepublik Deutschland, aus der die Notwendigkeit der Änderung dieses Systems zwingend folgt, kann nicht zu Ende diskutiert werden, bevor Alternativen genannt werden. Die Alternativen hängen nicht nur, aber auch von den technischen Entwicklungen im Rundfunkwesen ab. Es bedarf keiner prophetischen Gabe, um vorhersagen zu können, dass nicht nur die Palette der Empfangsmöglichkeiten der Rundfunkteilnehmer sich vergrößern wird, sondern auch die Möglichkeit des Programmblockens. Die Einrichtung des Pay TV existiert bereits seit Jahren; auch insoweit sind technische Weiterentwicklungen zu erwarten. Ein Modernisierungsschub wird auch vom digitalen Fernsehen ausgehen. Rechtsänderungen sind schon jetzt und immer möglich; notwendig sind hierfür nur die entsprechenden politischen Mehrheiten und eine Verfassungsrechtsprechung, die nicht den status quo zementiert, sondern ihn für neue Entwicklungen öffnet. BVerfGE 73, 118 (158). Vgl. dazu K. Schmidt, Hochschulen in Rechtsformen des privaten Rechts, in: J. A. Kämmerer / P. Rawert (Hrsg.), Hochschulstandort Deutschland. Rechtlicher Rahmen – politische Herausforderungen, 2003, S. 105 ff. 36 37
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Als konkrete Alternativen zum derzeitigen Rundfunkfinanzierungssystem bieten sich diverse Möglichkeiten an. So könnte und sollte die gegen den allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 19 Abs. 3 GG verstoßende Kumulation von Rundfunkgebühr plus Einnahmen aus Werbung auf Seiten der öffentlichrechtlichen Rundfunkanstalten zugunsten eines sauberen Trennungssystems – Gebühren für die öffentlichrechtlichen Anstalten, Einnahmen aus Werbung für die privaten Rundfunkveranstalter – aufgehoben werden38. Eine solche saubere Trennung würde nicht nur die eklatante Wettbewerbsverzerrung zwischen den öffentlichrechtlichen Rundfunkanstalten einerseits und den privaten Rundfunkveranstaltern andererseits beenden, sondern auch die – mit dem Gedanken der „Grundversorgung“ und des „öffentlichen Auftrages“ kaum zu vereinbarende – Jagd der öffentlichrechtlichen Rundfunkanstalten nach Einschaltquoten39. In diesem Zusammenhang ist auch die Feststellung wichtig, dass das Bundesverfassungsgericht in seinem Rundfunkgebührenurteil vom 22. Februar 1994 zwar Einnahmen der öffentlichrechtlichen Rundfunkanstalten aus Werbung als neben der Gebührenfinanzierung für zulässig erklärt hat40; aber in dem Urteil findet sich keine Entscheidung dahingehend, dass eine solche Parallelfinanzierung verfassungsrechtlich zwingend geboten sei. Will man mit den Gedanken der „Grundversorgung“ und des „öffentlichen Auftrages“ der öffentlichrechtlichen Rundfunkanstalten Ernst machen, so muss die Finanzierung des Rundfunks programmabhängig gestaltet sein, d. h. die Finanzierung muss sich nach der Programmart (z. B.: Nachrichten, Politik, Kultur einerseits oder Unterhaltung andererseits) richten („Zerlegungsmodell“); denn es ist unter keinem erdenklichem Gesichtspunkt einzusehen, warum etwa die Ausstrahlung ein und desselben Spielfilmes je nach Sender gebührenfinanziert wird oder nicht. 9. Die vom Bundesverfassungsgericht vorgenommene Anknüpfung der Rundfunkgebühr an die „Funktion“ des öffentlichrechtlichen Rundfunks setzt voraus, dass Klarheit über diese Funktion besteht. Eine solche Klarheit besteht gegenwärtig nicht. Faktum ist, dass die öffentlichrechtlichen Rundfunkanstalten offensichtlich die Definitionsmacht über ihre Funktion beanspruchen und auch in der Praxis ausüben, und zwar in erweiterndem Maße. Während die öffentliche Hand sich in anderen Bereichen von der Ausübung bisheriger öffentlichrechtlicher Tätigkeiten und staatlicher oder gemeindlicher Tätigkeiten zurückzieht, dehnt der Tätigkeitsbereich der öffentlichrechtlichen Rundfunkanstalten sich aus41. Zutreffend ist des38 Die Forderung nach einer solchen Trennung findet sich bereits in den Konzepten der ASU von 1986 (Fn. 11), S. 12 / 13. Dass eine solche Trennung verfassungsrechtlich zulässig ist, hat Chr. Degenhart (Fn. 10) zutreffend festgestellt (S. 5). 39 Zutreffend kritisch gegenüber den „(verfassungsprogrammatisch allerdings verfehlten) Erwartungen politischer Handlungsträger . . . , dass die Zukunft des öffentlich-rechtlichen Rundfunks auch von seinem Erfolg im Kampf um Einschaltquoten abhängt“, W. HoffmannRiem, Kommunikations- und Medienfreiheit, in: E. Benda / W. Maihofer / H.-J. Vogel (Hrsg.), Handbuch des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 2. Aufl., 1994, S. 256. 40 BVerfGE 90, 60 (91).
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halb mit Sorge registriert worden, dass Anstalten sich vom Kriterium des vorwiegenden Programmbezuges lösen und sich stattdessen zu Multimedia-Unternehmen entwickeln wollen42. Ebenso zutreffend ist dazu festgestellt worden: „Für eine „dritte Programmsäule Internet“ oder sonstige Internet-Dienste ohne vorwiegenden Programmbezug können Rundfunkgebühren verfassungsrechtlich nicht gerechtfertigt werden. Auch Gemeinschaftsrecht stünde entgegen“43. Völlig berechtigt ist deshalb die kritische Frage, was eigentlich die Formulierung „vorwiegend programmbezogener Inhalt“ heißt: Gehört dazu auch die Bratpfanne von Alfred Biolek? Oder auch ein Reiselustsommergewinnspiel (1. Preis: eine 14-tägige Reise nach Kreta, 2. Preis: eine komplette Golfausrüstung)44? Spätestens hier wird die sogenannte Funktionsgarantie als Gebührengarantie45 unbestreitbar zur Reise nach Absurdistan. Wer dieses Urteil als zu hart empfindet, der muss aber zumindest der Feststellung zustimmen, dass die Rundfunkgebühr in ihrer überkommenen Form ein verfassungsrechtlich unhaltbares Fossil ist.
41 Vgl. dazu E. Mand, Erwerbswirtschaftliche Betätigung öffentlich-rechtlicher Rundfunkanstalten außerhalb des Programms, 2002; A. Neun, Öffentlich-rechtlicher Rundfunk: Grenzen des Wachstums. Programm- und Angebotsdiversifizierung der Rundfunkanstalten der Bundesrepublik Deutschland, 2002. 42 Chr. Degenhart, Eine Entwicklung zum Multimedia-Unternehmen liegt nicht innerhalb des Aufgabenbereiches des WDR, MedienDialog Nr. 3, 2001, S. 10 ff. (S. 10). 43 Chr. Degenhart (Fn. 42), S. 12. 44 Fragen von N. Agudo y Berbel in der Anhörung vor dem Hauptausschuss des Hessischen Landtages (Fn. 15), S. 49. 45 Vgl. dazu M. Stock, Funktionsgarantie als Gebührengarantie?, JZ 1993, 234 ff. – Zur Problematik der Ausweitung grundrechtlicher Schutzbereiche (allerdings ohne spezielle Erwähnung des Grundrechts der Rundfunkfreiheit) vgl. W. Hoffmann-Riem, Enge oder weite Gewährleistungsgehalte der Grundrechte?, in: M. Bäuerle u. a. (Hrsg.), Haben wir wirklich Recht? Zum Verhältnis von Recht und Wirklichkeit, 2004, S. 53 ff. (insbes. S. 61 ff.)
Rechtliche Bindungen einer Stabilitätspolitik Blicke auf das deutsche Stabilitätsgesetz und den europäischen Stabilitätspakt* Von Gert Nicolaysen
I. Grundsätzliches Wirtschaftliches Wohlergehen der Menschen in einem hoheitlich strukturierten, national oder supranational integrierten Verband ist das Ergebnis vieler unterschiedlicher Kräfte. Nur zum Teil sind sie durch menschliches Handeln zu steuern: durch individuelles Tun für den je einzelnen oder durch hoheitlich organisierte Aktivitäten des Gemeinwesens. Versuche, für dieses Ziel die Hoheitsgewalt zu mobilisieren und die Rechtsordnung einzusetzen, erfordern zunächst einen entsprechenden Standpunkt zu den Aufgaben des Gemeinwesens und des Gesetzgebers sowie die Kenntnis und die Anerkennung von Regeln, die sich in allgemeinen und verbindlichen Bestimmungen fassen lassen. Auch sind ihnen von vornherein Grenzen gesetzt, so durch die begrenzte Wirksamkeit einer Rechtsordnung, durch externe Einwirkungen, durch Abhängigkeiten von Faktoren außerhalb ihres Wirkungsfeldes; Krieg oder Naturvorgänge bieten einleuchtende Beispiele. Angesichts der vielfältigen Bedingtheiten in diesem Umfeld ist daher nicht verwunderlich, dass konkrete verfassungsrechtliche oder gesetzliche Versuche zur verbindlichen Festlegung einer erfolgreichen Wirtschaftspolitik erst in neuerer Zeit einsetzen. Das gilt weniger für allgemeine Proklamationen nach Art des Auftrags schon in der Präambel der Verfassung der USA von 1787 „to promote the general Welfare“1. In ihrer Abstraktheit dienen solche Formeln eher der Integrationsfunktion einer Verfassung als der Rechtsanwendung. Erst mit dem Fortschreiten wirtschaftspolitischer Erfahrungen und wissenschaftlicher Erkenntnisse wurde die gesamtwirtschaftliche Wirksamkeit hoheitlicher Einflussnahme auf Wirtschaftsabläu* Der Text wurde im Mai 2003 abgeschlossen. Neue Entwicklungen zur Praxis unter dem Stabilitätspakt (III.4) und zur Unionsverfassung (III.5b) blieben daher unberücksichtigt, sie ändern indes nichts an den Thesen des Beitrags. 1 Weitere Beispiele bei G. Nicolaysen, Wohlstandsvorsorge, in: FS H. P. Ipsen, 1977, S. 485, 491 f. 53 FS Selmer
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fe und -entwicklungen wahrgenommen. Daraus resultiert die rechtliche Bekräftigung gesamtwirtschaftlicher Ziele und die Schaffung bzw. Orientierung geeigneter Instrumente zur Steuerung einer erfolgreichen Wirtschafts- und Konjunkturpolitik. Kernstück ist dabei immer, wenn auch in verschiedenem Einsatz, die Haushaltsund Steuerpolitik (Verschuldung, Investitionen, Subventionen), und dies trifft einen Schwerpunkt aus dem Arbeitsfeld des hamburger Lehrstuhls von Peter Selmer, den er seit 1973 als Nachfolger des unvergessenen Gerhard Wacke innehatte2. Mit dem „Gesetz zur Förderung der Stabilität und des Wachstums“ vom 8. 6. 1967 in der Bundesrepublik Deutschland und dem „Stabiltätspakt“ der Europäischen Gemeinschaft von 1997 soll dieser Sektor, in der konjunktur- und wirtschaftspolitischen Perspektive, auch Gegenstand der folgenden Anmerkungen sein3. Die von den Zentralbanken wahrgenommene Geldpolitik (Zinsen, Offenmarkt, Mindestreserven) soll, trotz ihrer zentralen gesamtwirtschaftlichen Bedeutung, nur am Rande gestreift werden. Erst recht muss die Einkommenspolitik vernachlässigt werden, die durch die Tarifvertragsfreiheit dem hoheitlichen Einfluss weitgehend entzogen wird4. Über die grundlegenden Ziele besteht weithin Einigkeit. Sie werden programmatisch zusammenfassend im Grundgesetz als „gesamtwirtschaftliches Gleichgewicht“ proklamiert (Art. 109 Abs. 2 GG), im EG-Vertrag in seiner jetzigen Fassung mit den Begriffen „harmonische, ausgewogene und nachhaltige Entwicklung“ beschrieben (Art. 2 EGV). Konkretisiert, aber immer noch sehr allgemein gefasst und daher konsensfähig, werden sie in parallelen Formulierungen des „magischen Dreiecks“ aufgefächert: Preisstabilität, hoher Beschäftigungsstand und beständiges Wachstum (§ 1 StWG, Art. 2 EGV und öfter)5. In ihrer Allgemeinheit sind diese Ziele als Elemente des wirtschaftlichen Wohlstands Teile des Gemeinwohl-Auftrags in jedem aktuellen Staatsverständnis6. Ihre verfassungsrechtliche Konsolidierung dient daher mehr der Integration und Identifikation als einem operationellen Bedürfnis. Dieser verfassungsrechtliche Grundakkord gilt indessen nur auf der Ebene maximaler Abstraktion; dagegen ist die Art und Weise, in der dieser Auftrag jeweils wahrzunehmen ist, ein Hauptthema der wirtschaftspolitischen Auseinandersetzungen der letzten Jahrzehnte. Mittel und Wege zu einer erfolgreichen WirtschaftsordS. schon P. Selmer, Steuerinterventionismus und Verfassungsrecht, 1972. Die hier angesprochenen Themen sind in einer kaum noch überschaubaren Zahl von rechts- und wirtschaftswissenschaftlichen Beiträgen behandelt worden; auf einzelne Nachweise musste weithin verzichtet werden; genannt sei M. J. Herdegen, Price Stability and Budgetary Restraints in the Economic and Monetary Union: the Law as Guardian of Economic Wisdom, CMLR 35 (1998), S. 9. 4 Die Praxis und das Scheitern der „konzertierten Aktion“ bestätigen diese Feststellung im Ergebnis (s. u.). 5 In der Bundesrepublik zum „magischen Viereck“ ergänzt durch das „außenwirtschaftliche Gleichgewicht“. 6 S. dazu eingehend G. Nicolaysen (Fn. 1), S. 485. 2 3
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nung sind in Politik und Wissenschaft kontrovers und werden in den Rechtsordnungen unterschiedlich gelöst. Fundamentale Gegensätze beherrschen die Entscheidung über die Prioritäten zwischen den Teilzielen und die Ausfüllung der einzelnen Ziele, etwa in der Akzeptanz einer Inflationsrate noch als Preisstabilität oder der Arbeitslosenzahlen, jeweils in einer konkreten Situation. Das gleiche gilt für das Instrumentarium, das zur Erreichung der Ziele einzusetzen ist. Diese Entscheidungen sind wegen ihrer politischen, wissenschaftlichen und temporalen Abhängigkeiten nur bedingt verfassungsfähig, und die wissenschaftlichen und politischen Kontroversen in diesen Fragen zeigen sich denn auch schon in den Rechtsordnungen der Bundesrepublik und der Europäischen Gemeinschaft: In der Bundesrepublik seit 1967 im Verfassungsrang mit ausführender Gesetzgebung mit einem deutlich fiskalpolitischem Akzent, in der Europäischen Gemeinschaft, teils parallel zu den deutschen Bestimmungen, teils sie überlagernd, einsetzend mit der Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft 1958, dort zunächst auf Zielbestimmungen beschränkt, monetaristisch dominiert seit 1992 mit dem Projekt der Wirtschaftsund Währungsunion. Solche Unterschiede sind Gegenstand der folgenden Überlegungen. Die Befassung mit rechtlichen Fixierungen geld- und wirtschaftspolitischer Instrumente erfordert von der Sache her eine interdisziplinäre Annäherung. Juristische wie auch ökonomische Abhandlungen solcher Themen kranken oft unvermeidlich an einer unzulänglichen Wahrnehmung des jeweils anderen Fachs. So soll auch hier nicht der Eindruck erweckt werden, es fände eine kompetente Auseinandersetzung mit wirtschaftswissenschaftlichen Theoremen wie Angebots- oder Nachfragetheorie, Fiskalismus oder Monetarismus und den jeweiligen Protagonisten und ihren Nachfolgern statt. Vielleicht ist es schon ein Gewinn, die Abhängigkeit von Normen von ihren disziplinären Ursprüngen und Zusammenhängen zu zeigen; auch die Problematik solcher Abhängigkeiten ist diskussionswürdig. II. Die Rechtslage in Deutschland 1. Grundgesetz Die Rechtsordnung der Bundesrepublik enthält seit 1967 bis heute Bestimmungen, die auf Thesen beruhen, die in den dreißiger Jahren John Meynard Keynes für eine fiskalpolitische Steuerung der Konjunkturpolitik entwickelt hat. Grundlage ist der Verfassungsauftrag des Art. 109 Abs. 2 GG, der Bund und Länder verpflichtet, „bei ihrer Haushaltswirtschaft den Erfordernissen des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts Rechnung zu tragen“. Gleichzeitig erging zu seiner Instrumentierung das „Gesetz zur Förderung der Stabilität und des Wachstums in der Wirtschaft“ (StWG)7, auf der Grundlage der Ermächtigung in Art. 109 Abs. 3 GG zum Erlass eines Bundesgesetzes für die Festlegung von Grundsätzen für eine konjunk7
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Gesetz vom 8. Juni 1967, BGBl. I S. 582.
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turgerechte Haushaltswirtschaft. Die konjunkturpolitische Indienstnahme der Haushaltswirtschaft (fiscal policy, deficit spending) wurde ergänzt durch die Defizitregel des Art. 115 Abs. 1 S. 2 GG8; nach ihr dürfen die Einnahmen aus Krediten „die Summe der im Haushaltsplan veranschlagten Ausgaben für Investitionen nicht überschreiten; Ausnahmen sind nur zulässig zur Abwehr einer Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts“; mit diesem Ziel können also auch konsumtive Ausgaben durch Kredite finanziert werden9. Das „gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht“ wird in der Verfassung nicht definiert. Erst § 1 StWG legt seine Elemente als Maßstab für haushaltspolitische Maßnahmen fest (§ 5): Preisstabilität, hoher Beschäftigungsstand, außenwirtschaftliches Gleichgewicht, stetiges und angemessenes Wirtschaftswachstum. Die Forderung des Gesetzes, die vier Ziele „gleichzeitig“ zu verfolgen, stößt sich mit der Erkenntnis ihrer Widersprüchlichkeit und dauernden Gefährdung, wie der Terminus „magisches Viereck“ es anschaulich macht. So ist ein dauernder Vorrang der Geldwertstabilität in diesem Konzept nicht angelegt, also ist eine (vorübergehende) Hinnahme von Inflation nicht ausgeschlossen, wie sie als Folge von „deficit spending“ eintreten kann. Die Geldwertstabilität erhält in der Bundesrepublik auch durch die Grundrechte, insbesondere durch die Gewährleistung des Eigentums (Art. 14 GG), keine zusätzliche Priorität. Das BVerfG hat entschieden, wegen der innerstaatlichen und internationalen Abhängigkeiten könne der Staat den Geldwert nicht grundrechtlich garantieren10.- Anderseits wird versucht, dem Stabilitätsziel auch schon unter dem Regime des Art. 109 GG unter Berücksichtigung der neuen Erkenntnisse Vorrang zu geben: Nur mit einer stabilen Währung können danach die anderen Ziele des magischen Vierecks auf Dauer erreicht werden, daher darf keines der anderen Ziele auf Kosten der Stabilität gefördert werden11.
2. Stabilitäts- und Wachstumsgesetz Das Stabilitäts- und Wachstumsgesetz mobilisiert das finanzpolitische Instrumentarium im Sinne einer antizyklischen Konjunkturpolitik: kontraktive Maßnahmen zur Dämpfung – expansiver Einsatz für konjunkturelle Impulse . Einige Stichworte zu den Ermächtigungen und Verpflichtungen mögen die durch das Gesetz verfolgte Methode illustrieren: Beschränkung der Ausgaben bei übermäßiger Nachfrageausweitung (überhitzter Konjunktur), § 6 Abs. 1; zusätzliche Ausgaben und entsprechende KreditaufnahÄnderungsG vom 12. Mai 1969. Vgl. BVerfGE 79, 311 (342 f.). 10 BVerfGE 97, 350 (371) (Vereinbarkeit der Teilnahme Deutschlands an der WWU mit dem GG); s. auch BVerfG, HFR 1969, S. 347, und dazu P. Selmer, Finanzordnung und GG, AöR 101 (1976), S. 238 und 399, 432 ff.; BVerfGE 50, S. 57, 104 ff. 11 Vgl. etwa H. Fischer-Menshausen, in: von Münch / Kunig, GGK III, 3. Aufl. 1996, Art. 109 Rn. 10. 8 9
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men bis 5 Milliarden DM bei Abschwächung, § 6 Abs. 2; Investitionsprogramme, § 10; beschleunigte Investitionsplanung bei Abschwächung, § 11; Beschränkung der Kreditaufnahme durch RechtsVO (§ 19 f.); in § 51 Abs. 3 EStG Ermächtigung zur Erhöhung oder Herabsetzung der Einkommensteuer um jeweils bis zu 10% durch RechtsVO. – Ein zentrales haushaltspolitisches Instrument in diesem Gefüge ist die Konjunkturausgleichsrücklage § 5 Abs. 2, 3, § 6, sie dient der Stillegung von Mitteln bei einer Gefährdung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts durch übermäßige Nachfrageausweitung (§ 15); ihre Freigabe soll einer Abschwächung der Konjunktur entgegensteuern (s. im einzelnen §§ 5, 6, 15 StWG). Der Erlass des Stabilitäts- und Wachstumsgesetzes wurde von großen Hoffnungen begleitet, aber wenn seine Zielsetzung war, Konjunkturschwankungen künftig zu verhindern, so hat sie sich nicht verwirklicht. Allerdings hat es den Test nicht bestehen können, da er offenbar nicht oder kaum durchgeführt worden ist. Als Ermächtigungen zur Aktivierung der Haushalts-Steuerpolitik begründen sie auch keine Pflichten zu ihrem Einsatz. Auch die Verfassungsbestimmungen verpflichten die Regierung oder den Gesetzgeber nur auf die vorgegebenen Zielsetzungen, aber nicht zu einer keynesianischen Fiscal Policy, etwa zu deficit spending. So ist eine Kreditaufnahme im Hinblick auf nichtinvestive Ausgaben nach Art. 115 Abs. 1 Satz 2 GG zur Abwehr einer Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts zwar zulässig, aber nicht verfassungsrechtlich geboten. Daher erscheint eine Aufhebung der betreffenden Bestimmungen der Verfassung oder des StWG auch nicht erforderlich. Ein spezielles Beispiel obsoleten Rechts bietet der Versuch des StWG, die Einkommenspolitik der Tarifparteien durch die „konzertierte Aktion“ (§ 3) in gesamtwirtschaftliche Zielsetzungen einzubinden. Danach stellte die Bundesregierung den Gebietskörperschaften und Verbänden Orientierungsdaten über die gesamtwirtschaftlichen Zusammenhänge zur Verfügung, die vom Bundesminister für Wirtschaft zu erläutern waren. Der politische Konflikt zwischen Gewerkschaften und Unternehmensverbänden über die Mitbestimmung führte zum Ende dieses Versuchs. Später scheiterten neue Ansätze wie „Kanzlerrunden“ und das „Bündnis für Arbeit“. Das Schicksal der Verankerung keynesianischer Gedanken im Grundgesetz und im Stabilitäts- und Wachstumsgesetz muss im Licht der Wende in der Wirtschaftstheorie von der Nachfragesteuerung zur Angebotstheorie (M. Friedman) gesehen werden, die alsbald nach der geschilderten Novellierung eintrat. So hat auch das BVerfG in seinem grundlegenden Urteil vom 18. 4. 198912 Notiz genommen von der Kritik am Konzept der Fiscal Policy der Art. 115 Abs. 1 Satz 2 i.V. mit Art. 109 Abs. 2 GG seitens des in den Wirtschaftswissenschaften weithin akzeptierten Monetarismus und seiner Theorie der „Angebotspolitik“, die bei der Investitionsbereitschaft der Unternehmen ansetzt (S. 335 f.). Indessen musste das Verfassungsgericht vom vorliegenden Regelungsgehalt der Verfassung ausgehen; es verweist 12
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die Aufgabe einer Änderung des haushalts- und finanzpolitischen Instrumentariums im Hinblick auf etwaige neue wissenschaftliche Erkenntnisse an den Gesetzgeber. Dieser Hinweis des BVerfG ist bekanntlich bis heute vom Gesetzgeber nicht beachtet worden. Der konzeptuelle Paradigmenwechsel hat dagegen seinen Niederschlag in der europäischen Rechtsetzung zur Wirtschafts- und Währungsunion gefunden (s. dazu sogleich zu 2). Sie musste auch in der Finanzverfassung der Bundesrepublik berücksichtigt werden. So trägt das „Solidarpaktfortführungsgesetz“ vom 20. 12. 2001 den Pflichten der Bundesrepublik aus dem „Stabilitäts- und Wachstumspakt“ in der WWU Rechnung13. Dieses Gesetz fügt u. a. dem Haushaltsgrundsätzegesetz (HGrG) einen neuen § 51 a ein (Art. 7). Dort wird generell die Verantwortung von Bund und Ländern für die Einhaltung des Art. 104 EGV (Vermeidung übermäßiger öffentlicher Defizite) und des europäischen Stabilitäts- und Wachstumspakts erklärt; besonders hingewiesen wird auf die Pflicht, eine Rückführung der Nettoneuverschuldung mit dem Ziel ausgeglichener Haushalte anzustreben. Dem Finanzplanungsrat (§ 51 HGrG) wird die Aufgabe zugewiesen, die Vereinbarkeit der Haushaltsentwicklung mit den gemeinschaftsrechtlichen Bestimmungen zu erörtern. Die Bestimmung sollte ursprünglich am 1. Januar 2005 in Kraft treten (Art. 12), der Zeitpunkt wurde indessen auf den 1. Juli 2002 vorverlegt14.
3. Justiziabilität a) Gesamtwirtschaftliches Gleichgewicht Letztlich erweist erst die gerichtliche Kontrollierbarkeit die Intensität der Bindung durch rechtliche Festlegungen der Wirtschaftspolitik. In dem Maße wie Verfassung oder Gesetz den Akteuren Spielräume für politische Entscheidungen einräumen, sind sie gerichtlicher Kontrolle nicht zugänglich; wird dagegen der Vollzug zur Subsumtion unter gesetzliche Regeln, so können die Gerichte ihre Einhaltung überprüfen. Hier soll die Frage anhand der Rechtsprechung des BVerfG zu den Verschuldenskriterien des Grundgesetzes illustriert werden. Das BVerfG hat sich eingehend mit der Justiziabilität des „gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts“ als Verfassungsbegriffs aus Art. 109 Abs. 2 GG (auch 104 a Abs. 4, 109 Abs. 4, 115 Abs. 1 S. 2 GG und § 18 BHO) befasst15. Bemerkenswert ist zunächst, dass dabei auch der Zeitfaktor einbezogen wird: Die in § 1 S. 2 StWG enthaltene Definition durch die vier Teilziele wird zwar prinzipiell akzeptiert, indessen für die Verfassung unter den Vorbehalt künftiger Fortentwicklungen der BGBl. I S. 3955. Gesetz zur Änderung des Solidarpaktfortführungsgesetzes vom 21. Juni 2002, BGBl. I, S. 2166, Art. 1 Nr. 2. 15 BVerfGE 79, 311 13 14
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wirtschaftswissenschaftlichen Erkenntnis gestellt (S. 338 f.); die Interdisziplinarität der Festlegung wird also vom BVerfG gesehen und akzeptiert. In interdisziplinäre Regionen stößt das BVerfG auch mit seinen Erwägungen zu den Ursachen der Störung und der Eignung einer Kreditaufnahme zu ihrer Beseitigung vor (S. 339 f.); dabei wird auf Strukturprobleme der Wirtschaft hingewiesen, auf schon bestehende hohe Staatsverschuldung und auf die Möglichkeiten eines Haushaltsausgleichs durch Ausgabenkürzung oder Steuererhöhung – auch heute sinnvolle und notwendige Überlegungen. Zur „Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts“ kommt das BVerfG von seinem Ausgangspunkt eines „unbestimmten Verfassungsbegriffs“ zu einem dynamischen Verständnis und der Forderung nach einer „relativ-optimalen Gleichgewichtslage in der Realisierung der Teilziele“ (S. 338 f.). Am Ende beschränkt es sich auf die Prüfung, „ob die Beurteilung und Einschätzung des Gesetzgebers nachvollziehbar und vertretbar ist“16. Im Rahmen seines Einschätzungs- und Beurteilungsspielraums muss der Gesetzgeber seine eigene Entscheidung treffen; sie muss frei von Willkür sein und vor dem Hintergrund der Aussagen der gesetzlich verankerten Beratungsgremien, bis hin zur Bundesbank, und gemäß den wissenschaftlichen Aussagen „nachvollziehbar und vertretbar“ erscheinen (S. 343 f.). In diesen Feststellungen kommt die Gemengelage von politischer Gestaltungsfreiheit und wissenschaftlich begründeter Richtigkeit wirtschaftspolitischer Entscheidungen zum Ausdruck. Sie wird noch plastischer, wenn man wahrnimmt, wie sehr politische Überzeugungen zwischen Liberalismus und Sozialismus die Setzung von Prioritäten zwischen den Teilzielen beeinflussen, z. B. Beschäftigung und Preisstabilität, und wie darüberhinaus auch wissenschaftliche Thesen nicht selten an politischen Überzeugungen orientiert sind. Letztlich sind daher diese Entscheidungsprozesse nicht Rechtsanwendung und nicht in rechtliche Kategorien wie Ermessen und unbestimmter Gestzes- oder Verfassungsbegriff einzustufen17. Staatszielbestimmungen wie das „gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht“ enthalten vielmehr für die zuständigen Akteure einen Auftrag zur Verfassungsverwirklichung18, den Gemeinwohlauftrag in der speziellen Form der Wohlstandsvorsorge19. b) Investitionen Eine Schlüsselstellung für den Maßstab der Staatsverschuldung in Art. 115 Abs. 1 GG und seine Kontrolle hat der Investitionsbegriff inne. Nach Art. 115 Ähnlich P. Selmer (Fn. 10), S. 267. Zu den unbestimmten Gesetzesbegriffen vgl. neuerdings das Urteil des BVerfG vom 24. Oktober 2002, EuGRZ 2002, S. 631 (654 ff.): „Die gerichtliche Kontrolle ihrer Auslegung ist umfassend; sie geht über eine bloße Vertretbarkeitskontrolle hinaus“; das wird insbesondere auf Tatsachenfeststellungen bezogen, während für Prognosen ein Eischätzungsspielrum eingeräumt wird. 18 Vgl. H. P. Ipsen, Über das GG – nach 25 Jahren, DÖV 1974, S. 289, 293. 19 Ausführlich G. Nicolaysen (Fn. 1), S. 485, 494 ff. 16 17
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Abs. 1 Satz 2 GG dürfen die Einnahmen aus Krediten die Summe der im Haushaltsplan veranschlagten Ausgaben für Investitionen nicht überschreiten, solange das gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht gewahrt ist. Entsprechend den Grundsätzen antizyklischer Fiskalpolitik sind also Kreditaufnahmen unbegrenzt zulässig, soweit sie für investive Ausgaben verwendet werden. Zum Investitionsbegriff des GG äußert sich das BVerfG a. a. O. S. 354 f. und schließt sich dabei kurzerhand der „bisherigen Staatspraxis“ an20. III. Europarecht 1. Wirtschaftspolitisches Konzept Im EWG-Vertrag von 1958 konnte die Entscheidung über eine gesamtwirtschaftliche Orientierung der Gemeinschaft noch offen bleiben, da die EWG über kohärente gesamtwirtschaftliche Kompetenzen nicht verfügte, sondern mit wirtschaftspolitischen Zuständigkeiten nur in Teilbereichen ausgestattet wurde, wie im Kartellrecht, für den Agrarmarkt oder die Verkehrspolitik, im übrigen blieb es bei unverbindlicher Koordinierung21. So wurde der Vertrag zwar von deutscher Seite für die Marktwirtschaft in Anspruch genommen22, aber die Wirtschaftspolitik war insoweit Sache der Mitgliedstaaten geblieben, und so wurde z. B. in Frankreich die indikative planification praktiziert. Die von der EWG unter heftigem deutschen Widerstand23 in den sechziger Jahren initiierte „mittelfristige Wirtschaftspolitik“ blieb in einem zurückgenommenen Ansatz stehen24. Erst die Einführung der Europäischen Währungsunion, deren Errichtung im Vertrag von Maastricht vom 7. Februar 1992 beschlossen wurde, erforderte eine Festlegung der Maximen, nach denen die Wirtschaftspolitik, insbesondere die Währungspolitik in der WWU betrieben werden sollte. Angesichts der weltweit vollzogenen Paradigmenwechsels von der fiskalisch gesteuerten Nachfragepolitik (Keynes) zu Monetarismus und Angebotstheorie (Friedman), konnte die Entscheidung nicht mehr zweifelhaft sein. So wurde in Art. 4 Abs. 2 und 3 EGV der Grundsatz einer „offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb“ proklamiert25. 20 Eingehende Kritik dagegen s. bei L. Osterloh, Staatsverschuldung als Rechtsproblem, NJW 1990, S. 145 ff. ; dabei wendet sich die Autorin grundsätzlich gegen die „verfassungsgerichtliche Festschreibung des haushaltssytematischen Investitionsbegriffs“ und plädiert für die Einschätzungsprärogative des Parlaments (S. 151). 21 Vgl. G. Nicolaysen, Europarecht II, 1996, S. 322 ff. 22 Das galt besonders für das Wirtschaftsministerium unter Ludwig Erhard, vgl. A. MüllerArmack, Auf dem Weg nach Europa, 1971, S. 108 ff., s. dagegen W. Hallstein, Die Europäische Gemeinschaft, 1973, S. 108 zum „Interventionismus“. 23 S. dazu die Diskussion zwischen L. Erhard und W. Hallstein auf dem wirtschaftspolitischen Kolloquium des Europäischen Parlaments in Straßburg, 19.-23.11. 1962, Verhandlungen des EP, 1962, Sitzg. v. 20. 11. 1962, S. 58 und 74; s. auch W. Hallstein, Europäische Reden, 1979, S. 369 zum Aktionsprogramm der Gemeinschaft. 24 G. Nicolaysen (Fn. 21), S. 325 f.
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Ausgangspunkt für die konkrete Orientierung der Wirtschafts- und Währungspolitik ist sodann die Festlegung auf Geldwertstabilität und Wachstum; sie werden der Gemeinschaft und den Mitgliedstaaten in verschiedenen Bestimmungen des EG-Vertrags als Ziele rechtsverbindlich vorgeschrieben (z. B. Art. 2, 4, 98 [mit Verweisung auf Art. 4] EGV). Die monetaristische Orientierung zeigt sich sodann im Vorrang der Stabilität26. Die Stabilität des Geldwerts wird als wesentliche Voraussetzung zur Erreichung des Wohlstandsziels betrachtet. Die Verlässlichkeit der Währung ist die Basis für die anderen Ziele im (ehemals magischen) Dreieck: gesundes Wirtschaftswachstum und ein hohes Maß an Beschäftigung. Das grundlegende Instrument für die Sicherung der Stabilität ist die Geldpolitik, für sie ist die Zentralbank maßgeblich verantwortlich. Ihr wird daher im EG-Vertrag die Preisstabilität als „vorrangiges Ziel“ vorgeschrieben (Art. 104 Abs. 1 EGV). Zur Absicherung dient u. a. ihre Unabhängigkeit (Art. 108 EGV)27. Ihr liegt die Vermutung zugrunde, dass Weisungen staatlicher oder gemeinschaftlicher Organe durchweg auf eine Lockerung der Stabilität hinauswollen. – Wesentliche Stütze ist ferner das Verbot von Überziehungskrediten der öffentlichen Hand bei den Zentralbanken (Art. 101 EGV). In diesem Konzept gilt Staatsverschuldung als Gefährdung der Stabilität. Ihre Wirkung auf Geldwert und Wachstum wird über verschiedene Faktoren erklärt. So kann eine kreditfinanzierte Ausweitung der öffentlichen Nachfrage zu Preissteigerungen führen; überdies können erhöhte Zinsen den Kapitalmarkt auch für private Nachfrager belasten; der Schuldendienst engt die Handlungsfähigkeit des Haushalts ein; Kredite, die nicht zur Finanzierung von Investitionen dienen, verschieben die Lasten auf künftige Generationen.
2. Vertragsbestimmungen Rechtsgrundlage für die Stabilitäts- und Wachstumspolitik ist vor allem Art. 99 EGV, der die Koordinierung der Wirtschaftspolitik der Mitgliedstaaten sowie die Ausrichtung und Überwachung anhand von „Grundzügen der Wirtschaftspolitik der Mitgliedstaaten und der Gemeinschaft“ vorsieht. Die Grundzüge gehen jeweils auf eine Initiative der Kommission zurück, die dem Rat eine entsprechende Empfehlung vorlegt28. Auf dieser Basis erstellt der Rat einen Bericht für den EuropäiZum juristischen Gehalt dieses Bekenntnisses G. Nicolaysen (Fn. 21), S. 319 ff. Preisstabilität wird zwar ausdrücklich nur der Geldpolitik der EZB als vorrangig vorgeschrieben (Art. 105 Abs. 1 EGV), in der dichten Absicherung im Stabilitätspakt erweist sich indes ihre Priorität im Gesamtkonzept der Währungsunion. 27 S. dazu eingehend Mary Papaschinopoulou, The Legal Articulation of Central Bank Independence. An Interdisciplinary and Comparative Analysis, Schriftenreihe des EuropaKollegs Hamburg Bd. 34, 2002. 28 S. z. B. die Empfehlung für die Grundzüge der Wirtschaftspolitik der Mitgliedstaaten und der Gemeinschaft im Jahr 2002 vom 24. 4. 2002, KOM (2002) 191 endg. 25 26
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schen Rat, dessen Schlussfolgerung zu einer Empfehlung des Rates über die Grundzüge führt (Art. 99 Abs. 2 EGV). Anhand der Grundzüge überwachen Rat und Kommission die Vereinbarkeit der Wirtschaftspolitik der Mitgliedstaaten mit den Grundzügen („multilaterale Überwachung“, s. Art. 103 Abs. 3 und 4 EGV)29. Da der Vertrag den Mitgliedstaaten grundsätzlich die haushaltspolitischen Kompetenzen belässt, musste er Vorkehrungen gegen inflationäre Einflüsse aus den mitgliedstaatlichen Haushalten treffen. Dafür enthält Art. 104 EGV die maßgeblichen Bestimmungen, in denen die Pflicht der Mitgliedstaaten „übermäßige öffentliche Defizite“ zu vermeiden, konkretisiert und verfahrensmäßig abgesichert wird. Diese Regelungen, weiter ausgearbeitet im europäischen Stabilitäts- und Wachstumspakt, übertreffen alles, was sonst an rechtlichen Festlegungen von Wirtschaftspolitik existiert, gerade auch in der Bundesrepublik. Für die Einhaltung der Haushaltsdisziplin gibt der Vertrag Kriterien vor. Die Stabilitätskriterien werden durch Referenzwerte bestimmt, die das „Protokoll über das Verfahren bei einem übermäßigem Defizit“ (11) enthält: 3% des Bruttoinlandsprodukts für das Haushaltsdefizit, 60% für den öffentlichen Schuldenstand. Begriffsbestimmungen enthält eine VO über die Anwendung des Protokolls30. Die Refernzwerte werden durch Ausnahmen flexibilisiert. So wird die Haushaltsdisziplin z. B. nicht verletzt, wenn das öffentliche Defizit den Refernzwert „ausnahmsweise und vorübergehend“ überschreitet und das Verhältnis „in der Nähe des Referenzwerts bleibt“ (Art. 104 Abs. 2 lit. a EGV). Wenn solche Ausnahmen nicht vorliegen, muss die Kommission dem Rat einen Bericht erstatten und eine Stellungnahme abgeben (Art. 104 Abs. 3 und 5 EGV). Die Elastizität des Verfahrens deutet sich auch darin an, dass der Bericht die öffentlichen Ausgaben für Investitionen und die Gesamtlage berücksichtigt.
3. Stabilitätspakt Der „Stabilitäts- und Wachstumspakt“ definiert sich selbst in der VO Nr. 1466 / 97 vom 7. Juli 1997 über den Ausbau der haushaltspolitischen Überwachung und der Überwachung und Koordinierung der Wirtschaftspolitiken31. Danach gehören außer dieser VO noch dazu die VO Nr. 1467 / 97 vom 7. Juli 1997 über die Beschleunigung und Klärung des Verfahrens bei einem übermäßigen Defizit32 und die Amsterdamer Entschließung des Europäischen Rates über den Stabilitäts- und Wachstumspakt vom 17. Juni 199733. 29 Vgl. etwa die Mitteilung der Kommission vom 14. 1. 2003 über die Umsetzung der Grundzüge der Wirtschaftspolitik 2002, KOM (2003) 4 endg. 30 VO Nr. 3605 / 93 vom 22. November 1993, ABl L 332 / 7. 31 ABl Nr. L 209 / 1 v. 2. August 1997, ebenso die VO Nr. 1467 / 97 v. 7. Juli 1997. 32 ABl Nr. L 209 / 5 v. 2. August 1997. 33 ABl Nr. C 236 / 1 v. 2. August 1997.
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In die Betrachtung müssen ferner einbezogen werden der sogenannte „EuroRat“ aus den Ministern der dem Euro-Währungsgebiet angehörigen Staaten nach den Schlussfolgerungen zum Europäischen Rat von Luxemburg vom 12. / 13. Dezember 1997 sowie die Erklärung des Ecofin-Rates vom 1. Mai 1998 über die Umsetzung der „Überwachungs-VO“ Nr. 1466 / 97 (s. o.) schon am 1. Juli 199834. Als spiegelbildliche oder komplementäre Aktion zum Stabilitätspakt können die beschäftigungspolitischen Bemühungen der EG („Beschäftigungspakt“) gesehen werden, also besonders der im Vertrag von Amsterdam vorgesehene Titel „Beschäftigung“ im EGV (Art 109 n – Art 109 s), die Entschließung des Europäischen Rates von Amsterdam am 16. Juni 1997 über Wachstum und Beschäftigung und die Schlussfolgerungen der Sondertagung des Europäischen Rates von Luxemburg über Beschäftigungsfragen vom 20. / 21. November 199735. Der Stabilitätspakt in seiner Qualität als Sekundärrecht (Verordnungen, Entschließung) kann die stabilitätspolitischen Bestimmungen des EG – Vertrags nicht ändern sondern nur ausfüllen, ergänzen, interpretieren. Die Entschließung des Europäischen Rates über den Stabilitätspakt vom 17. Juni 1997 ist im Licht des Art. 4 EUV zu sehen. Danach gibt der Europäische Rat der Union die für ihre Entwicklung erforderlichen Impulse und legt die allgemeinen politischen Zielvorstellungen für diese Entwicklung fest. Dementsprechend enthält die Entschließung politische Verpflichtungen der Mitgliedstaaten und der Kommission sowie Ersuchen an die Mitgliedstaaten und den Rat. Inhaltlich geht es in der Entschließung weithin um die fristgerechte und strikte Erfüllung der vertraglichen Pflichten. Bemerkenswert sind die Ersuchen und Aufforderungen an den Rat zu den Sanktionen nach Art 104 Abs. 11 EGV: Unter den vertraglichen Voraussetzungen sollen Sanktionen immer verhängt werden, sie sollen immer die Hinterlegung einer unverzinslichen Einlage umfassen, sie sollen nach zwei Jahren ggf. immer in eine Geldbuße umgewandelt werden, und schließlich soll der Rat immer die Gründe veröffentlichen, wenn er nicht tätig wird. In der Überwachungs-VO Nr. 1466 / 97 werden vor allem gemäß Art. 99 Abs. 5 EGV die Regeln für die Konkretisierung der Grundzüge der Wirtschaftspolitik und für ihre Überwachung bestimmt. Eine Kreation der VO ist die Pflicht der Mitgliedstaaten zur Erstellung von „Stabilitätsprogrammen“ (Art. 3 ff. VO 1466 / 97) bzw. „Konvergenzprogrammen“ (Art. 7 ff. VO Nr. 1466 / 97)36, ihr Inhalt, die Vorlage und die Prüfung der Festlegungen, die der Überwachung nach Art. 99 EGV unterliegen. Vorrangig ist „das mittelfristige Ziel für einen nahezu ausgeglichenen Haushalt oder einen Überschuss“ (Art. 3 Abs. 2 lit. a). Damit stellt der StabilitätsABl Nr. L 139 / 28 v. 11. Mai 1998. Bull. EU 11 – 1997. 36 Stabilitätsprogramme der „Euro-Staaten“, Konvergenzprogramme der nicht an der gemeinsamen Währung teilnehmenden Staaten. 34 35
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pakt höhere Ansprüche als Art. 104 EGV, der nur „übermäßige öffentliche Defizite“ verbietet und dabei den Maßstab des Defizitprotokolls zugrunde legt. Allerdings können daher die Sanktionen des Art. 104 EGV bei einem Verstoß gegen die nur im Stabilitätspakt enthaltenen Pflichten nicht verhängt werden; es bleibt nur das Mahnverfahren aus Art. 99 Abs. 3 und 4 EGV, wenn ein „nahezu ausgeglichener Haushalt“ in die „Grundzüge der Wirtschaftspolitik“ nach Art. 99 Abs. 2 EGV aufgenommen wurde. Es werden Fristen für den Ablauf der Überwachung bestimmt, und vor allem wird ein „Frühwarnsystem“ geschaffen: Der Rat verfolgt die Umsetzung der Stabilitätsprogramme und richtet bei erheblichen Abweichungen schon vor dem Entstehen eines übermäßigen Defizits als frühzeitige Warnung eine Empfehlung an den betreffenden Mitgliedstaat (Art. 6 VO). Auch verfahrensmäßig unterwirft der Stabilitätspakt so die Haushalte einer strengeren Disziplin als der Vertrag in Art. 104 EGV; den dort vorgesehenen Verfahrensschritten wird damit noch eine Stufe vorgeschaltet. Der Schritt vom Ziel, übermäßige öffentliche Defizite zu vermeiden (Art. 104 Abs. 1 EGV), zum Pakt-Anspruch eines nahezu ausgeglichenen Haushalts oder sogar eines Überschusses bedeutet nicht nur eine härtere Gangart, sondern konzipiert eigentlich eine neue Strategie, die den Konjunkturzyklus einbezieht: Die im Aufschwung erzielten Mehreinnahmen sollen nicht prozyklisch bis an die zulässige Grenze des Referenzwertes ausgegeben werden, sondern als Manövriermasse im Abschwung zur Konjunkturförderung dienen37. Das erscheint als Antwort auf die unzulängliche Handhabung der Fiscal Policy, deren Verheißung, die Defizite mit den späteren Erträgen aus den defizitär finanzierten Investitionen auszugleichen, regelmäßig nicht erfüllt wurde. Auch die Konjunkturausgleichsrücklage des deutschen StWG von 1967 (s. oben) scheint insoweit nicht funktioniert zu haben. Die Regel des Stabilitätspakts ändert die Reihenfolge: Investitionen sollen insoweit erst mit Mehreinnahmen finanziert werden, die bereits erzielt und als Überschuss angesammelt worden sind. Die VO zur Beschleunigung und Klärung des Verfahrens (VO Nr. 1467 / 97) enthält nähere Bestimmungen für die vertraglichen Voraussetzungen, bei denen der Referenzwert für das öffentliche Defizit (3% des Bruttoinlandsprodukts) „ausnahmsweise und vorübergehend“ überschritten werden darf (Art. 104 Abs. 2 lit. a, s. oben): Ursache in einem „außergewöhnlichen Ereignis, das sich der Kontrolle des betreffenden Mitgliedstaats entzieht“ oder ein „schwerwiegender Wirtschaftsabschwung“ mit einem Rückgang des Bruttoinlandsprodukts um mindestens 2% innerhalb eines Jahres (s. im Einzelnen Art. 2 VO). Damit wird die Elastizität des Kriteriums (s. oben) nachgehärtet, indessen sollte beachtet werden, dass auch nach dem Stabilitätspakt nicht jede Überschreitung der Referenzwerte eine Verletzung des Kriteriums bedeutet. Spielräume lässt der Stabilitätspakt auch für die abschlie37 Vgl. G. Giudice / A. Montanino, Un pacte pour la stabilité et la croissance économique en Europe, RMC 2002, S. 657, 658 f.
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ßende Entscheidung des Rates über die Feststellung eines übermäßigen Defizits (Art. 104 Abs. 6 EGV): Hier kann der Rat einen Rückgang des BIP um weniger als 2% berücksichtigen, wenn weitere relevante Umstände (jäher Abschwung, starker Rückgang der Produktion) zeigen, dass der Rückgang außergewöhnlich ist (Art. 2 Abs. 3 VO 1467 / 97). Entscheidungen in diesem Rahmen können nicht als „Aufweichung“ des Stabilitätspakts qualifiziert werden. Des weiteren werden zur Beschleunigung des Verfahrens strenge Fristen für die einzelnen Schritte gesetzt (Art. 3 – 8 VO), als Sanktion wird als Regel die unverzinsliche Einlage bestätigt, und es werden Aussagen über ihre Höhe und ihre Verschärfung getroffen; sie soll „in der Regel“ nach zwei Jahren in eine Geldbuße umgewandelt werden, wenn das übermäßige Defizit nicht korrigiert wurde (Art. 11 – 13 VO).
4. Praxis unter dem Stabilitätspakt Die Abläufe der Defizitprüfung nach Art. 104 EGV unter dem Regime des Stabilitäts- und Wachstumspakts lassen sich am besten an Hand aktueller Verfahren illustrieren. Ein erster Einsatz der Gemeinschaft im Zusammenhang mit dem Stabilitätspakt betraf eine Fortschreibung, die Irland im Dezember 2000 zu seinem Stabilitätsprogramm für den Zeitraum bis 2003 gemäß Art. 5 Abs. 3 VO 1466 / 97 vorgelegt hatte. In einer Stellungnahme vom 12. Februar 2001 stellte der Rat fest, die haushaltspolitischen Dispositionen dieses Stabilitätsprogramms stimmten nicht mit den Grundzügen der Wirtschaftspolitik (Art. 99 Abs. 2 EGV) überein. Am gleichen Tag erging eine Empfehlung des Rates an Irland „mit dem Ziel, in Irland die mangelnde Übereinstimmung mit den Grundzügen zu beenden“38. Gleichzeitig beschloss der Rat, diese Empfehlung zu veröffentlichen (vgl. Art. 99 Abs. 4 S. 2 EGV)39. Eine spektakuläre Kontroverse entzündete sich Anfang 2002 über die Entwicklungen der Haushalte Deutschlands und Portugals, die von den Projektionen der jeweiligen Stabilitätsprogramme abwichen; Deutschlands Defizit betrug 2,6% statt 1,5%, Portugals Zahlen waren 2,2% statt 1,1%; in beiden Fällen wurde also der Referenzwert des Defizitprotokolls (3%) noch nicht erreicht . Für die Kommission war das indes ein Fall für eine „frühzeitige Warnung“ durch den Rat nach Art. 6 VO 1466 / 97, zu der sie in „strikter Anwendung“ gemäß der Entschließung des Europäischen Rates vom 17. Juni 1997 initiativ werden musste. Der Rat indessen sah für sich offenbar einen Ermessensspielraum und verzichtete nach einer Verpflichtungserklärung der Bundesregierung auf eine Empfehlung40. – Der Vorgang ABl 69 / 22 v. 10. März 2001. ABl 69 / 24 v. 10. März 2001. 40 Vgl. die Darstellung bei Ph. Marchat, Le pacte de stabilité et de croissance et lÁllemagne, RMC 2002, S. 224. 38 39
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ist zugleich ein Lehrstück für die politischen Bedingtheiten der Prozedur (im Vorwahlkampf in Deutschland), zeigt aber auch, wie das Ziel der rechtlichen Bindungen nicht weniger wirksam durch politisches Agieren erreichbar sein kann: Sowohl der Druck auf den deutschen Finanzminister wie auch seine Inpflichtnahme hätten bei Einhaltung der Formalien nicht stärker sein können. Demgegenüber verlief das Verfahren Anfang 2003 streng in den Bahnen von Vertrag und Stabilitätspakt. Eine Entscheidung des Rates vom 21. Januar 2003 stellte in Anwendung von Art. 104 Abs. 6 EGV „nach Prüfung der Gesamtlage“ fest, „dass in Deutschland ein übermäßiges Defizit besteht“41. Der Entscheidung waren im November 2002 ein Bericht der Kommission gemäß Art. 104 Abs. 3 EGV und dazu eine Stellungnahme des Wirtschafts- und Finanzausschusses nach Art. 104 Abs. 4 EGV vorausgegangen; es folgte die Stellungnahme der Kommission, in der sie ihre Auffassung begründete, dass in Deutschland ein übermäßiges Defizit bestehe. Die Begründung bezieht sich im wesentlichen auf das aktualisierte Stabilitätsprogramm, das die Bundesrepublik nach dem Stabilitätspakt 42 am 18. Dezember 2002 verabschiedet hatte. Danach belief sich das Staatsdefizit im Jahr 2002 auf 3 % des Bruttoinlandsprodukts In der Diagnose (7. Erwägungsgrund) wird vor allem geltend gemacht, dass in der Wachstumsphase der 90er Jahre in Deutschland kein Haushaltsspielraum aufgebaut wurde, mit dem ab 2001 Einnahmeausfälle auszugleichen gewesen wären. Gleichfalls am 21 Januar 2003 erging eine Empfehlung des Rates „zur frühzeitigen Warnung Frankreichs, um das Entstehen eine übermäßigen Defizits zu verhindern“43. Sie gehört zum Überwachungsverfahren der Koordinierung der Wirtschaftspolitik der Mitgliedstaaten nach Art. 103 Abs. 3 und 4 EGV, das gemäß Art. 103 Abs. 5 durch den Stabilitäts- und Wachstumspakt (VO Nr. 1466 / 97 v. 7. Juli 1997 a. a. O.) ausgebaut wurde und beruht auf Art. 6 Abs. 2 VO Nr 1466 / 97; danach setzt die „frühzeitige Warnung“ ein erhebliches Abweichen von dem mittelfristigen Haushaltsziel oder vom entsprechenden Anpassungspfad voraus. Dazu stellt der Rat fest, dass das gesamtstaatliche Defizit Frankreichs für 2002 um 1,4 Prozentpunkte über dem im französischen Stabilitätsprogramm ursprünglich festgesetzten Ziel liegen werde.
5. Überlegungen zur Reform Von Anfang an sind die Stabilitätskriterien des EG-Vertrags und die Vorkehrungen des Stabilitäts- und Wachstumspakts intensiv diskutiert und oft auch kritisiert worden. So ist die Grundsatzdebatte zwischen Fiskalismus und Monetarismus trotz 41 ABl L 34 / 16 vom 11. Februar 2003, Art. 1. Eine entsprechende Ratsentscheidung gegen Portugal datiert vom 5. November 2002, ABl L 322 / 30 v. 27. November 2002. 42 Art. 3 VO Nr. 1466 / 97 (s. oben). 43 ABl L 34 / 18 vom 11. Februar 2003.
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der deutlichen Entscheidung des EG-Rechts offenbar noch nicht beendet. Es ist hier nicht der Ort, diesen Streit aufzugreifen. Indessen kann an Beispielen gezeigt werden, dass auch im konkreten Detail Änderungen erwogen werden; allerdings sind definitive Resultate noch weit entfernt, so dass nur einige Trends und Argumentationslinien herausgegriffen werden können44.
a) Voraussetzungen Zunächst ist jedoch der rechtliche Rahmen für solche Reformen abzustecken. Die Vertragsbestimmungen selbst, insbesondere der maßgebliche Art. 104 EGV, können nur im Verfahren der Vertragsänderung modifiziert werden; es erfordert Einstimmigkeit und Ratifikation durch die Mitgliedstaaten. Die Änderung der Bestandteile des Pakts folgt dagegen den Regeln, die für ihren Erlass maßgeblich waren. So kann die Entschließung des Europäischen Rats durch einen einstimmigen gegenläufigen Akt des Europäischen Rats aufgehoben oder verändert werden. Die Verordnungen des Rats unterliegen den Verfahrensbestimmungen ihrer Ermächtigungsnormen 99 Abs. 5, 104 Abs. 14. Im Rahmen der zwingenden Bestimmungen des Stabilitätspaktes ist keine stillschweigende Änderung möglich; nur soweit die Regeln den Akteuren Spielräume gewähren, können sie in der Praxis die Grundsätze ihrer Anwendung modifizieren. b) Verfassungskonvent Von größtem Gewicht wären demgemäß Änderungen der Vertragstexte. Ort des Handlung ist insoweit zur Zeit der „Konvent für die Zukunft Europas“, in dem versucht wird, einen „Verfassungsvertrag“ für die Europäische Union zu konzipieren. Eines der Themen des Konvents ist die „Economic Governance“, die in Arbeitsgruppe VI abgehandelt wurde45. In ihrem Schlussbericht wird deutlich, dass ihre Aufgabe schwieriger war als die der meisten anderen Arbeitsgruppen; nur in wenigen Punkten wurde ein Konsens erzielt, im übrigen eine Liste kontroverser Meinungen vorgelegt, über die am Ende das Plenum des Konvents entscheiden muss; angesichts der Brisanz der Themen verwundert das nicht. Einigkeit bestand, dass die Aufteilung der Zuständigkeiten zwischen der Union (Geldpolitik) und den Mitgliedstaaten (Wirtschaftspolitik) beibehalten werden soll, mit der Notwendigkeit einer verbesserten Koordinierung der Wirtschaftspolitik. In der Geldpolitik soll der Status der EZB unverändert bleiben, offen blieb, ob Wachstum und Beschäftigung ihr als weitere Ziele vorgeschrieben werden sollen. Ebenso gab es keinen Konsens über Vorschläge, die Rolle der Kommission bei der 44 S. z. B. auch G. Giudice / A. Montaniono, Un pacte pour la stabilité et la croissance économiques en Europe, RMC 2002, S. 657, 659 f. 45 Schlussbericht vom 21. Oktober 2002, CONV 357 / 02 WG VI 17.
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Koordinierung der Wirtschaftspolitik (Art. 99 EGV) und im Verfahren bei übermäßigen öffentlichen Defiziten (Art. 104 EGV) zu verstärken. Auch eine Aufnahme des Stabilitäts- und Wachstumspakts in den Verfassungsvertrag wurde diskutiert, jedoch von der Arbeitsgruppe unter Hinweis auf den politischen Charakter des Instruments abgelehnt. Einzelne Vorschläge betrafen die Defizit-Kriterien, so die Einbeziehung struktureller Elemente und der „goldenen Regel“ zu öffentlichen Investitionen. Die Vorstellungen der Kommission betreffen zum Teil die gleichen Themen, die in der Arbeitsgruppe diskutiert wurden46. So soll die Kommission statt bloßer Empfehlungen an den Rat Vorschläge für die Grundzüge der Wirtschaftspolitik (Art. 99 Abs. 2 EGV) und für Frühwarnungen abgeben können; von ihnen könnte der Rat nur einstimmig abweichen (vgl. Art. 150 Abs. 1 EGV). Auch soll die Kommission selbst erste Warnungen übermitteln können. Diese Funktionen entsprechen der Aufgabe der Kommission nach der vertraglichen Systematik als Hüterin des Vertrags und zur Wahrung des Gemeinschaftsinteresses, so bei der Rechtsetzung, im Vertragsverletzungsverfahren und bei der Subventionsaufsicht. Schließlich soll ein Rat „Ecofin für die Eurozone“ mit Entscheidungsbefugnissen geschaffen werden. Zwar können die Minister der dem Währungsgebiet angehörenden Staaten sich schon jetzt gesondert treffen, aber in einer Entschließung des Europäischen Rates vom 13. Dezember 1997 wird der informelle Charakter solcher Tagungen betont und hervorgehoben, dass nur der Ecofin-Rat für die Koordinierung der Wirtschaftspolitik und für verbindliche Beschlüsse nach dem vertraglichen Verfahren zuständig ist47. Aus dem Europäischen Parlament wird darüber hinaus eine parlamentarische Beteiligung an der Koordinierung und ihrer Kontrolle gefordert48. c) Aufweichung der Kriterien (Investitionen)? In kritischen Äußerungen zur gegenwärtigen oder zukünftigen Handhabung der Verschuldungskontrolle wird oftmals die Gefahr ihrer Aufweichung beschworen. Dabei wird mitunter die Flexibilität schon der bestehenden Regeln übersehen, die im Ermessen des Rates bei seiner Entscheidung nach Art. 104 Abs. 6 EGV angelegt und selbst im Stabilitätspakt mit der (allerdings eingeschränkten) Möglichkeit der Berücksichtigung außergewöhnlicher Ereignisse anerkannt ist (s. oben). Auch werden immer wieder die Referenzwerte als Kriterien genommen. 46 Mitteilungen der Kommission zur institutionellen Architektur „Für die Europäische Union. Frieden, Freiheit, Solidarität“, KOM (2002) 728 endg. v. 4. Dezember 2002, S. 9 f. 47 Entschließung des Europäischen Rates vom 13. Dezember 1997 über die wirtschaftspolitische Koordinierung in der dritten Stufe der WWU und zu den Artikeln 109 und 109 b EGV, ABl C 35 / 1 v. 2. Februar 1998. 48 Arbeitsdokument des Ausschusses für Wirtschaft und Währung über die Weiterentwicklung der Europäischen Wirtschaftsunion und neue Perspektiven, 28. Mai 2002, PE 314.965.
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Als Beispiel aus der aktuellen Diskussion sei hier die Idee aufgegriffen, bei der Berechnung des öffentlichen Defizits die für investive Ausgaben aufgenommenen Kredite nicht zu berücksichtigen49. Kredite für Investitionen werden dabei als Alternative zu Ausgabenkürzungen und Steuererhöhungen für die Verminderung der Defizite empfohlen, die zur Schrumpfung der Wirtschaft führen könnten, während staatliche Investitionen die Konjunktur fördern und spätere Steuererträge den Haushalt künftig entlasteten. Dazu bietet sich ein Vergleich mit Art. 115 Abs. 1 Satz 2 GG an, der für das deutsche Recht die Summe der Ausgaben für Investitionen zum Maßstab für die zulässigen Einnahmen aus Krediten macht (s. dazu oben). Es ist zweifelhaft, ob das Gemeinschaftsrecht und der Stabilitätspakt oder ihre Interpretation für solche Vorstellungen Raum geben oder eine Vertragsänderung nötig wäre. Auch im EGV wird der Verschuldung für investive Ausgaben besondere Aufmerksamkeit geschenkt: Im Bericht an den Rat, den die Kommission nach Art. 104 Abs. 3 EGV zu erstellen hat, wenn ein Mitgliedstaat keines oder nur eines der Kriterien erfüllt, muss sie berücksichtigen, „ob das öffentliche Defizit die Ausgaben für Investitionen übertrifft“50. Damit schafft der Vertrag keine Ausnahme für die Zulässigkeit eines Defizits, das für Investitionen eingegangen wird, indessen muss solchen Bestandteilen des Kommissionsberichts ersichtlich irgend eine Bedeutung zukommen, ebenso wie den „sonstigen einschlägigen Faktoren“, welche die Kommission berücksichtigen muss. Offenbar werden durch diese Angaben dem Rat Fakten an die Hand gegeben, die er bei seiner Ermessensentscheidung nach Art. 104 Abs. 6 EGV einbeziehen muss51. Das bestätigt, dass dem Rat im Verfahren des Art. 104 EGV Spielräume für wirtschaftspolitische Erwägungen eingeräumt werden52, auch wenn im Stabilitätspakt Investitionen nicht erwähnt werden. – Eine Nichtberücksichtigung der Ausgaben für Investitionen schon bei der Berechnung eines Defizits durch die Kommission würde dagegen das Verschuldungskriterium selbst ändern; die Berichtspflicht der Kommission nach Art. 104 Abs. 3 Satz 1 EGV würde von vornherein nicht entstehen, und es bliebe nicht dem Rat überlassen, ob er die Investitionsziele akzeptieren will. Somit würde die Rechtfertigung des deficit spending Eingang in den Vertrag finden, die jetzt nur auf der Ebene der Ratsentscheidung möglich ist. 49 Vgl. dazu G. Giudice / A. Montaniono, Un pacte pour la stabilité et la croissance économiques en Europe, RMC 2002, S. 657, 660. 50 Für die Definition des Begriffs „Investitionen“ verweist das Protokoll über das Verfahren bei einem übermäßigen Defizit (Prot.11) auf das Europäische System volkswirtschaftlicher Gesamtrechnungen (Art. 2, 3. Spiegelstrich). 51 S. dazu M. Schulze-Steinen, Rechtsfragen zur Wirtschaftsunion, Schriftenreihe des Europa-Kollegs Hamburg Bd. 17, 1997 / 98, S. 224 f.; U. Häde, in: Callies / Ruffert, Komm. zu EU-Vertrag und EG-Vertrag, 1999, Art. 104 Rn. 36 ff.m. Nachw. 52 Diese Flexibilität erscheint als durchaus sinnvoll; deshalb kann nicht von vornherein von einer möglichen „Aufweichung“ der Kriterien gesprochen werden; vgl. aber H. Kortz, Die Entscheidung über den Übergang in die Endstufe der WWU, Schriftenreihe des EuropaKollegs Hamburg Bd. 9, 1996, S. 104, zugleich mit zutreffendem Hinweis gegen eine zu starre Beurteilung der jeweiligen Situation.
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Zur Diskussion über die Berücksichtigung von Investitionen, sei es bei der Berechnung des Defizits, sei es bei seiner Bewertung, ist anzumerken, dass hier Vorstellungen der Fiscal Policy aktiviert werden, die dem Konzept des EG-Vertrags nicht adäquat sind, während sie für Art. 115 GG der konzeptionelle Ausgangspunkt und Hintergrund sind. Es ist eine prekäre Frage, wie weit bei der Handhabung der Normen dieser Kontext zum Tragen kommen muss. Diese Frage könnte sich in beiden Rechtsordnungen jeweils in entgegengesetzter Richtung stellen: im Grundgesetz zur Überwindung der Fiscal Policy, im Gemeinschaftsrecht zu ihrer Reaktivierung.
IV. Nutzen und Nachteil kodifizierter Wirtschaftspolitik Die Festschreibung wirtschaftspolitischer Rezepte in verbindlichen Rechtsnormen hat sicherlich einige verlockende Aspekte. Sie verleiht Regeln, die sonst nur durch ihre Überzeugungskraft wirksam sind, Ansehen und Würde des Rechts, entzieht sie dem täglichen Streit, sie verwandelt Fehler in Rechtsbruch, vielleicht mit der Möglichkeit von Sanktionen, sie verspricht Verlässlichkeit und am Ende auch ökonomischen Erfolg. Dabei ist auch in diesen Hinsichten von vornherein zu differenzieren: Zielbestimmungen müssen auf ihren programmatischen Gehalt reduziert werden, die Bereitstellung von Instrumenten besagt noch nichts über ihre Anwendung, und bei Bestimmungen über ihren Einsatz sind die Grade der Verdichtung unterschiedlich, von ziffernmäßiger Festlegung, unbestimmten Begriffen bis zur Einräumung breiten oder engen Ermessens oder von Spielräumen für politische Gestaltung.
1. Richtigkeit und Zeitablauf Hier soll indes zunächst die grundsätzliche Frage der Richtigkeit wirtschaftspolitischer Regeln aufgeworfen werden, die Voraussetzung für ihre Verrechtlichung sein sollte. Ein Rechtssatz, der eine falsche Regel juristisch festschreibt, kann jedenfalls keine positive Wirkung entfalten, sondern nur Schaden anrichten. Vielleicht kann aber davon ausgegangen werden, dass der Gesetzgeber, vor allem der Verfassungsgeber, nur wissenschaftlich fundierte oder mindestens vertretbare Regeln akzeptiert und umsetzt. Alle Versuche dieser Art müssen indes mit der Spannung rechnen zwischen der Vielfalt und Bedingtheit ökonomischer Entwicklungen und wissenschaftlicher Erkenntnisse sowie politischer Motivationen einerseits und anderseits der Starrheit rechtlich festgezurrter Bedingungen, die durch Spielräume und Ermessen nicht immer genügend zu flexibilisieren sind. So bleibt das Problem der Vergänglichkeit wissenschaftlicher Erkenntnisse; sie können beispielsweise durch den Fortschritt der Wissenschaft überholt werden, oder es können Veränderungen im tatsächlichen Umfeld dazu führen, dass einst zutreffende Thesen sich als falsch erweisen, nicht geeignet, die neue Situation zu bewältigen.
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Das Wirtschaftsrecht bietet viele Beispiele für Gesetze und internationale Verträge, deren ökonomisches Konzept vom Gang der Dinge überholt wurde und obsolet geworden ist. Einige Beispiele können dieses Phänomen in unterschiedlichen Konstellationen illustrieren. – Der Fall der Haushaltsregeln des Grundgesetzes zur Staatsverschuldung und des Stabilitäts- und Wachstumsgesetzes wurde schon oben geschildert, einschließlich der Stellungnahme des BVerfG im Urteil vom 18. 4. 1989. Hier war es eindeutig die Fortentwicklung wirtschaftswissenschaftlicher Erkenntnisse, welche die Bestimmungen obsolet werden ließ. Der Paradigmenwechsel wurde weithin anerkannt, jedenfalls in Deutschland, und auch hier nicht ohne Ausnahmen. Die Bestimmungen wurden nicht ersetzt oder aufgehoben, konnten aber ohne Rechtsverstoß außer Anwendung bleiben. Im übrigen hat auch das BVerfG sich zurückhaltend zu einer weiteren Festlegung in dem von Art. 115 Abs. 1 S. 3 GG geforderten Bundesgesetz für eine nähere Regelung geäußert: „Es mag sein, dass eine solche gesetzliche Regelung angesichts der Unbestimmtheit und der dynamischen Komponente des Begriffs gesamtwirtschaftliches Gleichgewicht sowie der begrenzten Vorhersehbarkeit einer in die Weltwirtschaft verflochtenen nationalen Volkswirtschaft in bestimmtem Umfang über verfahrensmäßige Vorkehrungen einschließlich der Festlegung von Begründungspflichten nicht wird hinausgehen können.“53 – In der Europäischen Integration könnte der Vertrag über die Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl vom 18. 4. 1951 genannt werden, von dem zahlreiche Bestimmungen schon vor seinem Auslaufen am 23. 7. 2002 nicht mehr praktikabel waren, denen die Knappheit der Produkte und das machtpolitische Potential der Schwerindustrie zugrunde lag. – Eine besondere Konstellation betraf die Internationale Währungsordnung. Im Übereinkommen über den Internationalen Währungsfonds von 1944 (Abkommen von Bretton Woods) waren im Art. IV die Regel fester Paritäten in Gold oder in US-Dollar, die Pflicht zur Intervention bei Überschreiten der Bandbreite von 1% und die Zulässigkeit von Paritätsänderungen nur zur Behebung einer grundlegenden Störung des Gleichgewichts rechtsverbindlich vorgeschrieben. Anfang der siebziger Jahre brach dieses System fester Wechselkurse zusammen. Die USA konnten die Golddeckung des Dollars nicht halten, und zugleich trat ein Wandel in der Wirtschaftstheorie ein: Das Dogma von den festen Paritäten wurde weithin aufgegeben, seither gelten flexible Wechselkurse als geeignete Regel für das internationale Währungssystem. Sie wurden rechtlich ermöglicht durch die Neufassung von Art. IV des IWF-Abkommens vom 30. 4. 1976, das neben Festkursen und Gemeinschaftsregelungen auch „andere Wechselkursregelungen nach Wahl des Mitglieds“ zulässt. Juristisch interessant ist die Zwischenzeit: Die ursprüngliche Fassung von Art. IV war nicht aufgehoben worden, war also im Grunde noch geltendes Recht, es bestand indessen Einigkeit, dass 53
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seine Regeln nicht mehr befolgt werden mussten. Eine juristisch befriedigende Erklärung für dieses Interim gibt es nicht, sie bietet also ein Beispiel für die Bedingtheit einer Rechtsbindung im Wirtschaftsrecht, die durch die Ereignisse und zugleich durch neue Erkenntnisse überholt wurde. – Eines der Kriterien der Europäischen Währungsunion für die Teilnahme an der gemeinsamen Währung ist die „Einhaltung der normalen Bandbreiten des Wechselkursmechanismus des Europäischen Währungssystems (EWS) seit mindestens zwei Jahren“ (Art 121 Abs. 1 EGV, dritter Spiegelstrich): Beim Abschluss des Vertrags von Maastricht 1992 betrug die „normale Bandbreite“ + / -2,25%; schon am 1. 8. 1993 wurde sie allgemein auf + / - 15% erweitert, weil die Währungskrise anders nicht zu meistern war. Durch diese Veränderung wurde die rechtliche Festlegung des Kriteriums strapaziert, sie war nur mit großen Anstrengungen der Interpretation zu bewältigen54. Für die künftigen Beitrittsländer kompliziert sich die Lage weiter: Das EWS wurde in der Währungsunion durch einen Wechselkursmechanismus abgelöst, in dem die „Standardbandbreite“ + / - 15% beträgt55.
Die Beispiele sollen die Problematik der Übernahme ökonomischer Thesen in die Rechtsordnung belegen; sie berechtigen nicht, die Rechtswirksamkeit solcher Rechtssätze generell zu relativieren. Auch ein Gesetz, das von der Entwicklung überholt worden ist, verliert dadurch nicht seine Geltungskraft und muss befolgt werden, bis es aufgehoben oder geändert wird. Bis dahin müssen die Möglichkeiten der Auslegung und der gesetzlichen Spielräume genutzt werden. Nur in extremen Fällen und mit juristisch stichhaltiger Begründung darf anderes gelten. Alles andere beschädigt das Vertrauen in die Rechtsordnung. Dagegen soll die Regelbindung der gesamtwirtschaftlichen Steuerung Verlässlichkeit schaffen; schon die Diskussion über die Einhaltung der Kriterien oder die Aufweichung des Stabilitätspakts wird in der Öffentlichkeit mit Zweifeln an der Stabilitätspolitik quittiert56. Es versteht sich, dass jede Gesetzgebung unter dem Vorbehalt neuer Erkenntnisse steht; nur wenige Verfassungssätze, besonders auf dem Feld der Menschenrechte und Grundfreiheiten können den Anspruch auf Dauerhaftigkeit erheben (vgl. Art. 79 Abs. 3 GG). Die hier diskutierte Wirtschaftsgesetzgebung zeichnet sich indessen dadurch aus, dass in ihr wissenschaftliche und zum Teil auch politische Thesen mit Gesetzeskraft ausgestattet werden, deren Bedingtheit durch wissenschaftliche, politische und tatsächliche Voraussetzungen und Entwicklungen von 54 Vgl. H. Kortz, Die Entscheidung über den Übergang in die Endstufe der WWU, Schriftenreihe des Europa-Kollegs Hamburg, Band 9, 1996, S. 119 ff. 55 Entschließung des Europäischen Rates vom 16. Juni 1997 über die Einführung eines Wechselkursmechanismus in der 3. Stufe der WWU, ABl C 236 / 5 v. 2. August 1997. 56 Dieser Aspekt wird in dem Beitrag „Der Zusammenhang zwischen Geld- und Finanzpolitik im Euro-Währungsgebiet“, EZB Monatsbericht Februar 2003, S. 41, 44 besonders betont.
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Anfang an sicher ist. Als Alternative steht zur Wahl, die Entscheidung über die Instrumente und über ihren Einsatz jeweils im politischen Entscheidungsprozess durch die zuständigen Staatsorgane auf der Grundlage der konkreten Konstellation und nach dem jeweiligen Stand der Erkenntnisse zu treffen. Das schließt nicht aus, dass Rahmen und Eckwerte festgelegt werden; dabei kommt besonders der Notwendigkeit der Festlegung von Verfahrensregeln große Bedeutung zu; in ihnen sind z. B. Mitwirkungsrechte, Konsultationen, Anhörungen und Begründungspflichten festzulegen57. Inhaltlich müssen indes den Akteuren flexible Spielräume eingeräumt werden, die ihre Handlungsfähigkeit auch im Fall neuer Konstellationen sichern. Das könnte im Fall des Stabilitäts- und Wachstumspakts in der Wirtschaftsund Währungsunion zweifelhaft sein.
2. Verzicht auf Festlegung Ein hervorragendes Beispiel dafür, dass es sinnvoll sein kann, die Gestaltungsfähigkeit der wirtschaftspolitischen Akteure nicht durch enge Vorgaben einzuschnüren, bietet wiederum das Bundesverfassungsgericht in einer Frage von grundlegender Bedeutung: Das Gericht hat kluge Zurückhaltung geübt, indem es eine Festlegung der Wirtschaftsverfassung der Bundesrepublik auf ein bestimmtes Modell, etwa auf die soziale Marktwirtschaft, wie sie in der Literatur immer wieder vertreten wird, standhaft abgelehnt hat58. Das Grundgesetz ist wirtschaftspolitisch neutral; die Gestaltung der Wirtschaftsordnung ist Sache des Gesetzgebers, der dabei die Verfassung, insbesondere die durch die Grundrechte gezogenen Grenzen zu beachten hat59. Die Alternative: Rezeption einer Wirtschaftstheorie in die Verfassung, liefert weitere Argumente gegen eine zu enge Bindung der politischen Staatsorgane an wirtschaftstheoretische Vorgaben. Sie würde schließlich dazu führen, dass die Gerichte nicht mehr aus dem Gesetz zu judizieren hätten, sondern vielleicht aus dem Lehrbuch von Walter Eucken. In diesem Zusammenhang ist festzustellen, dass auch der Gesetzgeber der Europäischen Währungsunion in einem wesentlichen Punkt keine Festlegung getroffen hat: Der Vertrag enthält keine unmittelbare Vorgabe eines konkreten Stabilitätsziels, etwa in Form zulässiger Inflationsraten; vielmehr verlagert er mit den Haushaltskriterien seine Forderungen auf die mitgliedstaatliche Haushaltspolitik. Das gibt Anlass zu einigen Bemerkungen; vielleicht öffnet es auch eine weitere Perspektive auf die Haushaltskriterien.
57 Die eventuelle Notwendigkeit verfahrensmäßiger Vorkehrungen wird auch vom BVerfG in seiner Entscheidung zur Staatsverschuldung hervorgehoben, BVerfGE 79, 311 (356). 58 Zur rechtlichen Relevanz zur Proklamierung des Grundsatzes „einer offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb“, z. B. in Art. 4 EGV vgl. G. Nicolaysen (Fn. 21), S. 319 f. 59 BVerfGE 50, 290 (337) (Mitbestimmung); st. Rspr. seit BVerfGE 4, 7 (17 f.) (InvestitionshilfeG).
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Ihre Wirkung auf die Stabilität ist einerseits nicht sicher60 und ist allenfalls mittelbar, während für die unmittelbare Steuerung die Geldpolitik der Zentralbank maßgeblich ist61. Anderseits reicht sie in ihrer Wirkung auf andere Elemente der Gesamtwirtschaft weiter (s. sogleich). Danach haben die Haushaltskriterien durchaus ihren eigenen Stellenwert in den Strukturen der Stabilitätspolitik. Die ziffernmäßige Festlegung der Haushaltskriterien und nicht des Stabilitätsziels hat bemerkenswerte Folgen für die öffentliche Wahrnehmung: In den Medien und politisch wird weniger über Erfolg und Misserfolg für die Preisstabilität diskutiert, sondern nur über die Einhaltung der Haushaltskriterien und über den Stabilitätspakt. Typisch dafür ist die aktuelle öffentliche Debatte über die Aufweichung oder sogar die Abschaffung des Stabilitätspakts. So findet sich in ein und derselben Ausgabe der Frankfurter Allgemeinen Zeitung62 großgedruckt die Überschrift „Dem Stabilitätspakt droht der Dammbruch“; im Text werden dann allerdings auch die Finanzminister zitiert: Inflationsgefahren seien nicht in Sicht, und zwei Seiten danach steht eine kleine Notiz: „Inflation schwächt sich ab“; danach war der Verbraucherpreisindex in Deutschland, also dem Land mit einer prekären Staatsverschuldung, im April 2003 gegenüber dem Vorjahr nur um 1% gestiegen, gegenüber dem Vormonat ergab sich sogar eine Senkung von 0,3%; auch für die ganze Eurozone war keine Inflationsgefahr sichtbar, eher wurde eine drohende Deflation diskutiert. Zugleich hatte der Außenwert des Euro mit einem Kurs von 1,1624 Dollar den höchsten Stand seit Januar 1999 erreicht63. Dabei ist allerdings einzuräumen, dass übermäßige öffentliche Defizite auch außer der Gefährdung der Stabilität andere konkrete Gefahren für die Gesamtwirtschaft bewirken können, so etwa die Zinsbelastung des Haushalts und die Verschiebung von Lasten auf zukünftige Generationen, die am Ende mit Steuererhöhungen zu finanzieren sind, sowie die Steigerung des Zinsniveaus mit einer Beeinträchtigung privater Investitionen64. Wenn aber in den politischen Begründungen und in der öffentlichen Diskussion zum Stabilitätspakt und zu Art. 104 EGV deutlich das Stabilitätsziel und der Zusammenhang mit der Währungsunion im Vordergrund stand (in Deutschland wurde der „Verlust der DM“ weithin mit dem Verlust einer stabilen Währung gleichgesetzt), so eröffnet sich mit diesen weiteren Begründungen ein viel breiteres Spektrum der gemeinschaftsrechtlichen Einflussnahme 60 P. Bofinger, Disziplinierung der öffentlichen Haushalte durch den Markt – nicht durch starre Regeln oder Bürokraten, Wirtschaftsdienst 1997, S. 12 f.: „Ein solcher Zusammenhang ist . . . weder theoretisch noch empirisch gegeben“; s. auch R. Vaubel, Kein Pakt für Preispolitik, Wirtschaftsdienst 1997, S. 10, 11. 61 Vgl. R. Vaubel ebenda: „Die Stabilität einer Währung hängt letztlich von der Geldpolitik, nicht von der Haushaltspolitik ab“. 62 FAZ vom 14. Mai 2003. 63 Das gleiche galt für den Kurs in Yen mit 135,49; gleichfalls nach der FAZ vom 14. Mai 2003 („Hart auf hart“). 64 Ausführlich F. Kirchhof, Der notwendige Ausstieg aus der Staatsverschuldung, DVBl. 2002, S. 1569, mit scharfer Kritik am Europäischen Stabilitäts- und Wachstumspakt, S. 1573.
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auf die mitgliedstaatliche Haushaltspolitik, wie es denn auch in der zusätzlichen Bezeichnung als „Wachstumspakt“ zum Ausdruck gekommen ist. Die Stabilität der Währung ist dementsprechend vor allem der Geldpolitik der unabhängigen Zentralbank anvertraut. In der geldpolitischen Strategie der Europäischen Zentralbank spielt daher die Preissteigerungsrate eine Rolle. Die Preisstabilität wird quantitativ definiert; ursprünglich wurde ein Anstieg des Harmonisierten Verbraucherpreisindex von „unter 2%“ gegenüber dem Vorjahr genannt; im Mai 2003 hat der EZB-Rat erklärt, mittelfristig auf eine Preissteigerungsrate von „nahe 2%“ abzuzielen65. Diese quantitative Definition dient in erster Linie der Transparenz der Geldpolitik der EZB, sie ist rechtlich ohne Bedeutung. Dazu wird ein Referenzwert für das Geldmengenwachstum (Geldmenge 3 M) bekanntgegeben, der gleichfalls nicht verbindlich ist, sondern nur als Richtwert zur Bewertung der monetären Entwicklung dient. Die Deutsche Bundesbank hat übrigens nur ein Geldmengenziel bekanntgegeben; eine ziffernmäßige Definition der Preisstabilität wurde ihr weder gesetzlich vorgegeben, noch hat sie sich in irgendeiner Weise darauf festgelegt.
3. Gelungene Festlegung Ein Beispiel für eine erfolgreiche Kombination fester und flexibler Kriterien, strikter Verfahrensregeln und einem präzisem Zeitplan mit einer Öffnung für Abweichungen bieten die Bestimmungen für den Übergang in die dritte Stufe der Wirtschafts- und Währungsunion (Art. 121 EGV)66. Effektiv war vor allem der Druck auf die Mitgliedstaaten, der von der Festlegung der Kriterien und den für ihre Erfüllung gesetzten Fristen ausging. Dieser Fahrplan mit rechtlich festen Daten und definierten Voraussetzungen schränkte zwar die Möglichkeiten ein, unvorhergesehene wirtschaftliche und politische Entwicklungen zu berücksichtigen. Wenn man trotzdem einen Zeitpunkt für die dritte Stufe mit der rechtlichen Qualität des Gemeinschaftsrechts und der praktischen Unabänderlichkeit fixiert hat, so bedurfte das besonderer Gründe. Sie lassen sich wie folgt zusammenfassen: – Rechtsnormen können die Entwicklungen verstetigen, Sicherheit und Planbarkeit schaffen, in der Währungspolitik gefährliche erratische Störungen vermeiden helfen. – Sicherheit war in besonderem Maße nötig für die aufwendigen Vorbereitungen auf die Währungsumstellung in der Wirtschaft, z. B. bei den Banken und Versicherungen, aber auch allgemein im Vertrags- und Gesellschaftsrecht. – Rechtsnormen können im Sinne normativer Planziele Entwicklungen steuern: Die Zeitspanne bis zum Beginn der Währungsunion war ausgefüllt mit wirtPressemitteilung der EZB vom 8. Mai 2003. Dazu eingehend H. Kortz, Die Entscheidung über den Übergang in die Endstufe der WWU, Schriftenreihe des Europa-Kollegs Hamburg, Band 9, 1996. 65 66
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schaftspolitischen Aufgaben, deren Erledigung Voraussetzung für den Eintritt war, als wichtigstes Konvergenz und Stabilität. Insoweit wird durch einen Termin Druck ausgeübt. Das gilt z. B. für die Erfüllung der Konvergenzkriterien durch die Mitgliedstaaten. Der Hinweis auf die Rechtsverbindlichkeit des Termins war dabei hilfreich. – Die Einigung auf einen festen, rechtlich verbindlichen Zeitplan verarbeitete die Erfahrung mehrfacher vergeblicher Versuche zur Schaffung einer Europäischen Währungsunion seit 1968, die in rechtlich unverbindlicher Planung steckenblieben. Es lohnt sich heute noch nachzulesen, wie im Werner-Plan von 1971 in knappen Absätzen ein zweistufiges Konzept mit ganz wenigen Fixpunkten skizziert wurde, und diesen vergeblichen Anlauf mit dem ausgefeilten Regelwerk des Maastricht-Vertrags und seiner Protokolle zu vergleichen. – Im Ergebnis war der Fahrplan erfolgreich. Er hat in Deutschland auch die Verfassungsbeschwerden einiger „Euroskeptiker“, das „Maastricht-Urteil“ des BVerfG und die erbitterte Verschiebungsdebatte überstanden67.
4. Demokratiekritik Als häufiges Argument für eine rechtliche Fixierung politökonomischer Grundsätze wird das Ziel genannt, Entscheidungen „der Politik“ oder dem „Spielball der Politik“ zu entziehen“. Gerade im Zusammenhang mit Kreditaufnahme und Staatsverschuldung besteht die Vorstellung, Regierungen und Parlamente neigten zum Schuldenmachen für die Finanzierung öffentlichkeitswirksamer Vorhaben, kurzfristig sichtbaren Erfolgen würde die wirtschaftliche Vernunft geopfert, die schädlichen Folgen einer Kreditfinanzierung für die Zukunft zu bedenken; Wahlgeschenke zum Machterhalt sind in dieser Hinsicht eine spezifische Erscheinung. Besonders deutlich hat das BVerfG im Maastricht-Urteil das Phänomen beschrieben und zugleich die Unabhängigkeit von Zentralbanken zu rechtfertigen versucht68: Die im Vertrag von Maastricht garantierte Unabhängigkeit der Europäischen Zentralbank berühre das Demokratieprinzip; dessen Modifikation im Dienste der Sicherung der Währungsstabilität sei indes vertretbar, weil eine unabhängige Zentralbank – wie in der deutschen Rechtsordnung erprobt – den Geldwert eher sichere „als Hoheitsorgane, die ihrerseits in ihren Handlungsmöglichkeiten und Handlungsmitteln wesentlich von Geldmenge und Geldwert abhängen und auf die kurzfristige Zustimmung politischer Kräfte angewiesen sind“69. Wenn der Befund des Bundesverfassungsgerichts zutrifft, so erscheint doch seine demokratietheoretische Bewertung unzulänglich, besonders auch im Hinblick auf die weitere Bemerkung des BVerfG, diese Begründung lasse sich nicht auf andere Politikbereiche 67 Es sei nur an die Erklärung von 155 deutschen Wirtschaftswissenschaftlern vom Februar 1998 erinnert: „Der Euro kommt zu früh“, FAZ vom 9.2. 1998. 68 BVerfGE 89, 155 (208). 69 Hervorhebung v. Verf.
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übertragen. Die Diskussionen über die Begrenzung der Staatsverschuldung zeigen, dass solche Begründungen weithin gerade auf diesen Politikbereich übertragen werden. Im gemeinschaftsrechtlichen Korsett mitgliedstaatlicher Haushaltspolitik in Art. 104 EGV und im Stabilitäts- und Wachstumspakt wird dementsprechend die Spannung sichtbar zwischen demokratischen Gestaltungsrechten der Parlamente und ihrer Begrenzung durch Regelungen, die als „richtig“ erkannte politökonomische Thesen rechtlich verbindlich machen70. Die angesprochenen Fragen führen in eine Problematik, die hier nicht ausgelotet werden kann. Im folgenden sollen nur einige Aspekte pro und contra in Stichworten skizziert werden: – Wissenschaftlich und empirisch fundierte Richtigkeit könnte einen Rechtssatz legitimieren, der das Parlament bindet. Anderseits gibt es kaum einen sicheren Prüfstein, an dem diese Voraussetzung mit genügender Zuverlässigkeit gemessen werden könnte. Auch sind haushaltspolitische Prioritäten oft Gegenstand politischer Gestaltung und politisch umstritten. – Die Festlegung auf feste Kriterien erfolgt ihrerseits im Prozess demokratischer Willensbildung; es handelt sich also um einen Verzicht der zuständigen Organe, nicht um Fremdbestimmung. Es bleibt offen, ob und wie weit ein solcher Verzicht verfassungsrechtlich zulässig ist; das gilt besonders, wenn Änderungen erschwert sind, z. B. durch die Erfordernisse gemeinschaftsrechtlicher Rechtsetzung. – Der demokratisch legitimierte Gesetzgeber ist auch sonst durch Verfassungsrecht begrenzt, z. B. durch die Grundrechte. Insofern wäre eine verfassungsoder gemeinschaftsrechtliche Festlegung, z. B. auf Geldwertstabilität vergleichbar. Anderseits ist wohl zu unterscheiden, ob dem hoheitlichen Handeln grundrechtliche Grenzen gezogen oder Inhalte vorgeschrieben werden. Wirtschaftliche Zielbestimmungen sind überdies nur von begrenzter Aussagekraft. – Die Entgegensetzung von Sachlichkeit und Politik ist problematisch und vernachlässigt die demokratischen Perspektive. Die Definition des Gemeinwohls ist Resultat von Entscheidungsprozessen demokratischer Willensbildung, und den politischen Parteien wird im Grundgesetz (Art. 21) die Aufgabe zugeschrieben, bei der politischen Willensbildung des Volkes mitzuwirken. Mit Zweifeln an der Möglichkeit politischer Gestaltung auf demokratischer Grundlage wird dem Staat oder „der Politik“, also Parlamenten und Regierungen letztlich die Fähigkeit abgesprochen, das Gemeinwohl zu definieren; Machterhalt erscheint als oberste Maxime. 70 Ähnlich M. Herdegen, Informalisierung und Entparlamentarisierung politischer Entscheidung als Gefährdung der Verfassung? In VVDStRL Bd. 62, 2003, S. 7 (23 f.); s. auch schon L. Osterloh, Staatsverschuldung als Rechtsproblem? NJW 1990, S. 145 (150 f.) mit der Kritik an der verfassungsgerichtlichen Festschreibung des haushaltssytematischen Investitionsbegriffs als systemwidrigem Versuch, Fragen richtiger Wirtschafts- und Finanzpolitik zu verrechtlichen.
Staatliche Finanzgewalt und Strafgewalt Von Fritz Ossenbühl Zu den beherrschenden Themen, die das bisherige Lebenswerk des Jubilars kennzeichnen, gehören zahlreiche Monographien und Abhandlungen zu finanzrechtlichen Fragen, die aus verfassungsrechtlicher Sicht angegangen und erörtert werden. Es liegt deshalb nahe, in einer Peter Selmer gewidmeten Festschrift einige Gedanken auszubreiten, die sich diesem großen Themenbereich der Finanzgewalt des Staates aus verfassungsrechtlicher Sicht zuordnen lassen.
I. Einleitung Das Thema „Staatliche Finanzgewalt und Strafgewalt“ mobilisiert in erster Linie Assoziationen, die in die Richtung gehen, die Finanzgewalt durch die Strafgewalt verstärkt und bewehrt zu sehen: Bestrafung desjenigen, der sich unrechtmäßig der staatlichen Finanzhoheit, insbesondere seinen Steuerpflichten zu entziehen sucht. Doch dieser Aspekt des Themas ist hier nicht gemeint. Vielmehr werden die Überlegungen in die entgegengesetzte Richtung geführt und die Frage gestellt, ob und inwieweit die staatliche Finanzgewalt der Strafgewalt im Wege stehen kann. Mit dieser Frage gelangt man auf relativ dunkles Gelände, auf dem die Praxis vor heikle Entscheidungen gestellt wird. Um das Thema noch näher zu bezeichnen: es geht darum, ob der Staat die mittels seiner Finanzgewalt erlangten Kenntnisse einsetzen muss, um Schäden abzuwenden, die Bürger, ohne solche staatlichen Informationen, zu erleiden haben. Anlass für solche Überlegungen bietet die Flowtex-Affäre, die in jüngerer Zeit mehrfach die Tagespresse beschäftigt hat1. Die Bedeutung dieses ehemaligen Vorzeige-Unternehmens des Landes BadenWürttemberg mag daraus entnommen werden, dass in einer zeitgeschichtlichen Fotoausstellung des Landes Baden-Württemberg im „Haus der Geschichte“ in Stuttgart auch Fotos der Flowtex-Gründer Schmieder und Kleiser zu sehen sind, die auf einem Firmenprospekt werben: „Wir setzen auf ganzheitliche Lösungen“2. Beide sind inzwischen wegen Betruges zu langjährigen Freiheitsstrafen verurteilt worden. Das von ihnen jahrelang mit Luftgeschäften nicht vorhandener Horizontalbohr1 2
FAZ vom 5. Februar 2003 Nr. 30, S. 4; vom 21. Februar 2003 Nr. 44 S. 12. FAZ vom 14. Dezember 2002 Nr. 291 S. 8.
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maschinen betriebene Schneeballsystem hatte einen Schaden von mehreren Milliarden Deutsche Mark angerichtet. Im Strafprozess hatten die Firmengründer schwere Beschuldigungen gegen Beamte der Finanzbehörden erhoben, die seit mindestens 1996 das Schneeballsystem erkannt, aber nicht offenbart hätten. Die Flowtex hatte demgegenüber jahrelang für ihre „lukrativen“ Luftgeschäfte dem Land Baden-Württemberg gewaltige Summen an Steuern gezahlt, die jetzt vom Insolvenzverwalter wieder zurückverlangt werden, weil diesen Geschäften kein realer wirtschaftlicher Hintergrund zugrunde lag. Geschädigte sind mehrere Hundert Unternehmen und Kreditinstitute, von denen einige inzwischen eine Amtshaftungsklage gegen das Land Baden-Württemberg erhoben haben3. Aus der Sicht der geschädigten Unternehmen und Kreditinstitute stellt sich die Frage, ob die Finanzbehörden des Landes Baden-Württemberg verpflichtet waren, Verdacht oder Kenntnisse über ein betriebenes Schnellballsystem zu offenbaren, wenigstens der Staatsanwaltschaft mitzuteilen oder sogar die Öffentlichkeit zu informieren, um weiteren Schaden von Geschäftspartnern abzuwenden. Muss nicht ein Staat, zu dessen ureigener Tätigkeit, wie wir seit einiger Zeit wissen, auch die Information der Bevölkerung über verdorbene Lebensmittel 4, glykolhaltige Weine5 und gefährliche Jugendsekten6 gehört, zumindest in gleicher Weise verpflichtet sein, die Bevölkerung vor Wirtschaftskriminellen zu warnen, und zwar zur rechten Zeit? Was darf, ja muss der Staat an durch die Steuerverwaltung erworbenem Amtswissen für sich behalten, was darf er offenbaren, was muss er offenbaren? Dies sind die Fragen, die im Folgenden im Vordergrund stehen sollen. Bleibt nur die Frage: Was hat das mit der Strafgewalt des Staates zu tun? Der Zusammenhang wird dadurch hergestellt, dass sich die Offenbarungsfrage dahin konkretisieren lässt, ob und unter welchen Voraussetzungen die Finanzbehörden verpflichtet sind, gegenüber der Staatsanwaltschaft den Verdacht einer strafbaren Handlung mitzuteilen. Besteht eine solche Informationspflicht gegenüber der Staatsanwaltschaft, ist praktisch auch die Öffentlichkeit informiert, nicht nur weil die zunehmende Neigung der Staatsanwaltschaften, möglichst früh die Medien zu informieren, bedenklich zugenommen hat, sondern auch strafprozessuale Maßnahmen wie Durchsuchungen und Inhaftierungen stattfinden, die der Öffentlichkeit bekannt werden und bei den Betroffenen Alarmsignale auslösen. Die Finanzgewalt des Staates ist um der Unversehrtheit der staatlichen Einnahmen willen in mancher Hinsicht rechtsstaatlich sozusagen immunisiert. Zum einen verschließt das geheiligte Institut des Steuergeheimnisses Amtwissen in der Brust Vgl. Fn. 1. Vgl. H. Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, 13. Aufl., 2000, § 15 Rn. 8 ff. 5 BVerfGE 105, 252; dazu P. M. Huber, Die Informationstätigkeit der öffentlichen Hand – ein grundrechtliches Sonderregime aus Karlsruhe? JZ 2003, S. 290; H. Bethge, Zur verfassungsrechtlichen Legitimation informalen Staatshandelns der Bundesregierung, Jura 2003, S. 327. 6 Wie vorige Fn. 3 4
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der Finanzbeamten. Die Folge ist, dass die rechte Hand des Staates weiß, was die linke nicht weiß, aber wissen müsste, um ihrer Aufgabe nachkommen zu können. Der Rechtsstaat muss also um der Finanzen willen in gewisser Weise auf dem Rechts-Auge blind bleiben. Auch ist der Steuerstaat ethisch indifferent. Für ihn zählt nur die Ökonomie, gleichgültig wie sie sich ethisch darstellt. Deshalb kassieren nicht nur die Kirchen, sondern auch der Staat, bestätigt durch das Bundesverfassungsgericht7, Steuern vom Dirnenlohn, wobei allerdings dieser Fall angesichts der zunehmenden Legalisierung der Prostitution ein Beispiel aus der Mottenkiste zu werden beginnt. § 40 AO bestimmt, dass es für die Besteuerung unerheblich ist, ob ein Verhalten, das den Tatbestand eines Steuergesetzes ganz oder zum Teil erfüllt, gegen ein gesetzliches Gebot oder Verbot oder gegen die guten Sitten verstößt. Der Steuerstaat ist also ethisch und strafrechtlich blind, außer es geht, wie wir noch sehen werden, um Steuerstraftaten; aber es ist derselbe Staat, der im Grundgesetz auch als Rechtsstaat ausgewiesen ist, dem in erster Linie die Aufgabe zukommt, seine Bürger vor Schäden zu bewahren, die innere Sicherheit zu gewährleisten, zu der auch und vor allem Schutz vor dem kriminellen Mitmenschen, dem homo homini lupus, gehört. II. Finanzbehörde und Staatsanwaltschaft Wie einleitend angedeutet, geht es in diesem Beitrag um den Informationsfluss zwischen Finanzbehörde und Staatsanwaltschaft. Insoweit sei vorab bemerkt, dass zwischen beiden Behörden vielfältige und differenzierte rechtliche Beziehungen bestehen, die ihre Ursache darin haben, dass der Finanzbehörde eine selbständige Befugnis zur Ermittlung von Steuerstraftaten zusteht (§ 386 Abs. 2 AO) und insoweit der Ermittlungsauftrag der Staatsanwaltschaft nicht aufgehoben, wohl aber das Ermittlungsmonopol der Staatsanwaltschaft durchbrochen wird8. Damit steht beim Verdacht einer Steuerstraftat die Ermittlung im ersten Zugriff – vorbehaltlich des Evokationsrechtes der Staatsanwaltschaft gemäß § 386 Abs. 4 Satz 2 AO – der Finanzbehörde zu. Die Aufklärung von Steuerstraftaten soll auf diese Weise intensiviert werden. Führt die Finanzbehörde das Ermittlungsverfahren durch, hat sie die Rechte und Pflichten der Staatsanwaltschaft (§ 399 Abs. 1 AO). Ebenso wie die Staatsanwaltschaft unterliegt sie dem Legalitätsprinzip. Stellt sich während der Ermittlungen durch die Finanzbehörde heraus, dass eine Steuerstraftat in Tateinheit oder Tatmehrheit mit einer nichtsteuerlichen Straftat (z. B. Urkundenfälschung, Betrug, Untreue, Unterschlagung, Diebstahl) begangen worden ist, so darf die Finanzbehörde hinsichtlich der Steuerstraftat weitere Ermittlungen anstellen, muss aber hinsichtlich der nichtsteuerlichen Straftaten das Ermittlungs7 BVerfG, 1. Kammer des Zweiten Senats, NJW 1996, S. 2086; P. Kirchhof, Der Grundrechtsschutz des Steuerpflichtigen, AöR 128 (2003), S. 1 (42). 8 Vgl. Hardtke / Westphal, Die Bedeutung der strafrechtlichen Ermittlungskompetenz für das Steuergeheimnis, wistra 1996, S 91; Klos / Weyand, Probleme der Ermittlungszuständigkeit und Beteiligungsrechte der Finanzbehörde im Steuerstrafverfahren, DStZ 1988, S. 615.
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verfahren auf die Staatsanwaltschaft überleiten. Im Übrigen kann die Finanzbehörde auch eine Steuerstrafsache jederzeit an die Staatsanwaltschaft abgeben (§ 386 Abs. 4 Satz 1 AO). Andererseits hat die Staatsanwaltschaft ein Evokationsrecht gegenüber der Finanzbehörde9, das heißt, die Staatsanwaltschaft kann nach ihrem Ermessen die Strafsache jederzeit an sich ziehen (§ 386 Abs. 4 Satz 2 AO). Schließlich kann im Einvernehmen zwischen Finanzbehörde und Staatsanwaltschaft die Strafsache wieder an die Finanzbehörde zurückgegeben werden (§ 386 Abs. 4 Satz 3 AO). Dieses reichhaltige, differenzierte und flexible Wechselspiel im Bereich der Ermittlungskompetenzen und Ermittlungsbefugnisse, das hier nur unvollständig angedeutet worden ist, wird weiterhin dadurch kompliziert, dass sich hinter dem in § 386 Abs. 1 AO genannten schlichten Begriff der „Finanzbehörde“ eine verschachtelte Verwaltungsstruktur verbirgt, die ihrerseits wiederum die Kompetenzen für Steuerstrafsachen aufteilt und zum Teil behördenübergreifend ordnet10. Denn „Finanzbehörde“ im Sinne des § 386 AO ist zwar, wie es in Absatz 2 Satz 2 erklärend heißt „das Finanzamt“, aber zum „Finanzamt“ gehört nicht nur die Steuerveranlagung, mit der es jeder Bürger irgendwie zu tun hat, sondern dazu gehören auch mehrere verselbständigte Abteilungen, Dienststellen und Untergliederungen, die in dem Begriff der „Finanzbehörde“ eingefangen sind, nämlich die Steuerfahndungsstellen, die Bußgeld- und Strafsachenstellen und die Betriebsprüfung- resp. Außenprüfungsstellen. Hierbei handelt es sich faktisch um verselbständigte Dienststellen, die aber selbst von der Abgabenordnung nicht als Behörden angesprochen werden, sondern als Dienststellen oder Abteilungen der Finanzbehörde. Dabei wird die Zurechnung zur Finanzbehörde noch dadurch verkompliziert, dass sowohl die Steuerfahndungsstellen wie auch die Bußgeld- und Strafsachenstellen auf Grund von Rechtsverordnungen der Länder in der Regel für mehrere Finanzamtsbezirke zuständig sind, also auch mehreren Finanzbehörden im Sinne des § 386 Abs. 1 AO zugeordnet werden müssen11. Die „mit der Steuerfahndung betrauten Dienststellen“ sind in verschiedenen Vorschriften der Abgabenordnung explizit angesprochen (§§ 208, 404). Sie übernehmen innerhalb der Finanzverwaltung im Wesentlichen die Rolle der „Steuerpolizei“. Die Tätigkeit der Bußgeld- und Strafsachenstellen hingegen wird begrifflich als „Steuerstaatsanwaltschaft“ charakterisiert12. Ob und wie dieses kompetentielle Wechsel- und organisatorische Verwirrspiel in der Praxis funktioniert, ist gewiss eine andere Frage. Für das hier im Vordergrund stehende Erkenntnisinteresse von Wichtigkeit ist vor allem die Feststellung, dass 9 Vgl. U. Scheu, Evokations- und materielles Prüfungsrecht der Staatsanwaltschaft, wistra 1983, S. 136; H. Rittmann, Nochmals: Evokations- und materielles Prüfungsrecht der Staatsanwaltschaft, wistra 1984, S. 52. 10 Vgl. Klos / Weyand (Fn. 8). 11 U. Hellmann, Das Neben-Strafverfahrensrecht der Abgabenordnung, 1995, S. 137 ff. 12 Klos / Weyand (Fn. 8), S. 616.
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das aufgezeigte Gefüge von Behörden und Kompetenzen im Bereich der Finanzbehörden und Staatsanwaltschaften zueinander nicht begleitet ist von ausgeprägten Regelungen über Mitteilungs- und Offenbarungspflichten. Deshalb zeigt sich in der einschlägigen Literatur eine große Unsicherheit in der Frage, ob und inwieweit die Finanzbehörden verpflichtet sind, der Staatsanwaltschaft ihre Kenntnisse oder Verdachtsgründe über nichtsteuerliche Straftaten mitzuteilen, die sie bei der Ermittlung nicht nur von Steuerstraftaten, sondern allgemein im Zusammenhang mit der Erhebung oder Prüfung steuerrelevanter Tatsachen gewonnen haben, sei es im Veranlagungsverfahren oder etwa auch im Zusammenhang mit einer Betriebsprüfung (Außenprüfung). Diesem Defizit an gesetzlicher Regelung soll im Folgenden des Näheren nachgegangen werden. Die vorstehenden skizzierenden Darlegungen über das Verhältnis zwischen Finanzbehörden und Staatsanwaltschaften dienen dabei der Verdeutlichung des organisatorischen Ambientes, in dem das hier aufgeworfene Problem belegen ist.
III. Wissenszurechnung und Informationspflicht Bevor dem eigentlichen Problem der Informationspflicht näher getreten werden kann, muss die Kompliziertheit des organisatorischen Rahmens noch weiter verschärft werden. Denn, wenn mit rechtlich hinreichender Präzision von Informationspflicht die Rede sein soll, dann muss feststehen, wer wem gegenüber eine solche Information überbringen muss. Subjekte des hier in Betracht stehenden Informationsverhältnisses sind auf der einen Seite die Finanzbehörde als Informationsverpflichtete und auf der anderen Seite die Staatsanwaltschaft als Informationsberechtigte. Wie bereits dargetan, ist die Finanzbehörde als Subjekt der Informationspflicht lediglich sozusagen eine institutionelle Hülle, die viele organisatorische Einheiten, zumindest faktisch verselbständigt, in sich vereinigt. Manche solche organisatorischen Einheiten gehören mehreren Finanzbehörden an. Bei einer so gestalteten komplizierten Struktur muss man zuerst die Frage stellen, ob und inwieweit die Finanzbehörde als solche überhaupt Wissensträger von Kenntnissen sein kann, die Bedienstete bei ihrer steuerlichen Tätigkeit erworben haben. Denn nur jenes Amtswissen, welches der Finanzbehörde als Institution zugerechnet werden kann, kann überhaupt Gegenstand einer Informationspflicht der Finanzbehörde sein. Die Verpflichtung zur Information kann sich stets nur auf solches Wissen beziehen und beschränken, welches dem Verpflichtungssubjekt, als eigenes Wissen zugeordnet werden kann. Aus dieser Sicht dürfte als Ausgangsposition festzuhalten sein, dass nicht jedes Wissen, das ein Bediensteter in der arbeitsteiligen Organisation der Finanzbehörde erlangt hat, ohne weiteres auch der Finanzbehörde als eigenes Wissen zugerechnet werden kann. Diese Feststellung führt zu dem allgemeinen Problem der Zurechnung von Wissen in arbeitsteiligen Organisationen, zu denen selbstredend auch die Finanzbehörden gehören.
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Der Wissensstand und die Wissensverbreitung in arbeitsteiligen Organisationen ist selbst wiederum eine Frage der organisatorischen Ausgestaltung und Kontrolle der jeweiligen Organisation. So sind Behörden beispielsweise dafür verantwortlich, dass ihnen zugegangene Informationen rechtzeitig an die Stellen und Personen weitergeleitet werden, die für ihre Entscheidungen und Aufgabenerfüllung auf diese Informationen angewiesen sind. Fehler in der Organisation werden in der Amtshaftungsrechtsprechung den Haftungsträgern als Organisationsverschulden angelastet13. Doch diese Feststellung betrifft lediglich die Sanktionsfrage. Sie verändert nicht die Wissensträgerschaft und die mit der Wissensträgerschaft verbundene Informationspflicht. In unserem Zusammenhang ist von Bedeutung, dass faktische Informationsdefizite für die Informationspflicht dann ohne Relevanz sind, wenn das faktisch mangelnde Wissen durch eine vermutete oder fiktive Wissenszurechnung kompensiert wird, wobei es dann so angesehen wird, als ob der tatsächlich nicht informierte Amtswalter die betreffende Information bekommen hätte. Das Problem der Wissenszurechnung ergibt sich bei allen arbeitsteiligen Organisationen und ist als Rechtsproblem deshalb nicht auf den Bereich des öffentlichen Rechts beschränkt. Eine umfangreiche Rechtsprechung und ausgedehnte Diskussion der Problematik der Wissenszurechnungen existiert insbesondere für privatrechtliche Organisationen14. Auch dort ist allerdings die Problematik der Wissenszurechnung im Wesentlichen auf rechtsgeschäftliches Handeln und rechtsfolgebegründende Wirkungen im Rahmen von Verjährungsfristen beschränkt. In der einschlägigen Diskussion ist in diesem Zusammenhang die Rede von „Wissensvertretung“ und von „Wissensvertreter“, was schon semantisch darauf hindeutet, dass die Zurechnung von Wissen im (Außen-)Verhältnis zu Dritten in Rede steht, beispielsweise das Wissen vom Vorhandensein von Mängeln der Kaufsache oder vom Wissen über Umstände, die den Lauf der Verjährungsfrist auslösen. Ungeachtet dieser Zentrierung auf rechtsgeschäftliche Aspekte des Privatrechts bleibt die zur arbeitsteiligen Organisation ergangene Rechtsprechung von Interesse. Diese Rechtsprechung geht im Grundsatz davon aus, dass eine Wissenszurechnung dann ausscheidet, wenn eine Abteilung einer Behörde für eine bestimmte Aufgabe eine ausschließliche Zuständigkeit besitzt und die betreffende Information an diese zuständige Abteilung nicht weitergegeben worden ist15. Diese Grundposition beruht auf der Überlegung, dass bei der Frage, wo entsprechendes Wissen vorhanden ist, von den behördlichen Zuständigkeitsregelungen ausgegangen werden muss, weil eine andere Betrachtungsweise in unzulässiger Weise in die Verwaltungsorganisation eingreifen würde. Eine solche Argumentation erscheint allerdings für die hier in Rede stehende Konstellation nicht hilfreich. Denn es ist nicht zu sehen, in welche Kompetenzen eingegriffen würde, wenn die Finanzbehörde als verpflichtet angese13 14 15
Vgl. F. Ossenbühl, Staatshaftungsrecht, 5. Aufl., 1998, S. 76 f. Vgl. zusammenfassend M. Braun, Die Wissenszurechnung, 1999. Vgl. BGH VersR 1994, S. 491; BGHZ 134, 343 (348).
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hen würde, bei der Steuererhebung erlangtes Wissen über das Vorhandensein von Straftaten der Staatsanwaltschaft mitzuteilen. Geschützt werden müsste in dieser Beziehung allenfalls der tatverdächtige Steuerpflichtige – worauf noch zurückzukommen ist – nicht aber die Finanzbehörde. Auch an den eigenen Kriterien gemessen, führt die Rechtsprechung zur „Wissensvertretung“ zu Schwierigkeiten. Denn wo die vom Bundesgerichtshof als Maßstab zugrunde gelegten, gegen Wissenszurechnungen abgeschotteten, ausschließlichen Zuständigkeiten existieren, ist eine Frage des Einzelfalles. Der Bundesgerichtshof hat insoweit das Wissen eines Betriebsprüfers eines Sozialversicherungsträgers, also der Abteilung Betriebsprüfung, auch der Abteilung Rückstandssachbearbeitung, und damit dem betreffenden Sozialversicherungsträger zugerechnet, weil beiden Abteilungen gleichermaßen die Aufgabe oblag, die tatsächlichen Grundlagen für die Beitragszahlungen zu klären16. Wendet man diese Rechtsprechung auf die hier in Rede stehende Konstellation an, so stellt sich die Frage, ob das Wissen eines einzelnen Betriebsprüfers als Wissen der Finanzbehörde angesehen werden kann, auch wenn der betreffende Betriebsprüfer sein Wissen, etwa vom Vorliegen eines Schneeballsystems in seiner Brust verschließt. Nach der Rechtsprechung soll es darauf ankommen, ob sich sozusagen abgeschottete Zuständigkeitsbereiche gegenüberstehen, die auch in entsprechenden Abteilungen einer Behörde institutionalisiert sein können. Insoweit kann, was die Finanzbehörde anbetrifft, davon ausgegangen werden, dass alle mehr oder weniger verselbständigten Abteilungen, Dienststellen und Untergliederungen, von denen oben die Rede war, eine Doppelfunktion ausüben und mit einer ihrer Funktionen in Konvergenz mit den anderen Abteilungen zu sehen sind. So hat beispielsweise der Bundesfinanzhof die „Doppelfunktion“ der Ermittlungsmaßnahmen eines Außenprüfers betont17. Danach hat der Außenprüfer neben seiner primären Aufgabe, die tatsächlichen und rechtlichen Verhältnisse des Steuerpflichtigen zu prüfen, die für die Steuerpflicht und die Bemessung der Steuer maßgeblich sind, auch die Pflicht, bei dem Verdacht einer Steuerstraftat die Strafverfolgung aufzunehmen und ein Verfahren einzuleiten. Von einer Doppelfunktion ist auch bei den Steuerfahndungsstellen die Rede18. Allerdings betreffen diese Doppelfunktionen lediglich die Besteuerung einerseits und die Verfolgung von Steuerstraftaten andererseits, nicht die hier in Rede stehenden nichtsteuerlichen Straftaten. Dessen ungeachtet, lässt sich jedoch sagen, dass alle Abteilungen und Dienststellen der Finanzbehörden im Dienst der effektiven Steuererhebung stehen und keine gegeneinander abgeschotteten Zuständigkeitsbereiche repräsentieren, so dass davon auszugehen ist, dass jeder Bedienstete verpflichtet ist, seine Kenntnisse, die für die Entscheidungen anderer Abteilungen erheblich sind, diesen mitzuteilen. Die Gefahr, dass dies nicht geschieht, gehört zur Sphäre der Organisation und Kontrolle der Finanzbehörde. 16 17 18
BGH VersR 1994, S. 491. BFH BStBl 1988, 113 (114). Vgl. Klos / Weyand (Fn. 8), S. 616.
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Auch die Entscheidung, ob Wissen über nichtsteuerliche Straftaten der Staatsanwaltschaft mitgeteilt werden soll oder nicht, ist eine Entscheidung, die nur bestimmten Personen in der Finanzbehörde zusteht, denen dieses Wissen deshalb auch nicht vorenthalten werden darf. Amtswissen der Bediensteten der Finanzbehörde ist demzufolge aus dieser Sicht Wissen der Finanzbehörde selbst. Aus diesem Grunde scheidet eine Informationspflicht nicht etwa mangels Wissens der Finanzbehörde von vornherein aus, wenn beispielsweise ein Betriebsprüfer sein Wissen über ein Schneeballsystem nicht dem entscheidungszuständigen Amtswalter in der Finanzbehörde mitteilt.
IV. Grundlagen der Informationspflicht Die zentrale Frage besteht darin, ob die Finanzbehörde ihr Amtswissen hinsichtlich der Kenntnis von nichtsteuerlichen Straftaten der Staatsanwaltschaft mitteilen darf oder sogar muss. Eine entsprechende Information kann durch das Steuergeheimnis versperrt sein. Deshalb ist in erster Linie der Frage nachzugehen, wie weit sich das Steuergeheimnis als Informationssperre erweist. In einem zweiten Schritt geht es sodann um die Pflicht zur Information.
1. Befugnis zur Information – das Steuergeheimnis als Sperre Das Steuergeheimnis gehört zu den Wesenselementen des deutschen Steuerrechts. Es gilt als Komplementärinstitut, als rechtsstaatliches Korrelat, als Kompensation zur nahezu unbeschränkten Mitwirkungspflicht des Steuerpflichtigen im Besteuerungsverfahren19. Wenn sich der Bürger vor dem Finanzamt schon völlig „entblößen“ muss, dann soll wenigstens gewährleistet sein, dass seine persönlichen Daten, die über seine Intimsphäre Auskunft geben, geheim bleiben und insoweit auch grundsätzlich kein Datenaustausch innerhalb der Staatsverwaltung stattfindet. Neben dem Schutz des steuerpflichtigen Bürgers verspricht man sich davon auch einen Vorteil für das Gemeinwohl, weil unter dem Schutzschild des Steuergeheimnisses die Bereitschaft des Steuerpflichtigen zur Mitwirkung gefördert und damit das Gebot der Gleichmäßigkeit der Besteuerung verwirklicht und das Steueraufkommen verbessert werde. Gestützt auf das Volkszählungsurteil des Bundesverfassungsgerichts20, welches uns das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung beschert hat, sind denn auch Tendenzen zu verzeichnen, die das Steuergeheimnis auf die Verfassungsebene heben sollen. Das Steuergeheimnis wird in 19 Vgl. K. Tipke, Die Steuerrechtsordnung, Band I, 1993, S. 236; K. Stern, Die Kompetenz der Untersuchungsausschüsse nach Art. 44 GG im Verhältnis zur Exekutive unter besonderer Berücksichtigung des Steuergeheimnisses, AöR 109 (1984), S. 199 (252 f.). 20 BVerfGE 65, 1.
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diesem Zusammenhang geradezu „als der klassische Fall des auf Art. 2 Abs. 1 GG beruhenden Grundrechts auf informationelle Selbstbestimmung“21 angesehen oder als „verfassungsrechtliche conditio sine qua non für das heutige System der Steuerveranlagung“22 charakterisiert. In dem maßgeblichen Steuerrechtslehrbuch von Tipke / Lang heißt es, die Geheimhaltung steuerlicher Angaben und Tatsachen sei „prinzipiell grundrechtlich verbürgt“. Insoweit habe „§ 30 AO einen verfassungsrechtlich verbindlichen Inhalt“23. Gegenüber diesen grundrechtseuphorischen Charakterisierungen des Steuergeheimnisses sind die Folgerungen des Bundesverfassungsgerichts wesentlich nüchterner24. Das Volkzählungsurteil will Schutz (lediglich) „gegen unbegrenzte Erhebung, Speicherung, Verwendung oder Weitergabe der auf sie bezogenen, individualisierten oder individualisierbaren Daten“ verfassungsrechtlich versperren. Diese Ambition gilt allgemein und nicht bezogen oder beschränkt auf das Steuerrecht. Das Steuergeheimnis als „qualifiziertes Amtsgeheimnis“ zu charakterisieren, erscheint unter diesem Aspekt schon bedenklich25. Indessen bedarf dies hier keiner weiteren Vertiefung. Denn der Schutz des Steuergeheimnisses muss jedenfalls überwiegenden öffentlichen Interessen weichen26. Solche überwiegenden öffentlichen Interessen sind beispielsweise in § 30 Abs. 5 AO formuliert. Darauf ist zurückzukommen. Was aber hier schon hinzugefügt sei, ist ein in der bisherigen Diskussion soweit ersichtlich nicht zur Sprache gekommener Aspekt, nämlich der, dass nicht nur der Vorrang überwiegender öffentlicher Interessen, sondern auch die grundrechtlich verbürgte Schutzpflicht des Staates gegen Schädigungen der Bürger, die von Steuerpflichtigen unter dem Deckmantel des Steuergeheimnisses verborgen und damit ungeahndet bleiben können, das Steuergeheimnis zurücktreten lassen muss. Gegenprinzipien zum Steuergeheimnis folgen also keineswegs nur aus überwiegendem öffentlichen Interesse, sondern auch aus grundrechtlichen Schutzpflichten des Staates gegen Schädigungen der Bürger, die Opfer des geheimnisgeschützten steuerpflichtigen Straftäters werden. Dieser Aspekt ist in § 30 AO nicht berücksichtigt. § 30 AO stellt eine verfassungsrechtlich notwendige Regelung des Steuergeheimnisses dar, denn die Umgrenzung des Steuergeheimnisses steht unter Gesetzesvorbehalt. Insoweit enthält diese Vorschrift die verbindliche Definition des Steuergeheimnisses, aber sie ist als solche keineswegs „verfassungsrechtlich verbindlich“, hat mit anderen Worten selbstredend keinen Verfassungsrang, denn der Gesetzgeber kann auch irren und eine unzureichende oder zu weitgehende Vorschrift geschaffen haben.
K.H. Friauf, JbFSt 1984 / 85, S. 107 ff. E. Benda, Steuergeheimnis: Kann der Bürger noch darauf vertrauen? StbKongrRep. 1984, 119 (134). 23 J. Lang, in: Tipke / Lang, Steuerrecht, 17. Aufl., 2002, § 4 Rn. 205. 24 BVerfGE 67, 100 (142 f.). 25 Vgl. K. Tipke (Fn. 19), S. 235. 26 Vgl. BVerfGE 67, 100 (143). 21 22
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Lässt man die Frage nach verfassungsrechtlichen Defiziten des § 30 AO hier beiseite und fragt nach der Öffnung des Steuergeheimnisses zugunsten der Strafgewalt des Staates, so ergeben sich folgende Feststellungen. § 30 AO geht von dem Grundsatz der Wahrung des Steuergeheimnisses aus und formuliert in umfangreichen Regelungen die Tatbestände, bei deren Vorliegen die vom Steuergeheimnis umschlossenen Kenntnisse „befugt offenbart“ werden können. Für die hier interessierenden Informationen über Kenntnisse, die für nichtsteuerliche Straftaten relevant sind, sind thematisch einschlägig § 30 Abs. 4 Nr. 4 und 5 AO. § 30 Abs. 4 Nr. 4 betrifft Kenntnisse, die in einem Verfahren wegen einer Steuerstraftat oder Steuerordnungswidrigkeit oder ohne Bestehen einer steuerlichen Verpflichtung oder unter Verzicht auf ein Auskunftsverweigerungsrecht erlangt worden sind. Damit bleiben Kenntnisse außerhalb der Offenbarungsbefugnis, die beispielsweise im Steuererhebungsverfahren oder etwa, wie im Falle Flowtex, bei der Außenprüfung gewonnen worden sind. § 30 Abs. 4 Nr. 5 AO statuiert eine Ausnahme vom Steuergeheimnis bei einem „zwingenden öffentlichen Interesse“. Dieser unbestimmte Rechtsbegriff wird durch drei Beispielstatbestände konkretisiert („ein zwingendes öffentliches Interesse ist namentlich gegeben“). Die Beispielstatbestände betreffen Verbrechen und vorsätzliche schwere Vergehen gegen Leib und Leben oder gegen den Staat und seine Einrichtungen sowie Wirtschaftsstraftaten, die nach Begehungsweise und Schadensumfang geeignet sind, die wirtschaftliche Ordnung erheblich zu stören oder das Vertrauen der Allgemeinheit auf die Redlichkeit des geschäftlichen Verkehrs oder auf die ordnungsgemäße Arbeit der Behörden und der öffentlichen Einrichtungen erheblich zu erschüttern. Die damit gesetzlich vorgesehenen tatbestandlichen Öffnungen des Steuergeheimnisses erfassen nur ganz gravierende Straftaten, gewiss solche, die wie bei einem Schneeballsystem im Falle der Flowtex eine erhebliche Breitenwirkung mit Schädigung von zahlreichen anderen Unternehmen und Verlusten in Milliardenhöhe nach sich ziehen. Außerhalb der Offenbarungspflicht bleiben jedoch Fälle von minderer, aber für den Einzelnen unter Umständen von existentieller Bedeutung. Insoweit muss die Frage gestellt werden, ob die Regelung des § 30 AO hinsichtlich der Offenbarungspflicht verfassungsrechtlich defizitär ist. Üblicherweise wird die Diskussion dominierend aus der Sicht des Steuerpflichtigen geführt. Zu wenig wird aber in Rechnung gestellt, dass das Steuergeheimnis im Grundsatz den redlichen Steuerpflichtigen in seiner Intimsphäre schützen, nicht aber den Straftäter, der andere Mitbürger schädigt, mit einem undurchdringlichen rechtlichen Schutzpanzer umhüllen soll, der es ihm ermöglicht, unter den Augen und mit Wissen des Staates andere zu schädigen. Hier wird der Staat schnell vom Mitwisser zum Komplizen, obwohl ihm gerade die entgegengesetzte Rolle des Behüters und Beschützers verfassungsrechtlich zugewiesen ist. Der wissende Staat darf, wenn keine triftigen Gründe entgegenstehen, den von einem gravierenden Schaden bedrohten Bürger nicht ohne Warnung in sein Unglück laufen, nicht ungeschützt lassen. Insoweit sind die grundrechtlichen Schutzpflichten ambivalent. Der Schutz des steuerpflichtigen Straftäters kann keinen Vorrang haben vor dem Schutz seines Opfers,
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das durch Betrug oder andere Wirtschaftsstraftaten seine Existenz verlieren kann. Insoweit erscheint es verfassungsrechtlich nicht überzeugend, nur das „zwingende öffentliche Interesse“ dem Steuergeheimnis vorzuordnen. Vielmehr muss auch die grundrechtliche Schutzpflicht, die zumindest mit gleichem Rang als individuelles Interesse dem Steuergeheimnis gegenübertritt, eine Offenbarungsbefugnis begründen. Insoweit hinkt die Fassung des § 30 AO weit hinter den fortgeschrittenen Erkenntnissen zur Grundrechtsdogmatik zurück; übrigens im Gegensatz zur Rechtsprechung betreffend den Informantenschutz im Steuerrecht, in der das in Art. 2 Abs. 1 GG verfassungsrechtlich verbürgte allgemeine Persönlichkeitsrecht als Schranke des Steuergeheimnisses betont wird27.
2. Pflicht zur Information Das Ungleichgewicht zwischen dem steuerpflichtigen Straftäter und dem von ihm geschädigten Opfer, genauer das Ungleichgewicht zwischen Steuergeheimnis einerseits und grundrechtlicher Schutzpflicht gegenüber dem Opfer andererseits wird dadurch verschärft, dass § 30 AO lediglich die Befugnis zur Offenbarung regelt, aber keine klare Auskunft zur Pflicht der Finanzbehörde gibt, bei Vorliegen der Ausnahmetatbestände des § 30 Abs. 4 AO die Staatsanwaltschaft zu informieren. Dementsprechend wird diese Frage der Offenbarungspflicht im Schrifttum auch unterschiedlich beantwortet. Zum Teil wird § 30 Abs. 4 AO seinem Charakter nach als bloßer Rechtfertigungsgrund verstanden, der der Finanzbehörde weder eine Offenbarungspflicht noch eine die Offenbarung betreffende Ermessensentscheidung zuweist28. Überwiegend wird die Frage der Offenbarungspflicht der Finanzbehörde im Zusammenhang mit § 386 AO erörtert. § 386 AO regelt die Zuständigkeit der Finanzbehörden bei der Ermittlung in Steuerstrafsachen und zugleich die Abgrenzung zu den Ermittlungsbefugnissen der Staatsanwaltschaft. In diesem Kontext verengt sich dann die Frage der Offenbarungspflicht darauf, ob die Strafsachenstelle der Finanzbehörde verpflichtet ist, bei Vorliegen der Voraussetzungen des § 30 Abs. 4 AO der Staatsanwaltschaft Mitteilung zu machen. Diese Frage wird von der wohl überwiegenden Meinung bejaht29. Begründet wird diese Auffassung mit dem Ar27 Vgl. H.-M. Wolffgang, Informantenschutz in Steuerrecht, DStZ 1998, 102 (105); BFH DB 1994, 1454 (1455). 28 Vgl. S. Rüster, Der Steuerpflichtige im Grenzbereich zwischen Besteuerungsverfahren und Strafverfahren, 1989, S. 85. 29 Vgl. W. Joecks, in: Franzen / Gast-de Haan, Steuerstrafrecht, 5. Aufl., 2001, § 386 Rn. 53; Hardtke / Westphal, Die Bedeutung der strafrechtlichen Ermittlungskompetenz der Finanzbehörde für das Steuergeheimnis, wistra 1996, S. 91 (95 f.); U. Hellmann, Das NebenStrafverfahrensrecht der Abgabenordnung, 1995, S. 187; R. Weyand, Arzt- und Steuergeheimnis als Hindernis der Strafverfolgung?, wistra 1990, S. 4; ders., Offenbarungsbefugnis nach § 30 Abs. 4 Nr. 4a AO als Offenbarungsverpflichtung?, DStR 1990, S. 411 (413); ablehnend: G. Kohlmann, Steuerstrafrecht, 7. Aufl., 1997, § 386 Rn. 21.4.
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gument, dass auch die Strafsachenstelle dem gesetzlichen Verfolgungszwang (Legalitätsprinzip) unterliege. Vom Legalitätsprinzip werde die Finanzbehörde weder durch eine gesetzliche Vorschrift entbunden, noch werde diese Pflicht auf Steuersachen beschränkt. Ob diese Begründung trägt, ist nicht ganz zweifelsfrei. Abgesehen davon, dass der Verfolgungszwang der Finanzbehörde nach anderer Auffassung auf Steuerstraftaten beschränkt wird30, ist die Strafverfolgung innerhalb der Finanzbehörde Aufgabe der Strafsachenstelle, nicht der Steuerermittlungsstelle und schon gar nicht der Betriebsprüfung. Die Organisationseinheit der Finanzbehörde hat eine Doppelfunktion. Sie ist einerseits zuständig für die Besteuerung, andererseits aber auch für die Verfolgung von Steuerstraftaten. Finanzgewalt und staatliche Strafgewalt werden also in einer Behörde mit unterschiedlichen Abteilungen vereint, wobei diese Organisation in dieser Form nicht in allen Ländern in gleicher Weise existiert31. Ob man dort, wo diese Einheit besteht, den Verfolgungszwang von der Abteilung der Strafsachenstelle ohne weiteres auf die Steuerermittlungsstelle erstrecken kann, erscheint zumindest zweifelhaft32. Andererseits ist aber auch nicht plausibel, wenn von anderer Seite für die Offenbarungspflicht im Falle des § 30 Abs. 4 Nr. 5 AO noch eine zusätzliche „eindeutige gesetzliche Grundlage“ verlangt wird33. Zwar ist das Steuergeheimnis, obwohl nicht als spezielles Grundrecht verbürgt34, in seinem Wesensgehalt grundrechtlich unterfangen35. Aus diesem Grunde bedarf es besonderer gesetzlicher Regelungen, um das Steuergeheimnis zu durchbrechen und entsprechende Mitteilungsbefugnisse und Mitteilungsrechte oder -pflichten zu begründen. Eine solche Regelung enthält § 30 Abs. 4 AO, der wohl hinsichtlich der Tatbestände der Offenbarungsbefugnis defizitär erscheint, aber hinsichtlich der Offenbarungspflicht verfassungskonform verstanden und ausgelegt werden kann. Schließlich wird die Auffassung vertreten, die Offenbarung von Straftaten an die Staatsanwaltschaft sei eine Ermessensentscheidung der Finanzbehörde36. Geht man von dieser Grundposition aus, so bedeutet dies, dass die Finanzbehörde eine Mitteilung an die Staatsanwaltschaft grundsätzlich machen „kann“, aber nicht „muss“. Andererseits steht die Entscheidung zwischen dem „Muss“ und „Kann“ nicht im Belieben der Finanzbehörde. Sie darf diese Entscheidung nicht willkürlich treffen. Vielmehr muss sie für die eine oder andere Entscheidung Sachgründe haSo Burmeister, DDZ 1985, F 5. Vgl. dazu U. Hellmann, Das Neben-Strafverfahrensrecht der Abgabenordnung, 1995, S. 137 ff. 32 Verneinend U. Hellmann (Fn. 31), S. 361. 33 So G. Kohlmann, Steuerstrafrecht, 7. Aufl., 1997, § 386 Rn. 21.4 34 BVerfGE 67, 100 (142 ff.). 35 Vgl. K. Tipke (Fn. 19), S. 237 ff. m. w. N. 36 Vgl. Klein / Rüsken, AO, 7. Aufl., 2000, § 30 Rn. 208. 30 31
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ben. Sie kann nicht ohne tragende Gründe einmal so und einmal anders entscheiden. Man wird es auch nicht als einen rechtfertigenden Sachgrund für die zu treffende Ermessensentscheidung erachten können, die Befugnis zur Mitteilung an die Staatsanwaltschaft etwa bei der Schlussbesprechung der Betriebsprüfung als Drohpotential zu benutzen, um den Steuerpflichtigen zu einem bestimmten Kompromiss zu bewegen. Die Aufhebung des Steuergeheimnisses soll nach dem eindeutig erkennbaren Willen des Gesetzgebers dazu dienen, „zwingenden öffentlichen Interessen“ (nicht irgendwelchen öffentlichen Interessen) zum Durchbruch zu verhelfen. Bei der Ermittlung tragfähiger Sachgründe für eine Ermessensentscheidung betreffend die Offenbarung an die Staatsanwaltschaft hat deshalb dieses „zwingende öffentliche Interesse“ im Vordergrund zu stehen. Aus dieser Sicht drängt sich die Frage auf, ob der Gesetzgeber mit den in § 30 Abs. 4 Nr. 5 formulierten Ausnahmetatbeständen nicht nur über die Aufhebung des Steuergeheimnisses, sondern zugleich auch über die Offenbarungspflicht mitentschieden hat. Ein solches Auslegungsergebnis ist dann unausweichlich, wenn sich nach einem sachgerechten Verständnis der Norm für eine Ermessensentscheidung im gegenteiligen Sinne kein Raum mehr zeigt, also gemessen an den Kategorien der allgemeinen Lehre vom Verwaltungsermessen eine Ermessensschrumpfung (Ermessensreduzierung auf Null) vorliegt37. Dies ist durchgehend der Fall, wie folgende Überlegungen zeigen. Aus der allgemeinen Lehre zum Verwaltungsermessen ist am Beispiel der sog. Koppelungsvorschriften bekannt, dass es sich bei Begriffen, wie „öffentliches Wohl“ oder „öffentliches Interesse“ um unbestimmte Rechtsbegriffe handelt, die alle für eine Entscheidung denkbaren sachlichen Entscheidungsgründe absorbieren38. Dies bedeutet: Ermessensentscheidungen müssen stets durch „öffentliche Interessen“ getragen sein und mit ihnen begründet werden. Das Kriterium für die Aufhebung des Steuergeheimnisses ist aber nicht schlechthin ein „öffentliches Interesse“, sondern ein „zwingendes öffentliches Interesse“. „Zwingend“ ist ein öffentliches Interesse dann, wenn es in seinem Gewicht und in seiner Stärke andere öffentliche Interessen überwiegt. Bei der Anwendung des § 30 Abs. 4 Nr. 5 AO muss die Finanzbehörde eine solche Interessenabwägung vornehmen39. Für den Fall der in Nr. 5 Buchstabe b) genannten qualifizierten Wirtschaftsstraftaten bedeutet dies beispielsweise, dass auf Grund der besonderen Schwere und 37 In diesem Sinne etwa W. Joecks (Fn. 29), § 386 Rn. 53; P.-G. Gramich, Limitierung der selbständigen Ermittlungskompetenz des Finanzamts im Sinn des § 386 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 1 Abgabenordnung oder Verbrauch der Strafklage?, wistra 1988, S. 251 (253); R. Weyand (Fn. 29), DStR 1990, S. 411 (413). 38 Vgl. F. Ossenbühl, in: Erichsen (Hrsg.), Allgemeines Verwaltungsrecht, 12. Aufl., 2002, S. 226 f. 39 Vgl. G. Mattern, Das Steuergeheimnis, 1952, S. 44; H.-J. Holzapfel, Steuergeheimnis, Verfassung und Offenbarungsbefugnis, Diss. München, 1972, S. 110 f.; A. Zybon, Kritik am Steuergeheimnis, ZRP 1971, S. 231; R. Weyand, Steuergeheimnis und Offenbarungsbefugnis der Finanzbehörden im Steuerstraf- und Bußgeldverfahren, wistra 1988, S. 9 (13).
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Auswirkungen dieser Straftaten nicht nur das Steuergeheimnis entfallen, sondern auch der Weg frei gemacht werden soll, damit sich das „zwingende öffentliche Interesse“ verwirklichen lässt. Es ist nicht zu sehen, aus welchem sachlich tragenden Grunde eine Finanzbehörde von einer Offenbarung an die Staatsanwaltschaft soll absehen können, wenn ein „zwingendes öffentliches Interesse“ eine solche Mitteilung an die Staatsanwaltschaft gebietet. Und was „zwingend“ ist, das hat der Gesetzgeber durch Beispielstatbestände selbst definiert. Deshalb ist die Forderung nach einem besonderen Gesetz, welches die Mitteilungspflicht auch in der Wortfassung zum Ausdruck bringt, entbehrlich. Die Offenbarungspflicht ergibt sich zwangsläufig aus einem sachgerechten Verständnis des § 30 Abs. 4 Nr. 5 AO selbst. Man kann auch nicht einwenden, dass diese Vorschrift bedenklich sei, weil sie mehrere hoch abstrakte und schwer fassbare und anwendbare unbestimmte Rechtsbegriffe enthält. Denn solche Vorschriften kennt das Recht an vielen Stellen. Erinnert sei nur an die allgemeine polizeiliche Generalklausel, die ebenfalls zu tiefen Eingriffen ermächtigt, aber nur unbestimmte Rechtsbegriffe hoher Abstraktion aufweist. Solche unbestimmten Rechtsbegriffe haben auch ihren Vorteil. Er besteht darin, dass die Gesetzesanwendung flexibel und sachverhaltsangemessen erfolgen kann. Rechtsstaatlich ist dies erträglich, weil der Betroffene durch einen ausgeprägten Rechtsschutz abgesichert wird, gegen die Entscheidung der Finanzbehörde also richterlicher Rechtsschutz zur Verfügung steht. Wie hoch der Gesetzgeber selbst dieses „zwingende öffentliche Interesse“ im Sinne des § 30 Abs. 4 Nr. 5 AO veranschlagt, ergibt sich überdies daraus, dass er speziell für diesen Fall auch das bestehende Verwertungsverbot des § 393 Abs. 2 AO nicht durchgreifen lässt (vgl. ebenda Satz 2). Man kann dem „zwingenden öffentlichen Interesse“ auch nicht das grundrechtlich geschützte Steuergeheimnis entgegensetzen. Denn die Kollision zwischen privatem Geheimhaltungsinteresse und öffentlichem Offenbarungsinteresse hat der Gesetzgeber in § 30 Abs. 4 Nr. 5 AO geregelt und zugunsten des überwiegenden „zwingenden öffentlichen Interesses“ entschieden40. Im Übrigen ist erneut hinzuzufügen, dass dem Staat und damit seinen handelnden Behörden nicht nur der Schutz der Rechte des Steuerpflichtigen anvertraut ist, sondern auch der Schutz anderer Bürger, die durch schädigendes kriminelles Verhalten anderer betroffen sind. Eine unter Berücksichtigung der grundrechtlichen Schutzpflicht vorgenommene verfassungsorientierte Auslegung des § 30 Abs. 4 Nr. 5 AO muss dazu führen, dass die Finanzbehörde auch diesen Schutz vor erheblichen Schäden und unter Umständen einem wirtschaftlichen Ruin in seine Überlegungen einbezieht und Geheimhaltungsinteressen dahinter zurücktreten lässt41. Dieses Auslegungsergebnis ist überdies auch zwingend, wenn man § 30 AO in einen sinnvollen Zusammenhang mit § 161 StPO stellt. Nach dieser GesetzesvorVgl. Auch BFH BStBl 1994, 552 (555). Vgl. auch BFH BStBl 1994, 552 (555 1. Sp.); vgl. auch Landtag Baden-Württemberg, Drucks. 13 / 154 S. 8, 2. Absatz. 40 41
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schrift kann die Staatsanwaltschaft von allen Behörden, also auch von der Finanzbehörde, Auskünfte und Mithilfe verlangen. Liegen demnach die Voraussetzungen der Offenbarungsbefugnis vor, so ist die Finanzbehörde zur rückhaltlosen Auskunft verpflichtet. Es wäre in der Tat ein kurioses Ergebnis, wenn die Strafverfolgung davon abhängen sollte, ob die Staatsanwaltschaft ihrerseits die Finanzbehörde um Auskunft ersucht oder nicht. Die Rechtspflicht zur Auskunft kann nicht von der Zufälligkeit eines Auskunftsbegehrens der Staatsanwaltschaft abhängen42.
V. Resümee Die eingangs aufgeworfene Frage, inwieweit die Finanzgewalt des Staates der Strafgewalt im Wege stehen kann, führt in ein rechtsstaatlich und auch praktisch dunkles Feld. Dunkel ist und bleibt die Zahl der Fälle, in denen durch rechtzeitige Informationen Schädigungen Dritter hätten vermieden werden können. Denn diese Fälle werden erst gar nicht bekannt, weil sie durch das Steuergeheimnis verhüllt bleiben. Prozesse, wie das Flowtex-Verfahren sind deshalb die absolute Ausnahme und eröffnen Neuland. Bekannt sind lediglich Entscheidungen zur Auskunft über Informanten, die steuerpflichtige Bürger beim Finanzamt angezeigt haben (Denunzianten). Auch diese Rechtsprechung zeigt, wie schwer sich die Gerichte mit der Begrenzung des Steuergeheimnisses tun, wenngleich immerhin in diesem rechtlich anders gelagerten Bereich dem Persönlichkeitsschutz des auskunftfordernden Bürgers Rechnung getragen und der Ehrenschutz dem Steuergeheimnis beschränkend entgegengehalten wird43. Die nahezu hundertprozentige Dunkelziffer im Bereich der Verletzung von Informationspflichten durch die Finanzbehörden gegenüber der Staatsanwaltschaft erklärt jedenfalls das Fehlen einschlägiger Entscheidungen und das eher sporadische Interesse der Wissenschaft am Problem. Das Problem wird praktisch gar nicht erst sichtbar; es bleibt abstrakt. Andererseits ist gezeigt worden, dass die Grenzen des Steuergeheimnisses und die Informationspflichten der Finanzbehörden über strafrelevante Erkenntnisse schon bei abstrakt-genereller Betrachtung erhebliche Defizite aufweisen. Es wäre schon viel gewonnen, wenn diese Defizite in zweierlei Hinsicht ausgeglichen würden: zum einen indem die Begrenzung des Steuergeheimnisses bei Straftaten, die mit Schädigungen anderer Bürger verbunden sind, betont und konkretisiert wird; zum andern, indem das nach herrschender Meinung bestehende Ermessen der Finanzbehörde bei der Mitteilung strafrelevanter Kenntnisse zu einer Informationspflicht verstärkt wird.
42 So R. Weyand (Fn. 29), DStR 1990, S. 411 (414); vgl. auch P. Bilsdorfer, Die Offenbarungsbefugnis der Finanzbehörde in Steuerstraf- und Bußgeldverfahren, wistra 1984, S. 8 (10). 43 Wie Fn. 27.
Besteuerungsneutralität – ökonomische und verfassungsrechtliche Aspekte Von Lerke Osterloh
Einführung Besteuerungsneutralität ist ein allgemeinerer Begriff für das, was man früher etwas enger, dafür aber plastischer Wettbewerbsneutralität des Steuerrechts genannt hat. Für manchen mag der engere Begriff der Wettbewerbsneutralität auch heute noch geläufiger klingen – jedenfalls für jemanden, der in jüngeren Jahren das 1970 erschienene Standardwerk von Fritz Neumark gelesen hat: „Grundsätze gerechter und ökonomisch rationaler Steuerpolitik“. In diesem Werk behandelte Neumark noch ausführlich die Wettbewerbsneutralität 1 und setzte erst später, in einem Beitrag von 19882, den allgemeineren Begriff der Neutralität fast gleichbedeutend an dessen Stelle. Gegenwärtig findet man in den einschlägigen Lehrbüchern der Finanzwissenschaft und der betriebswirtschaftlichen Steuerlehre das Stichwort „Wettbewerbsneutralität“ nur vereinzelt. Konjunktur haben dagegen die Begriffe „Neutralität“, „Entscheidungsneutralität“ oder auch: „optimale Verzerrung“, und das nicht nur in der ökonomischen Literatur3, sondern auch in steuerjuristischen Diskussionen4. Wettbewerbsneutralität, Entscheidungsneutralität oder Neutralität des Steuerrechts gilt heute weithin als anerkannte Leitlinie einer Reform des Steuerrechts, vor allem auch des Einkommensteuerrechts5. Im Bundestagswahlkampf 1 F. Neumark, Grundsätze gerechter und ökonomisch rationaler Steuerpolitik, 1970, S. 265 ff. 2 F. Neumark, Steuerpolitische Ideale der Gegenwart, in: H. Zimmermann (Hrsg.), Die Zukunft der Staatsfinanzierung, 1988, S. 45 (48 f.). 3 Näher dazu etwa R. Elschen / M. Hüchtebrock, Steuerneutralität in Finanzwissenschaft und Betriebswirtschaftslehre – Diskrepanzen und Konsequenzen, Finanzarchiv N.F. 41, 1983, S. 253 ff.; R. Elschen, Entscheidungsneutralität, Allokationseffizienz und Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit, StuW 1991, S. 99 ff.; St. Homburg, Allgemeine Steuerlehre, 2. Aufl., 2000, S. 327 ff.; N. Herzig / Chr. Watrin, Betriebswirtschaftliche Anforderungen an eine Unternehmenssteuerreform, StuW 2000, S. 378 (379 f.). 4 J. Hey, Besteuerung von Unternehmensgewinnen und Rechtsformneutralität, DStJG 24, 2001, S. 155 (158, 161 m. w. N.); M. Jachmann, Steuergesetzgebung zwischen Gleichheit und wirtschaftlicher Freiheit, 2000, S. 60. 5 Vgl. bei den Nachw. in Fn. 3, 4; weiterhin etwa Sachverständigenrat für die Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, Jahresgutachten 2003 / 04, Staatsfinanzen konsolidieren – Steuersystem reformieren, z. B. S. 35, 38, 39.
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des Jahres 2002 wurde unter anderem die Parole verkündet: „Die Öko-Steuer ist nicht wettbewerbsneutral“6 – offenbar in der Erwartung, dass schon diese Qualifikation für sich genommen von jedem vernünftigen Wähler als Todesurteil verstanden werden müsse. Diese Erwartung wird bei einem Blick auf das geltende Steuerrecht verständlich: Selbst der Sachverständigenrat für die Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung nennt das Chaos ausdrücklich bei seinem Namen7. In einer solchen Situation muss der Gedanke, das Steuerrecht sollte oder könnte als zentrales Lenkungsinstrument aktiver staatlicher Wirtschafts- und Sozialpolitik8 fungieren, fernliegend erscheinen. Nicht die weitere Überfrachtung des Steuerrechts mit Lenkungs- und Gestaltungszielen ist das rechtspolitische Gebot der Stunde, sondern Vereinfachung im Sinne von Entrümpelung und Begradigung der gesetzlichen Belastungstatbestände insbesondere des Einkommen- und Körperschaftsteuerrechts. Allerdings wird bereits auf der Ebene rechtspolitischer Wertung sehr schnell erkennbar, dass es ohne Differenzierung nicht geht: Wer etwa mit der Parole „Weg mit den Subventionen“ einen Kahlschlag auf dem Feld des Spendenrechts rechtfertigen wollte, müsste blind sein für die Realität vorhandener Finanzierungsstrukturen. Natürlich ist das Spenden- und das Gemeinnützigkeitsrecht nicht entscheidungsneutral. Trotzdem darf die Frage, ob wesentliche steuerliche Vergünstigungen von Spenden ganz beseitigt werden sollten, nicht ausschließlich in der engen und einseitigen Perspektive von Neutralitätsforderungen entschieden werden. Vor allem aber: Nicht jedes rechtspolitisch überzeugende oder auch rechtspolitisch zwingende „Gebot der Stunde“ ist zugleich auch Verfassungsgebot. Legitimes Ziel der Verfassungsinterpretation ist es nicht, individuelle rechtspolitische Präferenzen als Verfassungsgebote oder Verfassungsgrundsätze zu dekorieren. So schwer es ist, zwischen Verfassungsrecht und Politik zu unterscheiden, die Unterscheidung ist notwendig und muss immer wieder neu gesucht und konkret formuliert werden. Dem dienen die folgenden Überlegungen. Sie sind der Frage gewidmet, welche Bedeutung die ursprünglich ökonomische Forderung nach Besteuerungsneutralität für das geltende Recht, insbesondere für das Verfassungsrecht hat. Wo liegen die Verbindungslinien zwischen einem allgemeinen ökonomischen Postulat auf der einen Seite und dem geltenden Verfassungsrecht auf der anderen Seite? Die Überlegungen beginnen mit einem Blick auf das einfache Recht, und zwar auf zwei besondere Beispiele einfachgesetzlicher Regelungen, die anerkanntermaßen dem Ziel wettbewerbsneutraler Besteuerung dienen, nämlich das Umsatzsteuerrecht und die Körperschaftsbesteuerung von Hoheitsbetrieben (I.). Dem folgt ein knapper Exkurs zum Recht der Europäischen Union (II.) und sodann eine etwas 6 7 8
Angela Merkel in den „Tagesthemen“ v. 14. August 2002. Jahresgutachten 2003 / 04 (Fn. 5), S. 35 ff.: „Steuerpolitik: Vom Chaos zum System“. Vgl. etwa BVerfGE 55, 274 (299).
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genauere Betrachtung des ökonomischen Postulats neutraler Besteuerung (III.), um schließlich auf die Suche nach Verbindungslinien zwischen Ökonomie und Verfassungsrecht zu gehen (IV.).
I. Besondere einfachgesetzliche Modelle wettbewerbsneutraler Besteuerung Zum einfachen Recht mögen die Beispiele des Umsatzsteuerrechts und der Hoheitsbetriebe im Körperschaftsteuerrecht einige Aspekte veranschaulichen, die auch für die verfassungsrechtlichen Fragen wesentlich erscheinen: Das Umsatzsteuerrecht ist geeignet, die herkömmliche Zurückhaltung der Verfassungsrechtslehre und der Verfassungsgerichtsbarkeit gegenüber der klassischen ökonomischen Forderung nach Wettbewerbsneutralität des Steuerrechts zu demonstrieren. Das Problem der Hoheitsbetriebe deutet auf die Schwierigkeiten hin, die entstehen, wenn der Fachgerichtsbarkeit die unmittelbare Konkretisierung eines allgemeinen Grundsatzes der Wettbewerbsneutralität im Rahmen gesetzlicher Generalklauseln aufgegeben ist. 1. Das Umsatzsteuerrecht: Wettbewerbsneutralität als Auslegungsmaxime, nicht als Verfassungsgrundsatz Die Entwicklung des Umsatzsteuerrechts veranschaulicht in besonderer Weise die herkömmliche Zurückhaltung der Verfassung und ihrer Interpreten gegenüber Postulaten wettbewerbsneutraler Besteuerung: Die frühere Allphasenbruttoumsatzsteuer war bekanntlich extrem wettbewerbsverzerrend. Die Außenumsätze einstufiger und mehrstufiger Unternehmen waren grundsätzlich gleichgestellt. Das führte tendenziell zu einer erheblichen Besserstellung großer gegenüber kleineren Unternehmen, wirkte also konzentrationsfördernd. Die Leitentscheidung des Bundesverfassungsgerichts zu diesem Grundproblem aus dem Jahr 19669 kam – vor dem Hintergrund fortgeschrittener, ab 1968 auch realisierter, nationaler und EG-rechtlicher Reformvorhaben10 – immerhin im Ergebnis zu einer zeitlich nur begrenzten Weitergeltung des alten UStG. Trotzdem ist gerade auch diese Entscheidung insgesamt noch ganz durch extreme Zurückhaltung geprägt. Zitat: „Jede Steuer greift irgendwie in das freie Spiel der Kräfte ein; eine Steuer, die in jeder Hinsicht wettbewerbsneutral wäre, gibt es nicht und ist kaum denkbar“. – Nur die „empfindlich ungünstigere Wettbewerbslage“ nach Steuern soll danach und nach der folgenden ständigen Rechtsprechung11 verfassungsrechtliche Bedenken wecken. BVerfGE 21, 12. BVerfGE 21, 12 (37 ff.). 11 BVerfGE 43, 58 (72) – ärztliche Laborgemeinschaften. 9
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Das aktuelle Umsatzsteuerrecht ist demgegenüber als System der AllphasenNetto-Umsatzsteuer mit Vorsteuerabzug nach Zweck und Grundtatbeständen am Leitbild der Wettbewerbsneutralität orientiert. Dieses Leitbild ist deshalb nach der ständigen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs wesentliche Auslegungsmaxime der umgesetzten Richtlinien – jedoch nur Auslegungsmaxime, nicht vorrangiges primärrechtlich striktes Gebot. Dem nationalen Gesetzgeber wurde und wird vielmehr sowohl nach EG-Recht als auch nach nationalem Verfassungsrecht ein erheblicher Gestaltungsspielraum bei der Ausformung steuerbefreiender Ausnahmetatbestände des UStG zugebilligt. Dementsprechend blieben Verfassungsbeschwerden im Zusammenhang mit Anwendung und Auslegung von Ausnahmetatbeständen überwiegend erfolglos, und nach der Rechtsprechung des BFH ist die Auslegungsmaxime der Wettbewerbsneutralität nur in den Grenzen und nach Maßgabe der gesetzlichen Tatbestände zu beachten. Der sogenannte Schwarzwaldklinik-Beschluss des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 199912 erscheint dagegen auf den ersten Blick vielleicht wie das Signal für eine Trendwende13. Hier wurde nämlich von Verfassungs wegen Rechtsformneutralität der Umsatzbesteuerung ärztlicher Leistungen gefordert. Die genauere Lektüre der Entscheidung und auch der Vergleich mit der Parallelentscheidung zum Heileurythmisten14 zeigen jedoch: Rechtsformneutralität und allgemeiner Wettbewerbsneutralität werden hier nicht etwa aus den Höhen allgemeiner Verfassungsprinzipien heruntergeholt15. Das Neutralitätsgebot wird stattdessen im Rahmen verfassungskonformer Auslegung „von unten“ entwickelt, nämlich auf der Grundlage eines allgemeinen Gebots folgerichtiger Umsetzung der Belastungsgrundentscheidung des UStG. – Im Ergebnis übrigens in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des EuGH16, auch wenn dies in der Entscheidungsbegründung des BVerfG nicht erwähnt wird.
2. Hoheitsbetriebe und Betriebe gewerblicher Art im Körperschaftsteuerrecht – Wettbewerbsneutralität als Problem gerichtlicher Konkretisierung unbestimmter Gesetzesbegriffe Das zweite Beispiel aus dem einfachen Recht, die Körperschaftsbesteuerung von Hoheitsbetrieben und Betrieben gewerblicher Art, zeigt in besonderer Weise die Schwierigkeiten der Operationalisierung eines allgemeinen, nicht schon gesetzlich konkretisierten, Postulats der Wettbewerbsneutralität durch die Finanzgerichte. BVerfGE 101, 151 (155 ff.) So wohl J. Hey (Fn. 4), S. 164. 14 BVerfGE 101, 132. 15 So aber eingehend J. Hey (Fn. 4), S. 161 ff., insb. S. 166 ff., allerdings mit sehr differenziert abwägenden Konsequenzen, S. 174 ff. 16 Slg. 99 I – 04947 – Jennifer Gregg. 12 13
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Die Abgrenzung zwischen den nicht der Körperschaftsteuer unterliegenden sog. Hoheitsbetrieben und den steuerpflichtigen Betrieben gewerblicher Art dient anerkanntermaßen einer wettbewerbsneutralen Besteuerung17: „Übernimmt eine juristische Person des öffentlichen Rechts Aufgaben, wie sie auch von Personen des Privatrechts ausgeübt werden, und tritt sie dadurch – und sei es auch ungewollt – in tatsächlichen oder potentiellen Wettbewerb zu privatwirtschaftlichen Unternehmen, ist ihre Tätigkeit nicht mehr hoheitlich“. Dies ist der Ausgangspunkt einer Entscheidung des ersten Senats des BFH18 aus dem Jahr 1997, die dann allerdings – im Ergebnis wohl nicht ganz naheliegend – die Entsorgung des Hausmülls einschließlich des Verkaufs von Müllsäcken als nichtsteuerbaren Hoheitsbetrieb qualifizierte. Wenn demgegenüber nach der Rechtsprechung die Überlassung von Standplätzen für Wochenmärkte auf öffentlichen Straßenflächen gegen Entgelt gewerblicher Betrieb19, der Betrieb eines Klärwerks und die öffentliche Abwasserbeseitigung wiederum Hoheitsbetrieb sein soll20, so muss das schon nachdenklich stimmen. Die Rechtsprechung schwankt hier zwischen der unmittelbaren Orientierung am Abgrenzungszweck der Wettbewerbsneutralität einerseits und andererseits an einer Formel, nach der es darum gehen soll, die Wahrnehmung solcher Aufgaben als Hoheitsbetrieb zu qualifizieren, die der öffentlichen Gewalt „vorbehalten und eigentümlich“ sind – ein Schwanken zwischen sehr unterschiedlichen einerseits ökonomischen, andererseits staatsrechtlichen Leitgedanken. Die nur vagen gesetzlichen Vorgaben führen wohl zu einer deutlichen Überforderung der Gerichte. Vor dem Hintergrund der gewaltigen Strukturveränderungen im Bereich öffentlicher Unternehmen durch Liberalisierung, Privatisierung und neue Steuerungsmodelle, der Mutationen des Staats vom Leistungsstaat zum Gewährleistungsstaat21 – vor diesem Hintergrund lassen sich die vom Gesetz aufgegebenen Abgrenzungsfragen an der finanzgerichtlichen Front wohl kaum mit Hilfe allgemeiner Formeln lösen. Wer es versucht, gerät schnell in die Rolle des Laokoon.
3. Fazit zum einfachen Recht Wir finden hier eine Reihe konkreter Ausprägungen des Ziels wettbewerbsneutraler Besteuerung. Das gilt in besonderem Maß für das Umsatzsteuerrecht, für dessen Tatbestände dieses Ziel die zentrale Auslegungsmaxime bildet. Einen all17 Vgl. P. Selmer / L. Schulze-Osterloh, Besteuerung öffentlicher Unternehmen und Wettbewerbsneutralität, DÖV 1978, S. 381 ff.; H.-J. Pezzer, in: Tipke / Lang, Steuerrecht, 17. Aufl., 2002, § 11 Rn. 11 mit Nachw. der inzwischen umfangreichen Literatur. 18 BFH BStBl II 1997, 139 (141). 19 BFH BStBl II 2001, 558. 20 BFH BStBl II 2001, 773. 21 Dazu m. w. N. nur – in dieser Festschrift – G. F. Schuppert, Erscheinungsformen und Grenzen kooperativer Rechtssetzung, unter IV 1 d).
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gemeinen Grundsatz möglichst wettbewerbsneutraler Belastung kennt das einfache Steuerrecht dagegen nicht. Die zentrifugale Entwicklung des Verhältnisses zwischen Körperschaft- und Einkommensteuerrecht bildet hierfür ein zentrales Beispiel. Gerade solche Problemlagen des aktuellen Rechts drängen allerdings zu der ebenfalls aktuellen Frage nach verfassungsrechtlichen Lösungen.
II. EG-Recht: Keine globalen gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben Der Blick auf das Umsatzsteuerrecht hat bereits gezeigt, dass selbst bei dieser gemeinschaftsrechtlich besonders intensiv überlagerten Steuer den Mitgliedstaaten bemerkenswerte Gestaltungsspielräume bei der Schaffung – nicht wettbewerbsneutraler – Ausnahmetatbestände geblieben sind. Daran anschließend sollen im vorliegenden Rahmen drei knappe Anmerkungen genügen: 1. In der finanzgerichtlichen Praxis ist der nationalstaatliche Souveränitätsverlust auch bei den direkten Steuern, sobald es um den Schutz grenzüberschreitenden Wettbewerbs geht, anfangs nur zögernd zur Kenntnis genommen und akzeptiert worden22. Außerhalb der Diskriminierungsverbote zum Schutz der gemeinschaftsrechtlichen Grundfreiheiten schränkt das Gemeinschaftsrecht die Gestaltungsbefugnisse des Steuergesetzgebers allerdings bislang nicht ein – das gilt es im Auge zu behalten23. 2. Die deutliche Unterscheidung zwischen den Rechtsräumen des Gemeinschaftsrechts und des nationalen Verfassungsrechts24 ändert nichts daran, dass die nach wie vor starke (Kritiker sagen: zu einseitige) marktwirtschaftliche Grundorientierung des Gemeinschaftsrechts auch in den Köpfen der Verfassungsinterpreten ihre Spuren hinterlassen hat. Dem entsprechend wird etwa neuerdings eine „Wiederbelebung liberaler Grundrechtsauffassungen“ konstatiert25, und diesen erhebliche Durchsetzungschancen zugesprochen. Tatsächlich hat wohl auch das Gedankengut der Verträge und der Organe der Gemeinschaft neben dem zunehmenden Druck des globalen Wettbewerbs mit dazu beigetragen, dass auch für das Steuerrecht die Grundfragen einer vernünftigen und gerechten Wirtschaftsverfassung wieder lebhaft diskutiert werden26. Globale gemeinschaftsrechtliche Vorentscheidungen zu unserem Thema gibt es jedoch nicht. 22 Schmidt / Heinicke, EStG, 22. Aufl., 2003, § 1 Rn. 6 ff. mit Übersicht über die einschlägigen Entscheidungen des EuGH, Rn. 5; vgl. eingehend neuerdings G. Laule, Auswirkungen der EuGH-Rechtsprechung auf deutsche Steuervorschriften, IFSt-Schrift Nr. 407, 2003. 23 Dazu z. B. W. Schön, Der freie Warenverkehr, die Steuerhoheit der Mitgliedstaaten und der Systemgedanke im europäischen Steuerrecht, Teil II, EuR 2001, S. 341 (343). 24 Zusammenfassend BVerfGE 102, 147 (161 ff.). 25 U. Di Fabio, Der offene Staat in der Wirtschaftsgesellschaft, in: P. Kirchhof u. a. (Hrsg.), Staaten und Steuern, FS Klaus Vogel, 2000, S. 3 (6). 26 Vgl. nur – in dieser Festschrift – H.-J. Papier, Wirtschaftsverfassung in der Wirtschaftsordnung der Gegenwart.
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3. Eine letzte Bemerkung auch im Blick auf das deutsche Verfassungsrecht: Nach dem Recht der Europäischen Union ist Wettbewerbsschutz Freiheitsschutz – jedenfalls auch Freiheitsschutz. Die wettbewerbsschützenden Diskriminierungsverbote dienen dabei auch der Gewährleistung einklagbarer Rechte, sind also nicht nur auf makroökonomische Ziele und auf den institutionellen Schutz einer marktwirtschaftlichen Ordnung ausgerichtet, sondern zielen auch auf individuellen Rechtsschutz. III. Besteuerungsneutralität als ökonomisches Postulat Zu diesem Thema ist zunächst ein Blick in die Vergangenheit angebracht, der schnell zurückführt in das 19. Jahrhundert und die Zeit davor, seitdem nämlich eine vernünftige und gerechte Besteuerung wichtiges Thema der Staatwissenschaft und der Politik geworden war27. Im vorliegenden Rahmen sei dazu eine pointillistische Vorgehensweise erlaubt, nämlich – neben und im Zusammenhang mit einem Blick auf die aktuelle Diskussion – die Konzentration auf drei Namen und Daten, die geeignet erscheinen, bis heute lebendig nachwirkende Themen und Gegensätze zu markieren: Edinburgh, 1833, Fritz Karl Mann, 1928, und Fritz Neumark, 1970.
1. Edinburgh, 1833: Neutralität als Verteilungsregel Die berühmte Besteuerungsregel „leave them as you find them“ wurde 1833 in der Edinburgh Review publiziert und fällt vielleicht manchem automatisch beim Stichwort Wettbewerbsneutralität ein. Zum Verständnis dieses Neutralitätsgebots ist von entscheidender Bedeutung dessen Zusammenhang mit den finanzwissenschaftlichen Diskussionen des 19. Jahrhunderts zur Frage gerechter Steuerverteilung28. Das Ideal der Neutralität der Besteuerung im Sinne der Edinburgh-Regel, weltweit siegreiches Glaubensbekenntnis des Liberalismus, war eine Aussage nicht primär zur ökonomischen Effizienz, sondern zur Verteilungsgerechtigkeit: Keine Umverteilung durch Steuern, Wahrung des vorgefundenen Status von arm und reich, Erhaltung der vorgefundenen Relationen unterschiedlicher Einkommen und Vermögen der Steuerpflichtigen – das sollte als natürliche und gerechte Ordnung auch vom Steuergesetzgeber konserviert werden. Nicht zuletzt dieser verteilungspolitische Gehalt der Edinburgh-Regel dürfte die Schärfe erklären, mit der Fritz Karl Mann diese Regel im Jahr 1928 in der Festgabe für Georg von Schanz29 kritisierte, „Selbstzufriedenheit, bürgerliche Sattheit und Dazu statt vieler: F. K. Mann, Steuerpolitische Ideale, 1937. Vgl. nur F. Neumark (Fn. 1), S. 33 ff. 29 „Die Gerechtigkeit in der Besteuerung“, in: H. Teschemacher (Hrsg.), Beiträge zur Finanzwissenschaft, Bd. II, FS Georg von Schanz, 1928, S. 112 (123); ders. (Fn. 27), S. 247. 27 28
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der Glaube an ,die beste der Welten‘ haben bei dieser Auffassung Pate gestanden“. Allerdings bezieht sich die Kritik Manns keineswegs allein auf den Inhalt der altliberalen Edinburgher Verteilungsregel. Dieser Inhalt bildet nur den einen Aspekt. Der zweite – und für Mann wichtigere Gesichtspunkt – ist methodischer Art und richtet sich gegen die Qualifikation ethischer Grundsätze als Gegenstand und Ergebnis finanzwissenschaftlicher Forschung30: Mann gehörte zu jener jüngeren Generation von Finanzwissenschaftlern, die sich um den Erhalt der Anschlussfähigkeit der spezielleren Finanzwissenschaften an die allgemeine Nationalökonomie bemühten. Das bedeutete damals vor allem, dass zwischen normativen und positiven bzw. empirischen Aussagen und Fragestellungen sorgsam zu unterscheiden war: Wissenschaftlich nicht eindeutig zu beantwortende Fragen der Gerechtigkeit, so Mann, seien nicht sinnvoller Gegenstand der Finanzwissenschaften. Die Finanzwissenschaften könnten solche ethischen Postulate in Gestalt steuerpolitischer Ideale zu ihrem Bestand und ihrer Entwicklung nur als historisch wandelbare Leitgedanken in Wissenschaft und Politik zur Kenntnis nehmen und also als Ideengeschichte, als Geschichte der öffentlichen Meinung31 darstellen.
2. Allokationseffizienz als aktuelle Begründung des Neutralitätspostulats Die soeben angedeuteten inhaltlichen und methodischen Auseinandersetzungen um ein ökonomisches Postulat der Neutralität des Steuerrechts in Gestalt der Edinburgh-Regel sind Geschichte, aber nicht nur Geschichte. Verteilungsneutralität ist zwar heute als eigenständiges ökonomisches Ziel nicht mehr aktuell, jedoch bildet jetzt die wirkmächtige Idee der Allokationseffizienz Ziel und Grund, wenn Neutralität der Besteuerung gefordert wird32. Im übrigen sind allerdings Bezugspunkte und Gehalte aktueller ökonomischer Neutralitätspostulate bei näherem Hinsehen vielfältig und im Einzelnen auch umstritten. Die Begriffsverständnisse variieren je nach Forschungsdisziplin und speziellen Forschungsgegenständen einerseits innerhalb der makroökonomisch orientierten Finanzwissenschaft, andererseits im Rahmen der betriebswirtschaftlichen Steuerlehre33. Ein besonders interessantes Anschauungsbeispiel hierfür bildet das Modell einer Pauschalbesteuerung, insbesondere in Gestalt des „Idealmodells“ einer Kopfsteuer34. Interessant ist dieses – in Großbritannien bekanntlich annäherungsweise kurzF. K. Mann (Fn. 29). F. K. Mann (Fn. 27), Vorwort. 32 Z. B. Chr. Scheer, Steuerpolitische Ideale – gestern und morgen, in: G. Krause-Junk (Hrsg.), Steuersysteme der Zukunft, 1998, S. 155 (175 ff.); aus der rechtswissenschaftlichen Literatur z. B. W. Schön, Vermeidbare und unvermeidbare Hindernisse der Steuervereinfachung, StuW 2002, 23 (25 f.) m. w. N. 33 Für einen Überblick R. Elschen / M. Hüchtebrock (Fn. 3). 30 31
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fristig erprobte und schnell an heftigem politischen Protest gescheiterte – Beispiel in zweierlei Hinsicht: Zum einen macht es in drastischer Weise auf das offenkundige Problem mangelnder Verteilungsgerechtigkeit einer ganz einseitig aus der Neutralitätsperspektive modellierten Steuer aufmerksam. Eine Kopfsteuer vermeidet zwar Entscheidungsverzerrungen der Steuerpflichtigen insoweit, als sie keine ökonomischen Umgehungshandlungen veranlasst und zulässt, da sie jedenfalls für den lebenswilligen Inländer unausweichlich ist. Sie ist jedoch zugleich offenkundig blind für die unterschiedlichen Fähigkeiten der Bürger, die Lasten des Gemeinwesens finanziell mit zu tragen. Zum anderen ist aber die Entscheidungsneutralität sogar der Kopfsteuer durchaus zweifelhaft: Auch eine Kopfsteuer wirkt auf das Angebots- und Nachfrageverhalten der Marktteilnehmer ein, beeinflusst nämlich die relativen Preise35. Ein interessanter Streit herrscht auch zu der weiteren Frage, ob Entscheidungsneutralität als Postulat auf unternehmerische Entscheidungen über Investition, Finanzierung und Produktion zu beschränken ist oder sinnvoll auch auf „private“ Entscheidungen über Konsum und Sparen oder über Erwerbstätigkeit und Freizeit angewendet werden kann36. So wird etwa von den Befürwortern einer konsumorientierten Steuerreform bekanntlich argumentiert, die herkömmliche Einkommensteuer diskriminiere den Sparer und privilegiere den Konsumenten, so dass eine zins- oder sparbereinigte Einkommensteuer auch insoweit Neutralität herstelle37 (also nicht nur im Hinblick auf Fremd- oder Eigenfinanzierung im Unternehmensbereich). Diese Erstreckung des ökonomischen Neutralitätspostulats auch auf „private“ Entscheidungen gilt anderen jedoch als ökonomisches Missverständnis38. Für die Beantwortung der verfassungsrechtlichen Fragestellung kommt es allerdings auf Feinheiten einzelner ökonomischer Begriffsvarianten und Abgrenzungen nicht an. Hier sollen holzschnittartige Umrisse des Neutralitätspostulats und dessen Begründung genügen, um die Verbindungslinien zum Verfassungsrecht zu finden. Dafür ist entscheidend das Ziel der Besteuerungsneutralität, unternehmerische Entscheidungen über Investition, Finanzierung und Produktion durch Steuern nicht zu „verzerren“. Eine erfolgreiche Investitions- und Finanzierungsplanung soll nicht abhängig von einer erfolgreichen Steuerplanung sein. Art und Umfang der Investition sollen inhaltlich nicht von den Ratschlägen des Steuerberaters abhängen und ebenso wenig organisatorische Entscheidungen wie Rechtsformenwahl oder Zusammensetzung der Produktionsfaktoren. Die zentrale Begründung für diesen wesentlichen Kern des Postulats entscheidungsneutraler Besteuerung, nämlich das Ziel der Allokationseffizienz, ist im Er34 Z. B. J. E. Stiglitz, Finanzwissenschaft, übers. u. bearb. von B. Schönfelder, 2. Aufl. (1. dt.-sprachige Aufl.), 1989, S. 410, 452. 35 St. Homburg (Fn. 3), S. 327. 36 Näher zum Streitstand St. Homburg (Fn. 3), S. 329 mit S. 183 ff. 37 Z. B. J. Lang, in: Tipke / Lang (Fn. 17), § 4 Rn. 119. 38 St. Homburg (Fn. 3), S. 183 ff., 329.
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gebnis neoklassisch klar, schlicht und gegenwärtig zunehmend siegesgewiss: Der ungestörte Markt macht es besser als die Politik. Das soll nicht nur für den ungestörten, also für den in der Realität nicht gegebenen vollkommenen Markt gelten, sondern, wie die public choice Theoretiker39 seit langem mit großer Überzeugungskraft ergänzend erklärt haben, auch für die real existierenden unvollkommenen Märkte. Auch diese machen es immer noch besser als der gefräßige, den Eigennutzen der politischen Akteure mehrende Leviathan. Vor diesem Hintergrund kann man heute fast davon sprechen, dass die Edinburgh-Regel in alter Frische wieder auferstanden ist – zwar nicht als Maxime gerechter Verteilung, wohl aber als makroökonomische Effizienzmaxime mit tendenziell problematischen Verteilungswirkungen. Sowohl im theoretischen Ansatz als vor allem auch bei der Konkretisierung des Postulats neutraler Besteuerung finden sich auch innerhalb der ökonomischen Disziplinen sehr unterschiedliche Relativierungen des Neutralitätspostulats. Nicht zuletzt in der Nachfolge großer Vordenker wie Milton Friedman40 oder Geoffry Brennan und James M. Buchanan41 scheinen gegenwärtig jedoch eher die makroökonomischen Hardliner das Meinungsbild zu bestimmen.
3. Fritz Neumark, 1970: Neutralität als „bedingtes“ Postulat Vor diesem aktuellen Hintergrund sei als ein gewisses Kontrastprogramm gegenüber einem geradlinigen Neoliberalismus an eine sehr gemäßigte Position erinnert, nämlich an die des deutschen Finanzwissenschaftlers Neumark. Dessen Position ist zwar weniger für die Gegenwart, sondern eher für Ende der 60iger Jahre repräsentativ, sie hat aber den unschätzbaren Vorteil, dass sie für eine auf reale wirtschaftliche und rechtliche Rahmenbedingungen bezogene Kommunikation mit Juristen wesentlich leichter zugänglich ist. Die Definition Neumarks für das Postulat der Wettbewerbsneutralität42 lautet abgekürzt: „Der Grundsatz der Vermeidung ungewollter steuerlicher Beeinträchtigungen des Wettbewerbs verlangt, dass die Steuerpolitik sich . . . aller Eingriffe enthält, die den Konkurrenzmechanismus des Marktes beeinträchtigen.“ Dies soll jedoch mit zwei wesentlichen Ausnahmen gelten, nämlich, erstens, soweit nicht die Ergebnisse selbst eines vollkommenen Marktes aus übergeordneten Gründen der Korrektur bedürfen, und zweitens, soweit nicht Unvollkommenheiten der Konkurrenz beseitigt oder gemildert werden müssen. Das Neutralitätspostulat ist danach, wie Neu39 Für den vorliegenden Zusammenhang nur Geoffry Brennan / James M. Buchanan, The Power to Tax, Cambridge 1980, deutsche Fassung, Besteuerung und Staatsgewalt, übers. v. Cay Folkers, 1988. 40 Z. B. Kapitalismus und Freiheit (übers. v. Paul C. Martin), 1971; 41 S. Fn. 39. 42 (Fn. 1), S. 266.
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mark stets betont hat, ein sehr bedingtes Postulat43. Mit diesen Bedingungen sind tatsächlich wesentliche Differenzierungen formuliert, die das Neutralitätspostulat aus verfassungsrechtlicher Sicht erst ernsthaft diskussionsfähig machen, nämlich bereits deutliche Anschlussstellen für Verbindungslinien zu einer verfassungsrechtlich notwendig komplexen Wertung verschiedener Besteuerungsmaximen aufweisen.
IV. Verbindungslinien zum Verfassungsrecht Paul Kirchhof hat solche Verbindungslinien zwischen Ökonomie und Rechtswissenschaft im Zusammenhang unseres Themas in neuerer Zeit folgendermaßen gekennzeichnet44: „Wenn die Rechtswissenschaft das Steuerrecht vor allem an der Gleichheit und Gerechtigkeit misst, die Wirtschaftswissenschaften an der Knappheit und Effizienz, so finden diese Maßstäbe einen gemeinsamen Ausgangspunkt in der Freiheit“. Das ist mit bestechender Prägnanz formuliert, provoziert aber erhebliche Einwände: Zweifel bestehen schon an einer Beschränkung der Finanzwissenschaften auf Effizienzfragen. In finanzwissenschaftlichen Auseinandersetzungen spielt schon lange Rawls mit seiner Theorie der Gerechtigkeit eine bemerkenswert prominente Rolle45. Die Trennline zwischen normativen und empirischen Aussagen markiert nicht mehr einen scharfen Gegensatz zwischen Ökonomie und Ethik, wie er noch von F.K. Mann gesehen wurde. Ein rechtswissenschaftliches Monopol auf die Themen gerechter Steuerlastverteilung ist auch im Verhältnis zu den Ökonomen seit langem verschwunden. Es überrascht deshalb nicht, dass die Thesen Kirchhofs Gegenstand gerade auch ökonomischer Diskussion sind. Insbesondere der Tübinger Finanzwissenschaftler Franz W. Wagner hat die Grundposition Paul Kirchhofs46 zur zentralen Rolle des Freiheitsschutzes auch durch Neutralität der Besteuerung scharf kritisiert47: Erstens habe Kirchhof die makroökonomische Zielsetzung des Neutralitätspostulats verkannt, das mit individuellem Freiheitsschutz nichts zu tun habe, und zweitens müsse die Freiheit zu wirtschaftlicher Vernunft den Steuerpflichtigen auch nicht durch neutrale Besteuerung zurückgegeben werden – die wirtschaftliche Vernunft des Einzelnen ziele nun einmal immer auf das Ergebnis nach Steuern. F. Neumark (Fn. 1), S. 262 f. P. Kirchhof, Standortbestimmung aus verfassungsrechtlicher Sicht, in: P. Kirchhof / Manfred J. M. Neumann (Hrsg.), Freiheit, Gleichheit, Effizienz, 2001, S. 13. 45 Stiglitz / Schönfelder (Fn. 34), S. 76 ff.; K. Reding / W. Müller, Einführung in die allgemeine Steuerlehre, S. 72 f.; St. Homburg (Fn. 3), S. 232 ff. 46 Wie sie dargelegt ist bei P. Kirchhof u. a., Karlsruher Entwurf zur Reform des Einkommensteuergesetzes, 2001, S. 18 ff. 47 F. W. Wagner, „Karlsruher Entwurf zur Reform des Einkommensteuergesetzes“ – Anmerkungen aus der Perspektive ökonomischer Vernunft, StuW 2001, S. 354 (355 f.). 43 44
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Der erste Einwand – mangelnde Zusammenhänge zwischen makroökonomischer Zielsetzung und individuellem Freiheitsschutz – passt vielleicht zur nachbarrechtlichen Schutznormtheorie der baurechtlichen Rechtsprechung. Zum tragenden liberalen Grundgedanken, dem Bild des unsichtbar gelenkten Zusammentreffens von individueller Freiheit und gesamtwirtschaftlicher Effizienz in der Marktwirtschaft, passt dieser Einwand sicher nicht. Im zweiten Einwand steckt dagegen wohl ein richtiger Kern: Die Freiheit zu wirtschaftlicher Vernunft, so wie Paul Kirchhof sie versteht, als Freiheit zu marktwirtschaftlich vernünftigen Entscheidungen ohne Rücksicht auf verzerrende steuerliche Be- oder Entlastungen, diese Freiheit scheint vielen Steuerpflichtigen – und jedenfalls ihren Interessenvertretern – nicht so wichtig zu sein: Anders lässt sich der stetige Widerstand gegen den Abbau verzerrender Steuersubventionen kaum erklären. Wesentlicher sind demgegenüber jedoch wohl folgende Aspekte: Für den freiheitsgrundrechtlichen Schutz kommt es entscheidend auf die Belastungs- bzw. Beschränkungswirkungen einer Regelung an. Solche Wirkungen aber können bei nicht entscheidungsneutralen Steuernormen sehr unterschiedlich zu beurteilen sein48. Wenn demgegenüber gesagt wird, das ökonomische Neutralitätsgebot treffe sich mit dem Freiheitsschutz oder auch, wie es überwiegend heißt, es treffe sich mit dem Gleichheitsgebot49, so besteht zumindest die Gefahr, dass wesentliche Unterschiede zwischen ökonomischen und und verfassungsrechtlichen Prinzipien und insbesondere notwendige verfassungsrechtliche Relativierungen des Neutralitätspostulats zu Unrecht eingeebnet werden. Richtig ist zunächst zweifellos, dass Freiheits- und Gleichheitsgrundrechte Maßstab für die beeinträchtigenden Wirkungen nicht neutraler wie auch neutraler Besteuerung sind. Dabei gibt es kein Entweder-Oder zwischen Freiheits- oder Gleichheitsschutz. Grundsätzlich schützen die Grundrechte in ihrem Zusammenspiel Gleichheit und Freiheit der Steuerpflichtigen. Das EG-Recht bietet für dieses Zusammenspiel ein schönes Vorbild. Entscheidend bleibt jedoch: In die jeweils erforderlichen grundrechtlichen Abwägungen ist Entscheidungsneutralität nicht als eigenständiges Rechtsprinzip, als eigenständiger Wert, einzustellen. Mangelnde Neutralität ist lediglich ein Indiz50 für zusätzliche, über die Zahllast hinausgehende Belastungswirkungen der Steuerpflicht und nicht einmal ein sicheres Indiz: Man denke nur an steuerrechtliche Wahlrechte, die geeignete Instrumente zum Abfedern sonst größerer Belastungen 48 Hierzu und zum folgenden auch L. Osterloh, Lenkungsnormen im Einkommensteuerrecht, DStJG 24 (2001), S. 383 (389 ff., 397 ff.). 49 Z. B. M. Jachmann (Fn. 4), S. 60; W. Schön (Fn. 32), S. 26 m. w. N.; ders., Steuergesetzgebung zwischen Markt und Grundgesetz, in: Mellinghoff, Morgenthaler / Puhl, Die Erneuerung des Verfassungsstaates, 2003, S. 143 (155) m. w. N.; zu freiheits- und gleichheitsrechtlichen Begründungsansätzen im Hinblick auf Rechtsformneutralität als speziellere Ausprägung der Neutralität näher J. Hey (Fn. 4), S. 166 ff., 171 ff. 50 Krit. zur bloßen Rolle als „Indikator“ J. Hey (Fn. 4), S. 165, 166 ff.
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durch typisierende Normen sein können51. Als besonders extremes und problematisches Beispiel für gleichsam „begünstigende“ Gestaltungswirkungen eines Steuertatbestands sei hierzu § 15 Abs. 3 Nr. 1 EStG mit seiner Abfärbetheorie bei „gmischten“ Tätigkeiten einer Personengesellschaft genannt. Der Bundesfinanzhof52 rechtfertigt die ungleiche Behandlung der Personengesellschaft gegenüber dem Einzelunternehmer bekanntlich auch damit, dass sich die Steuerpflichtigen den Belastungswirkungen der Abfärbetheorie durch entsprechende Gestaltung – Aufteilung unterschiedlicher Aktivitäten auf verschiedene personenidentische Gesellschaften – entziehen können. Unabhängig von solchen extremen Beispielen aber gilt allgemein: Nicht die mangelnde Neutralität ist besonders rechtfertigungsbedürftig, sondern stets deren grundrechtsrelevante Beeinträchtigungswirkungen. Zwei konkretere Verfassungsmaximen spielen hierbei nach der neueren verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung die wohl entscheidende Rolle: Folgerichtigkeit53 und Entscheidungsklarheit54. So ist bei einkommensteuerrechtlichen Normen zunächst zu prüfen, ob und wieweit von der gesetzlichen Belastungsgrundentscheidung abgewichen wird, nach der Leistungsfähigkeit in Gestalt des jährlichen Einkommens Maßstab der Besteuerung sein soll. Liegt eine Abweichung vor, so ist weiter nach einem hinreichenden Grund zu fragen, aber auch danach, ob eine erkennbare gesetzgeberische Entscheidung Grund und Wirkung der Abweichung trägt. Der Gesetzgeber darf sich für nichtfiskalische Zwecke und Wirkungen der Steuernormen entscheiden, er muss aber auch deutlich erkennbar entscheiden, wenn solche Zwecke und Wirkungen als Rechtfertigungsgründe für die Steuerbelastung taugen sollen.
V. Ergebnis Die vorangehenden Überlegungen führen zu einem wenig spektakulären Ergebnis: Neutralität der Besteuerung kann als ein „weicher Leitbegriff“55 gelten, der als Verbindungsscharnier zwischen ökonomischen und rechtlichen Fragestellungen geeignet ist für die Verständigung zwischen Ökonomen und Juristen. Der Rang eines eigenständigen Verfassungsprinzips ist dem Begriff der Besteuerungsneutralität jedoch nicht unvermittelt zu verleihen. Wäre es anders, so hätte auch der Satz: „Weniger Staat – mehr Markt“ Verfassungsrang. 51 52 53
BVerfGE 84, 348 (360 f.). BFH BStBl II 1995, 171; 1998, 254. Z. B. BVerfGE 84, 239 (271); 93, 121 (136); 99, 88 (95); 99, 280 (290); 105, 73 (112,
126). BVerfGE 105, 73 (112 f.) m. w. N. Dazu H. Schulze-Fielitz, Rationalität als rechtsstaatliches Prinzip für den Organisationsgesetzgeber, in: FS Klaus Vogel (Fn. 25), S. 311 (316 ff.). 54 55
Zur Neuordnung der steuerrechtlichen Behandlung von Altersvorsorgeaufwendungen und Altersbezügen Von Franz Ruland1 I. Einleitung Peter Selmer – der langjährige Kollege im Team der JuS-Rechtsprechungsübersicht – beschäftigte sich in den achtziger Jahren insbesondere in seiner Habilitationsschrift „Steuerinterventionismus und Verfassungsrecht“2 mit einer bis heute brisanten Thematik. Als Eingriffsrecht treffen Steuergesetze stets auf den Vorbehalt formeller Parlamentsgesetze und auf grundrechtliche Eingriffsschranken. Auch bei der Diskussion, wie die Besteuerung der Alterseinkünfte neu zu ordnen ist, steht das Verfassungsrecht im Mittelpunkt. Das Bundesverfassungsgericht hat den Gesetzgeber durch Urteil vom 6. März 20033, in dem es die unterschiedliche Besteuerung von gesetzlichen Renten und Beamtenpensionen für mit dem Gleichbehandlungsgebot des Grundgesetzes unvereinbar erklärte, aufgefordert, die Besteuerung der Alterseinkünfte bis zum 1. Januar 2005 neu zu regeln. Zur Erarbeitung eines Neuregelungsvorschlags setzte die Bundesregierung die „Sachverständigenkommission zur Neuordnung der steuerrechtlichen Behandlung von Altersvorsorgeaufwendungen und Altersbezügen“ ein, die im März 2003 ihren Abschlussbericht vorlegte4. Am 3. Dezember 2003 beschloss das Bundeskabinett den Entwurf für ein Gesetz zur Neuordnung der steuerrechtlichen Behandlung von Altersvorsorgeaufwendungen und Altersbezügen (Alterseinkünftegesetz – AltEinkG)5, das sich in weiten Teilen an den Vorschlägen der 1 Geschäftsführer des Verbandes Deutscher Rentenversicherungsträger (VDR). In Zusammenarbeit mit Dr. Natalie Brall, der ich dafür sehr danke. 2 P. Selmer, Steuerinterventionismus und Verfassungsrecht, Frankfurt 1972. 3 BVerfGE 105, 73 ff. Vgl. auch dazu: BVerfGE 54, 11 ff.; BVerfGE 86, 369 ff. 4 Abschlussbericht der Sachverständigenkommission zur Neuordnung der steuerrechtlichen Behandlung von Altersvorsorgeaufwendungen und Altersbezügen, BMF Schriftenreihe Band 74; vgl. hierzu N. Brall / G. Bruno-Latocha / A. Lohmann, DRV 2003, S. 465 ff.; dies., Wirtschaftsdienst 2003, S. 445 ff.; P. Fischer, Mehr Schatten als Licht im Steuerrecht der Altersvorsorgeaufwendungen und Altersbezüge, BB 2003, S. 873 ff.; H. Söhn, Altersvorsorgeaufwendungen als vorwegentstandene (vorweggenommene) Werbungskosten, StuW 2003, S. 332 ff. 5 BT-Drucksache 15 / 2150.
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Sachverständigenkommission orientiert. Schwerpunkt der folgenden Ausführungen ist nach einer Darstellung des geltenden Rechts zur Besteuerung der Altersvorsorgeaufwendungen und der Altersbezüge sowie der Rechtsprechung zur Rentenbesteuerung eine kritische Würdigung des Gesetzentwurfs zum Alterseinkünftegesetz. II. Das geltende Recht 1. Die Besteuerung der Altersvorsorgeaufwendungen Arbeitnehmer können Beiträge zur Rentenversicherung als Sonderausgaben von dem zu versteuernden Einkommen abziehen. Sonderausgaben sind auch Beiträge zur gesetzlichen Kranken-, Arbeitslosen- und Pflegeversicherung und sonstige Vorsorgeaufwendungen, wie z. B. Beiträge zur privaten Lebens-, Kranken- oder z. B. Haftpflichtversicherung, aber auch Beiträge zur Reiseunfallversicherung. Da die Abziehbarkeit der Sonderausgaben auf bestimmte Höchstbeträge begrenzt ist (vgl. § 10 Abs. 3 EStG), sind schon bei niedrigeren Arbeitsverdiensten die gesetzlichen Vorsorgeaufwendungen nicht mehr voll abzugsfähig, dies auch deshalb, weil der Arbeitgeberbeitrag – der zwar steuerfrei ist – den möglichen Umfang vermindert6, in dem Sonderausgaben geltend gemacht werden können. So betragen die Abzugsmöglichkeiten für Vorsorgeaufwendungen nach § 10 Abs. 3 EStG im Jahr 2003 gerade noch 32 Prozent des Arbeitnehmerbeitrags bei einem alleinstehenden Durchschnittsverdiener. Beamte zahlen keine Beiträge für ihre Altersvorsorge. Selbst wenn man unterstellt, dass sie – durch geringere Bruttogehälter – fiktive Beiträge aufzubringen haben, stammen diese im Gegensatz zu den Rentenversicherungsbeiträgen der Arbeitnehmer vollständig aus unversteuertem Einkommen. Das Recht, Vorsorgeaufwendungen geltend zu machen, steht Beamten dennoch bis zu denselben Höchstbeträgen zu wie rentenversicherungspflichtigen Arbeitnehmern. Sie haben dieses Recht in gleichem Umfang, obwohl sie in den gesetzlichen Sozialversicherungen nicht pflichtversichert sind, keine bzw. wenn überhaupt nur eine ergänzende Vorsorge für ihr Alter treffen müssen und wegen ihres Beihilfeanspruchs eine private Krankenversicherung mit niedrigeren Beiträgen abschließen können.
2. Die Besteuerung der Alterseinkünfte Nach geltendem Recht unterliegen Renten aus der gesetzlichen Rentenversicherung nicht in voller Höhe, sondern mit ihrem Ertragsanteil der Einkommensbesteuerung. Der Kapitalanteil ist steuerfrei. Dies gilt auch für Renten aus privaten Versicherungsverträgen, für Bezüge aus betrieblichen Pensionskassen, aus Direkt6
Zur Kürzung des Vorwegabzugs siehe § 10 Abs. 3 Satz 2 EStG.
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versicherungen sowie aus berufsständischen Versorgungseinrichtungen und aus der Zusatzversorgung des öffentlichen Dienstes. All diese Leistungen werden als Leibrenten in einen Teil „Vermögens- bzw. Kapitalverzehr“ und in einen Teil „Zinsertrag“ aufgespalten7. Das entspricht dem steuerrechtlichen Prinzip, dass nur der Kapitalertrag – also die Zinsen –, nicht aber der Kapitalrückfluss selbst zu versteuern ist. Während der als Vermögensverzehr zu qualifizierende Kapitalanteil vor dem steuerlichen Zugriff geschützt ist, unterliegt der als Zinseinkommen zu qualifizierende Ertragsanteil – nach Abzug bestimmter Freibeträge – der Einkommensteuer. Die Höhe des zu versteuernden Ertragsanteils hängt vom Alter bei Renteneintritt ab. Die Prozentsätze bestimmt § 22 Nr. 1 Satz 3 Buchstabe a EStG. Der Satz beträgt beispielsweise bei einem 60-Jährigen 32 Prozent und bei einem 65-Jährigen 27 Prozent, d. h. etwa ein Drittel bzw. ein Viertel der Rente ist steuerpflichtiges Einkommen, der Rest gilt als Vermögensverzehr. Von dem auf diese Weise ermittelten Ertragsanteil kann ein Sonderausgabenpauschbetrag von 36 A (§ 10 c Abs. 1 EStG), der nicht im Zusammenhang mit der Altersvorsorge stehende Aufwendungen pauschaliert, und eine Werbungskostenpauschale von 102 A (§ 9 a Satz 1 Nr. 3 EStG) jährlich abgesetzt werden. Absetzbar sind außerdem – wie bei allen Steuerpflichtigen – die Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung der Rentner (§ 10 Abs. 1 Nr. 2 a EStG). Derzeit sind die gesetzlichen Renten aufgrund des zusätzlichen – allen Steuerpflichtigen zustehenden – Grundfreibetrages in Höhe von 7.235 A (§ 32 a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG) praktisch steuerfrei. Bei ledigen Rentnern ohne weitere Einkünfte würden erst bei einem Renteneinkommen von über 38.500 A tatsächlich Einkommensteuer zu zahlen sein. Bei verheirateten Rentnern beginnt die effektive Besteuerung bei über 65.900 A – das sind Beträge, die eine gesetzliche Rente allein nicht erreicht. In der Kumulation mit anderen Einkommen – etwa aus selbständiger oder nichtselbständiger Arbeit oder aus Vermietung und Verpachtung – können Renten allerdings bereits ab einer geringeren Höhe besteuert werden. Bei den Beamtenpensionen geht das Gesetz davon aus, dass der Beamte aufgrund seines besonderen, regelmäßig lebenslänglichen Dienst- und Treueverhältnisses auch nach seiner Pensionierung weiterhin Dienstbezüge erhält. Weil Beamte dafür keine Beiträge gezahlt haben, gibt es bei ihnen keinen bereits versteuerten Vermögensbestand, aus dem die Pensionszahlungen fließen. Diese gelten – ebenso wie Leistungen aus betrieblichen Unterstützungskassen und Leistungen aufgrund betrieblicher Versorgungszusagen – als nachträglich zufließende Einkünfte aus unselbständiger Arbeit. Daher unterliegen sie im Unterschied zu den gesetzlichen Renten in vollem Umfang der Besteuerung. Allerdings steht den Beziehern solcher Versorgungsbezüge ein Versorgungsfreibetrag in Höhe von 40 Prozent der Bezüge – jedoch höchstens 3.072 A – zu (§ 19 Abs. 2 Nr. 1 EStG). Zudem können sie den Arbeitnehmer-Pauschbetrag für Werbungskosten von 1.044 A (§ 9 a Satz 1 Nr. 1 EStG) absetzen und Sonderausgaben im Rahmen der gleichen Höchstbeträge, wie sie auch den Rentnern zustehen, geltend machen (§ 10 Abs. 1 Nr. 2 a EStG). 7 Vgl. Marschall, in: U. Dankmeyer / J. Giloy, Einkommensteuer Kommentar, Band 3, 1999, § 22 Rn. 40.
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III. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Das Bundesverfassungsgericht hatte sich bereits 19808 und 19929 mit der Problematik auseinandergesetzt, ob die unterschiedliche Besteuerung von gesetzlichen Renten und Beamtenpensionen mit dem Gleichbehandlungsgebot des Grundgesetzes vereinbar ist. 1980 erklärte das Gericht die unterschiedliche Besteuerung von Renten und Beamtenpensionen zwar für grundsätzlich mit dem Grundgesetz vereinbar, da ein sachlicher Grund existiere. Nach Ansicht des Gerichts habe der Umfang der steuerlichen Bevorzugung der Rentner gegenüber den Pensionären ein Ausmaß erreicht, das jedenfalls für die Zukunft korrigiert werden müsse10. In seinem Beschluss aus dem Jahr 1992 entschied das Bundesverfassungsgericht, dass die dem Gesetzgeber für die Neuregelung der Besteuerung der Alterseinkünfte zur Verfügung stehende Zeit aufgrund der komplexen Materie und der Bewältigung der Wiedervereinigung noch nicht verstrichen sei11. In seiner Entscheidung vom 6. März 200212 stellt das Gericht zunächst fest, dass für die gleichheitsrechtliche Würdigung der unterschiedlichen Besteuerung von Renten und Pensionen allein ein einkommensteuerlicher Bezugsrahmen relevant sei (sog. steuerrechtsimmanente Betrachtungsweise)13. Es legt den dafür maßgeblichen Rahmen dadurch fest, dass steuerbares Einkommen nur der erstmalige Zufluss sei. Was bereits der Einkommensteuer unterlegen hat, dürfe nicht ein zweites Mal besteuert werden. Diesem Maßstab entsprechend orientiere sich die derzeitige Rentenbesteuerung am Bild des Kaufs einer Leibrente durch eine aus versteuertem Einkommen geleistete einmalige Zahlung. Soweit die Rente also tatsächlich aus versteuertem Einkommen geleistet worden sei, entspreche die derzeitige Besteuerung dem Leitbild der Ertragsanteilsbesteuerung. Bei der gesetzlichen Rente hebt das Bundesverfassungsgericht bei der Prüfung, ob dieses Bild der Realität entspricht, auf drei Finanzierungsteile der gesetzlichen Rente ab: Arbeitgeberanteil, Arbeitnehmeranteil und Bundeszuschuss. Es kommt zu dem Ergebnis, dass zwei der drei Finanzierungsanteile der Rente diesem Bild nicht entsprechen. Der Arbeitgeberanteil und der Bundeszuschuss14 hätten in der BVerfGE 54, 11 ff. BVerfGE 86, 369 ff. 10 Vgl. BVerfGE 54, 11 (37 ff.). 11 Vgl. BVerfGE 86, 369 (380 f.). 12 BVerfGE 105, 73 ff. 13 Vgl. BVerfGE 105, 73 (111). 14 Dabei wird die Funktion des Bundeszuschusses übersehen, nicht beitragsgedeckte („versicherungsfremde“) Leistungen der Rentenversicherung ordnungspolitisch sachgerecht aus Steuermitteln zu finanzieren. Nicht alle Renten enthalten einen Anteil des Bundeszuschusses. Deswegen kann nicht bei allen Renten entsprechend dem Verhältnis von Bundeszuschuss zu den gesamten Einnahmen der Rentenversicherung (derzeit ca. 23 Prozent) ein 8 9
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Erwerbsphase nicht der Besteuerung unterlegen. Nur soweit die Renten auf Beiträgen der Arbeitnehmer beruhen, sei die derzeitige Ertragsanteilsbesteuerung verfassungsgemäß, weil die Arbeitnehmerbeiträge trotz der Möglichkeit, sie als Sonderausgaben absetzen zu können, grundsätzlich aus bereits versteuertem Einkommen gezahlt werden. Im Ergebnis werde also noch nicht einmal die Hälfte der Rentenzahlungen aus versteuertem Einkommen geleistet, so dass die Realität nicht dem Bild einer aus versteuertem Einkommen entgeltlich erworbenen Leibrente entspreche. Da auch kein sachlicher Grund dafür ersichtlich sei, die Rente insoweit steuerlich anders zu bewerten als die Versorgungsbezüge der Beamten, liege zu Lasten der Beamten ein Verstoß gegen das Gleichbehandlungsgebot vor15. Das Bundesverfassungsgericht hat dem Gesetzgeber einen weiten Gestaltungsspielraum zugebilligt. Es betont allerdings, dass die Besteuerung der Vorsorgeaufwendungen für die Alterssicherung und die Besteuerung von Bezügen aus dem Ergebnis der Vorsorgeaufwendungen so aufeinander abzustimmen seien, dass eine doppelte Besteuerung vermieden wird16. Im Übrigen müsse der Gesetzgeber bei der Ausgestaltung der Neuregelung abwägen zwischen den Erfordernissen einer folgerichtigen Ausrichtung17 der Einkommensbesteuerung an der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit der Steuerpflichtigen und den Notwendigkeiten einfacher, praktikabler und gesamtwirtschaftlich tragfähiger Lösungen. Es lassen sich mithin drei Prinzipien herausheben: Verbot der Doppelbesteuerung, Gleichbehandlungsgrundsatz und Vertrauensschutz.
zusätzlich zu versteuernder Anteil angenommen werden. Vgl. hierzu: F. Ruland, Die Besteuerung von Alterseinkünften, StB 2003, 42 (48). 15 Zu der durch diese Entscheidung ausgelösten Diskussion: H.-W. Arndt, Neuregelung der Besteuerung von Alterseinkommen nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, ZBR 2002, S. 189 ff.; N. Brall / G. Bruno-Latocha / A. Lohmann, Steuerliche Behandlung von Beiträgen zur und Leistungen der gesetzlichen Rentenversicherung – Konsequenzen aus dem Urteil des BVerfG, DRV 2002, S. 420 ff.; P. Fischer, Mehr Schatten als Licht im Steuerrecht der Altersvorsorgeaufwendungen und Altersbezüge, BB 2003, S. 873 ff.; W. Heine, Die Neuordnung der Besteuerung systemvermittelter Altersrenten, ZRP 2002, S. 479 ff.; U. Höreth / B. Schiegl / L. Zipfel, Was wird aus der Rentenbesteuerung?, BB 2002, S. 1565 ff.; M. Lehner, Zur Vereinbarkeit von unterschiedlicher Besteuerung der Beamtenpensionen und der Renten aus der gesetzlichen Rentenversicherung mit dem Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG, Anmerkung zu BVerfG, Urt. v. 6. 3. 2002 – 2 BvL 17 / 99, JZ 2002, S. 772 ff.; F. Ruland, Die Besteuerung von Alterseinkünften, StB 2003, S. 42 ff.; W. Schmähl, Steuerliche Behandlung von Altersvorsorge und Alterseinkünfte, Wirtschaftsdienst (2003), Heft 1, S. 22 ff.; siehe auch: BT-Drucksache 14 / 8816. 16 Vgl. BVerfGE 105, 73 (134 f.). 17 Hat der Steuergesetzgeber eine bestimmte Grundsatzentscheidung getroffen, so muss er diese einmal getroffene Belastungsentscheidung – für die Dauer ihrer Geltung – folgerichtig umsetzen. Dies ergibt sich aus dem Gebot der Belastungsgleichheit. Vgl. BVerfGE 84, 239 (271); 86, 148 (251 f.); 87, 153 (170); 93, 121 (136); 98, 83 (97 f.); 98, 106 (118 f.).
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IV. Gesetzentwurf zur Neuordnung der steuerrechtlichen Behandlung von Altersvorsorgeaufwendungen und Alterbezügen 1. Grundmodell In dem Gesetzentwurf vom Dezember 2003 zur Neuordnung der steuerrechtlichen Behandlung von Altersvorsorgeaufwendungen und Altersbezügen ist grundsätzlich für alle Systeme der Alterssicherung der Übergang zur nachgelagerten Besteuerung vorgesehen (vgl. §§ 10, 22 Nr. 1 Satz 3 EStG-Entwurf). Nachgelagert bedeutet, dass die Aufwendungen für die Altersvorsorge von der Besteuerung freigestellt und die Leistungen voll besteuert werden. Zukünftig wird zwischen drei Schichten der Altersvorsorge differenziert, die unterschiedlichen steuerlichen Regelungen unterliegen sollen: Die Basisversorgung (1. Schicht), die kapitalgedeckte Zusatzversorgung (2. Schicht) und die Kapitalanlageprodukte (3. Schicht). Zur ersten Schicht gehören neben der gesetzlichen Rentenversicherung und der Alterssicherung der Landwirte auch die berufständische Versorgung sowie kapitalgedeckte private Leibrentenversicherungen, sofern sie lebenslange Leibrenten für den Versicherten oder seine Hinterbliebenen vorsehen und die Ansprüche nicht vererblich, nicht übertragbar, nicht beleihbar, nicht veräußerbar und nicht kapitalisierbar sind (§ 10 Abs. 2 Nr. 2 EStG-Entwurf). Beiträge zur Basisversorgung sollen nach § 10 Abs. 3 Nr. 1 EStG-Entwurf begrenzt auf 20.000 A als Sonderausgaben im Rahmen eines hierfür reservierten Höchstbetrages geltend gemacht werden können18. Die zweite Schicht der Altersversorgung bildet die kapitalgedeckte zusätzliche Altersvorsorge. Hierin sind die betriebliche Altersversorgung (mit Ausnahme der umlagefinanzierten Zusatzversorgung des öffentlichen Dienstes) sowie die geförderte private Altersvorsorge („RiesterRente“) zusammengefasst. Für diese Systeme soll die derzeit geltende Förderung im Wesentlichen bestehen bleiben. Kapitalanlageprodukte, die auch, aber nicht ausschließlich, der Altersvorsorge dienen können, bilden die dritte Schicht und sollen vorgelagert besteuert werden (§ 22 Satz 1 Nr. 1 Satz 3 a) bb) EStG-Entwurf). Hierunter fällt auch die Kapitallebensversicherung.
2. Übergangsregelung Da gegenwärtig die Beiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung teilweise aus versteuertem Einkommen gezahlt werden, können die Rentenleistungen der Steuerpflichtigen, die bereits Beiträge nach geltendem Recht geleistet haben, nicht sofort voll versteuert werden. Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Urteil 18 Die Sachverständigenkommission hatte einen unbegrenzten Abzug als Werbungskosten vorgeschlagen, dem folgt der Gesetzentwurf nicht; vgl. Abschlussbericht der Sachverständigenkommission zur Neuordnung der steuerrechtlichen Behandlung von Altersvorsorgeaufwendungen und Altersbezügen, BMF Schriftenreihe Band 74, S. 21 ff.
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vom 6. März 2002 deutlich gemacht, dass bereits versteuertes Einkommen nicht erneut besteuert werden darf19. Daher wird für die Basisversorgung, also auch für die Renten der gesetzlichen Rentenversicherung, ein stufenweiser Übergang zur nachgelagerten Besteuerung vorgeschlagen.
a) Schrittweise Freistellung der Beiträge Die Beiträge zu Einrichtungen der Basisversorgung werden nach § 10 Abs. 1 Nr. 2 EStG-Entwurf schrittweise von der Besteuerung freigestellt. Der Gesamtbeitrag (Arbeitgeber- und Arbeitnehmerbeitrag) soll ab 2005 zu mindestens 60 Prozent steuerlich abziehbar sein. Jährlich steigt dieser Anteil um 2 Prozentpunkte. Ab dem Jahr 2025 sind die Beiträge vollständig abziehbar. Somit können Arbeitnehmer, die einen nach § 3 Nr. 62 EStG steuerfreien Arbeitgeberbeitrag erhalten, im Jahr 2005 10 Prozentpunkte des Gesamtbeitrags, also 20 Prozent des eigenen hälftigen Beitragsanteils steuerlich als Sonderausgaben geltend machen. Dieser abziehbare Anteil des Arbeitnehmerbeitrags erhöht sich entsprechend bis 2025 jährlich um 4 Prozentpunkte.
b) Schrittweise Besteuerung der Leistungen Auch für die Besteuerung der Leistungen ist ein schrittweiser Übergang vorgesehen (§ 22 Nr. 1 Satz 3 EStG-Entwurf). Für das Jahr 2005 wird der steuerpflichtige Anteil der Rente für Bestandsrentner und Rentenzugänge auf jeweils 50 Prozent festgesetzt. Bei späteren Rentenzugängen steigt dieser Anteil bis 2020 jährlich um zwei Prozentpunkte auf 80 Prozent und danach um einen Prozentpunkt jährlich auf 100 Prozent im Jahre 2040. Dies gilt auch für diejenigen Rentenanwartschaften, die auf vollständig selbst vom Versicherten getragenen Beiträgen (ohne steuerfreien Arbeitgeberanteil) beruhen. Gesetzestechnisch soll dies in einer neuen Tabelle in § 22 Nr. 1 Satz 3 EStG in der Weise umgesetzt werden, dass für jeden Rentenzugangsjahrgang ein Prozentsatz festgeschrieben wird, der angibt, welcher Teil der Rente steuerpflichtiges Einkommen ist. Der „steuerfreie Teil der Rente“ ((100 Prozent minus maßgeblicher Prozentsatz des Rentenzugangsjahres) mal Zahlbetrag des ersten vollen Rentenbezugsjahres) wird als fester, undynamischer persönlicher Freibetrag ausgestaltet, der über die gesamte Rentenlaufzeit hinweg unverändert bleibt. Der Freibetrag ändert sich lediglich bei einer Neufestsetzung der Rente, etwa bei Umwandlung einer Teilrente in eine Vollrente, aber auch in diesen Fällen wird der Prozentsatz des ersten Rentenbezugsjahres weiterhin zu Grunde gelegt. Die Ermittlung des steuerfreien Rentenanteils soll auch bei Erwerbsminderungsrenten und Hinterbliebenen19
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renten analog erfolgen. Bei Hinterbliebenenrenten aus einer zuvor bezogenen Altersrente bleibt allerdings der Prozentsatz der Rente des Verstorbenen maßgeblich. c) Freibeträge Parallel zum Anstieg des steuerpflichtigen Rentenanteils ab 2005 bis 2040 sollen der Versorgungs-Freibetrag (§ 19 Abs. 2 EStG-Entwurf) und der Altersentlastungsbetrag (§ 24a EStG-Entwurf) schrittweise abhängig vom Jahr des ersten Versorgungsbezuges reduziert werden. Der Werbungskostenpauschbetrag für Versorgungsempfänger (§ 9a Satz 1 Nr. 1 EStG-Entwurf) wird auf den Werbungskostenpauschbetrag für sonstige Einkünfte (§ 9a Satz 1 Nr. 3 EStG-Entwurf) abgesenkt. Für Bestandsfälle verändern sich die Freibeträge in den Folgejahren nicht. 3. Sonstige Vorsorgeaufwendungen Sonstige Vorsorgeaufwendungen, die nicht zu den Altersvorsorgeaufwendungen gehören (wie Beiträge zu Kranken- und Pflege- und Arbeitslosenversicherung), können weiterhin begrenzt als Sonderausgaben abgezogen werden. Der Höchstbetrag für die abziehbaren sonstigen Vorsorgeaufwendungen soll 2 500 A betragen, allerdings wird dieser für Steuerpflichtige, die einen steuerfreien Arbeitgeberanteil zur Krankenversicherung oder einen Beihilfeanspruch haben, auf einen Höchstbetrag von 1 500 A gekürzt (vgl. § 10 Abs. 3 Nr. 2 EStG-Entwurf). Um Schlechterstellungen gegenüber dem bislang geltenden Recht hinsichtlich der Abziehbarkeit von Vorsorgeaufwendungen zu vermeiden, ist gem. § 10 Abs. 3 Nr. 3 EStG-Entwurf eine sog. Günstigerregelung vorgesehen. Das Finanzamt führt bis 2014 Vergleichsberechnungen durch, ob der Abzug aller gesetzlichen Vorsorgeaufwendungen nach altem Recht oder neuem Recht für den Steuerpflichtigen günstiger ist, wobei allerdings der Vorwegabzug bis 2014 abgeschmolzen wird, so dass die Günstigerprüfung schon bald an Bedeutung verlieren wird. Außerdem werden trotz der „Günstigerprüfung“ in den nächsten Jahren viele Versicherte aufgrund des Abschmelzen des Vorwegabzugs schlechter gestellt, insbesondere wenn sie ein Entgelt etwa in Höhe des halben Durchschnittsverdienstes beziehen.
V. Kritische Würdigung des Gesetzentwurfs 1. Der Übergang zur nachgelagerten Besteuerung Der in dem Gesetzentwurf vorgesehene Übergang zur nachgelagerten Besteuerung ist sachgerecht und wird im Übrigen auch auf EU-Ebene20 und in der Litera20 Empfehlung der EU-Kommission für die Grundzüge der Mitgliedstaaten und der Gemeinschaft im Jahr 2000, KOM / 200 / 0214 endg.
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tur21 favorisiert. Außerdem spricht der Steuerstundungseffekt für dieses Modell, d. h. die Steuerzahlung wird von der Beitrags- in die Rentenzahlungsphase verschoben. Das bewirkt zweierlei: Zum einen können die meisten Betroffenen auf Grund der im Allgemeinen niedrigeren Einkommen in der Rentenbezugsphase bei einem progressiven Einkommensteuertarif von einem geringeren Grenzsteuersatz profitieren. Zum anderen kann durch die spätere Fälligkeit die gesparte Steuerschuld – zumindest theoretisch – für die Dauer der Stundung angelegt werden und Zinserträge erbringen. Entscheidend aber ist, dass die Rentenversicherungsbeiträge Zwangsbeiträge sind, die im Zeitpunkt der Zahlung die steuerliche Leistungsfähigkeit des Beitragszahlers mindern und deswegen im Rahmen einer am Leistungsfähigkeitsprinzip22 orientierten Besteuerung bei der Ermittlung der Bemessungsgrundlage der Einkommensteuer vom steuerbaren Einkommen abzuziehen sind (sog. Besteuerung nach der subjektiven Leistungsfähigkeit23). Eine steuerliche Leistungsfähigkeit kann auch nicht in dem Erwerb einer Rentenanwartschaft durch Entrichtung der Rentenbeiträge begründet werden. Steuerliche Leistungsfähigkeit ist gleichzusetzen mit Zahlungsfähigkeit24. Rentenanwartschaften sind zwar eigentumsrechtlich gesicherte Vermögenswerte, aber nicht jederzeit verwertbar und schaffen somit in der Anwartschaftsphase keine Zahlungsfähigkeit. Die Rentenversicherungsbeiträge mindern viel mehr die subjektive Leistungsfähigkeit. Also müssen die Rentenbeiträge vollständig von der Bemessungsgrundlage abziehbar sein25. Dieser Anforderung wird das System der nachgelagerten Besteuerung gerecht. Auch die Besteuerung der Leistungen – die Steuerfreiheit der Beiträge vorausgesetzt – folgt dem Leistungsfähigkeitsprinzip: Wer kurz Rente bezieht, zahlt wenig Steuern, wer lange Rente bezieht entsprechend mehr.
2. Sonderausgaben statt Werbungskosten Der Gesetzentwurf sieht die beschränkte Abziehbarkeit von Altersvorsorgebeiträgen als Sonderausgaben vor. Eine Einordnung der Rentenversicherungsbeiträge 21 H. Söhn / S. Müller-Franken, Vorgelagerte und / oder nachgelagerte Besteuerung von Altersbezügen, StuW 2000, 442 (442) m. w. N. 22 Es ist ein grundsätzliches, in Art. 3 Abs. 1 GG verfassungsrechtlich verankertes Gebot der Steuergerechtigkeit, dass insbesondere die Einkommensbesteuerung an der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit ausgerichtet ist. Vgl. BVerfGE 61, 319 (343 f.); 66, 214 (223); 82, 60 (86); 99, 88 (96 f.). 23 Vgl. BVerfGE 99, 246 (259); H. Söhn, Sonderausgaben (§ 10 EStG) und Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit, StuW 1985, 395 (400 ff.); H. Söhn / S. Müller-Franken, (Fn. 21), S. 444. So auch M. Lehner, (Fn. 15), S. 773. 24 P. Kirchhof, Steuergerechtigkeit und sozialstaatliche Geldleistungen, JZ 1982, 305 (306). 25 H. Söhn, (Fn. 23), S. 404; K. Littmann, in: Sachverständigenkommission Alterssicherungssysteme, S. 471 (473).
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als unbegrenzt abziehbare Werbungskosten wäre aber aus steuersystematischen Gründen angemessen. Diese Auffassung vertrat auch die Sachverständigenkommission zur „Neuordnung der steuerrechtlichen Behandlung von Altersvorsorgeaufwendungen und Altersbezügen“. Eine beschränkte Abziehbarkeit bedeute eine Durchbrechung des objektiven Nettoprinzips und führe zu einer Aufteilung zwischen Aufwendungen, die berücksichtigt wurden, und solchen, die oberhalb eines entsprechenden Höchstbetrages liegen26. Nach geltendem Recht hat der Gesetzgeber die Rentenversicherungsbeiträge zwar den Sonderausgaben zugeordnet27. Werden Renten aber zukünftig nachgelagert besteuert, entspricht es der steuerrechtlichen Systematik, die Rentenversicherungsbeiträge als Werbungskosten unbegrenzt abzuziehen. Es handelt sich bei ihnen um „Aufwendungen zur Erwerbung, Sicherung und Erhaltung der Einnahmen“ (§ 9 Abs. 1 Satz 1 EStG)28. Die Beiträge sind bei einer nachgelagerten Besteuerung der Renten ihrer Art nach vorab entstandene Werbungskosten, da sie dem Erwerb von steuerpflichtigen Einkünften im Alter dienen. Auch fiskalische Argumente sind nicht geeignet, den unbegrenzten Abzug als Werbungskosten abzulehnen. Sofern die Abziehbarkeit auf Beiträge für reine Leibrenten beschränkt bleibt, d. h. der Versicherte unter keinen Umständen vorzeitig über das Vermögen verfügen kann und bei Nichteintreten des Versicherungsfalles (Alter, Invalidität, Tod des „Ernährers“) die Beiträge „verloren“ sind (nicht vererbbar, veräußerbar und übertragbar), ist auch bei einer unbegrenzten Abzugsfähigkeit der Beiträge nicht damit zu rechnen, dass Steuerpflichtige im Übermaß in diese Anlageformen investieren, um sich zunächst der Besteuerung zu entziehen.
26 Abschlussbericht der Sachverständigenkommission zur Neuordnung der steuerrechtlichen Behandlung von Altersvorsorgeaufwendungen und Altersbezügen (Fn. 4), S. 29 f. 27 Eine solche Zuordnung ergibt sich aus der Herkunft der Vorschrift aus dem preußischen EStG 1891. Vgl. hierzu: H. Söhn, in: P. Kirchhof / H. Söhn, Einkommensteuergesetz Kommentar, 2001, § 10 EStG, Rn. A 76 ff. 28 A. A. P. Fischer, (Fn. 4), S. 877, der betont, dass die Rentenversicherungsbeiträge als Versicherungsbeiträge keine Werbungskosten seien. Dagegen sprechen aber folgende Ausführungen des 9. Senats des Bundesfinanzhofes, der in seinem Urteil vom 29. Juli 1986 erläuterte: „Der Gesetzgeber ist bisher nicht seiner Verpflichtung gemäß dem Beschluss des BVerfGE 54, 11 (Beschluss des BVerfG von 1980) nachgekommen, die Besteuerung der Sozialversicherungsrenten und Beamtenpensionen zur Beseitigung von Ungleichheiten neu zu regeln. Eine Gleichbehandlung beider Formen der Altersversorgung könnte er beispielsweise dadurch erreichen, dass er Bezüge aus der gesetzlichen Rentenversicherung – abgesehen von Freibeträgen – vollen Umfangs als sonstige Einkünfte i. S. v. § 22 Nr. 1 EStG der Einkommensbesteuerung unterwirft. Erst dann könnte sich die grundsätzliche Frage stellen, ob Beiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung vorab entstandene Werbungskosten darstellen, weil hierin Aufwand zur Erzielung steuerpflichtiger Einnahmen erblickt werden kann, und ob sie als Anschaffungskosten für die Rentenanwartschaft anzusehen und nur nach Maßgabe des § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 7 EStG abziehbar sind.“ Direkt gegen P. Fischer: H. Söhn, (Fn. 4), S. 332.
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3. Zweifachbesteuerung durch die Übergangsregelung Das Bundesfinanzministerium führt in dem Gesetzentwurf aus: „Nach den Ergebnissen der Sachverständigenkommission und aus den ergänzenden Berechnungen des Bundesministeriums der Finanzen ( . . . ) ergibt sich, dass den Anforderungen des BVerfG hinsichtlich der Vermeidung einer doppelten Besteuerung in allen realitätsgerechten Fällen entsprochen wird“29. Das Bundesministerium der Finanzen kommt insbesondere deswegen nicht zu einem Verstoß gegen das Zweifachbesteuerungsverbot, weil es in seinem Berechnungsansatz den Grundfreibetrag als steuerfreien Rentenzufluss wertet. Zweifel daran ergeben sich schon aus dem Umstand, dass z. B. der Rentenzugangsjahrgang 2040 in der Rentenphase voll besteuert wird, obgleich er bis 2025 einen Teil seiner Beiträge versteuern musste, er also nur für maximal 15 Jahre in den Genuss der vollen Steuerfreiheit seiner Beiträge gekommen ist. Die Zweifachbesteuerung ist auch kein spezifisches Problem allein der Versicherten der gesetzlichen Rentenversicherung, es handelt sich vielmehr um ein grundlegendes Problem der Übergangslösung, das in gleicher Weise etwa die Versicherten der berufsständischen Versorgung oder privaten Leibrenten der Basisversorgung (1. Schicht) betreffen wird.
a) Verfassungsrechtliches Verbot der Zweifachbesteuerung Auch wenn das BVerfG dem Gesetzgeber einen weiten Gestaltungsspielraum zubilligt, verlangt es doch, dass „in jedem Fall ( . . . ) die Besteuerung von Vorsorgeaufwendungen für die Alterssicherung und die Besteuerung von Bezügen aus dem Ergebnis der Vorsorgeaufwendungen so aufeinander abzustimmen (sind), dass eine doppelte Besteuerung vermieden wird“30. Dieses vom Bundesverfassungsgericht explizit im dritten Leitsatz seiner Entscheidung vom 6. März 2003 formulierte Verbot der Zweifachbesteuerung lässt sich zum einen aus dem Gleichbehandlungsgrundsatz des Art. 3 Abs. 1 GG herleiten und zum anderen aus Art. 14 Abs. 1 GG. Der Gleichbehandlungsgrundsatz wäre in seiner speziellen Ausprägung der Besteuerungsgleichheit verletzt, wenn eine Gruppe von Steuerpflichtigen durch eine einkommensteuerliche Doppelbelastung im Vergleich zu anderen Steuerpflichtigen benachteiligt würde31. Ein zweifacher steuerlicher Zugriff auf ein Vermögen verbietet sich außerdem aufgrund der Bestandsgarantie des Art. 14 Abs. 1 GG. Nach dem sog. „Vermögenssteuerbeschluss“ des Bundesverfassungsgerichts geBT-Drucksache 15 / 2150, S. 45 ff. Vgl. BVerfGE 105, 73 (134 f.). 31 Vgl. C. Gröpl, Zur Verfassungsmäßigkeit der unterschiedlichen Formen der Besteuerung der Renten, in: Besteuerung von Beiträgen und Leistungen in der Altersvorsorge, DRVSchriften, Band 29, S. 85 (104); ders., Verfassungsrechtliche Vorgaben für intertemporale Korrespondenz und konsumorientierte Betrachtungsweise im Einkommensteuerrecht, FR 2001, 620 (626). 29 30
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nießt das „konsolidierte“32, d. h. aus bereits versteuertem Einkommen aufgebaute Vermögen, gegen eine weitere Besteuerung eigentumsrechtlichen Substanzschutz33. Das Bundesverfassungsgericht lässt für eine ergänzende Besteuerung eines durch direkte und indirekte Steuern bereits mehrfach belasteten Vermögens nur noch einen engen Spielraum34. Der Steuergesetzgeber darf „in bestimmten Grenzen das vom Steuerpflichtigen zur Grundlage seiner individuellen Lebensgestaltung bestimmte Vermögen nicht durch weitere Besteuerung mindern“35. Der Vermögenssteuerbeschluss des Bundesverfassungsgerichts ist entsprechend auf das Rentenvermögen36 anzuwenden, das für die Mehrzahl der Versicherten weit mehr als sonstiges Vermögen die wirtschaftliche Grundlage ihrer persönlichen Lebensführung im Alter ist und ihnen eine eigenverantwortliche Gestaltung derselben ermöglicht37.
b) Definition der Zweifachbesteuerung Ausgangspunkt der Berechnungen des VDR – wie im Wesentlichen auch des Bundesfinanzministeriums – sind die Ausführungen der Sachverständigenkommission zur Definition der Zweifachbesteuerung. Danach soll eine Zweifachbesteuerung dann nicht vorliegen, wenn der steuerfreie Rentenzufluss mindestens so hoch ist wie die aus versteuertem Einkommen geleisteten Rentenbeiträge38. Folglich ist zu bestimmen, was unter Rentenversicherungsbeiträgen aus „versteuertem Einkommen“ und was unter „steuerfreiem Rentenzufluss“ zu verstehen ist. Zur Definition dessen, was als „versteuertes Einkommen“ anzusehen ist, hat das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil vom 6. März 2003 dargelegt: „Hiernach ist von einer tatsächlichen steuerlichen Belastung in der Erwerbsphase, die eine Entlastung in der Nacherwerbsphase rechtfertigt, immer dann auszugehen, wenn in der Erwerbsphase eine ,Regelbesteuerung‘ ohne spezielle Vergünstigungen stattgefunden hat.“39 32 Nach der Rechtsprechung des BVerfG ist unter konsolidiertem Vermögen das Vermögen zu verstehen, das in der Form von Einkommen – also bei seinem Erwerb – der Besteuerung unterlegen hat und von da an in der Privatsphäre des Steuerpflichtigen ruht; BVerfGE 93, 121 (153 f.). 33 BVerfGE 93, 121 (137); a. A. Sondervotum E. W. Böckenförde, BVerfGE 93, 149 ff. 34 BVerfGE 93, 121 (137). 35 BVerfGE 93, 121 (141). 36 Versichertenrenten und entsprechende Anwartschaften genießen nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts den Schutz der Eigentumsgarantie, vgl. BVerfGE 53, 257 (289 ff.); 58, 81 (109). 37 Vgl. hierzu: F. Ruland, Die Besteuerung der Renten, in: Festschrift für Otto Ernst Krasney zum 65. Geburtstag, 1987, S. 411 (430 f.); siehe auch: P. Kirchhof, Der Grundrechtsschutz des Steuerpflichtigen, AöR 128. Band (2003), 1 (19). 38 Vgl. Abschlussbericht der Sachverständigenkommission zur Neuordnung der steuerrechtlichen Behandlung von Altersvorsorgeaufwendungen und Altersbezügen (Fn. 4), S. 50 f.
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Aufgrund dieser Ausführungen des BVerfG und dem Umstand, dass die begrenzte steuerliche Berücksichtigung von Vorsorgeaufwendungen als Sonderausgaben allen Steuerpflichtigen gleichermaßen zusteht und damit kein Privileg von Versicherten der gesetzlichen Rentenversicherung ist, wird für die Berechnungen der gesamte Arbeitnehmerbeitrag zur Rentenversicherung als aus versteuertem Einkommen stammend angesehen. Entsprechend sind als steuerfreier Rentenzufluss nur solche Beträge anzusehen, die durch rentenspezifische Vergünstigungen von der Besteuerung verschont bleiben. Neben dem für die Übergangsphase vorgesehenen Rentenfreibetrag ist dies nur der Werbungskostenpauschbetrag für sonstige Einkünfte in Höhe von 102 A (§ 9a Satz 1 Nr. 3 EStG). Der Grundfreibetrag nach § 32 a EStG sowie die steuerlich abziehbaren Kranken- und Pflegeversicherungsbeiträge hingegen müssen bei der Ermittlung einer Zweifachbesteuerung unberücksichtigt bleiben, da sie allen Steuerpflichtigen unabhängig vom Rentenbezug zustehen. Gegen eine andere Definition der „steuerfreien Rentenzuflüsse“ und der „versteuerten Beiträge“ bestehen erhebliche Bedenken40.
c) Grundfreibetrag als steuerfreier Rentenzufluss Eine Berücksichtigung des Grundfreibetrages als steuerfreier Rentenzufluss vermengt Vorschriften zur Ermittlung der steuerlichen Bemessungsgrundlage mit tariflichen Vorschriften des EStG. Nach § 32 a Abs. 1 Satz 1 EStG bemisst sich die tarifliche Einkommensteuer nach dem zu versteuernden Einkommen. Bemessungsgrundlage ist also das „zu versteuernde Einkommen“, d. h. nach § 2 Abs. 5 EStG das Einkommen, vermindert um Freibeträge und sonstige vom Einkommen abzuziehende Beträge. Somit liegt mit dem „zu versteuernden Einkommen“ der Ausgangswert für die Anwendung der tariflichen Vorschriften des § 32 a Abs. 1 Satz 1 EStG vor. Dieser bestimmt, dass die Einkommensteuer für ein zu versteuerndes Einkommen bis 7.235 A Null beträgt. Der Grundfreibetrag ist damit nicht als sachliche Steuerbefreiung – wie beispielsweise der Werbungskostenpauschbetrag – ausgestaltet, sondern ist Teil der Tarifvorschriften41. Der Grundfreibetrag ist verfassungsrechtlich zwingend vorgegeben und hat – unabhängig von etwaigen Rückflüssen aus Vermögensumschichtungen – die Aufgabe sicherzustellen, dass ein steuerpflichtiges Einkommen unterhalb des Existenzminimums steuerlich nicht belastet wird42. Das Tarifelement „Grundfreibetrag“ ist Ausdruck eines absoluten BesteuerungsverBVerfGE 105, 73 (129). Grundlegend zur Definition der Zweifachbesteuerung: J. Hey, Verfassungswidrige Doppelbesteuerungen im Übergang zur nachgelagerten Besteuerung, DRV 2004, S. 1 ff. 41 Vgl. BFH 3. Senat Urteil vom 9. 8. 2001 III R 50 / 00, 2. Leitsatz. 42 Das leitet das BVerfG in ständiger Rechtsprechung aus Art. 1 Abs. 1 GG i.V.m dem Sozialstaatsprinzip ab. Vgl. BVerfG 87, 153 ff. 39 40
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bots43. Wird für ein steuerpflichtiges Einkommen aufgrund des Grundfreibetrags effektiv keine Steuer fällig, so hat dieses Einkommen dennoch in voller Höhe der Besteuerung unterlegen. Gegen die Einbeziehung des Grundfreibetrags in die Ermittlung der steuerfreien Rentenzuflüsse spricht auch, dass es nicht möglich ist, den Grundfreibetrag einer einzigen Einkunftsart zuzuordnen. Der Einkommensteuertarif trifft alle Einkunftsarten gleichermaßen. Bezieht der Steuerpflichtige neben seiner Rente noch andere Einkünfte, kann nicht bestimmt werden, welcher Teil der effektiven Steuerbelastung, die sich aus der Anwendung des Steuertarifs ergibt, der Einkunft „Rente“ zugerechnet werden kann. Zudem steht der Grundfreibetrag nicht nur Rentnern zu, sondern allen Steuerpflichtigen44. Die erheblichen Zweifel an der Vorgehensweise, den Grundfreibetrag als steuerfreien Rentenzufluss zu qualifizieren, werden durch folgendes Beispiel anschaulich: Eine Standardrente des Zugangsjahres 2005 könnte im Falle der Berücksichtigung des Grundfreibetrags und der Aufwendungen des Rentners für die Krankenund Pflegversicherung der Rentner als steuerfreier Rentenzufluss45 zu 143 Prozent (!) besteuert werden, ohne dass sich rechnerisch eine Zweifachbesteuerung ergäbe, obwohl in den 45 Beitragsjahren in erheblichem Umfang Beiträge aus versteuertem Einkommen geleistet worden waren. Auch die Sachverständigenkommission zur „Neuordnung der steuerrechtlichen Behandlung von Altersvorsorgeaufwendungen und Altersbezügen“ hat es abgelehnt, den Grundfreibetrag als steuerfreien Rentenzufluss zu werten. Dies begründet sie damit, dass eine steuersystematische Auslegung verlange, eine Rentenzahlung nicht in die steuerliche Bemessungsgrundlage einzurechnen, soweit sie aus vorgelagert besteuerten Beiträgen stamme46.
d) Kranken- und Pflegeversicherungsbeiträge des Rentners als steuerfreier Rentenzufluss Die im Rahmen des allgemeinen Sonderausgabenabzugs für Vorsorgeaufwendungen geltend getätigten Aufwendungen der Rentner für ihre Kranken- und Pflegeversicherung dürfen ebenfalls nicht als steuerfreier Rentenzufluss qualifiziert werden. Selbst wenn mit der Kranken- und Pflegeversicherung der Rentner 43 Schöberle, in: Kirchhof / Söhn, Einkommensteuergesetz Kommentar, Stand: Mai 2001, § 32 a Rn. A 147. 44 Zur Nichtberücksichtigung des Grundfreibetrages als steuerfreien Rentenzufluss vgl. J. Hey, (Fn. 42), S. 7 ff. 45 Vgl. hierzu den folgenden Abschnitt. 46 Vgl. Abschlussbericht der Sachverständigenkommission zur Neuordnung der steuerrechtlichen Behandlung von Altersvorsorgeaufwendungen und Altersbezügen (Fn. 4), S. 56 f.
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rentnerspezifische Systeme der Beitragsbemessung bestehen, so ist doch die Möglichkeit, Vorsorgeaufwendungen für Gesundheit und Pflege steuerlich geltend zu machen, kein Privileg der Rentner, sondern steht allen Steuerpflichtigen zu. Sie ist also keine rentenspezifische Abzugsmöglichkeit und muss deshalb auch bei der Quantifizierung der steuerfreien Rentenzuflüsse außer Betracht bleiben47. Entscheidend ist deshalb, welcher Teil der Rente nicht der Besteuerung unterliegt, und hierfür ist neben dem Werbungskostenpauschbetrag in Höhe von 102 A jährlich nur der Renten-Freibetrag maßgeblich. Dies gebietet auch die Steuersystematik: Nach geltendem Recht wird nur der Ertragsanteil der Rente als sonstige Einkunft im Sinne des § 22 EStG für die Besteuerung zugrunde gelegt. Der über den Ertragsanteil der Rente hinausgehende Rentenbetrag bleibt unberücksichtigt, da es sich bei ihm nicht um einen steuerlich relevanten Zufluss, sondern um eine Vermögensumschichtung handelt. Nur der Ertragsanteil „unterliegt der Einkommensteuer“ i.S.v. § 2 Abs. 1 Satz 1 Nr. 7 EStG. Von diesem Betrag werden gegebenenfalls Werbungskosten abgezogen, um die Summe der Einkünfte zu bestimmen (§ 2 Abs. 2 Nr. 2 EStG)48. Der Renten-Freibetrag (Rentenbetrag abzüglich des steuerpflichtigen Rentenanteils nach § 22 Nr. 1 a) aa) EStG-Entwurf) hat die Funktion, den Teil der Rente steuerfrei zu stellen, der nicht als steuerbarer Zufluss zu qualifizieren ist, da es sich bei ihm um den Rückfluss bereits versteuerter Rentenbeiträge handelt. Entsprechend dem geltenden Recht ist der steuerpflichtige Rentenanteil als steuerbarer Zufluss und damit als Einkunft, welche i.S.v. § 2 Abs. 1 EStG der Einkommensteuer unterliegt, anzusehen. Die Aufwendungen für Kranken- und Pflegeversicherungsbeiträge werden als Sonderausgaben vom Gesamtbetrag der Einkünfte49 abgezogen, d. h. sie werden gerade nicht vom Betrag der Rente und damit nicht von einer bestimmten Einkunftsart abgezogen und lassen sich somit auch nicht einer solchen zuordnen. Insbesondere in diesem Punkt unterscheidet sich der Abzug der Sonderausgaben von dem Abzug der Werbungskosten, die nach § 9 Abs. 1 Satz 2 EStG bei der Einkunftsart abzuziehen sind, bei der sie entstanden sind. Im Endeffekt wird zwar das zu versteuernde Einkommen durch den Abzug der Aufwendungen für die Kranken- und Pflegeversicherung gemindert, diese Abzüge sind aber den Einkünften des Steuerpflichtigen insgesamt zuzurechnen und nicht ausschließlich den Renteneinkünften. Mit anderen Worten: Die Abzugsmöglichkeit für Sonderausgaben steht allen Steuerpflichtigen zu, unabhängig von der Art der Einkünfte, die sie bezogen haben. Deswegen dürfen sie nicht wie ein weiterer Renten-Freibetrag bei der BeSo auch J. Hey, (Fn. 42), S. 9. Auch Versorgungsfreibetrag und Sparerfreibetrag werden bereits bei der Ermittlung der der Einkommensteuer unterliegenden Einkünfte i. S. v. § 2 Abs. 1 EStG abgezogen. 49 Summe der Einkünfte (darunter steuerpflichtiger Rentenanteil) abzüglich Altersentlastungsbetrag und Freibetrag für Land- und Forstwirte (§ 2 Abs. 3 EStG). 47 48
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rechnung zur Frage der Zweifachbesteuerung als steuerfreier Rentenzufluss behandelt werden.
e) Nachrangigkeit des Arbeitnehmerbeitrags zur gesetzlichen Rentenversicherung Im Rahmen der Berechnungen zur Zweifachbesteuerung sind auch diejenigen bis 2004 geleisteten Rentenversicherungsbeiträge als Beiträge aus versteuertem Einkommen anzusehen, die grundsätzlich als Vorsorgeaufwendungen im Rahmen des begrenzten Sonderausgabenabzugs geltend gemacht werden konnten. Für diese Beurteilung sprechen u. a. die Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts in seinem Urteil vom 6. März 2002. Darin heißt es: „Soweit Sozialversicherungsrenten auf Arbeitnehmerbeiträgen beruhen, ist ( . . . ) eine noch hinreichende sachliche Begründung einer Ertragsanteilsbesteuerung zu bejahen“50. Begründet wird dies damit, dass „von einer tatsächlichen steuerlichen Belastung in der Erwerbsphase, die eine Entlastung in der Nacherwerbsphase rechtfertigt, immer dann auszugehen ist, wenn eine ’Regelbesteuerung‘ ohne spezielle Vergünstigungen stattgefunden hat“51. Die Möglichkeit des steuerlichen Abzugs von Vorsorgeaufwendungen ist – das Bundesverfassungsgericht hat dies ausdrücklich betont52 – also kein Privileg für rentenversicherungspflichtige Arbeitnehmer, sondern eine Abzugsmöglichkeit, die allen Steuerpflichtigen zusteht und die auch keiner besonderen Einkunftsart zugerechnet wird. Dem EStG lässt sich nicht entnehmen, in welcher Reihenfolge die Vorsorgeaufwendungen abzuziehen sind. Dass die Rentenversicherungsbeiträge nachrangig zu berücksichtigen sind, lässt sich aber aus dem Gleichbehandlungsgrundsatz des Art. 3 Abs. 1 GG und der Steuersystematik ableiten. Ziel der Neuregelung ist die Herstellung einer Gleichbehandlung von Rentnern und Pensionären. Daher müssen bei der Beurteilung, wofür der Sonderausgabenabzug verbraucht wird, Beamte und versicherungspflichtige Arbeitnehmer miteinander verglichen werden. Beamte – die keine Beiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung leisten, denen aber bisher trotzdem dieselben Höchstbeträge für den Abzug von Vorsorgeaufwendungen zugestanden wurden – nutzen ihre Abzugsmöglichkeit für Krankenversicherungsbeiträge und darüber hinaus für Lebens- und Haftpflichtversicherungsbeiträge53. Damit sind die Höchstbeträge in der Regel bereits ausgeschöpft. Das EStG sieht vor, dass Arbeitnehmer begrenzt ihre VorsorBVerfGE 105, 73 (128). BVerfGE 105, 73 (129). 52 BVerfGE 54, 11 (32); das Urteil vom 6. März 2002 nimmt darauf Bezug, vgl. BVerfGE 105, 73 (129). 53 Zu den einzelnen Abzugsmöglichkeiten vgl. Günter, in: U. Dankmeyer / J. Giloy, Einkommensteuerrecht Kommentar, Band 2, 2003, § 10 Rn. 78. 50 51
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geaufwendungen, darunter die auf sie entfallenden Anteile der Beiträge zur gesetzlichen Renten-, Kranken-, Pflege- und Arbeitslosenversicherung, als Sonderausgaben von dem Gesamtbetrag der Einkünfte abziehen können (§ 2 Abs. 4 EStG). Die abziehbaren Vorsorgeaufwendungen werden hierbei in einem mehrstufigen Verfahren berechnet (§ 10 Abs. 3 EStG). Abziehbar ist zunächst der Vorwegabzug in Höhe von 3.068 A, soweit dieser nicht nach § 10 Abs. 3 EStG gekürzt ist. Im nächsten Schritt werden Vorsorgeaufwendungen im Rahmen des Grundhöchstbetrages von 1.334 A berücksichtigt54. Über den Grundhöchstbetrag hinausgehende weitere Vorsorgeaufwendungen können bis zur Hälfte abgezogen werden (hälftiger Höchstbetrag). Die über diese Höchstbeträge hinausgehenden Beitragsbestandteile – auch wenn es sich dabei um gesetzliche Pflichtabgaben handelt – werden aus versteuertem Einkommen geleistet. So erhöhen die Beiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung im Jahr 2003 bei einem ledigen Arbeitnehmer ab einem Bruttogehalt von ca. 23.700 A bereits nicht mehr die abziehbaren Vorsorgeaufwendungen im Rahmen der Höchstbeträge nach § 10 Abs. 3 EStG. Im Jahr 2001 hatten knapp 14 Millionen Pflichtversicherte der gesetzlichen Rentenversicherung, dies entspricht über 46 Prozent aller Pflichtversicherten, ein versicherungspflichtiges Entgelt über 25.000 A. Unterstellt man bei versicherungspflichtigen Arbeitnehmern nur dieselben Aufwendungen wie bei Beamten, so verbleibt bei ihnen kein Raum mehr für eine steuerliche Berücksichtigung der Rentenversicherungsbeiträge. Berücksichtigt man des Weiteren, dass Arbeitnehmer in der Regel höhere Beiträge zur Krankenversicherung und – anders als Beamte – auch Beiträge zur Arbeitslosenversicherung zu zahlen haben, ist das Ergebnis noch deutlicher. Deshalb darf der Arbeitnehmerbeitrag zur Rentenversicherung nicht erneut der Besteuerung unterworfen werden. Dass die Beiträge zur Kranken-, Pflege-, Unfall- und Haftpflichtversicherung vorrangig im Rahmen des Sonderausgabenabzugs zu berücksichtigen sind, ergibt sich außerdem aus der Steuersystematik, und zwar aus der Teleologie der Vorsorgeaufwendungen. Die Vorsorgeaufwendungen sind nach ihrer aktuell und zukünftig existenzsichernden Funktion zu unterscheiden, wobei die der aktuellen Existenzsicherung dienenden Beiträge vorrangig abzuziehen sind55. Die Beiträge zur Rentenversicherung dienen im Gegensatz zu den Kranken-, Pflege-, Unfall- und Haftpflichtversicherungsbeiträgen überwiegend der Absicherung in der Zukunft, da durch sie Anwartschaften auf zukünftige Leistungen aufgebaut werden.
54 Ein zusätzlicher Freibetrag in Höhe von maximal 184 A für eine zusätzliche freiwillige Pflegeversicherung wird Steuerpflichtigen gewährt, die nach dem 12. Dezember 1957 geboren sind (§ 10 Abs. 3 Nr. 3 EStG). 55 Hierzu ausführlich: J. Hey, (Fn. 42), S. 12.
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f) Ergebnis Im Ergebnis zeigen die Berechnungen56, die auf der im Gesetzentwurf angewandten Methode basieren, dass das in dem Gesetzentwurf vorgesehene Übergangsmodell zu einer teilweise erheblichen Zweifachbesteuerung führt57. So würden beispielsweise bei Rentnern, die zuvor über 30 Jahre als Selbstständige Beiträge auf der Grundlage des Durchschnittsverdienstes geleistet haben und 16 Jahre lang Rente beziehen, die versteuerten Beiträge um ca. 43.000 A höher sein als die steuerfreien Rentenzuflüsse, somit würden ca. 43.000 A des gesamten Lebenseinkommens zweifach besteuert. Im Laufe der Übergangsphase würden auch zunehmend Rentner betroffen sein, die früher als Arbeitnehmer versichert waren – und zwar nicht nur dann, wenn sie hohe Einkommen hatten, sondern auch, wenn sie Durchschnittsverdiener waren. Am stärksten wäre die Zweifachbesteuerung bei Arbeitnehmern des Geburtsjahrgangs 1975, sie setzt aber bereits ab dem Geburtsjahrgang 1955 ein. Der Umfang der konkreten Zweifachbesteuerung hängt jedoch von der individuellen Erwerbsbiographie ab, insbesondere von der zeitlichen Verteilung der Beitragszahlungen. Beispielsweise muss ein Selbstständiger, der 30 Jahre vor Rentenbeginn vollständig selbst getragene Beiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung jeweils in Höhe der Beitragsbemessungsgrenze der gesetzlichen Rentenversicherung der Arbeiter und der Angestellten gezahlt hat, bei einem Rentenzugang im Jahr 2005 eine Zweifachbesteuerung von ca. 83.000 A hinnehmen. Bei einem Rentenzugang im Jahr 2020 wäre bei diesem „Erwerbsbiographietyp“ mit ca. 112.000 A der Höhepunkt der Zweifachbesteuerung erreicht. Erst Rentenzugänge nach 2050 blieben von Zweifachbesteuerung verschont. Bei Arbeitnehmern mit 45 Jahren Durchschnittsverdienst wird das größte Ausmaß der Zweifachbesteuerung mit rd. 53.000 A beim Rentenzugangsjahrgang 2040 erreicht, für Arbeitnehmer mit einem Verdienst an der Beitragsbemessungsgrenze ist der Betrag etwa doppelt so hoch.
56 Die Berechnungen berücksichtigen auch die Änderungen durch das Zweite Gesetz zur Änderung des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze vom 27. 12. 2003 BGBl. I, 3013; das Dritte Gesetz zur Änderung des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze vom 27. 12. 2003 BGBl. I, 3019 und die im Gesetzentwurf des RV-Nachhaltigkeitsgesetzes, BT-Drucksache 15 / 2149, vorgesehenen Änderungen. 57 Auch ein Teil des Sozialbeirats äußerte Zweifel, dass die Übergangsregelung, die im Vorschlag der Sachverständigenkommission vorgesehen ist und an die sich der hier vorliegende Gesetzentwurf anlehnt, Zweifachbesteuerung vermeidet. Vgl. Stellungnahme des Sozialbeirats zum Abschlussbericht der Sachverständigenkommission zur Neuordnung der steuerrechtlichen Behandlung von Altersvorsorgeaufwendungen und Altersbezügen vom 11. März 2003.
Steuerrechtliche Behandlung von Altersvorsorgeaufwendungen
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Kommissionsvorschlag – Übergangsregelung zur nachgelagerten Besteuerung Problem: „Zweifachbesteuerung“– angemessene Berechnungsmethode Arbeitnehmer (Durchschnittsverdienst) Euro 140000
Rentenbeiträge aus versteuertem Einkommen Steuerfreie Rentenbezüge
120000
100000
80000
60000
40000
20000
Zw eif
Voraussetzungen: Alleinstehender Arbeitnehmer in Westdeutschland; 44 Jahre Bruttojahresentgelt in Höhe Durchschnittsentgelt; 1 Jahr Anrechnungszeit wegen Schulausbildung; 17 Jahre Rentenbezug.
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be ste ue ru ng
0 2005
2010
2015
2020
2025
2030
2035
2040
2045
2050
2055
2060
2065
2070
Jahr des Rentenzugangs
Quelle: VDR, 2003.
4. Gleichbehandlungsgrundsatz a) Unzulässige Typisierungen In der Begründung zum Gesetzentwurf wird ausgeführt, dass dem Grundsatz des Verbots der Zweifachbesteuerung aufgrund der korrespondierenden jährlichen Anhebung des Besteuerungsanteils bis auf 100 Prozent im Jahr 2040 mit einer entsprechenden Anhebung der Abziehbarkeit der Altersvorsorgeaufwendungen zum Ende der Übergangsphase in jedem Jahr typisierend entsprochen werde58. Die vorgesehene Regelung führt aber, wie dargestellt, in vielen Fällen zur Zweifachbesteuerung. Fraglich ist, ob dies von der Typisierungsermächtigung des BVerfG gedeckt ist. Das Bundesverfassungsgericht hält Verstöße gegen die Einzelfallgerechtigkeit als Folge der Typisierung grundsätzlich für zulässig: „Jede gesetzliche Regelung muss notwendigerweise verallgemeinern. Bei der Ordnung von Massenerscheinungen ist der Gesetzgeber berechtigt, die Vielzahl der Einzelfälle in dem Gesamtbild zu erfassen, das nach den ihm vorliegenden Erfahrungen die regelungsbedürftigen Sachverhalte zutreffend wiedergibt. Auf dieser Grundlage darf er generalisierende, typisierende und pauschalierende Regelungen treffen, ohne wegen der damit unvermeidlich verbundenen Härten gegen den allgemeinen Gleichheitssatz zu verstoßen“59. Es spricht jedoch vieles dafür, dass ein Verstoß gegen das Zweifachbesteuerungsverbot durch die Berufung auf die Notwendigkeit, in Gesetzesnormen zu ty58 59
Vgl. BT-Drucksache 15 / 2150, S. 69. BVerfGE 105, 73 (127).
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pisieren, hier nicht zu rechtfertigen ist. Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Entscheidung vom 6. März 2002 zwar ausgeführt, dass dem Gesetzgeber bei der Neuregelung der Besteuerung von Alterseinkünften ein weiter Entscheidungsspielraum zustehe60, es hat aber auch gleichzeitig deutlich gemacht, dass dieser Spielraum nicht unbegrenzt ist: „In jedem Fall sind die Besteuerung von Vorsorgeaufwendungen für die Alterssicherung und die Besteuerung von Bezügen aus dem Ergebnis der Vorsorgeaufwendungen so aufeinander abzustimmen, dass eine doppelte Besteuerung vermieden wird“61. Das gesetzestechnisch notwendige Instrument der Typisierung rechtfertigt lediglich graduelle Ungleichbehandlungen der unter den sachlich gebotenen typusbildenden Parameter zusammengefassten Fallgruppen. Das Instrument der Typusbildung kann nicht anderweitig angelegte Rechtsverletzungen, etwa solche der Doppelbesteuerung, die das Bundesverfassungsgericht untersagt, rechtfertigen. Eine Typisierung zu Lasten des Doppelbesteuerungsverbots ist – nach den Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts – auf keinen Fall gewollt. Durch eine Typisierung wird nicht nur eine damit unweigerlich verbundene Ungleichheit geschaffen, sondern dadurch wird gerade die Maxime des Doppelbesteuerungsverbots unterlaufen. Das Prinzip der Typisierung kann nicht zur Rechtfertigung der Doppelbesteuerung bestimmter Fallgruppen herangezogen werden, die „in jedem Fall“ – so das Bundesverfassungsgericht62 – zu vermeiden ist. Nicht zuletzt deswegen sahen die Petersberger Steuervorschläge eine Besteuerung von 50 Prozent für die Rentner, die abhängig beschäftigt waren, und einen Besteuerungsanteil von 30 Prozent für die Selbstständigen vor63. Will man hier dennoch das Instrument der Typisierung anwenden, so hat der Gesetzgeber die Voraussetzungen einer zulässigen Typisierung zu beachten. Das setzt voraus, dass die durch sie eintretenden Härten und Ungerechtigkeiten nur eine verhältnismäßig kleine Zahl von Personen betreffen und der Verstoß gegen den Gleichheitssatz nicht sehr intensiv ist64. Durch den vorliegenden Gesetzentwurf werden sowohl die Selbstständigen als auch bestimmte Jahrgänge von Arbeitnehmern systematisch und teilweise in erheblichem Umfang zweifach besteuert. Dies ist nicht durch die Typisierungsermächtigung gedeckt. Hinzu kommt, dass die in dem Gesetzentwurf und dem Abschlussbericht der Sachverständigenkommission vorgenommene Typisierung der sehr unterschiedlichen Erwerbs- und Rentenbiographien die meisten Fälle zutreffend erfassen muss, Vgl. BVerfGE 105, 73 (134). BVerfGE 105, 73 (74, 3. Leitsatz). 62 BVerfGE 105, 73 (134). 63 „Petersberger Steuervorschläge“, Vorschläge der Steuerreform-Kommission vom 22. Januar 1997, Schriftenreihe des BMF Heft 71, 1997 = NJW Beilage Heft 13 / 1997, S. 5 ff. 64 BVerfGE 84, 348 (360); vgl. BVerfGE 100, 59 (90). 60 61
Steuerrechtliche Behandlung von Altersvorsorgeaufwendungen
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um der Typisierungsermächtigung des BVerfG gerecht zu werden65. Das ist aber nur der Fall, wenn die Typisierung auf zutreffenden Annahmen der für den typisierenden Sachverhalt maßgebenden Tatsachen beruht66. In dem Gesetzentwurf wie auch in dem Sachverständigengutachten wurden – wie gezeigt – Typisierungen vorgenommen, die auf falschen Prämissen beruhen. Wie die Berechnungen des VDR gezeigt haben, wäre die Zweifachbesteuerung bei Umsetzung des vorliegenden Gesetzentwurfs eher die Regel als die Ausnahme.
b) Benachteiligung der Rentner gegenüber den Beamten in der Übergangsphase Die Übergangsregelung schießt über das erklärte Ziel hinaus, die steuerliche Benachteiligung der Pensionäre gegenüber den Rentnern zu beseitigen. Sie führt in der gesamten Übergangsphase zu dem Ergebnis, dass ein Standardrentner, der während der Übergangsphase in den Jahren 2005 bis 2069 in Rente geht, über das gesamte Leben betrachtet hinsichtlich der Differenz aus steuerfreien Zuflüssen und versteuerten Beiträgen bei der Altersvorsorge mehr zu versteueren hat als ein Pensionär mit gleich hohen Altersbezügen. Vergleicht man einen Rentner, der im Erwerbsleben 45 Jahre lang durchschnittliche Entgelte bezogen hat, und einem alleinstehenden Pensionär, der Versorgungsbezüge in Höhe dieser Rente bezieht, so muss der Rentner – bei einem Renten- bzw. Pensionsbeginn im Jahr 2005 – über das gesamte Leben betrachtet rd. 18.000 A mehr versteuern als ein Pensionär mit vergleichbaren Versorgungsbezügen67. Im Zugangsjahr 2040 sind es sogar rd. 55.000 A. Erst beim Rentenzugang 2070 würde eine Gleichbehandlung zwischen diesen Personengruppen erreicht werden.
5. Undynamischer Renten-Freibetrag Der steuerfreie Anteil einer Leibrente (sog. Renten-Freibetrag) wird nach § 22 Nr. 1 Satz 3 EStG-Entwurf ermittelt, indem ein bestimmter Prozentsatz der Jahresrente im Jahr des Rentenbeginns vom Rentenbetrag abgezogen wird. Er soll als fester, undynamischer Renten-Freibetrag ausgestaltet werden, der über die gesamte Rentenlaufzeit hinweg unverändert bleibt. Die Regelung bewirkt, dass mit jeder 65 Vgl. M. Gubelt, in: v. Münch / Kunig, Grundgesetzkommentar, 5. Aufl., 2000, Art. 3 Rn. 26. 66 J. Hey, (Fn. 42), S. 5. 67 Den Berechnungen unterliegen folgende Annahmen: Alleinstehender Arbeitnehmer mit 44 Jahre Bruttojahresentgelt in Höhe des Durchschnittsentgelts, ein Jahr Anrechnungszeit und eine Rentenlaufzeit von 17 Jahren. Bei Pensionären ist der im Kommissionsvorschlag vorgesehene Versorgungsfreibetrag zuzüglich dem Zuschlag zum Versorgungsfreibetrag steuerfreier Pensionszufluss. Versteuerte Beiträge (auch fiktive) liegen bei Beamten nicht vor. Es wird eine Pension in Höhe der jeweiligen Rente vorausgesetzt.
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Rentenerhöhung der prozentuale Freistellungsanteil sinkt. Dadurch können Rentner im Laufe der Rentenbezugszeit in die Steuerpflicht hineinwachsen. Bei einer Freistellung von 50 Prozent bei einem Rentenbeginn im Jahr 2005 sind nach einer Rentenlaufzeit von 17 Jahren nur noch gut 36 Prozent der Rentenleistung steuerbefreit, im Mittel über die gesamte Rentenlaufzeit sind es etwa 43 Prozent. Dies kann z. B. dazu führen, dass ein 65-jähriger Rentner noch keine Steuern zahlen muss, dann jedoch erstmalig im Alter von z. B. 80 Jahren. Dies ist nicht zuletzt angesichts des teilweise hohen Alters der Betroffenen sozialpolitisch nicht vermittelbar.
VI. Schlussbemerkung Die gesetzliche Rentenversicherung erfasst etwa 95 Prozent der Bevölkerung. Sie repräsentiert eine große Vielzahl von Lebens- bzw. Arbeitslebensschicksalen. Eine Neuordnung der Rentenbesteuerung hat diese Vielzahl und Vielgestaltigkeit ebenso zu berücksichtigen wie den Umstand, dass es sich bei der gesetzlichen Rentenversicherung um den Kernbereich staatlicher Regelungen handelt, die das Vertrauen des Bürgers in das Gemeinwesen prägen. Die gesetzliche Rentenversicherung ist für die meisten Bürger das bedeutendste Element ihrer Absicherung des Lebensunterhaltes im Alter. Vor diesem Hintergrund sollten das Verbot der Zweifachbesteuerung, der Gleichbehandlungsgrundsatz und der Vertrauensschutz berücksichtigt werden. Insbesondere nicht erfüllt wird die Vorgabe des BVerfG, die Besteuerung von Vorsorgeaufwendungen für die Alterssicherung und die Besteuerung von Bezügen aus dem Ergebnis der Vorsorgeaufwendungen so aufeinander abzustimmen, dass eine zweifache Besteuerung vermieden wird. Die geplante Neuregelung sieht sich daher erheblichen verfassungsrechtlichen Bedenken gegenüber. Der Streit um die Verfassungsmäßigkeit der Rentenbesteuerung wird daher weitergehen. Allerdings ist die Ausgangssituation nun eine andere. Jetzt sind es die Rentner, die durch die Neuregelung deutlich benachteiligt, weil doppelt besteuert, werden.
Steuervereinbarungen und Verfassungsrecht Von Hartmut Söhn
I. Einleitung Peter Selmer hat in einer Besprechung der „Steuerrechtsordnung“ von Klaus Tipke1 Folgendes ausgeführt: „Tipke erteilt denn auch mit Recht . . . gesetzlosen Steuerschuldherabsetzungen und Freibetragsgewährungen durch die Exekutive ebenso eine Absage wie Steuervereinbarungen, wobei er auch die von der Judikatur seit einiger Zeit tolerierte Verständigung über die tatsächlichen Grundlagen der Besteuerung überzeugend in kritischen Augenschein nimmt“2. Das war vor fast 10 Jahren. Wie diese kritische Sicht heute zu beurteilen ist, soll eine Bestandsaufnahme der zwischenzeitlichen Entwicklung zeigen. Eines lässt sich allerdings schon vorweg feststellen: Die Bedenken des Jubilars haben sich im Grundsätzlichen keinesfalls erledigt.
II. Zulässigkeit / Rechtfertigung von Steuervereinbarungen? 1. Ausgangspunkt: Übernahme des § 13 Abs. 1 Nr. 3 VwVfG in § 78 Nr. 3 AO Verwaltungsverfahren können nach der Legaldefinition des § 9 VwVfG auch auf den Abschluss eines öffentlich-rechtlichen Vertrags gerichtet sein. Deshalb sieht § 13 Abs. l Nr. 3 VwVfG vor, dass derjenige Beteiligter ist, mit dem die Behörde einen öffentlich-rechtlichen Vertrag abschließen will oder geschlossen hat. Diese Vorschrift des allgemeinen Verwaltungsverfahrensrechts ist im Interesse einer Harmonisierung in § 78 Nr. 3 AO übernommen worden. Ob und gegebenenfalls welche Folgerungen sich daraus für die Zulässigkeit von Verträgen im Steuerrecht ziehen lassen, war und ist jedoch bis heute umstritten.
1 2
K. Tipke, Die Steuerrechtsordnung, 3 Bände, 1993. P. Selmer, Der gerechte Steuerstaat, Finanz-Archiv n.F. Bd. 52 (1995), S. 234 (241).
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2. Der aktuelle Meinungsstand (AO 1977) Zum geltenden Recht3 wird ganz überwiegend zwischen Verträgen über Steueransprüche und sog. tatsächlichen Verständigungen differenziert. a) Verträge über Steueransprüche Verträge (Austauschverträge; Vergleichsverträge) über Steueransprüche (Vereinbarungen zur Klärung zweifelhafter Rechtsfragen, über den Eintritt bestimmter Rechtsfolgen und über die Anwendung bestimmter Rechtsvorschriften) sind nach ständiger Rechtsprechung des BFH nicht möglich (unzulässig; nichtig), weil sie den Geboten der Gesetzmäßigkeit und Gleichmäßigkeit der Besteuerung widersprechen4. Dem folgt jedoch das Schrifttum nur teilweise5 und die gegenteilige Ansicht6 hat „prominente“ Vertreter. Insbesondere Seer hat sich in den letzten Jah3 Zur Reichsabgabenordnung haben Rechtsprechung und Schrifttum folgenden Grundsatz entwickelt: Verträge zwischen Finanzbehörden und Steuerpflichtigen (Vergleichsvereinbarungen, Austauschverträge) über die Begründung, Verschärfung, Milderung, Änderung oder Aufhebung eines Steuerpflichtverhältnisses sind verboten und nichtig (Verstoß gegen ein gesetzliches Verbot), soweit die Steuergesetze nicht eine Ausnahme zulassen, einerlei, zugunsten oder zu Lasten welcher Vertragspartei sich die getroffenen Vereinbarungen auswirken (vgl. statt aller H. Söhn, in: Hübschmann / Hepp / Spitaler, AO / FGO, 10. Auflage, 1995 ff., § 78 AO Rn. 109 m. w. N.). 4 BFH v. 11. 12. 1984 – VIII R 131 / 76, BStBl. II 1985, 354; BFH v. 30. 11. 1989 – IV R 49 / 88, BFH / NV 1991, 363; BFH v. 5. 10. 1990 – III R 19 / 88, BStBl. II 1991, 45; BFH v. 6. 2. 1991 – I R 13 / 86, BStBl. II 1991, 673; BFH v. 23. 5. 1991 – V R 1 / 88, BFH / NV 1991, 846 (847 f.); BFH v. 28. 8. 1992 – V B 55 / 92, BFH / NV 1993, 393 (394); BFH v. 14. 9. 1994 – I R 125 / 93, BFH / NV 1995, 369 (370); v. 13. 12. 1995 – XI R 43 – 45 / 89, BStBl. II 1996, 232; BFH v. 31. 7. 1996 – XI R 78 / 95, BStBl. II 1996, 625 (626); BFH v. 17. 10. 1996 – X B 163 / 96, BFH / NV 1997, 525; BFH v. 30. 7. 1997 – II B 18 / 97, BFH / NV 1998, 188; BFH v. 13. 8. 1997 – I R 12 / 97, BFH / NV 1998, 498 (499); BFH v. 4. 3. 1998 – X R 142 / 94, BFH / NV 1998, 965 (968); BFH v. 31. 3. 1999 – VII B 110 / 98, BFH / NV 1999, 1598; BFH v. 15. 3. 2000 – IV B 44 / 99, BFH / NV 2000, 1073; BFH v. 1. 2. 2001 – IV R 3 / 00, BStBl. II 2001, 520 (524); FG Bad.-Württ., EFG 1991, 59, 60; FG Bremen, EFG 2000, 837, 838. 5 H.B. Brockmeyer, in: Klein, Abgabenordnung, 7. Auflage, 2000, § 78 AO Rn. 4; K. Buciek, Bindende Erklärungen der Finanzverwaltung, DStZ / A 1999, 385 (389); W. Dumke, in: Schwarz, Abgabenordnung, 11. Auflage, 1998 ff., § 78 AO Rn. 20; P. Fischer, in: Hübschmann / Hepp / Spitaler (Fn. 3), § 38 AO Rn. 68 ff.; M. Förster, in: Koch / Scholtz, Abgabenordnung, 5. Auflage, 1996, § 118 AO Rn. 11; R. v. Groll, Treu und Glauben im Steuerrecht, FR 1995, S. 814 (818); H. Helsper, in: Koch / Scholtz, Abgabenordnung, 5. Auflage, 1996, § 78 AO Rn. 8; H. W. Kruse, in: Tipke / Kruse, Abgabenordnung / Finanzgerichtsordnung, 16. Auflage, 1996 ff., § 78 AO Rn. 22; R. Kühn / R. Hofmann, Abgabenordnung, 17. Auflage, 1995, § 78 AO Anm. 5; S. Müller-Franken, Maßvolles Verwalten, 2004, S. 136 ff. m. w. N.; K. Offerhaus, Die tatsächliche Verständigung – Voraussetzungen und Wirkung, DStR 2001, S. 2093 f.; H. Söhn, in: Hübschmann / Hepp / Spitaler (Fn. 3), § 78 AO Rn. 158 ff.; A. v. Wedelstädt, Tatsächliche Verständigung, DB 1991, S. 515 (516); T. Wiese, Die Praxis der tatsächlichen Verständigung im Steuerverfahren, DStZ / A 1997, S. 745. 6 D. Birk, in: Hübschmann / Hepp / Spitaler (Fn. 3), § 4 AO Rn. 331; A. Raupach, Steuervereinfachung durch die Rechtsprechung?, DStjG Bd. 21 (1998), S. 175 (193); R. Rüsken, in:
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ren wiederholt für die Zulassung und Zulässigkeit von Steuervereinbarungen ausgesprochen7. aa) Ermächtigung in § 78 Nr. 3 AO? Die Befürworter von Verträgen über Steueransprüche berufen sich z.T. auf § 78 Nr. 3 AO. Aus dieser Vorschrift lässt sich aber nichts für die Zulässigkeit von Steuervereinbarungen entnehmen8; denn sie ist nicht als Dispositionsermächtigung gewollt9. Der Steuergesetzgeber hat durch die unreflektierte Übernahme des § 13 Abs. l Nr. 3 VwVfG in § 78 nicht die frühere Rechtslage ändern10 und weder allgemein die Zulässigkeit öffentlich-rechtlicher Verträge im Steuerrecht anerkennen11 noch die Diskussion über die Zulässigkeit öffentlich-rechtlicher Verträge im Steuerrecht beenden wollen12. Einen Schluss auf eine (allgemeine) Zulässigkeit von Verträgen über Steueransprüche lässt die Vorschrift keinesfalls zu. bb) Planwidrige Lücke in der AO? Die §§ 54 ff. VwVfG sind seinerzeit bewusst nicht in die AO 1977 aufgenommen worden13, so dass insoweit auch keine „planwidrige Lücke“ vorliegt, die Beermann, Steuerliches Verfahrensrecht, 1995 ff., § 78 AO Rn. 60, 61.4; R. Seer, Verträge, Vergleiche und sonstige Vereinbarungen im deutschen Steuerrecht, StuW 1995, S. 213 (218 f.); R. Seer, Verständigungen in Steuerverfahren, 1996, S. 206 ff.; R. Seer, Das Rechtsinstitut der sog. tatsächlichen Verständigung im Steuerrecht, BB 1999, S. 78 (79 f.); R. Seer, Konsensuales Steuerrecht – Wider die Denkverbote!, in: FS K. Vogel, 2000, S. 699 (701 ff.); J. Sontheimer, Der verwaltungsrechtliche Vertrag im Steuerrecht, 1987, S. 173 ff.; M. Streck, Die „tatsächliche Verständigung“ in der Praxis, StuW 1993, S. 366 (369); J. Stolterfoht, Vereinfachender Gesetzesvollzug durch die Verwaltung, DStjG Bd. 21 (1998), S. 233 (253 f.); K. Vogel, Vergleich und Gesetzmäßigkeit der Verwaltung im Steuerrecht, in: FS G. Döllerer, 1988, S. 677 (688 f.); F. Wassermeyer, Die Außenprüfung im Lichte der Rechtsprechung, FR 1987, S. 513 (521 f.); H. Wolf, Verständigungen im Steuerrecht, DStZ / A 1998, S. 267 (269). Vgl. ferner Nds. FG, EFG 1997, 846; FG Bremen, EFG 2000, 95. 7 R. Seer (Fn. 6), StuW 1995, S. 213, 218 f.; R. Seer (Fn. 6), Verständigungen in Steuerverfahren, S. 206 ff.; R. Seer (Fn. 6), BB 1999, S. 78, 79 f.; R. Seer (Fn. 6), FS K. Vogel, S. 699 (701 ff.). 8 H. W. Kruse, in: Tipke / Kruse (Fn. 5), § 78 AO Rn. 8. 9 E. Heilmaier, Kann und soll der Abschluss eines gerichtlichen Vergleichs in Steuersachen zugelassen werden?, DStZ / A 1982, S. 190, 191; S. Müller-Franken, Maßvolles Verwalten (Fn. 5), S. 195 ff. 10 E. Heilmaier (Fn. 9), DStZ / A 1982, S. 190, 191; H. Stadie, Der Begriff des „Beteiligten“ in der Abgabenordnung, BB 1977, S. 1648, 1650. 11 So auch ausdrücklich R. Seer (Fn. 6), FS K. Vogel, S. 699 (707); ferner: R. Rüsken, in: Beermann (Fn. 6), § 78 AO Rn. 39; H. Stadie (Fn. 10), BB 1977, S. 1648 (1650); J. Stolterfoht (Fn. 6), DStjG Bd. 21 (1998), S. 233 (250); H. W. Kruse, in: Tipke / Kruse (Fn. 5), § 78 AO Rn. 22; T. Wiese (Fn. 5), BB 1994, S. 333. 12 H. Mohr, Austauschverträge mit Steuerbehörden, NJW 1978, S. 790 f. 13 Zweifel bei K. Vogel (Fn. 6), FS G. Döllerer, S. 677 (690). 58 FS Selmer
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durch eine Gesamtanalogie zu den §§ 54 ff. VwVfG geschlossen werden könnte14. Das räumt selbst Seer – zu Recht – ein15. Ob andererseits in der fehlenden Übernahme der §§ 54 ff. VwVfG weitergehend ein „beredtes Schweigen“ des Gesetzgebers liegt, aus dem ein allgemeines Vertragsformverbot für das Steuerrecht folgt16, lässt sich aus den Gesetzesmaterialien nicht entnehmen. Jedenfalls setzt aber die Zulässigkeit vertraglicher Abreden über Steueransprüche voraus, dass der Gesetzgeber in der AO eine Dispositionsermächtigung für die Handlungsform des Vertrags trifft. Erst und nur das ermöglicht eine zulässige, vertragliche Vereinbarung zwischen Finanzbehörde und Steuerpflichtigem über Steueransprüche17. Das ist auch in § 224 a AO für einen Sonderfall vorgesehen, jedoch nicht allgemein, und solange das so ist, ist die Annahme, dass sich ein Verbot der Handlungsform des Vertrags nicht aus der AO entnehmen lasse18, weder stichhaltig noch richtig. Wenn der Gesetzgeber in § 224 a AO einen verwaltungsrechtlichen Vertrag über die Höhe der Steuerschuld ausdrücklich zugelassen hat, spricht dies für die Notwendigkeit einer (dieser) ausdrücklichen Dispositionsermächtigung und für den Ausnahmecharakter der Vorschrift, kann aber keineswegs die allgemeine Zulässigkeit der Handlungsform des Vertrags begründen19, weil Verträge über Steueransprüche den verfassungsrechtlichen Geboten der Gesetzmäßigkeit und Gleichmäßigkeit der Besteuerung widersprechen. cc) Trennung von Form und Inhalt? Insbesondere Seer vertritt die Ansicht, dass bei der Prüfung der Vereinbarkeit von Steuervereinbarungen mit dem Gesetzmäßigkeitsprinzip die Frage nach der Zulässigkeit der Rechtsform streng von der Frage nach der Zulässigkeit des Inhalts getrennt werden müsse. Da ein ausdrückliches Handlungsformverbot fehle, sei die Handlungsform „Vertrag“ im Besteuerungsverfahren zulässig. Nur der Inhalt des jeweiligen Vertrages sei auf seine Rechtmäßigkeit zu prüfen20. Indes: Zulässigkeit der Handlungsform und des Vertragsinhalts sind zwar strikt zu unterscheiden, über die Zulässigkeit der Handlungsform „Vertrag“ kann aber nicht ohne Rücksicht auf 14 K. Buciek (Fn. 5), DStZ / A 1999, S. 385 (397); K. Offerhaus (Fn. 5), DStR 2001 S. 2093, 2094; R. Seer (Fn. 6), BB 1999, S. 78 (81); T. Wiese (Fn. 5), BB 1994, S. 333; a.A.: H. Wolf (Fn. 6), DStZ / A 1998, S. 267 (268); wohl auch K. Vogel (Fn. 6), FS G. Döllerer, S. 677 (690). Dass insoweit „der vom Ressortstolz diktierte Wunsch der totalen Eigenständigkeit eines Rechtsgebietes seine Schattenseite“ zeige (so H. Meyer, Das öffentliche Vertragsrecht und die Leistungsstörungen, NJW 1977, S. 1705 [1708]), ist eine abwegige Behauptung. 15 R. Seer (Fn. 6), BB 1999, S. 78 (81). 16 So R. v. Groll (Fn. 5), FR 1995, S. 814 (818); S. Müller-Franken, Maßvolles Verwalten (Fn. 5), S. 196 m. w. N.; a.A.: R. Seer (Fn. 6), BB 1999, S. 78 (81). 17 Vgl. statt aller W. Schick, Vergleiche und sonstige Vereinbarungen zwischen Staat und Bürger im Steuerrecht, 1967, S. 23 ff. m. w. N. 18 So z. B. D. Birk, in: Hübschmann / Hepp / Spitaler (Fn. 3), § 4 AO Rn. 330 m. w. N. 19 A.A.: D. Birk, in: Hübschmann / Hepp / Spitaler (Fn. 3), § 4 AO Rn. 330. 20 R. Seer, Verständigungen in Steuerverfahren (Fn. 6), S. 129 f., 154 f.
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den Vertragsinhalt entschieden werden; der konkrete Verfahrensgegenstand entscheidet über die zulässige Handlungsform mit. Das heißt: Nur wenn und soweit das Steuerrecht Vereinbarungen im Ermittlungs- und Festsetzungsverfahren zulässt, ist die Handlungsform „Vertrag“ zulässig21. Steuervereinbarungen werden jedoch im geltenden Recht nicht allgemein zugelassen. dd) Gesetzmäßigkeit der Besteuerung – praktikabler und effizienter Gesetzesvollzug Die Kritik an dem von der h.M. vertretenen Verbot von Verständigungen über Rechtsfragen behauptet weiter: Da ein erkennbarer Regelungsplan des Gesetzgebers für vertragliche Vereinbarungen im Besteuerungsverfahren fehle, stehe der Rechtsanwender „schlicht vor einem juristischen Vakuum des Gesetzes („planlose Lücke“)22. Die Steuerverwaltung müsse sich aber im Rahmen vertretbarer Gesetzesanwendung auch über die rechtliche Behandlung streitiger Steuerfälle durch Vergleichsvertrag verständigen können, weil die Gesetzmäßigkeit der Besteuerung eine praktikable und effiziente Anwendung des Gesetzes durch die Verwaltung verlange und nicht gebiete, streitige Rechtsfälle bis zu einer höchstrichterlichen Entscheidung weiter zu treiben. Zwar dürfe es keinen Handel über zweifelhafte Steueransprüche geben. Wenn aber nicht feststehe, welche von mehreren möglichen Entscheidungen dem Vorrang des Gesetzes entspreche, könne ein Vergleich über Rechtsfragen dem Rechtsfrieden und der Effektivität der Besteuerung dienen23. Das ist nicht falsch und Gesetzmäßigkeit der Besteuerung verlangt sicherlich auch eine praktikable und effiziente Anwendung des Gesetzes, – aber durch die hierfür allein verantwortliche Steuerverwaltung24. Nur der Steuerverwaltung ist die Entscheidungsmacht (Kompetenz) für die Anwendung des materiellen Rechts im Besteuerungsverfahren normativ zugewiesen. Der Steuerpflichtige ist zwar an der Vorbereitung der steuerbehördlichen Entscheidung mit eigenen Rechten und Pflichten beteiligt, er wirkt im Besteuerungsverfahren mit, er kann und muss gegebenenfalls das Gespräch mit der Steuerbehörde suchen, Informationen austauschen und am Prozess der Informationsgewinnung teilhaben, er ist aber nicht (mit)entscheidungsbefugt und (deshalb) an der eigentlichen Entscheidung nicht „mitentscheidend beteiligt“25. Eine gemeinsame Verantwortung von Finanzbehörde und Steuerpflichtigen i.S. einer kooperativen Entscheidungszuständigkeit (Befugnis) für die Rechtmäßigkeit der staatlichen Steuerbelastungsentscheidung gibt S. Müller-Franken, Maßvolles Verwalten (Fn. 5), S. 199 ff., 223 m. w. N. R. Seer (Fn. 6), BB 1999, S. 78 (81). 23 D. Birk, in: Hübschmann / Hepp / Spitaler (Fn. 3), § 4 AO Rn. 331. 24 Vgl. auch W. Reiß, Strafe gegen Steuer, Tatsächliche Verständigung zur Gesamtbereinigung von Besteuerungs- und Strafverfahren, FS G. Grünwald, 1999, S. 495 (507). 25 S. Müller-Franken, Maßvolles Verwalten (Fn. 5), S. 161 ff., 172. 21 22
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es de lege lata nicht und darf es nicht geben26. Eine gesetzmäßige Besteuerung wird ausschließlich von der Steuerverwaltung „verantwortet“. Zudem ist die Steuerverwaltung nicht nur für eine gesetzmäßige Besteuerung alleinverantwortlich, sondern zugleich für eine gleichmäßige Besteuerung aller Steuerpflichtigen; sie muss die Gesamtabgabenlast auf die Gesamtheit der Steuerpflichtigen nach dem Maßstab der Leistungsfähigkeit gleichmäßig verteilen. Vollzugsdefizite bei der Besteuerung müssen durch Gesetzgebung und Verwaltung behoben bzw. minimiert werden. Zur Wahrung der Gleichheit im Vollzug ist der eigennützig handelnde Steuerpflichtige weder berufen noch geeignet, konsensuales Verwaltungshandeln folglich ein a priori untaugliches Instrument. Das Verhältnis zwischen Staat und Bürger ist zwar auch bei der Besteuerung ein Rechtsverhältnis, aber kein Verhältnis rechtlicher Gleichordnung27. Steuern müssen erforderlichenfalls auch gegen den Willen des Steuerpflichtigen festgesetzt und durchgesetzt werden. Die Anwendung / Auslegung des Rechts fällt auch deshalb in den ausschließlichen Verantwortungsbereich der Steuerverwaltung (und der Gerichte). Was rechtens ist, muss und darf nur die Finanzbehörde entscheiden. Das gilt auch bei einer unsicheren Rechtslage. Die Finanzbehörde verstößt gegen die ihr obliegende Aufgabe und damit gegen das Gesetz, wenn sie sich stattdessen „im Konsens mit dem Steuerpflichtigen innerhalb des durch die objektivierte Ungewissheit vorgegebenen Rahmens der rechtlich vertretbaren Standpunkte einigt“. Der Steuerpflichtige ist für die Sicherstellung einer gesetzmäßigen und gleichmäßigen Besteuerung von Gesetzes wegen (§ 88 AO) nicht (mit-)verantwortlich und er kann es nicht sein (dürfen), weil er verständlicherweise immer eigennützige Ziele verfolgen wird. Er darf über reine Rechtsfragen nicht (mit-)entscheiden können, weil die richtige Rechtsauslegung und Rechtsanwendung „nicht in die Mitverantwortungssphäre des Steuerpflichtigen fällt“28. Die Übernahme einer „im Rahmen vertretbaren Gesetzesanwendung“ liegenden Rechtsauffassung des Steuerpflichtigen durch die Finanzbehörde29 kann zwar (verfassungs)rechtlich zulässig sein, weil die Anwendung einer vertretbaren Rechtsauffassung das Gesetzmäßigkeitsprinzip beachtet und eine abweichende, vertretbare Rechtsauffassung der Finanzbehörde nicht „gesetzmäßiger“ wäre, aber nur, wenn die Finanzbehörde „entscheidet“. Das hat dann aber auch nichts mit einem Vergleich i.S. eines gegenseitigen Nachgebens zu tun. Ein (Mit-)Entscheidungsrecht des „befangenen“ Steuerpflichtigen über eigene Steuerpflichten „im Wege eines Vergleichsvertrags“ verwirklicht weder Einzelfallgerechtigkeit noch eine „Annäherung“ an eine an Gesetz und Gleichheit orientierte Steuer. Im Gegenteil: Ein dem Vergleichsvertrag (§ 55 VwVfG) wesensmäßiges „Nachgeben“30 der Steuerverwaltung in Steuerrechtsfragen führt tendenziell zu eiS. Müller-Franken, Maßvolles Verwalten (Fn. 5), S. 161 ff. S. Müller-Franken, Maßvolles Verwalten (Fn. 5), S. 161. 28 So auch R. Seer (Fn. 6), BB 1999, S. 78 (80); vgl. ferner R. v. Groll (Fn. 5), FR 1995, S. 814 (818). 29 Hierfür K. Vogel (Fn. 6), FS G. Döllerer, S. 677 (688 f.). 26 27
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ner ungleichmäßigen, den beteiligten Steuerpflichtigen begünstigenden Besteuerung, weil der Steuerpflichtige nur dann „nachgeben“ wird, wenn er hiervon „steuerlich profitiert“. Das „Paktieren“ und das „Ausweichen ins Arrangement“ bewirkt fast zwangsläufig eine nicht hinnehmbare Ungleichbehandlung im Massenrecht „Steuerrecht“31. Nimmt man nämlich hinzu, dass nur bei einer Minderheit der regelmäßig unternehmerisch tätigen und gut beratenen Steuerpflichtigen Vergleichsverträge über Steueransprüche in Betracht kommen und die überlastete und zu effizientem Handeln verpflichtete Steuerverwaltung verständlicherweise „kooperationsbereit“ ist, wenn ein Vergleichsangebot vorliegt, sind Vergleichsverträge zwar für beide Seiten attraktiv, aber die Grenze zum „unzulässigen Handel über zweifelhafte Steueransprüche“ weder sicher noch überprüfbar und der individuell erreichte Rechtsfrieden ein (zu) hoher Preis. ee) Vereinbarung über Steueransprüche und tatsächliche Verständigung Die Befürworter von Steuervereinbarungen kritisieren, dass sich die von der Rechtsprechung zugelassene tatsächliche Verständigung über den Besteuerungssachverhalt32 von einer verbotenen Vereinbarung über Steueransprüche nicht trennscharf abgrenzen lasse. Die Unterscheidung sei nur vordergründig möglich. Jede maßgebliche Änderung des Sachverhalts beeinflusse die Rechtsanwendung und wirke sich auf die Rechtsfolge aus33. Das gelte z. B. für die Schätzung der privaten Nutzungsanteile betrieblicher Wirtschaftsgüter und für die Prüfung der Angemessenheit von Zahlungen an nahe Angehörige oder beherrschende Gesellschafter-Geschäftsführer34. Mit einer Verständigung über den Sachverhalt könne man tatsächlich auch die „Steuerrechtsfrage“ vereinbaren, in dem sich die Beteiligten auf einen bestimmten Steuerbetrag verständigten und dann den hierfür „passenden“ Sachverhalt „vereinbarten“35. Jeder qualifizierte Finanzbeamte oder Berater sei in der Lage, jede Verständigung in den Sachverhalt zu verlagern, auch wenn es im Grunde um rechtliche Streitigkeiten gehe36. 30 Vgl. auch R. Seer (Fn. 6), StuW 1995, S. 213 (223); R. Seer (Fn. 6), FS K. Vogel, S. 699 (703 f.), der richtig sieht, dass der Ausdruck „gegenseitiges Nachgeben“ als „missverständlich oder sogar als gefährlich angesehen“ werden kann, weil der gesetzesgebundenen Steuerverwaltung keine Vertragsfreiheit zusteht. 31 K. Offerhaus (Fn. 5), DStR 2001, S. 2093 (2094). 32 Vgl. dazu unten sub II 2. b). 33 R. Seer (Fn. 6), StuW 1995, S. 213 (222). 34 R. Seer, Verständigungen in Steuerverfahren (Fn. 6), S. 208; R. Seer (Fn. 6), FS K. Vogel, S. 699 (701); vgl. ferner K. Kottke, Verbindliche Zusage und tatsächliche Verständigung, DB 1999, S. 820, 822. 35 W. Jakob, Abgabenordnung, 3. Auflage, 2001, S. 42. 36 M. Streck (Fn. 6), StuW 1993, S. 366 (369); M. Streck, Der Rechtsschutz in Steuerstrafsachen, DStjG Bd. 18 (1995), S. 173 (186 f.); J. Stolterfoht (Fn. 6), DStjG Bd. 21 (1998), S. 233 (253); ferner K. Kottke (Fn. 34), BB 1999, S. 820 (822).
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Das mag so sein, kann jedoch das prinzipielle Verbot von Vereinbarungen über reine Rechtsfragen nicht in Frage stellen (dürfen)37, sondern müsste Anlass sein, die Zulässigkeit der tatsächlichen Verständigung in Frage zu stellen bzw. zumindest restriktiv zu handhaben38. Wenn und soweit „Tatfragen“ und „Rechtsfragen“ im Einzelfall so eng miteinander verbunden sind, dass eine tatsächliche Verständigung zwangsläufig „Folgen“ für den Steueranspruch hat (sog. gemischte Fragen)39, lässt der BFH zwar eine tatsächliche Verständigung zu40, die „zugleich“ eine Verständigung über eine rechtliche Beurteilung ist. Eine solche „Folge(ein)wirkung“ der getroffenen Vereinbarung auf den Steueranspruch setzt jedoch immer voraus, dass die „Rechtsfrage“ im Zusammenhang mit einem nicht eindeutig feststellbaren Sachverhalt oder mit zivilrechtlichen Vorfragen steht, die zulässiger Gegenstand einer tatsächlichen Verständigung sind, und ist dann einer zulässigen tatsächlichen Verständigung immanent41. Darin liegt aber keine Erweiterung des Anwendungsbereichs der tatsächlichen Verständigung42 und keine – unzulässige – Verständigung über „reine Rechtsfragen“43. ff) Zwischenfazit Insgesamt ist festzustellen: Selbst wenn man vertragliche Vereinbarungen bereits zulassen wollte, wenn keine Rechtsvorschriften entgegenstehen, weil nur ein vom Gesetz abweichender Vertrag unzulässig ist44, sind und bleiben Vereinbarungen über Steueransprüche prinzipiell verboten (unzulässig). Zwar fehlt in der AO ein ausdrückliches Verbot zum Abschluss öffentlich-rechtlicher Verträge. Verträge über Steueransprüche widerstreiten indes den verfassungsrechtlichen Besteuerungsgrundsätzen der Gesetzmäßigkeit und Gleichmäßigkeit der Besteuerung, dem in § 85 AO wiederholten Legalitätsprinzip und dem „Gesamtinhalt der steuergesetzlichen Vorschriften“45, so wie dies in §§ 155, 157 AO46 für die Steuerfestsetzung und in § 218 AO für die Verwirklichung von Steueransprüchen aus dem SteuK. Offerhaus (Fn. 6), DStR 2001, S. 2093 (2094). Vgl. auch H. Weber-Grellet, Zu den Voraussetzungen einer tatsächlichen Verständigung im Rahmen einer Außenprüfung, BB 1994, S. 997 (998). 39 Vgl. dazu K. Buciek (Fn. 5), DStZ / A 1999, S. 389 (396); R. Seer (Fn. 6), StuW 1995, S. 213 (218); R. Seer (Fn. 6), BB 1999, S. 78, 80; R. Seer (Fn. 6), FS K. Vogel, S. 699, 701 (704). 40 BFH v. 13. 8. 1997 – I R 12 / 97, BFH / NV 1998, 498 (499); BFH v. 15. 3. 2000 – IV B 44 / 99, BFH / NV 2000, 1073. 41 K. Offerhaus (Fn. 5), DStR 2001, S. 2093 (2094). 42 BFH v. 1. 2. 2001 – IV R 3 / 00, BStBl. II 2001, 520 (524). 43 BFH v. 15. 3. 2000 – IV B 44 / 99, BFH / NV 2000, 1073; a.A. wohl R. Seer (Fn. 6), BB 1999, S. 78 (80). 44 So insbesondere R. Seer (Fn. 6), FS K. Vogel, S. 699 (700 f. m. w. N.). 45 M. Förster, in: Koch / Scholtz (Fn. 5), § 118 AO Rn. 11; H. Stadie (Fn. 10), BB 1977, S. 1648 (1650); vgl. ferner W. Reiß (Fn. 24), FS G. Grünwald, S. 495 (507). 46 S. Müller-Franken, Maßvolles Verwalten (Fn. 5), S. 201 ff. 37 38
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erschuldverhältnis expliziten Ausdruck gefunden hat. In der Besteuerung ist insoweit finanzbehördliches Handeln durch VA obligatorisch (gewollt) und der Vertrag deshalb keine zulässige, alternative Handlungsform47, soweit und solange nicht gesetzlich etwas anderes zugelassen ist (Dispositionsermächtigung). Dass die Auslegung eines Gesetzes und die Anwendung auf einen konkreten Sachverhalt auch im Bereich des Steuerrechts nicht zwangsläufig immer zu einem zutreffenden Ergebnis führt, ist richtig, indiziert aber noch nicht eine zulässige „pragmatische Gesetzesanwendung“ durch eine Vereinbarung zwischen Finanzbehörde und Steuerpflichtigem48. „Vom Gesetz eröffnete Konkretisierungsspielräume“ sind als solche (noch) keine Dispositionsermächtigung für vertragliche Vereinbarungen über Steueransprüche, sondern durch die allein verantwortliche Finanzbehörde auszufüllen, und dass Verständigungen innerhalb derartiger Konkretisierungsspielräume verbleiben, schließt einen Verstoß gegen das Gesetzmäßigkeitsprinzip (noch) nicht aus49, vielmehr liegen tatsächlich „gesetzesabweichende Steuervereinbarungen“ vor.
b) Tatsächliche Verständigungen aa) Entwicklung durch die Rechtsprechung Der 8. Senat des BFH hat im Jahre 1984 die (bindende) „tatsächliche Verständigung“ über schwierig zu ermittelnde tatsächliche Umstände, insbesondere in Schätzungssachen, aus der Taufe gehoben50. Dem haben sich zwischenzeitlich alle Senate angeschlossen51, so dass heute bindende tatsächliche Verständigungen (insbesondere) in Fällen erschwerter Sachverhaltsermittlung in der Besteuerungspraxis ein nicht mehr wegzudiskutierendes „Faktum“ geworden sind52.
47 M. Förster, in: Koch / Scholtz (Fn. 5), § 118 AO Rn. 11; R. Kühn / R. Hofmann (Fn. 5), § 78 AO Anm. 5. 48 A.A.: K. Vogel (Fn. 6), FS G. Döllerer, S. 677 (688 f.); T. Wiese (Fn. 5), BB 1994, S. 333. 49 A.A. insbesondere R. Seer (Fn. 6), zuletzt in FS K. Vogel, S. 699 (708 f.). 50 BFH v. 11. 12. 1984 – VIII R 131 / 76, BStBl. II 1985, 354. 51 BFH v. 5. 10. 1990 – III R 19 / 88, BStBl. II 1991, 45; BFH v. 6. 2. 1991 – I R 13 / 86, BStBl. II 1991, 673; BFH v. 23. 5. 1991 – V R 1 / 88, BFH / NV 1991, 846 f.; BFH v. 28. 7. 1993 – XI R 68 / 92, BFH / NV 1994, 290; BFH v. 8. 9. 1994 – V R 70 / 91, BStBl. II 1995, 32; BFH v. 6. 7. 1995 – IV R 30 / 93, BStBl. II 1995, 831; BFH v. 7. 11. 1995 – VIII B 31 / 95, BFH / NV 1996, 344 (346); BFH v. 31. 7. 1996 – XI R 78 / 95, BStBl. II 1996, 625 (626); BFH v. 17. 10. 1996 – X B 163 / 96, BFH / NV 1997, 525 (526); v. 30. 7. 1997 – II B 18 / 97, BFH / NV 1998, 188, 189; BFH v. 12. 8. 1999 – XI R 27 / 98, BFH / NV 2000, 537 (538); BFH v. 24. 1. 2002 – III R 49 / 00, BFH / NV 2002, 697 (698). 52 Vgl. auch FG Bremen, EFG 2000, 837, 838 („richterliches Gewohnheitsrecht“).
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bb) Anwendungsbereich der tatsächlichen Verständigung Die tatsächliche Verständigung muss sich nach der Rechtsprechung des BFH auf die steuerliche Behandlung eines bestimmten Sachverhalts oder eine bestimmte (steuerliche) Sachbehandlung beziehen, betreffe regelmäßig nur einen – von beiden Beteiligten zu konkretisierenden – Ausschnitt aus dem gesamten jeweils zu beurteilenden Besteuerungssachverhalt53 und könne sich nur auf in der Vergangenheit liegende Sachverhalte beziehen, nicht hingegen auf zukünftige Steuerfälle54. Eine Ausnahme wird insoweit zwar im Schrifttum bei Dauersachverhalten befürwortet, z. B. bei der Festlegung der Nutzungsdauer von Wirtschaftsgütern (AfA-Satz). Hier müssten zusätzlich auch künftige Zeiträume umfasst werden, solange sich die im Zeitpunkt des Abschlusses vorliegenden Umstände nicht ändern55. Eine solche Ausweitung hat der BFH aber bisher nicht zugelassen. Zu den wichtigen Anwendungsgebieten gehören derzeit insbesondere Schätzungsfälle (Verständigungen über die Besteuerungsgrundlagen selbst oder über das einzuschlagende Schätzungsverfahren)56, ferner Bewertungsfragen, Beurteilungsspielräume, Beweiswürdigungsspielräume, Pauschalierungen, die Aufteilung gemischter Aufwendungen und Schlussbesprechungen in der Außenprüfung57. Kein zulässiger Gegenstand einer tatsächlichen Verständigung sind hingegen nach ständiger Judikatur das im Einzelfall anzuwendende Recht oder die sich aus der Rechtsanwendung ergebenden Rechtsfolgen. Allerdings lässt der BFH bei sog. gemischten Fragen, bei denen eine rechtliche Wertung auf tatsächliche Faktoren zurückgreift, z. B. bei einem Fremdvergleich oder einer Angemessenheitsprüfung, eine tatsächliche Verständigung zu58.
53 BFH v. 23. 5. 1991 – V R 1 / 88, BFH / NV 1991, 846 (848); BFH v. 31. 7. 1996 – XI R 78 / 95, BStBl. II 1996, 625 (626); BFH v. 24. 1. 2002 – III R 49 / 00, BFH / NV 2002, 697 (698). 54 K. Buciek (Fn. 5), DStZ / A 1999, S. 389 (399); M. Streck (Fn. 6), StuW 1993, S. 366 (367); OFD München v. 2. 6. 1998, DStR 1998, 1635; zweifelnd R. Rüsken in Beermann (Fn. 6), § 78 AO Rn. 56.2.; vgl. auch BFH v. 13. 8. 1997 – I R 12 / 97, BFH / NV 1998, 498. 55 K. Kottke (Fn. 34), DB 1999, S. 820 (822); A. Schmidt-Liebig, Tatsächliche Verständigung über Schätzungsgrundlagen, DStR 1996, S. 643 (644); R. Seer (Fn. 6), BB 1999, S. 78 (80); R. Seer (Fn. 6), FS K. Vogel, S. 699 (704); R. Seer, in: Tipke / Kruse (Fn. 5), § 85 AO Rn. 56; FG Bad.-Württ., EFG 1992, 706; FG Hamburg, EFG 1994, 1038; FG Münster, EFG 1995, 552; vgl. auch BFH v. 13. 8. 1997 – I R 12 / 97, BFH / NV 1998, 498. 56 BFH v. 11. 12. 1984 – VIII R 131 / 76, BStBl. II 1985, 354 (358); BFH v. 12. 8. 1999 – XI R 27 / 98, BFH / NV 2000, 537 (538); A. Schmidt-Liebig (Fn. 55), DStZ / A 1996, S. 643 ff. 57 OFD München v. 2. 6. 1998, DStR 1998, 1635; vgl. ferner FG Saarland, EFG 1992, 706 (707: Verständigung über die Nutzungsdauer eines Wirtschaftsguts); FG Düss., EFG 1998, 5 (Verständigung über Einkunftserzielungsabsicht). 58 Vgl. oben sub II 2. a); K. Buciek (Fn. 5), DStZ / A 1999, S. 389 (396) sowie ferner bereits R. Seer (Fn. 6), StuW 1995, S. 385 (396); R. Seer (Fn. 6), BB 1999, S. 78 (80); R. Seer (Fn. 6), FS K. Vogel, S. 699 (701, 704).
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cc) Zweck der tatsächlichen Verständigung Dass die Rechtsprechung tatsächliche Vereinbarungen zwischenzeitlich nicht nur „toleriert“, sondern ausdrücklich „zulässt“, hat folgende Gründe: Durch die Zulassung der tatsächlichen Verständigung soll in jedem Stadium und zu jedem Zeitpunkt eines Besteuerungsverfahrens, auch und insbesondere in einem bereits länger andauernden und streitigen Verfahren59, anlässlich einer Außenprüfung und während eines anhängigen Rechtsbehelfsverfahrens oder eines Rechtsmittelverfahrens60, ein möglichst „zutreffender Besteuerungssachverhalt i.S. des § 88 AO einvernehmlich“ festgelegt werden (können), wenn und soweit die Klärung eines für die Steuerfestsetzung notwendigen Sachverhalts schwierig ist (erschwerte Sachverhaltsermittlung)61. Die Verständigung beseitige Unsicherheiten und Ungenauigkeiten und diene damit der Förderung und Beschleunigung des Besteuerungsverfahrens und allgemein dem Rechtsfrieden62; Rechtsschutz erübrige sich63. dd) Rechtfertigung / Rechtsgrundlage der tatsächlichen Verständigung? Die Entwicklung seit 1986 lässt sich nach alledem wie folgt zusammenfassen: Die tatsächliche Verständigung ist heute als Rechtsinstitut fest etabliert; sie als solche ernsthaft in Frage stellen zu wollen, mag daher müßig sein. Das zweifelsfreie praktische Bedürfnis für tatsächliche Verständigungen überlagert offensichtlich etwaige Bedenken gegen deren Zulässigkeit. Indes: Es wäre allzu einfach, Vereinbarungen im Steuerrecht allein mit einem (unstreitigen) praktischen Bedürfnis rechtfertigen zu wollen. Denn über die Zulässigkeit von Steuervereinbarungen entscheidet zunächst und in erster Linie das Verfassungsrecht; darauf hat Peter Selmer nicht ohne Grund hingewiesen. Konkret stellt sich hier die Frage nach Gesetzmäßigkeit und Gleichmäßigkeit der Besteuerung. Der BFH begründet die Zulässigkeit einer bindenden tatsächlichen Verständigung letztlich nur mit ihrem Zweck. Die einvernehmliche Festlegung des Besteuerungssachverhalts i.S. des § 88 AO diene der Förderung und Beschleunigung des Besteuerungsverfahrens und allgemein dem Rechtsfrieden64. Das lässt sich i.E. BFH v. 7. 11. 1995 – VIII B 31 / 95, BFH / NV 1996, 344 (346). BFH v. 23. 5. 1991 – V R 1 / 88, BFH / NV 1991, 846 f.; BFH v. 12. 8. 1999 – XI R 27 / 98, BFH / NV 2000, 537. 61 BFH v. 31. 7. 1996 – XI R 78 / 95, BStBl. II 1996, 625 (626); BFH v. 12. 8. 1999 – XI R 27 / 98, BFH / NV 2000, 537 (538). 62 BFH v. 31. 7. 1996 – XI R 78 / 95, BStBl. II 1996, 625 (626); BFH v. 24. 1. 2002 – III R 49 / 00, BFH / NV 2002, 697 (698). 63 Vgl. auch P. Kirchhof, Der Einfluss des Verfassungsrechts auf die Entwicklung des Steuerrechts, Stbg. 1995, S. 73 f. 64 BFH v. 31. 7. 1996 – XI R 78 / 95, BStBl. II 1996, 625 (626). 59 60
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auch nicht bestreiten, liefert aber tatsächlich ebenso wenig eine Rechtsgrundlage für die tatsächliche Verständigung wie die „Sachnotwendigkeit“ einer Einigung im steuerlichen Massenverfahren65. Außerdem sind Praktikabilität und Effizienz jedenfalls nicht die alleinigen „Leitprinzipien“ des Besteuerungsverfahrens66 und die Vermeidung von Rechtsstreitigkeiten ist kein Wert an sich. Dass kein „steuerrechtlicher Legalist und Purist“ an der Zulassung der tatsächlichen Verständigung in der Besteuerungspraxis etwas ändern wird, mag sein und die „puristische Einstellung“67, dass Besteuerungsgrundlagen, die nicht aufgeklärt werden können, geschätzt werden müssen und diese gesetzliche Vorgabe nicht durch die Zulassung einer bindenden tatsächlichen Verständigung ausgehebelt werden dürfe68, mag nicht den Bedürfnissen der Praxis entsprechen. Dann ist indes der Steuergesetzgeber gefragt, materiell und verfahrensrechtlich für eine gesetzmäßige und gleichmäßige Besteuerung zu sorgen. Wenn das Steuerrecht gesetzlich durchweg nicht so determiniert ist, dass die kraft Gesetzes entstandene Steuer (§ 38 AO) „quasi aus dem Gesetz abgelesen und berechnet werden könnte“69, ergibt sich daraus noch keine Rechtsgrundlage (Rechtfertigung) für eine „kooperative Festlegung“ des Besteuerungssachverhalts. Von einer kooperativen Verantwortungsgemeinschaft zur Festlegung der Besteuerungsgrundlagen ist nämlich zumindest bisher in der AO keine Rede70; die Ausnahmeregel des § 224 a AO bestätigt dies. Die (Entscheidungs-)Verantwortung liegt de lege lata grundsätzlich allein bei der Finanzbehörde71. Steuerverwaltung und Steuerpflichtiger haben keine gemeinsame Zuständigkeit für die Durchführung des Besteuerungsverfahren; der Steuerpflichtige ist nicht mitentscheidungsbefugt 72. Forderungen nach „kooperativen HandlungsVgl. aber M. Streck (Fn. 6), StuW 1993, S. 366 (368). Vgl. auch T. Rittler, Die Sachverhaltsermittlung im System der Besteuerungsgrundsätze, DB 1987, S. 2331 (2332). 67 So K. Buciek (Fn. 5), DStZ / A 1999, S. 389 (395). 68 J. Martens, Vergleichsvertrag im Steuerrecht, StuW 1986, S. 98 (102 f.). 69 So R. Seer (Fn. 6), StuW 1995, S. 213 (215); R. Seer (Fn. 6), FS K. Vogel, S. 699 (702); ferner R. Eckhoff, Vom konfrontativen zum kooperativen Steuerstaat, StuW 1996, S. 107 (109 ff.). 70 S. oben sub II 2. a) cc). Vgl. dazu auch K. Tipke, Die Steuerrechtsordnung, Bd. I, 2. Auflage, 2000, S. 136. 71 Vgl. ferner: W. Reiß (Fn. 24), FS G. Grünwald, S. 495 (501) sowie R. Seer (Fn. 6), BB 1999, S. 78 (80); anders hingegen R. Seer, in: Tipke / Kruse (Fn. 5), § 85 AO Rn. 49; R. Seer (Fn. 6), Verständigungen in Steuerverfahren, S. 178 ff. 72 S. Müller-Franken, Maßvolles Verwalten (Fn. 5), S. 172 f. m. w. N. Etwas anderes ergibt sich auch nicht daraus, dass die Steuergesetze unbestimmte Rechtsbegriffe und unbestimmte Wertbegriffe verwenden. Darin liegt keineswegs eine Ermächtigung für ein „Paktieren“ der Finanzbehörde mit dem Steuerpflichtigen (a.A.: R. Seer, in: Tipke / Kruse (Fn. 5), § 85 AO Rn. 47). Unbestimmte Rechtsbegriffe / Wertbegriffe hat vielmehr de lege lata allein die Finanzbehörde auszufüllen; nur sie ist hierfür „verantwortlich“. Dass das Gesetz für die Finanzbehörden Konkretisierungsspielräume eröffne, die auch „zweiseitig-konsensual“ ausgefüllt werden könnten (so R. Seer, in: Tipke-Kruse (Fn. 5), § 85 AO Rn. 47), ist eine Behauptung, die mit dem „erwünschten Ergebnis“ begründet wird. Das ist jedoch weder eine hinreichende Begründung noch überhaupt eine Begründung. 65 66
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formen“73 auch im Steuerrecht mögen „fortschrittlich“ sein und de lege ferenda in Ausnahmefällen zugelassen werden, jedoch fehlt im geltenden Recht nach wie vor eine explizite gesetzliche Dispositionsermächtigung, die die verfassungsrechtlichen Grundsätze der gesetzmäßigen und gleichmäßigen Besteuerung zulässigerweise einschränken könnte74. Und weiter: Für die Behauptung, dass ein von der Finanzbehörde einseitig festgelegter Sachverhalt keine größere Gewähr für dessen „Richtigkeit“ habe als eine im Wege der Verständigung getroffene Festlegung75, fehlt nicht nur jeder Beweis. Wenn eine Neuerung („einvernehmliche Sachverhaltsfeststellung“) gefordert wird, müsste das „Neue das Bessere“ sein76. Das wird aber selbst von den Befürwortern der tatsächlichen Verständigung nicht behauptet. Hinzu kommt: Der durch eine Besteuerung betroffene und belastete Steuerpflichtige verhandelt bei Vereinbarungen verständlicherweise „nur für sich“ und wird sich ebenso verständlich nur auf eine Verständigung einlassen, die aus seiner Sicht steuerlich „günstiger“ ist als eine einseitig von der Finanzbehörde getroffene Sachverhaltsfeststellung oder eine (einseitige) finanzbehördliche Schätzung. Ist der Steuerpflichtige gut beraten und das dürfte bei den Steuerpflichtigen, die Vereinbarungen treffen, regelmäßig der Fall sein, und weiß man um die unzureichenden persönlichen und sachlichen Kapazitäten der Finanzverwaltung, spricht alles dafür, dass eine tatsächliche Verständigung einerseits keinerlei größere Gewähr für ihre „Richtigkeit“ bietet, aber andererseits tendenziell die Gleichmäßigkeit der Besteuerung „auf der Strecke bleibt“77. Das gilt umso mehr, als in der Besteuerungspraxis die Masse der Steuerpflichtigen nicht einmal die Chance zum Abschluss einer tatsächlichen Verständigung erhält („Ungleichheiten in den Verfahrenschancen“)78, die Steuer aber nur dann gerechtfertigt ist, wenn und weil sie normativ und im tatsächlichen Belastungserfolg Gleichheit prinzipiell gewährleistet. Das Steuerrecht ist folglich strukturell keine „vertragsnahe Materie“, sondern zwingendes indisponibles Recht, das keine allgemeine Lockerung der Gesetzesbindung durch konsensuales Verwaltungshandeln verträgt und selbst den „bösen Schein“ eines gleichheitswidrigen Tauschhandels vermeiden sollte. Die Aufklärung des Sachverhalts ist einem „mitwirkungsoffenen Verwalten“ zugänglich, die gebotene streng egalitäre Gesetzesanwendung verlangt indes einen prinzipiellen Vorrang einseitigen Entscheidens durch die allein verantwortliche Steuerverwaltung79. R. Eckhoff (Fn. 69), StuW 1996, S. 107 ff. Vgl. dazu auch K. Tipke (Fn. 70), S. 136. 75 Vgl. insbesondere R. Seer (Fn. 6), BB 1999, S. 78 (80); R. Seer (Fn. 6), FS K. Vogel, S. 699 (702). 76 S. Müller-Franken, Maßvolles Verwaltungshandeln (Fn. 5), S. 224. 77 Vgl. S. Müller-Franken, Maßvolles Verwalten (Fn. 5), S. 330 ff.; ferner D. Gosch, Voraussetzungen einer tatsächlichen Verständigung bei der Außenprüfung, StBp 1994, S. 195 (196); J. Isensee, Vom Beruf unserer Zeit für Steuervereinfachung, StuW 1994, S. 3 (12); K. Tipke (Fn. 70), S. 136. 78 S. Müller-Franken, Maßvolles Verwalten (Fn. 5), S. 217 ff. 73 74
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III. Praktisches Bedürfnis – Zulassung durch den Gesetzgeber Bindende tatsächliche Verständigungen sind zwar (einerseits) de lege lata nicht zu rechtfertigen, aber (andererseits) für die Besteuerungspraxis offensichtlich notwendig. Das spricht für eine ausdrückliche Zulassung durch den Gesetzgeber, wie dies in anderen Ländern z.T. der Fall ist80. Die Verwendung konsensualer Handlungsformen im Besteuerungsverfahren ist jedenfalls so „wesentlich“, dass eine gesetzliche Grundlage unerlässlich ist81. Das würde zudem die Chance bieten, Zulässigkeit, Grenzen, Bindungswirkung usw. im notwendigen Umfang so (detailliert) zu regeln, dass verfassungsrechtliche Bedenken minimiert werden.
IV. Fazit Verträge über Steueransprüche sind unzulässig (nichtig), tatsächliche Verständigungen werden in der Besteuerungspraxis weitgehend akzeptiert. Gleichwohl hat die kritische Einstellung von Peter Selmer zu Steuervereinbarungen auch heute noch die besseren Gründe für sich.
79 S. Müller-Franken, Maßvolles Verwalten, (Fn. 5), S. 234 f. Vgl. ferner H. Söhn, in: Hübschmann / Hepp / Spitaler (Fn. 3), § 78 AO Rn. 145 ff. zu den Problemen der Bindungswirkung tatsächlicher Verständigungen. 80 Vgl. die Nachweise bei K. Tipke, Die Steuerrechtsordnung (Fn. 70), S. 133 f. 81 S. Müller-Franken, Maßvolles Verwalten (Fn. 5), S. 223 ff.
Wieviel Finanz- und Steuerrecht gehört zum Jurastudium? Von Christian Starck
I. Einleitung Peter Selmer, dem dieser Beitrag zu seinem 70. Geburtstag gewidmet ist, hat in Hamburg ebenso wie der Verfasser in Göttingen neben den Vorlesungen im Staatsund Verwaltungsrecht regelmäßig auch Steuer- und Finanzrecht unterrichtet. Das Steuer- und Finanzrecht vermittelt den Jurastudenten wichtige Grundlagen und Zusammenhänge für ein angemessenes Verständnis anderer Rechtsgebiete. Steuerund Finanzrecht ist aber anders als in vielen Staaten der Europäischen Union1 kein Pflichtfach im Curriculum der deutschen juristischen Fakultäten. Es war bislang Wahlfach oft in Kombination mit anderen Fächern und wird in Zukunft zu einem wirtschaftsrechtlichen Schwerpunktfach gehören, das nach dem Grundstudium in Konkurrenz mit anderen Schwerpunktfächern studiert werden kann. „Das Finanzrecht umfasst das gesamte Staatsleben auf seine finanziellen Auswirkungen radiziert, soweit diese rechtlich erfassbar sind.“ So hat Albert Hensel2 das Finanzrecht definiert. Demnach umfasst das öffentliche Finanzrecht das Recht der Staatseinnahmen, d. h. das gesamte Abgabenrecht, das Recht des Finanzausgleichs zwischen Bund und Ländern und Kommunen, das öffentliche Haushaltsrecht sowie das Recht des Kassen-, Rechnungs- und Kreditwesens, das Subventionsrecht, aber auch das Währungsrecht. Das öffentliche Finanzrecht betrifft also die Finanzströme im Staat, wozu das Geld als Basis derselben gehört. Mit der Einrichtung supranationaler Gemeinschaften und jetzt der supranationalen Union erstreckt sich das Finanzrecht in all seinen Zweigen auch darauf. Das Steuerrecht ist Teilgebiet des Abgabenrechts, und zwar das wichtigste sowohl unter wirtschaftlichen als auch unter juristisch-konstruktiven Gesichtspunkten. Andere Abgaben wie Gebühren, Beiträge und Sonderabgaben spielen eine ge1 In Portugal und Spanien sind Steuer- und Finanzrecht Pflichtfächer mit zwei 3- oder 4stündigen Vorlesungen. In Österreich ist Steuerrecht Pflichtfach mit einer 3- bis 4stündigen Vorlesung. In Frankreich ist Steuerrecht in den meisten Universitäten Pflichtfach mit Vorlesungen in einem oder zwei Semestern. Vgl. neuestens die Erklärung der Deutschen Steuerjuristischen Gesellschaft e. V. zur Schwerpunktbildung im Steuerrecht vom 24. Oktober 2003. 2 Steuerrecht, 3. Aufl. 1933, S. 2.
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ringere Rolle. § 3 Abs. 1 AO definiert Steuern3 in Abgrenzung zu den anderen Abgaben als „Geldleistungen, die nicht eine Gegenleistung für eine besondere Leistung darstellen und einem öffentlich-rechtlichen Gemeinwesen zur Erzielung von Einnahmen allen auferlegt werden, bei denen der Tatbestand zutrifft, an den das Gesetz die Leistungspflicht knüpft; die Erzielung von Einnahmen kann Nebenzweck sein.“ Damit sind die oben genannten anderen Abgaben ausgeschlossen, Zölle aber eingeschlossen. Steuerrecht ist besonderes Verwaltungsrecht. Hier tritt der Staat dem Bürger in einer typisch verwaltungsrechtlichen Beziehung gegenüber, und zwar in Form des Eingriffs. Das Bewusstsein der Zugehörigkeit des Steuerrechts zum Verwaltungsrecht kommt in Lehrbüchern des Verwaltungsrechts der 20er Jahre des vorigen Jahrhunderts zum Ausdruck. Otto Mayer beginnt sein besonderes Verwaltungsrechtmit der Polizeigewalt, das zweite Kapitel ist der Finanzgewalt (= Steuerrecht) gewidmet.4 Das Steuerrecht war fest in die Dogmatik des Verwaltungsrechts eingefügt und beeinflusste sie entscheidend, etwa was das Verwaltungsverfahren anbelangt. Heute stellt das Steuerrecht ein „eigenständiges rechtliches Subsystem“ des Verwaltungsrechts5 dar mit den einzelnen Steuergesetzen, die gesetzliche Steuerschuldverhältnisse begründen (§§ 37 f. AO), mit eigenständigem Verfahrensrecht in der Abgabeordnung, spezieller Verwaltung und Gerichtsbarkeit (Art. 108 GG i. V. mit dem Finanzverwaltungsgesetz und der Finanzgerichtsordnung). Durch die Steuererhebung beteiligt sich der Staat am wirtschaftlichen Erfolg seiner Bürger.6 Die zur Erfüllung der Staatsaufgaben erforderlichen Finanzen werden relativ zur wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit der Steuerpflichtigen erhoben.7 Die danach steuerwürdigen Vorgänge oder Zustände müssen von den Steuergesetzen definitorisch erfasst werden. Dazu bedient sich der Steuergesetzgeber der zivilrechtlichen Institutionen, die den Rechtsverkehr regeln, durch den wirtschaftliche Erfolge erzielt werden. Damit kommt das Steuerrecht in ein enges Verhältnis zum Zivilrecht (Vertragsrecht, Sachenrecht, Erbrecht, Handelsrecht, Gesellschaftsrecht). Das bewirkt umgekehrt, dass zivilrechtliche Rechtsformen unter steuerrechtlichen Gesichtspunkten ausgewählt und benutzt werden. Daraus ergibt sich zugleich die Bedeutung des Steuerrechts für das Zivilrecht, insbesondere das Gesellschaftsrecht. Die Anknüpfung des Steuerrechts an das Zivilrecht ist nicht zwangsläufig, selbst wenn sie die Regel ist. Denn Aufgabe des Steuergesetzgebers 3 Zum Steuerbegriff vgl. Ch. Starck, Überlegungen zum verfassungsrechtlichen Steuerbegriff, in: FS Gerhard Wacke, 1972, S. 193 = Starck, Freiheit und Institutionen, 2002, S. 357 ff. 4 z. B. Otto Mayer, Verwaltungsrecht Bd. I, 3. Aufl. 1924, S. 315 – 382. 5 K. Tipke, Die Steuerrechtsordnung, Bd. I, 1993, S. 80 f. 6 P. Kirchhof, Staatliche Einnahmen, in: HStR IV, 1987, § 88 Rn. 91. 7 Vgl. Art. 134 WRV: „Alle Staatsbürger ohne Unterschied tragen im Verhältnis ihrer Mittel zu allen öffentlichen Lasten nach Maßgabe der Gesetze bei.“ Vorläufer dieser Norm ist Art. 13 der französischen Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789.
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ist es, die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit der Steuerbürger zu erfassen. Zu diesem Zweck kann von zivilrechtlichen Zurechnungen abgewichen (§ 39 Abs. 2 AO) und können unwirksame Rechtsgeschäfte der Besteuerung zugrunde gelegt werden (§ 41 AO); bei Missbrauch zivilrechtlich zulässiger Gestaltungsmöglichkeiten entsteht der Steueranspruch so, wie er bei einer den wirtschaftlichen Vorgängen angemessenen rechtlichen Gestaltung entstanden wäre (§ 42 AO). Ganz allgemein kann im Einklang mit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts8 festgestellt werden, dass steuerrechtliche Tatbestandsmerkmale, auch wenn sie an das Zivilrecht anknüpfen, nach dem steuerrechtlichen Bedeutungszusammenhang, nach dem Zweck des jeweiligen Steuergesetzes und dem Inhalt der Einzelregelung zu interpretieren sind. Zivilrecht und Steuerrecht sind nebengeordnete, gleichrangige Rechtsgebiete. Bereits die geschilderten Zusammenhänge zwischen Steuerrecht und Zivilrecht erweisen ein wissenschaftliches und praktisches Bedürfnis, noch näher zu bestimmende Grundlagen und Grundzüge des Steuerrechts im akademischen Unterricht für alle Studenten zur Pflicht zu machen. Das praktische Bedürfnis folgt ferner daraus, dass heute ein Drittel aller Rechtsberatung Steuerrechtsberatung ist. Was das Finanzrecht, und zwar insbesondere den bundesstaatlichen und kommunalen Finanzausgleich und das öffentliche Haushaltsrecht anbelangt, gehört es zum Verständnis des Bundesstaatsrechts und des Rechts der kommunalen Selbstverwaltung. Wir leben in Deutschland in einem Bundesstaat, der sogar verfassungsänderungsfest ist (Art. 79 Abs. 3 GG), mit ausgeprägter kommunaler Selbstverwaltung (Art. 28 Abs. 2 GG). Die Verwaltungsbehörden, mit denen wir regelmäßig zu tun haben, sind Landes- oder Kommunalbehörden. Die Finanzausstattung der Länder und der Kommunen ist das Rückgrat der Bundesstaatlichkeit und der kommunalen Selbstverwaltung. Beide Institutionen degenerieren, wenn die Finanzausstattung nicht den Aufgaben entspricht oder wenn der Bund mittels einzelner Finanzzuweisungen an Länder und Gemeinden die Art und Weise ihrer Aufgabenerfüllung mitbestimmt. Denn wer zahlt, regiert. Entsprechendes gilt im Verhältnis Land – Gemeinden. Bundesstaatsrecht besteht nicht nur aus Zuständigkeiten und Verfahren, sondern ganz entscheidende aus Finanzverteilung. Die bundes- und landesverfassungsrechtlich garantierte kommunale Selbstverwaltung verlangt entsprechend eine aufgabengerechte Finanzverteilung. Der deutsche Jurastudent, der im Laufe des Studiums das Bundesstaatsrecht und die kommunale Selbstverwaltung verständlich gemacht bekommen muss, kann von der Regelung der dazu gehörenden Finanzströme nicht freigestellt werden. Dass das heute aber der Fall ist, beruht auf der durchgehenden Finanzblindheit des Rechtsunterrichts, die auf die Praxis der Juristen, insbesondere auch der Gerichte wirkt. Welche Argumente werden geltend gemacht, um den Ausschluss der Grundzüge des Steuer- und Finanzrechts aus dem Pflichtfachkanon der Jurastudenten zu be8 Vgl. BVerfG, Kammerbeschluss v. 27. 12. 1991, NJW 1992, S. 1219 f.; aus der früheren Rechtsprechung siehe BVerfGE 13, 331, 340; dazu K. Tipke, Steuerrecht und bürgerliches Recht, in: JuS 1970, S. 152 f.
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gründen? Beide Gebiete werden als Zumutungen empfunden, denen man den normalen Jurastudenten nicht aussetzen dürfe. Denn das Steuerrecht sei wegen der häufigen Änderungen der Steuergesetze unübersichtlich und kompliziert. Der Student könne nichts Dauerhaftes und rechtskonstruktiv Interessantes lernen. Wer später im Beruf steuerrechtliche Kenntnisse benötige oder Steuerjurist werden wolle, könne mit dem an der Universität erlernten Handwerkszeug, vielleicht in besonderen Kursen Steuerrecht lernen. Selbst die bayerischen juristischen Fakultäten haben das Steuerrecht nicht als Pflichtfach eingeführt, obwohl im bayerischen Assessorexamen eine steuerrechtliche Klausur gestellt wird, worauf sich der Referendar in der relativ kurzen Referendarzeit nebenbei vorbereiten muss, wenn er nicht das Wahlfachangebot im Studium nutzt, um sich mit den Grundlagen und Grundzügen des Steuerrechts vertraut zu machen. Das Recht des bundesstaatlichen Finanzausgleichs ist in seinen Einzelheiten zugegebenermaßen unübersichtlich. In noch höherem Maße gilt das für den kommunalen Finanzausgleich, der zudem in den 16 Ländern verschieden geregelt ist. Bundesstaatsrecht wird im Rahmen des Staatsorganisationsrechts im 1., spätestens im 2. Semester gelehrt. Die Prinzipien und Regeln der Kompetenzverteilung und der Verfahren der Staatsorgane empfinden die meisten Studenten als langweilig, sie bringen kaum Verständnis dafür auf. Für die wenig Anspruch stellende Anfängerübung im öffentlichen Recht bzw. neuerdings die Abschlussklausur der Vorlesung wird das Staatsorganisationsrecht gelernt und danach beiseite gelassen. Deshalb fallen Examensklausuren im Staatsorganisationsrecht zumeist schlechter aus als solche im Verwaltungsrecht, vor allem im Polizei- oder Baurecht. Es würde dem Verständnis des Staatsorganisationsrechts dienen, wenn etwa im 4. oder 5. Semester dessen finanzrechtliche Aspekte – Finanzausgleich und Haushaltsrecht – behandelt werden und damit dem organisatorischen und prozeduralen Gerüst Leben eingehaucht wird. Die Kompliziertheit sowohl des Steuerrechts als auch des Finanzrechts ist kein durchschlagendes Argument gegen deren Berücksichtigung im regulären Jurastudium. Denn es kommt auf die Auswahl des Lehrstoffs an. Dazu gehören vor allem die Grundsätze und die wichtigsten Regelungen, die Bestand haben. Mit diesem Wissen ausgestattet, können Einzelregelungen, auch wenn sie sich häufig ändern, verstanden und beurteilt werden. Steuerrecht als Pflichtfach im Jurastudium würde sich auch günstig auf das Steuerrecht auswirken, das Zustrom von Nichtspezialisten bekäme, die verstärkt nach der dogmatischen Konsistenz und nach dem Zusammenhang mit der Gesamtrechtsordnung fragen. Im folgenden wird ein Vorschlag für solch ein Curriculum unterbreitet, das der Verfasser seit den 70er Jahren entwickelt und immer wieder erprobt hat.9 Dem Curriculum liegen vier aufeinander aufbauende Fragen zugrunde, die erfahrungs9 Im Sommersemester dreistündig, im Wintersemester zweistündig. Bei einer Angleichung von Sommer- und Wintersemester auf je 14 Wochen müßte die Vorlesung dreistündig gehalten werden.
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gemäß bei den Studenten eine gewisse Spannung erzeugen: Was wird besteuert? Wie wird besteuert? Wer erhält den Steuerertrag? Wie werden Einnahmen und Ausgaben ausgeglichen? Diesem Frageaufbau entsprechend gliedert sich die Vorlesung anders, als die Lehrbücher gegliedert sind. Ausgangspunkt ist weder das Finanzverfassungsrecht noch das allgemeine Steuerrecht, sondern das besondere Steuerschuldrecht, wie es sich vor allem in den Steuern vom Einkommen darstellt. Es folgt das allgemeine Steuerschuldrecht (§§ 33 – 77 AO). Auf Grund der durch das Einkommensteuerrecht gewonnenen Anschauung wird das Steuerverwaltungsrecht dargestellt, das die Ermittlung und Erhebung der staatlichen Steueransprüche regelt. Nachdem der Steueranspruch verwaltungsmäßig realisiert und die Steuerschuld beglichen ist, kann der Finanzausgleich erfolgen, durch den das Steueraufkommen auf Bund, Länder und Kommunen verteilt wird. Zuletzt geht es um die interne Finanzordnung von Bund, Ländern und Kommunen, insbesondere um die Verwendung der verfügbaren Finanzen für die einzelnen Staatsaufgaben.
II. Steuerschuldrecht – Was wird besteuert? 1. Arten der öffentlichen Einnahmen und Gegenstände der Besteuerung Bevor das Einkommensteuerrecht behandelt wird, ist es zweckmäßig, einige elementare Hinweise auf die Bedeutung der Steuern im System der öffentlichen Einnahmen zu geben, dabei auch auf den Steuerbegriff in Abgrenzung zu den anderen Abgabentypen näher einzugehen und die in den Begriffen Steuer, Beitrag, Gebühr und Sonderabgabe steckenden Gerechtigkeitssysteme zu erläutern.10 Danach empfiehlt sich ein Überblick über die wirtschaftlichen Steuerquellen, d. h. die Gegenstände der Besteuerung. Dafür kann an die anschaulichen finanzwissenschaftlichen Kategorien angeknüpft werden: direkte / indirekte Steuern, Besitzsteuern / Verkehrsteuern / Verbrauchsteuern sowie Personalsteuern / Realsteuern.11 Ausgangspunkt können auch die in Art. 106 GG verwendeten Steuerbegriffe sein. Die haushaltswirtschaftliche Bedeutung der einzelnen Steuern sollte dadurch sinnfällig gemacht werden, dass eine Tabelle verteilt wird, auf der die Einnahmen aus den wichtigsten Steuern getrennt nach gemeinschaftlichen Steuern, Bundessteuern und Landessteuern für das letzte und einige vorangegangene Jahre vermerkt sind. Das besondere Steuerschuldrecht ist durchgehend beherrscht von den Aufbauprinzipien des gesetzlichen Steuertatbestandes, deren elementare Bedeutsamkeit 10 v. Mangoldt / Klein / Starck, Das Bonner Grundgesetz, Kommentar Bd. I, 4. Aufl. 1999, Art. 3 Rn. 47 f. 11 Vgl. aber auch die Kategorienbildung von K. Tipke, Die Steuerrechtsordnung, Bd. II, 1993, S. 523 f.: Steuern auf das Einkommen / Steuern auf die Einkommensverwendung; so schon ders., Steuerrechtswissenschaft und Steuersystem, in: FS Gerhard Wacke, 1972, S. 211, 215 ff.
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schon einleuchtet, bevor man eine einzelne Steuer kennen gelernt hat. Es bedarf eines Steuersubjekts, das die Steuer schuldet, eines Steuergegenstandes und eines Steuermaßstabes, deren Definition und Anwendung auf den konkreten Fall zumeist die ganze Schwierigkeit des Steuerrechts ausmachen, und eines Steuersatzes bzw. eines Steuertarifs. Zum Steuertatbestand gehören ferner Befreiungen, Vergünstigungen und Pauschalierungen. Befreiungen beruhen darauf, dass die steuerliche Tatbestandsbeschreibung möglichst einfach und abstrakt sein soll und dadurch Lebensverhältnisse umfasst, die nicht besteuert werden sollen, das sind z. B. Leistungen auf Grund des Bundeskindergeldgesetzes (§ 3 Nr. 24 EStG) oder Vorgänge, die schon anderweitig besteuert werden (z. B. § 4 Nr. 9 UStG). Solche Befreiungen verfeinern den Steuertatbestand. Die Durchsicht der Befreiungsparagraphen in den Steuergesetzen zeigt aber auch erfolgreiche Lobbyistentätigkeit. Vergünstigungen liegen zum Beispiel vor, wenn bei der Bewertung eines Wirtschaftsgutes höhere Abschreibungen möglich sind, als sie der Realität entsprechen, um damit zum Beispiel Investitionen aus wirtschaftspolitischen Gründen zu fördern. Pauschalierungen12 sollen die Abwicklung von Massenverfahren erleichtern und dem Steuerpflichtigen ersparen, Belege zu sammeln (z. B. § 9 a EStG). Diese Vorgriffe auf die einzelnen Steuergesetze sollten an Hand einfacher Beispiele gemacht werden, die die Kenntnis der Konstruktion der einzelnen Steuer nicht voraussetzen. Der Aufbau des Steuertatbestandes gibt Anlass, über Steuertechnik zu sprechen, ohne dass dafür schon spezielle steuerrechtliche Kenntnisse der Studenten erforderlich wären. Steuertechnik soll die Steueridee sowohl effektiv als auch auf rechtsstaatliche Weise durchsetzen helfen. Die Steuer muss ökonomisch sinnvoll wirken, darf nicht unnötig die Volkwirtschaft schädigen und muss so konstruiert sein, dass der verwaltungsseitige Erhebungsaufwand möglichst gering ist und dass bequeme Wege der Steuerhinterziehung abgeschnitten werden. Insgesamt vermag gute Steuertechnik die Steuerkultur, die ein Teil der politischen Kultur ist, zu heben. Die rechtsstaatlichen und grundrechtlichen Anforderungen an die Steuergesetzgebung können insbesondere an Hand der reichhaltigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts am besten später „vor Ort“, d. h. im Zusammenhang der einzelnen Tatbestände der betreffenden Steuernorm erklärt werden. 2. Einkommensteuerrecht Im Mittelpunkt des besonderen Steuerschuldrechts muss das Einkommensteuerrecht stehen, das für andere Steuern maßgeblich ist, das große wirtschaftliche Bedeutung hat und das den Steuerpflichtigen merklich belastet, indem sich der Staat direkt an seinem wirtschaftlichen Erfolg beteiligt. Zunächst ist der Dualismus von Einkommensteuer und Körperschaftsteuer und sind die Subjekte der beiden Steuern vom Einkommen zu erklären, wobei die Entwicklung seit 1920 interessante 12 Dazu umfassend auch unter dem Gesichtspunkt des Gleichheitssatzes F. Jarzyk-Dehne, Pauschalierung im Steuerrecht, 2003.
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Aufschlüsse gibt:13 Von der gewollten Doppelbelastung auf Grund besonderer wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit der Kapitalgesellschaften und derjenigen, die ihr Geld in Kapitalgesellschaften arbeiten lassen, hin zu Anrechnungsverfahren, die die Doppelbelastung ausgeschütteter Gewinne verringern oder vermeiden. Wenn deutlich von der verschiedenen Steuersubjektivität natürlicher Personen und juristischer Personen ausgegangen wird, bietet es sich aus didaktischen Gründen an, mit dem Dualismus zu beginnen, weil das Problem der Doppelbelastung ausgeschütteter Gewinne ohne Kenntnis der Einkunftsarten nach Einkommensteuerrecht als wirtschaftliches Phänomen verstanden werden kann. Die eigentliche Behandlung des Einkommensteuerrechts beginnt mit dem Einkommensbegriff, der gesetzlich definiert und periodisiert werden muss. Die Einkommensermittlung geht von den sieben Einkunftsarten (§ 2 Abs. 1 EStG) aus. Deren Summe unterliegt einem gestuften Abzugsverfahren (§ 2 Abs. 3 – 5 EStG), aus dem sich das zu versteuernde Einkommen ergibt, auf das der Steuertarif angewandt wird (§ 32 a EStG). Nach der nicht zu extensiven Behandlung der sieben Einkunftsarten mit Beispielen zur Abgrenzung (§§ 13 – 23 EStG) wird der Dualismus der Einkünfteermittlung als wesentliches Merkmal des geltenden Einkommensteuerrechts erklärt: Gewinn bei den ersten drei und Überschuss der Einnahmen über die Werbungskosten bei den restlichen Einkunftsarten (§ 2 Abs. 2 EStG). Mit dem Gewinn bei den unternehmerischen Einkünften wird der jährliche Reinvermögenszuwachs erfasst, während bei Nichtunternehmern die Quelleneinkünfte ausschlaggebend sind. Aber auch innerhalb der beiden Gruppen der Einkünfteermittlung bestehen Unterschiede, die die Unterscheidung der drei bzw. vier Einkunftsarten rechtfertigen. So sind Einkünfte aus Land- und Forstwirtschaft durchweg privilegienbehaftet. Einkünfte aus Gewerbebetrieben sind zugleich der Gewerbesteuer unterworfen (§§ 2 Abs. 1, 7 GewStG). Das Kernstück der Behandlung des Einkommensteuerrechts sollte die Gewinnermittlung nach §§ 4, 5 EStG sein.14 Ausgangspunkt sind die Geschäftsdaten, die sich aus der Buchführung ergeben, die nach Handelsrecht zum Schutz der Gläubiger und der Mitgesellschafter vorgeschrieben sind (§ 238 HGB). Diese handelsrechtlichen Pflichten sind nach § 140 AO zugleich für die Besteuerung zu erfüllen. § 141 AO legt darüber hinausgehend weitere Buchführungspflichtige fest. Auf Grund der Buchführung und des Inventars wird für den Schluss eines jeden Geschäftsjahres die Bilanz erstellt (§ 242 HGB), die es im Vergleich mit der Bilanz des vorangegangenen Jahres oder der Eröffnungsbilanz ermöglicht, den Gewinn i. S. des § 4 Abs. 1 EStG zu ermitteln, wofür die §§ 4 ff. EStG zahlreiche steuerrechtliche Besonderheiten vorsehen. Die Steuerbilanz wird aus der Handelsbilanz entwickelt (vgl. § 5 Abs. 1 EStG): Inzwischen schreiben handelsrechtliche Normen B. Knobbe-Keuk, Bilanz- und Unternehmenssteuerrecht, 9. Aufl. 1993, S. 558 ff. Auf andere Formen der Gewinnermittlung sollte nur hingewiesen werden, insbes. auf die für Freiberufler gemäß § 4 Abs. 3 EStG. 13 14
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die Maßgeblichkeit steuerrechtlicher Ansätze für die Handelsbilanz vor,15 wodurch das Maßgeblichkeitsprinzip umgekehrt wird. Der Aufbau der Bilanz in einem vereinfachten Schema ist Grundlage für die Erläuterung bilanzieller Begriffe (z. B. Rücklagen als Eigenkapital, Rückstellungen als Fremdkapital auf der Passivseite, Anlage- und Umlaufvermögen auf der Aktivseite) und für die beispielhafte Erklärung, wie sich Geschäftsvorfälle bilanziell auswirken, was stille Reserven sind, wie sie entstehen etc. Die Einstellung von Wirtschaftsgütern als Aktivposten in die jährliche Bilanz setzt deren Bewertung voraus (vgl. § 6 EStG). Das Einkommensteuerrecht kennt zwei Arten der Bewertung: Anschaffungs- oder Herstellungskosten vermindert um Absetzung für Abnutzung sowie den Betrag, den der Erwerber des ganzen Betriebs bei dessen Fortführung im Rahmen des Gesamtkaufpreises für das betreffende Wirtschaftsgut ansetzen würde (= Teilwert). Solange ein Wirtschaftsgut bilanziell verstrickt ist, gilt das Niederstwertprinzip (§ 6 Abs. 1 Nr. 1 Satz 2 EStG). Wird ein Wirtschaftsgut entnommen, ist der Teilwert anzusetzen, was zur Realisierung stiller Reserven führen kann und folglich den Gewinn erhöht. Für die Einlage eines Wirtschaftsguts gilt in der Regel der Teilwert. Betriebsausgaben mindern den Gewinn. Es wird nämlich Kapital aufgewendet, ohne dass aktivierte Vermögenswerte in Erscheinung treten (z. B. Gehälter, Anschaffung geringwertiger Wirtschaftsgüter). Anhand der Bilanzgrundsätze kann alles über die Bilanz Gesagte noch einmal wiederholt werden. Die Ermittlung von Nichtunternehmereinkünften kann knapp dargestellt werden. Die isoliert auf Löhne und Gehälter erhobene Lohnsteuer sowie auf Kapitalerträge erhobene Kapitalertragsteuer sind als Erhebungsarten der – besser als Vorauszahlungen auf die – Einkommensteuer zu kennzeichnen. Am Steuertarif, der immer wieder politisch motivierten Änderungen unterliegt, ist interessant, dass bis zu einem Jahreseinkommen von 7 235 A (bei Zusammenveranlagung 14 471 A) keine Steuer anfällt. Dieser Betrag des sog. Existenzminimums war früher geringer und lag sogar unter dem Sozialhilfesatz. Der Staat machte folglich den Bürger durch Besteuerung arm, so dass er Sozialhilfe beanspruchen konnte. Dieser groteske, lange Zeit geduldete Zustand,16 wurde durch eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts durch die lapidare Formel beendet:17 Der Steuergesetzgeber müsse dem Einkommensbezieher von seinen Erwerbsbezügen zumindest das belassen, was er dem Bedürftigen zur Befriedigung seines existenznotwendigen Bedarfs aus öffentlichen Mitteln zur Verfügung stelle. Dass diese Entscheidung erst im Jahre 1992 erging, zeigt, wie isoliert das Steuerrecht von der allgemeinen Rechtsordnung war. Vgl. §§ 247 Abs. 3, 254 HGB. Kritisch dazu vor allem P. Kirchhof, Besteuerung und Eigentum, VVDStRL 39, 1981, S. 213, 221; ders., Steuergerechtigkeit und sozialstaatliche Geldleistungen, JZ 1982, S. 305, 309. 17 BVerfGE 87, 153, 171. 15 16
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3. Körperschaftsteuer Das Körperschaftsteuerrecht darf in der Grundlagen- und Grundzügevorlesung nicht viel Zeit in Anspruch nehmen. Interessant sind vor allem die enge Verknüpfung mit der einkommensteuerrechtlichen Gewinnermittlung und die Möglichkeit, Gewinne und Verluste auf andere Rechtssubjekte zu verlagern. Die Behandlung des Körperschaftsteuerrechts beginnt mit den Steuersubjekten, die nicht nur juristische Personen sind, sondern auch nichtrechtsfähige Vereine, Anstalten, Stiftungen und andere Zweckvermögen des privaten Rechts sowie Betriebe gewerblicher Art von juristischen Personen des öffentlichen Rechts (§ 1 Abs. 1 Nr. 4, 5; §§ 3, 4, KStG). Steuerobjekt ist das zu versteuernde Einkommen der Körperschaft, das sich hauptsächlich nach dem Einkommensteuergesetz und ergänzend nach dem Körperschaftsteuergesetz bemisst, wobei zu beachten ist, dass Körperschaften lediglich Einkünfte aus Gewerbebetrieb haben, zu denen alle andersartigen Einkünfte (z. B. aus Landwirtschaft, aus Vermietung und Verpachtung) zählen. Wegen der Maßgeblichkeit der Handelsbilanz (§ 5 Abs. 1 EStG) sind bei Körperschaften die ergänzenden Bilanzvorschriften für Kapitalgesellschaften der § 264 ff. HGB zu beachten. Beim Betriebsvermögensvergleich sind alle Ausschüttungen als Entnahmen zu behandeln, die den Gewinn nicht mindern (§ 8 Abs. 3 Satz 1 KStG). Anders als bei Personengesellschaften sind die Gehälter der Gesellschafter, die Geschäftsführer sind, Betriebsausgaben, soweit nicht verdeckte Gewinnausschüttungen vorliegen (§ 8 Abs. 3 Satz 2 KStG). Dazu kann aus der reichen Rechtsprechung Anschauungsmaterial gewonnen werden. Das Körperschaftsteuerrecht ermöglicht in dem Institut der Organschaft die Verlagerung von Gewinnen und Verlusten. Dies ist von großer wirtschaftlicher Bedeutung etwa für Sanierungen. Die Organschaft ist eine wirtschaftliche Unternehmenseinheit, durch die unter Wahrung der Rechtspersönlichkeit des einzelnen Unternehmens Gewinne von Körperschaften verlagert werden können. Dazu ist eine finanzielle Eingliederung einer Gesellschaft in einen Organträger notwendig, der eine unbeschränkt steuerpflichtige natürliche Person oder Körperschaft sein muss (§ 14 Abs. 1 KStG). Ein Gewinnabführungsvertrag, der auf mindestens 5 Jahre abgeschlossen sein muss, wird durch Ausgleichszahlungen des Organträgers ergänzt, die die Organgesellschaft selbst versteuern muss (§ 16 KStG).
4. Übersicht über die wichtigsten anderen Steuern Damit ein gewisser Eindruck von der Vielfalt der Steuern vermittelt wird, empfiehlt es sich, weitere Steuern kurz nach dem Schema Steuersubjekt, Steuergegenstand, Steuermaßstab, Steuersatz / Steuertarif darzustellen. Zu beginnen ist mit der Gewerbesteuer, deren Steuerobjekt auf der Grundlage des nach den Vorschriften des Einkommensteuergesetzes oder des Körperschaft-
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steuergesetzes zu ermittelnden Gewinns aus Gewerbebetrieb bestimmt wird (§§ 2, 7 GewStG). Die Gewerbesteuer gibt wie keine andere Steuer Anlass zu rechtspolitischen Bemerkungen über das Steuerobjekt, dessen Bemessung und über die Ertragsverteilung, ja, über die Berechtigung der Steuer überhaupt. Die Erbschaft- und Schenkungsteuer ist eine Steuer, die auf einen Vermögenszufluss erhoben wird, der nicht auf eigener wirtschaftlicher Tätigkeit beruht, ist also eine „Bereicherungsteuer“18. An der Erbschaftsteuer hat sich ebenso wie an der nicht mehr erhobenen Vermögensteuer verfassungsrechtlicher Streit entzündet wegen der Bewertung des Grundvermögens, dessen wirtschaftlicher Wert aus Gründen des Gleichheitsgebots angemessen erfasst werden muss.19 Die Steuersätze sind abgestuft nach dem Wert des Erwerbs und nach der verwandtschaftlichen bzw. ehelichen Beziehung. In Verbindung mit den Freibeträgen für Kinder und Ehegatten ist hierin eine gesetzliche Ausprägung des besonderen Schutzes zu sehen, den die staatliche Ordnung Ehe und Familie schuldet (Art. 6 Abs. 1 GG).20 Dass die Steuersätze nicht beliebig hoch sein dürfen, folgt aus der verfassungsrechtlichen Garantie des Erbrechts in Art. 14 Abs. 1 GG. Steuern auf die Einkommensverwendung sind die Verbrauch- und Verkehrsteuern. Diese knüpfen an Akte des Rechtsverkehrs an (Zivilrecht!), jene fallen an, wenn eine Sache aus dem steuerlichen Nexus in den nicht gebundenen Verkehr geht.21 Beispiele für Verkehrsteuern stehen in Art. 106 Abs. 1 und 2 GG. Keine dieser Steuern bedarf einer genaueren Darstellung. Interessant sind einige rechtspolitische Bemerkungen zu diesen Steuern. Ein irgendwie durchschaubares System von Verkehrsteuern ist nicht erkennbar. „Wo immer es geht, eine Lücke im Etat auszufüllen, wurden sie verwendet. Infolgedessen ging der Staat bei der Schaffung neuer Verkehrsteuern ohne Systematik vor, griff wahllos bald hier, bald dort ein, wo sich Gelegenheit zum Ausbau der Verkehrsbesteuerung bot und wo ihm dies gerade praktisch erschien.“22 Ebenso wenig liegt der Verbrauchsbesteuerung ein rationales System zugrunde, was man an den Waren sehen kann, deren Verbrauch belastet wird: Tabak, Bier, Branntwein, Schaumwein und Zwischenerzeugnisse, Mineralöl und Kaffee, nicht Tee oder Wein. Kommunale Verbrauch- und Aufwandsteuern (vgl. Art. 105 Abs. 2 a GG) verdienen eine Erwähnung. Die kurze Darstellung der Verkehr- und Verbrauchsteuern ist Grundlage für die genauer zu behandelnde, dem Staat hohe Einnahmen bescherende Umsatzsteuer, die der Form nach eine Verkehrsteuer ist, aber ökonomisch wie eine Verbrauchsteuer wirkt. Zunächst sollte also erklärt werden, wie die Umsatzsteuer als Mehrwertsteuer mit Vorsteuerabzug (§ 15 UStG) wirkt. Die Steuersubjektivität (UnterSo Tipke / Lang, Steuerrecht, 16. Aufl., 1998, S. 569. Vgl. BVerfGE 93, 165, 172 – Erbschaftsteuer; 93, 121, 136 – Vermögensteuer. 20 BVerfGE 93, 165, 174. 21 BVerfGE 16, 64, 73 f. 22 Friedrich Klein, Verkehrsteuern, in: Hb. der Finanzwissenschaft, Bd. II, 2. Aufl. 1956, S. 605. 18 19
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nehmer) knüpft an § 2 Abs. 1 Nr. 2 und 3 EStG an, d. h. Unternehmer ist umsatzsteuerrechtlich auch der Freiberufler, soweit keine Steuerbefreiung vorliegt (vgl. § 4 UStG, der sieben Druckseiten umfasst). Steuergegenstand sind Lieferungen und sonstige Leistungen, die näherer Beschreibung bedürfen. Auf die Bemessungsgrundlage, das Entgelt, wird normalerweise ein Steuersatz von 16% erhoben, wenn nicht eine der Ausnahmen des § 12 Abs. 2 UStG vorliegt, in denen der Steuersatz 7% ist.
5. Allgemeines Steuerschuldrecht Die behandelten einzelnen Steuerschuldverhältnisse enthalten genügend Anschauungsmaterial, um das allgemeine Steuerschuldrecht verstehen zu können. Die Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis (Aufzählung in § 37 AO) entstehen, sobald der Tatbestand verwirklicht ist, an den das Gesetz die Leistungspflicht knüpft (§ 38 AO). Das würde für die Einkommensteuer bedeuten: Mit Ablauf des Veranlagungszeitraumes, weil zu diesem Zeitpunkt erst feststeht – wenn auch noch nicht berechnet ist – wie hoch die Steuerschuld ist. Diese Regel, die in § 36 Abs. 1 EStG ausgesprochen ist, wird aus Zweckmäßigkeitsgründen durchbrochen durch die vierteljährliche Vorauszahlungspflicht (§ 37 Abs. 1), die Lohnsteuerpflicht bei Zahlung des Lohnes (§ 38 Abs. 2 S. 2) und die Kapitalertragsteuerpflicht bei Gutschrift der Kapitalerträge (§ 43). Es handelt sich hierbei nicht um eigenständige Steuern, sondern um Modalitäten der Vorauszahlung der Einkommensteuer. Wer Steuerschuldner ist, ergibt sich aus den einzelnen Steuergesetzen (§ 43 AO); wer Steuergläubiger ist, folgt aus der verfassungsrechtlich geregelten Ertragshoheit (Art. 106 GG). Für die Aufrechnung gilt aus verwaltungsrechtlichen Zweckmäßigkeitsgründen als Steuergläubiger auch die Körperschaft, die die Steuer verwaltet (§ 226 Abs. 4 AO). Das Verhältnis der steuerrechtlichen Entstehungstatbestände zur allgemeinen Rechtsordnung, insbesondere zum bürgerlichen Recht, kann am Maßstab der §§ 39 ff. AO und der entsprechenden Regelungen des bürgerlichen Rechts an Hand von Beispielen (Leasing, Treuhand, Kettenschenkung etc.) erörtert werden. Zum Kernbestand des allgemeinen Steuerschuldrechts gehört eine Übersicht über die persönliche und sachliche Ausdehnung des Steuerschuldverhältnisses. Diese Regelungen erstrecken die konkrete Steuerschuld auf weitere Personen. Gründe für Gesamtschuld sind gemeinsame Tatbestandsverwirklichung, Zusammenveranlagung und Haftung (§ 44 AO). Bei der Haftung gibt es persönliche und dingliche Anknüpfungspunkte. In die erste Gruppe gehören die Haftung des Arbeitgebers für die Lohnsteuer des Arbeitnehmers (§ 42 d Abs. 3 EStG), des Schuldners der Kapitalerträge oder der die Kapitalerträge auszahlenden Stelle für die Kapitalertragsteuer (§§ 44 Abs. 5 EStG) sowie des Vertreters bei Vorsatz oder grober Fahrlässigkeit (§ 69 AO). In die zweite Gruppe gehören die zivilrechtlichen Haftungsvorschriften in den Fällen, in denen Gesellschaften, Vereine oder Genossen-
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schaften als solche der Besteuerung unterliegen; diese Haftungsvorschriften nimmt das Steuerrecht nicht mehr ausdrücklich in Bezug. Weitere dingliche Haftungstatbestände, die schnell einleuchten, obgleich sie hinter die zivilrechtlichen Formen durchgreifen, sind die Haftung bei Organschaft (§ 73 AO), die Haftung des Eigentümers der dem Unternehmen dienenden Gegenstände, soweit er an dem Unternehmen wesentlich beteiligt ist (§ 74 AO) und die zeitlich beschränkte Haftung bei Betriebsübernahme (§ 75 AO). Die Änderung und die Beendigung des Steuerschuldverhältnisses sollten kurz behandelt werden. Besonders wichtig sind die sachlichen Änderungen, das sind Stundung, Zahlungsaufschub bei Verbrauchsteuern und Aussetzung der Vollziehung. Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis erlöschen durch Zahlung, Aufrechnung, Erlass und Verjährung (§ 47). Diese Regelung im Steuerschuldrecht wird ergänzt durch steuerverwaltungsrechtliche Normen für jeden Erlöschensgrund. Beispiele für persönliche und sachliche Billigkeitsgründe, die Grundlage eines Erlasses sein können, sollten angeführt werden, wodurch der strenge Ausnahmecharakter der Vorschrift verdeutlich wird. Am Ende des allgemeinen Steuerschuldrechts ist kurz auf Erstattungs- und Vergütungsansprüche einzugehen. Immerhin ist § 37 Abs. 2 AO die erste selbständige öffentlich-rechtliche Regelung der ungerechtfertigten Bereicherung ohne Verweisung auf §§ 812 BGB.23 Ein Steuervergütungsanspruch kann gesetzlich für denjenigen vorgesehen werden, der nicht Steuerschuldner, sondern Steuerträger ist: z. B. der Exporteur, auf den Verbrauchsteuer überwälzt worden ist. Der Vorsteuerabzug nach Umsatzsteuerrecht ist der wichtigste Fall der Steuervergütung.
III. Steuerverwaltungsrecht – wie wird besteuert? 1. Besteuerungsverfahren und Pflichten des Steuerpflichtigen Während es im Steuerschuldverhältnis um eine materiell-rechtliche Beziehung des öffentlichen Rechts zwischen Gläubiger und Schuldner – analog zum privatrechtlichen Schuldverhältnis – geht, ist das Steuerpflichtverhältnis eine verfahrensrechtliche Beziehung zwischen Bürger und Staat. Nach Steuerverwaltungsrecht wird der Steueranspruch ermittelt, festgesetzt und gegebenenfalls vollstreckt. Hierfür bedarf es besonderer Zuständigkeits- und Verfahrensvorschriften für die Verwaltung und der Festlegung von Pflichten der Steuerpflichtigen. Das Steuerverwaltungsrecht ist sehr umfänglich in der Abgabenordnung geregelt, über deren Gliederung den Studenten zunächst eine Übersicht zu verschaffen ist. Das Steuerverwaltungsrecht ist durch rechtstaatliche Grundsätze beherrscht, die entweder in den Normen zum Ausdruck kommen oder die Auslegung der Normen beherrschen. Das Steuerpflichtverhältnis besteht unabhängig vom Steuerschuldverhältnis, denn 23
So aber § 49 a Abs. 2 VwVfG; § 53 Abs. 2 BRRG; § 12 Abs. 2 BBesG.
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in dem Verfahren muss auch ermittelt werden können, ob überhaupt eine Steuerschuld besteht. Von besonderer Bedeutung im verwaltungsrechtlichen Steuerpflichtverhältnis ist der Umstand, dass der Steuerpflichtige weitreichenden Pflichten unterworfen ist, die es in dieser Intensität in keinem anderen Verwaltungsrechtsverhältnis gibt. Die Gründe für die Mitwirkungspflichten des Steuerpflichtigen sind auf die Eigenart des Steuerschuldverhältnisses zurückzuführen. Die Steuerschuld entsteht, sobald der Tatbestand verwirklicht ist, an den das Gesetz die Steuer knüpft (§ 38 AO). Ob ein Steuertatbestand verwirklicht ist, liegt nicht für jeden Interessierten, insbesondere für das Finanzamt, deutlich sichtbar zutage, sondern setzt Ermittlungen voraus. Ermittlungen des Finanzamtes sind nur möglich, wenn der Steuerpflichtige die Daten der wirtschaftlichen Vorgänge in seinem Bereich aufzuzeichnen verpflichtet ist (Buchführungspflichten). Dazu kommen Melde- und Erklärungspflichten sowie Auskunfts- und Nachweispflichten. Die Behandlung der verschiedenen Pflichten soll deutlich machen, dass Steuerermittlung nur im Zusammenwirken von Steuerpflichtigem und Finanzamt möglich ist. Diesem tatsächlichen Grund entsprechend sind die einzelnen Pflichten mit Rücksicht auf das Gesetzmäßigkeitsprinzip gesetzlich festgelegt. Die Buchführungs- und Aufzeichnungspflichten, die sich aus §§ 140, 141 AO ergeben, sind schon im Zusammenhang mit der Darstellung des Einkommensteuerrechts behandelt worden. Deshalb genügt es, auf die Spezifizierungen in den §§ 143 – 147 AO kurz einzugehen. Die Melde- und Erklärungspflichten gehen sehr weit: Personenstands- und Betriebsaufnahmen mit Mitwirkungspflichten (§§ 134 f. AO), Kontenwahrheit (§ 154 AO) und schließlich die Abgabe von Steuererklärungen aufgrund amtlich vorgeschriebener Vordrucke (§§ 149 f. AO). Aufgrund der Steuererklärungen setzt das eigentliche Steuerermittlungsverfahren ein, das vom Untersuchungsgrundsatz (§ 88 AO) bestimmt wird. Bei den Auskunfts- und Nachweispflichten unterscheidet das Gesetz zwischen Beteiligten (§ 78 AO) und anderen Personen (§ 93 Abs. 1 Satz 1 AO), wobei andere Personen nur dann zur Auskunft angehalten werden sollen, wenn die Sachverhaltsaufklärung durch die Beteiligten nicht zum Ziele führt oder keinen Erfolg verspricht. Es kann sehr schön gezeigt werden, wie die verschiedenen Pflichten der Beteiligten unter dem Gesichtspunkt der Verhältnismäßigkeit gestuft sind. Die Grundpflicht der Beteiligten, bei der Ermittlung des Sachverhaltes mitzuwirken (§ 90 Abs. 1 AO), wird gesteigert durch Auskunftspflichten (§ 93 AO), eidesstattliche Versicherungen (§ 95 AO), die Vorlage von Urkunden (§ 97 AO), die Einnahme des Augenscheins (§ 98 AO), verbunden mit dem Betreten von Grundstücken und Räumen (§ 99 AO). Entsprechend sind die Auskunftspflichten anderer Personen nach dem Verhältnismäßigkeitsprinzip geordnet. Im Hinblick auf die Verpflichtungen anderer Personen ist auf die Pflichten der Banken und den Schutz der Bankkunden (§ 30 a AO) wegen der großen öffentlichen Bedeutung einzugehen. Besonders wichtig ist, dass Guthabenkonten oder Depots, bei deren Errichtung eine Legi-
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timationsprüfung nach § 154 Abs. 2 AO vorgenommen worden ist, anlässlich der Außenprüfung bei einer Bank nicht zwecks Nachprüfung der ordnungsmäßigen Versteuerung festgestellt oder abgeschrieben werden dürfen. Im Einzelfall sind Auskunftsersuchen an Banken gemäß § 93 AO möglich. Aus dem System der Mitwirkungspflichten der Beteiligten ergibt sich, dass Auskunftsverweigerungsrechte auch bei Gefahr der Strafverfolgung nicht vorgesehen sind. Ein gewisser Schutz ergibt sich jedoch aus § 393 Abs. 1 AO. Das Berufsgeheimnis der in § 102 AO aufgezählten Berufe gilt in eigenen und in fremden Steuersachen. Als besonderes Ermittlungsverfahren ist die Außenprüfung zu erwähnen, die dem Ziel dient, gleichmäßige Besteuerung zu sichern. Zu behandeln wären die der Außenprüfung unterworfenen Steuerpflichtigen, der Umfang und kurz das Verfahren der Außenprüfung. Die Pflichten des Steuerpflichtigen im Ermittlungsverfahren stehen unter wirksamen Sanktionen. Nach § 160 AO werden Betriebsausgaben, Werbungskosten und andere Ausgaben steuerlich regelmäßig nicht berücksichtigt, wenn der Steuerpflichtige dem Verlangen des Finanzamts nicht nachkommt, die Gläubiger oder die Empfänger genau zu benennen. Nach § 162 AO ist das Finanzamt berechtigt, die Besteuerungsgrundlagen zu schätzen, wenn sie nicht ermittelt oder berechnet werden können. Zu schätzen ist insbesondere dann, wenn der Steuerpflichtige über seine Angaben keine ausreichenden Aufklärungen zu geben vermag, Auskünfte oder eine Versicherung an Eides statt verweigert oder seine Bücher nicht ordnungsgemäß geführt hat.
2. Der Steuerbescheid und seine Bestandskraft Wenn das Steuerermittlungsverfahren eine Steuerschuld ergibt, endet es mit dem Steuerbescheid, für den die allgemeinen Regeln über den Verwaltungsakt (§§ 118 ff. AO)24 gelten, soweit nicht besondere Vorschriften bestehen. Die Feststellung der Besteuerungsgrundlagen bildet einen mit Rechtsbehelfen nicht selbständig anfechtbaren Teil des Steuerbescheides, soweit die Besteuerungsgrundlagen nicht gesondert festgestellt werden. In diesen Fällen ergehen gesonderte Feststellungsbescheide, auf die in der Vorlesung besonders eingegangen werden sollte, weil dabei das materielle Steuerrecht wiederholt werden kann: Feststellung des Einheitswertes nach Maßgabe des Bewertungsgesetzes (§ 180 Abs. 1 Nr. 1 AO), einheitliche Feststellung einkommensteuerpflichtiger oder körperschaftsteuerpflichtiger Einkünfte, wenn an den Einkünften mehrere Personen beteiligt sind (§ 180 Abs. 1 Nr. 2). Solche Feststellungsbescheide sind für andere Steuerbescheide bindend, sie sind gesondert anfechtbar mit eventuellen Wirkungen für die Folgebescheide. Steuermessbescheide sind notwendig, wenn die Verwaltung der Steuer zwischen staatlichen und gemeindlichen Behörden aufgeteilt ist (Art. 108 Abs. 4 Satz 2 GG). 24
Diese Vorschriften entsprechen weitgehend wörtlich den §§ 35 ff. VwVfG.
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Die Finanzämter ermitteln die steuerrelevanten Sachverhalte und setzen den Steuermessbetrag fest (§ 184 AO). Damit ist über die persönliche und sachliche Steuerpflicht entschieden. Aufgrund der Steuermessbescheide wenden die Gemeinden den jeweiligen Hebesatz an und erlassen den Gewerbesteuer- oder Grundsteuerbescheid. Ebenso wie die Feststellungsbescheide sind die Steuermessbescheide selbständig anfechtbar. Befinden sich Betriebsstätten zur Ausübung eines Gewerbebetriebes in mehreren Gemeinden, so ist der Steuermessbetrag in die auf die einzelnen Gemeinden entfallenden Anteile zu zerlegen (§ 28 GewStG). Darüber ergeht ein Zerlegungsbescheid (§ 188 AO). Der in § 155 Abs. 1 Satz 3 AO vorgesehene Freistellungsbescheid ist als eine verbindliche Entscheidung darüber gedacht, dass keine Steuer geschuldet wird. Freistellungsbescheide werden selten erlassen, zumeist ergeht eine interne Aktenverfügung, dass nicht veranlagt wird. Haftungsbescheide nach § 191 AO sind die verwaltungsrechtliche Konsequenz aus den schuldrechtlichen Haftungstatbeständen. Vorläufige Steuerbescheide ergehen, solange der Steuerfall nicht abschließend geprüft ist (§ 164 AO) oder soweit eine objektive, vom Finanzamt nicht behebbare Ungewissheit besteht (§ 165 AO). Von besonderem Interesse ist die Bestandskraft von Steuerbescheiden. Hier gelten nicht die allgemeinen Regeln für Verwaltungsakte, sondern Sonderregelungen, die darauf beruhen, dass ein Steuerbescheid stets belastend ist. Außerdem besteht wegen der Schwierigkeit der Tatsachenerhebung eine große Fehleranfälligkeit von Steuerbescheiden. Man wird den Studenten grob folgendes Schema erklären müssen. Danach können Schreibfehler, Rechenfehler und ähnliche offenbare Unrichtigkeiten bis zum Ablauf der Festsetzungsverjährungsfrist jederzeit berichtigt werden (§§ 129, 169 Abs. 1 Satz 2 AO). Steuerbescheide, die keine endgültige Festsetzung enthalten, können bis zum Ablauf der Verjährungsfrist geändert werden. Endgültige Steuerbescheide können nur unter den Voraussetzungen der §§ 172 ff. geändert werden. Insbesondere sind Steuerbescheide zu ändern, soweit Tatsachen oder Beweismittel nachträglich bekannt werden, die zu einer höheren Steuer führen. Wenn diese zu einer niedrigeren Steuer führen und den Steuerpflichtigen kein grobes Verschulden daran trifft, dass die Tatsache oder die Beweismittel erst nachträglich bekannt werden, ist der Steuerbescheid ebenfalls zu ändern. Steuerbescheide, die aufgrund einer Außenprüfung ergangen sind, haben eine stärkere Bestandskraft. Wichtig ist, dass die Bestandskraft von Steuerbescheiden nur die Steuerschuld betrifft, nicht die Begründung; deshalb können bei Änderungen umgekehrt wirkende Rechtsfehler berücksichtigt werden, soweit die Änderung reicht (§ 177 AO). § 176 AO stärkt den Vertrauensschutz des Steuerpflichtigen dadurch, dass bei Korrekturen zum Nachteil des Steuerpflichtigen die Rechtslage – Gesetze, Rechtsprechung und Verwaltungsanordnungen – zugrunde gelegt wird, die zum Zeitpunkt der ursprünglichen Steuerfestsetzung galt.
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3. Anhang: Gerichtlicher Rechtsschutz in Steuersachen Es empfiehlt sich, kurz auf den gerichtlichen Rechtsschutz in Steuersachen einzugehen. Zu behandeln wäre der Finanzrechtsweg (§ 33 FGO), das Einspruchsverfahren, das gemäß § 44 FGO Zulässigkeitsvoraussetzung für die Klage ist, die Klagearten und die Urteile sowie die Revision zum Bundesfinanzhof.
IV. Der bundesstaatliche Finanzausgleich – Wer erhält den Steuerertrag? 1. Ausgabenverantwortung im Bundesstaat Der Blick wendet sich weg vom Verhältnis Bürger – Staat, das das Steuerrecht (die Einnahmeseite) beherrscht. Es geht jetzt um die Verteilung der Einnahmen, und zwar um eine aufgabengerechte Verteilung. Die elementare Frage jedes Bundesstaates ist die Frage, wer die Ausgabenhoheit hat, die wiederum unlösbar zusammenhängt mit der Sicherung der Einnahmen, aus denen die Ausgaben bestritten werden können. Die materielle Aufgabenverteilung darf nicht durch unpassende Finanzverteilung unterhöhlt werden. Ähnlich wie das Prozessrecht so ausgestaltet sein muss, dass es die Durchsetzung des materiellen Rechts sichert, muss das Finanzrecht die Kompetenzordnung sichern. Die bundesstaatliche Verteilung der Kompetenzen muss durch finanzverfassungsrechtliche Regelungen stabilisiert und gewährleistet werden. Die Finanzierungskompetenz muss der Aufgabe folgen. Art. 104 a Abs. 1 GG regelt, dass der Bund und die Länder gesondert die Ausgaben tragen, die sich aus der Wahrnehmung ihrer Aufgaben ergeben, soweit das Grundgesetz nichts anderes bestimmt. Diese Regelung galt auch schon vor der Einführung des Art. 104 a GG.25 Zunächst ist zu erläutern, dass der Begriff der Aufgabe in Art. 104 a Abs. 1 die Verwaltungskompetenz meint, nicht aber die Gesetzgebungskompetenz (Argument Art. 104 a Abs. 3 GG). Die in den Absätzen 2 – 4 des Art. 104 a GG geregelten Ausnahmen von der Ausgabentragung sind zu erläutern, wobei besonderes Gewicht zu legen ist auf den Absatz 4, der Finanzhilfen des Bundes an die Länder für besonders bedeutsame Investitionen der Länder und Gemeinden vorsieht. Das Bundesverfassungsgericht hat sich mit der Auslegung dieser Bestimmung ausführlich beschäftigt und entschieden, dass eine bundesstaatliche Ordnung wegen der Gefahr von Abhängigkeiten prinzipiell sicherstellen muss, dass Finanzhilfen aus dem Bundeshaushalt an die Länder die Ausnahme bleiben und ihre Gewährung rechtlich so geregelt wird, dass sie nicht zum Mittel der Einflussnahme auf die Entscheidungsfreiheit der Gliedstaaten bei der Erfüllung der ihnen obliegenden Aufgaben werden.26 Im Zusammenhang mit Art. 104 a Abs. 4 BVerfGE 26, 338, 389 ff. – Eisenbahnkreuzungsfall. BVerfGE 39, 96, 111 f. leitete diese Auslegung aus dem damals geltenden Art. 106 Abs. 4 Satz 2 Nr. 1 GG ab (jetzt Abs. 3); dazu Ch. Starck, Finanzausgleich und Finanzhilfen 25 26
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sollten auch die Gemeinschaftsaufgaben nach Art. 91 a und b GG behandelt werden. Es muss klargestellt werden, dass es sich dabei um Länderaufgaben handelt (das gilt auch für Art. 91 b), die der Bund mitfinanziert und dabei sachlichen Einfluss ausübt.
2. Die Verteilung des Steueraufkommens auf Bund, Länder und Gemeinden Das Grundgesetz verwendet in Art. 106 drei verschiedene Prinzipien zur Verteilung des Steueraufkommens: bestimmte Steuern fließen dem Bund, andere den Ländern zu, das Aufkommen der Einkommensteuer, der Körperschaftsteuer und der Umsatzsteuer steht dem Bund und den Ländern gemeinsam zu (Gemeinschaftsteuern). Die Anteile des Bundes und der Länder an den Gemeinschaftsteuern sind verfassungsrechtlich bzw. bezüglich der Umsatzsteuer gesetzlich geregelt. Das dritte Prinzip sind die Anteilsberechtigungen, insbesondere der Gemeinden an den Gemeinschaftsteuern sowie von Bund und Ländern an der Gewerbesteuer. Wie der Länderanteil am Aufkommen der Gemeinschaftsteuern an die einzelnen Länder verteilt wird, regelt sich nach Art. 107 Abs. 1 Sätze 1 – 3 sowie Satz 4 Halbsatz 1 GG.
3. Bundesstaatlicher Finanzausgleich im engeren Sinne Die Verteilung des Steueraufkommens ist noch zu grob und entspricht nicht der Aufgabenverteilung. Deshalb schreibt das Grundgesetz zum weiteren Finanzausgleich zunächst Ansprüche zwischen den Ländern zum Ausgleich der unterschiedlichen Finanzkraft der Länder vor (Art. 107 Abs. 2 Satz 1 und 2 GG) und regelt Finanzzuweisungen des Bundes an die Länder. Dabei geht es um Ergänzungszuweisungen an leistungsschwache Länder zur Ergänzung des horizontalen Finanzausgleichs (Art. 107 Abs. 2 Satz 3 GG), um Finanzzuweisungen bei kurzfristiger Mehrbelastung der Länder durch Bundesgesetz (Art. 106 Abs. 4 Satz 2 GG), um Ausgleichsleistungen für Sonderbelastungen einzelner Länder durch den Bund (Art. 106 Abs. 8 GG) und um Finanzzuweisungen nach Art. 104 a, wozu auch die schon behandelten nach Abs. 4 gehören. Die Gemeinschaftsaufgaben gehören auch noch in den Finanzausgleich im weiteren Sinne. Freilich wird hier klar, dass der Bund nicht bloß Länderaufgaben finanziert, sondern mit der Finanzierung an der Wahrnehmung der Aufgabenerfüllung beteiligt wird.
im Bundesstaat, in: JZ 1975, S. 363 ff. = Starck, Praxis der Verfassungsauslegung, 1994, S. 269 ff.
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4. Steuergesetzgebung und Steuerverwaltung Das Steuerrecht lebt nach einem Ausspruch des Bundesverfassungsgerichts27 „aus dem Diktum des Gesetzgebers“. Aus dem Gesetzmäßigkeitsprinzip folgt das Rückwirkungsverbot, das nur wenige Ausnahmen kennt. Die Gesetzgebungskompetenz zwischen Bund und Ländern ist in Art. 105 GG so verteilt, dass der Bund die ausschließliche Gesetzgebung über Zölle und Finanzmonopole hat. Soweit dem Bund das Aufkommen der übrigen Steuern ganz oder zum Teil zusteht, bekommt er in Art. 105 Abs. 2 die konkurrierende Gesetzgebung zugesprochen. Freilich kann man sich nicht vorstellen, wie Bundes- oder gemeinschaftliche Steuern durch Länder geregelt werden sollen. Also auch hier ausschließliche Gesetzgebungskompetenz.28 Den Ländern bleibt nur die Befugnis, die ihnen zufließenden Steuern (Art. 106 Abs. 2 GG) zu regeln, falls nicht der Bund unter der Voraussetzung des Art. 72 Abs. 2 GG schon eine Regelung getroffen hat, was durchweg der Fall ist. Die Länder können ihre Steuergesetzgebungskompetenz nur entfalten bezüglich der örtlichen Verbrauch- und Aufwandsteuern, solange und soweit sie nicht bundesgesetzlich geregelten Steuern gleichartig sind (Art. 105 Abs. 2 a GG).29 Ebenso wie Art. 105 GG getrennt von Art. 70 ff. GG die Steuergesetzgebung regelt, so regelt Art. 108 GG getrennt von Art. 83 ff. GG die Finanzverwaltung. Aus der Verteilung der Verwaltungsaufgaben ergibt sich eine starke Beteiligung der Länder, die jedoch dadurch eingeschränkt ist, dass der Bundesgesetzgeber den Aufbau der Landesbehörden und die Ausbildung der Landesbeamten regelt und dass anstelle der Bundesregierung der Bundesminister der Finanzen Weisungen erteilt und die Bundesaufsicht ausübt. Die Länder werden ermächtigt, den Gemeinden Verwaltungskompetenzen zuzuteilen, soweit ihnen Steuern allein zufließen (Art. 108 Abs. 4 Satz 2 GG). Erwähnenswert ist die Möglichkeit der Zuständigkeitsverschiebung zwischen Bundes- und Landesbehörden und die Einrichtung einer Mischverwaltung, die beide Art. 108 Abs. 4 Satz 1 GG vorsieht. Hier wird aus Zweckmäßigkeitsgründen die Verfassung unter Gesetzesvorbehalt gestellt. So können nach dem Finanzverwaltungsgesetz Zollstellen bei Verwaltung der Umsatzsteuer und der Kraftfahrzeugsteuer mitwirken. Bei der Außenprüfung ist das Bundesamt der Finanzen zur Mitwirkung berechtigt.
27 BVerfGE 13, 318, 328; P. Selmer, Steuerinterventionismus und Verfassungsrecht, 1972, S. 44 ff.; H.-J. Papier, Der finanzrechtliche Gesetzesvorbehalt und das grundgesetzliche Demokratieprinzip, 1973, S. 27 ff. 28 So auch Vogel / Walter, Bonner Kommentar, Zweitbearbeitung (1971), Art. 105 Rn. 75 – 81. 29 Vgl. dazu BVerfGE 40, 56, 60.
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V. Das öffentliche Haushaltsrecht – wie werden Steuern verwendet? 1. Begriff und Funktion des Staatshaushalts Nachdem der Finanzausgleich stattgefunden hat, interessiert jetzt noch die rechtliche Regelung der Bewirtschaftung, das Haushaltsrecht. Der Staatshaushalt ist das finanzielle Spiegelbild der gesamten Staatstätigkeit. Die umfassende Verarbeitung der staatlichen Finanzen im Haushaltsplan hat drei Funktionen: rationale Planung (Art. 110 Abs. 1 GG), demokratische Kontrolle (Art. 110 Abs. 2 GG) sowie die gesamtwirtschaftliche Budgetfunktion (Art. 109 Abs. 2 GG). Diese kann den Studenten angesichts der enorm gewachsenen Staatsaufgaben sehr einfach plausibel gemacht werden. Die Gliederung des Haushaltsplans nach dem Haushaltsgrundsätzegesetz dient diesen Funktionen. Die Gliederung in Einzelpläne nach Ressorts ist Grundlage für deren Ermächtigung, Ausgaben zu leisten und Verpflichtungen einzugehen. Die Gliederung nach Funktionen (Aufgabenbereiche) und die Gliederung nach ökonomischen Ausgabenarten dient der demokratischen Kontrolle und der gesamtwirtschaftlichen Budgetfunktion. Es dürfte zum Verständnis der Gliederung nützlich sein, wenn die einzelnen Funktionen mit beispielhaften Unterpunkten auf einer Tabelle dargestellt werden und die jeweils dafür vorgesehenen Ausgaben während eines Haushaltsjahres notiert werden. Entsprechendes gilt für die ökonomischen Ausgabenarten im Gruppierungsplan. Da das Haushaltsgrundsätzegesetz für Bund und Länder gleichermaßen gilt, ist sichergestellt, dass die gesamtstaatlichen Ausgaben nach Funktionen und ökonomischen Ausgabenarten schnell zusammengefasst ermittelt werden können. Begriff und Rechtscharakter des Haushaltsgesetzes und des Haushaltsplanes sind zu erörtern. Zum Haushaltsplan in Rückschau gehört die Rechnungslegung des Bundesministers der Finanzen, die Rechnungsprüfung durch den Bundesrechnungshof und die Entlastung durch das Parlament. In einem Schaubild kann gezeigt werden, wie das Zusammenspiel der Staatsorgane bei Erstellung, Ausführung, Rechnungslegung und Kontrolle der Ausführung des Haushaltsplans funktioniert.
2. Haushaltspolitische Willensbildung im Bund Dass Ausgabengesetze nicht genügen, sondern die darin vorgesehenen Ausgaben in den Haushaltsplan eingestellt werden müssen, ist ein Gebot der rationalen Planung. Das Ausgabengesetz muss haushaltsrechtlich umgeformt werden. Anhand der einschlägigen Vorschriften der Bundeshaushaltsordnung sollten die Aufstellung des Entwurfs des Haushaltsplanes durch den Finanzminister und der Beschluss über den Entwurf des Haushaltsplanes durch die Bundesregierung kurz be-
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handelt werden. Die Besonderheiten bei der parlamentarischen Beratung des Haushaltsgesetzes ergeben sich aus Art. 110 Abs. 3 GG und der Geschäftsordnung des Bundestages. Der Vollzug des Haushaltsplanes wiederum folgt aus der Bundeshaushaltsordnung. Die Notregelung für den budgetlosen Zustand in Art. 111 GG sollte kurz erklärt werden. Zur parlamentarischen Behandlung des Haushaltsplanes gehört auch die Finanzplanung nach Art. 109 Abs. 3 GG, die über die jährliche Planung des Haushaltsplanes hinausgeht, freilich für die künftigen Haushaltspläne nicht verbindlich ist. Hier ist ein Zusammenwirken von Bund und Ländern vorgesehen und die Planungssystematik angeglichen.
3. Bundesstaatliche Haushaltsgrundsätze In Art. 109 Abs. 1 GG heißt es zwar, dass Bund und Länder in ihrer Haushaltswirtschaft selbständig und voneinander unabhängig sind. In Wirklichkeit verbürgt Art. 109 Abs. 1 keine Haushaltsautonomie der Länder in jeder Hinsicht. Zunächst ist die Einnahmeseite aus dem Begriff der Haushaltsautonomie herauszulösen, weil die Länder praktisch keine eigene Steuergesetzgebungskompetenz haben. Für die gesamtwirtschaftlich abgestimmte Haushaltswirtschaft in Bund und Ländern, die Art. 109 Abs. 2 fordert, ist Zusammenwirken von Bund und Ländern erforderlich, wobei dem Bund deutlich eine Präponderanz zukommt. Auch das Haushaltsgrundsätzegesetz engt mit seinen Grundsätzen und seinen unmittelbar geltenden Vorschriften die Haushaltsautonomie der Länder ein.
4. Haushaltsgrundsätze zur Erfüllung der Budgetfunktion Der in Art. 110 Abs. 1 Satz 2 geforderte Haushaltsausgleich geht idealiter davon aus, dass die Staatsausgaben durch Einnahmen gedeckt werden. Aus dem Saldo zwischen Ausgaben und laufenden Einnahmen ergibt sich der Umfang der erforderlichen Kreditaufnahme. Art. 115 GG verlangt eine gesetzliche Kreditermächtigung im Haushaltsgesetz und verbietet, dass die Einnahmen aus Krediten die Summe der im Haushaltsplan veranschlagten Ausgaben für Investitionen überschreiten. Diese technisch wirkende Vorschrift hat einen hohen Gerechtigkeitswert. Wenn nämlich konsumtive Ausgaben des Staates durch Kredit finanziert werden, werden Lasten auf die nächste Generation verschoben, die ohne Gegenwert für die Kredite gerade stehen muss.30 Das parlamentarische Regierungssystem mit den periodisch stattfinden Wahlen bietet für die um die Mehrheit kämpfenden Parteien große Anreize, gegen Art. 115 GG zu verstoßen. Diese Regelung ist deshalb fest im Bewusstsein der Jurastudenten zu verankern. Wenn es im Art. 115 Abs. 1 Satz 2 GG 30 Gemäß Art. 104 EGV i. V. mit Art. 1 des Protokolls (Nr. 20) über das Verfahren bei einem übermäßigen Defizit (1992) ist Deutschland als Mitgliedstaat verpflichtet, übermäßige öffentliche Defizite zu vermeiden.
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heißt, dass Ausnahmen nur zulässig sind zur Abwehr einer Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts, so kann diese Ausnahme nur Geltung haben, wenn das Gleichgewicht „ernsthaft und nachhaltig gestört ist oder eine solche Störung unmittelbar droht“.31 Die erhöhte Kreditaufnahme muss nach Umfang und Verwendung bestimmt und geeignet sein, die Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts abzuwehren. Hierzu müssen die Ursachen der Störung mit in Betracht gezogen und benannt werden. Ein wichtiger Grundsatz ist die Vollständigkeit und die Gesamtdeckung des Budgets, weil nur sie die notwendige Übersicht verschafft. Die Flucht in Sonderhaushalte verwirrt das Bild. Art. 110 Abs. 4 GG schreibt vor, dass in das Haushaltsgesetz nur Vorschriften aufgenommen werden dürfen, die sich auf die Einnahmen und Ausgaben des Bundes und auf den Zeitraum beziehen, für den das Haushaltsgesetz beschlossen worden ist. Dieses sog. Bepackungsverbot ist weiterhin sinnvoll, weil das Haushaltsgesetzgebungsverfahren sich von dem normalen Gesetzgebungsverfahren unterscheidet.
VI. Schlussbemerkung Der geraffte Gang durch die Grundsätze und Grundzüge des Steuer- und Finanzrechts, der auf eine dreistündige Vorlesung (vgl. Anm. 9) hochgerechnet werden muss, zeigt, dass dieses elementare Wissen keinen Jurastundenten überfordert. Im Gegenteil, es verbessert das Verständnis der Rechtsordnung als ganzer, indem es den nervus rerum offen legt. Freilich muss die Vorlesung vor Spezialisten geschützt werden, die den Stoff unübersichtlich machen und sich in Einzelheiten verlieren. Steuer- und Finanzrecht als Pflichtfach würde auf die Dauer in der Juristenschaft ein kritisches Potential erzeugen, das steuer- und finanzrechtliche Regelungen und Reformen beurteilen kann. Die Dozenten, die regelmäßig das Steuerund Finanzrecht von den Grundsätzen her für die Vorlesung aufbereiten müssen, würden dafür sorgen, dass beide Rechtsgebiete in die Rechtsdogmatik eingebettet bleiben.
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BVerfGE 79, 311, 339.
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Die Kurtaxe Von Christoph Trzaskalik
I. Die Niederungen der Bagatellabgaben Das Abgabenrecht hat sich in den vergangenen Jahrzehnten kräftig entwickelt, die Begründungszwänge haben zugenommen. Dieser Befund trifft indes nur für die großen Abgaben, vielleicht auch nur für die Einkommensteuer, zu. Von der allgemeinen Entwicklung abgekoppelt bleiben kleinere Abgaben, die, wenn einmal etabliert, nahezu unausrottbar sind. In den Niederungen dieser Bagatellabgaben ist der Ton rauh, die Bereitschaft der Gerichte, auch unausgegorene gesetzgeberische Entscheidungen zu akzeptieren, eher ausgeprägt. Worum es geht, soll am Beispiel der Kurtaxe (= Kurbeitrag) erläutert werden, die erstmals im Preuß. KAG von 1893 geregelt wurde. Bis dahin hatte man sich mit der Erhebung privater Entgelte begnügt, was aber voraussetzte, dass der Zugang zur Kurveranstaltung kontrolliert werden konnte. Zur Begründung der Kurtaxe wurde angeführt, dass Badeorte naturgemäß größere Aufwendungen tätigen, um Fremde anzuziehen. Deshalb sei es nötig, nicht nur die Einwohner, sondern auch die Fremden zu einer Leistung zu veranlassen1. Das Recht zur Erhebung der Kurtaxe wurde ohne Rücksicht auf in Anspruch genommene Vorteile eingeräumt, um die Einwände auszuschalten, die sich bei Ausgestaltung als Benutzungsgebühr ergeben hätten; Benutzer von Wanderwegen oder Zuhörer eines Promenadenkonzertes sind nur schwer exakt feststellbar2. Wenn von der Kurtaxe als einer Bagatellabgabe die Rede ist3, so ist ihre vergleichsweise geringe Höhe angesprochen, die rechtlich nicht vorgegeben ist, weil nach den Ermächtigungsvorschriften der Kommunalabgabengesetze sämtliche Herstellungs- und Unterhaltungskosten der Kur- und Erholungseinrichtungen über die Kurtaxe finanziert werden können. Der Bagatellcharakter ist insofern rechtlich bedeutsam, als Differenzierungen unterbleiben können, die bei größeren Beträgen zwingend geboten wären. Er ist bzw. sollte belanglos sein, soweit die Rechtfertigung der Abgabe zur Debatte steht; allein darum geht es hier. Preuß. OVGE 34, 197 f. Zur Entstehungsgeschichte Preuß. OVG v. 6. 11. 1899, Preuß. OVGE 34, 196; SchneiderBienert, Kurtaxe und Fremdenverkehrsabgabe, 1991, S. 3 ff. 3 Z. B. BVerwG v. 27. 9. 2000, NVwZ 2001, S. 689. 1 2
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Man darf diese kleinen Abgaben nicht vernachlässigen. Alle staatlichen Abgaben müssen letztlich aus Einkommen oder Vermögen bezahlt werden. Die Existenz unterschiedlicher Abgabetypen impliziert lediglich die Anerkennung verschiedener Verteilungsregeln. Abgaben, die ob ihrer Geringfügigkeit verfassungsrechtlich nicht rechtfertigungsbedürftig sind, darf es nicht geben.
II. Der Sondervorteil der ortsfremden Besucher Die Kurtaxe wird den Ortsfremden für die Möglichkeit der Benutzung der zur Kur- und Erholungszwecken bereitgestellten Einrichtungen der Gemeinde abverlangt. Sie wird als Abgabe eigener Art eingestuft, die sowohl Merkmale der Benutzungsgebühr wie auch des Beitrags aufweise4. Diese Klassifikation basiert auf der Begrifflichkeit des Kommunalabgabenrechts und ist insofern belanglos, als die Kommunalabgabengesetze spezielle Ermächtigungsvorschriften für die Erhebung der Kurtaxe enthalten5. Da allseits betont wird, den Ortsfremden werde bereits durch die Nutzungsmöglichkeit ein Vorteil vermittelt, scheint man auf verfassungsrechtlicher Ebene von einer Vorzugslast auszugehen. Vorzugslasten sind nach Ansicht des BVerfG verfassungsrechtlich unbedenklich, weil sie durch ihre Ausgleichsfunktion legitimiert werden6. Die Vorzugslast beruht auf einer besonderen Finanzierungsverantwortung des Abgabenschuldners, die andere Personen nicht trifft7. Ob mit der Kurtaxe ein Sondervorteil ausgeglichen wird, ist in der Rechtsprechung lediglich im Zusammenhang mit der Nichtbelastung der Ortsansässigen mit Erstwohnsitz diskutiert worden8. Ein Argument lautet, Kur- und Erholungseinrichtungen würden „in besonderer Weise gerade für Gemeindebesucher und den Fremdenverkehr geschaffen und unterhalten“9. In den Anfangszeiten der Kurtaxe mag die Überlegung zutreffend gewesen sein, dass bestimmte Einrichtungen nur für Touristen und nicht für die einheimische Bevölkerung bestimmt waren10. Es gab Zeiten, in denen z. B. der Land4 Bad.-Württ. VGH v. 28. 2. 2002, ESVGH 52, 145; Lichtenfeld, in: Driehaus (Hrsg.), Kommunalabgabenrecht, Kommentar, § 11 KAG Rn. 6. 5 Vgl. die Nachweise bei Lichtenfeld (Fn. 4), § 11 KAG Rn. 2. 6 BVerfG v. 7. 11. 1995, BVerfGE 93, 319, 344. 7 BVerfG v. 12. 10. 1994, BVerfGE 91, 207 (223). 8 Hess. VGH v. 25. 2. 1986, KStZ 1986, S. 134; vgl. im Übrigen die Nachweise bei Lichtenfeld (Fn. 4), § 11 KAG Rn. 22. 9 Hess. VGH v. 25. 2. 1986, KStZ 1986, S. 134. 10 Das Sonderrecht der Kurtaxe war eher verständlich, soweit es ursprünglich auf Einrichtungen beschränkt war, die in unmittelbarem Zusammenhang mit einer therapeutischen Behandlung standen. Der erste Sündenfall war die Finanzierung von Maßnahmen, die bloß mittelbar den Kurzweck unterstützen (Kurkonzerte, usw.). Das Sonderrecht verlor zudem mit der Ausdehnung auf Erholungsorte bzw. Fremdenverkehrsgemeinden an Konturen; dazu die
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wirt die Natur im Wesentlichen als seinen Arbeitsplatz ansah. Diese Zeiten sind vorbei und vor allem haben sich die Strukturen der Kur- und Erholungsgemeinden inzwischen gewaltig geändert. Die Vorstellung, dass Einwohner einer Erholungsgemeinde nicht das örtliche Schwimmbad benutzen und auch nicht in der Freizeit spazieren gehen, ist geradezu abwegig. Der Lebensstil der Ortsansässigen und Ortsfremden unterscheidet sich nicht, soweit es um die Freizeitgestaltung geht. Das zweite zur Freistellung der Gemeindeeinwohner vorgetragene Argument lautet, dass sie bereits über die der Gemeinde zufließenden Anteile der Einkommen- und Gewerbesteuer sowie die sonstigen gemeindlichen Abgaben an der Finanzierung des kommunalen Haushalts beteiligt sind11. Damit wird ein Zusammenhang hergestellt, der rechtlich nicht hergestellt werden darf, weil die Steuer gerade gegenleistungsunabhängig ist. Deshalb bekommt der steuerzahlende Ortsansässige auch keinen Rabatt, falls die Gemeinde kommunale Einrichtungen über Gebühren finanziert. Kurtaxpflichtige Personen zahlen demgegenüber sehr häufig ermäßigte Benutzungsgebühren (dazu unten sub VI.). Wer in der Steuerzahlung der Ortsansässigen – zu Unrecht – einen Grund für die Freistellung von der Kurtaxpflicht sieht, muss bei Zweitwohnungssteuerpflichtigen zwingend zu einer Anrechnung gelangen. Ob man den kommunalen Haushalt in Form einer Einkommensteuer oder einer Aufwandsteuer mitfinanziert, ist herzlich gleichgültig12. Das berücksichtigt die Rechtsprechung nicht hinreichend, soweit sie die Kumulierung von Zweitwohnungssteuer und Kurtaxe lediglich mit dem Hinweis rechtfertigt, die Abgabentatbestände seien verschieden13. Zu den Ortsfremden, die sich in der Gemeinde aufhalten und denen die Möglichkeit geboten ist, die Kur- und Erholungseinrichtungen zu nutzen, gehören auch die Tagestouristen. Sie unterliegen deshalb der Kurtaxe14, zahlen aber mangels Erhebungsbemühungen der Gemeinden durchweg nicht; so gibt es etwa in den Schwarzwaldgemeinden keine Kontrolleure der Wanderwege oder Loipen. In den Kur- und Erholungsgemeinden in der Nähe von größeren Städten machen diese Tagesgäste wohl an die 30% aus. Derartige Größenordnungen kann man nicht ohne weiteres aus Praktikabilitätsgründen unberücksichtigt lassen. Insofern ist an das Zinsurteil des BVerfG zu erinnern. Muss das Abgabegesetz die Gewähr seiner regelmäßigen Durchsetzbarkeit soweit wie möglich in sich tragen15, dann ist auf die Abgabe zu verzichten oder sie ist anders auszugestalten, falls ein beachtlicher Teil Nachweise bei Lichtenfeld (Fn. 4), § 11 KAG Rn. 7; allgemein zu dieser Entwicklung Schneider-Bienert, (Fn. 2), S. 55, S. 60 ff. 11 BVerwG v. 21. 6. 1976, KStZ 1976, S. 171; Hess. VGH v. 25. 2. 1986, KStZ 1986, S. 134; OVG Rh.-Pf. v. 2. 12. 1987, KStZ 1988, S. 168; Lichtenfeld (Fn. 4), § 11 KAG Rn. 22. 12 A.A. Hempel / Hempel, Unzulässigkeit der Anrechnung der Kurabgabe auf die Zweitwohnungssteuer, KStZ 1982, S. 185. 13 Etwa BayVGH v. 13. 8. 1999, NVwZ 2000, S. 225. 14 BVerwG v. 27. 9. 2000, NVwZ 2001, S. 689 = Buchholz 401.63 Kur- und Fremdenverkehrsabgabe Nr. 8. 15 BVerfG v. 27. 6. 1991, BVerfGE 84, 238 (271).
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der Schuldner nicht erfasst werden kann. Die Formulierung eines für alle geltenden Mindestaufenthalts allein reicht zur Abhilfe nicht aus, weil die Mindestaufenthaltsdauer ohne übermäßigen Verwaltungsaufwand nicht kontrollierbar ist. Setzt man zur Kontrolle entsprechend der bisherigen Übung (dazu sub VII.) im Wesentlichen die Beherbergungsbetriebe ein, wird die Veranlagung im Ergebnis davon abhängig, ob der Nutzer in der Gemeinde übernachtet oder nicht. Gerade das ist offenkundig nicht sachgerecht. Soweit in einigen Bundesländern nicht an den Aufenthalt, sondern an das „Unterkunftnehmen“ angeknüpft wird, erledigt sich das Problem nicht, weil sich damit der Belastungsgrund nicht verändert. Es muss gerechtfertigt werden, warum diejenigen nicht zahlungspflichtig sind, die zwar die kommunalen Einrichtungen nutzen, aber keine Unterkunft in der Gemeinde nehmen. Insgesamt: Die örtlichen Kur- und Erholungseinrichtungen sind kein Leistungsangebot, das nur den Ortsfremden gemacht wird, die sich zu Erholungszwecken in der Gemeinde aufhalten. Das Schweizer Bundesgericht lehnt deshalb in ständiger Rechtsprechung ab, die Kurtaxe als Vorzugslast einzuordnen und behandelt sie als Steuer mit Zweckbindung16.
III. Die Abgabepflicht aufgrund vermuteter Nutzung Dass die Kurtaxe schon durch die bloße Nutzungsmöglichkeit ausgelöst wird, beunruhigt niemanden, weil die Vorzugslast in Gestalt des Beitrags auch nur das bloße Angebot eines individuellen Vorteils voraussetzt17. Soweit in diesem Zusammenhang der baurechtliche Erschließungsbeitrag erwähnt wird, überzeugt das kaum. Er ist keine Vorstufe einer Nutzungsgebühr, sondern gleicht die Wertsteigerung des Grundstücks durch die Erschließungsmaßnahme aus. Ähnlich sieht die Sachlage beim Fremdenverkehrsbeitrag aus. Ihm liegt die Vorstellung zugrunde, dass die Gemeinde erhebliche Aufwendungen für den Fremdenverkehr oder den Kurbetrieb tätigt, damit Gäste anlockt, von denen die selbständigen Unternehmer wieder wirtschaftlich profitieren18. Der z. B. Hotelier zahlt einen Fremdenverkehrsbeitrag, weil er an den Touristen verdient, nicht weil er Urlaub macht. Man wird schon etwas näher darüber nachdenken müssen, was mit der Aussage gemeint ist, bei der Kurtaxe werde die Zahlungspflicht bereits durch die Möglichkeit der Nutzung der Kur- und Erholungseinrichtungen ausgelöst, eine tatsächliche Inanspruchnahme der Einrichtungen sei nicht erforderlich. Für die Kurtaxe ist der Grundgedanke prägend, die Gemeinden könnten mit vernünftigem Aufwand nicht feststellen, wie der Urlauber seine Zeit nutze, um aufgrund der getroffenen Feststellungen dessen Zahlungspflicht rechtfertigen zu könBGE 102 1 a, 143 ff.; BGE 90 1, 86 ff. F. Kirchhof, Grundriss des Steuer- und Abgabenrechts, 2. Aufl. 2001, 114; P. Kirchhof, in: Isensee / Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. IV, 2. Aufl., 1999, § 88 Rn. 213; H. W. Kruse, Lehrbuch des Steuerrechts, Bd. I, 1991, S. 41. 18 Dazu im Einzelnen Lichtenfeld (Fn. 4), § 11 KAG Rn. 64 ff. 16 17
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nen19. Aus diesem Grund hat der Gesetzgeber eine Vermutungs- bzw. Typisierungsregel aufgestellt. Das BVerwG hat das so formuliert: Der Kurtaxe liegt eine typisierende Betrachtungsweise zugrunde, die davon ausgeht, dass Ortsfremde regelmäßig auch deswegen in den Kurort kommen, um die dortigen Kureinrichtungen zu nutzen. Weil die Lebenserfahrung diese Ansicht hinreichend stütze, dürfe „in der Beitragssatzung unwiderleglich vermutet werden, dass der Gast aufgrund seines Aufenthalts einen Vorteil“ habe20. Basiert die Kurtaxe auf der Vermutung, dass Urlauber für gewöhnlich die Erholungseinrichtungen nutzen, ist die Aussage, die Kurtaxe setze die bloße Nutzungsmöglichkeit voraus, zumindest missverständlich. Typisiert der Gesetzgeber, so bestimmt er die Rechtsfolgen nach den Regelfällen eines Sachbereichs und lässt dabei die Besonderheiten von Einzelfällen außer Betracht. Die zulässige Typisierung führt zur Gleichbehandlung ungleicher Sachverhalte; Grundvoraussetzung ist, dass nicht zu viele „Typisierungsopfer“ anfallen21. Die Frage ist dann eher, ob die Abgabe auf einer solchen Vermutungsregel aufbauen darf.
IV. Die persönliche Reichweite der Vermutungsregel Wenngleich das BVerwG ausdrücklich nur solche Ortsfremde als nicht kurtaxpflichtig erwähnt, die aus „beruflichen oder anderen Gründen gezwungen“ sind, sich in dem Kurort aufzuhalten22, wird man davon ausgehen müssen, dass der Kreis der Abgabepflichtigen – positiv gewendet – auf die Kur- und Urlaubsgäste beschränkt sein soll23. Demgegenüber wird teilweise ausschließlich für maßgeblich erachtet, dass der Ortsfremde bei nachgewiesenem Aufenthalt objektiv die Möglichkeit hat, die Kur- bzw. Erholungseinrichtungen zu nutzen. Die praktischen Ergebnisse dieser Ansicht sind einigermaßen unerfreulich. So blieb etwa der durchaus glaubwürdige Vortrag eines Wohnungseigentümers ohne Erfolg, er komme ausschließlich in die Gemeinde, um während weniger Stunden den Mieterwechsel zu organisieren24. Nicht anders erging es dem Betreiber der Autobahnraststätte Baden-Baden, der argumentierte, ein auswärtiger Gast, der Kureinrichtungen benutzen wolle, übernachte nicht in einer Autobahnraststätte25. Exemplarisch OVG Lüneburg v. 30. 5. 2000, NVwZ-RR 2000, S. 830. BVerwG v. 27. 9. 2000, NVwZ 2001, S. 689. 21 Das BVerwG hat gelegentlich angenommen, nicht mehr als 10 v.H. der von der Regelung betroffenen Fälle dürfe dem Typ nicht widersprechen; BVerwGE 68, 36 (41). Eine starre Grenze wird es wohl nicht geben; vgl. im Übrigen die Nachweise in BVerwG v. 27. 9. 2000, NVwZ 2001, S. 689 22 BVerwG v. 27. 9. 2000, NVwZ 2001, S. 689. 23 So ausdrücklich Bad.-Württ. VGH v. 28. 2. 2002, ESVGH 52, 145; auch BayVGH v. 13. 8. 1999, NVwZ 2000, S. 225. 24 OVG Lüneburg v. 30. 5. 2000, NVwZ-RR 2000, 830; ähnlich Bad.-Württ. VGH v. 13. 9. 1985, ESVGH 36, 38. 25 Bad.-Württ. VGH v. 23. 4. 1992, NVwZ-RR 1992, S. 581. 19 20
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Sollen über die Kurtaxe nur bestimmte Einrichtungen bzw. Veranstaltungen finanziert werden, kann man nur solche Personen zu Schuldnern machen, die Bezug zu den Einrichtungen bzw. Veranstaltungen haben. Dies sind nur Personen, die die Einrichtungen bzw. Veranstaltungen tatsächlich nutzen oder zumindest nutzen wollen26. Die Vorstellung, dass z. B. alle Mainzer, die zum Einkaufen, zur Arbeit oder zu einem Kongress über den Rhein nach Wiesbaden fahren, kurtaxpflichtig sind, mutet eher bizarr an. Ist die Vermutungsregel der Sache nach auf Kur- und Urlaubsgäste zugeschnitten, wird die mit ihr angestrebte einfache Abgabenerhebung erheblich beeinträchtigt. Das zeigt sich sehr deutlich an der Rechtsprechung zur Teilnahme an Tagungen, Fortbildungsveranstaltungen, usw. Traditionell wird die Kurtaxe nicht von Ortsfremden erhoben, die in der Gemeinde arbeiten. Ob derjenige, der in die Gemeinde kommt, um seine Arbeit als Selbständiger oder als Arbeitnehmer zu erledigen, die örtlichen Kur- oder Erholungseinrichtungen nutzen wird, weiß man nicht; eine Vermutungsregel lässt sich allenfalls negativ formulieren. Soweit dies in der Ermächtigungsvorschrift des jeweiligen KAG oder in der Satzung geregelt ist, handelt es sich nicht um eine Befreiung, sondern um eine Klarstellung, die durch die Reichweite der Vermutungsregel vorgegeben ist. Der angesprochene Personenkreis ist deshalb auch nicht abgabepflichtig, wenn er in der Kurtaxesatzung nicht erwähnt wird. Beachtet man, dass der beruflich oder geschäftlich bedingte Aufenthalt lediglich ein Beispielsfall für einen außerhalb der Reichweite der Vermutungsregel liegenden Aufenthaltszweck bildet, kann man nicht lediglich Teilnehmer an beruflich ausgerichteten Veranstaltungen verschonen27. Eine Sonderstellung des beruflich bedingten Aufenthalts ist nicht zu rechtfertigen, weil allein entscheidend ist, dass der Aufenthalt nicht jenen Kur- oder Erholungszwecken dient, für die die Gemeinde die Einrichtungen bereit stellt bzw. die Veranstaltungen durchführt. Beispielhaft seien genannt: Fastenseminare, Treffen von Selbsterfahrungsgruppen, Mal-, Kochund Yoga-Kurse. Und erst recht wird z. B. der Professor vortragen dürfen, er nutze seine Zweitwohnung zur Ausarbeitung eines Tagungsbeitrags oder zur Korrektur von Klausuren. Es ist ferner nicht unproblematisch, in Anlehnung an das Steuerrecht Mindestanforderungen an die zeitliche Inanspruchnahme durch das Tagungsprogramm zu stellen28. Immerhin wird dem Arbeitnehmer oder Geschäftsmann auch nicht entgegen gehalten, der beruflich bedingte Aufenthalt sei nur von kurzer Dauer gewesen. Ob die Überlegung hilfreich ist, die Tagung finde nur deshalb an einem Kurort statt, um den Teilnehmern auch die Möglichkeit zu eröffnen, die Kureinrichtungen zu nutzen, kann man bezweifeln.
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So ausdrücklich Bad.-Württ. VGH v. 28. 2. 2002, ESVGH 52, 145. A.A. Bad.-Württ. VGH v. 28. 2. 2002, ESVGH 52, 145. So aber Bad.-Württ. VGH v. 28. 2. 2002, ESVGH 52, 145.
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Löst nicht jeder Aufenthalt eines Ortsfremden die Abgabepflicht aus, muss der jeweilige Aufenthaltszweck ermittelt werden29. Das führt dazu, dass die Vermutungsregel für Kurstädte, die Ortsfremde aus unterschiedlichsten Gründen anziehen, nahezu unbrauchbar wird. Dass Hoteliers in einer Kurstadt wie z. B. Baden-Baden oder Wiesbaden halbwegs verlässliche Angaben über den Zweck des Aufenthalts ihrer Gäste erlangen können, ist schwer vorstellbar30. Allgemein ist die Frage nach der Zumutbarkeit der Einbehaltungspflicht Dritter zu stellen. Der übliche Verweis auf die Mitwirkungspflichten Privater in anderen Rechtsbereichen31 greift zu kurz. Der Hotelier, usw., muss in Erfüllung seiner Pflicht in die persönlichen Verhältnisse seiner Gäste eindringen. Mit der bloßen Protokollierung der Antwort des Gastes kann es wohl nicht sein Bewenden haben32. Nimmt man die Vielzahl der möglichen Aufenthaltszwecke zu Kenntnis, kann man daran zweifeln, ob eine an einen bestimmten Aufenthaltszweck gebundene Vermutungsregel geeignet ist, um darauf eine Abgabepflicht aufzubauen.
V. Der Gegenstand der Vermutungsregel Denkt man im Sinne der vom BVerwG propagierten Vermutungsregel darüber nach, welche Verhaltensweisen Kur- und Urlaubsgäste typischerweise an den Tag legen, so liegt es nahe, auf die jeweilige kommunale Einrichtung bzw. Veranstaltung abzustellen. Tut man dies, wird schnell offenkundig, dass man halbwegs verlässliche Aussagen über Regel und Ausnahme überhaupt nicht treffen kann. Beispiele: Kinderspielplätze werden typischerweise nur von Kindern benutzt, Tennisplätze von Personen, die den Sport auch zuhause ausüben. Wer im Sommer im Schwarzwald Urlaub macht, wird nicht einsehen, warum er die Loipenpflege mitfinanzieren muss. Und auch in Wintermonaten hilft die Typisierung nicht über den fehlenden Schnee hinweg. Hotelbetreiber mit eigenem Wellnessbereich werden kaum begeistert sein, dass das BVerwG ihnen mangelnde Lebenserfahrung zuspricht, weil Urlauber typischerweise das kommunale Schwimmbad benutzen. Die vom BVerwG aufgestellte Typisierungsregel gewinnt nur dann an Form, wenn man sie so versteht, dass ein anonymer, d. h. jeder persönlichen Eigenschaft entkleide-
29 Im Rahmen dieser Feststellung mag man dem Ortsfremden die Darlegungslast hinsichtlich des sonstigen Zwecks aufbürden; dazu Bad.-Württ. VGH v. 28. 2. 2002, ESVGH 52, 145. 30 In der Praxis wird deshalb zum Teil stillschweigend über die Einbehaltungspflicht der Beherbergungsbetriebe hinweg gesehen; eine Ausnahme bilden dann wieder die Reha-Kliniken. 31 Nachweise bei Lichtenfeld (Fn. 4), § 11 KAG Rn. 56. 32 Nicht beifallswürdig ist beiläufige Äußerung des Bad.-Württ. VGH v. 28. 2. 2002, ESVGH 52, 145, den Beherbergungsbetrieben könne aufgegeben werden, im Zweifel die Kurtaxpflicht der Gäste zu widerlegen.
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ter, „abstrakter“ Urlauber irgendeine der kommunalen Kur- und Erholungseinrichtungen nutzt oder damit zusammenhängende Veranstaltungen besucht. In dieser Allgemeinheit mag die Typisierung überzeugen. Dazu passt, dass die Kurtaxe als „Einheitspreis“ für alle Besucher ausgestaltet ist. Dazu passt nicht die Staffelung der Kurtaxe nach Zonen, die sich an der räumlichen Entfernung der Unterkunft zu den Kur- bzw. Erholungseinrichtungen orientieren33. Ist die Typisierung, auf der die Kurtaxe aufbaut, gerade nicht auf bestimmte Einrichtungen bezogen und bleibt völlig offen, welche Leistungen der Urlauber überhaupt in Anspruch nimmt, kann die räumliche Nähe zu einer einzelnen Kur- oder Erholungseinrichtung kein Bemessungskriterium sein. Deshalb ist der Ort der Unterkunft auch nicht Teil des (materiellen) Abgabetatbestands. Der Ort der Unterkunft hat nur erhebungstechnische Bedeutung im Zusammenhang mit der Bestimmung des Kreises der einbehaltungspflichtigen Dritten34. Ob die Kurtaxe als Pauschalleistung zur Finanzierung der örtlichen Kur- und Erholungseinrichtungen auf der Grundlage der höchst vagen Nutzungsvermutung noch dem vom BVerfG akzeptierten Leitbild der Vorzugslast entspricht, ist eine offene Frage.
VI. Das Verhältnis zur Gebührenfinanzierung Wird die Kurtaxe gezahlt wegen der an den Aufenthalt geknüpften unwiderleglichen Vermutung der Nutzung, so ist das Verhältnis der Kurtaxe zur Gebühr bzw. zu entsprechenden (privaten) Nutzungsentgelten zu klären. Einig ist man sich darüber, dass die Abgaben nebeneinander erhoben werden dürfen. Im Rahmen der Abgabenkalkulation ist zu entscheiden, welcher Teil des Gesamtaufwands aus den einzelnen Abgabenarten gedeckt werden soll35. Über das Rangverhältnis von Kurtaxe und Benutzungsgebühr ist damit keine Aussage getroffen. Von der kalkulatorischen ist die andere Frage zu unterscheiden, ob die Kurtaxe in irgendeiner Weise auf gezahlte Benutzungsgebühren angerechnet wird. Dies entspricht verbreitet der Übung in den erhebungsberechtigten Gemeinden: Bei kleineren Veranstaltungen zahlen kurtaxpflichtige Personen kein Eintrittsgeld, im Übrigen werden die Benutzungsgebühren in bescheidenem Umfang ermäßigt. Diese Praxis beruht auf der Überlegung, dass das für den unwiderleglich vermuteten Vorteil gezahlte Entgelt nicht bei der Bemessung der Nutzungsgebühr gänzlich ausgeblendet werden kann. Das überzeugt, weil Nutzungsgebühr und Kurtaxe auf die selben Vorteile zielen, auch wenn die Kurtaxe nicht auf eine 33 Bedenkenlos bejahend Bad.-Württ. VGH v. 23. 4. 1992, NVwZ-RR 1992, S. 581; wenig eindeutig BVerwG v. 27. 9. 2000, NVwZ 2001, S. 689. 34 So BVerwG v. 27. 9. 2000, NVwZ 2001, S. 689. 35 Lichtenfeld (Fn. 4), § 11 KAG Rn. 13; Entsprechendes gilt für das Verhältnis zu dem von den Einheimischen gezahlten Fremdenverkehrsbeitrag.
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einzelne, bestimmte Kur- oder Erholungseinrichtung bezogen werden kann (dazu sub V.). Damit schließt sich der Kreis. Man mag die vom BVerwG aufgestellte Vermutungsregel billigen. Das ändert nichts daran, dass Kurgäste und Urlauber zur Kasse gebeten werden, auch wenn sie kein Interesse an dem kommunalen Leistungsangebot haben. Man hat nur die Wahl, entweder der Gemeinde fern zu bleiben oder zu zahlen. Die Zahlung der Nutzungsgebühr kann man durch Unterlassen der Nutzung vermeiden. Die Kurtaxe ist im Vergleich zur Nutzungsgebühr das deutlich intensivere Eingriffsinstrument. Daran ändert sich wenig, wenn im Falle der Nutzung die Kurtaxe angerechnet wird. Unter Verhältnismäßigkeitsgesichtspunkten macht es einen beachtlichen Unterschied, ob der einzelne sich gegen die Nutzung entscheiden und damit die Zahlungspflicht vermeiden oder ob er durch Nutzung der kommunalen Einrichtung eine partielle Erstattung der bereits geleisteten Zahlungen erreichen kann. Weil dem so ist, sollte man sich daran erinnern, warum die Kurtaxe eingeführt wurde und was hinter der vom BVerwG zur Rechtfertigung der Kurtaxe aufgestellten Typisierungsregeln steckt. Es sollen Beweis- und Erhebungsprobleme gelöst werden (dazu oben sub I.). Stellen sich diese Probleme nicht, ist das Instrument – weil unverhältnismäßig, nicht angebracht. Das bedeutet konkret, dass alle Einrichtungen und Veranstaltungen, bei denen Gebühren erhoben bzw. ohne größere Mühe erhoben werden können, aus dem Anwendungsbereich der Kurtaxe herausfallen36. Die Fälle, in denen man die an den Aufenthalt geknüpfte Vermutung wirklich benötigt, dürften eher die Ausnahme sein. In den Schwarzwaldgemeinden fallen einem zuvörderst die Wanderwege ein37. Schon die Zugänge zu den Langlaufloipen lassen sich mit vertretbarem Aufwand kontrollieren. Will man die Kontrolle nicht, kann man sich nicht nur an die Nutzer halten, die in der Gemeinde übernachten.
VII. Die Jahreskurtaxe Die Kurtaxesatzungen enthalten in verfahrensrechtlicher Hinsicht in der Regel nur Bestimmungen über die Einziehungspflichten Dritter. Der Grundgedanke ist, dass die Hoteliers, Vermieter von Ferienwohnungen, Besitzer von Campingplätzen, usw. die Verweildauer der Gäste kennen und deshalb die Abgabe für die Gemeinde einfordern können. Diese Erhebungstechnik lässt sich gegenüber Zweitwohnungsinhabern nicht einsetzen. Die Gemeinden beanspruchen von ihnen eine pauschalierte Jahreskurtaxe, die sich der Idee nach an der durchschnittlichen Aufenthaltsdauer der Zweitwohnungsinhaber in der Gemeinde orientieren sollte. Derzeit wird 36 Die (umstrittene) gebührenrechtliche Differenzierung zwischen Ortsfremden und Einheimischen – dazu etwa BVerwGE 104, 60 – eröffnet nur bedingt Ausweichmöglichkeiten. 37 Sie sind ein problematisches Beispiel für eine die Kurgäste belastende Abgabe, weil sie überwiegend für andere Zwecke, z. B. der Forstwirtschaft, geschaffen und unterhalten werden.
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eine geschätzte Aufenthaltsdauer von 50 Tagen im Jahr von den Gerichten akzeptiert38. Die Pauschalierung wird üblicherweise mit dem Argument gerechtfertigt, es sei der Gemeinde nicht zumutbar, Feststellungen über die Anwesenheit der Zweitwohnungsinhaber zu treffen. Die Kosten einer solchen Kontrolle stünden zudem in keinem vertretbaren Verhältnis zur Höhe der zu erzielenden Einnahmen39. So richtig auch dieser Ansatz ist, man darf nicht übersehen, dass das Argument der Aufenthaltskontrolle nur insoweit Gewicht hat, als der Aufenthalt als Beleg für die Nutzung der Kur- und Erholungseinrichtungen dient. Bei einer Gebührenfinanzierung stellt sich das Thema der gesonderten Aufenthaltskontrolle nicht. Das streitet insgesamt für den Nachrang der Kurtaxe im Vergleich zur Benutzungsgebühr (dazu bereits oben sub VI.). Ausgehend von der Feststellung, dass eine behördliche Anwesenheitskontrolle unökonomisch ist, müsste der Blick sich eigentlich möglichen Mitwirkungspflichten der Zweitwohnungsinhaber zuwenden. Da, soweit ersichtlich, in allen Satzungen die Pauschalierung eingesetzt wird und in keiner Satzung mit einer Meldepflicht der Zweitwohnungsinhaber operiert wird, muss man davon ausgehen, dass die Gemeinden von den persönlichen Erklärungen der potentiellen Schuldner wenig halten. In der Rechtsprechung wird das Thema schamhaft verschwiegen, lediglich der BayVGH hat beiläufig auf die „erfahrungsgemäß unzuverlässigen“ Meldungen der Zweitwohnungsinhaber hingewiesen40. Die Zweitwohnungsinhaber werden damit im gewissen Sinne als notorische Lügner eingestuft. Das ist verfassungsrechtlich nicht ganz unproblematisch und zudem nicht sehr praktisch gedacht. Bei typisierender Betrachtungsweise hängt die Neigung zu Ehrlichkeit bzw. zu Unehrlichkeit stark von einem Vorteilsdenken ab. Und gerade der vom BVerwG betonte Bagatellcharakter der Kurtaxe lässt fehlerhafte Angaben nicht gerade als attraktiv erscheinen, falls unrichtige Angaben hart sanktioniert werden. Die Rechtsprechung zur Kurtaxe hat die Mitwirkungspflichten der Zweitwohnungsinhaber nicht ansatzweise thematisiert, stattdessen Regeln zur Pauschalierung entwickelt, die nur schwer nachvollziehbar sind. Die erste Regel lautet, dass der Zweitwohnungsinhaber nachweisen darf, dass er sich im jeweiligen Veranlagungszeitraum überhaupt nicht in der Gemeinde aufgehalten hat. Die an das Innehaben der Wohnung geknüpfte Aufenthaltsvermutung ist also widerlegbar41. Bei der Widerlegung des von der Satzung vermuteten Aufenthalts ist der Inhaber der Zweitwohnung auch nicht auf Umstände beschränkt, die für eine objektiv unmög38 Z. B. Bad.-Württ. VGH v. 13. 9. 1985, ESVGH 36, 34; BayVGH v. 13. 8. 1999, NVwZ 2000, S. 225. 39 BVerwG v. 14. 4. 1976, KStZ 1976, S. 171; HessVGH v. 25. 1. 1986, KStZ 1986, S. 134; OVG Lüneburg v. 30. 5. 2000, NVwZ-RR 2000, S. 830; Bad.-Württ. VGH v. 13. 9. 1985, ESVGH 36, 34; BayVGH v. 13. 8. 1999, NVwZ 2000, S. 225. 40 BayVGH v. 13. 8. 1999, NVwZ 2000, S. 225. 41 BVerwG v. 16. 5. 1990, NVwZ-RR 1991, S. 320.
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liche Eigennutzung der Wohnung sprechen42. Die Begründung für diese Regel lautet: Die Abgabepflicht setzt einen tatsächlichen Aufenthalt in der Gemeinde voraus. An das Eigentum bzw. den Besitz der Wohnung kann nicht die unwiderlegliche Aufenthaltsvermutung geknüpft werden, weil damit die Kurtaxepflicht auf einen vom Gesetz nicht vorgesehenen Personenkreis ausgedehnt würde43. Steht fest, dass der Zweitwohnungsinhaber sich überhaupt – wenn auch nur für wenige Stunden – in der Gemeinde aufgehalten hat, lautet die zweite Regel, dass Einwände gegen die der Satzung zugrunde liegende geschätzte Verweildauer ausgeschlossen sind. Der Zweitwohnungsinhaber darf also nachweisen, dass er sich 0 Tage in seiner Wohnung aufgehalten hat, nicht aber, dass etwa seine Aufenthaltsdauer im fraglichen Jahr 5 Tage betragen habe. Als Argument dient hier der Hinweis auf das Wesen zulässiger Pauschalierung, die – bezogen auf den konkreten Einzelfall – zwangsläufig ungenau sei44. Die gesetzliche Pauschalierung der Jahreskurtaxe basiert auf einer generalisierenden, auf den Durchschnitt bezogenen Betrachtung. Deshalb kann sie nie allein deshalb rechtswidrig sein, weil sie dem Einzelfall nicht gerecht wird. Dies gilt völlig unabhängig davon, ob der Zweitwohnungsinhaber vorträgt, er habe sich im fraglichen Jahr überhaupt nicht bzw. nur wenige Tage in der Gemeinde aufgehalten. Ist die Pauschalierung als solche nicht zu beanstanden45, überzeugt auch nicht das Argument, die Kurtaxepflicht setze einen tatsächlichen Aufenthalt in der Gemeinde voraus. Ist der Satzungsgeber berechtigt, auf die Ermittlung der tatsächlichen Verweildauer zu verzichten – dies ist gerade die Prämisse der Pauschalierung –, steht die tatsächliche Verweildauer nicht mehr zur Debatte. Die eigentliche Frage lautet, ob die Pauschalierungsregel für die Zweitwohnungsinhaber widerlegbar oder unwiderlegbar ist. Das hängt wohl davon ab, ob die Umsetzung des materiellen Rechts das eine oder das andere bedingt. Können die Mitwirkungspflichten der potentiellen Schuldner so ausgestaltet werden, dass die Gemeinde weitgehend brauchbare Angaben über die Aufenthaltsdauer erhält, muss die Pauschalierungsregel aus Verhältnismäßigkeitsgründen widerlegbar sein. Da 42 OVG Lüneburg v. 28. 10. 1992, NVwZ-RR 1993, S. 610; BayVGH v. 13. 8. 1999, NVwZ 2000, S. 225. 43 So Bad.-Württ. VGH v. 13. 9. 1985, ESVGH 36, 34; auch Lichtenfeld (Fn. 4), § 11 KAG Rn. 35 mwN. 44 BVerwG v. 14. 5. 1976, KStZ 1976, S. 171, 172; Bad.-Württ. VGH v. 13. 9. 1985, ESVGH 36, 34. 45 Die Praxis ist in dieser Hinsicht sehr undurchsichtig. Vonnöten sind empirische Ermittlungen, die aber wohl weitgehend nicht vorgenommen werden. Die vom BayVGH im Urteil vom 13. 8. 1999 (NVwZ 2000, S. 225) geschilderte Verfahrensweise betrifft eher einen Ausnahmefall. Üblich ist eher die Anlehnung an gerichtlich gebilligte Werte oder der Vergleich mit anderen Gemeinden. Die heute akzeptierte durchschnittliche Verweildauer von 50 Tagen (Nachweise in FN. 37) ist weitgehend auf die irrige Vorstellung zurückzuführen, Zweitwohnungsbesitzer verbrächten ihre gesamte Freizeit ausschließlich in der Ferienwohnung. Das Leben sieht anders aus.
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Christoph Trzaskalik
auch die Zweitwohnungsinhaber nach der Anzahl der Aufenthaltstage veranlagt werden sollen, ist es jedenfalls ausgeschlossen, die Widerlegbarkeit der Regel auf den Fall gänzlicher Abwesenheit zu beschränken. Zur Verdeutlichung: Wird z. B. eine eidesstattliche Versicherung des Wohnungsinhabers akzeptiert, dass er sich im Veranlagungszeitraum nicht in der Gemeinde aufgehalten habe46, kann man entsprechende Aussagen zur Anzahl der in der Gemeinde verbrachten Urlaubstage nicht zurückweisen. Die pauschale Jahreskurtaxe gilt nach der Rechtsprechung auch für den Ehegatten eines Zweitwohnungsinhabers, der selbst nicht Inhaber der Zweitwohnung ist. Wer Mieter bzw. Eigentümer der Zweitwohnung ist, spielt danach keine Rolle, weil nach dem gesetzlichen Leitbild der Ehe die Vermutung bestehe, dass Ehegatten die Freizeit überwiegend gemeinsam verbringen47. Die Rechtsprechung ist ersichtlich von dem Bemühen getragen, eine unterschiedliche Behandlung der Ehegatten zu verhindern. Gälte die Pauschalierungsregel nur für den Inhaber der Zweitwohnung, hätten die Ehegatten die Möglichkeit, für einen von ihnen die individuelle Veranlagung nach Maßgabe seiner Erklärung zur Verweildauer zu erreichen48. Akzeptiert man eine solche Gestaltung – dem Wohnungsinhaber sind Einwände gegen die in der Satzung normierte Verweildauer verschlossen, seinem Ehepartner hingegen nicht – stellt sich sofort die Frage nach der Berechtigung der Differenzierung. Die Schwäche der Rechtsprechung liegt nicht in einer fehlerhaften Auslegung von Art. 6 GG, sondern in der Grundannahme, die Pauschalierungsregel sei nicht widerlegbar, soweit die Dauer des Aufenthalts zur Debatte stehe. Man kann gespannt sein, ob die Rechtsprechung ihre bisherige Linie beibehalten wird, wenn sie mit Eheleuten zu tun hat, von denen einer eine Wohnung am Meer, der andere eine im Gebirge besitzt.
Dazu etwa BayVGH v. 13. 8. 1999, NVwZ 2000, S. 225. So wörtlich BayVGH v. 13. 8. 1999, NVwZ 2000, S. 225; der Sache nach auch BVerwG v. 16. 5. 1990, NVwZ-RR 1991, S. 320. 48 Dazu deutlich BayVGH v. 13. 8. 1999, NVwZ 2000, S. 225. 46 47
Progressionsvorbehalt und Progressionsermäßigung in Doppelbesteuerungsabkommen Von Klaus Vogel Stellt ein Doppelbesteuerungsabkommen Einkünfte, die einem progressiven Steuersatz unterliegen, von der inländischen Besteuerung frei, so kann dies zur Folge haben, dass der Steuersatz sich nur noch nach der Höhe der steuerpflichtig gebliebenen Einkünfte bestimmt, er sich also ermäßigt. Die geltenden deutschen Abkommen enthalten allerdings ausnahmslos eine Bestimmung, die es gestattet, den Steuersatz unter Einbeziehung der freigestellten Einkünfte zu bestimmen, den sog. „Progressionsvorbehalt“. Dessen Anwendung ist aber jeweils an Voraussetzungen gebunden, so dass neben dem Progressionsvorbehalt stets auch die Möglichkeit einer Progressionsermäßigung für bestimmte Fallgruppen bleibt. Hierüber besteht in Rechtsprechung und Schrifttum Verwirrung; sie beruht vor allem darauf, dass die Entwicklung der Abkommen und ihrer Modelle nicht genügend berücksichtigt werden. Nachstehend soll versucht werden, durch eine Darstellung dieser Entwicklung zu größerer Klarheit beizutragen.
I. Freistellung ohne Progressionsvorbehalt Dass die Freistellung ausländischer Einkünfte durch ein Doppelbesteuerungsabkommen stets zu einer Progressionsermäßigung führe und dies auch gerechtfertigt sei, war in der Zeit bis zum zweiten Weltkrieg in Deutschland allgemeine Meinung. Herbert Dorn, der als Ministerialrat und Abteilungsdirigent im Reichsministerium der Finanzen die deutschen Abkommensverhandlungen leitete, hatte die Möglichkeit eines Progressionsvorbehalts zwar bereits bedacht, sie aber als (damals noch) unpraktisch verworfen1. Er schrieb 1926 über das zu Anfang jenes Jahres in Kraft getretene Doppelbesteuerungsabkommen mit Italien: „Der Vertrag teilt in der Regel die Einkünfte oder die Vermögensteile unter die beiden Staaten mit der Wirkung auf, daß jeder Staat nur die ihm überlassenen Einkünfte und Ver1 H. Dorn, Welche Grundsätze empfehlen sich für das internationale Vertragsrecht zur Vermeidung internationaler Doppelbesteuerung bei Einzelpersonen und Körperschaften, insbesondere bei gewerblichen Betrieben? In: Verhandlungen des 33. Deutschen Juristentages, 1925, S. 495 ff. (543) = JW 1924 S. 1834 (1840).
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mögensteile besteuern darf, ohne daß ihm das Recht zustände, das Gut, das dem anderen Staat überlassen ist, bei der Berechnung der Steuer zu berücksichtigen. Dadurch wird erreicht, daß nicht nur Doppelbesteuerung vermieden, sondern Progression erspart wird. Weltwirtschaftlich gesehen, läßt sich für diese Lösung um deswillen vieles sagen, weil die Einordnung in die Wirtschaft eines Staates dadurch erschwert werden würde, daß auf das Einkommen oder Vermögen Steuersätze eines anderen Staates Anwendung fänden. In diesem Fall würde die Vorbelastung der Produktion durch die Steuer bei dem vom Auslande her besteuerten Wirtschafter eine andere wie bei dem neben ihm arbeitenden inländischen Konkurrenten.“2
Diese Praxis wurde in der Folgezeit beibehalten3. Die Doppelbesteuerungsabkommen enthielten Verteilungsnormen, die die Besteuerung bestimmter Einkünfte voll dem Quellenstaat vorbehielten und solche die sie voll dem Ansässigkeitsstaat des Steuerpflichtigen zuwiesen (anfangs noch dem Staat, dessen Staatsangehörigkeit er besaß); in beiden Fällen schied „das Steuergut aus dem Besteuerungsverfahren gegenüber dem verzichtenden Staat in jeder Hinsicht aus, und [war es] bei der Festsetzung aller übrigen, den Steuerpflichtigen treffenden Steuern nicht zu berücksichtigen“ 4. Nur die Vorkriegsabkommen mit Dänemark (in Art. 15) und Schweden (im Schlußprotokoll, Nr. 19) enthielten einen Progressionsvorbehalt, von dem aber die deutsche Steuergesetzgebung und -verwaltung keinen Gebrauch machten5. Nach Kriegsende änderte sich dann zwar die deutsche Abkommenspolitik; darüber noch näher unten. Für die älteren Abkommen, die keinen Progressionsvorbehalt vorsahen, blieb es aber dabei, dass die freigestellten Einkünfte bei der Berechnung des Steuersatzes nicht berücksichtigt wurden6 (ebenso, fügten Korn / Dietz selbst noch im Jahre 1961 hinzu, „soweit uns bekannt“ für die Abkommen mit Dänemark und Schweden). Anders war die Rechtsauffassung in der Schweiz. Bekanntlich hatte das Schweizerische Bundesgericht rechtsschöpferisch ein System von Maßnahmen gegen die interkantonale Doppelbesteuerung entwickelt (da der schweizerische Bundesgesetzgeber seiner Verpflichtung nach Art. 46 Abs. 2 der Eidgenössischen Bundesverfassung, solche Maßnahmen zu treffen, nicht nachgekommen war)7. Dieses Richterrecht sah u. a. für Einkünfte, die von der Besteuerung im Wohnsitzkanton freigestellt waren, einen Progressionsvorbehalt vor8. Das Schweizerische Bundes2 H. Dorn, Der deutsch-italienische Doppelbesteuerungsvertrag. Eine Übersicht. StuW 1926 Sp. 97 ff. (102). Hervorhebung vom Verfasser. 3 E. Rennebaum / F. Zitzlaff, Die deutschen Doppelbesteuerungsverträge, 1938, S. 14. 4 R. Korn / G. Dietz, Doppelbesteuerung, Loseblatt Stand: 1. Juli 1961, Vorbemerkungen S. 52. 5 Korn / Dietz (Fn. 4) S. 60. 6 A. Heining, Besteuerung der Ausländer, 1956, S. 26; A. Schmitz, Kommentar zum Internationalen Steuerrecht der Bundesrepublik Deutschland, 1957, Bd. 1 S. 328. 7 E. Höhn / P. Mäusli, Interkantonales Steuerrecht, 4. Aufl. 2000, S. 10 ff. 8 Höhn / Mäusli (Fn. 7) S. 31 f.
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gericht übertrug dies auf die mit anderen Staaten vereinbarten Doppelbesteuerungsabkommen, obwohl diese zu jener Zeit noch keinen ausdrücklichen Progressionsvorbehalt enthielten, zuerst auf dasjenige mit Deutschland von 19319. In der Tat ließ sich schlüssig argumentieren, dass die Verpflichtung, ausländische Einkünfte oder Vermögen „von der Besteuerung“ (from tax, de l’impôt) auszunehmen, es, wenn eine ausdrückliche Regelung im Abkommen fehle, dem freistellenden Staat nicht verbiete, sie bei der Bemessung des Steuersatzes einzubeziehen; denn „besteuert“ würden dabei doch nur die inländischen Einkünfte bzw. das inländische Vermögen, wenn auch bei Berechnung des Steuersatzes die ausländischen berücksichtigt würden10. Die deutsche Finanzverwaltung folgte dem jedoch nicht. Das Bundesverfassungsgericht hat am Ende die Frage entgegen der Auffassung des Schweizerischen Bundesgerichts entschieden. Als 1959 in das Doppelbesteuerungsabkommen mit der Schweiz (von 1931) durch ein Zusatzprotokoll ein Progressionsvorbehalt rückwirkend auch bereits für die Jahre 1957 und 1958 eingefügt worden war, wurde das Gericht durch eine Vorlage des Bundesfinanzhofs vor die Frage nach der Verfassungsmäßigkeit dieser Rückwirkung gestellt. In seiner Entscheidung führte es aus: „[D]aß Einkünfte aus Arbeit einschließlich der Einkünfte aus freien Berufen grundsätzlich ,nur in dem Staate besteuert werden, in dessen Gebiet die persönliche Tätigkeit ausgeübt wird, aus der die Einkünfte herrühren‘ . . . hat zur Folge, daß die der Besteuerungskompetenz der Schweiz überlassenen Einkünfte . . . der inländischen Einkommensbesteuerung entzogen sind; sie gelten als nicht vorhanden . . . Mit dieser vorbehaltslosen Regelung hat das Deutsche Reich zugleich aber auch darauf verzichtet, die in der Schweiz erzielten Einkünfte zwecks Anwendung eines höheren Steuersatzes auf das im Inland zu versteuernde Einkommen heranzuziehen. ... Will der deutsche Vertragspartner diese sich aus dem System des Einkommensteuergesetzes ergebende Rechtsfolge vermeiden, so muß er in dem völkerrechtlichen Abkommen seinen Steuerverzicht beschränken . . . Er ist also gehalten, den Progressionsvorbehalt ausdrücklich zu vereinbaren . . .“11.
Aus den vorstehenden Argumenten, für die sich das Bundesverfassungsgericht auf die Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs und die allgemeine Auffassung der Fachliteratur berufen konnte, folgerte es, dass die rückwirkende Vereinbarung des Progressionsvorbehalts „die einkommensteuerliche Lage der betroffenen Steuerpflichtigen . . . zu ihrem Nachteil verändert“ habe12. Solche belastende Rückwirkung sei als „echte Rückwirkung“ verfassungswidrig; das Zustimmungsgesetz zu dem Protokoll sei insoweit nichtig. 9 Archiv für Schweizerisches Abgaberecht Bd. 5 (1936 / 37) S. 299 ff. (302); Bd. 27 (1958 / 59) S. 178; ebenso zum DBA Schweiz / USA: ebd. Bd. 25 (1956 / 57) S. 132. 10 J. M. Mössner, Die deutsche IFA-Landesgruppe und das internationale Steuerrecht, 1977 S. 18; K. Vogel bei Vogel / Lehner, Doppelbesteuerungsabkommen, 4. Aufl. 2003, Art. 23 Rz. 41. 11 BVerfGE 30, 272 (281 f., 282); Hervorhebungen vom Verf. 12 BVerfGE 30, 272 (284).
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Zu diesem Ergebnis wäre das Gericht nicht ohne seine Darlegung gekommen, dass eine Berücksichtigung von freigestellten Einkünften bei der Bemessung des Steuersatzes eine ausdrückliche Vereinbarung im Abkommen erfordere. Dass das Fehlen einer solchen Vereinbarung eine Progressionsermäßigung zwingend zur Folge habe, ist mithin einer der „tragenden Gründe“ der Entscheidung, an den nach § 31 BVerfGG alle Verfassungsorgane des Bundes und der Länder sowie alle Gerichte und Behörden gebunden sind.
II. Der Progressionsvorbehalt zugunsten des Wohnsitzstaats Schon vor der Vereinbarung des Zusatzprotokolls mit der Schweiz hatte sich die deutsche Abkommenspolitik geändert. Man hielt es aus Gründen horizontaler Gerechtigkeit für geboten, der Bestimmung des Steuersatzes das Gesamteinkommen des Steuerpflichtigen unter Einbeziehung der freigestellten Einkünfte zugrundezulegen. Schon das erste Nachkriegsabkommen – mit den USA vom 22. Juli 1954 – enthielt deshalb die Bestimmung: „Die Bundesrepublik behält aber bei Festsetzung des anwendbaren Steuersatzes das Recht, die nach diesem Absatz von der Bemessungsgrundlage ausgenommenen Einkommensteile in Rechnung zu stellen“ (Art. 15 Abs. 1 Buchst. b a. E.). Entsprechende Vorschriften wurden auch in alle weiteren neu geschlossenen Abkommen aufgenommen; sie wurden jetzt auch angewandt13. Wo die Vertragsstaaten eine Vermeidung der Doppelbesteuerung im Wege der Anrechnung vorzogen, wurde für Einkunftsarten, deren Besteuerung in erster Linie Deutschland zugewiesen wurde, auf der Seite des Vertragsstaats die Anrechnung vorgesehen, Auf deutscher Seite blieb es aber bei der Freistellung, von jetzt an mit Progressionsvorbehalt. Die Verträge nahmen im wesentlichen schon den Aufbau des 1963 erstmals beschlossenen und publizierten OECD-Modells vorweg. 1. Drei Typen von Verteilungsnormen nach dem OECD-Musterabkommen Da im Steuerausschuss der OECD keine Einigung darüber erzielt werden konnte, ob den Mitgliedsstaaten eine Vermeidung der Doppelbesteuerung im Wege der Freistellungs- oder der Anrechnungsmethode empfohlen werden sollte, wurde folgender Weg eingeschlagen: Soweit die Besteuerung, zumindest an erster Stelle, dem Quellenstaat zugewiesen wurde, wurde überwiegend in den Verteilungsnormen nur bestimmt, dass die betreffenden Einkünfte von diesem besteuert werden dürften (mit der feststehenden Wendung „may be taxed“ bzw. „sont imposables“). Die Rechtsfolge dieser 13 S. die Anwendungsrichtlinien zum DBA USA vom 21. 2. 1957, BStBl I S. 154 ff., Tz. 20.
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Verteilungsnormen blieb also unvollständig, „offen“. Sie wurde ergänzt durch eine gesonderte, für alle offenen Verteilungsnormen übereinstimmend geltende „Vermeidungsnorm“14, für die die OECD den Vertragsstaaten die Methoden der Freistellung und der Anrechnung, gegebenenfalls auch deren Kombination, zur Wahl stellte (Art. 23 A und B des OECD-Musterabkommens). In einigen wenigen Fällen wurde dem Quellenstaat die Besteuerung aber auch ausschließlich zugewiesen (mit der feststehenden Wendung „shall be taxable only“ bzw. „ne sont imposables que“). Die Rechtsfolge der Verteilungsnormen war in diesen Fällen also abschließend; zur Anwendung der Vermeidungsnorm, des Art. 23, kam es nicht. Dies wurde vorgesehen für Gewinne aus dem Betrieb von Seeschiffen und Luftfahrzeugen im internationalen Verkehr und aus dem Betrieb von Binnenschiffen, aus der Veräußerung entsprechender Schiffe und Luftfahrzeuge und ihres beweglichen Zubehörs, sowie für deren Vermögensbesteuerung (Art. 8 Abs. 1 und 2, 13 Abs. 3, 22 Abs. 3 OECD-MA), ferner für Vergütungen und Ruhegehälter im öffentlichen Dienst (Art. 19 Abs. 1 Buchst. a und Abs. 2 Buchst. a). Wurde die Besteuerung im Quellenstaat ausgeschlossen, so geschah dies durch Zuweisung an den Wohnsitzstaat (ebenfalls mit der Wendung „shall be taxable only“ bzw. „ne sont imposables que“). Die Rechtsfolge der Verteilungsnorm war auch in diesem Fall abschließend; zur Anwendung der Vermeidungsnorm, des Art. 23, kam es auch hier nicht. Bei dieser Aufgliederung ist es bis heute geblieben. Zu unterscheiden sind also nach dem OECD-Musterabkommen, dem alle heutigen Abkommen folgen, drei Erscheinungsformen der Freistellung: Freistellung im Wohnsitzstaat bei Verteilungsnormen mit offener Rechtsfolge auf Grund einer dem Art. 23 A des OECD-Musterabkommens entsprechenden Vermeidungsnorm. Freistellung im Wohnsitzstaat durch Verteilungsnormen mit abschließender Rechtsfolge. Freistellung im Quellenstaat durch Verteilungsnormen mit abschließender Rechtsfolge.
2. Der Progressionsvorbehalt nach dem Musterabkommen von 1963 Das OECD-Musterabkommen in seiner ursprünglichen Fassung von 1963 sah einen Progressionsvorbehalt nur für die Freistellung im Wohnsitzstaat nach Art. 23 A vor. Abs. 1 des Art. 23 A hatte in der amtlichen deutschen Übersetzung die folgende Fassung:
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Ausdruck von H. Schaumburg, Internationales Steuerrecht, 2. Aufl. 1998, S. 1033.
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„Bezieht eine in einem Vertragsstaat ansässige Person Einkünfte oder hat sie Vermögen und können diese Einkünfte oder dieses Vermögen nach diesem Abkommen in dem anderen Vertragsstaat besteuert werden, so nimmt der erstgenannte Staat . . . diese Einkünfte oder dieses Vermögen von der Besteuerung aus; dieser Staat kann aber bei der Festsetzung der Steuer für das übrige Einkommen oder das übrige Vermögen dieser Person den Steuersatz anwenden, der anzuwenden wäre, wenn die betreffenden Einkünfte oder das betreffende Vermögen nicht von der Besteuerung ausgenommen wären.“
Abs. 2 des Artikels regelte (und regelt noch heute) als Ausnahme eine Anrechnung der Steuer des Quellenstaats auf Dividenden und Zinsen, die die Artikel 10 und 11 auf je einen Höchstbetrag begrenzen. Die Freistellung durch Verteilungsnormen mit abschließender Rechtsfolge erwähnte das Musterabkommen von 1963 nicht. Der amtliche Kommentar der OECD zu Art. 23 von 1963 bemerkt in Nr. 35, dass sich der in dem Artikel vorgesehene Progressionsvorbehalt nur auf den Wohnsitzstaat beziehe. Für Freistellungen durch Verteilungsnormen mit abschließender Rechtsfolge blieb es demgemäß bei der Progressionsermäßigung, wie sie der früheren deutschen Abkommenspraxis entsprach und durch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts bestätigt worden war.
3. Der Progressionsvorbehalt nach dem Musterabkommen seit 1977 1977 wurden Art. 23 A und B des Musterabkommens geändert. Der zweite Halbsatz des Art. 23 A Abs. 1 (vom Semikolon an) wurde gestrichen; statt seiner wurde ein Abs. 3 eingefügt: „Einkünfte oder Vermögen einer in einem Vertragsstaat ansässigen Person, die nach dem Abkommen von der Besteuerung in diesem Staat auszunehmen sind, können gleichwohl in diesem Staat bei der Festsetzung der Steuer für das übrige Einkommen oder Vermögen der Person einbezogen werden.“
Außerdem erhielt Art. 23 B, der als Alternative zu Art. 23 A die Vermeidung der Doppelbesteuerung durch Anrechnung formuliert, einen Abs. 2 mit gleichlautendem Text. Die Begründung der Änderung des Art. 23 A im OECD-Kommentar war nur sehr knapp. Sie lautete: „34. Nach den meisten zwischen Mitgliedsstaaten der OECD abgeschlossenen, auf der Befreiungsmethode beruhenden Abkommen behält sich der Wohnsitzstaat vor, die freizustellenden Einkünfte oder das freizustellende Vermögen bei der Ermittlung des Satzes der Steuer für die übrigen Einkünfte oder das übrige Vermögen zu berücksichtigen. Eine entsprechende Bestimmung ist daher in den Artikel aufgenommen worden.“
1992 wurde zwar der Text des Art. 23 A Abs. 1 nicht geändert, seine Begründung aber erweitert (und sie erhielt eine neue Nummer).
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„55. Das Musterabkommen von 1963 hat die Anwendung der progressiven Steuersätze ausdrücklich dem Wohnsitzstaat vorbehalten (Artikel 23 A Absatz 1 letzter Satz); die meisten zwischen den Mitgliedstaaten der OECD abgeschlossenen Abkommen, die auf die Befreiungsmethode abstellen, sind diesem Grundsatz gefolgt. Nach Absatz 3 des Artikels 23 A behält der Wohnsitzstaat das Recht, die von der Besteuerung ausgenommenen Einkünfte oder das von der Besteuerung ausgenommene Vermögen bei der Festsetzung der Steuer für das übrige Einkommen oder Vermögen einzubeziehen. . . . Dieser Progressionsvorbehalt gilt für Einkünfte oder Vermögenswerte, die nach Artikel 23 A Absatz 1 ausgenommen sind, sowie für Einkünfte oder Vermögenswerte, die nach den übrigen Abkommensbestimmungen nur im anderen Vertragsstaat besteuert werden (vgl. Ziffer 6)15. Deshalb wurde der Progressionsvorbehalt im Musterabkommen von 1977 aus Artikel 23 Absatz 1 in einen neuen Absatz dieses Artikels übernommen, und es wurde Bezug genommen auf Einkünfte oder Vermögenswerte, die „nach dem Abkommen“ in diesem Staat auszunehmen sind.“
Die Ergänzung des Art. 23 B wurde 1977 und übereinstimmend 1992 (nunmehr mit der Nr. 79) wie folgt begründet: „77. Dieser Absatz ist angefügt worden, um dem Wohnsitzstaat das Recht zu erhalten, die in diesem Staat von der Besteuerung befreiten Einkünfte oder Vermögenswerte bei der Festsetzung der Steuer für das übrige Einkommen oder Vermögen einzubeziehen. Dieses Recht bezieht sich auf solche Einkünfte und Vermögenswerte, die „nur“ im anderen Staat besteuert werden können. Die Progressionswirkung bleibt somit dem Wohnsitzstaat nicht nur für die Einkünfte und Vermögensteile, die im anderen Staat „besteuert werden können“ erhalten, sondern auch für Einkünfte und Vermögen, die „nur“ im anderen Staat „besteuert werden können. . . .“
Bei dieser Fassung des Progressionsvorbehalts in Art. 23 A und B und des zugehörigen Kommentars ist es seither geblieben. Gegenüber der Fassung von 1963, die nur für die Freistellung bei Verteilungsnormen mit offener Rechtsfolge durch Art. 23 Abs. 1 (die Vermeidungsnorm) galt, ist der Anwendungsbereich des Progressionsvorbehalts 1977 also auf Verteilungsnormen mit abschließender Rechtsfolge erweitert worden, aber nur auf solche, die die Besteuerung dem Wohnsitzstaat vorbehalten. Die Worte „Einkünfte oder Vermögen einer in einem Vertragsstaat ansässigen Person“ in beiden Fassungen des Artikels ebenso wie der Kommentar von 1977 in Nr. 77 und der Kommentar von 1992 in Nrn. 55 und 79 machen das deutlich.
III. Progression im Quellenstaat? Um eine Einbeziehung der im Wohnsitzstaat durch eine abschließende Verteilungsnorm – also nicht durch eine dem Art. 23 A Abs. 1 entsprechende Ergänzung einer offenen Verteilungsnorm – freigestellten Einkünfte und Vermögenswerte in dessen Steuerprogression zu gestatten, hielt also der Steuerausschuss der OECD 15
Ziffer 6 erläutert die Verteilungsnormen mit abschließender Rechtsfolge. K. V.
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eine erweiterte Fassung des Progressionsvorbehalts für erforderlich16. Daraus muss gefolgert werden, dass, sobald überhaupt ein Abkommen einen Progressionsvorbehalt enthält, auch im Quellenstaat bzw. Belegenheitsstaat für eine Einbeziehung der durch eine Verteilungsnorm freigestellten Einkünfte und Vermögenswerte in die Bemessung des Steuersatzes eine ausdrückliche Bestimmung im Abkommen erforderlich ist. Anderenfalls bewirkt die Freistellung eine Progressionsermäßigung. Aus der Gegenüberstellung der Abkommensfassungen von 1963 und 1977 ergibt sich das unmissverständlich. Im Hinblick auf die Gründe, die Herbert Dorn schon 1926 dargelegt hat, ist dies auch nicht anstößig. Verunklärt wird es allerdings durch verschiedene Äußerungen im OECD-Kommentar, oder genauer: durch deren amtliche deutsche Übersetzung. In der deutschen Fassung des Kommentars von 1977 lesen wir: „56. Artikel 23 A Absatz 3 bezieht sich nur auf den Wohnsitzstaat. Die Fassung des Artikels schließt nicht aus, daß der Quellenstaat sein innerstaatliches Recht bezüglich der Progression anwendet.“ „79. . . . Der Kommentar zu Artikel 23 A Absatz 3 in Bezug auf den Quellenstaat gilt auch für Artikel 23 B Absatz 2.“
Das scheint den Folgerungen, die sich aus der Textgeschichte des Musterabkommens ergeben, zu widersprechen. Man fragt sich, warum denn 1977 der Progressionsvorbehalt des Musterabkommens ausdrücklich erweitert wurde, wenn es auf dessen Voraussetzungen am Ende gar nicht ankommen soll. Natürlich ist der Text des jeweiligen Abkommens in seinem Zusammenhang entscheidend und nicht der des diesem widersprechenden Kommentars, wie immer man dessen rechtlichen Charakter versteht17. Denn das Abkommen geht jedenfalls dem Kommentar vor. Dennoch hinterlässt die (vermeintliche) Unstimmigkeit ein Unbehagen. Eine gewisse Aufklärung ergibt der Kommentar von 1963. Er lautet, wiederum in der amtlichen deutschen Übersetzung: „35. Der in dem Artikel vorgesehene Progressionsvorbehalt bezieht sich nur auf den Wohnsitzstaat. Ein Problem ergibt sich jedoch dann, wenn ein Quellenstaat, der einen progressiven Steuertarif hat, für bestimmte Einkünfte auf sein Besteuerungsrecht verzichtet und der nichtansässige Steuerpflichtige andere Einkünfte aus diesem Staat bezieht. Der Quellenstaat kann die Progression nach verschiedenen Gesichtspunkten gestalten. Sein innerstaatliches Steuerrecht kann für die Progression z. B. auf das Gesamteinkommen des
16 Das widerlegt die neuerdings vom BFH in Abkehr von seiner bisherigen Rechtsprechung, zudem ohne Begründung und entgegen der bindenden Entscheidung des BVerfG (Fn. 11), vertretene Ansicht, der Progressionsvorbehalt wirke nur deklaratorisch; „ob ein Progressionsvorbehalt anzuwenden ist“ – gemeint ist, wie der Zusammenhang ergibt, ob freigestellte Einkünfte in die Bemessungsgrundlage des Steuersatzes einzubeziehen seien – entscheide „sich allein nach dem innerstaatlichen deutschen Steuerrecht“ (BFHE 197 S. 495 = IStR 2002 S. 239 (241 f.); BStBl II 2002 S. 660 = IStR 2002 S. 635). 17 Dazu statt aller K. Vogel bei Vogel / Lehner (Fn. 10), Einleitung Rz. 125 f.
Progressionsvorbehalt in Doppelbesteuerungsabkommen
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Steuerpflichtigen oder nur auf die Summe der Einkünfte abstellen, die der Steuerpflichtige aus dem Quellenstaat bezieht. 36. Die Fassung des Artikels greift der Anwendung der Vorschriften des innerstaatlichen Rechtes des Quellenstaates über die Progression nicht vor. Wollen zwei Vertragsstaaten klarstellen, ob und inwieweit der Quellenstaat berechtigt ist, seine Vorschriften über die Progression anzuwenden, so kann dies in zweiseitigen Verhandlungen geschehen.“
Die Autoren des Kommentars von 1963 sahen es also als klärungsbedürftig an, „ob (!) und inwieweit der Quellenstaat berechtigt ist, seine Vorschriften über die Progression anzuwenden“, und verwiesen dafür auf die Möglichkeit, die Frage im Abkommen zu regeln. Das legt es nahe, Nr. 56 des Kommentars von 1977, der die Nrn. 35 und 36 in gekürzter Fassung zusammenzieht, schon in ihrer deutschen Fassung im gleichen Sinn auszulegen: die Fassung des Artikels verbietet es nicht, dass der Quellenstaat sein innerstaatliches Recht bezüglich der Progression anwendet, wenn die Vertragsstaaten dies vereinbaren. Der Widerspruch zum Text des Abkommens bzw. zu dessen Entwicklung, wäre damit beseitigt. Dass allein dies die richtige Auslegung des Kommentars ist, wird bestätigt, wenn man auf dessen allein maßgebende englische Originalfassung zurückgreift. Hier lautet die Nr. 36 in der Fassung von 1963: „36. The form of the Article does not prejudice the application by the State of source of the provisions of its national legislation concerning the progression. If two Contracting States which to clarify whether, or to what extent, the State of source shall have the right to use a progression they are left free to do so in bilateral negotiations.“
Und Nr. 56 in der Fassung von 1977: „56. Paragraph 3 of Article 23 A relates only to the State of residence. The form of the Article does not prejudice the application by the State of source of the provisions of its domestic laws concerning progression.“
In beiden Fassungen wird also zunächst ausgesprochen, dass der Progressionsvorbehalt nur für den Wohnsitzstaat gilt. Wo die deutsche Übersetzung dann über die Besteuerung im Quellenstaat einmal sagt, „greift nicht . . . vor“, das andere Mal „schließt nicht aus, dass“, verwendet der englische Text in beiden Versionen übereinstimmend die Wendung „does not prejudice“. Der Wortlaut des Musterabkommens enthält, so ist dies zu übersetzen, keine vorweggenommene („prae“) Entscheidung („judicium“), die eine Anwendung der Progressionsvorschriften des Quellenstaats vorsähe. Die deutsche Fassung von 1963 drückt dies einigermaßen zutreffend, wenngleich nicht unmissverständlich, mit den Worten „greift nicht vor“ aus. Gleichfalls zutreffend schließt der Kommentar von 1963 an, dass für die Anwendung der Progressionsvorschriften des Quellenstaats eine Vereinbarung der Vertragsstaaten nötig wäre. Die Übersetzung von 1977 – „Die Fassung des Artikels schließt nicht aus, dass der Quellenstaat sein innerstaatliches Recht bezüglich der Progression anwendet“ – ist dagegen falsch.
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IV. Deutsche Abkommenspraxis 1. Doppelbesteuerungsabkommen Auch heute noch formulieren die meisten deutschen Doppelbesteuerungsabkommen den Progressionsvorbehalt so, dass er sich nur auf diejenigen Einkünfte bezieht, die in der dem Art. 23 A des Musters entsprechenden Vorschrift des jeweiligen Abkommens freigestellt sind. Freistellungen durch Verteilungsnormen werden von diesen Progressionsvorbehalten also nicht mitumfasst; soweit der Steuerpflichtige derartige Einkünfte erzielt, tritt als Folge der Freistellung eine Progressionsermäßigung ein. Die Abkommen entsprechen damit in der Sache dem Musterabkommen von 1963. Der Wortlaut, durch den sie den Progressionsvorbehalt zum Ausdruck bringen, unterscheidet sich allerdings beträchtlich; insbesondere ist der Vorbehalt teils als fakultativ – „Die Bundesrepublik behält das Recht, zu . . .“ – teils apodiktisch – „Die Bundesrepublik wird . . .“ – formuliert. Rechtlich sind diese Unterschiede jedoch nicht von Bedeutung18. Nur die Abkommen mit Bulgarien, Dänemark, Norwegen, Kanada und Portugal und die Entwürfe der Abkommen mit Finnland, Polen und Tschechien haben bisher den Progressionsvorbehalt in der Formulierung des Musterabkommens von 1977 übernommen und dies teilweise auch nur für einen der beiden Vertragsstaaten19. Eine anders formulierte, jedoch inhaltlich übereinstimmende Regelung – also eine Ausdehnung des Progressionsvorbehalts auch auf Freistellungen durch Verteilungsnormen, jedenfalls für einen der Vertragspartner – enthalten die Abkommen mit Jugoslawien, Österreich, Schweden und der Türkei. Eine Reihe älterer DBA bezieht den Vorbehalt auf alle „Einkünfte oder Vermögensteile, die der Bundesrepublik Deutschland“ – oder beiden Vertragsstaaten – „zur Besteuerung überlassen sind“ (DBA Niederlande, Österreich 1954 / 92). Das schließt auch Zuweisungen an den Wohnsitzstaat ein, die durch Verteilungsnormen erfolgt sind, entspricht also im sachlichen Umfang bereits dem Musterabkommen von 1977. Zum gleichen Ergebnis führt das DBA Kenia für die kenianische Seite. Eine Anwendung des Progressionsvorbehalts auch im Quellenstaat ließ das Zusatzprotokoll von 1957 zu den Art. 7 bis 12 des Doppelbesteuerungsabkommens mit der Schweiz von 1931 ausdrücklich zu. Das jetzige Abkommen mit der Schweiz von 1971 enthält keine vergleichbare Bestimmung; es entspricht in seiner Fassung der des Musterabkommens von 1963. Zur Zeit dehnt mithin kein deutsches Abkommen den Progressionsvorbehalt auf den Quellenstaat aus. Auch hier bewirkt also eine Freistellung im Quellenstaat eine Progressionsermäßigung.
18 BFH BStBl II 1968, 101 (102): DBA Schweiz; HFR 1968, 21: DBA Niederlande; HFR 1979, 425: DBA Frankreich. 19 Polen: nur für Deutschland, Finnland und Tschechien: nur für den Vertragspartner.
Progressionsvorbehalt in Doppelbesteuerungsabkommen
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2. Innerstaatliches Recht Mit der Einführung des Progressionsvorbehalts in deutsche Doppelbesteuerungsabkommen ergab sich die Frage nach der innerstaatlichen Rechtsgrundlage für die Einbeziehung der freigestellten Einkünfte oder Vermögenswerte in die Bemessungsgrundlage des progressiven Tarifs. Der Bundesfinanzhof hat darüber erstmalig durch ein Urteil vom 9. November 1966 entschieden20. Durch seine Formulierung hat dieses Urteil allerdings immer wieder zu Missverständnissen geführt. In dem Verfahren, das zu dem Urteil führte, hatte der Kläger geltend gemacht, zur Anwendung des Progressionsvorbehalts bedürfe es einer besonderen innerstaatlichen Rechtsvorschrift; diese gebe es aber (noch) nicht. Der Bundesfinanzhof verneinte dies. Die tragenden Gründe seines Urteils finden sich in den folgenden Sätzen: „Das DBA-Kanada verfolgt den Zweck, die doppelte Besteuerung bestimmter Einkünfte, die der Steuerpflichtige in Kanada bezieht, zu vermeiden. Die Tatsache, daß der Steuerpflichtige diese Einkünfte erzielt hat, löst nach deutschem Einkommensteuerrecht zwei steuerliche Rechtsfolgen aus Einmal unterliegen die Einkünfte nach dem Grundsatz der unbeschränkten Einkommensteuerpflicht der deutschen Einkommensteuer (§ 1 Abs. 1 Satz 2 EStG). Außerdem bewirken sie zusammen mit den übrigen Einkünften, daß sich der Steuersatz für alle Einkünfte erhöht, da der Einkommensteuertarif progressiv gestaltet ist (Anlage zu § 32 a EStG). Das DBA-Kanada will nur die erste Rechtsfolge beseitigen, nicht aber auch die zweite Rechtsfolge21. Das soll der Progressionsvorbehalt zum Ausdruck bringen. Er bestimmt also, daß die zweite Rechtsfolge (Erhöhung des Steuersatzes) für alle Einkünfte bestehen bleiben soll, . . .“
Aus diesen Ausführungen ergibt sich unmissverständlich, dass der Bundesfinanzhof die innerstaatliche Rechtsgrundlage für die Einbeziehung der freigestellten Einkünfte in die Bemessungsgrundlage des Steuersatzes in den Tarifvorschriften des Einkommensteuergesetzes gesehen hat; ihre Anwendung sei durch das Doppelbesteuerungsabkommen nicht ausgeschlossen. Gegen diese Argumentation ist nichts einzuwenden; sie überzeugt. Unglücklicherweise hat aber das Gericht an die soeben zitierten Ausführungen den Satz angefügt „Damit ermächtigt er [der Progressionsvorbehalt, K. V.] nicht zu einer . . . Regelung durch innerdeutsches Gesetz, sondern stellt diese Regelung selbst dar“ und hat es den Leitsatz des Urteils wie folgt formuliert: „Der Progressionsvorbehalt im DBA-Kanada ermächtigt nicht die Bundesrepublik Deutschland, eine gesetzliche Vorschrift zu schaffen, daß bei der Ermittlung des Steuersatzes für das zur Besteuerung verbleibende Einkommen die von der inländischen Steuer befreiten ausländischen Einkünfte wieder hinzuzurechnen sind; er stellt vielmehr diese Vorschrift selbst dar.“
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BFH BStBl III 1967 S. 88. BFH BStBl III 1967 S. 89. Hervorhebung vom Verf.
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Diese Formulierung ist in der Folge überwiegend dahin missverstanden worden, dass nach Meinung des Bundesfinanzhofs der Progressionsvorbehalt des Abkommens Rechtsgrundlage für die Anwendung des nach dem Gesamteinkommen berechneten Steuersatzes sei. Da Doppelbesteuerungsabkommen keine Steuerpflichten begründen oder erhöhen können22, war das aber verfassungsrechtlich gar nicht möglich. Vielmehr meinte der Bundesfinanzhof, der oben wiedergegebene Auszug aus den Urteilsgründen zeigt das unmissverständlich, der Progressionsvorbehalt bewirke, dass die innerstaatlichen Regeln über die Berechnung des Steuersatzes durch das Abkommen nicht berührt würden, die „zweite Rechtsfolge“ des EStG nicht „beseitigt“ werde, eine Progressionsermäßigung also nicht eintrete. Durch das Einkommensteuerreformgesetz 1974 wurde diese rechtliche Wirkung des Progressionsvorbehalts dann durch Aufnahme eines § 32 b in das Einkommensteuergesetz bekräftigt: „§ 32 b Progressionsvorbehalt bei Abkommen zur Vermeidung der Doppelbesteuerung Sind bei unbeschränkt Steuerpflichtigen nach einem Abkommen zur Vermeidung der Doppelbesteuerung die aus dem ausländischen Vertragsstaat stammenden Einkünfte steuerfrei, so ist auf das nach § 32 a Abs. 1 zu versteuernde Einkommen der Steuersatz anzuwenden, der sich ergibt, wenn die ausländischen Einkünfte, ausgenommen die darin enthaltenen außerordentlichen Einkünfte, bei der Berechnung der Einkommensteuer einbezogen werden.“
Diese Vorschrift änderte die Rechtslage nicht23. Insbesondere bezieht sie sich wie der Progressionsvorbehalt der Doppelbesteuerungsabkommen nur auf die Besteuerung im Wohnsitzstaat des Steuerpflichtigen. Heute ist die Vorschrift durch eine Vielzahl von Ergänzungen wesentlich komplizierter geworden. Soweit sie die Anwendung des Progressionsvorbehalts der Doppelbesteuerungsabkommen betrifft, lautet sie: „(1) Hat ein zeitweise oder während des gesamten Veranlagungszeitraums unbeschränkt Steuerpflichtiger . . . ... 3. Einkünfte, die nach einem Abkommen zur Vermeidung der Doppelbesteuerung . . . unter dem Vorbehalt der Einbeziehung bei der Berechnung der Einkommensteuer steuerfrei sind, . . . bezogen, so ist auf das . . . zu versteuernde Einkommen ein besonderer Steuersatz anzuwenden. ... 22 K. Vogel, Gesetzesvorbehalt, Parlamentsvorbehalt und völkerrechtliche Verträge, in: Badura / Scholz (Hrsg.), Wege und Verfahren des Verfassungslebens, FS Peter Lerche, 1993. S. 95 ff. (103 f.). 23 Abwegig ist daher die Meinung eines Senats des FG Köln in IStR 2003 S. 272 (273), die Vorschrift habe die Bindung an den Beschluß des Bundesverfassungsgerichts von 1971 (Fn. 11) aufgehoben.
Progressionsvorbehalt in Doppelbesteuerungsabkommen
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(2) Der besondere Steuersatz nach Absatz 1 ist der Steuersatz, der sich ergibt, wenn bei der Berechnung der Einkommensteuer das nach § 32 a Abs. 1 zu versteuernde Einkommen vermehrt oder vermindert wird um ... 2. im Fall des Absatzes 1 Nr. 3 die dort bezeichneten Einkünfte . . .“
Die Bezeichnung Progressions-„Vorbehalt“ für die vorstehenden Regelungen des deutschen Steuerrechts ist übrigens, was hier nur am Rande bemerkt sei, sprachlich unkorrekt24. Ein „Vorbehalt“ ist die Einräumung der Möglichkeit, von einer Vereinbarung oder Regelung abzuweichen. So behalten die Abkommen den Vertragsstaaten das Recht vor, die freigestellten Einkünfte bei der Anwendung des progressiven Steuersatzes zu berücksichtigen. Sieht ein Vertragsstaat durch Gesetz Entsprechendes vor, so erlässt er jedoch keinen „Vorbehalt“, sondern er macht vom Vorbehalt des Abkommens Gebrauch.
V. Neue Entwicklungen Für Fälle eines Wechsels von unbeschränkter zu beschränkter oder von beschränkter zu unbeschränkter Steuerpflicht während des Veranlagungszeitraums hatte das EStG ursprünglich eine getrennte Veranlagung für zwei Rumpfsteuerjahre vorgesehen (§ 2 Abs. 7 Satz 3 EStG), wobei in beiden Zeitabschnitten für das jeweils zu versteuernde Einkommen die Regeln, auch die Steuersätze, für ein Jahreseinkommen maßgebend waren. So führte also der Wechsel der Steuerpflicht zu einer Progressionsermäßigung. Hierzu hatte der Bundesfinanzhof 1994 in einem obiter dictum bemerkt, es sei eine Ungleichbehandlung zugunsten des Steuerpflichtigen, weil er nicht nach einem Einkommensteuertarif besteuert werde, der seiner Leistungsfähigkeit entspreche. Diese Erwägung hätte zwar nur zur Anwendung desjenigen Steuersatzes auf das während des jeweiligen Zeitraums erzielte Einkommen zu führen brauchen, der sich bei Unterstellung eines regelmäßigen Einkommens gleicher Höhe für die Zeit des restlichen Jahres ergeben hätte. Tatsächlich veranlasste sie den Gesetzgeber aber, 1996 in § 2 Abs. 7 zu bestimmen, dass zu den während der unbeschränkten Steuerpflicht erzielten Einkünften die in der Zeit der beschränkten Steuerpflicht erzielten hinzuzurechnen seien (ab 1997 dann: dass sie in die Veranlagung zur unbeschränkten Steuerpflicht einzubeziehen seien)25. Diese Neuregelung bewirkte eine zweifache Progressionserhöhung:
24 Zutreffend U. Probst in: Herrmann / Heuer / Raupach (Hrsg.), Einkommensteuer- und Körperschaftsteuergesetz mit Nebengesetzen (Loseblatt), zu § 32 b EStG Rdn. 1. 25 Über Gründe und Bedeutung der Änderung des Wortlauts s. Mössner, Die Neuregelung der temporären Steuerpflicht durch die Jahressteuergesetze 1996 und 1997, IStR 1997, 225. S. 227).
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Sie erhöhte die Bemessungsgrundlage für den auf die unbeschränkt steuerpflichtigen Einkünfte anzuwendenden Steuersatz. Allerdings werden in die Bemessung des Steuersatzes nicht durch Doppelbesteuerungsabkommen freigestellte ausländische Einkünfte einbezogen, sondern inländische, die auch nach bisherigem Recht (beschränkt) steuerpflichtig waren. Außerdem und ohne Vorbild im bisherigen deutschen Steuerrecht veränderte sie die Bemessungsgrundlage für den Steuersatz auf die beschränkt steuerpflichtigen Einkünfte. In der Regel erhöht sie sie, sofern der aus der Einbeziehung sich ergebende Steuersatz nicht bei sehr geringen Einkünften unter 25% liegt.
Gleichzeitig sah der Gesetzgeber durch Einfügung einer neuen Nr. 2 in § 32 b Abs. 1 EStG26 vor, dass in Fällen einer zeitweisen unbeschränkten Steuerpflicht auch Einkünfte des Steuerpflichtigen aus der Zeit, während derer er im Veranlagungszeitraum nicht unbeschränkt einkommensteuerpflichtig war, in die Berechnung des Steuersatzes einzubeziehen seien („Progressionserstreckung“). Die neue Vorschrift wirft Probleme des Gleichheitssatzes auf27, die der Bundesfinanzhof bislang nicht befriedigend beantwortet hat28. Die Finanzverwaltung muss selbstverständlich bei Anwendung der neuen Vorschriften die Doppelbesteuerungsabkommen beachten29: also soweit Deutschland Wohnsitzstaat ist, eine aus abschließenden Verteilungsnormen gegebenenfalls folgende Progressionsermäßigung; soweit es Quellenstaat ist, dass die geltenden Abkommen ihm als solchem keinen Progressionsvorbehalt gestatten. Die neue Nr. 2 des § 32 b Abs. 1 EStG wirft ferner die Frage auf, ob das völkerrechtliche Erfordernis eines „genuine link“ für die Besteuerung ausländischer Einkünfte nicht auch für deren Einbeziehung in die Berechnung eines inländischen Steuersatzes gilt. All dies kann freilich im Rahmen der vorliegenden Untersuchung nicht ausgeführt werden. Es soll nur deutlich machen, dass unser Thema beileibe nicht abgeschlossen ist.
Aus der bisherigen Nr. 2 wurde die jetzige Nr. 3. S. FG Köln EFG 2000, 1006. 28 Er versucht es in den Entscheidungen o. Fn. 16. Dazu einstweilen: Mössner (Fn. 25) S. 227 ff.; Lüdicke, Doppelansässigkeit, Ansässigkeitswechsel und Progressionsvorbehalt, in: Kleineidam (Hrsg.), Unternehmenspolitik und Internationale Besteuerung, FS Lutz Fischer, 1999, 731 (745 ff.); ders., Anmerkung, IStR 1999, 152; Achter, Der Salto mortale des ersten Senats hinweg über die Dogmatik des Progressionsvorbehalts, IStR 2003 S. 203 ff. 29 Entgegen der bisher nicht begründeten neuen Ansicht des BFH; s. auch dazu o. Fn. 16. 26 27
Deutschlands Finanzverfassung vor neuen Herausforderungen Von Joachim Wieland
I. Einleitung Peter Selmer hat 1992 seinen Vortrag über „Grundsätze der Finanzverfassung des vereinten Deutschlands“ auf der Staatsrechtslehrertagung in Bayreuth nicht ohne Grund mit der Feststellung begonnen: „Unsere heutige Finanzverfassung genießt keinen guten Ruf; auch sind die Finanzen in schlechter Verfassung“1. Er hat damit den von Hettlage 1955 zu Beginn seines Staatsrechtslehrerreferats geprägten Satz: „Unsere heutige Finanzverfassung genießt keinen guten Ruf, obwohl die Finanzen nicht in schlechter Verfassung sind“2 den veränderten Umständen angepasst. Hätte Selmer die seinerzeit kaum vorstellbare Ausweitung der Staatsverschuldung in Deutschland vorausgesehen, hätte er wohl noch schärfer formuliert. Der bedrohliche Zustand der Staatsfinanzen kann jedoch nicht dazu führen, die Finanzrechtswissenschaft von ihrer Aufgabe zu entbinden, den gegenwärtigen Stand und die zukünftige Entwicklung der Finanzverfassung unter Berücksichtigung der tatsächlichen Gegebenheiten zu erforschen. In diesem Sinne hat Peter Selmer zurecht betont, dass es keine „a priori vollkommene Finanzverfassung gibt, sondern nur eine solche in Anbetracht der sie umgebenden gesellschaftlichen und bundesstaatlichen Wirklichkeit sachgerechte“3. Ist die Finanzverfassung des Grundgesetzes noch sachgerecht? Liefert sie das erforderliche Rüstzeug, um den Herausforderungen der Zukunft gerecht zu werden? Oder droht sie ihre normative Kraft zu verlieren, wird die tatsächliche Verfassung der Staatsfinanzen sich immer unabhängiger von den normativen Vorgaben der Art. 104 a ff. GG entwickeln? Wenn der Schein nicht trügt, steht gegenwärtig keine grundlegende Reform der Finanzverfassung des Grundgesetzes auf der Agenda der Politik. Das sah Anfang der neunziger Jahre noch anders aus. In realistischer Einschätzung der durch die Wiedervereinigung Deutschlands entstehenden gewaltigen finanziellen Probleme hatte der Staatsvertrag zur Währung-, Wirtschafts- und Sozialunion zwischen der VVDStRL 52 (1993), S. 10 (11) K. M. Hettlage, Die Finanzverfassung im Rahmen der Staatsverfassung, VVDStRL 14 (1956), S. 2. 3 VVDStRL 52 (1993), S. 10 (11). 1 2
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Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik vom 18. Mai 19904 eine Reform der Finanzverfassung vorgesehen: „Mit Wirkung ab 1. Januar 1995 sind die Finanzbeziehungen zwischen Bund und Ländern (insbesondere Länderfinanzausgleich und Bundesergänzungszuweisungen) neu zu regeln.“ Die Neuregelung sollte die vorläufige Finanzierung der ostdeutschen Länder aus dem Fonds „Deutsche Einheit“ ablösen5. Im Einigungsvertrag las sich das wenig später schon anders. Art. 7 EV erstreckte in Absatz 1 kurzerhand die Finanzverfassung der Bundesrepublik Deutschland auf Ostdeutschland; die Absätze 2 bis 6 sahen nur für wenige Jahre Übergangsreglungen vor, von einer Reform der Finanzverfassung war nicht mehr die Rede. Die Vorschläge, die Selmer zur Änderung bzw. Ergänzung der Finanzverfassung gemacht hatte6, wurden ebenso wenig umgesetzt wie das 15 Jahre zuvor von der Enquête-Kommission „Verfassungsreform“ entwickelte Konzept7. Das legt es nahe, die Zukunftstauglichkeit der Finanzverfassung des Grundgesetzes zu untersuchen, die im Wesentlichen den Erkenntnisstand von 1969 widerspiegelt. Dazu wird im Folgenden in einem ersten Schritt eine aktuelle Bestandsaufnahme des Zustands der Finanzverfassung vorgenommen (II.), bevor in einem zweiten Schritt die gewonnenen Erkenntnisse mit Blick darauf analysiert werden, ob das bestehende normative Gerüst sachgerecht für die Bewältigung der Herausforderungen der Zukunft ist (III.). Abschließend werden Wege zur Problemlösung aufgezeigt (IV.). II. Aktuelle Bestandsaufnahme 1. Fortwirken der Teilung Deutschlands Anders als die normative Finanzverfassung des Grundgesetzes wird die tatsächliche Verfassung der Finanzen Deutschlands stark durch das Fortwirken der deutschen Teilung geprägt. Die Wiedervereinigung ist zwar völker- und staatsrechtlich 1990 vollzogen worden. Ökonomisch gesehen haben sich die geschichtlich gewordenen Unterschiede zwischen den Westdeutschen und Ostdeutschen Ländern in den 13 Jahren seit 1990 aber nicht beseitigen lassen. Es wird lange dauern, bis die letzten Reste der Teilung Deutschlands überwunden sind – vielleicht so lange, wie die staatliche Existenz der DDR gedauert hat8. Die zunächst weit unterschätzten finanziellen „Kosten der Einheit“ sind gewaltig9. Nachdem schon in der VerganBGBl. II S. 537, Art. 31 § 2 Abs. 2. K. Stern / Schmidt-Bleibtreu, Verträge und Rechtsakte zur Deutschen Einheit, Bd. 1, 1990, S. 309. 6 Siehe etwa VVDStRL 52 (1993), S. 10 (37 ff. und S. 57 ff.). 7 Schlussbericht der Enquête-Kommission „Verfassungsreform“, BT-Drucks. 7 / 5924, S. 122 ff. 8 J. Wieland, Einen und Teilen, DVBl. 1992, S. 1181 (1182). 9 H. Bauer, Die finanzverfassungsrechtliche Integration der neuen Länder, in: Isensee / Kirchhof (Hrsg.) Handbuch des Staatsrechts, Bd. IX, 1997, § 206 Rn. 2. 4 5
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genheit massive Transferleistungen von Westdeutschland nach Ostdeutschland erforderlich waren, werden diese Transfers auch für eine kaum absehbare Zukunft die öffentliche Finanzwirtschaft in Deutschland prägen. Solche Transferleistungen sind notwendig, um die wirtschaftliche Entwicklung in den neuen Ländern positiv zu beeinflussen. Sie bringen aber die Gefahr mit sich, dass Menschen und Unternehmen in Ostdeutschland sich an dauerhafte Subventionen gewöhnen, sie als „Normalzustand“ betrachten. Eine Subventionsmentalität würde aber den Weg zu ökonomischer und finanzwirtschaftlicher Autonomie der ostdeutschen Länder sowohl mental als auch real deutlich erschweren. Kann die Finanzverfassung diese Gefahr dadurch abwehren, dass sie westdeutsche und ostdeutsche Länder ungeachtet ihrer so grundverschiedenen tatsächlichen Situation normativ gleichbehandelt und die finanzielle Bewältigung der Herstellung der inneren Einheit Deutschlands überhaupt nicht thematisiert? Das ist angesichts der Größe der Finanzströme zumindest zweifelhaft. Schätzungen der Kosten der Einheit hatten schon nach wenigen Jahren die Billionengrenze (in Deutscher Mark) überschritten10. Eine exakte Quantifizierung dürfte angesichts der Vielfalt der Leistungen auch in Zukunft nicht möglich sein11. Für eine genaue Berechnung wäre den Kosten der Wiedervereinigung deren Nutzen gegenüber zu stellen und ein Saldo zu bilden. Der ideelle Nutzen der Wiedervereinigung lässt sich jedoch in Zahlen überhaupt nicht fassen, der materielle nur schätzen12. Für das Jahr 1999 etwa wurde ein Betrag von 140 Milliarden DM staatlicher Netto-Transferleistungen nach Ostdeutschland errechnet13. Für 2005 haben das Rheinisch-Westfälische Institut für Wirtschaftsforschung in Essen (RWI), und das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung in Berlin (DIW) eine Infrastrukturlücke in Ostdeutschland zwischen 280 und 375 Milliarden DM allein bei Investitionen der ostdeutschen Länder und Gemeinden – also ohne Investitionen des Bundes – berechnet. Die Steuereinnahmen der westdeutschen Gemeinden betrugen im Jahre 1999 je Einwohner rund 1.500,– DM, der gleiche Wert der ostdeutschen Gemeinden lag bei 570,– DM, also bei weniger als 40% des Westniveaus14. Allein diese Zahlen machen deutlich, dass auf längere Zeit hin die wirtschaftliche und finanzielle Leistungsfähigkeit der ostdeutschen Länder mitsamt ihrer Kommunen weit hinter den Möglichkeiten westdeutscher Länder zurückbleiben wird. Damit ist aber eine Grundvoraussetzung der bundesstaatlichen Finanzverfassung – die grundsätzliche Vergleichbarkeit der Länder – zumindest in Frage gestellt. Die Bewältigung der finanzwirtschaftlichen Folgen der Teilung 10 M. Kilian, Das System des Länderfinanzausgleichs und die Finanzierung der neuen Bundesländer, JZ 1991, S. 425 (428); G. Milbradt, Staatswissenschaften und Staatspraxis 2 (1991), S. 303 (307). 11 H. Bauer (Fn. 9), Rn. 2. 12 Näher dazu die Beiträge in D. Brümmerhoff (Hrsg.), Nutzen und Kosten der Wiedervereinigung, 2000. 13 A. Fuchs, Das Ringen um den Solidarpakt II, LKV 2001, S. 538 (539). 14 Näher dazu A. Fuchs (Fn. 13), S. 540.
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Deutschlands wird jedenfalls nicht durch die Finanzverfassung angeleitet, sondern dem Gesetzgeber überlassen.
2. Solidarpakt, Länderfinanzausgleich und Maßstäbegesetz Als die ostdeutschen Länder entsprechend den Vorgaben im Einigungsvertrag 1995 ebenso wie die westdeutschen Länder den Regelungen der Finanzverfassung unterworfen wurden, deckte der Gesetzgeber die teilungsbedingten Sonderlasten durch den so genannten Solidarpakt I ab. Bestandteile dieses Solidarpakts im eigentlichen Sinne waren die Gewährung von Sonderbedarfs-Bundesergänzungszuweisungen für den Abbau teilungsbedingter Sonderlasten sowie zum Ausgleich unterproportionaler kommunaler Steuerkraft in Höhe von jährlich rund 14 Milliarden DM15 und Finanzhilfen in Höhe von rund 6 Milliarden DM jährlich für besonders bedeutsame Investitionen zum Ausgleich unterschiedlicher Wirtschaftskraft und zur Förderung des wirtschaftlichen Wachstums16. Hinzu traten und treten vielfältige weitere Transferleistungen des Bundes17. Im Gegensatz zu früheren optimistischen Erwartungen wird jedoch bei Auslaufen des Solidarpakts I Ende 2004 eine Gleichwertigkeit18 oder sogar Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse19 nicht erreicht sein. Zwar haben sich Arbeitsproduktivität und Pro-Kopf-Einkommen in den ostdeutschen Ländern seit Beginn der neunziger Jahre mehr als verdoppelt und sind 3 Millionen Arbeitsplätze neu entstanden. Das Bruttoeinkommen je Arbeitnehmer liegt aber nur bei 77 von 100 des Westniveaus, die Arbeitslosenquote ist mit ca. 20 von 100 in Ostdeutschland ungefähr doppelt so hoch wie in Westdeutschland20. Es gibt immer noch zu wenige leistungsfähige Großunternehmen und regional konzentrierte Wertschöpfungsketten. Darauf beruht die aufgezeigte deutlich geringere Steuerkraft der ostdeutschen Länder, die es ausgeschlossen erscheinen lässt, dass sie die bestehende Infrastrukturlücke aus eigener Kraft schließen könnten21. In dieser Situation haben sich Bund und Länder auf den Solidarpakt II geeinigt und zugleich den Finanzausgleich neu geordnet. Die vom Bundeskanzler und den Regierungschefs der Länder im Juni 2001 erzielte Vereinbarung haben BundesGemäß § 11 Abs. 4 FAG a. F. Gemäß dem Investitionsförderungsgesetz Aufbau Ost; näher zur Förderung der Neuen Länder K. Tipke / J. Lang, Steuerrecht, 17. Aufl. 2002, § 19 Rn. 44 ff. (S. 718). 17 Näher dazu Bundesministerium der Finanzen, die Neuordnung des Bundesstaatlichen Finanzausgleichs, Maßstäbegesetz und Solidarpaktfortführungsgesetz, Schriftenband 73, S. 57. 18 Im Sinne von Art. 72 Abs. 2 GG. 19 Im Sinne von Art. 106 Abs. 3 Satz 4 Nr. 2 GG. 20 Näher zur Situation auf dem Arbeitsmarkt J. Wieland, Arbeitsmarkt und staatliche Lenkung, VVDStRL 59 (2000), S. 13 (16 ff.). 21 Zu den Zahlen Bundesministerium der Finanzen (Fn. 17), S. 56 ff. 15 16
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tag22 und Bundesrat23 gebilligt. Der Solidarpakt II besteht aus zwei Körben. Korb I sieht vor, dass der Bund den ostdeutschen Ländern einschließlich Berlins in den Jahren 2005 bis 2019 insgesamt mehr als 100 Milliarden Euro als SonderbedarfsBundesergänzungszuweisungen zur „Deckung von teilungsbedingten Sonderlasten aus dem bestehenden starken infrastrukturellen Nachholbedarf und zum Ausgleich unterproportionaler kommunaler Finanzkraft“ zur Verfügung stellt24. Die Mittel werden von 2006 an degressiv abgeschmolzen und laufen 2019 mit einer letzten Rate in Höhe von 2,1 Milliarden Euro aus. Die ostdeutschen Länder müssen dem Finanzplanungsrat von 2003 an jährlich im Rahmen von Fortschrittsberichten „Aufbau Ost“ über ihre jeweiligen Fortschritte bei der Schließung der Infrastrukturlücke sowie über die Verwendung der erhaltenen Mittel zum Abbau teilungsbedingter Sonderlasten und die finanzwirtschaftliche Entwicklung der Länder- und Kommunalhaushalte einschließlich der Begrenzung der Nettoneuverschuldung berichten25. Die Bundesregierung hat sich zusätzlich verpflichtet, dem Aufbau Ost in ihrer Haushaltspolitik weiterhin hohe Priorität zuzumessen und dementsprechend überproportionale Leistungen für die ostdeutschen Länder zu gewährleisten. Als Zielgröße ist insoweit für die Zeit bis 2019 ein Betrag von mehr als 50 Milliarden Euro festgelegt worden26. Die Umsetzung des Solidarpakts II wird erhebliche Anstrengungen aller Beteiligten erfordern. Er ist bei den betroffenen Gebietkörperschaften keineswegs nur auf Zustimmung gestoßen27, eine realistische Alternative zur finanzrechtlichen und finanzwirtschaftlichen Bewältigung der fortdauernden Folgen der deutschen Teilung ist jedoch nicht ersichtlich. Im Rahmen der Neuordnung des bundesstaatlichen Finanzausgleichs stehen das Maßstäbegesetz und das Finanzausgleichsgesetz in einem untrennbaren Zusammenhang mit dem Solidarpaktfortführungsgesetz. Der Erlass eines Maßstäbegesetzes geht auf das Urteil des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 11. November 1999 zurück28. In dieser Entscheidung hat das Bundesverfassungsgericht den Gesetzgeber verpflichtet, die Regelungen der Finanzverfassung zur Steuerverteilung und zum Finanzausgleich durch „anwendbare, allgemeine, ihn selbst bindende Maßstäbe gesetzlich zu konkretisieren und zu ergänzen“29. Mit Maßstäben, die auf langfristige Geltung angelegt und fortschreibungsfähig seien, 22 Entschließung des Deutschen Bundestages vom 5. Juli 2001, BT-Drucks. 14 / 6577 und Bundestag Sten. Prot. 114 / 182 vom 5. Juli 2001, S. 17894 (D). 23 Entschließung des Bundesrates vom 13 Juli 2001, BR-Drucks. 485 / 01 (Beschluß). 24 Art. 5 § 11 Abs. 3 Solidarpaktfortführungsgesetz. 25 Art. 1 Nr. 2 und Art. 5 § 11 Abs. 3 Satz 3 Solidarpaktfortführungsgesetz. 26 BT-Drucks. 14 / 6577, S. 3. 27 Siehe etwa aus kommunaler Sicht H.-G. Henneke, Maßstäbegesetzgebundenes Solidarpaktfortführungsgesetz: Ergebnis bei einer Einigungsprämie von 2,5 Mrd. DM, Der Landkreis 2002, S. 167 ff. und H. Karrenberg, Das Solidarpaktfortführungsgesetz aus kommunaler Sicht: ein Willkürakt der Finanzminister, Der Gemeindehaushalt 2002, S. 25 ff. 28 BVerfGE 101, 158. 29 BVerfGE 101, 158 (Ls. 1).
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solle der Gesetzgeber sicherstellen, dass Bund und Länder die Finanzverfassung in gleicher Weise interpretierten, den finanzverfassungsrechtlichen Begriffen dieselben Indikatoren zugrunde legten und so die haushaltswirtschaftliche Planbarkeit und Voraussehbarkeit der finanzwirtschaftlichen Grundlagen gewährleisteten und zugleich die Mittelverteilung transparent machten. Nach Auffassung des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts verlangt die Finanzverfassung eine gesetzliche Maßstabgebung, „die den rechtsstaatlichen Auftrag eines gesetzlichen Vorgriffs in die Zukunft in der Weise erfüllt, dass die Maßstäbe der Steuerzuteilung und des Finanzausgleichs bereits gebildet sind, bevor deren spätere Wirkungen konkret bekannt werden“30. Mit dem Konzept eines Maßstäbegesetzes hat das Bundesverfassungsgericht sich vom Verständnis der Finanzverfassung als Rahmenordnung, das lange seine Rechtsprechung geprägt hat31, deutlich entfernt32. Die Vorstellung, der Gesetzgeber könnte Maßstäbe für die bundesstaatliche Finanzverteilung entwickeln, ohne deren spätere Wirkungen konkret überschauen zu können, dürfte schon auf einem Missverständnis des rechtsphilosophischen Ansatzes von J. Rawls beruhen33, auf den sich das Bundesverfassungsgericht bezieht34. Rawls hat seinen berühmten Schleier des Nicht-Wissens nämlich keineswegs so verstanden, dass der Gesetzgeber über die Folgen der von ihm verabschiedeten Gesetze nichts wissen dürfe35. Vielmehr kann das Parlament seiner demokratischen Verantwortung nur gerecht werden, wenn es sich die Folgen der von ihm beschlossenen Regelungen möglichst deutlich vor Augen führt. Eine „Selbstbindung“ des Gesetzgebers durch früher erlassene Gesetze widerspricht zudem Art. 20 Abs. 3 GG, der die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers nur durch die Verfassung selbst, nicht jedoch durch seine eigenen Gesetze gebunden sieht36. Das vom Bundesverfassungsgericht entwickelte Konzept eines Maßstäbegesetzes ist in der Literatur dementsprechend überwiegend kritisch aufgenommen worden37. BVerfGE 101, 158 (Ls. 2 und 3). Grundsätzlich BVerfGE 72, 330 (388 ff.) u.v.a. BVerfGE 67, 256 (288 f.). 32 Näher dazu J. Wieland, Finanzverfassung, Steuerstaat und föderaler Ausgleich, in: P. Badura / H. Dreier (Hrsg.), FS 50 Jahre Bundesverfassungsgericht, 2. Bd., 2001, S. 771 ff. (773 ff. und 793 ff.). 33 J. Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, 1975, S. 29, 160 und 163 sowie 224 ff. 34 BVerfGE 101, 158 (218). 35 Näher dazu J. Wieland, Das Konzept eines Maßstäbegsetzes zum Finanzausgleich, DVBl. 2000, S. 1310 (1312 ff.). 36 P. Badura, Staatsrecht, 2. Aufl. 1996, S. 472. 37 Sie etwa H. P. Bull / V. Mehde, Der rationale Finanzausgleich: ein Gesetzgebungsauftrag ohnegleichen, DÖV 2000, S. 305; T. Christmann, Vom Finanzausgleich zum Maßstäbegesetz, DÖV 2000, S. 315; P. Helbig, Maßstäbe als Grundsätze: Anmerkungen zum Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 11. November 1999, KJ 33 (2000), S. 433; S. Korioth, Maßstäbegesetzgebung im bundesstaatlichen Finanzausgleich: Abschied von der „rein interessenbestimmten Verständigung über Geldsummen“?, ZG 2002, S. 335; J. Linck, Das „Maßstäbegesetz“ zur Finanzverfassung: ein dogmatischer und politischer Irrweg, DÖV 2000, S. 325; B. Pieroth, Die Missachtung gesetzter Maßstäbe durch das Maßstäbegesetz, NJW 2000. S. 1086; H. H. Rupp, Länderfinanzausgleich: verfassungsrechtliche und verfassungsprozes30 31
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Der Gesetzgeber hat zwar den Auftrag des Bundesverfassungsgerichts mit der Verabschiedung des Maßstäbegesetzes38 formal erfüllt. Erarbeitet worden ist das Maßstäbegesetz im Wesentlichen vom Sonderausschuss „Maßstäbegesetz / Finanzausgleichsgesetz“, den der Deutsche Bundestag am 12. Oktober 2000 eingesetzt hat39. Der Ausschuss hat streng und sorgsam darauf geachtet, den „Vor-rang“ und „Vor-behalt“ des Maßstäbegesetzes vor dem Finanzausgleichsgesetz zu wahren; nach den Worten seines Vorsitzenden hat er erst in einer „juristisch-politischen Sekunde zugelassen, dass auch ein Blick auf die Wirkungen (und – soweit möglich – Nebenwirkungen) seiner Arbeit fiel“. Alle Abgeordneten waren sich aber von Anfang bis Ende ihrer Arbeit einig, dass es nicht nur Recht, sondern auch Pflicht des demokratisch legitimierten Gesetzgebers sei, sich und der Öffentlichkeit für die relevanten Zahlen Rechenschaft zu geben. Mit Blick auf das viel zitierte „obiter dictum“ des Gerichts zum „Schleier des Nicht-Wissens“ habe sich der Ausschuss deshalb zwar vor seiner abschließenden Entscheidung über das Maßstäbegesetz mit dem Zahlenwerk befasst, auf das sich Bundesregierung und Landesregierung verständigt hatten, sich aber auf die Kenntnisnahme beschränkt40. Inhaltlich begnügt sich das „Gesetz über verfassungskonkretisierende allgemeine Maßstäbe für die Verteilung des Umsatzsteueraufkommens für den Finanzausgleich unter den Ländern sowie für die Gewährung von Bundesergänzungszuweisungen“ im Wesentlichen mit einer Kodifizierung der einschlägigen Rechtsprechung des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts. § 15 Maßstäbegesetz regelt, dass das Gesetz mit Ablauf des 31. Dezember 2019 außer Kraft tritt, also genau zu dem Zeitpunkt, zu dem das neue Finanzausgleichsgesetz auslaufen wird. Ob diese zeitliche Konstellation den Vorstellungen des Bundesverfassungsgerichts entspricht, darf bezweifelt werden. Bezweifelt werden muss aber auch, ob sich das Konzept des Gerichts, die finanzverfassungsrechtlichen Vorgaben durch ein Maßstäbegesetz in einer für den Gesetzgeber bindenden Weise zu konkretisieren, in der parlamentarischen Demokratie des Grundgesetzes durchsetzen lässt. Selbst wenn der Blick auf die Ergebnisse des Finanzausgleichsgesetzes ein Aushandeln des Gesetzesinhalts zwischen den Beteiligten fast unvermeidbar macht, stellt sich doch die Frage, ob ein Verhandlungsprozess zwischen prinzipiell gleich starken Partnern wie dem Bund auf der einen und der Gesamtheit der Länder auf der anderen Seite nicht durchaus ein angemessenes Ergebnis erwarten lässt. Die Streitanfälligkeit des Finanzausgleichsgesetzes, die seit 1986 zu drei Urteilen des Zweiten Senats des Bunsuale Aspekte des Urteils des BVerfG vom 11. 11. 1999, JZ 2000, S. 269; H. P. Schneider / U. Berlit, Die bundesstaatliche Finanzverteilung zwischen Rationalität, Transparenz und Politik: das Urteil des BVerfG zum Länderfinanzausgleich, NVwZ 2000, S. 841; eher zustimmend J. Becker, Forderung nach einem Maßstäbegesetz: neue Maßstäbe in der Gleichheitsdogmatik?, NJW 2000, S. 3742 und C. Waldhoff, Reformperspektiven der bundesstaatlichen Finanzverfassung im gestuften Verfahren, ZG 2000, S. 193. 38 Vom 9. September 2001, BGBl. I S. 2302. 39 Zur Gesetzgebungsgeschichte V. Kröning, Das Maßstäbegesetz: Leistung und Aufgabe des Gesetzgebers, in: Bundesministerium der Finanzen (Fn. 17), S. 10 ff. 40 Kröning (Fn .39), S. 13. 62*
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desverfassungsgerichts geführt hat, bedeutet keinesfalls, dass der Gesetzgeber an der ihm gestellten Aufgabe gescheitert ist. Vielmehr hat das Bundesverfassungsgericht in allen drei Entscheidungen41 den wesentlichen Gehalt der von ihm überprüften Finanzausgleichsgesetze bestätigt und nur in einzelnen Punkten korrigierend eingegriffen. Das spricht für das bislang selbstverständliche Verfahren und gegen die Notwendigkeit eines Maßstäbegesetzes. Der durch die Finanzverfassung gesetzte Rahmen für das politische Aushandeln hat sich durchaus bewährt, auch wenn nicht abstrakte finanzwissenschaftliche Vorgaben, sondern konkrete Geldflüsse für das Handeln der Beteiligten ausschlaggebend waren. Dieser Eindruck wird dadurch bestätigt, dass das künftige Finanzausgleichsgesetz42 auch nach Erlass des Maßstäbegesetzes keine strukturellen Änderungen gegenüber seinen Vorgängern aufweist.
3. Verschärfung der Haushaltsnotlagen Ein weiteres grundlegendes Problem für die Finanzverfassung bildet die zunehmende Staatsverschuldung. Bereits 2001 hatte der Schuldenstand der Öffentlichen Hand eine Höhe von mehr als 1,2 Billionen Euro erreicht43. Die Schulden des Bundes sind von 600 Milliarden DM im Jahre 1990 auf 1.570 Milliarden DM im Jahr 2000 gestiegen. Die Bundesländer waren 2000 im Durchschnitt mit über 7.000 DM pro Einwohner verschuldet. Besonders kritisch ist die Situation einiger Länder. Bereits 1992 hat das Bundesverfassungsgericht festgestellt, dass Bremen und das Saarland sich in einer extremen Haushalsnotlage befunden haben44. Das Gericht hat den Bund und die anderen Länder zur bundesstaatlichen Hilfeleistung verpflichtet. Dem ist der Bundesgesetzgeber durch die Gewährung von Sonderbedarfs-Bundesergänzungszuweisungen zum Zweck der Haushaltssanierung nachgekommen45. Die beiden Länder erhalten bis zum Jahr 2004 diese Bundesergänzungszuweisungen, die degressiv ausgestaltet sind, mit der Maßgabe, sie unmittelbar zur Schuldentilgung zu verwenden und eine restriktive Haushaltspolitik einzuhalten. Sie müssen das Wachstum ihrer bereinigten Ausgaben unterhalb der allgemeinen Ausgabenzuwachsempfehlung des Finanzplanungsrats halten. Die sich aus der Schuldentilgung ergebenden Finanzierungsspielräume aus Zinsersparnissen haben die Haushaltsnotlagenländer ebenfalls zur Verminderung ihrer Verschuldung zu nutzen. Außerdem müssen sie dem Bundesministerium der Finanzen sowie den Finanzministerien der anderen Länder über ihre Sanierungsfortschritte jährlich Bericht erstatten. Mit seinem Urteil vom 11. November 1999 hat der ZweiBVerfGE 72, 330; 86, 148; 101, 158. Art. 5 Solidarpaktfortführungsgesetz. 43 F. Kirchhof, Der notwendige Ausstieg aus der Staatsverschuldung, DVBl. 2002, S. 1569, dort auch die folgenden Zahlen. 44 BVerfGE 86, 148 (262). 45 Sie § 11 Abs. 6 des geltenden Finanzausgleichsgesetzes. 41 42
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te Senat des Bundesverfassungsgerichts noch einmal bestätigt, dass die Sonderbedarfs-Bundesergänzungszuweisungen zum Zwecke der Haushaltsanierung als vorübergehende Hilfe zur Selbsthilfe zulässig sind. Der Senat hat allerdings betont, dass die degressive Bemessung der Zuweisungen deren Auslaufen im Jahre 2004 sichere46. Mittlerweile ist das Land Berlin in eine so außerordentliche Finanzkrise geraten, dass die Haushaltsprobleme Bremens und des Saarlands vom Volumen her als relativ überschaubar erscheinen. Betrug der Schuldenstand Berlins 1991 noch 9,3 Milliarden Euro, so war er bis zum Jahresende 2001 auf 39,8 Milliarden Euro gestiegen. Dementsprechend hatten sich die Zinsausgaben von 537 Millionen Euro auf 2.250 Millionen Euro erhöht. Allein 2002 ist die Neuverschuldung des Landes um 6,3 Milliarden Euro gestiegen47. Der Ernst der gegenwärtigen Finanzkrise Berlins ergibt sich besonders deutlich aus der so genannten Zins-Steuer-Quote, die das Bundesverfassungsgericht schon 1992 als Indikator für die extreme Haushaltsnotlage Bremens und des Saarlands herangezogen hat48. Während im Länderdurchschnitt 2001 etwa 11,5 v. H. der Steuereinnahmen für Zinsbelastungen gebunden waren, lag der Berliner Wert mit 26,1 v. H. mehr als doppelt so hoch. Auch die Eckdaten des Haushalts 2002 des Landes Berlin zeigen das Ausmaß der Krise: Die bereinigten Einnahmen – ohne Vermögensaktivierung und ohne Neuverschuldung – beliefen sich auf rund 16,8 Milliarden Euro. Dem standen Primärausgaben – das sind die Kernausgaben (Personalausgaben, konsumptive Sachausgaben, Investitionsausgaben) ohne Zinsausgaben – in Höhe von rund 18,9 Milliarden Euro gegenüber. Daraus ergibt sich ein Primärdefizit von 2,1 Milliarden Euro und ein strukturelles Defizit (unter Einbezug der Zinsausgaben) von 4,3 Milliarden Euro49. Die Ursachen der Berliner Finanzkrise sind vielfältig: So ist der Landeshaushalt zur Zeit der Teilung Deutschlands und Berlins wesentlich aus der Bundeshilfe finanziert worden; sie hat auf Dauer angelegte, angesichts der heutigen Einnahmesituation nicht finanzierbare Ausgabebelastungen mit sich gebracht. Nach der Wiedervereinigung ist die Bundeshilfe kurzfristig beendet und Berlin in wenigen Jahren ohne ausreichende Übergangsregelungen in das reguläre bundesstaatliche Finanzierungssystem einbezogen worden. Zudem ist die während der Teilung hoch subventionierte Berliner Wirtschaft unter den Bedingungen der Wiedervereinigung in erheblichen Teilen nicht sofort konkurrenzfähig gewesen. Diese Wirtschaftsschwäche hat eine strukturelle Steuerschwäche bewirkt, die eine Rückführung der Verschuldung praktisch unmöglich macht. Es ist abzusehen, dass Berlin trotz erheblicher eigener Sparanstrengungen ohne eine massive Sanierungshilfe durch Bundesergänzungszuweisungen nicht nur nicht in der Lage sein wird, seine Haushaltskrise zu BVerfGE 101, 158 (235). Finanzplanung von Berlin 2002 – 2006, 2002, S. 9 f.; Verf. berät den Senator für Finanzen des Landes Berlin. 48 BVerfGE 86, 148 (259). 49 Finanzplanung von Berlin 2002- 2006, S. 17. 46 47
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beenden; vielmehr werden die automatisch steigenden Zinslasten dazu führen, dass sich die Haushaltsnotlage selbst bei allen denkbaren Sparanstrengungen in kurzer Zeit erheblich verschärfen wird. Der Bund hat sich dennoch geweigert, Berlin eine Haushaltsnotlagenhilfe zu gewähren. Der Bundesminister der Finanzen hat dem Senator für Finanzen des Landes Berlin am 1. April 2003 mitgeteilt, das Land habe nicht überzeugend darlegen können, dass es sich tatsächlich in einer Extremhaushaltsnotlage befinde. Das Land hat am 1. Juli 2003 den Entwurf seines Doppelhaushalts 2004 / 2005 und die Eckwerte der mittelfristigen Finanzplanung bis 2007 verabschiedet. Danach werden die Primärausgaben bis 2005 um rund 600 Millionen Euro, bis 2007 sogar um 1,2 Milliarden Euro sinken. 2007 soll ein Primärüberschuss von 84 Millionen Euro erzielt werden. Langfristig benötigt Berlin aber für eine nachhaltige Haushaltswirtschaft einen Primärüberschuss von mindestens einer Milliarde Euro. Diese Zahl kann bis 2007 bei weitem nicht erreicht werden. Vielmehr steigen die Zinsausgaben und die Schulden des Landes trotz der erheblichen Konsolidierungsleistungen weiter stark an. Ohne eine Teilentschuldung durch den Bund wird sich die Finanzkrise des Landes nicht bewältigen lassen. Angesichts der eigenen Haushaltsprobleme des Bundes ist allerdings die notwendige Sanierungshilfe für den Bund nicht leicht zu leisten. Infolge der Wirtschaftskrise der letzten Jahre ist Deutschland in Konflikt mit den Anforderungen des so genannten Stabilitäts- und Wachstumspaktes geraten50. Da es der deutsche Finanzminister war, der im Herbst 1995 Vorschläge für einen „Stabilitätspakt“ vorgelegt hat, der die vertraglichen Regelungen im EG-Vertrag konkretisieren, ergänzen und modifizieren sollte51, entbehrt es nicht einer gewissen Pikanterie, dass nun gegen Deutschland ein Defizitverfahren eingeleitet worden ist52. Nachdem die Bundesregierung noch im Dezember 2002 angekündigt hatte, das gesamtstaatliche Defizit 2003 auf 2,75 vom Hundert des Bruttoinlandsprodukts zurückzuführen53, 50 Dieser Pakt basiert auf drei Rechtsgrundlagen: Zum einen auf der Entschließung des Europäischen Rates vom 17. Juni 1997 über den Stabilitäts- und Wachstumspakt aus Anlass der Annahme des Vertrages vom Amsterdam, zum anderen auf der Verordnung der Europäischen Gemeinschaft Nr. 1466 / 97 über den Ausbau der haushaltspolitischen Überwachung und der Überwachung und Koordinierung der Wirtschaftspolitiken, die auf Grundlage des Art. 99 EG erlassen worden ist, schließlich auf der Verordnung Nr. 1467 / 97 der Europäischen Gemeinschaft über die Beschleunigung und Klärung des Verfahrens bei einem übermäßigen Defizit; näher dazu U. Häde, Art. 104 EG-Vertrag Rn. 91 ff., in: C. Calliess / M. Ruffert (Hrsg.), Kommentar zu EU-Vertrag und EG-Vertrag, 2. Aufl., 2002. 51 Dazu D. Blumenwitz / B. Schöbener, Stabilitätspakt für Europa, 1997, S. 4 ff.; U. Häde, Ein Stabilitätspakt für Europa?, EuZW 1996, S. 138 ff. 52 Die EU-Kommission hat das Verfahren am 14. November 2002 mit der Veröffentlichung des Berichts „Übermäßiges Defizit in Deutschland“ eingeleitet. Am 8. Januar 2003 hat die Kommission gemäß Art. 104 Abs. 6 EG über ihre Empfehlungen an den Rat für Deutschland entschieden. Der ECOFIN-Rat hat am 21. Januar 2003 das Vorhandensein des übermäßigen Defizits in Deutschland festgestellt und Empfehlungen zum Defizitabbau verabschiedet. Deutschland hat die Empfehlungen des Rates akzeptiert und musste bis zum 21. Mai 2003 wirksame Maßnahmen zu deren Umsetzung ergreifen. 53 Deutsches Stabilitätsprogramm, Aktualisierung Dezember 2002, S. 6.
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stand schon im Sommer 2003 außer Frage, dass Deutschland sowohl 2003 als auch 2004 die 3% Defizitobergrenze für das jährliche Defizit verfehlen wird. Wesentliche Ursachen dafür dürften die schlechte Wirtschaftslage und die daraus resultierende deutliche Verschlechterung der Einnahmesituation der Öffentlichen Hand sein. In der deutschen Finanzverfassung hat der Stabilitätspakt bislang keinen Niederschlag gefunden. Insbesondere ist nicht geklärt, wie die Stabilitätsverpflichtungen, die Deutschland übernommen hat, im bundesstaatlichen Innenverhältnis umgesetzt werden sollen. Allein § 4 Abs. 3 Maßstäbegesetz sieht vor, dass bei der Abstimmung der Deckungsbedürfnisse von Bund und Ländern sowie der Gestaltung der öffentlichen Haushalte über die Bestimmungen des Art. 106 Abs. 3 Satz 4 und 5 GG hinaus sicher zu stellen ist, dass durch eine gemeinsame Ausgabenlinie die Bestimmungen des Maastricht-Vertrages und des Europäischen Stabilitäts- und Wachstumspaktes zur Begrenzung des gesamtstaatlichen Defizits umgesetzt werden. Wie das aber geschehen soll, hat der Gesetzgeber nicht geregelt. Es bestehen auch zumindest erhebliche Zweifel, ob der Bund die Gesetzgebungskompetenz für eine diesbezügliche Verteilungsregelung besitzt.
4. Finanzierung der Europäischen Union nach der Osterweiterung Eine weitere Herausforderung ergibt sich für die Finanzverfassung aus der künftigen Finanzordnung der Europäischen Union. Gegenwärtig finanziert sich die Union im Wesentlichen aus Beiträgen der Mitgliedstaaten. Deren Höhe hängt zum Teil vom jeweiligen Mehrwertsteueraufkommen der Mitgliedstaaten ab; der mehrwertsteuerabhängige Teil der Mitgliedsbeiträge gilt jedoch als regressiv und damit ungerecht, weil er den privaten Verbrauch widerspiegelt, der in ärmeren Ländern relativ höher ist als in reicheren54. Deshalb finanziert sich die Union zunehmend aus Mitteln, deren Höhe direkt vom Bruttoinlandsprodukt jedes Mitgliedstaates abhängt55. Dementsprechend belastet die Beitragsfinanzierung in ihrer gegenwärtigen Ausgestaltung vor allem wirtschaftsstarke Mitgliedstaaten. Sie enthält Anreize für wirtschaftsschwache Mitgliedstaaten, auf eine Ausweitung des Haushalts der Union hinzuwirken, weil zusätzliche Kosten die wirtschaftsstarken Mitgliedstaaten relativ stärker belasten. Die Ausgabenstruktur der Europäischen Union verstärkt diese Tendenz. Fast die Hälfte der aus dem Gemeinschaftshaushalt getätigten Zahlungen von gut 83 Milliarden Euro im Jahr 2000 finanzierte die gemeinsame Agrarpolitik, ein Drittel die Strukturpolitik56. In den Genuss der Leistungen zur Finanzierung der Agrar- sowie der Strukturpolitik kommen vor allem Mitgliedstaa54 D. Birk, in: ders., Handbuch des Europäischen Steuer- und Abgabenrechts, NWB, 1995, § 4 Rn. 38 ff.; U. Häde, Finanzausgleich, 1996, S. 484 ff. 55 Auf der Grundlage des Eigenmittelbeschlusses vom 31. Oktober 1994, AblEG Nr. L 293 / 9; näher J. Schoo, in: J. Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar, 2000, Art. 269, Rn. 3 ff. 56 Zu den Zahlen Rechnungshof der Europäischen Union, Jahresbericht zum Haushaltsjahr 2000, AblEG vom 15. Dezember 2001, Anhang I, S. XVII.
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ten, deren Volkswirtschaft stark auf den Bereich der Landwirtschaft ausgerichtet ist und deren Industrie- und Dienstleistungssektor im Vergleich zu den anderen Volkswirtschaften nicht die gleiche Stärke aufweist. Das gilt nicht nur für Frankreich und die Mittelmeerländer, sondern vor allem auch für die im Rahmen der Osterweiterung der Union als Mitglieder beitretenden Staaten, so dass sich das Problem verschärfen wird. Deutschland hat dagegen schon 2000 9 Milliarden Euro mehr in die Gemeinschaftskasse eingezahlt als von dort nach Deutschland zurückgeflossen sind. Noch deutlicher wird die Problematik, wenn man nicht die absoluten Beträge, sondern die Zahlungsvorgänge pro Kopf bzw. in Relation zum Bruttoinlandsprodukt vergleicht. Vor der Osterweiterung betragen Schwedens Nettozahlungen ungefähr 0,5% seines Bruttoinlandsprodukts, der entsprechende Wert für Deutschland beläuft sich auf 0,47%. Bei den Nettoempfängern erhalten Irland und Portugal Zahlungen in Höhe von 1,8% bzw. 1,9% ihres Bruttoinlandsprodukts, Griechenland sogar 3,6%57. Diese Zahlen belegen klar die Notwendigkeit, die Reform der Europäischen Agrarpolitik mit Nachdruck voranzutreiben; sie machen aber zugleich auch deutlich, warum viele Mitgliedstaaten der Europäischen Union einer derartigen Reform heftigen Widerstand entgegensetzen werden. In den Blick genommen werden darf aber nicht nur die Ausgabenstruktur der Union, auch deren Einnahmestruktur muss überprüft werden. Hier bietet sich an, der Union eine begrenzte eigene Steuerhoheit zu verleihen. Ein Steuererhebungsrecht hätte nicht nur den Vorteil, das demokratische Band zwischen den Unionsbürgern und der Union zu stärken. Steuerhoheit und Demokratie stehen in enger wechselseitiger Beziehung, wie nicht nur die deutsche Verfassungsgeschichte belegt58. Wer aus eigenen Mitteln einen Beitrag zur Finanzierung der Aufgaben der Europäischen Union zahlt, wird diesen Aufgaben mehr Aufmerksamkeit widmen und von den politischen Gremien Rechenschaft einfordern, wie sie das eingenommene Geld ausgeben. Man wird dem Europäischen Parlament auf längere Sicht nicht das klassische Recht jedes Parlaments vorenthalten können, über die Steuererhebung zu entscheiden und in der Folge auch stärkeren Einfluss auf die Mittelverwendung zu gewinnen. Als Europasteuer bietet sich eine modulierte Mehrwertsteuer an. Sie könnte auf der Bemessungsgrundlage der bereits weitgehend harmonisierten nationalen Umsatzsteuer mit einem einheitlichen Steuersatz zusätzlich erhoben werden. Die regressive Wirkung der Mehrwertsteuer bildete ein Gegengewicht zu den auf das Bruttoinlandsprodukt bezogene Mitgliedsbeiträgen. Eine derartige Steuer würde tendenziell die Position der Nettozahler verbessern und den Anreiz für die Nettoempfänger zur Ausweitung des Haushalts der Europäischen Union verringern. Wird die Europäischen Union allerdings neben Bund, Ländern und Kommunen ein vierter Steuergläubiger, hat das nicht zu unterschätzende Rückwirkungen für die Finanzverfassung des Grundgesetzes. Da die finanzielle 57 Zu den Nettosalden F. Heinemannn, Die Haushaltspolitik der Europäischen Union, in: W. Weidenfeld (Hrsg.), Europa-Handbuch, 2002, S. 515 ff. 58 Näher dazu J. Wieland, Erweitern und Teilen: die künftige Finanzordnung der Europäischen Union, ZRP 2002, S. 503 (507).
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Leistungsfähigkeit der deutschen Unternehmen und Privatpersonen gleich bleibt und die Steuerschuldner nicht überfordert werden dürfen, muss das potenziell zur Verfügung stehende Finanzaufkommen neu verteilt werden. Insoweit wird ein erheblicher Regelungsbedarf entstehen, weil eine nach Europa hin offene Finanzordnung andere Verteilungsmechanismen erfordert als die bislang auf Deutschland begrenzte, geschlossene Finanzverfassung des Grundgesetzes. Nur kurz sei auf eine Herausforderung hingewiesen, der sich die deutsche Finanzverfassung faktisch durch den zunehmenden Steuerwettbewerb in Europa gegenüber sieht, der bereits jetzt ein beträchtliches Ausmaß erreicht hat59. Viele Europäische Staaten bemühen sich, durch Steuersenkungsmaßnahmen finanzielle und ökonomische Ressourcen in das eigene Land zu holen, um auf diese Weise Wohlfahrtssteigerungen im Inland zu erreichen. Das führt tendenziell zu einer stärkeren steuerlichen Belastung des Faktors Arbeit, der weniger mobil ist, während die steuerliche Belastung der übrigen Produktionsfaktoren, insbesondere des äußerst mobilen Kapitals, sinkt60. So war die durchschnittliche Steuerbelastung des Faktors abhängige Arbeit in der Europäischen Gemeinschaft von knapp 35% im Jahre 1980 binnen 15 Jahren auf mehr als 40% gestiegen, während gleichzeitig die steuerliche Belastung der übrigen Produktionsfaktoren Kapital, selbständige Arbeit, Energie und natürliche Ressourcen von mehr als 44% auf gut 35% gesunken war. Der durchschnittliche Spitzensteuersatz der Körperschaftsteuer ist von 40% 1980 auf 36% 1996 gefallen. Umgekehrt steigt der durchschnittliche Steuersatz der Verbrauchsteuern61. Diese Entwicklung hat dazu geführt, dass sich die Mitgliedstaaten der Europäischen Union nicht länger jeder Steuerharmonisierung widersetzen, sondern eine Angleichung des Steuerrechts eher akzeptieren, weil der wachsende internationale Steuerwettbewerb ihre Autonomie in der Steuergesetzgebung immer mehr bedroht und fiskalische Gestaltungsmöglichkeiten einschränkt62. Finanzwissenschaftlich wird der Steuerwettbewerb dagegen unterschiedlich gesehen. Die klassische Lehre orientiert sich am Ideal einer Neutralität der internationalen Besteuerung63. Demgegenüber sieht eine neuere Lehre im Wettbewerb der Steuerordnungen die Möglichkeit, die nationalen politischen Systeme zu disziplinieren und den Bürgern nur eine steuerliche Belastung aufzuerlegen, die deren tatsächlichem 59 Grundlegend dazu W. Schön, Der „Wettbewerb“ der europäischen Steuerordnungen als Rechtsproblem, DStJG 23 (2000), S. 191 ff.; ferner M. Lehner, Wettbewerb der Steuersysteme im Spiegel europäischer und US-amerikanischer Steuerpolitik, StuW 1998, S. 159 ff.; K. Vogel, Harmonisierung des Internationalen Steuerrechts in Europa als Alternative zur Harmonisierung des (materiellen) Körperschaftsteuerrechts, StuW 1993, S. 380 ff. 60 Kommission der Europäischen Gemeinschaften, Die Steuern in der Europäischen Union, KOM (1996) 546 endg., Nr. 2.3. 61 Näher dazu J. Wieland, Steuerwettbewerb in Europa, EuR 2001, S. 119 ff. 62 Zum Wandel der Einschätzungen der Mitgliedstaaten: Kommission der Europäischen Gemeinschaften, Mitteilung an den Rat, Koordinierung der Steuerpolitik der Europäischen Union vom 1. Oktober 1997, KOM (97) 495 endg., Rn. 1 ff. 63 R. Musgrave / P. B. Musgrave / L. Kulmer, Die öffentlichen Finanzen in Theorie und Praxis, 3. Bd., 1992, S. 199 ff.
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Bedürfnis nach öffentlichen Gütern entspreche64. Der Steuerwettbewerb beeinträchtigt die Möglichkeiten der Nationalstaaten, autonom über die Finanzierung ihrer Haushalte zu entscheiden. Statt zu agieren, werden sie zunehmend gezwungen, auf äußere Entwicklungen zu reagieren. Auch dieser Herausforderung muss sich die Finanzverfassung stellen.
III. Analyse Wie die Bestandsaufnahme ergeben hat, basieren die Herausforderungen, denen sich die Finanzverfassung des Grundgesetzes gegenüber sieht, auf deutlichen Veränderungen in der tatsächlichen Verfassung Deutschlands. Sie lassen sich mit den Stichworten Wiedervereinigung, Wirtschaftskrise und Integration kennzeichnen. Als die Finanzverfassung in der Reform des Jahres 1969 ihre heutige Gestalt erhielt, waren die Entwicklungen nicht absehbar. Vielmehr konnte der verfassungsändernde Gesetzgeber von vier Prinzipien ausgehen, die heute sämtlich in Frage gestellt sind: Gleichheit, Steuerbarkeit, Autonomie und Selbstvertrauen. Das Prinzip der Gleichheit prägt die Art. 104a ff. GG in dem Sinne, dass die Verteilungsregeln von der Existenz wirtschaftlich und finanziell etwa gleich starker Länder ausgehen, die über eine vergleichbare Steuerkraft und vergleichbare Schulden verfügen. Auf dieser Grundlage basiert die Gesetzgebungskompetenz des Bundes über die Steuern, deren Aufkommen gemäß Art. 106 Abs. 2 GG allein den Ländern zusteht. Eine bundeseinheitliche Regelung solcher Steuern ist nur dann sinnvoll, wenn die Lebensverhältnisse in den einzelnen Ländern zumindest gleichwertig sind. Auch die Verteilung der Landessteuern und des Länderanteils am Aufkommen der Einkommensteuer und der Körperschaftssteuer nach dem örtlichen Aufkommen gemäß Art. 107 Abs. 1 Satz 1 GG beruht auf der Annahme, dass wegen der Vergleichbarkeit der Wirtschafts- und Steuerkraft der Länder das örtliche Aufkommen im Prinzip eine aufgabengerechte Finanzierung der Länder ermöglicht. Auch die Zuweisung des Länderanteils am Aufkommen der Umsatzsteuer an die einzelnen Länder nach Maßgabe ihrer Einwohnerzahl gemäß Art. 107 Abs. 1 Satz 4 (1. Halbsatz) GG findet ihre Grundlage letztlich in der Erwartung, die Lebensverhältnisse in den Ländern seien grundsätzlich vergleichbar. Nur dann sind nämlich auch die Aufgaben und damit auch die Ausgaben der Länder vergleichbar. Steigt dagegen etwa die Zahl der Arbeitslosen in einem oder mehreren Ländern auf eine Zahl weit über dem Bundesdurchschnitt, sinkt nicht nur das örtliche Aufkommen wichtiger Steuern, sondern wachsen auch die Sozialausgaben der betreffenden Länder überdurchschnittlich an. Schließlich geht die Regelung des horizontalen Länderfinanzausgleichs in Art. 107 Abs. 2 Satz 1 GG davon aus, dass nur ein Spitzenausgleich erforderlich ist. Zwar ist die in Art. 107 Abs. 2 Satz 1 GG als Tatbestandsvoraussetzung normierte unterschiedliche Finanzkraft der Länder in 64
Näher dazu J. Wieland, (Fn. 61) S. 123 f.
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einem Bundesstaat prinzipiell selbstverständlich. Das verfassungsrechtliche Gebot, die Unterschiede zwischen den einzelnen Ländern angemessen auszugleichen, enthält jedoch die ungeschriebene Voraussetzung, dass die vorangehenden Stufen der Finanzverteilung vom Grundsatz her eine angemessene Finanzausstattung der Länder sicherstellen. Ein horizontaler Finanzausgleich kann von seiner Struktur her nur begrenzte Unterschiede in der Finanzkraft der Länder ausgleichen und stößt an seine Grenzen, wenn die Differenzen zwischen der jeweiligen Finanzkraft und damit das zu erbringende Ausgleichsvolumen zu hoch werden. Selbst die Regelung der Gemeinschaftsaufgaben in Art. 91a und 91b GG setzt in gewisser Weise vergleichbare Finanzverhältnisse der Länder voraus. Andernfalls ist eine einheitliche Beteiligung der Länder an den Ausgaben (Art. 91a Abs. 4 GG) letztlich wenig sinnvoll. Länder mit deutlich unterdurchschnittlicher Finanzkraft werden kaum in der Lage sein, ihren Eigenanteil für die Finanzierung von Gemeinschaftsaufgaben aufzubringen; Länder mit weit überdurchschnittlicher Finanzkraft werden zum Teil auf eine Mitfinanzierung des Bundes nicht angewiesen sein und könnten die Gemeinschaftsaufgaben aus eigener Kraft erledigen. Die Ende der sechziger Jahre des vorigen Jahrhunderts vorherrschende Überzeugung von der Möglichkeit wirksamer Planung und Steuerung gesellschaftlicher Prozesse kommt in den Regelungen der Finanzverfassung in doppelter Hinsicht zum Ausdruck. Zum einen basiert das Konzept der Ausrichtung der Haushaltswirtschaft von Bund und Ländern auf das gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht und die Abwehr von dessen Störungen gemäß Art. 109 Abs. 2 bis 4 GG und Art. 115 Abs. 1 Satz 2 GG auf der Vorstellung, dass der Staat steuernd, ausgleichend und gestaltend auf die Wirtschaftsentwicklung einwirken und sich dabei vor allem der Globalsteuerung bedienen kann. Diesem Konzept lag die auf der ökonomischen Theorie von J. M. Keynes beruhende Auffassung zugrunde, der Staat könne den Ablauf der seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu beobachtenden kontinuierlichen Konjunkturzyklen durch fiskalpolitische Maßnahmen beeinflussen. Der verfassungsändernde Gesetzgeber hielt es für ökonomisch angezeigt und politisch geboten, zur Stabilisierung der Konjunktur eine antizyklische Steuerung des Konjunkturablaufs in der Finanzverfassung vorzugeben65. In engem Zusammenhang damit stand das Vertrauen, die Staatsverschuldung normativ wirksam begrenzen zu können. In Abkehr von dem objektbezogenen Deckungsgrundsatz des Art. 115 GG a. F. sollte eine situationsbezogene Kreditaufnahme eine übermäßige Staatsverschuldung verhindern66. In engem Zusammenhang mit der Überzeugung von der Steuerbarkeit gesellschaftlicher, insbesondere wirtschaftlicher und finanzieller Prozesse durch den 65 Näher dazu Kommission für die Finanzreform, Gutachten über die Finanzreform in der Bundesrepublik Deutschland – sogenanntes Troeger-Gutachten – 1966, S. 17 (Teilziff. 58), 127 ff. (Teilziff. 473 ff.); BT-Drucks. V / 890, S. 8 ff.; BVerfGE 79, 311 (331); aus der Literatur statt aller W. Heun, Art. 109 Rn. 20 ff., in: H. Dreier (Hrsg.), Grundgesetz, Kommentar, Bd. III, 2000, m. w. N. 66 BVerfGE 79, 311 (332 ff.).
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Staat stand die mehr oder weniger selbstverständliche Annahme, Deutschland könne die entsprechenden Eingriffe in das wirtschaftliche Geschehen autonom vornehmen. Die deutsche Volkswirtschaft war vor 35 Jahren noch wesentlich weniger von weltwirtschaftlichen Entwicklungen abhängig als mittlerweile in Zeiten der Globalisierung. Zudem war die Integration auf europäischer Ebene längst nicht so weit fortgeschritten, wie das jetzt der Fall ist. Insbesondere im Konzept der Globalsteuerung ist die Autonomie des Staates mitgedacht, deren weitgehende Beschränkung durch supranationale Institutionen und weltwirtschaftliche Gegebenheiten am Ende der sechziger Jahre des vorigen Jahrhunderts noch außerhalb des Blickfelds des verfassungsändernden Gesetzgebers lag. Schließlich spielte das Selbstvertrauen in die deutsche Wirtschaft nicht die geringste Rolle, als die Finanzverfassung des Grundgesetzes ihre gegenwärtige Form erlangte. 20 Jahre hindurch war die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland weithin vom Wirtschaftswunder geprägt. Die Zeiten der Arbeitslosigkeit schienen überwunden, einschneidende Konjunkturkrisen zu vermeiden oder zu beherrschen, wie das 1966 der Fall gewesen war. Dementsprechend bestand keinerlei Notwendigkeit, Vorsorge für wirtschaftliche oder finanzielle Notlagen zu treffen. Es wurde eine Finanzverfassung für die Normallage und nicht für Zeiten schwerer Wirtschaftskrisen geschaffen. Wie die Bestandsaufnahme gezeigt hat, hat die tatsächliche Entwicklung der letzen 35 Jahre die tatsächlichen Voraussetzungen der Regelungen in der Finanzverfassung des Grundgesetzes in wesentlichen Punkten verändert. Von einer Gleichheit der Länder in ihrer wirtschaftlichen und finanziellen Leistungsfähigkeit kann jedenfalls seit der Wiedervereinigung nicht mehr die Rede sein. Sowohl die Wirtschaftskraft als auch die Infrastruktur der ostdeutschen Länder ist im Vergleich zu den Verhältnissen in Westdeutschland grundlegend schlechter. Die geringe Steuerkraft der ostdeutschen Länder und Kommunen bewirkt, dass die Verteilungsmechanismen der Finanzverfassung eine aufgabengerechte Finanzausstattung aller Länder auch im Ansatz nicht mehr sicherstellen können. Vielmehr besteht auf absehbare Zeit hin die Notwendigkeit, durch zusätzliche Transferleistungen den ostdeutschen Ländern und Kommunen die Möglichkeit zu schaffen, ihre Aufgaben zu erfüllen. Sowohl der horizontale Finanzausgleich als auch die Bundesergänzungszuweisungen haben aus diesem Grund ein Finanzvolumen erreicht, das vor 1990 unvorstellbar schien. Sie sind von einem System des Spitzenausgleichs zu Instituten weitreichender Umverteilung geworden – mit allen Konsequenzen, die das für Zahler- wie auch Empfängerländer mit sich bringt. Verschärft werden die Anforderungen an den horizontalen Finanzausgleich und die Bundesergänzungszuweisungen durch die extreme Haushaltsnotlage, in der Bremen und das Saarland schon vor mehr als zehn Jahren waren und in die mittlerweile auch Berlin gekommen ist. Eine extreme Haushaltsnotlage macht erhebliche – im Falle Berlins sogar außerordentliche – Sanierungshilfen der bundesstaatlichen Solidargemeinschaft notwendig. Sie müssen in Ermangelung anderer fi-
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nanzverfassungsrechtlicher Regelungsmechanismen über die Bundesergänzungszuweisungen abgewickelt werden. Da die Finanzverfassung in ihrem Grundansatz von der Gleichheit der Länder ausgeht, bringt die seit längerem bestehende manifeste Ungleichheit zwischen den Ländern die Gefahr einer Überforderung der finanzverfassungsrechtlichen Verteilungsmechanismen mit sich. Auch das Vertrauen in die Plan- und Steuerbarkeit der Wirtschaftsentwicklung wie auch der Staatsverschuldung hat sich als zu hoch erwiesen. Jedenfalls die gegenwärtige Wirtschaftskrise scheint allein mit den Mitteln der Globalsteuerung nicht beherrschbar. Wesentlicher Grund dafür ist die erheblich angestiegene Staatsverschuldung, die zugleich Beleg für ein Steuerungsversagen des in Art. 115 Abs. 1 Satz 2 GG angelegten Konzepts ist. In Zeiten schwerer wirtschaftlicher Krisen und nach einer weitgehenden Finanzierung der Kosten der Wiedervereinigung Deutschlands durch eine Erhöhung der Staatsverschuldung bestehen begründete Zweifel an den Steuerungsleistungen der Finanzverfassung in ihrer gegenwärtigen Form. In engem Zusammenhang damit steht der Autonomieverlust, der für den deutschen Staat seit längerem als Folge sowohl der Globalisierung der wirtschaftlichen Entwicklungen als auch der zunehmenden europäischen Integration zu beobachten ist. Je stärker die Wirtschaft in Europa und der Welt zusammenwächst und von einander abhängig wird und je mehr Entscheidungsbefugnisse zur Regulierung der Wirtschaft im weitesten Sinne von den Mitgliedstaaten auf die europäischen Institutionen verlagert werden, desto geringer wird der autonome Handlungsspielraum Deutschlands. Da sich die Erwartungen an die Steuerungsleistungen des Staates aber nicht in gleicher Weise verringern, tut sich auch hier eine erhebliche Kluft zwischen Sein und Sollen auf. Schließlich darf der Verlust an Selbstvertrauen in seiner psychologischen Wirkung nicht unterschätzt werden, der in Bezug auf die wirtschaftliche und finanzielle Stärke Deutschlands seit längerem zu beobachten ist. Wirtschaftliche Prozesse sind zu einem nicht geringen Teil von den Erwartungen der Akteure abhängig. Je weniger Vertrauen sie in die zukünftige Entwicklung haben, desto schwerer ist es, in wirtschaftlichen Krisenzeiten positive Entwicklungen zu initiieren. Die so veränderten Rahmenbedingungen lassen die Frage nach der Zukunft der Finanzverfassung als berechtigt erscheinen. Wie sind die Perspektiven?
IV. Lösungswege Den aufgezeigten Herausforderungen für die Finanzverfassung des Grundgesetzes lässt sich auf drei Wegen begegnen: Dem Weg der umfassenden Reform, dem Weg der teilweisen Ergänzung und dem Weg des Vertrauens in den Gesetzgeber. Die weitreichendste Alternative wäre eine grundlegende Reform der Finanzverfassung, die als Teil der immer wieder geforderten Föderalismusreform erfolgen könnte. Die im Sommer 2003 von Regierung und Opposition ins Auge gefasste parlamentarische Kommission zur Reform des Föderalismus könnte den institutio-
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nellen Rahmen bilden. Die bisherigen Erfahrungen mit den Versuchen einer Reform des Föderalismus in Deutschland werfen jedoch Zweifel auf, ob dieser Weg wirklich zielführend ist. Bei jeder fühlbaren Veränderung der normativen Rahmenbedingungen wird es Gewinner und Verlierer geben. Das ist den Beteiligten auch gerade in Fragen der Finanzverfassung und –verteilung durchaus bewusst. In diesem Bereich lassen sich unterschiedliche politische und rechtliche Konzepte unschwer in finanzielle Vor- und Nachteile umrechnen. Ein noch so einleuchtendes theoretisch-normatives Konzept hat kaum Chancen auf Verwirklichung durch die Akteure, die mit finanziellen Nachteilen rechnen müssen. Letztlich ist eine grundlegende Reform der Finanzverfassung nur als eine Paketlösung vorstellbar, die jedenfalls für keinen der Beteiligten deutlich fühlbare Verschlechterungen der eigenen Finanzsituation mit sich bringt. Eine solche Aufgabe grenzt an die Quadratur des Kreises. Es bleibt deshalb abzuwarten, ob eine tiegreifende Reform der Finanzverfassung des Grundgesetzes überhaupt gewollt wird und ob sie gegebenenfalls die notwendigen Mehrheiten finden kann. Politisch wahrscheinlicher erscheint eine Ergänzung der Finanzverfassung in einigen Punkten. Anbieten würden sich insoweit finanzverfassungsrechtliche Normen zur Bewältigung der finanziellen Folgen der Wiedervereinigung Deutschlands, zum Umgang mit extremen Haushaltsnotlagen einzelner Länder und zur Berücksichtigung des Autonomieverlustes, der mit der europäischen Integration schon jetzt verbunden ist und der bei der Einräumung einer begrenzten Steuerhoheit für die Europäische Union noch größer würde. Wie in vielen anderen Bereichen müsste auch die Finanzverfassung den Wandel zu einer offenen Staatlichkeit nachvollziehen. Regelungsmodelle für die Bewältigung der finanziellen Folgen der Wiedervereinigung und extremer Haushaltsnotlagen finden sich sowohl im Gesetzesrecht als auch in den einschlägigen Urteilen des Bundesverfassungsgerichts. Das sollte allerdings nicht ausschließen, dass der verfassungsändernde Gesetzgeber den Mut und die Kraft zu innovativen Regelungen findet. Geschieht das nicht und behält die Finanzverfassung des Grundgesetzes ihre heutige Ausgestaltung, bleibt nur das Vertrauen auf den Gesetzgeber. Gesetzliche Lösungen weisen im Vergleich zu finanzverfassungsrechtlichen Lösungen immerhin eine höhere Flexibilität auf – sie sind allerdings häufig kurzfristiger konzipiert als notwendig allgemeiner und langfristiger gefasste Änderungen der Finanzverfassung. Zudem bringt ein solches Vertrauen auf den Gesetzgeber automatisch einen Verlust an Steuerungskraft der Finanzverfassung mit sich. Die notwendigen Regelungen sind nicht in ihrer Struktur in der Finanzverfassung angelegt, sondern müssen zu einem erheblichen Teil gegen die oder neben der Finanzverfassung entwickelt werden. Erst im Laufe der Zeit kann dann ein Verfassungswandel die Funktion erfüllen, für die das Grundgesetz eigentlich eine Verfassungsänderung verlangt. Welcher der drei aufgezeigten Wege beschritten wird, muss die Zukunft zeigen. Die Herausforderungen, die sich aus der tatsächlichen Verfassung der deutschen
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Finanzen ergeben, lassen eine Untätigkeit nicht zu. Dem Vorrang der Verfassung entspräche es am besten, wenn nicht ausschließlich der Gesetzgeber für die Problemlösung verantwortlich bliebe, zumal sich das Maßstäbegesetz als nicht zielführend erwiesen hat. Eine im Sinne von Peter Selmer zwar nicht vollkommene, aber sachgerechte Finanzverfassung sollte sich im Text des Grundgesetzes finden.
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Privates Umwelthaftungsrecht und öffentliches Gefahrenabwehrrecht, Schriftenreihe der Juristischen Studiengesellschaft Karlsruhe, H. 192, Heidelberg 1991, 50 S. Rechtliche Probleme der Einführung von Straßenbenutzungsgebühren, Bd. 23 der Materialien zur Umweltforschung, Rat von Sachverständigen für Umweltfragen (Hrsg.), Stuttgart 1994, 46 S. (Mitverfasser C. Brodersen); eine Zusammenfassung der Untersuchung ist ferner veröffentlicht im Umweltgutachten 1994 des Rates von Sachverständigen für Umweltfragen, Stuttgart 1994, S. 283 – 286. Die Finanzierung des Rundfunks in der Bundesrepublik Deutschland auf dem Prüfstand des EG-Beihilferegimes, Berlin 1994, 103 S. (Mitverfasser H. Gersdorf). Verwaltungsvollstreckungsverfahren. Typologie und Einzelfragen des Vollstreckungsrechts des Bundes und der Länder bei der Durchführung ordnungs- und polizeirechtlicher Maßnahmen, Berlin 1996, 74 S. (Mitverfasser H. Gersdorf). Sonderabfallabgaben und Verfassungsrecht. Ein Beitrag zum Umweltschutz durch Sonderabgaben und Steuern, Berlin 1996, 87 S. Die Gewährleistung der unabdingbaren Grundrechtsstandards durch den EuGH: Zum „Kooperationsverhältnis“ zwischen BVerfG und EuGH am Beispiel des Rechtsschutzes gegen die Bananenmarkt-Verordnung, Baden-Baden 1998, 182 S. Gestaltungsmöglichkeiten des Bundesgesetzgebers für die Gemeinschaftsaufgabe Hochschulbau nach Art. 91a GG, Baden-Baden 2000, 106 S.
II. Beiträge zu Sammelwerken, Aufsätze und Anmerkungen Artikel „Bodin, Jean (Bodinus)“. In: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, A. Erler u. a. (Hrsg.), Berlin / Bielefeld / München 1964 ff., Sp. 464 – 466. Die öffentliche Sicherheit und Ordnung als Schranke der Arbeitnehmer-Freizügigkeit gemäß Art. 48 Abs. 3 EWG-Vertrag. In: Die öffentliche Verwaltung 1967, S. 328 – 334. Anm. zu OVG Münster, Urt. v. 8. 9. 1966. Abgdr. in: Neue Juristische Wochenschrift 1967, S. 949 (Rechtsnatur von Prüfungsordnungen). In: Neue Juristische Wochenschrift 1967, S. 1435. Anm. zu VGH Kassel, Urt. v. 25. 1. 1967. Abgdr. in: Neue Juristische Wochenschrift 1967, S. 1527 (Untersuchungsanordnung nach § 3 II StVZO als selbständig anfechtbarer Verwaltungsakt). In: Neue Juristische Wochenschrift 1967, S. 1527 – 1529. Artikel „Franckensteinsche Klausel“. In: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, Sp. 1187 – 1192. Rechtsverordnung und Verwaltungsvorschrift. In: Verwaltungsarchiv 59 (1968), S. 114 – 145. Der Verwaltungsrechtsschutz in den besonderen Gewaltverhältnissen. In: Die öffentliche Verwaltung 1968, S. 342 – 349. Anm. zu OVG Lüneburg, Beschl. v. 29. 9. 1966. Abgdr. in: Neue Juristische Wochenschrift 1967, S. 2281 (Sofortige Vollziehung eines Abrißverlangens). In: Neue Juristische Wochenschrift 1968, S. 173 – 174. Artikel „Gebühren“. In: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, Sp. 1422 – 1424.
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Juristische Kurzexpertise zur Studie „Privatisierung der Bundesautobahnen“ des Instituts für Verkehrswissenschaft an der Universität Münster. In: H.-J. Ewers / H. Rodi, Privatisierung der Bundesautobahnen, Göttingen 1995, S. 123 – 140 (Mitverfasser C. Brodersen). Das Bundesverfassungsgericht an der Schwelle des finanzwirtschaftlichen Einigungsprozesses – BVerfGE 86, 148. In: Juristische Schulung 1995, S. 978 – 984. Der gerechte Steuerstaat. Zu Klaus Tipke: Die Steuerrechtsordnung (Köln 1993). In: Finanzarchiv n. F. 52 (1995), S. 234 – 262. Empfehlen sich Maßnahmen, um in der Finanzverfassung Aufgaben- und Ausgabenverantwortung von Bund, Ländern und Gemeinden stärker zusammenzuführen? In: Neue Juristische Wochenschrift 1996, S. 2062 – 2068. Umweltschutz und öffentliche Abgaben. In: Universität Hamburg (Hrsg.), Klima – Umwelt – Gesellschaft. Ein interdisziplinäres Seminar der Universität Hamburg am 16. und 17. November 1995, Hamburg 1996 (Zentrale Versand- und Vervielfältigungsstelle der Universität Hamburg), S. 167 – 180. Sonderbedarfe und Bedarfe aus Sonderlasten der Länder im bundesstaatlichen Finanzausgleich. In: Festschrift für Karl Heinrich Friauf zum 65. Geburtstag, hrsg. von Rudolf Wendt u. a., Heidelberg 1996, S. 683 – 703. Art. 115 II GG – eine offene Flanke der Staatsverschuldung? In: Burmeister (Hrsg.), Verfassungsstaatlichkeit, Festschrift für Klaus Stern zum 65. Geburtstag, München 1997, S. 567 – 585. Der Finanzausgleich innerhalb der Europäischen Union. In: Götz / Selmer / Wolfrum (Hrsg.), Liber amicorum Günther Jaenicke – zum 85. Geburtstag, Berlin 1998, S. 833 – 869. Die Seehafenlasten Hamburgs im bundesstaatlichen Finanzausgleich unter Berücksichtigung der Nordstaatendiskussion. In: Lagoni / Paschke (Hrsg.), Seehandelsrecht und Seerecht, Festschrift für Rolf Herber zum 70. Geburtstag, Hamburg 1999, S. 533 – 566. Wirtschaftliche Betätigung der öffentlichen Hand und Unternehmergrundrechte. In: Stober / Vogel (Hrsg.), Wirtschaftliche Betätigung der öffentlichen Hand, Köln 2000, S. 75 – 102. Die Verfolgung ökonomischer, ökologischer und anderer öffentlicher Zwecke durch Instrumente des Abgabenrechts – Verfassungsrechtliche Grundfragen –. In: Deutsches Verwaltungsblatt 2000, S. 1153 – 1166 (Mitverfasser C. Brodersen). Kurzberichterstattung und Schutzlisten für Sportübertragungen aus juristischer Sicht. In: Schellhaß (Hrsg.), Sport und Medien. Rundfunkfreiheit, Wettbewerb und wirtschaftliche Verwertungsinteressen, Berlin 2000, S. 49 – 66. Verfassungs- und europarechtliche Probleme staatlicher Werbebeschränkungen – unter besonderer Berücksichtigung der Tabakwerbung. In: Festschrift für Klaus Vogel zum 70. Geburtstag, hrsg. von Paul Kirchhof u. a., Heidelberg 2000 , S. 405 – 440. Bund-Länder-Streit. In: Festschrift 50 Jahre Bundesverfassungsgericht, hrsg. von Peter Badura u. Horst Dreier, Erster Band, 2001, S. 563 – 585. Herbert Fischer-Menshausen. In: Neue Juristische Wochenschrift 2001, S. 132. Zur Zweckbindung von Umweltsteuern im Rahmen eines Umweltgesetzbuches: ein verfassungsrechtlicher Beitrag zur Zwecksteuer und zum Grundsatz der Gesamtdeckung des Haushalts. In: Eberhard Bohne (Hrsg.), Perspektiven für ein Umweltgesetzbuch, Berlin 2002, S. 297 – 313.
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Schriftenverzeichnis Peter Selmer
Die Medien- und Informationsfreiheit in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union. In: Meinhard Hilf / Thomas Bruha (Hrsg.), Perspektiven für Europa. 2002: Verfassung und Binnenmarkt / Wissenschaftliches Kolloquium aus Anlass des 70. Geburtstags von Gert Nicolaysen am 11. Mai 2001 im Europa-Kolleg Hamburg, Baden-Baden 2002, S. 29 – 42. Das Beitrags- und Sonderabgabenmodell zur Finanzierung der inneren Sicherheit. In: Jachmann / Stober (Hrsg.), Finanzierung der inneren Sicherheit unter Berücksichtigung des Sicherheitsgewerbes, Köln / Berlin / Bonn / München 2003, S. 101 – 113. Die UMTS-Versteigerung vor dem BVerfG: Alle Fragen bleiben offen. In: Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht 2003, S. 1296 – 1305. Bankgeheimnis gegenüber dem Steuerstaat. Bemerkungen zu einigen verfassungsrechtlichen Grundfragen. In: Festschrift für Georg Kassimatis, Athen / Berlin / Brüssel 2004. Zahlreiche Urteilsanmerkungen seit 1969 im Rahmen der Rechtsprechungsübersicht der Juristischen Schulung.
Verzeichnis der Autoren Badura, Peter, Dr., o. Professor, Institut für Politik und Öffentliches Recht, Universität München Birk, Dieter, Dr., o. Professor, Direktor des Instituts für Steuerrecht, Universität Münster Brodersen, Carsten, Dr., Universitätsprofessor, Institut für Öffentliches Recht, Universität der Bundeswehr Hamburg Bull, Hans Peter, Dr., o. Professor, Seminar für Verwaltungslehre, Universität Hamburg Classen, Kai-Dieter, Wissenschaftlicher Mitarbeiter, Universität Hamburg Dreier, Horst, Dr., o. Professor, Lehrstuhl für Rechtsphilosophie, Staats- und Verwaltungsrecht, Universität Würzburg Ehlers, Dirk, Dr., o. Professor, Institut für öffentliches Wirtschaftsrecht, Universität Münster Emmerich, Volker, Dr., Universitätsprofessor, Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Wirtschaftsund Handelsrecht, Universität Bayreuth Fahrholz, Bernd, Dr., Honorarprofessor für Handels- und Gesellschaftsrecht sowie Steuerrecht, Universität Frankfurt am Main, Rechtsanwalt und Fachanwalt für Steuerrecht Felix, Dagmar, Dr., o. Professorin, Öffentliches Recht und Sozialrecht, Universität Hamburg Gersdorf, Hubertus, Dr., Professor, Lehrstuhl für Kommunikationsrecht, Gerd Bucerius-Stiftungsprofessur, Universität Rostock Götz, Heinrich, Dr., Dr. h. c., Rechtsanwalt, Bad Soden am Taunus Götz, Volkmar, Dr., o. Professor, Abteilung Europarecht des Instituts für Völkerrecht, Universität Göttingen Heun, Werner, Dr., Professor, Institut für Allgemeine Staatslehre und Politische Wissenschaften, Universität Göttingen Hilf, Meinhard, Dr., Universitätsprofessor, Seminar für Öffentliches Recht und Staatslehre, Direktor der Abteilung Europäisches Gemeinschaftsrecht, Jean-Monnet-Professor, Universität Hamburg Hoffmann, Jochen, Dr., Habilitationsstipendiat, Universität Bayreuth Hoffmann-Riem, Wolfgang, Dr., LL.M., Universitätsprofessor, Forschungsstelle für Recht und Innovation, Universität Hamburg, Richter des Bundesverfassungsgerichts Höfling, Wolfram, Dr., M.A., Professor, Direktor des Instituts für Staatsrecht, Universität zu Köln
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Verzeichnis der Autoren
Hufen, Friedhelm, Dr., o. Professor, Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Staats- und Verwaltungsrecht, Universität Mainz Iliopoulos, Constantin, Dr., Rechtsanwalt, Athen, Lehrbeauftragter, Universität Hamburg Iliopoulos-Strangas, Julia, Dr., Professorin, Juristische Fakultät, Universität Athen Isensee, Josef, Dr., Dr. h. c., o. Professor, Institut für Öffentliches Recht, Universität Bonn Jachmann, Monika, Dr., o. Professorin, Seminar für Finanz- und Steuerrecht, Universität Hamburg Jaenicke, Günther, Dr., Professor, Institut für Öffentliches Recht, Universität Frankfurt am Main Karpen, Ulrich, Dr., Universitätsprofessor, Forschungsstelle für Kulturverfassungs- und -verwaltungsrecht, Universität Hamburg Kirchhof, Ferdinand, Dr., o. Professor, Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Finanz- und Steuerrecht, Universität Tübingen Kirchhof, Paul, Dr., o. Professor, Bundesverfassungsrichter a.D., Direktor des Instituts für Finanz- und Steuerrecht, Universität Heidelberg Koch, Hans-Joachim, Dr., Universitätsprofessor, Forschungsstelle Umweltrecht, Universität Hamburg Leo, Hans-Christoph, Rechtsanwalt, Hamburg Lerche, Peter, Dr., Dr. h. c., o. Professor, Institut für Politik und Öffentliches Recht, Universität München Luchterhandt, Otto, Dr., Universitätsprofessor, Seminar für Ostrechtsforschung, Universität Hamburg v. Münch, Ingo, Dr., Dr. h. c., o. Professor, Universität Hamburg Murswiek, Dietrich, Dr., Universitätsprofessor, Institut für öffentliches Recht, Universität Freiburg Neun, Andreas, Dr., Rechtsanwalt, Berlin Nicolaysen, Gert, Dr., Universitätsprofessor, Seminar für Öffentliches Recht und Staatslehre, Universität Hamburg Ossenbühl, Fritz, Dr., Professor, Institut für Öffentliches Recht, Universität Bonn Osterloh, Lerke, Dr., Professorin, Institut für Öffentliches Recht, Universität Frankfurt am Main, Richterin des Bundesverfassungsgerichts Papier, Hans-Jürgen, Dr., o. Professor, Institut für Politik und Öffentliches Recht, Universität München, Präsident des Bundesverfassungsgerichts Rodi, Michael, Dr., M.A., Universitätsprofessor, Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Finanzund Steuerrecht, Universität Greifswald
Verzeichnis der Autoren
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Ruland, Franz, Dr., Honorarprofessor für Sozialrecht und Öffentliches Recht, Institut für Öffentliches Recht, Universität Frankfurt am Main, Geschäftsführer des Verbandes Deutscher Rentenversicherungsträger Sachs, Michael, Dr., Universitätsprofessor, Lehrstuhl für Staats- und Verwaltungsrecht, Universität Köln Schmidt, Karsten, Dr., Dres. h.c., o. Professor, Institut für Handels- und Wirtschaftsrecht, Universität Bonn, Vizepräsident der Bucerius Law School in Hamburg Schuppert, Gunnar Folke, Dr., Professor, Forschungsprofessor für ,,Neue Formen von Governance“, Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung Schwabe, Jürgen, Dr., Universitätsprofessor, Seminar für Öffentliches Recht und Staatslehre, Universität Hamburg Söhn, Hartmut, Dr., o. Professor, Lehrstuhl für Staats- und Verwaltungsrecht, insbesondere Finanz- und Steuerrecht, Universität Passau Starck, Christian, Dr., o. Professor, Juristisches Seminar, Universität Göttingen Stern, Klaus, Dr., Dres. h. c., o. Professor, Institut für Rundfunkrecht an der Universität zu Köln Stober, Rolf, Dr., Dr. h. c. mult., Universitätsprofessor, Institut für Recht der Wirtschaft, Universität Hamburg Thieme, Werner, Dr., o. Professor, Universität Hamburg Trzaskalik, Christoph (y 6. 12. 2003), Lehrstuhl für Finanz- und Steuerrecht, Universität Mainz Trute, Hans-Heinrich, Dr., Universitätsprofessor, Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Medienund Telekommunikationsrecht, Universität Hamburg Vogel, Klaus, Dr., Dr. h. c., o. Professor, Institut für Politik und Öffentliches Recht, Universität München Weber, Hermann, Dr., Honorarprofessor für Öffentliches Recht, insbesondere Steuerrecht, Institut für Öffentliches Recht, Universität Frankfurt am Main Wieland, Joachim, Dr., Professor, Institut für Öffentliches Recht, Universität Frankfurt